1953 Alle Rechte vorbehalten Copyright 1953 by Verlag Neues Leben, Berlin W 8 Lizenz Nr. 303 • Gen.-Nr. 305/42/53 Umschlagzeichnung: Heinz Rammelt, Bernburg Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30 Nächtliche Stille herrschte ringsum im Park von Sanssouci, in dem tagsüber viele Menschen Ruhe und Erholung ge- sucht hatten. Die Blumen hielten ihre Kelche geschlossen, das Gras der liebevoll gepflegten Rasenflächen richtete sich wieder auf, Tau netzte die Flora, und ein leichter Nebel stieg von der Oberfläche des Kanals und der vielen Teiche und Bassins. Weit trug der Wind den Schlag der Turmuhren über den Park. Und dann war alles so ruhig wie zuvor. Sorgsam bedacht, die Stille nicht zu stören, arbeiteten zwei Burschen vor dem rechten Flügel des Schlosses Sanssouci. Das Knistern von steifem Packpapier war das einzige Ge- räusch, das hin und wieder hörbar wurde. „Drei Uhr“, unterbrach jetzt der eine das Schweigen. „Es wird Zeit, daß wir verduften.“ Die Stimme klang ängstlich. „Ruhe, Mensch, ist die Seele vom Geschäft“, entgegnete der andere. „Das Schwierigste haben wir schon geschafft. Knuppere lieber ‘nen anständigen Knoten. Wie ein richtiges Postpaket muß es aussehen.“ „Deine Ruhe, Albert, möchte ich haben“, flüsterte der erste zurück, während er hastig den Bindfaden um das braune Paket befestigte. Der mit Albert Angesprochene grinste geschmeichelt. „Lernste auch noch, Otto, wenn du erst so viele Dinger wie ich gedreht hast.“ „Wie die Sache mit dem Postpaket“, sagte der mit Otto Angeredete wieder, dem man es an der Stimme anmerkte, daß er der ihn bedrückenden Stille durch Reden entgehen wollte. „Das ist eine gute Idee!“ „Ja, Köppken muß der Mensch haben, wenn er zu etwas kommen will“, pflichtete Albert bei. Er zog aus der Tasche zwei beschriebene Paketadressen und eine Tube Alleskle- ber. Sorgsam befestigte er die Adressen auf den länglichen Paketen. „Und wir kommen zu was. Verlaß dich drauf, Otto. Du wirst den Tag noch an- kreuzen, an dem ich dich vor dem Kino ansprach und wir ins Geschäft kamen. Ich erkannte doch gleich, daß du aus der Zone kamst und daß aus dir noch was werden konnte. Du mußt doch zugeben, daß das hier mehr einbringt, als wenn du noch Lehrling im Karl-Marx-Werk wärst. Loko- motiven bau’n… so ‘n Quatsch! Ich hab’ mich beizeiten davor gedrückt. So billig wie hier kommst du nie wieder zu Geld und ‘nern angenehmen Leben.“ Ein angenehmes Leben ohne anstrengende Arbeit, ja, das war das Ziel, dem Albert nachjagte. Er begann bereits im Sommer 1945 mit kleinen Schwarzmarktgeschäften. Da- mals ging er gerade in die letzte Klasse der Grundschule. Dann war er ohne Lehrstelle. Um den elternlosen Jungen kümmerte sich nur die Großmutter. In Westberlin schoben so viele, was war schon dabei? Was sollte man denn sonst tun? Arbeit gab es sowieso nicht. Zehn Schachteln Streich- hölzer – gegen zwanzig Zigaretten Sondermischung. Zwan- zig Zigaretten – gegen ein Brot. Die Großmutter nahm gern ein Brot; er aß ja schließlich das größte Stück, und ihre Ren- te war mehr als kläglich. Er erzählte ihr natürlich nicht, daß die Waren von Plünderungen und Einbrüchen stammten. Für ein Brot aber bekam man hundert Reichsmark. Die konnte man gut in Schnaps und Tabak umsetzen, man konn- te Kinos und Bars besuchen. Die Währungsreform beendete zunächst das leichte Leben. Was nun? Ehrliche Arbeit ver- richten? Warum sich anstrengen, wenn „gute Freunde“ in Westberlin Albert einen neuen, zwar ein bißchen gefährli- chen, aber ertragreichen Erwerbszweig nachwiesen. Diesem war er bis jetzt treu geblieben und hatte nun schon eine ge- wisse Fertigkeit darin. Albert stand auf und schlug mit der flachen Hand auf die geschnürten Bündel. Auch Otto erhob sich. Angestrengt starrten sie zur Großen Fontäne hinunter. Nichts Verdächti- ges rührte sich. „Wird uns schon keiner dieser miesegreisigen Wächter in den Weg laufen“, sagte Albert, „und wenn…“, er griff in die Tasche, „dann kann er froh sein, daß wir ihm nichts tun… Los jetzt!