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Welche Zukunft hat der Lokaljournalismus? Praktische und theoretische Annäherungen

„Local news is the very stuff that democracy is made of. “1


Robert E. Park
Einleitung
Es ist noch immer ein beeindruckendes Forschungsprogramm, das Robert Ezra Park in seinem
einleitenden Beitrag zum 1925 erstmals erschienenen Sammelband „The City“, so etwas wie eine
Bestandsaufnahme oder das „Manifest“2 der Chicagoer Schule der Stadtsoziologie, formulierte. Er
strukturiert darin sorgfältig sein Forschungsfeld – die Stadt als „Labor oder Klinik, in der sich die
menschliche Natur und soziale Prozesse auf vorteilhafte und erfolgversprechende Weise studieren
lassen“3 – und führt an die hundert Fragen oder Fragenkomplexe an, die seiner Ansicht nach eines
genaueren Studiums bedürfen.
Kein Wunder, dass Park, der – bevor er sich der Forschung zuwandte – selbst mehr als zehn Jahre
als Reporter gearbeitet hatte, im Abschnitt „Advertising and social control“ auch der Stadt als
Informations- und Kommunikationsraum prominent Platz einräumt. Diese unterscheide sich von
kleineren Gemeinden insbesondere dadurch, dass im Dorf persönliche Informationen, also Tratsch,
über alle Bewohner jederzeit frei verfügbar seien. Dafür gebe es in der Stadt die Zeitung: „The
newspaper is the great medium of communication within the city, and it is the basis of the
information which it supplies that public opinion rests.“ In der Stadt werde Lesen „zur
Notwendigkeit“4, wie Park in einem späteren Kapitel schreibt, in dem er sich an einer „Natural
History of the Newspaper“ versucht. Auch demokratiepolitisch hätten Zeitungen wichtige
Aufgaben. Ob sie diese auch grundsätzlich erfüllen könnten oder zu dieser Zeit tatsächlich schon
erfüllten, lässt er aber offen. Da müsse man erst noch weiterforschen.5
Dass der Journalismus, zumal der lokale, heute noch „eine wichtige kommunal- oder
regionalpolitische Aufgabe“6 zu erfüllen hätte, ist auch 90 Jahre nach Parks programmatischem Text
unbestritten. Ob und in welcher Form er sie aber erfüllen kann, ist unklarer denn je. Denn einerseits
gilt gerade der Lokaljournalismus als „Krisenverlierer“7, andererseits aber auch als Hoffnungsträger
in Zeiten von Internet und Bürgerjournalismus: „Nirgendwo ist die deutsche ,Zeitungskrise´, sofern
1
Park, Robert E.: The Natural History of the Newspaper. In: Park, Robert E. [u.a.]: The City. With an Introduction by
Morris Janowitz. Chicago 1984 [Erstauflage 1925]. S. 85.
2
Lindner, Rolf: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt [u.a.] 2004. S. 123.
3
Park, Robert E.: The City: Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the Urban Environment. In: Park
[u.a.], City, S. 46.
4
Ebda, S. 39.
5
Vgl. Park, Robert E.: The Natural History of the Newspaper. In Ebda, S. 80-98.
6
Wolf, Fritz: Salto Lokale. Das Chancenpotenzial lokaler Öffentlichkeit. Mainz 2010 (= Dokumentation zum 15.
MainzerMedienDisput). Im Internet: http://www.netzwerkrecherche.de/files/mmd-dossier-2010-salto-lokale.pdf. S.
6 (abgerufen am 3. 11. 2013).
7
Ebda, S. 7.
man sie mit Auflagenverfall gleichsetzt, größer als im Lokalen“8, so Daniel Chmielewski. Aber:
„Der lokale Raum, und noch kleinteiliger der sogenannte hyperlokale Raum, wird wieder stärker ins
Visier genommen, um mögliche Erlösmodelle zu erschließen und Leserschaften zu binden“9,
analysiert Wiebke Möhring.
Dennoch wirkt die Debatte über den Lokaljournalismus der Zukunft merkwürdig kraftlos, so sie
überhaupt geführt wird. Der Lokaljournalismus wird nach wie vor sowohl von der Kommunal- als
auch von der Medienpolitik sowie seitens der Kommunikationswissenschaft „sträflich
vernachlässigt“10. Für größere Analysetiefe jenseits weltanschaulicher Verengung in der Diskussion
plädiert auch Michael Haller. Vielleicht solle man erst einmal versuchen, die Lebenswelten der
Leser besser zu verstehen, bevor man voreilige Schlüsse ziehe, so Haller im August 2012.11 Robert
E. Park hätte zugestimmt. Und der Schockstarre, die einige Verleger und Medienmacher angesichts
aktueller krisenhaften Erscheinungen befallen hat, entgegengehalten: „It is safe to say that when
anything shocks us, we do not understand it.“12
Der vorliegende Text versteht sich als Beitrag, die Schockstarre rund um die Diskussionen zur
Zukunft des Lokaljournalismus zu überwinden, die Fragestellungen ein wenig zu weiten, um den
neuen, durch Internet und Globalisierung entgrenzten, lokalen Räumen auf den Grund zu gehen. Er
versucht dies, indem er Perspektiven der Stadtsoziologie in die Betrachtung mit einbezieht,
außerdem praktische Erfahrungen aus einer Reihe explorativer (hyper)lokaler journalistischer
Projekte auswertet, die am Studiengang Journalismus und PR (JPR) der FH JOANNEUM Graz mit
konzipiert bzw. umgesetzt wurden.

