0 Bewertungen0% fanden dieses Dokument nützlich (0 Abstimmungen)
84 Ansichten7 Seiten
Jacques Attali wurde 1943 in Algier geboren. Er ist, wie viele französische Spitzenbeamte, Absolvent der Ecole Nationale dAdministration ENA. Dort arbeitete er nach 1974 als Seminardirektor, während er mit wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen Essays in der intellektuellen Öffentlichkeit Frankreichs bekannt wurde. 1981 machte ihn Präsident Mitterrand zu einem seiner Berater.
[Jacques Attali wurde kürzlich zum Präsidenten der "Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung" ernannt.]
Jacques Attali wurde 1943 in Algier geboren. Er ist, wie viele französische Spitzenbeamte, Absolvent der Ecole Nationale dAdministration ENA. Dort arbeitete er nach 1974 als Seminardirektor, während er mit wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen Essays in der intellektuellen Öffentlichkeit Frankreichs bekannt wurde. 1981 machte ihn Präsident Mitterrand zu einem seiner Berater.
[Jacques Attali wurde kürzlich zum Präsidenten der "Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung" ernannt.]
Jacques Attali wurde 1943 in Algier geboren. Er ist, wie viele französische Spitzenbeamte, Absolvent der Ecole Nationale dAdministration ENA. Dort arbeitete er nach 1974 als Seminardirektor, während er mit wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen Essays in der intellektuellen Öffentlichkeit Frankreichs bekannt wurde. 1981 machte ihn Präsident Mitterrand zu einem seiner Berater.
[Jacques Attali wurde kürzlich zum Präsidenten der "Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung" ernannt.]
09499 F STUDIEN
ana VON
ZEITFRAGEN
_ Der neue Krisenherd
” Europas
_ neuer HorizontHORIZO —
Europa, Herz der Welt von
morgen?
‘edanken aus dem Buch Lignes d’Horizon
von Jacques Attali
‘ar das 20. Jahrhundert
durch den Niedergang Bu-
ropas, den Triumph Ame-
rikas und die Macht der Sowjetunion
charakterisiert, so wird das 21. Jahr-
hundert das Jahrhundert Japans und
Buropas, oder besser jenes der zwei
grofen Wirtschafis— und Technolo-
giezentren, die zu Japan und Europa
gehdren. Dies ist der Kerngedanke
des Buches von Jacques Attali "Li-
ne d’Horizon’.
“Ligne ¢’Horizon” driickt cin Den-
ken aus, welches sowohl franzdsisch
als auch europaisch, aber nicht euro-
zentrisch ist, und stellt einen ernst-
haften Versuch
dar, in einer Zeit,
in der sich die ge-
schichtlichen Er-
union findet sich die Geschichte Eu-
ropas plotzlich in einem ungeahnten
Freiraum wieder. Der Riickzug der
Sowjets wird zwangsliufig von ei-
nem Abzug der Amerikaner begleitet
sein, der den Anstrich des Isolati
nismus tragen und die USA auf die
westliche Hemisphare zurickwerfen
werde.
Dic USA werden die ungewohntc
Rolle des Zuschauers dbernehmen
miissen und Zeuge des Aufsticgs ci-
nes neuen Europas sein, welches
seinen Weg ohne einen Vormund und
moglicherweise ohne einen Beschat.
zer machen wird. Indem es sich sei
ner eigenen Stir-
ke bewu6t wird,
will sich Buropa
nicht Hanger kon-
schlagen, “die & ;sund sei es auch
ven ce rn | SCHRIFTEN tur durch ine
Teeertoe Sa
schrieben, als die a Se trolle, die mit
gewaltfreien Revolutionen in Osteu-
ropa dic scheinbar unerschiitterli-
chen stalinistischen Diktaturen hin-
wegfegten, versucht Attali eine u
verselle Aufgabe fur Europa zu defi-
nieren.
Er geht dabei von der Feststellung
aus, die Geschichte Buropas sei
nicht die Weltgeschichte, aber dic
plotzliche Beschleunigung der Zcit-
geschichte finde in Europa und mit
Bezug zu Europa stat, Die Nach-
kriegsordnung 1se sich rapide auf,
ohne daB cine alternative ’Struktur’
oder Ordnung an ihre Stelle getreten
Bislang eingeengt durch den Kalten
krieg und die Berliner Mauer und
durch die zwar beanstandete, aber
unanfechtbare Vorherrschaft der
Vereinigten Staaten und der Sowjet-
6 STUDIEN YON ZEITFRAGEN 5/1950
dem a des einen ffir den ande-
ren cinhergeht.
Der Niedergang und Zusammen-
bruch des Kommunismus bedeatet
nicht das “Ende der Geschichte",
wie es Francis Fukuyama in Anleh-
‘ung an Hegel ziemlich seicht aus-
driickte und damit den Standpunkt
eines Zuschauers cinnahm. her be-
deutet es die Wiederentdeckung der
Geschichte. Die sterile und sehr re-
lative Stabilitit der Blicke macht
den schdpferischen Instabilitaten
neuer Freiheiten Platz, denen aller-
dings neue Strukturen gogeben wer-
den miissen.
Diese Vorstellungen lassea auf die
sich unleugbar ausdehnende Kluft
schlieSen, die zwischen dem ameri-
Kanischen und dem europaischen
Denken besteht. Wenn Europa seine
historische Chance allerdings nicht
wahrnimmt, dann werden starke
Krafte Krison auf Krisen heraufbo-
schwaren und Europa cher zersplit-
tern, als zu ciner Binigung fihren.