“ Die beiden hoben jeder eines der schweren Pakete auf und trugen sie am Schloß und an der Bildergalerie vorbei bis zu der hohen Mauer, die den Park von der Außenwelt, in die- sem Fall von der Schopenhauerstraße, trennte. Sie wußten gut Bescheid, denn trotz der Dunkelheit fanden sie sich schnell zurecht, ohne ihre Taschenlampe benutzen zu müs- sen. Bei der drei Meter hohen Mauer angekommen, legten sie die Pakete nieder und verschnauften, wahrend Albert die letzten Instruktionen gab. „Also, alles klar, Otto? Die Pakete lassen wir jetzt auf der anderen Seite unterm Gebüsch liegen. Dort kann man sie nur durch einen blöden Zufall entdecken. Die Adressen auf dem Packpapier sind ja auch bloß Finte, so kann uns nichts passieren. Denn mit den Packen jetzt durch die Stadt zu lau- fen, ist zu gefährlich. Morgen früh kommen wir mit dem Handwagen, und dann ab zur Post.“ Otto nickte und fuhr fort wie eingelernt: „Erst zur Post am. Brandenburger Platz, dann zur Hauptpost, dann zur Post nach Babelsberg, dann zur Poststelle nach Griebnitzsee, falls uns unterwegs einer danach fragen sollte.“ „Gut“, lobte Albert. „Aber es wird schon niemand auf- merksam werden. Wenn wir erst in Griebnitzsee und Steinstücken sind, dann hilft uns Emil, nächste Nacht das Zeug durch den Wald zum Westsektor ‘rüberzubringen. Na los, Mensch, dann wollen wir uns an das letzte Stück des Weges machen!“ Unter gemeinsamen Anstrengungen wurden die Pakete über die Mauer geschafft und im Gebüsch verstaut. Bis zur Straße waren es dann noch rund fünf Meter. Da die Gegend hier auch tagsüber ziemlich unbelebt war, hofften die Bur- schen, am Morgen ihren Handwagen unbemerkt beladen zu können. Und es klappte alles. Niemand in den belebten Straßen Potsdams achtete sonder- lich auf die beiden Burschen, die in den frühen Vormittags- stunden einen Handwagen zogen, auf dem zwei harmlos aussehende Postpakete lagen. Dennoch sahen sie sich von Zeit zu Zeit lauernd um. Otto, der Siebzehnjährige, konnte seine Unruhe besonders schlecht verbergen. Es war ja auch nicht ganz einfach, mit einem Wagen voll Diebesgut am hellichten Tag durch die Stadt zu fahren. Albert hingegen, der ja schon mehr Erfah- rung in lichtscheuen Unternehmen hatte, sah gleichgültiger aus. Beide sprachen auf dem ganzen Weg kein Wort. Nur das eintönige Rattern der eisenbereiften Räder des Handwa- gens begleitete sie. Durch den Parkeingang „Grünes Gitter“ gingen vier junge Menschen. Zwei Burschen und zwei Mädchen, Studenten der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Potsdam. Bei den Com- muns, gegenüber dem Neuen Palais, befanden sich die Ge- bäude der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät und der Pädagogi- schen Hochschule. Da erst ein Teil der Internatsgebäude bei den Communs bezugsfertig war, wohnten noch viele Stu- denten in der Stadt; einige in Privatquartieren, die meisten im großen Studentenheim in der Jägerallee. Viele von ihnen genossen die Schönheit des Parks von Sanssouci auf ihrem täglichen Spaziergang und schöpften dabei Ruhe und Kraft für ihr Studium. Die vier Studenten, die jetzt die breite