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stelle eine Art Programm der Akademie dar und deswegen spreche Platon hier so,
daß das Interesse nur geweckt, aber nicht befriedigt werde (vgl. u. Anm. 25). Da-
gegen ist jetzt bei R. S. BLUCK (s. o. Anm. 1) der akademische Hintergrund des
Dialogs kaum berücksichtigt, nur vermutungsweise heißt es dort (S. 43) zu der Frage
nach einem Lehrer des Arete-Wissens am Schluß des Dialogs: "Plato may have
seen himself in that röle, äs head of the Academy".
3
Zu den Problemen, die mit der Schule und mündlichen Lehre Platons zusam-
menhängen, liegt jetzt eine Reihe von neuen Untersuchungen und Darstellungen
vor: H. J. KRÄMER, Arete bei Platon und Aristoteles, Abh. Heidelberg 1959, 6; W.
BURKERT, Weisheit und Wissenschaft — Studien zu Pythagoras, Philolaos und
Platon, 1962; K. GAISER, Platons Ungeschriebene Lehre — Studien zur systemati-
schen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der platonischen Schule,
1963; H. J. KRÄMER, Der Ursprung der Geistmetaphysik — Untersuchungen zur
Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, 1963 [im Druck], Die Quellen-
zeugnisse aus den aristotelischen Lehrschriften und dem Ausstrahlungsbereich der
akademischen Schultradition sind zusammengestellt in einem Anhang meines soeben
genannten Buches (im folgenden = PL U. L.). — Die Frage nach einer ,Entwick-
lung1 der platonischen Philosophie kann, wie schon H. J. KRÄMER hervorgehoben
hat, nicht angemessen gestellt und beantwortet werden, wenn nicht die entscheidende
Bedeutung des esoterisch-akademischen Hintergrunds der Dialoge mitberück-
sichtigt wird. Die hier vorgelegte M^wow-Interpretation soll unter anderem einen
Beitrag zu einer neuen Erfassung der platonischen Entwicklung liefern. Da Platon,
wie sich zeigen wird, schon im Menon innerschulisch behandelte Lehren voraussetzt
und bewußt zurückhält, ist damit zu rechnen, daß es den reinen Aporetiker Platon,
Platons Menon und die Akademie 243
Der hier vorgelegte Beitrag befa t sich haupts chlich mit den
mathematischen Stellen des Dialogs. Doch treten im Menon auch
sonst Begriffe und Vorstellungen auf, die man zu ^esoterischen'
Lehren, wie sie in den aristotelischen Zeugnissen und sp teren Be-
richten fa bar werden, in Beziehung setzen kann. Mit einigen Be-
obachtungen hierzu sei die Erkl rung der mathematischen Stellen
vorbereitet.
Bei den Versuchen, das Wesen der Arete definitorisch zu bestim-
men, sucht Sokrates immer wieder das Eigentliche' vom ^eigent-
lichen' abzuheben. Dabei tauchen Begriffe auf, die in der Schule
Platons auch zur Bezeichnung und Unterscheidung der allgemeinen
Seinsprinzipien dienen konnten. Auf der einen Seite findet man n m-
lich im Menon Ausdr cke wie Sein (Wesen), Selbigkeil (Gleichheit),
Einheit, Ganzheit, An-sich-Sein, auf der anderen Seite stehen So-sein
(qualitative Beschaffenheit), Verschiedenheit, Vielheit, Relativit t*:
ουσία, τι εστίν ποιόν τι
ταυτόν έτη πασιν διαφέροντα, εναντία άλλήλοις
εν κατά πάντων, εν ε!δο$ πολλά
κατά όλου προς εκαστον
αυτό καθ * αυτό πρό$ (τι)
Zumal die Unterscheidung von ,an sich' und ,relativ' (καθ* αυτό
und προς έτερον, προς άλληλα) war f r Platon, wie einige Stellen
in anderen fr hen Dialogen zeigen, von Anfang an in terminolo-
gisch strenger \Veise vorgegeben, und zwar im Bereich der Mathe-
matik. Platon erw hnt an diesen Stellen eine — vielleicht pythago-
reische' — Zahlenlehre oder Logostheorie, die das Wesen der Zahlen
,an sich' und ,in bezug auf einander' untersuche. Von hier aus haben,
wie wir annehmen d rfen, diese Begriffe im Lauf der Zeit die all-
gemeine Bedeutung gewonnen, die ihnen nach den sp teren Zeug-
nissen im Rahmen der platonischen Ideen- und Prinzipienlehre
den sich die moderne Platondeutung eine Zeitlang zu eigen gemacht hat, niemals
gegeben hat — auch nicht in der fr hen Phase der ,aporetischen' Dialoge. \Korrektw ·
note: Soeben erscheint der Aufsatz von H. J. KR MER, Retraktationen zum Problem
des esoterischen Platon, Mus. Hclv. 21, 1»64, 137—167, in dem auch das Problem
der platonischen Entwicklung nochmals grunds tzlich er rtert wird1.
* Vgl. Menon 71B 3/4. 72A 3. 72B 1. C 2. C 6. E 6. 73A 1. B 3. D 1. 74D 5.
76 A. 77 A. 86E 1/2. 87 B 3. 100B 6. — F r das Begriffspaar τί εστίν und ποιόν τι
(Wesen selbst und daran auftretende Eigenschaft) sind ferner besonders die folgenden
Stellen aufschlu reich: Politcia IV 437Dff., Timaios 41 D—60A, Phileb. 37C,
Episl. VII 342 E ff. (dazu Epist. II 313 A).
244 Konrad G a i s c r
lieh G ltigen; dann er ffnet der Mittelteil des Dialogs mit der
,Anamnesislehre' und dem Hinweis auf das ,Gute' als Grund der
Arete (vgl. 87 D) einen Ausblick auf die Wahrheit selbst; und schlie -
lich f hrt das Gespr ch wieder zur ck in den Bereich der allt g-
lichen Erfahrung und der politischen Gegens tze7. Eine solche Ver-
bindung von 9AuJstieg' (Reduktion) und .Abstieg' (Deduktion) scheint
aber auch die Darstellung der Prinzipienlehre in der Akademie be-
stimmt zu haben.
Platon sucht die L sung der im ganzen Dialog behandelten Frage,
ob die Arete durch Lehren und Lernen (διδακτόν) oder von Natur
(φύσει) entsteht, offensichtlich darin, da echtes Lernen und Ver-
stehen im Grunde nichts anderes ist als eine .Wiedererinnerung' an
die allgemeine Ordnung der Physis, die der Ordnung in der Seele des
Einzelnen entspricht. Beides, δίδαξι$ und φύσις, geh rt also —
wie besonders J. Stenzel hervorgehoben hat — f r Platon untrenn-
bar zusammen: Die Verbindung liegt in der Seinsordnung, die ihren
Ursprung im G ttlichen hat8. So ist es der Gedanke einer „allge-
meinen Verwandschaft der Dinge'' (ατέ τή$ φύσεως άπάση$ συγγενούς
ούσης 81D 1), der dem Dialog die Geschlossenheit gibt, die man
sonst vermissen k nnte. Dieser Gedanke aber zielt deutlich auf eine
m glichst .systematische' Erfassung der Realit t, wie sie in der Schule
Platons versucht worden ist. Auf der gleichen Vorstellung beruht
wohl auch der im Gespr ch anscheinend vorausgesetzte Zusammen-
hang zwischen dem mathematischen Wissen und der politischen
Arete: Wenn es eine allgemeine Analogie des Seienden gibt, so kann
man diese mit Hilfe der Mathematik erforschen, um dann anderer-
seits umso sicherer auch die Normen und Gesetzm igkeiten der
politischen Ordnung daraus herzuleiten.
7
P. FRIEDL NDER, Platon II, 21957, 271.— Die Situation des in die ,H hle'
Zur ckgekehrten ist im Schlu teil des Dialogs besonders dadurch sp rbar gemacht,
da der Sokrates-Ankl ger Anytos ins Gespr ch einbezogen wird.
8
J. STENZEL, Platon der Erzieher, 147ff. — Auf den g ttlichen Ursprung ist
vielleicht auch damit hingewiesen, da Sokrates die , Anamnesis-Lehre' bei Priestern
und ,g ttlichen Dichtern* findet, sowie dadurch, da er annimmt, die Arete k nne
θεία μοίρα entstehen (81 A/B. 99Cff.). — Eine Erl uterung des Gedankens, da die
Seele aufgrund eines allgemeinen Strukturzusammenhangs die gesamte Wahrheit
zu erreichen vermag, gibt etwa die wichtige Stelle im Theaetet (186A—D), wo es
hei t: die Seele kann in sich die Verbindung herstellen zwischen Grundgegensfitscn
wie ,gleich' und ,ungleich' oder ,gut' und .schlecht1 und gelangt so — durch ,Syllo-
gismos' und, Analogismata' — zur Wahrheit. Die genaue mathematische Erkl rung
blieb jedoch dem esoterischen Bereich vorbehalten (vgl. zu der Vcrmittlungsfunk-
tion der Logoi in der Seele bes. PL U. L., Anh. Nr. 67b).