"Wenn Westeuropa in der Lage ist,
den Osten an seiner Zukunft teilh:
ben zu lassen, kann cs sich zu recht
als Herz. der Weltwirtschaft bezeich-
rnen und kdnnte die dichtestbesiedel-
te, reichste und schdpferischste Re-
gion der Welt werden’, erklart Attali
und beschreibt damit auch das Ende
des Amerikanischen Jahrhunderts
-was durchaus weniger offenkundig
ist als der Verfall der russischen
Vorherrschatt.
Ob mit Absicht oder nicht, Attali,
langjahriger Sozialist und Beratekyy
Mitterrands, bestatigt mit dieser Bin-
schitzung die historische Vision
Charles de Gaulles. Damit folgt er
auch Regis Debray, dem chemaligen
Gofahricn des latcinamerikanischen
Guerillakmpfers Che Guevara, der
Ahnliches auf scine Weise vor eini-
‘gen Jahren in dem Buch Les Empires
contre I’Europe (Imperien gegen Bu-
ropa) tat.
Lignes d’Horizon \ebt von einer un-
Teugbaren Realitit, einer Diagnose
der ticferen Strémungen, dic die
Welt heute bewegen: dem Nieder-
ang der beiden GroBmachte, die aus
verschiedenen Grinden _unfthig
sind, ihre Rolle als Imperien weit
ahrvanchmen, Wihced di bipola
re Welt untergeht, entstehen neue
‘Herzen’, wie der Autor die
sationszentren bestimmter Zeitper
oden bezeichnet. Diese Herzen wer-
den durch ihre technologische und
irtschaftliche Kraft bestimmt, aber
auch durch die Kraft ihrer demokra-
tischen Ideen:
“Wenn Westeuropa zu einer Einheit
voranschreitet, wenn Osteuropa mit
seiner Demokratisierung Erfolg hat,
wenn die zwei Teile Europas in der
Lage sind, cinen kihnen Weg zur
Wiedervereinigung zu entdecken,
kann nicht ausgeschlossen werden,
daB diese ‘europaische Zone’ zum
neuen Herzen der Weltwirtschaft
wird. Mit cinem gewaltigen Ansticg,
schépferischer Kraft und Arbeitslei-stungen wird der ECU (die Europai-
sche Wahrungscinheit) fahig. sein,
den Yen zu dberholen...Die Werte
des Alten Kontinents - Freiheit und
Demokratie - werden sich letztlich
fiber den ganzen Erdball verbreiten."
‘Zwei groBe geowirtschaftliche und
Beostrategische Zonen bildeten sich
in Burasien und dem Pazifikbecken
heraus: Die erste werde sich vom At-
lantik bis zum Ural erstrecken, die
zweite - von der technologischen
Dynamik Japans beherrscht - werde
das Pazifische Becken umfassen. Die
finanzielle und technologische Ab-
hangigkeit der Vereinigten Staaten
yon Japan werde, nicht ohne Er-
schiitterungen und Krisen, wachsen.
nA
Der Niedergang der Supermichte
Die tieferliegenden Ursachen der
Krise, welche die Sowjetunion er-
schiittert und sie zwingt, sich aus
dem westlichen Gebiet zurickzuzie-
hen - dem ersten bedeutenden Rick-
zug nach Jahrzehnten des russischen
Expansionismus - werde offenbar:
Die verheerende Wirtschafiskrise,
mangelnde Produktivitat, ein mi-
litirischer Machtapparat, der auf
‘iberkommenen und _zerfallenden
wirtschaftlichen und sozialen Struk-
turen basiert. Die Macht eines Staa-
tes wird jedoch nicht allein von der
‘A\militirischen Stirke bestimmt, son-
dern auch von der kulturellen und
gesellschaftlichen Kraft, d.h. von
dem Grad der Bildung der Bevilke-
rung und besonders ihren techni-
schen Fahigkeiten,
Die Fahigkeit ciner Gesellschaft,
Wissen aufzunchmen und zum Wohl
der Allgemeinheit umzusetzen, be-
stimmt ihr Potential flr das langfri-
Uberleben. Zusammengefabt
bestoht die Uberlebonsfahigkeit ciner
Kultur in der potentiellen Stérke ih-
rer lebendigen Krafte, nicht in ihrem
materiellen Besitzstand. Der Bank-
rott des sowjetischen Systems ist of-
fenkundig. Was ware folgerichtiger
als cin demographischer Verfall par-
allel zu dem wirtschaftlichen Nie-
dergang?
Verninftigerweise reitet Attali
Te
nicht auf dem sowjetischen Niedes-
‘gang herum, sondern scheint cher zu
denken, da RuBland zusammen mit
einem hochindustrialisiorten Europa
nicht zwangsliufig untergchen mis-
USA: Drogen, Schulden,
Spekulation
Das vorherrschende Phinomen im
Pazifischen Becken, so schreibt At-
tali, “ist der Niedergang der Verei-
nigien Staaten". Viele weigerten
sich, dies zu glauben, indem sie die
12000 US-Atomsprengképfe zihlen,
die Macht des Raumfahriprogramms
bewundern, den Triumph des Dollars
beobachteten, den Marktanteil der
USA berechnen, von den Reichti-
mern der Wall Street traumen, sich
von der Gré8e amerikanischer Ban-
ken beeindruckt zeigen und die Star-
ke des amerikanischen Kapitalismus
bestaunen.
Wenn ihnen jemand vom Nieder-
gang erzahlt, antworten sie, daB der
Rickgang des amerikanischen An-
teils an der Weltwirtschaft mit dom
Wiederaufbau der Linder zu tun ha-
be, die im Krieg zerstért wurden,
und nicht mit ciner wirklichen
Schwiche Amorikas, das genauso
machtig, dynamisch und schulden-
frei wie immer sei. Zum SchluB sa-
gen sie, wenn dieser eventuclle Ni