Sphinxallee zur Großen Fontäne entlang schlenderten, achteten jedoch we- nig auf die Pracht des Herbstes, der die Blätter ringsherum zartgelb und braun zu tönen begann. Sie gingen – die Mäd- chen in der Mitte – nebeneinander, und ihre verschlossenen Gesichter verrieten angestrengtes Nachdenken. Endlich sagte Günter: „Ob wir nicht doch besser daran ge- tan hätten, uns noch einmal die Aufgaben abzufragen? Es ist schließlich unsere erste Prüfung, und ich möchte den Kolle- gen meiner Station, die mich zum Studium delegiert haben, keine Schande machen.“ „Ach geh“, lachte Renate, die an seiner Seite ging. „Es gibt bestimmt keine bessere Vorbereitung auf die Prüfung, als diesen Spaziergang. Und bei wem es bis jetzt nicht sitzt, dem hilft auch das Büffeln in letzter Minute nicht mehr. Übrigens brauchst du dir doch wahrhaftig keine Sorgen zu machen.“ Günter lächelte verlegen. Bevor er zur Arbeiter-und- Bauern-Fakultät kam, hatte er als Traktorist auf einer MAS im Oderbruch gearbeitet. Er war der Sohn eines Landarbei- ters, der als Tagelöhner auf dem Gut eines Junkers arbeiten mußte. Durch die Bodenreform bekamen Günters Eltern einen Teil des Landes, das sie so lange für fremde Herren bestellt hatten. Die Regierung gab ihnen großzügige Kredi- te, und bald bewohnten sie ein eigenes Haus.
Doch Günter blieb nicht, obwohl die Eltern seine kräftigen
Arme, gut gebrauchen konnten. Es zog ihn zur Maschinen- Ausleih-Station. Er ahnte damals schon, daß das eine Pferd nicht ausreichte, das der Vater stolz jedem Besucher zeigte, um all das fruchtbare Land bestellen zu können, sondern daß es galt, mit vielen Traktoren und Maschinen den Bauern zu helfen, und daß nur gemeinsame Arbeit zum Ziel führte. So wurde Günter Traktorist. Er liebte seine Arbeit und seine Heimat. Er wollte viel lernen und nahm mit Freuden den Vorschlag an, die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät zu besu- chen. Wie die meisten seiner Freunde warf er sich mit wah- rem Feuereifer auf die ungewohnte geistige Arbeit, um nachzuholen, wozu ihm früher keine Möglichkeit gegeben war. Mit der gleichen Gründlichkeit, wie er vordem seinen Traktor gepflegt hatte, um die größte Leistung aus ihm her- auszuholen, prüfte er jetzt die mathematischen Formeln auf ihre Anwendungsfähigkeit, lernte er die deutschen Klassiker verstehen und die Schönheit der deutschen Sprache erken- nen. Langsam schritten sie weiter. Auf Vorschlag von Marian- ne, der zweiten Studentin, bogen sie nicht sofort nach links zur großen Ost-West-Allee ab, sondern sie schlugen noch den Weg zum Schloß Sanssouci ein. Sie gingen um die Große Fontäne herum und standen dann als einzige frühe Besucher vor den sechs Glasterrassen, in deren Scheiben sich die ersten Strahlen der Morgensonne spiegelten. Ein wenig wurden die Examengedanken von der Schönheit des Morgens verdrängt. „Der gläserne Berg“, sagte jetzt Horst, beinahe andächtig. „So hat Baumeister Knobelsdorff diese Terrassenstufen ge- nannt. Eine Bezeichnung, die ihre volle Berechtigung hat. Seid ihr nicht auch dieser Meinung?“ „Na ja, ganz schön“, meinte Günter gönnerhaft. „Aber mich interessieren diese Schlösser der Könige und Junker nicht allzusehr. Ich denke immer dran, was das dem Volk gekostet hat. Auch bei uns zu Hause gab es einen solchen Krautjunker, der uns vollauf genügte. In seinen Park durfte niemand herein; er aber ritt bei der Jagd quer über unsere Felder. Nein, von den Herrschaften will ich nichts wissen.