246 Konracl Gaiser
Damit stehen wir vor der Frage, welche Funktion den mathe-
matischen Beispielen im Gesamt verlauf unseres Dialogs zukommt.
Ks handelt sich um drei Stellen, wo Sokrates bei der Suche nach dem
Wesen der Aretc Mathematisches heranzieht: eine Definition des
geometrischen Begriffs , dann die Tatsache, daß die Diagonale
im Quadrat die Seite des doppelt so großen Quadrats ist, schließ-
lich eine Hypothesis zur Beantwortung der Frage, ob eine gege-
bene Fläche als Dreieck in einen gegebenen Kreis einbeschrieben
werden kann. — Die drei mathematischen Beispiele sind verteilt
auf die drei großen Abschnitte des Dialogs; und sie tragen wesent-
lich dazu bei, das Gespräch methodisch zu klären und voranzubrin-
gen. Doch soll im folgenden nicht eigentlich die methodische Be-
deutung der mathematischen Stellen untersucht werden9. Vielmehr
sei vor allem danach gefragt, ob sie auch von sachlicher Wichtigkeit
sind, d. h. besonders, ob ein innerer Zusammenhang besteht
zwischen den angeführten mathematischen Beispielen und dem
Problem der Arete, dem der ganze Dialog gilt. Daß die mathemati-
schen Exempel auch hier nicht bloß aus formal-methodischen Grün-
den eingeführt werden, sondern sachlich über sich hinaus weisen auf
das philosophische Thema des Dialogs, ist durchaus zu erwarten.
Denn dies entspricht einer bei Platon häufig zu beobachtenden
Technik des Vergleichens: In einem scheinbar nebensächlichen,
nur methodisch ausgewerteten ,Paradeigma' hat man in den pla-
tonischen Dialogen öfters einen für die in Frage stehende Sache
selbst wesentlichen ,Modellfair zu erkennen10.
Wir werden also im Blick auf die drei mathematischen Stellen
des Dialogs jeweils zunächst erklären müssen (1), was speziell mathe-
matisch gemeint ist, um dann zu fragen (2), inwiefern das Mathe-
matische etwa auch für das übergeordnete Problem der Arete sach-
li ch bedeutsam ist.
9
Aus den methodischen Hinweisen im Menon könnte man eine ziemlich voll-
ständige ,Methodenlehre' aufbauen: Definition, Hypothesis, elenktisch-indirekte
Beweisführung, verschiedene Formen des Vergleichens (Epagoge, Analogie). An
einer Stelle (75D) wird hier erstmals die »Dialektik* genannt, indem die »dialek-
tische' Art des Fragens und Antwortens der ,eristischen* gegenübergestellt wird.
Man darf jedoch die Sachbezogenheit des methodischen und psychagogischen In-
teresses, die im Menon durchgehend zu beobachten ist, nicht übersehen.
10
Man denke etwa an das Definitionsbeispiel der Webkunst im Politikos, der
Angelkunst im Sophistes (vgl. R. ROBINSON, Plato's Earlier Dialectic, 21953, 66) ;
ebenso an die ^methodischen Exkurse' im Protagoras, Theaetet, Politikos, wo mit den
Überlegungen zur Art der Gesprächsführung die Reflexion auf den Gegenstand des
Gesprächs verbunden ist (vgl. K. GAISER, Protreptik und Paränese bei Platon, Tüb.
Beitr. z. Alfertumswiss. 40, 1959, 170ff. 207ff.).
Platons Menon und die Akademie 247
Die dem Wort σχήμα eigene Bedeutung ,Gestalt' ist nun im Menon
noch st rker dadurch hervorgehoben, da daneben der Begriff
J'itrbc* definiert wird. Dieses Wort bezeichnet, zum Unterschied von
der ,1ΓοπτΓ, die sichtbare, sinnlich wahrnehmbare Erscheinung.
Besonders interessant wird die damit vorgenommene Unterschei-
dung, wenn man sieht, da Platon hier einen pythagoreischen Aus-
druck aufgreift. Die Pythagoreer gebrauchten — wie Aristoteles
berichtet — das Wort χροιά, das im Griechischen zugleich ,Haut' und
,Farbe' bedeuten kann, zur Bezeichnung der geometrischen,Fl che'12.
Der Abschnitt im Menon zeigt somit im ganzen, da Platon darauf
ausgeht, in der komplexen, mehrdeutigen Vorstellung des .Fl chen-
haften' genauere Differenzierungen vorzunehmen. Er vermeidet den
damals bereits gebr uchlichen, aber nicht klar festgelegten Begriff
επιφάνεια13; und zugleich sucht er das von den Pythagoreern ver-
wendete Wort eindeutig abzugrenzen. An die Stelle der anschau-
lichen, aber noch vieldeutigen Ausdr cke treten hier bei Platon drei
exakte Begriffe, mit denen das Fl chenhafte in seinen verschiedenen
Manifestationen klar bezeichnet werden kann14:
έττίπεδον = rein zweidimensionale Er-
streckung
επιφάνεια (Fl che)- σχήμα = gestalthafte ,Oberfl che'
(eines K rpers)
χρώμα = sichtbare ,Au enseitef
(eines K rpers)
Kugeloberfl che). — ber die Bedeutung des Begriffs σχήμα bei Euklid und in der
sp teren Tradition (Poseidonios) informiert uns Proklos in seinem Euklid-Kommen-
tar (Proclus, In prim. Eucl.Elem. libr. p. 143 FRIEDLEIN). Vgl. auch CH.MUGLER, Die-
tionnaire historique de la terminologie geometrique des Grecs, 1958, s. v. σχήμα.
12
Aristoteles, De sensu 3, 439a 30; ebenso Heron, Defin. p. 20/1 HEIBERG;
Aet. Plac. l, 15, 2 p. 313 DIELS; [Jamblichus] Theol. Arithm. p. 22 DE FALCO;
Aristides Quintil., De mus. III 11 p. 110 WINNINGTON-!NGRAM. — Vgl. W. BUR-
KERT, a. a. O. [o. Anm. 3] 60. 219 Anm. 102; P. FRIEDL NDER, a. a. O. 325 Anm.
11/2; TH. L. HEATH, A history of Greek Mathematics I, 1921, 166.
13
Mit επιφάνεια ist dem Wortsinne nach einfach das nach au en hin ,sichtbar
Zutagetretende' bezeichnet (so besonders deutlich bei Demokrit, Fr. B 155 D.-K.).
14
Da Platon den Begriff επίττεδον (anstelle von έττιφάνεια) bevorzugt, um die
zweidimensionale Erstreckung zu bezeichnen, l t sich in den Dialogen feststellen
(vgl. CH. MUGLER, Dictionnaire . . ., 198). Damit ist auch die bei Diogenes Laertius
III 24 ( = P/. U. L., Anh. Nr. 18b) berlieferte Notiz zu erkl ren, Platon habe als
erster den Begriff επίπεδος als wissenschaftlichen Terminus gebraucht. Im Text
des Diogenes Laertius ist hier έπίπεδον und έττιφάνειαν umzustellen [Hinweis von
W. HAASE] : και των περάτων την επιφάνειαν „έπίπεδον" (ώνόμασεν).
Platons Menon und die Akademie 249
Dialogen und Berichten genauer, wie das ,Gule' als das Bestimmte,
(ilcichmäßigc und Einfache dem Unbestimmten, Unregelmäßigen
und Vielfältig-Wechselnden gegenübertritt. Zur Verdeutlichung
dieses Gegensatzvcrhältnisses eignet sich vor allem die Gegenüber-
stellung von regelmäßigen und unregelmäßigen Figuren (z. B.
Ouadrat und Rechteck) oder von ungeraden und geraden Zahlen,
oder etwa auch der Hinweis auf die eine, maßgebende Form des
rechten Winkels gegenüber der unendlichen Vielfalt von spitzen
und stumpfen Winkeln. Aber auch in dem Unterschied zwischen
Kreisform und Geradlinigkeit, von dem die Erörterung des -
Begriffs im Menon ausgeht (73Eff. und euÖO) konnte
jener allgemeine Grundgegensatz gesehen werden, da die runde
Form stets einheitlich und in sich geschlossen ist, während gerad-
linig gebildete Figuren in unendlicher Vielgestaltigkeit vorkommen19.
