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2. Ostanatolien.

Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.
2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).

3. Die Unruhen von Wan.


Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

2. Ostanatolien.
Aus dem Wilajet Erzerum waren der Botschaft schon seit Kriegsbeginn Klagen über
Härte der Requisitionen und Gewalttaten von türkischer Gendarmerie und Tschettäs
(berittenen Banden) gegen die armenische Landbevölkerung zugegangen. Urheber
dieser Ausschreitungen waren die jungtürkischen Klubs in den Provinzialstädten. Am
10. Februar war der zweite Direktor der Ottomanbank in Erzerum, der Armenier
Pasdirmadjian, das Opfer eines Meuchelmords geworden. Obwohl sich General
Posseldt Pascha, Mitglied der deutschen Militärmission, der damals noch
Festungskommandant von Erzerum war, darum bemühte, wurden die bekannten
Mörder nicht verhaftet. In den Landdistrikten der Erzerum- und der Passinebene,
östlich von Erzerum, wurden nach und nach alle armenischen Dörfer —
hauptsächlich Frauen und Kinder, da die Männer zum Heeresdienst eingezogen
waren —, angeblich aus militärischen Gründen, ausgeräumt. Der Befehl kam von
dem Oberstkommandierenden der 3. Armee, Kamil Pascha. Der Wali von Erzerum,
Tahsin Bey, der die Maßregel mißbilligte, war machtlos dagegen. Am 18. Mai 1915
drahtete der deutsche Vizekonsul v. Scheubner-Richter an den Botschafter Freiherrn
v. Wangenheim:
„Das Elend unter den vertriebenen Armeniern ist fürchterlich. Frauen und Kinder
lagern zu Tausenden ohne Nahrung um die Stadt herum. Die zwecklose Vertreibung
ruft die größte Erbitterung hervor. Darf ich deswegen bei dem
Oberstkommandierenden Schritte unternehmen?“
Der Botschafter Freiherr von Wangenheim ermächtigte am gleichen Tage den Konsul,
Vorstellungen zu erheben und auf humane Behandlung der Ausgewiesenen
hinzuwirken. Der Konsul begibt sich ins Hauptquartier Tortum und berichtet unter
dem 2. Juni, daß seine „Rücksprache mit dem Oberstkommandierenden zu keinem
positiven Resultat führte“.
Lag im Wilajet Erzerum die Gefahr einer armenischen Erhebung vor?

General Posseldt erklärt am 26. April, „die Aufführung der Armenier sei tadellos
gewesen.“
Der Konsul bestätigt es: „Da ein Aufstand der hiesigen Armenier nicht zu erwarten
ist, ist diese Maßnahme grausamer Ausschließung unbegründet und ruft Erbitterung
hervor.“ (16. Mai.) Talaat Bey, der Minister des Innern, bei dem die Botschaft anregt,
die Aussiedelungsmaßregel zu mildern, „zeigt sich abgeneigt“, da man gerade in
Erzerum belastende Korrespondenzen, Waffen und Bomben gefunden habe (29. Mai).
Auf Anfrage drahtet der Konsul v. Scheubner-Richter aus Erzerum: „In Erzerum und
Umgebung wurden Bomben und dergleichen nicht gefunden, was auch vom Wali
bestätigt werden kann.“ (2. Juni.)
In Cilicien und im Wilajet Erzerum waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen.
Ein Zusammenhang bestand nicht, allgemeine Maßregeln gegen die armenische
Bevölkerung des Reiches schienen nicht beabsichtigt zu sein. Auch im Wilajet
Erzerum sind bis Ende Mai keine Massakers vorgekommen, nur Aussiedelungen, die
durch das Oberkommando angeordnet und mit militärischen Notwendigkeiten
begründet wurden.
Inzwischen waren aus den Wilajets Bitlis und Wan Meldungen eingegangen, die
ernsterer Natur waren. Sie schienen die Anschauung der Pforte zu rechtfertigen, daß
die militärischen Operationen durch revolutionäre Bewegungen im armenischen
Volkselement bedroht und die Sicherheit des Reiches gefährdet sei. Über indirekt
gemeldete Aufstände in Bitlis und Musch, Gebiete, die für die Konsulate nicht
erreichbar waren, lagen nähere Berichte nicht vor. Es hat sich später herausgestellt,
daß dort bereits im Frühjahr ein Anschlag türkischer Gendarmen auf das Dorf Goms
zu Unruhen geführt hatte, die durch Vermittlung der Behörden und des armenischen
Abgeordneten Papasian auf Anordnung Talaat Beys gütlich beigelegt wurden. Davon
war aber der Botschaft nichts mitgeteilt worden. (Anhang Nr. 2).
3. Die Unruhen von Wan.
Am 22. April wurde der Botschaft aus Erzerum gemeldet: „In Wan und Umgebung
Armenierunruhen (vermutlich infolge russischer Umtriebe) ausgebrochen.
Straßenkampf, Telegraphenlinien zerstört, Verbindung mit Persien unterbrochen.“