“ Horst und Marianne antworteten nicht, während sie lang- sam die Stufen hinaufstiegen. Schon oft hatten sie Günter davon zu überzeugen versucht, daß jetzt alles ihnen gehört und daß die Kunstwerke Zeugnis vom Können ihrer Vorfah- ren ablegten. Aber heute, nun- vor der Prüfung, wollten sie nicht wieder die Diskussion beginnen. Tief atmeten sie die reine Luft ein. Auf der obersten Terrasse angelangt, genossen die Studen- ten den herrlichen Überblick über den Park. Später versuch- ten sie neugierig durch die hohen Glastüren des Schlosses zu spähen und gingen dann zu dem kleinen Pavillon hin- über, der mit seinen verzierten Stangen wie ein Vogelkäfig aussah. Im Innern des Pavillons stand der „Betende Knabe“. Die Bronzefigur stellte einen Knaben dar, der die Arme an- dachtsvoll nach oben gereckt hielt, als ob er eine Gabe op- fern wollte. Diese Figur war eine Nachbildung der Statue, die Friedrich II. vom Fürsten Liechtenstein kaufte. Sie war unter der Bezeichnung „Der Adorant“ in der kulturhistori- schen Welt bekannt geworden. Jeder Beschauer wurde von der beschwingten Harmonie dieses Knabenkörpers entzückt. Erschrocken aber blieben die vier jungen Menschen ste- hen. Renate und Marianne schrien laut auf. Was war denn das? Es schien, als blicke der Knabe klagend gen Himmel, denn dort, wo sich vorher die Arme nach oben gestreckt hatten – ragten nur Stümpfe, häßlich und roh. Erschreckt liefen die Studenten näher. „Aber das ist doch nicht möglich!“ rief Marianne verzwei- felt. Diese Figur hatte sie besonders in ihr Herz geschlossen. Ihre Hände streichelten immer wieder die Stümpfe. Horst verhielt sich nüchterner. Er hob einige Metallspäne von der Erde auf. „Die Arme sind mit einer groben Säge abgeschnitten worden“, erklärte er sachverständig. „Die Späne sind noch ganz frisch. Als gelernter Dreher weiß ich da Bescheid. Das kann also erst heute nacht geschehen sein. Vermutlich weiß die Parkverwaltung noch gar nichts da- von.“ „Ich gehe sofort den Verwalter benachrichtigen“, erbot sich Renate und lief auf die andere Seite des Schlosses. Günter wollte sich ihr anschließen, blieb dann aber doch zurück. Er schüttelte den Kopf. „Eine wahre Schande!“ sag- te er bekümmert. „Das schöne Metall. Wenn man den Park einmal richtig durchsehen würde, fänden wir bestimmt noch allerhand Bronzefiguren. Wir sollten den Buntmetalldieben zuvorkommen und alles einschmelzen, um es in der Indu- strie verwenden zu können. Wir brauchen jedes Kilo Bunt- metall so nötig. Ich werde diesen Vorschlag dem Ministe- rium unterbreiten.“ Entsetzt hatten ihm Horst und Marianne zugehört. „Was, du willst den Adoranten einschmelzen, die Rehe vom Schlößchen Charlottenhof, die…“ Das Mädchen geriet außer sich vor Zorn. „Du bist ja fast ebenso schlimm wie die Denkmalsfrevler, du…“ Tränen standen in ihren Augen. „Aber Marianne!“ versuchte Horst die Entrüstete zu beschwichtigen. „Günter meint es ja gar nicht so.“ „Doch, doch! Es ist eine wichtige Sache. Wenn wir das Buntmetall nicht für unsere Wirtschaft nehmen, holen es sich die anderen“, entgegnete Günter trotzig. Der Streit wurde durch die Ankunft Renates und des Ver- walters unterbrochen. Auch die Volkspolizei war von ihnen bereits verständigt worden. Doch die Studenten konnten nicht länger warten. Sie . verabschiedeten sich mit dem Ver- sprechen, wiederzukommen und nach dem Stand der Er- mittlungen zu fragen. Auf dem Wege zur Prüfung unterhielten sie sich mehr über den Diebstahl als über das bevorstehende Examen. Günter und Marianne stritten sich heftig. Sie konnten sich nicht einig werden, wenn sie auch darin übereinstimmten, daß den Verbrechern, die es auf das Buntmetall abgesehen hat- ten, das Handwerk gelegt werden müßte. Horst war merk- würdig still, und wer ihn kannte, wußte, daß er dabei war, einen Plan auszudenken. „Wo denken Sie hin, gute Frau, nicht einen Pfennig ver- diene ich daran!