, / . — Ein schwieriges Problem, das wir hier nur streifen können,
liegt darin, daß für die vorplatonischen Pythagoreer neben der prinzipiellen Gegen-
überstellung von und auch die Lehre bezeugt ist, das Eine ( , )
umfasse beides, Peras und Apeiron (vgl. u. Anm. 22/3). Die gleiche Schwierigkeit
zeigt sich dann auch in der platonischen und neupythagoreischen Tradition, wenn
dort das zweite Prinzip dem ersten bald selbständig gegenübertritt, bald aus ihm
abgeleitet wird. — Besonders wichtig ist für die spätere Tradition der Bericht über
die »pythagoreische* Prinzipienlehre bei Sextus Empiricus, Adv. math. X 246—283
( = P/. U. L., Anh. Nr. 32). Diesen Text hat zuerst P. WILPERT für die Rekonstruk-
tion der platonischen Prinzipienlehre in Anspruch genommen. Zweifel an der pla-
tonischen Herkunft hat dagegen zuletzt wieder G. VLASTOS (Gnomon 35, 1963,
644/8) ausgesprochen, da die Quellenlage noch nicht geklärt sei. Doch ist inzwischen
bereits von W. BURKERT (a. a. O. 83) eine quellenkritisch überzeugende Erklärung
gegeben worden, die auch der Auffassung günstig ist, daß der Sextus-Bericht im
wesentlichen genuin-platonische Lehren enthält. Nach dieser Erklärung stammt der
Bericht nämlich aus der skeptisch eingestellten Mittleren Akademie des 2. Jh. v.
Chr., in der die systematischen Lehren Platons, da sie sich mit dem damals bevor-
zugten aporetisch-sokratischen Platonbild nicht vertrugen, als »pythagoreisch' aus-
gegeben wurden. [Ebenso jetzt auch H. J. KRÄMER, Mus. Helv. 21, 1964,156—161].
19
Zur mathematischen Veranschaulichung des Prinzipiengegensatzes bei Platon:
PL U. L., bes. Anh. Nr. 37/8 m. Anm. (dazu auch Proclus, In Euclid., p. 136—146.
266 FR.). Die wichtigsten Beispiele finden sich schon an einer Stelle in der Politeia
zusammen (VI 510 C): ungerade und gerade Zahlen, die drei Arten von Winkeln,
verschiedene Figuren (regelmäßig/unregelmäßig, wohl auch kreisförmig/gerad-
linig). Besonders häufig begegnet in den Dialogen — vom Protagoras (356 E f.) bis
zur Epinomis (981 C. 990 C) — die schon für die Pythagoreer bezeugte Gegenüber-
stellung von ungeraden und geraden Zahlen (d. h. geometrisch Quadrat und Recht-
eck). Die Gegensätzlichkeit zwischen Kreisform und Geradlinigkeit kommt auch im
»philosophischen Exkurs* des Siebenten Briefs (343 A) zum Ausdruck. Dieser Gegen-
satz ist besonders für die kosmologische Bewegungslehre wichtig, wobei natürlich
die Kreisbewegung dem Göttlichen zugeordnet wird (so schon Alkmaion, Fr. A 1.
12; B 2 D,-K.). Doch findet sich andererseits auch die Gegenüberstellung von gerad-
Platons Menon und die Akademie '251
linig ( ) und krumm ( ), wobei die gerade Linie auf der Seite des Peras
steht (so schon vorplatonisch, vgl. Aristot., Metaph. A 5, 986a 25; ferner Proclus,
InEuclid.,p. 240 FR.).
20
An einigen Dialogstellen ist, ähnlich wie im Menon, die Reihe der Dimensionen
durch die .Farbe' als letztes Glied ergänzt: Sophistes 235D/E, Philebos 51C/D (vgl.
Soph. 251 A, Politeia X 602CIO, Epist. VII 342D, Epinomis 981 B). Ausführlich
wird im Timaios (67 C—68D) erklärt, daß die sinnlich wahrnehmbaren Farben auf
quantitativ-formale Voraussetzungen zurückzuführen sind. Im einzelnen ist dort
zu sehen, daß die mit dem allgemeinen Prinzipiengegensatz gegebenen Beziehungen
(größer — gleich — kleiner) auch bei der Farbenlehre die entscheidende Voraus-
setzung darstellen (ebenso wahrscheinlich Theaetet 156D—157 A). — Die im Menon
auftauchende Definition für Farbe (76 D) wird im Timaios (67 C) wiederholt. Eine
ähnliche Begriffsbestimmung wird bereits Empedokles zugeschrieben (Aristoteles,
De sensu 2, 473b 23; vgl. Empedokles, Fr. A 84. 86. 92. 94 D.-K.). Auf die wissen-
schaftliche und philosophische Bedeutung der Farbentheorie bei Platon werde ich
in einem Aufsatz über „Platons Farbenlehre" an anderer Stelle genauer eingehen.
21
In vollem Umfang tritt die beherrschende Bedeutung, die der Dimensionen-
folge in der platonischen Ontologie zukommt, in den Berichten über die mündliche
Lehre Platons hervor; in den Dialogen finden sich immerhin mehrfach Reflexe
dieser Vorstellung (z. B. auch Nomoi X 894A, Epinomis 990C—95)2 A). — Nicht
zufällig erscheint die im Menon auf tauchende Definition des Gestaltbegriffs ( --
$) in der späteren platonischen Tradition auch als Begriffsbestimmung
252 K o n r a d Gaiser
vous
Gegenst nde επιστήμη
Seele
Mathematifi δόξα
αΐσθησις
(Gestalt)
Korper Erscheinungen
(Farbe)
gestaltlose Stoffe
APEIRON r umliche Ausdehnung
Angabe, die Welt sei nach der Vorstellung der Pythagoreer aus dem
Fl ehenluiften ( ε ξ έττπτέδων, εκ χροιάς) entstanden, eine deutliche
Verwamlschafl mit der platonischen Lehre, nach der alles K rper-
liche von den .fr heren', formgebenden Dimensionen her begr ndet
wird. Da nun die bei Aristoteles wiedergegebenen Begriffe einerseits
schon mathematisch verstanden werden k nnen, andererseits aber
anscheinend auf eine ltere, biologisch orientierte Gesamtansicht
zur ckf hren, k nnen wir im wesentlichen die folgende Entwicklung
von der pythagoreischen Kosmologie zur platonischen Ontologie
erschlie en23.
a) Fr here Pythagoreer: die Weltentstehung wird bildhaft als
Entstehung und Wachstum eines Lebewesens aufgefa t; der Urkosmos
von einer H lle oder Haut umgeben (χροιά, vgl. Leukipp Fr. A l:
υμήν); Ausdehnung und Differenzierung durch Einbeziehen (εϊλκετο)
von Atem oder Nahrung aus dem umgebenden Apeiron.
b) Sp tere Pythagoreer, noch vor Platon (besonders Archytas):
Mathematisienmg dieser Theorie; das K rperliche entsteht durch
eine flie ende Bewegung' aus dem Fl chenhaften (vgl. dazu W.
BURKERT, Weisheit und Wissenschaf t, 60/1).
c) Platon: noch strengere, systematische Erfassung der mathe-
matischen Dimensionenfolge; konsequente Durchf hrung der Ana-
logie zur Abstufung der Seinsbereiche (Idee : Seele : k rperliche Er-
scheinungen) ; Annahme einer ontologischen Differenz zwischen den
Dimensionen, ebenso zwischen den gegens tzlichen Prinzipien
(Peras : Apeiron).
\Vie weit man in der Akademie zur Zeit des Menon schon ber die
pythagoreischen Voraussetzungen hinausgeschritten war, l t sich
nicht genau sagen und ist im einzelnen unwesentlich. Jedenfalls aber
berechtigt uns die aus dem aristotelischen Bericht zu entnehmende
Tatsache, da Platon an eine pythagoreische Verbindung von mathe-
matischer Dimensionalit t und kosmologischer Entfaltung ankn p-
fen konnte, dazu, schon in einem verh ltnism ig fr hen Stadium
der philosophischen Entwicklung Platons mit einer entsprechenden
ontologischen Konzeption zu rechnen. In dem besprochenen Ab-
schnitt des Dialogs Menon glaubten wir also wohl nicht zu Unrecht,
einige Reflexe der systematischen Fortf hrung pythagoreischer
Lehren durch Platon zu erkennen. Wenn wir die scheinbar beliebig
23
Vgl. W. BURKERT, a. a. O. 33/5; J. KERSCHENSTEINER, Zu Leukippos A l,
Hermes 87, 1959, 441/8; K. v. FRITZ, RE Pauly-Wissowa, Bd. 24, 1963, Sp. 250/1.
255 (s. v. Pythagoreer).