Die Projekte
Über die vergangenen zwei Jahre war der Studiengang JPR wiederholt in journalistische bzw.
interdisziplinär ausgerichtete Projekte im (hyper)lokalen Bereich involviert, in Graz ebenso wie in
Wien. Weniger um eine am Reißbrett entwickelte Forschungsagenda abzuarbeiten, vielmehr im
Sinne einer schrittweisen und explorativen Annäherung an das „Labor“ Stadt, das seit einigen
Jahren derart massiven Veränderungsprozessen unterworfen ist, dass ein grundlegendes Neudenken
des Verhältnisses von Stadtraum und (medialer) Öffentlichkeit notwendig erscheint. Im Folgenden
werden vier dieser Projekte und Projektbeteiligungen exemplarisch angeführt und kurz beschrieben.
8
Chmielewski, Daniel: Lokale Leser. Lokale Nutzer. Informationsinteressen im Vergleich. Eine crossmediale
Fallstudie. Köln 2011. S. 14.
9
Möhring, Wiebke: Profession mit Zukunft? Zum Entwicklungsstand des Lokaljournalismus. In: Das verkannte
Ressort. Probleme und Perspektiven des Lokaljournalismus. Hg. v. Horst Pöttker und Anke Vehmeier. Wiesbaden
2013. S. 67.
10
Pöttker, Horst: Einleitung. Das verkannte Ressort. Strukturen und Probleme des Lokaljournalismus in der digitalen
Medienwelt. In: ebda, S. 9.
11
Vgl. Haller, Michael: Diagnose: Fehldiagnose! In: 2020 – Die Zeitungsdebatte auf Spiegel Online. Im Internet:
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/michael-haller-zur-zeitungsdebatte-a-917026.html (abgerufen am 3. 11.
2013).
12
Park, Natural History, S. 98.
Annenpost
Ursprünglich vom Schriftsteller Stefan Schmitzer als gedruckte Publikation für „literarische
Berichte“ im Rahmen des vom Kunstverein < rotor > erdachten Projekts Annenviertel. Die Kunst
des urbanen Handelns konzipiert,13 wird die Annenpost seit Herbst 2011 im Rahmen der
Lehrveranstaltungen Projektarbeit 1 und 2 der Bachelorausbildung des Studiengangs JPR jeweils
vom ersten Jahrgang als hyperlokaler journalistischer Weblog über das Grazer Annenviertel
betrieben. Der Kunstverein < rotor > proklamierte das Annenviertel 2009 als eigenen Stadtteil, der
sich – ohne fixe Grenzen zu haben – im Wesentlichen aus den Grazer Bezirken Lend und Gries,
zwei der diversesten Viertel der Stadt, zusammensetzen soll. Seither ist die Bezeichnung in die
Alltagssprache eingeflossen.14
Die Annenpost versteht sich sowohl als öffentliches Medium als auch als Ausbildungs- und
Experimentierplattform,15 ist außerdem Partner eines losen Annenviertel-Netzwerks,16 zu dem u.a.
auch die Stadtbaudirektion Graz mit dem Stadtteilmanagement Annenviertel zählt. Die am Weblog
verhandelte thematische Bandbreite ist groß, Themen und Perspektiven werden mit dem Anspruch
gewählt, der Diversität im Viertel auch in der Berichterstattung gerecht zu werden. Die
Publikumsinteraktion beschränkt sich derzeit auf Kommentare im Blog und Reaktionen auf der
Facebook-Seite, die aktuell bei 1525 „Likes“ hält.17

Unser Plan vom Annenviertel


Ebenfalls in Kooperation mit dem < rotor > und dem Stadtteilmanagement Annenviertel sowie der
Agentur En Garde, entstand im Auftrag der Design-Biennale in Saint-Etienne und als offizieller
Beitrag der UNESCO City of Design Graz zur Ausstellung EmpathiCITY18 das kollaborative
Mapping-Projekt Unsere Plan vom Annenviertel19. Anders als in herkömmlichen Kartographien

13
Vgl. Annenpost. Literarische Berichte (6 Ausgaben). Hg. v. < rotor > Zentrum für zeitgenössische Kunst. Im
Internet: http://rotor.mur.at/con_annen2_annenpost_ger.html (abgerufen am 4.11.2013).
14
So pries etwa das Raiffeisen-Magazin future bereits im März 2011 die Lage eines Wohnbauprojekts wie folgt an:
„Das Annenviertel mausert sich zum dynamischen innerstädtischen ,Trend-Karree´ und zieht mit reichhaltigem
Kultur- und Freizeitangebot immer mehr junge Menschen an.“
N. N.: Neue Wohnkultur in Graz. In: Future, 01/11. S. 4. Im Internet:
http://www.raiffeisenevolution.com/fileadmin/template01/uploads/pdfs/future_magazin/futuremagazin_01_2011.pdf
(abgerufen am 4. 11. 2013).
15
Vgl. Über uns. Hg. v. Studiengang JPR. Im Internet: http://www.annenpost.at/uber-uns/ (abgerufen am 4.11.2013).
16
Vgl. Stadtteilprojekt Annenviertel: Annenviertel. Mach mit! Im Internet: http:// annenviertel.at/die-initiative/
(abgerufen am 4. 11. 2013).
17
Vgl. Studiengang JPR: annenpost.at auf Facebook. Im Internet: http://www.facebook.com/annenpost (abgerufen am
13. 11. 2013).
18
Vgl. Biennale Internationale Design Saint-Étienne 2013: Exposition. EmpathiCITY, Making our City together (14.-
31. 3. 2013). Im Internet: http://www.biennale-design.com/saint-etienne/2013/fr/expositions/020113-z1-empathicity
(abgerufen am 4. 11. 2013).
19
Stadtteilprojekt Annenviertel: Unser Plan vom Annenviertel. Im Internet: http://annenviertel.at/2013/05/unser-plan-
vom-annenviertel-2/ (abgerufen am 4. 11. 2013).
wurde versucht, den Stadtteil „für sich sprechen zu lassen“20. In einem offenen Mapping-Workshop
sowie einer Reihe von durch Studierende geführten Interviews mit Viertelbewohnern aus den
verschiedenen Communitys, die nicht am Workshop teilnahmen, wurden „interessante, wichtige,
kuriose, sehenswerte, schöne, praktische Orte“ samt dazugehöriger Geschichte gesammelt,
ausgewertet, beschrieben und auf dem Viertelplan verzeichnet, der dann in einer Auflage von
20.000 (deutsch) bzw. 10.000 Stück (englisch) gedruckt und verteilt wurde.21