“ Beteuernd hob Gustav Maluschke, Inha- ber der Altmaterialhandlung G. Maluschke, Berlin- Neukölln, die Hände. „Nicht einen Pfennig! Im Gegenteil, aus reiner Gutmütigkeit gebe ich Ihnen schon den Großhan- delspreis. Beim Transport zahle ich zu. Kein Geschäft für mich.“ Die ärmlich gekleidete Frau mit den weißen Haaren zog ihr Umschlagtuch fester. „Aber siebzig Pfennig sind wirklich zu wenig, Herr Maluschke. Den ganzen Tag haben die Kin- der das Papier gesammelt. Sogar der Schwiegersohn geht mit, weil er doch keine andere Arbeit hat.“ Ungerührt zuckte Maluschke die Achseln. Dick und rund stand er in seinem kleinen Kellerladen hinter dem schmud- deligen Ladentisch. Aus dem aufgeschwemmten Gesicht blinzelten die Augen kalt in das Halbdunkel. Auf seinem kahlen Schädel saß eine speckige Mütze. Über dem Bauch hing eine Schürze, und die Füße steckten in Holzpantinen. Die Frau ließ hilflos ihre Blicke durch den Laden gleiten. An den Wänden standen hohe Regale, in denen allerlei Ge- rumpel lag. Hinter einer Waage lag in der Ecke ein Haufen verbogener Rohre. Eine Falltür im Fußboden ließ vermuten, daß sich hier ein Zugang zu einem Gelaß im Keller befinden mußte. Im Rücken von Maluschke verdeckte ein schmutzi- ger Vorhang die Tür zum Hinterzimmer. Noch immer rührte sich der Altmaterialhändler nicht. Da klaubte die Frau die sieben in einer Reihe aufgezählten Gro- schen vom Ladentisch und schlich zum Ausgang. Sie ver- gaß nicht, ein „Wiedersehen“ zu murmeln, denn morgen und übermorgen würde sie ja wieder herkommen müssen. Maluschke wartete, bis sich die Tür mit einem lauten scheppernden Klang geschlossen hatte. Schön war der Klang des alten Stückes Eisen nicht, aber laut, und darauf kam es ja schließlich an. Bevor sich Maluschke ins Hinterzimmer zurückziehen konnte, wurde die Außentür wieder geöffnet. Ein eleganter Herr im braunen Anzug, mit Hut und Handschuhen trat ein. Er rümpfte die Nase, als ihm der muffige Geruch des Kel- lerladens entgegenschlug. Dann kam er die wenigen Stufen herunter. „Oh, Herr Wandtlitz persönlich! Sehr willkommen“, die- nerte Maluschke und wischte sich die Hände am Hosenbo- den ab. „Bitte, treten Sie näher. Bitte, hier hinein.“ Er riß den Vorhang zum Hinterzimmer zur Seite und öffnete die dahinter befindliche Tür. Sie traten in einen etwas helleren Raum, dem man das miß- lungene Bestreben Maluschkes anmerkte, diesem repräsen- tatives Aussehen und Behaglichkeit zu geben. Auf dem gro- ßen Schreibtisch lag die neueste Ausgabe des „Renn- Courier“. Pferderennen und -wetten waren Maluschkes Lei- denschaft. Um den Tisch herum standen vier abgeschabte Ledersessel. In einer Ecke war ein Tresor eingebaut. Die Scheiben des einzigen Fensters, vor denen Gardinen hingen, waren schmutzig. Zigarren- und Zigarettenasche lag nicht nur in den pompösen Aschenbechern, sondern auch auf dem leicht lädierten Teppich. In diesem Raum pflegte Maluschke seine besonderen Geschäfte abzuwickeln. Der Besucher, dessen elegante Erscheinung nicht so recht in diese Umgebung passen wollte, ließ sich in einem der Sessel nieder, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Er nahm seinen Velourhut ab und legte die Glacehandschuhe auf die Krempe. Maluschke eilte zum Schreibtisch und kehrte mit einer Flasche Dreistern-Kognak und zwei Gläsern zurück. Er schenkte ein. „Prost!