Platons Menon und die Akademie 255
halten will. Vielmehr muß darin eine Anspielung auf den Inhalt des
Gesprächs liegen. So haben denn auch die neueren Erklärer gelegent-
lieh mit Recht bemerkt, Platon vergleiche hier das weitere Eindrin-
ge in die besprochenen Probleme mit der Einweihung in Myste-
rien 25 . Der Vergleich mit Mysterien wäre aber immer noch ziemlich
ausgefallen, wenn damit nur, wie bisher angenommen wurde, die
iMethode des Definierens oder das mathematische Denken gemeint
wäre 26 . Eigentlich angemessen ist der Hinweis des Sokrates doch
wohl nur dann, wenn die als besonders gut bezeichnete Definition
irgendwie grundsätzlich wichtig und auf das höchste Ziel des
Fhilosophierens bezogen ist. Zu eben diesem Ergebnis hat nun be-
reits unsere vorausgehende Untersuchung geführt. Sokrates hebt
gerade die Begriffsbestimmung hervor, die den Peras-Begriff ent-
hält und ausdrücklich an der Dimensionenfolge orientiert ist, also
die Definition, die besonders deutlich auf das Formprinzip und damit
25
Am weitesten ging E. GRIMAL, der die Äußerung als direkten Hinweis auf den
mathematischen Unterricht in der Akademie verstand (a. a. O. 12): «II faut
entendre ces mots dans en sens tres precis comme destinos a donner a Menon un
avant-goüt de ce qu'il apprendra s'il entre comme oleve a l'Academie, et en par-
ticulier des ,bienfaits spirituels des mathematiques'». — Nach O. APELT (Über-
setzung, 1922, Anm. 16) würde es sich nur um einen ,,scherzhaften Vergleich"
handeln; ähnlich urteilt R. S. BLUCK, a. a. O. 254.
26
Freilich kommt der .Mysterien-V ergleich' bei Platon gelegentlich auch vor,
ohne daß eine direkte Beziehung auf die höchsten Gegenstände der Philosophie be-
absichtigt wäre. Aber es handelt sich bei diesem Vergleich für Platon doch stets
darum, auf die — immerhin zum Wesen der Philosophie gehörende — Spannung
zwischen den naheliegenden, leicht faßbaren Erscheinungen und der eigentlichen
Wahrheit hinzuweisen. In Betracht kommen besonders die folgenden Stellen: Gorgias
497 C: das Verhältnis von , wichtig' und ,unwichtig* im Gespräch wird mit dem Unter-
schied zwischen ,großen' und »kleinen* Mysterien verglichen (vgl. Euthyd. 277 D);
Theaetet 155 E—156A: eine von Sokrates kritisierte Lehre (Protagoras-Demokrit?)
wird ironisch-scherzhaft als »Mysterium* behandelt (vielleicht auch, weil grundsätz-
lich Wichtiges darin tatsächlich enthalten ist?, vgl. 156A 3 ); Symposion
209 E—212C: philosophischer Aufstieg zum Urgrund des Schönen als »Einweihung';
Phaidros 249C/D: Philosophie als ,Enthusiasmus*. Ferner ist zu erinnern an die
platonische Vorstellung, das Philosophieren sei als ein Prozeß der »Reinigung*
( ) zu verstehen (Phaidon, Sophistes 266D), sowie an den häufigen Ver-
gleich mit der magischen ,Beschwörung* ( , auch Menon 80A). — An sich
ist der Vergleich zwischen philosophischer Erkenntnis und »mystischer* Einweihung
bei Platon nicht neu (vgl. bes. Aristophanes, Wolken 143. 250ff. u. ö. [Hinweis von
W. H A ÄSE]). Er wird aber im Anschluß an die eigenen Aussagen Platons späterhin
üblich zur Kennzeichnung des höchsten Zieles gerade der platonischen und ari-
stotelischen Philosophie (vgl. z.B. Ps.-Platon, Epinomis 986C/D; Aristoteles,
Eudemos Fr. 10 ROSS, De philosophia Fr. 15 ROSS). Einen genaueren Überblick
bietet die Darstellung von P. BOYANCE, Sur les Mysteres d'ileusis, REG 75, 1962,
460—482 (bes. 460/74: Uepoptie £leusienne et les PhilosopJies).
Platons Menon und die Akademie 257
auf das Wesen der Arete hinzielt. Im Blick auf diesen weitreichenden
Zusammenhang wird voll verst ndlich, da Sokrates hier eine ,Ein-
weihung in Mysterien' in Aussicht stellt — und zugleich kann man
sich denken, weshalb er vorerst, im Rahmen des Gespr chs mit
Menon, alle weiteren Aufschl sse ironisch zur ckh lt27.
Körner ist anzunehmen, daß man sich in der Akademie schon da-
mals mit dem Problem einer genauen und möglichst vollständigen
Klassifizierung der irrationalen Größen beschäftigte. Vor allem der
mit IMatern befreundete Mathematiker Theaelet hat sich, wie wir
wissen, mit dem Ausbau der Theorie des Irrationalen beschäftigt.
Die erhaltenen Zeugnisse sprechen dafür, daß hier zwei Enlwicklungs-
[>hasen zu unterscheiden sind, von denen die erste im Menon be-
reits vorausgesetzt werden darf, während die zweite vermutlich
etwas später anzusetzen ist, vielleicht erst in den letzten Lebens-
jahren Theaetets (also spätestens um 370 v. Chr.).
Über den ersten wichtigen Schritt zur genauen definitorischen
Erfassung und Einteilung der irrationalen Größen berichtet Platon
bekanntlich selbst in dem Dialog, den er Theaetet gewidmet hat
(Theaet. 147D—148B). Es handelt sich hier um die dreifache Un-
terscheidung zwischen direkt zahlenmäßig erfaßbaren, also ohne
weiteres (linear) kommensurablen Größen ( , . .
1:2), quadriert (flächenhaft) kommensurablen Größen (
, . . 1: J/2) und nur ingder dritten Potenz (körperlich)
kommensurablen Größen (z. B. 1: ]/2). Darüber hinaus war sicher
zur Zeit des Menon auch schon die Existenz von irrationalen Größen
noch komplizierterer Art bekannt. Dafür spricht besonders eine
Stelle im Hippias Maior, an der höhere (komplexe) irrationale
Größen, wie sie etwa bei der ,stetigen Teilung' auftreten, erwähnt
werden33. — Die genaue Abgrenzung dieser komplizierteren Größen
ist aber vermutlich erst etwas später gelungen, als Theaetet die
irrationalen Linien von der Art der ,Mediale', der ,Binomiale' und
der ,Apotomef systematisch untersuchte und darstellte34.
Bei der indirekten Beweisführung werde eine an sich gültige Hypothesis aufgehoben,
\veil auch der dann folgende Widerspruch Beweiskraft habe (vgl. F. DIRLMEIER,
Übers, u. Kommentar, 1962, 268). E. N. III 3, 1112b 12—27: Für den Arzt sei die
Gesundheit des Patienten das Ziel, das er (hypothetisch) voraussetze, um dann zu
überlegen, wie und unter welchen Bedingungen er dieses Ziel erreichen könne; der
Mathematiker analysiere eine (hypothetisch) angenommene Konstruktion auf ihre
einfachsten Voraussetzungen hin, um dann bei der Herstellung von diesen auszu-
gehen. E. N. VII 9, 1151 a 15—26: Die ethische Norm lasse sich ebensowenig durch
Beweisführung begründen wie die mathematischen ; man müsse den
richtigen Sinn dafür haben. Die spätere Auffassung (Hypothesis als das, was ge-
prüft und bewiesen werden soll) liegt von hier aus insofern nahe, als für Aristoteles
die nicht elementare Bedingung, sondern , des Handelns ist.
46
Zum Hypothesis-Begriff, besonders bei Platon: R. ROBINSON, Plato's Earlier
Dialectic, 21953, 93ff.; K.V.FRITZ, Die Archai in der griechischen Mathematik,
Archiv f. Begr.-gesell, l, 1955, 13—103 (bes. 38ff.), mit Ergänzungen von O. BECKER,
a. a. O. 4, 195.9, 210/2; C. J. CLASSEN, Sprachliche Deutung als Triebkraft platoni-
schen und sokratischen Philosophierens, Zetemata 22, 1959, (bes. 72/8); H. P. STAHL,
Platons Menon und die Akademie 267
Ans tze zur Satzlogik bei Platon, Hermes 88, 1960, 409—451; . SZABO, Anf nge des
euklidischen Axiomensystems, Ar eh. f. Hist. of Exact Sciences l, 1960, 37—106;
R. S. BLUCK, a. a. O. 85ff. — Mit Recht ist neuerdings an die Stelle einer entwick-
lungsgeschichtlichen Betrachtungsweise die Ansicht getreten, da die etwas \rer-
schiedenen Aspekte des Begriffs, die sich bei Platon nachweisen lassen, der Sache
nach eng zusammenh ngen. Platon sah hier offenbar die M glichkeit, eine bei
spezialwissenschaftlichen Aufgaben erprobte Methode auch f r die Erschlie ung von
Seinsbeziehungen und Seinsursachen berhaupt anzuwenden. In dieser Bedeutung,
als Mittel zum analytisch-synthetischen Aufweis der h chsten Prinzipien, begegnet
die Hypothesis-Methode daher auch sp ter in der platonischen Tradition. Vgl. bes.