Die alarmierende Nachricht wurde von der Pforte bestätigt.


Eine Aufklärung über die Ursachen und den Verlauf der Vorgänge in Wan hat die
Botschaft von der Pforte niemals erhalten. Erst Monate später sind darüber von
amerikanischen und deutschen Missionaren, die die Dinge miterlebt haben,
authentische Mitteilungen nach Europa gelangt (Anhang Nr. 3).
Was war in Wan geschehen? — Mitte Februar war Djevdet Bey, der Wali von Wan,
ein Schwager Enver Paschas, aus dem Gebiet von Salmas und Urmia zurückgekehrt,
wo er sich an dem nordpersischen Feldzuge türkischer und kurdischer Truppenteile
beteiligt hatte. In einer Versammlung von türkischen Notabeln äußerte er sich: „Wir
haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan reinen Tisch gemacht, wir
müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun.“ Die Kaimakams (Landräte)
seiner Provinz wies er an, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen.
Mit den Armeniern von Wan (20000 Seelen) stellte er sich zunächst freundlich. Es
wurden Kommissionen gebildet und auf die Dörfer geschickt, um den Plünderungen
der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun. Inzwischen zog
Djevdet Bey Verstärkungen aus Erzerum heran. Als in Schatakh, einem überwiegend
armenischen Dorf, Streitigkeiten mit Gendarmen ausbrachen (14. April) bat er die
drei Führer der Armenier, Wramian, Ischchan und Aram, mit dem Müdir der Polizei
von Wan nach Schatakh zu gehen, um den Streit zu schlichten. Ischchan ging und
nahm drei andere Armenier mit sich. Der Müdir der Polizei begleitete sie mit
tscherkessischen Saptiehs. Halbwegs übernachtete man in Hirtsch. Als die Armenier
schliefen, ließ sie der Müdir der Polizei durch die Tscherkessen ermorden. In der
Frühe des nächsten Tages, ehe man noch in Wan etwas von dem Meuchelmorde
wußte, ließ der Wali Djevdet Bey die beiden zurückgebliebenen armenischen Führer
Wramian und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramian geht arglos
zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn
gefesselt über Bitlis nach Diarbekr. Unterwegs wird er ermordet. Noch am selben
Morgen bereitet Djevdet Bey den Angriff auf die Armenierviertel der Stadt vor.
Gleichzeitig setzen die Massaker in Ardjesch und den Dörfern von Hayozdzor ein.
Um Weib und Kind vor dem drohenden Massaker zu schützen, verschanzen sich die
Armenier der Stadt in ihren Vierteln. Sie hatten keinerlei Verbindung mit Rußland.
Vier Wochen verteidigten sie sich gegen die türkischen Truppen, die sie belagerten