Poste es!
Für die Programmschiene Into the city der Wiener Festwochen 2012 entwickelte der Studiengang
JPR gemeinsam mit dem Künstler Michael Hieslmair das Projekt Poste es!, das in Kooperation mit
der Gebietsbetreuung Stadterneuerung 10 rund um die Quellenstraße im zehnten Wiener
Gemeindebezirk Favoriten „neueste Nachrichten, Reportagen, Interviews – Stadtbewohnern für
Stadtbewohner“ im Rahmen eines „Community-Weblogs“ und einer „Installation im öffentlichen
Raum“ sichtbar machte.22 Die Geschichte der Sozialreportage in Österreich, an deren Anfang Victor
Adlers Artikelserie in der Gleichheit über die Arbeitsbedingungen der Ziegelarbeiter am
Wienerberg,23 somit ganz in der Nähe des Projektgebiets, stand, diente als Hintergrundfolie. Daran
knüpfte sich die Frage: Wie lassen sich derart unterschiedliche Lebenswelten, wie sie etwa in Wien
Favoriten aufeinander treffen, in Zeiten des Web 2.0 sichtbar machen und produktiv vernetzen?
Methodisch bediente sich das Projekt verschiedener Recherche- und Übersetzungsverfahren der
Kunst, des Journalismus sowie der Sozial- und Geisteswissenschaften. Das Teilprojekt [00:00:00-
7:02:53], ein gedruckter Band mit Wortlauttranskriptionen von mehr als sieben Stunden offen
geführter Gespräche mit Viertelbewohnern, der während der Projektlaufzeit im Atatürk
Kulturverein sowie in der Kirche zur Heiligen Familie zur Lektüre auflag, mag dafür als Beispiel
dienen.24
Formal stand bei Poste es! das Verweben von Stadt und virtuellem Raum im Vordergrund. Das von
einer Gruppe von Künstlern und Journalisten gemeinsam mit Bewohnern an unterschiedlichen
Orten – in Ali´s Teestube, am Würstelstand Alles Walzer, alles Wurst oder beim Friseur Viva –

20
Wolkinger, Thomas: Naša mapa štvrte Annenviertel. In: designum, 3/2013. S. 39.
Eine deutsche Übersetzung findet sich unter http://wolkinger.wordpress.com/2013/08/20/nasa-mapa-stvrte-
annenviertel/ (abgerufen am 4. 11. 2013).
21
Vgl ebda. S. 39-41.
22
Vgl. Wiener Festwochen: Into the City. Poste es! (12. 5.-9. 6. 2012). Im Internet:
http://www.festwochen.at/index.php?id=eventdetail&detail=744 (abgerufen am 4. 11. 2013). Eine umfassendere
Dokumentation des Projekts findet sich unter http://wolkinger.wordpress.com/2012/07/05/p-t-poste-es/ (abgerufen
am 4. 11. 2013).
23
Vgl. Grabovszki, Ernst: Nachwort. In: Emil Kläger. Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens. Ein
Wanderbuch aus dem Jenseits. Hg. v. Ernst Grabovszki. Wien 2011 [Erstauflage 1908]. S. II.
24
Vgl. [00:00:00-7:02:53]. Hg. v. Thomas Wolkinger. Wien 2013 (auf zehn Exemplare limitierte Auflage). Im Internet
unter http://de.scribd.com/twolkinger (abgerufen am 4. 11. 2013).
erarbeitete Material fand Eingang in den Weblog25 und wurde außerdem an die Orte des Entstehens
sowie in den Ausstellungsraum in der Gebietsbetreuung 10 „zurückgespielt“. Der Weblog wurde
mit Projektende eingestellt, verschiedene Reaktivierungsversuche verliefen erfolglos.

Graz, offene Stadt?


So etwas wie eine Live-Mapping-Show hatte das Elevate-Festival 2013 unter dem Titel Graz,
offene Stadt? geplant,26 für die der Studiengang JPR gemeinsam mit dem Sozialhistoriker Joachim
Hainzl das Teilprojekt Mapventure & Storywalk entwickelte.27 Einem Recherche-Mob nicht
unähnlich begab sich eine Gruppe Studierender sowie weiterer Teilnehmer an Orte, deren
Eigenschaft als „öffentliche“ zumindest in Diskussion steht, und versuchte diese unter Moderation
von Joachim Hainzl während zwei Stunden zu vermessen bzw. journalistisch zu fassen. Das live
generierte Material (GPS-Signale, Text, Bild, Kurzvideo, Livestream) wurde direkt bzw. über
Twitter zum Hashtag #e13graz veröffentlicht und teilweise in den Show-Raum im Forum Stadtpark
eingespielt. Fünf weitere Projektgruppen steuerten zeitgleich Live-Recherchen zu verwandten
Themen bei.

Was ist heute noch „das Lokale“?


Wenn also wahr ist, dass die Qualität der lokalen Berichterstattung „mitentscheidend für die
Qualität der Demokratie“28 ist, dann lohnt zunächst ein erneuter Blick auf die Frage, unter welchen
Umständen überhaupt von Lokaljournalismus oder von „hyperlokalem“ zu sprechen ist. In der
Regel wird „das Lokale“ rein formal definiert. Möhring versteht unter lokalen Räume
„soziokulturelle Räume, in denen sich die Menschen zuhause fühlen“, außerdem lasse sich das
Lokale mittels bestehender Verwaltungseinheiten und Gemeindegrenzen oder auch anhand des
Verbreitungsgebiets eines Mediums dingfest machen. „Eine klare Abgrenzung von sublokalen,
lokalen und regionalen Inhalten und Räumen ist somit bis heute schwierig.“29

Dazu kommt, dass durch die Individualisierung der Lebensstile und Tagesrhythmen aber auch durch
das Internet „lokaler Ort“ und Zeit vielfach nicht mehr synchron erlebt werden. „Lokalisierung
findet heute mehr und mehr zu einem großen Teil in Social Networks statt. Social Networks

25
Vgl. Der Quellenstraßen Blog. Hg. v. Thomas Wolkinger und Michael Hieslmair. Im Internet:
http://quellenstrasse.net/ (abgerufen am 4. 11. 2013).
26
Vgl. Elevate Festival: Graz, offene Stadt? Den öffentlichen Raum entdecken mit OpenStreetMap (26. 10. 2013). Im
Internet: http://2013.elevate.at/e13graz/ (abgerufen am 4. 11. 2013).
27
Vgl. Elevate Festival: Mapventure & Storywalk. Im Internet: http://2013.elevate.at/festival/diskurs-
film/diskursprogramm/samstag-26okt/e13graz/1445-hauptbahnhof/ (abgerufen am 4. 11. 2013).
28
Flöper, Berthold F.: Vorwort. In: Sonja Kretzschmar [u.a.]: Lokaljournalismus. Wiesbaden 2009. S. 10. Im Internet:
http://books.google.com/books?hl=de&lr=&id=BRBwyC3t-jkC&pgis=1 (abgerufen am 13. 11. 2013).
29
Vgl. Möhring, Wiebke: Lokaljournalismus. Grundlegende Merkmale und Kennzeichen. In: Dossier
Lokaljournalismus der Bundeszentrale für Politische Bildung (erschienen am 21. 12. 2011). Im Internet:
http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/150756/einfuehrung-lokaljournalismus?p=all (abgerufen am 2. 11. 2013).
,transzendieren’ den konkreten landschaftlichen Ort“30, was zumindest für junge, urban geprägte
Menschen gelte.