“ Wandtlitz winkte ab. „Ich habe nicht die Absicht, mich lange aufzuhalten. Machen wir es kurz. – Ihre Lieferungen lassen in der letzten Zeit zu wünschen übrig, das heißt, Sie bieten zu wenig. Was sagen Sie dazu?“ Maluschke ließ sich in den gegenüberstehenden Sessel fal- len und hob beide Hände. „Was soll ich dazu sagen? Das Risiko ist zu groß geworden. Die Volkspolizei paßt ver- flucht auf! Und da sind nicht nur die berufsmäßigen Auf- passer, da sind auch viele Leute in der Zone neuerdings vom Wachsamkeitsfimmel besessen und machen einem ehrbaren Geschäftsmann das Leben schwer. Wenn das so weitergeht, mach’ ich pleite.“ Der Besucher zog verächtlich die Mundwinkel herunter. „Na, bis Sie Konkurs machen, dauert es wohl noch eine Weile. Aber ich höre immer Risiko. Was riskieren Sie denn eigentlich, Herr Maluschke? Nichts! Die Arbeit tun doch andere. Aber trotzdem sind wir bereit, Ihnen entgegenzu- kommen. Wir geben Ihnen ab sofort für jede Lieferung zweieinhalb Prozent mehr.“ „Zweieinhalb“, wiederholte Maluschke und goß sich wie- der ein. „Viel mehr ist das auch nicht und deckt nur gerade die Unkosten.“ „Langweilen Sie mich nicht mit Ihren Klagen“, antwortete Wandtlitz kühl. „Wir sind genauestens orientiert. Sie ver- langen doch nicht, daß ich Ihnen Ihre Bilanz mache? Wis- sen Sie, was Ihnen fehlt, damit Sie mehr Erfolg haben?“ Maluschke beugte sich interessiert vor. Wandtlitz schwieg eine Weile und fuhr fort: „Sie müssen überlegter arbeiten, mein Lieber! Sie sehen bloß immer den Gewinn. Ihre Arbeit jedoch ist mehr. Sie ist ein Teil des Freiheitskampfes für Westberlin. Es geht uns nämlich nicht nur darum, das Buntmetall in unseren Werken zu verarbei- ten. Verstehen Sie, jedes Gramm, jedes Kabel, das Sie aus der Ostzone holen, fehlt denen drüben und legt ihre Wirt- schaft lahm. Das ist unser Ziel, dafür kämpfen wir. Daß Sie bei diesem Kampf noch gut verdienen, ist für Sie eine sehr angenehme Begleiterscheinung.“ Maluschke füllte sein Glas zum dritten Male bis zum Rand. Er schnaufte. „Also gut, werd’ schon seh’n, was sich machen läßt.“ Um sich nicht geschlagen geben zu müssen, setzte er noch hinzu: „Aber leicht ist’s nicht, besonders…“ Der laute Ton der Türglocke unterbrach ihn. Wandtlitz sah den Schrotthändler fragend an. Maluschke ging nach vorn in den Laden. Nach einer Weile kam er wieder zurück und trug einen länglichen, goldig glänzenden Gegenstand zum Schreibtisch. „Da, sehen Sie das mal an, eine neue Liefe- rung… zu zweieinhalb Prozent nach der letzten Abma- chung.“ Wandtlitz stand auf und trat näher. Da lag ein zierlicher und wunderbar gearbeiteter Arm mit einer feinen, gespreiz- ten, nach außen gebogenen Hand. Er schien einer Knaben- oder Mädchenstatue abgeschnitten zu sein. Aber der Be- trachter sah nicht das Kunstwerk, für ihn hatte nur das blin- kende Metall Wert. „Nun“, versuchte er zu witzeln, „wie ein Schienenstoßverbinder sieht das gerade nicht aus. Eher wie von einer Göttin oder etwas ähnlichem. Woher ist das?“ Maluschke zuckte die Achseln. „Ich frag’ meine Kunden nicht danach“, antwortete er mit schlauem Lächeln, setzte dann aber zynisch hinzu: „Aus Sanssouci“. „Sieh mal einer an!“ Wandtlitz drehte den Arm auf dem Schreibtisch. „Dort ist ganz gewiß noch mehr davon. Mit dem Zeug können Sie Ihrer Pleite begegnen, Maluschke!“ „Man müßte so ein Ding im ganzen Stück über die Grenze bekommen“, meinte dieser gierig. „So ‘ne Figur ist be- stimmt einmalig, und manche Sammler in Übersee würden dafür ganz schön ausspucken. Besonders, wenn sie hören, wo es her ist. In Sanssouci wird kein Schund stehen.