Albinos (2. Jh. n. Chr.) im Didaskalikos, p. 157, 32/7 HERMANN (= Epitome, cp. 5,
6, p. 27 ed. P. Louis): ή δε εξ υποθέσεως άνάλυσίς εστί τοιαύτη* όζητών τι υποτί-
θεται αυτό εκείνο, είτα τω Οποτεθέντι σκοπεί τι ακολουθεί, καΐ μετά τούτο εί δέοι
λόγον άποδιδόναι της υποθέσεως, άλλην ύποθέμενο$ ύπόθεσιν ζητεί, ει το πρότερον
ύποτεθέν πάλιν εστίν άκόλουθον άλλη υποθέσει, καΐ τούτο μέχρις ου αν Ιπί τίνα
αρχήν άνυπόθετον ελθη ποιεί. Dem entspricht das Verfahren im Menon: Die
Hypothesis vermittelt zwischen den Konsequenzen (τι ακολουθεί;) und den un-
bedingt g ltigen Voraussetzungen.
47
Vgl. bes. Farmen. 127D/E. 135Ef. — Auch die Mathematiker haben zweifel-
los schon vor Platon von der indirekten Beweismethode Gebrauch gemacht (vgl.
. SZABO, Wie ist die Mathematik zu einer deduktiven Wissenschaft geworden? Acta
Antiqua 4, 1966, 109—152; E. DE STRYCKER, Gnomon 35, 1963, 146). Allerdings ist
nicht bezeugt, da dabei der Begriff ,Hypothesis1 verwendet wurde.
268 K o n r a d Gaiscr
nichts anderes gemeint sein als jene Zur ckf hrung der Hypothesen
auf erste, nicht mehr weiter ableitbare Voraussetzungen. — Zum
anderen ist an den Bericht zu erinnern, nach dem es Platon war, der
in seiner Schule von den Astronomen eine Jiypothetische* Erkl rung
der Planetenbewegungen verlangte50. Platon forderte, wie wir hier
erfahren, dazu auf, die scheinbar unregelm igen Bahnen auf der
Grundlage eines Systems von kreisf rmigen Bewegungen gesetz-
m ig zu erfassen. Auch hier ist nun offenbar mit dem Begriff Hypo-
thesis' nicht eine an sich feststehende Voraussetzung bezeichnet,
sondern eine vorl ufige, durch Pr fung verifizierbare oder korri-
gierbare Annahme. Denn wenn Platon, wie es hei t, von der
hypothetischen Erkl rung der Astronomen eine „Rettung der
Ph nomene'' erwartete, so liegt darin doch wohl die Vorstellung,
da die Hypothesis durch den Vergleich ihrer Konsequenzen mit den
Ergebnissen der empirischen Beobachtung zu kontrollieren sei; und
zugleich war wohl verlangt, die in Betracht gezogene Hypothesis
m sse in sich widerspruchsfrei sein und auf noch allgemeinere
Grunds tze zur ckgef hrt werden k nnen51.
Zur Erg nzung des damit Festgestellten ist schlie lich noch, wenn
wir der weiteren Untersuchung vorgreifen wollen, zu bemerken, da
sich auch schon im Menon die platonische Neuorientierung des vor-
gegebenen Hypothesis-Begriffs nachweisen l t. Das angef hrte
mathematische Beispiel zeigt zun chst die herk mmliche Auffassung:
Hypothesis als Voraussetzung, von der die Entscheidung eines
50
Eudemos Fr. 148 WEHRLI, berliefert bei Simplikios (= PL U. L., Anh.
Nr. 16): ... τίνων ύποτεθεισών ομαλών και τεταγμένων κινήσεων διασωθή τα
ιτερι τά$ κινήσεις των πλανωμένων φαινόμενα. — Neuerdings hat J. MITTELSTRASS
(Die Rettung der Ph nomene — Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungs-
prinzips, 1963) versucht, die berlieferung, nach der die hier wiedergegebene Auf-
gabenstellung von Platon stammt, anzufechten (a. a. O. 3/4. 133ff. 150/9), um
daraufhin das angeblich phantastisch-spekulative Denken Platons in einen Gegen-
satz zur neuzeitlichen Naturwissenschaft und ihren antiken \rorl ufern (Eudoxos
von Knidos u. a.) zu bringen.
51
Gerade das Gespr ch im Menon zeigt, da der Gedanke, eine Hypothesis
m sse an der empirischen Erfahrung kontrolliert werden, an sich nicht unplatonisch
ist (s. u. die Interpretation der Arete-Untersuchung im Schlu teil des Dialogs).
Daf r spricht auch Epist. VII 342 E ff.: Der Mensch vermag nur auf der Grundlage
von Begriffen und Bildern der Wahrheit n her zu kommen. Ebenso unverkennbar
ist freilich, da eine sichere Begr ndung der Erkenntnis f r Platon aus der Empirie
allein nicht m glich ist. F r die Astronomie fordert er daher in der Politcia (\\\
628Eif.) eine tiberempirische Ausrichtung. — Wichtige Bemerkungen zur Anerken-
nung des empirisch-individuell Gegebenen bei Platon hat neuerdings H. HKRTKR
vorgetragen: Die Treffkunst des Arztes in hippokrati scher und pMoirischci Sicht,
Sudhoff s Archiv f. Gesch. d. M ed. u. d. Na t. wiss. 47,1903, 247—25)0.
270 K o n r a d Caiscr
Fig. l
Das Wort έλλείπειν wird also bei dieser Deutung — und dies
zweifellos mit Recht — so verstanden, wie es nach dem bei Proklos
erhaltenen Eudemos-Zeugnis ber die pythagoreische Fl chenan-
legung schon von den (vorplatonischen) Pythagoreern gebraucht
worden ist: Das Rechteck soll in bezug auf die Linie, an die es ange-
legt wird, um ein bestimmtes St ck zur ckbleiben'55. Im brigen
aber bringt die soweit vorgetragene Auffassung einige Unsicher-
heiten mit sich, die nach M glichkeit behoben werden m ssen.
Zun chst k nnte eingewendet werden, da ein einfacheres, auf
den ersten Blick verst ndliches Beispiel zu erwarten sei. Der Ge-
56
Proclus, In Eucl. p. 44/5 Fr. (vgl. Eudemos, Fr. 137 WEHRLI) : όταν γαρ
ευθείας έκκειμένη$ το δοθέν χωρίον πάση τη ευθεία συμπαρατείντι$, τότε „παραβάλ-
λειν" εκείνο το χωρίον φασίν, όταν μείζον δε ποιήση$ τοο χωρίου το μήκος αυτής της
ευθείας, τότε „υπερβάλλειν*S όταν δε ίλασσον..., τότε „έλλείπειν". Vgl. Politcia VII
627 Α, wo τετραγωνίζειν, παρατείνειν und προστιθέναι als typische Ma nahmen
der Mathematiker genannt werden. Eine unbedeutende Abweichung von dem bei
Proklos angegebenen pythagoreischen Sprachgebrauch ist hier im Menon insofern
zu bemerken, als dort mit έλλείπειν gesagt sein soll, da die angelegte Fl che in
bezug auf die Linie „zur ckbleibt" (intransitiv), w hrend hier der Anlegende etwas
,, brig l t" (also έλλείπειν eher transitiv gebraucht ist).
18 Arcb. Gesch. Philosophie Bd. 46
274 Konrad Gaiser
ser und einer Seite des Rechtecks als Asymptoten), die den Kreis
schneidet oder berührt, wenn die Einbeschreibung möglich ist. Das
Problem führt also, in dieser Weise angefaßt, zu einer Gleichung
vierten Grades. Das heißt: die Entscheidung der Frage, ob die
Einbeschreibung der gegebenen Fläche möglich ist oder nicht, ist
mit den der damaligen Geometrie verfügbaren Mitteln nicht zu
erreichen, wenn die Hypothesis in dem oben wiedergegebenen Sinne
verstanden werden soll; jedenfalls ist die dabei verlangte Flächen-
anlegung geometrisch nicht ohne weiteres ausführbar. Da aber
andererseits im platonischen Text deutlich gesagt ist, die Hypothesis
führe zur Beantwortung der gestellten Frage, scheint die bisher an-
genommene Erklärung dem Text nicht gerecht zu werden57.