Ist „das Lokale“ in Zeiten des Internet wirklich am Verschwinden? Und bestehen vielleicht
Unterschiede zwischen Stadt und Nicht-Stadt? Die Meinungen gehen in dieser Hinsicht
auseinander. Hanno Rauterberg etwa behauptet, dass von der einstigen Vision, Öffentlichkeit
verlagere sich völlig ins Netz, heute nur noch wenig übrig sei. Das zeige sich bereits daran, dass alle
relevanten Protestbewegungen der letzten Jahre die „Asphaltwirklichkeit“ der Stadt gesucht
hätten.31 Das Leben zwischen Netz und Stadtraum ist demnach komplizierter als es auf den ersten
Blick scheint. Sicher ist bloß: „Stadt und Journalismus haben sich seit jeher faszinierende Impulse
gegeben.“32
In der Digitalmoderne, so Rauterberg, erscheine der reale städtische Raum als „Gegenpol zur
virtuellen Sphäre“. Ohne die digitalen Techniken wäre es aber andererseits gar nicht erst zur derzeit
beobachtbaren Neubelebung der Stadt gekommen: „Für die meisten Menschen ist das Leben
zwittrig geworden“33. Ähnlich argumentieren Steve Paulussen und Evelien D´heer: „While the
internet may have turned the world into a ,global village’, there is also a countervailing tendency:
parallel to the globalisation effect of the internet, evidence for people’s interest in their ,local
village’ can be found in the large number and success of community-based media“34. Kristy Hess
schlägt aus ähnlichen Gründen das Attribut „geo-social“ vor, um das neue Verhältnis von Medien
und Räumen zu charakterisieren.35
Und das Verhältnis zwischen Stadt und Land? Während man einerseits meinen kann, dass „[l]okal
in einer Großstadt (...) etwas anderes als auf dem flachen Land“36 bedeute und jemand wie Lutz
Feierabend, stellvertretender Chefredakteur des Kölner Stadtanzeiger, genau das aus der
Perspektive des Praktikers bestätigen kann,37 geht die Stadtsoziologie mittelfristig auch in dieser
Frage von Entgrenzungstendenzen aus. „Das Verblassen der Trennlinie zwischen Stadt und Land ist
weltweit in unterschiedlichem Tempo vorangeschritten, doch ohne Zweifel ist dabei die von

30
Lönneker, Jens: Was ist „lokal“? In: Dossier Lokaljournalismus der Bundeszentrale für Politische Bildung,
erschienen am 29. 2. 2012. Im Internet: http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/151097/was-ist-lokal/ (abgerufen am
2. 11. 2013).
31
Vgl. Rauterberg, Hanno: Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne. Berlin 2013. S. 11f.
32
Haas, Hannes: Empirischer Journalismus: Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wien [u.a.]
1999. S. 132.
33
Rauterberg, Stadt, S. 15.
34
Paulussen, Steve und D’heer, Evelien: Using Citizens for Community Journalism. In: Journalism Practice, 5/2013.
S. 589. Im Internet: http://dx.doi.org/10.1080/17512786.2012.756667 (abgerufen am 2. 11. 2013).
35
Vgl. Hess, Kristy: Breaking Boundaries. In: Digital Journalism, 1/2013. S. 48-63. Im Internet:
http://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/21670811.2012.714933 (abgerufen am 13.11.2013).
36
Wolf, Fritz: Chancen und Risiken des Lokaljournalismus heute. In: Das verkannte Ressort. Probleme und
Perspektiven des Lokaljournalismus. Hg. v. Horst Pöttker und Anke Vehmeier. Wiesbaden 2013. S. 129.
37
„Die Lage ist da völlig unterschiedlich. In der Großstadt treffen wir auf einen viel stärkeren Verlust an Identifikation
mit der Nahwelt.“
Wolf, Salto, S. 12.
Lefebvre vorausgesehene Richtung eigeschlagen worden“38, schreibt der neomarxistische
Anthropologe und Geograph David Harvey in Anlehnung an Henri Lefebvres These von der
„vollständigen Verstädterung der Gesellschaft“39. Rauterberg wiederum greift den
Glokalisierungsdiskurs der 90er-Jahre wieder auf, wenn er schreibt: „Globales und Lokales
verschmelzen zum Glokalen, das Rurale und Urbane zum Rurbanen.“40
Folglich ist auch „die Stadt“ längst nicht mehr, was sie einmal war. „Rund um den Globus sind
Städte auf dem Weg, sich neu zu erfinden.“41 Die 1933 verabschiedete und später von Le Corbusier
weiter ausgebaute Charta von Athen wandere gerade ins Architekturmuseum, so Ralf Fücks, die
streng nach funktional-räumlichen Aspekten in Arbeits-, Wohn- und Kulturräume gegliederte Stadt,
die auch die spezifische Qualität urbaner Öffentlichkeit zerstört habe, weiche aktuell wieder
funktional durchmischten Stadtkonzepten.42 In der Digitalmoderne ist Beschleunigung und
Bewegung auch ohne Expansion an der Peripherie oder nach oben zu haben, wie sie noch die
Moderne charakterisierte, so Rauterberg.43 „Raum scheint eher als etwas, das nicht ist, sondern
wird, also aus Bewegungen und Vorgängen hervorgeht: ein ,Ensemble von Relationen´.“44
Noch weitaus dramatischer beschreibt Doug Saunders den urbanen Wandel, wenn er die aktuellen
globalen Migrationsbewegungen als Ausdruck der „letzten großen Wanderungsbewegung der
Menschheit“ bezeichnet. „In diesem Jahrhundert ist ein Drittel der Weltbevölkerung in Bewegung,
zieht vom Dorf in die Stadt.“45 Im Jahr 2050 würden 70 Prozent der Menschheit in Städten leben,
dabei entstehe auch ein völlig neuer Stadtteiltypus, den Saunders als „Ankunftsstadt“ bezeichnet –
Stadtviertel, die Herkunfts- und Zielstadt oder -dorf auf vielerlei Weise miteinander verbinden und
zugleich als Niederlassungsplattform wie als Motor sozialer Mobilität dienen.46
Auf welche Weise und in welcher Geschwindigkeit sich der globalisierte geo-soziale Raum künftig
durch Second-Screen- oder Augmented-Reality-Technologien wie etwa Google Glass weiter
„verflüssigt“47, ist aktuell nicht absehbar.