“ „Alles zu seiner Zeit“, wehrte der andere ab. Ironisch fügte er hinzu: „Das wäre übrigens Diebstahl von Kunstwerken. Die Figuren müssen zerhackt und zerstückelt werden. Wir brauchen nur Rohmaterial, verstehen Sie?“ Der Besucher streifte die Glaces über und ging zur Tür, die zum Hof führte. Er tippte gegen die Kopfbedeckung. „Also, Maluschke, bis zur nächsten Abrechnung!“ Der Schrotthändler sah mit verkniffenem Blick seinem Be- sucher nach, der mit schnellen Schritten davonging. Am Ladentisch lümmelten drei junge Burschen. „Der Alte könnte sich endlich um uns kümmern“, maulte Albert und trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf dem abge- scheuerten Holz. Otto sagte nichts. Auch er wartete nervös auf das Wieder- kommen des Altmaterialhändlers. Nur Emil, der dritte im Bunde, blieb gelassen. Er kannte als Westberliner Malusch- ke besser als die Zubringer aus der Deutschen Demokrati- schen Republik. Emil war es auch, der Albert den Weg zu diesem Erwerb gezeigt hatte. Er hatte ihn in alle Schliche und Kniffe ein- geweiht und einen gelehrigen Schüler gefunden. Dann zog er sich zurück und übernahm eine andere Aufgabe, nachdem er in verschiedenen Städten genügend Verbrecher geworben hatte, die den Aufbau der Deutschen Demokratischen Re- publik störten und die Westberliner Buntmetallhändler mit Material versorgten. So fungierte Emil jetzt als Lotse, denn ihm waren alle ge- heimen und von der Volkspolizei nur wenig oder noch gar nicht kontrollierten Übergänge zur Sektorengrenze bekannt. Doch wenn es galt, „ganz große Dinger zu drehen“, ging er selbst in die Republik und unterstützte die von den Westber- liner Händlern organisierten Banden. Selbst Albert bewun- derte bei gemeinsamen Beutezügen seine Kaltblütigkeit und Verschlagenheit. Emil beruhigte seine Kumpane. „Maluschke hat bestimmt Besuch. Ihr habt doch vorn den Wagen gesehen.“ Otto wurde munter: „Na klar! Das ist ‘n Wägelchen, der neue Ford-Taunus 12 M! Mit dem mal fahren, das war ‘n Genuß.“ „Kannst du dir später alles leisten, Mensch“, sagte Albert. „Mußt dich nur richtig ranhalten. Bleibe man mit mir zu- sammen, und du sollst sehen, daß wir es zu was bringen.“ Endlich trat Gustav Maluschke in den Laden. „Kommt rin, Kinners“, sagte er leutselig. Im Hinterzimmer stellte er noch zwei Gläser auf den Tisch und goß ein. „Prost!“ Die drei kippten den scharfen Schnaps, ohne eine Miene zu verziehen, hinunter. Noch einmal wurden die Gläser gefüllt und schweigend geleert. Dann zog der Schrotthändler einige Geldscheine aus seiner Tasche hervor und reichte sie Albert, der sie gierig durchzählte. „Viel ist das nicht“, murrte er. „Für das Risiko!“ „Risiko!“ höhnte der Händler. „Ohne Risiko kein Ge- schäft… Na ja, mein Junge“, versuchte er sich dann heraus- zuwinden. „Ich tue alles, um euch auf die Beine zu helfen, alles in eurem eigenen Interesse. Da habe ich gleich wieder was…“ Albert hatte nach der Flasche gegriffen und sich das Glas vollgeschenkt. Mit hartem Ruck stellte er sie jetzt auf die Tischplatte zurück und unterbrach Maluschke. „Davon wol- len wir nichts hören. Heute nicht! Erst mal gehen wir ins Kino, und nachher…“, er schnippte mit den Fingern, „ein paar nette Mädchen, und dann werden wir weitersehen.“ Otto stieß ihn an. „Erst wird geteilt! Du denkst wohl, du kannst alles für dich behalten und uns großzügig einen aus- geben, was?“ Emil nickte zustimmend. Albert blickte seine Kumpane böse an. Widerstrebend zählte er das Geld ab und schob jedem seinen Teil hin. An- schließend tranken sie den restlichen Schnaps aus und stan- den auf. Maluschke brachte sie zur Tür. „Ich kann euch ja verste- hen. Nach der Arbeit das Vergnügen.