Aus dieser Aporie wird man jedoch, wenn wir recht sehen, her-
ausgeführt, so wie man sich daranmacht, das im Text gestellte mathe-
matische Problem genauer zu erfassen. Zunächst ist zu bemerken,
daß nicht eigentlich verlangt ist, die vorgelegte Fläche wenn mög-
lich durch geometrische Konstruktion in den Kreis als Dreieck einzu-
beschreiben; vielmehr soll entschieden werden, ob die Einbeschrei-
bung möglich ist oder nicht. Da nun die Möglichkeit der Einbe-
schreibung selbstverständlich davon abhängt, ob die Fläche größer
ist als das größtmögliche Dreieck im Kreis oder nicht, entsteht
mit der gestellten Aufgabe die Frage, welches Dreieck im Kreis das
Maximum darstellt. Wir wissen, daß es das gleichseitige Dreieck
ist, das diese Eigenschaft hat. Jeder Mathematiker würde deshalb —
damals wohl ebenso wie heute — die vorgelegte Frage der Einbe-
schreibbarkeit praktisch einfach dadurch entscheiden, daß er die
gegebene Fläche mit dem Flächeninhalt des in den gegebenen Kreis
einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks vergleichen würde58. Hier-
57
Vgl. O. BECKER, Das mathematische Denken . . . 85/6; TH. L. HEATH, A
history of Greek Mathem.t I 298—303. — Daß die Hypothesis (nach dem Verständnis
von HEATH, BECKER u. a.) an sich die Lösung einer biquadratischen Gleichung ver-
langt und daß die entsprechende Konstruktion mit Zirkel und Lineal nicht ausführ-
bar ist, hat A. HEIJBOER (a. a. O. 94/5) mit Recht eingewendet. Man kann dieses
Bedenken nicht einfach beiseite schieben (so jetzt wieder E. DE STRYCKER, a. a. O.
146); aber der Widerspruch löst sich, wie wir glauben, auf, wenn man beachtet, daß
im Text weder gefordert ist, die angegebene Hypothesis müsse schon allein und ohne
weitere Bestimmung die Entscheidung des Problems ermöglichen, noch auch, die
Fläche müsse als gleichschenkliges (oder sonstwie bestimmt geformtes) Dreieck in
den Kreis einbeschrieben werden.
68
Daß das gleichseitige Dreieck den für die Entscheidung der im Text formu-
lierten Frage maßgeblichen Fall darstellt, ist natürlich schon öfters ausgesprochen
worden (vgl. z.B. S. H. BUTCHER, Joum.PMl.il. 1888, 219/25; W, KTTKLT,
Mathematische Beispiele bei Platont Gymnas. G8, 1961, 141). Zugleich wurde meist
18*
276 Konrad Gaiscr
Hg. 2
60
Diesen Beweis erwähnt A. S. L. FARQUHARSON, a. a. O. 23.
61
Wahrscheinlich erfolgte die Anwendung zuerst bei der noch einfacheren Auf-
gabe, das Quadrat als das größte in den Kreis cinbeschreibbare Rechteck zu bestim-
men.
278 K o n r a d Gaiscr
fronte, sondern eine den Kreis schneidende Linie.) Nach dem ange-
führten Satz gilt nun: Wandert der Punkt P auf der Tangente, so
werden die Rechtecke nach beiden Seiten hin (zu A und zu B)
kleiner. Da nun aber der Kreisbogen innerhalb der Tangente ver-
läuft, werden die Rechtecke in noch höherem Grade kleiner, wenn
der Punkt P auf der Kreisperipherie wandert. Folglich ist das gleich-
seitige Dreieck, das so groß ist wie das Rechteck mit dem ursprüng-
lich angenommenen Punkt P, das größte im Kreis.
Wenn also auf diesem Wege zu beweisen ist, daß das gleichseitige
Dreieck den entscheidenden, maßgeblichen Vergleichsfall für das
im Text gestellte mathematische Problem bildet, ist doch wohl
bemerkenswert, daß die geometrische Konstruktion, die zu dem
Beweis erforderlich ist, an die Figur erinnert, die oben (s. Fig. 1)
zur Erklärung der im Text beschriebenen Hypothesis dienen sollte.
Jedenfalls ist nun klar, wie jene Erklärung gegenüber dem
Einwand, daß die so verstandene Hypothesis nicht zur Lösung des
gestellten Problems führen könne, sachlich zu rechtfertigen ist.
Die Hypothesis stellt, so wie sie oben nach der üblichfen Auf-
fassung erklärt worden ist, nur eine allgemeine Voraussetzung oder
Bedingung dar, die noch einer genaueren Eingrenzung bedarf, wenn
sie zur Lösung des Problems führen soll. Diese Hypothesis, die wir
dem Text entnehmen können, bietet eine zweifellos richtige, hin-
reichende und notwendige Bedingung für die Entscheidung des mathe-
matischen Problems, aber sie läßt die Frage nach dem eigentlich
bestimmenden Grenzfall noch offen. Die entscheidende Determinie-
rung ergibt sich, wenn man fragt, in welchem Fall das an den Kreis-
durchmesser angelegte Rechteck ein Maximum bildet. Es ist anzu-
nehmen, daß die Mathematiker, auf die sich Sokrates beruft, zu-
gleich schon an den maßgeblichen Spezialfall des gleichseitigen
Dreiecks dachten: die angegebene Hypothesis kann nur als ein
erster Schritt, als eine grundlegende aber noch der genaueren Be-
stimmung bedürftige Voraussetzung verstanden werden. Eine zweite
speziellere Hypothesis erweist sich als unumgänglich: die gegebene
Fläche ist einbeschreibbar, wenn sie nicht größer ist als das gleichsei-
tige Dreieck in dem gegebenen Kreis. Und diese zweite Hypothesis
verlangt den Beweis dafür, daß das gleichseitige Dreieck in der Tat
den entscheidenden Maximalwert darstellt. Der Größen vergleich
zwischen der gegebenen Fläche und dem gleichseitigen Dreieck im
Kreis ist dann schließlich ohne Schwierigkeit möglich, ebenso die
Einbeschreibung selbst (wenn dafür keine bestimmte Form des
Dreiecks vorgeschrieben ist). Insgesamt dürfte also wichtig sein, daß
Platons Menon und die Akademie 279
die Lösung des gestellten Problems nur auf dem Umweg über eine
weitere Hypothesis und deren Begründung möglich ist, daß dieser
vollständige Weg zur Lösung aber durch die angegebene Hypothesis
sinnvoll vorgezeichnet wird.
(2) Da jedoch, wie oben gezeigt worden ist, gewisse sprachliche
Bedenken, ob die bisher behandelte mathematische Erklärung der
Hypothesis dem Text zu entnehmen ist, nicht ganz von der Hand
zu wreisen sind, soll nun noch eine andere Auslegungsmöglichkeit
entwickelt werden, die sich noch enger an den Wortlaut des grie-
chischen Textes hält. Wir können dabei anknüpfen an die Arbeiten
von A. S. L. FARQUHARSON (1923, modifiziert von R. S. BLUCK,
1961) und A. HEIJBOER (1955), deren Ergebnisse wir vom Text
her noch weiter zu vereinfachen und sachlich zu präzisieren suchen.
Kennzeichnend ist für die im folgenden vorgetragene Auslegung, daß
sie von vornherein die im Text beschriebene Hypothesis als eine
zwar unmittelbar evidente und allgemein gültige, aber nicht völ-
lig bestimmte Voraussetzung versteht.
Im Sinne der beabsichtigten neuen Ausle-
gung ist der fragliche Satz des Textes folgen-
dermaßen wiederzugeben: Die Einbeschrei-
bung der gegebenen Fläche ist möglich, wenn
sie an irgendeine in den Kreis gezeichnete Linie
(Sehne) so als Rechteck (oder Parallelogramm)
angelegt werden kann, daß daneben (an dieser
Linie) noch Raum übrigbleibt für ein eben-
solches (d. h. ebenso großes) Rechteck (oder Fig. 3
62
Parallelogramm) .