So nah und doch so fern


Was aber könnte es für die journalistische Praxis bedeuten, wenn das Lokale ins „Geo-Soziale“
fließt, die Welt zusehends verstädtert, die Stadt sich stark verdichtet, während zugleich das Dorf in

38
Harvey, David: Rebellische Städte. Berlin 2013. S. 19.
39
Vgl. Lefebvre, Henri: The Urban Revolution. Minneapolis 2003 [Erstauflage 1970].
40
Rauterberg, Stadt, S. 145.
41
Fücks, Ralf: Der Moloch Stadt erfindet sich neu. In: Urban Futures 2050. Szenarien und Lösungen für das
Jahrhundert der Städte. Hg. Von der Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin 2011 (= Schriftenreihe Ökologie, Bd. 18). S. 17.
42
Vgl. ebda.
43
Vgl. Rauterberg, Stadt, S. 51f.
44
Ebda, S. 31.
45
Saunders, Doug: Die neue Völkerwanderung. Arrival City. München 2013. S. 39.
46
Vgl. ebda, S. 37-41.
47
„Fluidität heißt der neue Leitwert. Die Dinge sind im Fluss, wie die Begriffe und das eigene Ich.“
Rauterber, Stadt, S.21.
die Stadt kippt? Wie reagieren zum Beispiel die Lokalressorts Wiener Medien darauf, dass – um nur
ein kleines Beispiel anzuführen – ein Gutteil der türkischstämmigen Bevölkerung der Stadt aus der
zentralanatolischen Provinz Yozgat – und da vor allem aus der Kleinstadt Akdagmadeni – stammt?48
Aktuell so gut wie gar nicht, wie auch Recherchen im Zuge des Projekts Poste es! ergaben. Außer
in „Ethno-Medien“49, deren das aktuelle Medienhandbuch Migration & Diversität an die 130
verzeichnet,50 die aber in der breiteren Öffentlichkeit praktisch völlig unbekannt sind, wird nur in
Ausnahmefällen über die neuen geo-sozialen Verhältnisse berichtet. Für Park waren diese
Phänomene in den 1920er Jahren hingegen sehr relevant. Die 270 „Ethno-Medien“, die damals in
New York erschienen, seien in 23 Sprachen publiziert worden, vermerkt er sorgfältig.51
Der Lokaljournalismus hat es offenbar seit Längerem verabsäumt, sich diesen neuen Lebenswelten
zu öffnen. Bereits seit den 80er Jahren, also schon vor dem Internet, weist Michael Haller für
Deutschland nach, habe sich die Tageszeitung, insbesondere die lokale, Schritt um Schritt vor allem
von jungen Leserinnen und Lesern entfernt und spricht in diesem Zusammenhang von einem
„Prozess der Entfremdung“52. Der „growing gap“ zwischen den Bedürfnissen der Leser und dem
Nachrichtenangebot der Journalisten dürfte auch auf den wachsenden kommerziellen Druck auf die
Verlage zurückzuführen sein.53
Dazu kommt, dass aufgrund der Veränderung des urbanen Raumes eben auch die
Identifikationspotenziale mit dem traditionellen „Lokalen“ schwinden. Denn Interesse an lokalen
Informationen haben vor allem Leser, die nicht bloß eine rationale Ortsbindung aufweisen – sich
also bloß in einer Stadt aufhalten, um hier zu arbeiten –, sondern darüber hinaus sozial und
emotional an den Wohnort gebunden sind, sich womöglich, nach längerem Aufenthalt, stark mit
ihm identifizieren.54 Daraus lässt sich auch der inhaltlich eher konservative Zugang vieler lokaler
Gratiszeitungen in Österreich erklären, die sich vorwiegend an die „Alteingesessenen“ richten – als
Beispiele mögen die bz-Wiener Bezirkszeitung oder das Wiener Bezirksblatt dienen. Die „geo-
soziale“ Ankunftsstadt, könnte man sagen, ist in Österreichs Medien noch nicht angekommen.