und beschossen. Ihre Vorräte waren erschöpft. Am 15. Mai fand ein letztes
Bombardement statt. In der Nacht darauf verließ Djevdet Bey mit den
Belagerungstruppen zum größten Erstaunen der Armenier die Stadt. Sie wußten noch
nichts davon, daß die russische Armee auf der ganzen kaukasischen Front im
Vormarsch war. Am 19. Mai, 30 Tage nach dem Beginn der Belagerung, zogen die
Russen in Wan ein. Für den Vormarsch der Russen war die Entsetzung von Wan eine
unbedeutende Episode. Ihre Hauptmacht stieß (wie Konsul Anders schon vor dem
Kriege vorausgesehen hatte) nördlich vom Wansee in der Richtung auf Musch und
Bitlis vor. Auch für die Armenier von Wan bedeutete die Entsetzung der Stadt nur,
daß sie sich selbst und ihre Familien durch ihr tapferes Ausharren errettet hatten;
denn schon am 31. Juli räumten die Russen Wan und nötigten die ganze armenische
Bevölkerung in den Kaukasus überzusiedeln.
Die Pforte mußte über den Charakter des Aufstandes von Wan, der ein Akt der
Selbstverteidigung war, unterrichtet sein. Sie wußte, daß dieser „Aufstand“ von dem
Wali Djevdet Bey provoziert war und mit den russisch-türkischen Operationen in
keinem Zusammenhang stand. Der Bericht über Wan (Anhang Nr. 3.) liest sich,
ebenso wie der von Suedije (Anhang Nr. 1.), wie ein Kapitel aus einem Cooperschen
Indianerroman, nicht wie eine Episode des Weltkrieges.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Art, wie der „Aufstand“ von Wan — mit der
Bitte um Geheimhaltung — der Botschaft von der Pforte dargestellt wurde[3].
Die Berichte lauteten:
24. April: Gebäude der Dette Publique und der Post in die Luft gesprengt,
Straßenkämpfe, 20 Tote.
27. April: Aufruhr in Wan unterdrückt. Kurden am Aufstand beteiligt. 400 Armenier
getötet, die übrigen nach Rußland geflohen.
6. Mai: Neue Kämpfe in Wan. Türkische Verluste 600 Mann.
9. Mai: Unruhen in Wan dauern an. Türken 1000, Armenier 3000 Tote.
Sprungweise gehen die Verluste, von 20 auf 400, auf 600, auf 4000 in die Höhe. In
Wahrheit sind bei den Armeniern während der vierwöchentlichen Belagerung vom
20. April bis zum 17. Mai 18 Tote und bei den Türken schwerlich viel mehr gefallen.
Falstaff ist nichts gegen Djevdet Bey.
Warum diese grotesken Übertreibungen? Enver Pascha war doch sicherlich von
seinem Schwager Djevdet gut unterrichtet. Man wollte der Botschaft beweisen, daß
alles auf dem Spiel stehe, daß der Bestand des Reiches durch eine ganz gefährliche
Erhebung der Armenier bedroht sei. Der Zweck wurde erreicht. Die Botschaft glaubte
es.