Mit der Formulierung soll also
wiederum eine Linie des Kreises bezeichnet sein, nun aber nicht
der Durchmesser, sondern eine zunächst beliebig angenommene
62
Man könnte sachlich ebensogut verlangen, daß die Fläche an die Hälfte der
Sehne anzulegen ist. Die Bedingung für die Einbeschreibbarkeit wäre dann darin
zu sehen, daß die der Sehne gegenüberliegende Seite des Rechtecks nicht ganz außer-
halb des Kreises verlaufen darf. Das Dreieck könnte dann noch leichter eingezeichnet
werden, da alle drei Punkte auf dem Kreis mit der Anlegung schon gegeben sind
(vgl. u. Fig. 4). Während ich zunächst diese Auffassung vertreten wollte, hat mich
Herr stud. pharm. et phil. H. E. STOCK, dem ich auch für einige weitere mathe-
matische Hinweise zu danken habe, darauf aufmerksam gemacht, daß die nunmehr
wiedergegebene Konstruktion (Fig. 3) dem Wortlaut der Stelle besser entspricht,
da im Text das ,Übrigbleiben' einer (mindestens) ebensogroßen Fläche als die
eigentliche Bedingung erscheint.
280 K o n r a d Gaiser
Sehne. Das Wort αυτού bleibt auch bei dieser Deutung schwierig,
so da es sich auch hier empfiehlt, die Beziehung auf den Kreis
durch die Konjektur cc τού<του> klarzustellen63. Jedenfalls aber
I i3t sich behaupten, da mit einer Wendung wie την δοθεΐσαν
γραμμήνπαοΐι gew hnlichem mathematischen Sprachgebrauch trotz
des bestimmten Artikels nicht etwas bestimmt Gegebenes, sondern
etwas beliebig oder irgendwie Vorgelegtes bezeichnet wird. Da wir
diesen Sprachgebrauch, der besonders bei Euklid zu beobachten ist,
schon f r Platon annehmen k nnen, wird man hier an ^irgendeine',
so oder so gew hlte Linie (im Kreis) denken d rfen64. In der entspre-
chenden Zeichnung (o. Fig. 3) hat man sich also die Kreissehne, an
die das Rechteck angelegt wird, zun chst als nicht eindeutig be-
stimmt vorzustellen. Nicht n her bestimmt ist auch die andere,
zu der Kreissehne senkrechte Seite des Rechtecks. Es ist jedoch
leicht zu sehen, da diese Seite zweckm igerweise nicht l nger
sein sollte als die Mittelsenkrechte ber der Sehne im Kreis. Frei-
lich ist diese Bedingung im Text nicht besonders zum Ausdruck ge-
bracht.
Man kann die Hypothesis, die wir nunmehr im Text ausgedr ckt
finden, auch folgenderma en wiedergeben: Die Einbeschreibung
ist m glich, wenn es im Kreis eine Linie (Sehne) gibt, an die sich die
gegebene Fl che (als Rechteck) so anlegen l t, da daneben noch
Raum bleibt f r eine (mindestens) ebensogro e Fl che (wobei die
zu der Sehne senkrechte Seite des Rechtecks nicht l nger sein darf
als die Mittelsenkrechte im Kreis). — Diese Formulierung macht
klar, da die Hypothesis, wenn sie so verstanden wird, durchaus eine
notwendige und hinreichende Bedingung f r die Entscheidung des
63
Sprachlich w re zu fordern, da sich ovrro auf das im gleichen Satz genannte
χωρίον bezieht. Dann aber kann jedenfalls nicht eine Seite der Fl che in ihrer ur-
spr nglich etwa vorgelegten Form gemeint sein, sondern nur eine ,f r sie' zum
Zweck der Anlegung im Kreis gew hlte Linie (vgl. R. S. BLUCK, a. a. O. 446. 458/9:
"the line given for it", "the line given in its case"). Da dieser Sinn aus dem Text
aber nicht ohne Zwang zu gewinnen ist, mu der Wortlaut der berlieferung ange-
zweifelt werden. — Oder sollte αυτού an unserer Stelle (wie fters bei Platon) in
der Bedeutung ,hier', ,ebenda* gebraucht sein? Dann w re einfach zu verstehen:
,,. . . wenn man die Fl che an eine hier (n mlich im gegebenen Kreis) angenommene
Linie anlegt. . .".
64
Dies wurde besonders hervorgehoben von O. BECKER (Archiv f. Begr. gesch. 4,
1959, 210/1. 222 Anm. 5). Die f r uns ungew hnliche Verwendung des bestimmten
Artikels kommt im Griechischen auch im au ermathematischen Sprachgebrauch
vor, so etwa bei Klearch, Fr. 63 (p. 28, 5 WEHRLI) : από του δοθέντος γράμματος =
„von einem irgendwie (beliebig) gegebenen Buchstaben aus" (vgl. dazu R. KASSEL,
Hermes 91.1963, 58/9).
Platons Menon und die Akademie 281
gegenüberliegende Rechteckseite
(verlängert) den Kreis schneidet
oder berührt — was bedeutet, daß
die Einbeschreibung möglich ist (s.
Fig. 4) — oder ob sie außerhalb des
Kreises verläuft, so daß sich die
Einbeschreibung als unmöglich er- Fig. 4
weisen würde.
Freilich ist nun auch hier wieder, ebenso wie bei der zuvor unter-
suchten Erklärungsmöglichkeit, zu bemerken, daß vom gleich-
seitigen Dreieck im Text nicht die Rede ist. Die Begründung, die wir
dafür schon oben gegeben haben, gilt nicht weniger für die neu vor-
geschlagene Auslegung des Textes; und wir kommen so insgesamt
zum gleichen Ergebnis wie vorher. Die spezielle Voraussetzung, daß
das gleichseitige Dreieck den eigentlich determinierenden Fall zur
Lösung des Problems darstellt, wird offenbar deshalb nicht selbst
zurHypothesis gemacht, weil sie ihrerseits erst bewiesen werden muß.
Dagegen ist in der Hypothesis, die der Text ausdrücklich formuliert,
eine ohne weiteres annehmbare, sicher gültige, grundlegende Be-
dingung für die Lösung des mathematischen Problems zu erkennen.
Und wenn die beschriebene Hypothesis auch den speziellen Sach-
verhalt, von dem die Entscheidung im besonderen abhängt, nicht
ausdrücklich enthält, so führt sie doch, sachgemäß betrachtet, mit
Notwendigkeit auf die genauere Determination hin. Die genauere
Bestimmung läßt sich als zweite tfypothesis hinzufügen und durch
einen besonderen Beweisgang sichern.
282 K o n r a d Gaiscr
für den ,Weg nach oben' aufzeigen. Aber auch bei der Prüfung der
Hypothesis .nach unten1 ist eine bezeichnende Übereinstimmung
festzustellen. Die Hypothesis ,Arete ist Wissen' kann durch die
empirische Erfahrung nicht bestätigt, aber — wie am Schluß ange-
deutet wird — auch nicht endgültig widerlegt werden. Bei dem
mathematischen Problem entspricht dieser empirischen Kontrolle
der \7ersuch, die geforderte Entscheidung in einem speziellen Fall
durch Ausprobieren anhand einer geometrischen Zeichnung zu finden.
Dabei zeigt sich erstens, daß man die zunächst unbestimmte Hypo-
thesis genauer präzisieren muß, um in jedem Fall zu einer Entschei-
dung zu gelangen. Zweitens erhebt sich darüber hinaus die Frage, ob
die Lösung in jedem Fall durch geometrische Konstruktion gefun-
den werden kann. Und hier stellt sich nun in mathematischer Hin-
sicht eine ähnliche Schwierigkeit ein wie bei der empirischen Suche
nach dem Arete-Wissen. Man muß einsehen, daß es gerade in dem
besonders interessanten Grenzfall der maximalen einbeschreibbaren
Fläche unmöglich ist, die Entscheidung durch Ausprobieren an der
Figur zu finden. Daher könnte man auch bei dem mathematischen
Problem von der Empirie aus bezweifeln, ob überhaupt in jedem
Fall eine sichere Entscheidung möglich ist und ob die aufgestellte
Hypothesis, die dazu dienen soll, zu Recht besteht. Die Schwierig-
keit ist hier wie beim Arete-Problem nur zu überwinden, wenn man
sich klar macht, daß die eindeutige Entscheidung grundsätzlich
nicht im Bereich der Empirie, sondern nur im Bereich der theoreti-
schen Erkenntnis fallen kann. Denn was das mathematische Bei-
spiel angeht, so läßt sich nur durch theoretische Überlegung, und
zwar durch eine Zurückführung der gegebenen Linien und Flächen
auf Zahlen und Zahlenbeziehungen, allgemein klarlegen, daß es ein
größtes Dreieck in jedem Kreis gibt und wie sich eine bestimmte
Fläche dazu verhält: ob sie größer oder kleiner oder gleich groß ist.
der Tat hat sich uns bei der Gegenüberstellung ergeben, daß dem
grundlegenden Satz über die Arete, der auf das .Gute' selbst hin-
zielt („Arete ist gut"), die Einführung des gleichseitigen, regelmäßi-
gen Dreiecks als der entscheidenden Instanz entspricht. Sollte der
damit nahegelegte Vergleich zwischen dem Wesen der Arete und dem
einen, ausgezeichneten Sonderfall des geometrischen Problems
vielleicht beabsichtigt sein? Wir haben schon bemerkt, daß sich
gerade das gleichseitige Dreieck als der entscheidende Grenzfall des
Problems durch praktische Konstruktion nicht sicher fassen läßt.