48
Vgl. Bernath, Markus: Die Schilling-Könige von Anatolien. In: Der Standard vom 25./26. 9. 2010. Im Internet:
http://derstandard.at/1285199217937/Standard-Reportage-Die-Schilling-Koenige-von-Anatolien (abgefragt am 31.
10. 2013).
49
Vgl. Matsaganis, Matthew D. [u. a.]: Understanding Ethnic Media. Producers, Consumers and Societies. Thousand
Oaks [u. a.] 2011.
50
Vgl. Akinyosoye, Clara und Inou, Simon: Österreichisches Medienhandbuch. Migration & Diversität 2013. Wien
2013.
51
Vgl. Park, City, S. 26f.
52
Haller, Michael: Die vertraute Fremde. Junge Leser und die Zukunft der Zeitung. In: Dossier Lokaljournalismus der
Bundeszentrale für Politische Bildung (erschienen am 28. 8. 2011). Im Internet:
http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/lokaljournalismus/150777/junge-leser?p=all (abgerufen am 13. 11. 2013).
53
Vgl. Bruns, Axel: News Blogs and Citizen Journalism: New Directions for e-Journalism. In: e-Journalism: New
Media and News Media. Hg. v. Kiran Prasad. Dheli 2009. Im Internet: http://snurb.info/files/News%20Blogs
%20and%20Citizen%20Journalism.pdf. S. 102. (abgerufen am 13. 11. 2013).
54
Vgl. Süper, Daniel: Meine Heimat. Meine Zeitung. Zur Ortsbindung von Lokalzeitungslesern und Nutzern lokaler
Nachrichtendienste. In: Das verkannte Ressort. Probleme und Perspektiven des Lokaljournalismus. Hg. v. Horst
Pöttker und Anke Vehmeier. Wiesbaden 2013. S. 104f.
Noch ein Beispiel: Wenn Martina Salomon im Kurier-Leitartikel über den Wiener Bezirk Favoriten
schreibt, dass eine „Gegend mit hohem Ausländeranteil zur No-go-Zone wird, wo Salafisten offen
um Nachwuchs werben und machtvolle Pro-Erdoğan-Demonstrationen ihren Ausgang nehmen“55,
wird dies das Identifikationspotenzial zumindest der „ausländischen“ Wiener Bevölkerung mit dem
Kurier nicht gerade befördern.
Auf die hinter diesem Einzelfall liegenden strukturellen Probleme verweist eine Untersuchung von
Karin Zauner.56 93 Prozent der von ihr befragten Chefredakteure bzw. Geschäftsführer
reichweitenstarker Medien nannten auf die Frage, in welchen Kontexten ZuwanderInnen in
Österreichs Medien dargestellt würden, den Kontext „Problem/Konflikt“, 63 Prozent
„Kriminalität“, 28 Prozent „Bedrohung/Angst“ und 23 Prozent „Asyl/AsylwerberInnen“.
Erfolgsgeschichten wurden nur von fünf Prozent erwähnt. Ein Ergebnis, das sich auch mit einer
schnelle Inhaltsanalyse untermauern lässt, wie sie im Zuge des Projekts Poste es! über den APA
Online Manager durchgeführt wurde: So fanden sich unter den rund 300 Treffern bei einer Suche
nach der zentralen Favoritener „Quellenstraße“ seit 1986 zu fast hundert Prozent nur
Negativmeldungen wie Verkehrsunfälle oder Banküberfälle.

Hyperlokaler Journalismus
Welche journalistischen Potenziale bergen nun diese neuen Stadträume? Werden „hyperlokale“
Zugänge, also Plattformen und Netzwerke für Nutzer, die sich in und über einen „geo-sozial“ eng
geführten Raum austauschen, diesen Räumen gerecht? Was sind überhaupt „hyperlokale Medien“?
Harper grenzt „hyperlokalen Journalismus“ sowohl von „community“ als auch von „public
journalism“ ab und spricht von Ersterem dann, wenn über „a specific neighborhood, a precise
geographic location, or a specific community with common interests that may not be defined
geographically“57 berichtet wird. Im Einzelfall kann also die geographische Komponente völlig
hinter die soziale zurücktreten. Bürger hätten zwar in vielen Fällen die Möglichkeit, über
Kommentare o.ä. am journalistischen Prozess teilzuhaben („citizen journalism“),
definitionsbegründend sei aber auch das nicht.58 Metzgar, Kurpius und Rowley grenzen
„hyperlokale“ von „community media“ ab und schlagen folgende Defintion vor: „Hyperlocal media
operations are geographically-based, community-oriented, original-news-reporting organizations
indigenous to the web and intended to fill perceived gaps in coverage of an issue or region and to

55
Salomon, Martina: Mehr Augenmerk auf Problemregionen. Im Kurier vom 13. 10. 2013. Im Internet:
http://kurier.at/meinung/kommentare/innenpolitik/mehr-augenmerk-auf-problemregionen/30.828.010 (abgerufen am
13. 11. 2013).
56
Vgl. Zauner, Karin: Zuwanderung – Herausforderung für Österreichs Medien. Im Internet:
http://medienservicestelle.at/migration_bewegt/wp-content/uploads/2012/01/IBIB_ZuwanderungMedien.pdf
(abgerufen am 13. 11. 2013).
57
Harper, Christopher: Urban Journalism: Street by Street. In: Journal of Literature and Art Studies, 2/2012, S. 643.
58
Vgl. ebda.
promote civic engagement.“59 Reine „communitys of interest“ ganz ohne lokalen Bezug sind nach
dieser Definition ausgeschlossen.
Obwohl in den USA nach den ersten Pleiten hyperlokaler Start-ups, die rund um das Jahr 2005
erstmals auf den Plan traten,60 ein wenig Ernüchterung eingetreten ist, zeichnet sich eine eindeutige
Entwicklung noch nicht ab: „But I refuse to give up hope because there’s a reason for each fall,
there’s much still to do, and it’s still early“61, so Jeff Jarvis, ein nachhaltiger Verfechter hyperlokale
Zugänge, dessen Studierende an der Graduate School of Journalism der City University of New
York über einige Jahre den Viertelblog The Local gemeinsam mit der New York Times betrieben.62 In
Deutschland ist das Bild ein anderes: Große Aggregatoren sind bislang ausgeblieben, mit
myheimat.de hat sich aber auch eine überregionale Bürgerreporter-Plattform etabliert, dazu ist eine
Fülle unterschiedlicher hyperlokaler Initiativen entstanden, die sich im Einzelnen erheblich in
Bezug auf Inhalte, Struktur und Geschäftsmodell unterscheiden.63 Mit Zoom Berlin betreibt auch die
Axel Springer Akademie seit Juli 2012 einen hyperlokalen Muster-Blog über die Oranienstraße, der
inzwischen aber offenbar nicht mehr aktualisiert wird. Als der journalist zuletzt „Die Zweite Welle“
hyperlokaler Webseiten untersuchte, die nach Pionieren wie den Prenzlauer Berg Nachrichten, den
Ruhrbaronen oder dem Heddesheim Blog an den Start gingen, bilanzierte der Autor, dass mit diesen
Projekten aktuell „leider nicht genug“ Geld verdient würde. Aber: „Der eigentliche Umbruch steht
noch bevor.“64
Eine ähnliche Vielfalt wie in Deutschland sucht man in Österreich vergeblich. Die Gratisblätter der
Regionalmedien Austria haben ihre Contents unter meinbezirk.at gebündelt und für Leserbeiträge
geöffnet. Vereinzelt gibt es Nachbarschaftsinitiativen wie MonteLaa.net oder eben Projekte wie die
Annenpost oder Poste es!, die sich ebenfalls als „hyperlokale Medien“ qualifizieren lassen.