4. Der Beschluß der allgemeinen Deportation.


Bei seiner Rückkehr von der kaukasischen Front im Februar des Jahres hatte Enver
Pascha als Kriegsminister und Generalissimus der türkischen Armee auf eine Adresse
des Bischofs von Konia erwidert: „Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze
die Gelegenheit, um Ihnen auszusprechen, daß die armenischen Soldaten der
ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen,
was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann. Ich bitte der armenischen Nation,
die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der Kaiserlich
Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu
übermitteln“. (Osmanischer Lloyd vom 26. 2. 1915). Auch dem armenischen
Patriarchen gegenüber hatte Enver Pascha „seine besondere Zufriedenheit
ausgesprochen über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten, die sich in
ausgezeichneter Weise geschlagen hätten“, hatte aber schon damals
bezeichnenderweise hinzugefügt, „daß er beim geringsten Vorkommnis in den
östlichen Armenierzentren mit drakonischen Maßnahmen einschreiten würde“. Wie
kam es, daß mit dem 20. April das Urteil über die Ergebenheit der armenischen
Nation so plötzlich umschlug? Der „Aufstand“ von Wan war das tragische Moment in
der armenischen Schicksalstragödie. Das Stichwort für die „drakonischen
Maßnahmen“ Enver Paschas war gegeben.
Mit der Fixierung dieses Momentes soll nicht gesagt werden, daß nicht der
Vernichtungswille der treibenden Kräfte, die hinter dem Kriegsminister standen,
schon vor den Ereignissen in Wan bestanden hätte. Schon auf dem Kongreß des
jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ in Saloniki Oktober 1911, war
der nationalistisch-panislamische Gedanke — die Alleinherrschaft der türkischen
Rasse und der Aufbau des Reiches auf rein islamischer Grundlage — als
Regierungsprogramm angenommen worden:
„Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen
Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung
erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der
Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen
Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen
Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn
Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am türkischen Reich. Die
Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten,
aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eines der
Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen
Elemente zu assimilieren“.
Dies Programm stand seit Ausbruch des Krieges hinter allen Maßregeln, die die
„Raja“ der christlichen Nationen als eine „Herde“ von Hörigen behandelten: die
allgemeine Entwaffnung der christlichen Bevölkerung, die Degradierung der
armenischen Soldaten, die mit der Waffe eingezogen worden waren, zu Lastträgern
und Straßenarbeitern, die Entlassung der armenischen Beamten und Ärzte aus dem
Verwaltungsdienst und den Kriegslazaretten usw. Dies pantürkische Programm stand
schon vor den Tagen von Wan hinter den Verschickungen und Massenverhaftungen in
Cilicien und im Wilajet Erzerum und diktierte den Vernichtungsfeldzug, den
türkische und kurdische Truppen im Winter 1914/15 in Nordpersien gegen die
friedliche syrische und armenische Bevölkerung von Urmia und Salmas führten. Dies
Programm rief die allgemeine Christenverfolgung in den Wilajets Diarbekr und
Mossul hervor, der unterschiedslos Jakobiten, Chaldäer, Nestorianer und Armenier
zum Opfer fielen.
Auch ohne den „Aufstand von Wan“ wäre dies Programm durchgeführt worden.
Denn schon dieser „Aufstand“ war ein Akt des Selbstschutzes gegen das drohende
Massaker, das an mehreren Orten gleichzeitig einsetzte, als Djevdet Bey durch den
Meuchelmord an den armenischen Führern das Signal dazu gab, in denselben Tagen,
in denen auch in Cilicien die Verschickung auf große Distrikte ausgedehnt wurde, die
außerhalb des Kriegsgebietes lagen.
Der „Aufstand von Wan“ gab nur einen weithin sichtbaren Vorwand her, um den
längst gefaßten Plan der Türkisierung und Islamisierung des Reiches der Außenwelt
gegenüber unter den Schein militärischer Notwendigkeiten zu verhüllen und im
Schoß des Komitees selbst jeden Widerstand gegen die radikalste Form seiner
Durchführung, die Vernichtung zunächst des armenischen Volkes, zu unterdrücken.
Von welcher Seite in Konstantinopel die entscheidende Wendung in der armenischen
Politik der Regierung herbeigeführt wurde, durch Enver Pascha oder Talaat Bey oder
durch einen Beschluß des jungtürkischen Komitees, darüber wird man erst Aufschluß
erlangen, wenn die Interna der jungtürkischen Regierung an den Tag gekommen sein
werden[6]. Es scheint, daß im Komitee selbst Gegensätze zwischen einer radikalen
und einer gemäßigteren Gruppe bestanden, die in der Zeit vom 24. April bis zum 27.
Mai zum Austrag gebracht wurden und mit dem Sieg der radikalen Gruppe endeten.
Das Ergebnis dieser Kämpfe war der Beschluß, der das Schicksal des armenischen
Volkes besiegelte: Die allgemeine Deportation.

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