Und darin schien uns eine Entsprechung zu liegen zu dem Ergebnis
der Arete-Untersuchung, wonach sich auch das echte Arete-Wissen
nicht ohne weiteres empirisch feststellen läßt. Dieser vorläufige
Eindruck soll nun noch etwas weiter ausgedeutet werden, obwohl
uns der vorliegende Text dafür kaum mehr eine Handhabe bietet.
(1) Die in dem mathematischen Beispiel gestellte Frage führt
drei Möglichkeiten vor Augen: Die gegebene Fläche kann entweder
größer sein als das maximale Dreieck im Kreis oder kleiner oder
gleich groß. Dabei stellt die ,mittlere' Möglichkeit, daß nämlich die
fragliche Fläche , gleich' groß ist, den besonders wichtigen ,Grenzfair
dar. In diesem Verhältnis zwischen größer — gleich — kleiner oder
auch Mehr — Mitte — Weniger sind nun aber die Begriffe zu erken-
nen, mit denen Platon das Wesen der Arete zu kennzeichnen pflegt.
Denn immer wieder erscheint in den Dialogen und noch deutlicher
in den Reflexen der mündlichen Lehre Platons das Gute als das
Mittlere ( ) zwischen den ,unbegrenzt' vielen Möglichkeiten
zum Großen und zum Kleinen hin (Zuviel und Zuwenig,
und ).
Daß Platon nicht erst später, sondern schon zur Zeit des Menon
das Wesen der Arete in diesem Sinne verstand und durch mathema-
tische Analogien zu verdeutlichen suchte, zeigt sich an einer Stelle
im Protagoras (356E—357B). Dort vergleicht Sokrates die für die
Wahl des Guten erforderliche ,Meßktinst' mit der Lehre von den
Zahlen, da es hier wie dort darauf ankomme, über Mehr-und-Weniger
sowie besonders auch über das Verhältnis des Relativ-Unbestimm-
ten zur an sich maßgebenden Gleichheit ( / und
) Bescheid zu wissen66.
Anm. 58] geäußerte Ansicht, hier weise Platon auf das noetische Urbild aller Drei-
ecke hin, konnte freilich nicht befriedigen.
66
Über relative und normbezogene Meßkunst im Protagoras: H.J.KRÄMER,
Arete bei Platon und Aristoteles* 490/1 (u. ö.). Auch an anderen Dialogstellen ver-
weist Platon mit der Beziehung zwischen ,groß* und »klein* auf das Prinzip der
Platons Menon und die Akademie 287
«= 2- j/3— · j/3
*_
·
r
= g- · j/3 ·
Ist also die gegebene Fläche als Rechteck mit rationalen Seiten
vorgelegt, so muß sich als Seite des entsprechenden regelmäßigen
Dreiecks eine irrationale Größe von der Form der , Mediale' ergeben.
Und weiter: wenn die Seiten des Rechtecks mit dem Radius des
Kreises (linear oder quadriert) kommensurabel sind, kann die Fläche
keinesfalls als gleichseitiges Dreieck einbeschrieben werden, son-
unbestimmten Relativität im Gegensatz zum Prinzip der Einheit und Gleichheit oder
Mitte. So noch deutlicher als im Protagoras in der Politeia (VII 524 B— 525 A);
vielleicht auch bei der Definition des Begriffs , Farbe' im Menon (76 D 1/2, vgl.
83C/D). — Daß Platon gelegentlich auch von Größe und Kleinheit ,ansich' spricht
(Phaidon 100 E— 101 B; Farmen. 131 C— 132 B), braucht dieser Vorstellung nicht
zu widersprechen. Denn in gewisser Hinsicht tritt das Relative schon im Ideen-Be-
reich auf, nämlich als ,Zweiheit' und , Logos*.
67
Auf diese Grundvorstellung lassen sich jedenfalls die schon oben, bei der Er-
klärung der -Definition, angegebenen einfachen mathematischen Beispiele be-
ziehen: ungerade und gerade Zahlen, Quadrat und Rechteck, die drei Arten von
Winkeln (vgl. o. Anm. 19) ; ebenso der Unterschied zwischen rationalen und irratio-
nalen Größen (Maßgleichheit und Maßverschiedenheit, Einschließung von Größen
durch Grenzwerte). Wichtig ist auch, daß die entsprechenden Begriffe für die
Harmonielehre von Bedeutung sind: die musikalischen Intervalle als »rationale*
Verhältnisse zwischen dem irrationalen ,Mehr-oder-Wenigcr' (worauf ich in dem
o. Anm. 20 angekündigten Aufsatz genauer eingehen werde).
288 K o n r a d Gaiscr
dorn muß entweder kleiner oder größer sein. — Daß also gerade in
dem 9Crciiz/all' des gleichseitigen Dreiecks eine höhere Inkommen-
sitrahilität auftritt, könnte bedeutungsvoll sein, wenn man sich
daran erinnert, daß auch das Gute — als höchstes ,Maß' — alle nur
relativ erfaßbaren Erscheinungen transzendiert.
(3) Wie schon bei der Erklärung der Definitionen im ersten Teil
des Dialogs zu bemerken war, hat Platon wahrscheinlich in dem
Verhältnis zwischen .kreisförmig' und .geradlinig' ein besonders wich-
tiges Paradeigma für den Prinzipiengegensatz von Peras und Apei-
ron gesehen. Auch unter diesem Gesichtspunkt könnte also schließ-
lich die Beziehung zwischen Kreis, Rechteck und einbeschriebenem
Dreieck eine allgemeinere Bedeutung erhalten.
Die Einbeschreibimg von Figuren in den Kreis spielte bekannt-
lich eine wesentliche Rolle bei den Bemühungen um einen Flächen-
vergleich zwischen Kreis und geradlinig begrenzten Figuren (Pro-
blem der Kreisquadratur). Dabei hat sich früher oder später, wahr-
scheinlich aber schon vor der Abfassungszeit des Menon, klar her-
ausgestellt, daß die Annäherung an den Kreis durch einbeschriebene
Polygone mit immer größerer Eckenzahl auf einen unendlichen
Prozeß hinausläuft und daß eben darin eine grundsätzliche Ver-
schiedenheit zwischen Kreisform und Geradlinigkeit zum Vorschein
kommt68. Die hier zu beobachtende .Inhomogenität' reicht, so mußte
man erkennen, in noch größere Tiefen als die Inkommensurabilität
etwa von der Art der ,Mediale', die bei bestimmten Schnittverhält-
68
Besonders bemerkenswert ist der Versuch Brysons, den Kreis zugleich mit
einbeschriebenen und umbeschriebenen Polygonen zu erfassen. Wahrscheinlich
sollte dabei grundsätzlich postuliert werden, daß es eine mit dem Kreis flächen-
gleiche geradlinig begrenzte Figur überhaupt gibt (vgl. O. BECKER, Quellen u. Stud.
z. Gesch. d. Math., B 2, 1933, 369—387 u. ö.). An dieser Fragestellung könnte Platon
das Problem der »Stetigkeit* kennengelernt haben (vgl. Farmen. 161D. 165A: das
,Gleiche' beim Übergang vom Größeren zum Kleineren; dazu wohl auch Epist.
VII 343A: fundamentaler Gegensatz zwischen rund und geradlinig). — Sobald
durch derartige Untersuchungen klar geworden war, daß ein direkter Flächenver-
gleich zwischen Kreis und geradlinig begrenzten Figuren mit gewöhnlichen Mitteln
undurchführbar ist, konnte die Forderung aufgestellt werden, nun möglichst alle
sonstigen Figuren oder Kurven als ,Mischungen* aus dem Kreis und der geraden Linie
als den beiden ,Urkurven' herzuleiten. Diese Aufgabenstellung stimmt wohl nicht
nur zufällig mit der Absicht Platons überein, die Ubergangsstufen zwischen Peras
und Apeiron möglichst vollständig zu ermitteln (vgl. Philebos IGCff.). Im gleichen
Sinne spricht etwa auch Aristoteles von kreisförmiger, geradliniger und »gemischter*
Bewegung (De caelo I 2, 268bl7—20). [Korrekturnote: Auch diese mathematischen
Aspekte werden durch die jetzt vorliegende philosophische Interpretation von
H. G. GADAMER wesentlich erhellt: Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen
Brief, SB Heidelberg, phil.-hist. Kl. 1964, 2, bes. 17—19].
Platons Menon und die Akademie 289