Fragen und Vorschläge zur Weiterentwicklung des (hyper)lokalen Journalismus


Das Bild ist also überaus ambivalent. Einerseits mutiert der lokale Raum unablässig, dabei
vergrößert sich der „gap“ zwischen Stadtraumbewohnern und herkömmlichem Lokaljournalismus

59
Metzgar, Emily T. [u.a.]: Defining hyperlocal media: Proposing a framework for discussion. In: new media &
society, 13/2011. S. 774.
60
Vgl. Hopper, Keith: A Brief History of Hyperlocal News. Im Internet: http://keithhopper.com/blog/brief-history-of-
hyperlocal-news (abgerufen am 13. 11. 2013).
61
Jarvis, Jeff: Hyperlocal cooties. In: BuzzMachine (erschienen am 8. 3. 2013). Hg. von Jeff Jarvis. Im Internet:
http://buzzmachine.com/2013/03/08/hyperlocal-cooties/ (abgefragt am 13. 11. 2013).
62
Vgl. Jarvis, Jeff: The Times & CUNY (and others) go hyperlocal. In: BuzzMachine (erschienen am 28.2.2009). Hg.
Von Jeff Jarvis. Im Internet: http://buzzmachine.com/2009/02/28/the-times-cuny-and-others-go-hyperlocal/
(abgefragt am 12. 11. 2013).
63
Vgl. Neubarth, Julia und Neuberger, Christoph: Der Blogkosmos. Lokale Blogs: Konkurrenz und/oder Ergänzung? In:
Dossier Lokaljournalismus der Bundeszentrale für Politische Bildung (erschienen am 2. 3. 2012). Im Internet:
http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/151419/der-blogkosmos?p=all (abgerufen am 2. 11. 2013).
64
O´Daniel, Benjamin: Die Zweite Welle. In: journalist, 9/2012. Im Internet:
http://www.journalist.de/aktuelles/meldungen/hyperlokale-webseiten-die-zweite-welle.html (abgerufen am 13. 11.
2013).
beständig, die Auflagen der Zeitungen sinken. Zugleich ist die Experimentierfreude, die neuen
urbanen Räume – online wie offline – medial zu gestalten, zumindest hierzulande nicht besonders
stark ausgeprägt. Was bedeutet das für den Journalismus? Was für eine demokratische
Öffentlichkeit?
Robert E. Park formulierte seine Forschungsfragen in den 1920er Jahren über eine Form von Stadt,
die sich einige Jahrzehnte zuvor, Ende des 19. Jahrhunderts, ebenfalls in einer Zeit rasanten
Wandels herausgebildet hatte. Die Großstadt der Jahrhundertwende hat sowohl den klassischen
Reportertypen als auch das Repertoire journalistischer Verfahrensweisen und Darstellungsformen
hervorgebracht, wie sie im Grunde heute noch in den Lehrbüchern erklärt werden – in der Regel
ohne Verweis auf ihre historische Bedingtheit. „Als Kundschafter entwickelt der Reporter
Recherchetechniken, die dem Image des Abenteurers ebenso wie den veränderten Gegebenheiten in
der großstädtischen Welt entsprechen: die Beobachtung und das Interview, die Untersuchung vor
Ort und die undercover-Recherche.“65 Presse und Großstadt, so Lindner, gingen eine „symbiotische
Beziehung“66 ein, in Erscheinungsweise, Distribution und Präsentation „schlägt sich der
großstädtische Rhythmus“67 nieder – ideal abgestimmt auf die „Steigerung des Nervenlebens“68 der
neuen großstädtischen Individualisten. „Die Zeitung neuen Typs ist eine zentrale Institution und
Instanz des Übergangs von der Tradition zur Moderne, der sich als Übergang vom Land zur Stadt,
von der Alten Welt zur Neuen Welt darstellt.“69
Doch diese Stadt gibt es nicht mehr, und auch ihre Medien, ihre Reportertypen sind am
Verschwinden. Andere Wissenschaften, die mit Kategorien des Lokalen operieren, haben mit
grundsätzlichen methodischen Diskussionen auf diese neuen Gegebenheiten reagiert. Der Ethnologe
George Marcus etwa hat bereits Mitte der 1980er Jahre eine „multi-sited ethnography“
vorgeschlagen, somit eine mobile Forschungsstrategie, die das traditionelle „Feld“ als zentralen Ort
der Forschung zugunsten eines multiplen, in einer „diffusen Raum-Zeit“ geschichteten Feldes
aufgibt, das der Ethnograph nach lebensweltlichen Spuren und Zusammenhängen untersucht.70 Eine
ähnliche Neuverortung erscheint auch für die Kommunikationswissenschaften, insbesondere für
den Lokaljournalismus, unerlässlich. Denn die Lokalzeitung, so wie wir sie kennen, ist für das
Eigenheim gemacht, könnte man mit Rauterberg sagen.71 Was aber ist das Leitmedium der neuen
„geo-sozialen“ Räume der Digitalmoderne?
An diese Grundfrage müsste man viele weitere, drängende Fragestellungen und Untersuchungen
65
Lindner, Rolf: Die Entdeckung der Stadtkultur: Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Mit einem aktuellen
Nachwort. Frankfurt am Main 2007 [Erstausgabe 1990]. S. 46.
66
Ebda, S. 21.
67
Ebda, S. 44f.
68
Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt am Main 2006 [erstmals 1903]. S. 9.
69
Ebda, S. 20.
70
Vgl. Marcus, George E.: Ethnography in/of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography. In:
Annual Review of Anthropology 24/1995.
71
Vgl. Rauterberg, Stadt, S. 27f.
anschließen: Was ist die Funktion dieser Medien und des mit ihnen in Zusammenhang stehenden
Journalismus, der das Lokale nicht bloß ins Hyper-Lokale übertreibt sondern auch über das Lokale
hinaus geht, um aktuellen Lebenswelten an „multiple sites“, an denen sie sich verwirklichen,
nachzuspüren? Was ist die Aufgabe der „Reporter“, die diesen Journalismus, der – dem doppelten
Wortsinn folgend – also ein „hyper-hyperlokaler wäre“, betreiben? Welche Themen behandeln sie?
Welche Formen nehmen die Kommunikationen an, über die sich dieser Journalismus darstellt?
Abschließend sollen einige dieser Fragen, wie sie sich auch im Zuge der Arbeit mit Studierenden an
der Annenpost, an Post es! und an den übrigen Projekten am Studiengang JPR immer wieder
stellen, noch detaillierter – von Parks neugierig intervenierendem Forschungsgestus ausgehend, der
sich sowohl durch seine empirischen Orientierung als auch durch seine moralische
Unvoreingenommenheit auszeichnete72 – aufgeschlüsselt werden.

Neue Funktionen des Lokaljournalismus, neue Strukturen, neue Rollen


 Wenn „interesseloses Interesse“73, eine distanzierte Einstellung, wenn also
„Objektivität“ die Haltung des Reporters der modernen Metropole des beginnenden 20.
Jahrhunderts war – was ist dann die journalistische Haltung, die hundert Jahre danach mit
den neuen urbanen Räumen korrespondiert?
 Wird der neue Journalismus einer sein, der „weniger arrogant“ ist? „More willing to
listen and take part in a conversation with their communities, more willing to be part of their
communities“?74
 Wird das ein Journalismus sein, der bewusst und selbstreflexiv Position in diesen
„geo-sozialen“ Communitys bezieht, eine aktivere Rolle einnimmt? Die eines
„Gatewatchers“75? Eines Community-Moderators76? Eines „Chefanwalt[s] für
Öffentlichkeit“77? Eines Kurators? Eines (Stadtteil-)Aktivisten?
 „What are the methods and motives of the newspaper man? Are they those of an
artist? a historian? Or merely those of a merchant?“78 Wird dieser Journalismus ein
„empirischer“79 sein, der sich – wie das bei Poste es! versucht wurde –
72
Lindern, Walks, S. 117.
73
Lindner, Walks, S. 120.
74
Kennedy, Dan: The Wired City. Reimagining Journalism and Civic Life in the Post-Newspaper Age. Boston 2013. S.
152.
75
Vgl. Bruns, Axel: Vom Gatekeeping zum Gatewatching. Modelle der journalistischen Vermittlung im Internet. In:
Journalismus im Internet. Profession - Partizipation – Technisierung. Hg. v. Christoph Neuberger [u.a.]. Wiesbaden
2009. Im Internet: http://snurb.info/files/2008_DFG_Vom%20Gatekeeping%20zum%20Gatewatching_preprint.pdf.
S. 107-128. (abgerufen am 14. 11. 2013).
76
Wolf, Salto, S. 34.
77
Golombek, Dieter: Mit Öffentlichkeit dienen. In: Dossier Lokaljournalismus der Bundeszentrale für Politische
Bildung (erschienen am 20.12.2012). Im Internet: http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/151167/mit-
oeffentlichkeit-dienen (abgerufen am 13. 11. 2013).
78
Park, City, S. 39.
79
Vgl. Haas, Journalismus.
sozialwissenschaftlicher Methoden ebenso selbstverständlich bedient wie künstlerischer?
 Was aber, wenn der „Gap“ zwischen traditionellen Medien und Bürgern so groß
wird, dass bestimmte Stadtteile nicht mehr versorgt werden können? Und: Ist das bereits der
Fall?
 Ist hyperlokale Öffentlichkeit, ist die Informations- und die Integrationsfunktion auf
lokaler Ebene ein „öffentliches Gut“80? Oder, um mit Park zu fragen: „What would be the
effect of making the newspaper a municipal monopoly?“81
 Welche hyperlokalen Geschäftsmodelle werden sich entwickeln?

Welche Themen? Welche Konversationen?


 Wenn der Journalismus der Großstadt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
unter anderem die Funktion hatte, „Innensichten fremder Lebenswelten“82 zu vermitteln,
wenn er, ganz im Rhythmus der Stadt, mit „Schlagzeilen“ auf das „Atypische, Unerwartete
und Regelwidrige“83 zielte, worauf zielt der neue hyperlokale Journalismus? Auf die
Integration unterschiedlicher Lebenswelten und Räume?
 Wenn die Gegenwart „liquide“ wird, wird dann – neben dem Neuen, das bis heute
den Nachrichtenwert eines Ereignisses zentral bestimmt – auch das Vergangene wichtiger?84
 Wer nimmt an den neue hyperlokalen Konversationen teil, und was ist mit den
Menschen, die aus sozialen oder kulturellen Gründen nicht teilnehmen wollen oder können?
 Was sind zeit- und raumgemäße Formen der Partizipation im Journalismus?

Welche Formen? Welche Verfahren?


 Was bedeutet „Recherche“ in diesen Räumen? Welches Potenzial haben
partizipative Recherchetechniken wie Crowdsourcing?
 Wenn „keine Form (...) für immer“85 Bestand hat: Welche Formen werden Nachricht,
Reportage, Interview, Kommentar künftig annehmen?
 Wie lässt sich der globalisierte „geo-soziale“ Stream sinnvoll formen, geographisch
bzw. zeitlich „einfrieren“, archivieren, mashen, ordnen oder sichtbar machen?
 Was ist der „Rhythmus“86 der neuen urbane Räume? Was das Äquivalent zur

80
Habermas, Jürgen: „Keine Demokratie kann sich das leisten“. In: Süddeutsche Zeitung vom 16. 5. 2007. Im Internet:
http://www.sueddeutsche.de/kultur/juergen-habermas-keine-demokratie-kann-sich-das-leisten-1.892340 (abgerufen
am 14. 11. 2013).
81
Park, City, S. 39.
82
Lindner, Entdeckung, S. 47.
83
Ebda, S. 17.
84
Vgl. Rauterberg, Stadt, S. 20-26.
85
Ebda, S. 26.
86
Lindner, Entdeckung, S. 44f.
„Schlagzeile“? Ein Tweet? Ein Storify? Eine Timeline? Ein Stream? Ist der Hashtag der
„Artikel“? Oder, um mit Robert E. Park erneut ganz grundsätzlich zu fragen: „What is
news?“87

87
Park, City, S. 39.

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