“ Er kicherte. „Und wenn der Zaster alle ist, holt ihr euch bei Papa Maluschke neuen. Ich gebe Vorschuß auf die nächste Lieferung. Der alte Justav ist immer für euch da, Jungens.“ Ein schleimiges Lächeln spielte um seine Lippen. Flotten Schritts gingen die drei über den Hof, als drängte es sie, das leichtverdiente Geld so bald als möglich wieder auszugeben. Gustav Maluschke sah ihnen nach. „Ihr kommt schon wie- der zurück und arbeitet wie ich will“, murmelte er. Während er den Schnaps und die Gläser wegräumte, summte er seine Lieblingspolka: „Wovon lebt der Max so flott? Das weißt du nicht? Das weißt du nicht? Der handelt doch mit Schrott!“ Im Zimmer des Direktors der Staatlichen Schlösser und Gärten von Sanssouci saßen einige Freunde als Abordnung des B-Lehrgangs der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät sowie Kommissar Berner von der Kriminalpolizei. Mit jugendli- cher Begeisterung hatte Professor Conrad den Studenten zugestimmt, und man war nun dabei, nähere Einzelheiten der geplanten Aktion zu besprechen. Noch einmal entwickelte Horst den Vorschlag der Studen- ten und begründete ihn: „Die Buntmetalldiebe haben leichte Arbeit gehabt und werden sich deshalb vermutlich ziemlich sicher fühlen. Sie wissen weiter, daß hier noch mehr zu ho- len ist, und werden möglicherweise vielleicht sogar recht bald wiederkommen. Die Gier steckt in ihnen und läßt sie nicht ruhen, bis alles in ihrem Besitz ist. Nur das eine kön- nen wir nicht vorher sagen, nämlich in welcher Nacht und zu welchem Zeitpunkt sie erscheinen werden.“ „Ich möchte am liebsten die Bronzen aus dem Park entfer- nen und sicher verwahren“, sagte Professor Conrad. „Richtig“, antwortete Marianne lebhaft, „das müßte man tun. Aber den Adoranten sollte man als Lockmittel stehen- lassen.“ „Wir werden in jeder Nacht einen Wachdienst organisie- ren, um die Verbrecher auf frischer Tat zu ertappen“, schloß Günter. Der Professor nickte. „Als Beobachtungsplatz ist die Bi- bliothek im Schloß Sanssouci der richtige Ort. Von dort aus kann man die Figur im Auge behalten. Aber was sagt die Volkspolizei zu diesem Vorhaben?“ wandte er sich an Volkspolizeikommissar Berner. Dieser lächelte. „Die Freunde haben ihren Plan selbstver- ständlich zuerst mit uns besprochen, und wir sind einver- standen, daß sie diese freiwillige Verpflichtung überneh- men. Sie werden uns bei der Ergreifung der Täter helfen.“ „Wir haben vor, eine Signalanlage in die Bibliothek zu le- gen, um die Volkspolizei sofort verständigen zu können, wenn die Diebe auftauchen“, erläuterte Horst. „Was? Kabel und Draht in das Schloß legen? Womöglich noch hauen und stemmen? Die schöne kostbare Einrichtung aus Zedernholz mit Bronze beschädigen? Damit kann ich nicht einverstanden sein“, wehrte Professor Conrad ab. „Aber, lieber Herr Professor“, schmeichelte Renate, „wir werden ganz vorsichtig sein und bestimmt keinen Augen- blick aus den Filzpantoffeln steigen, die man im Schloß an- ziehen muß.“ Professor Conrad brummte noch undeutlich etwas vor sich hin, aber die Falten auf seiner Stirn verschwanden, und er willigte schließlich ein. „Großartig“, rief Horst. „Wir müssen sowieso die Leitung unauffällig legen, und es genügt ja, wenn das Signal von den Freunden im Internat bei den Communs gehört wird, die dann sofort die Volkspolizei verständigen müssen. Wir können also die Wachen einteilen und versuchen, den ,Betenden Knaben’ vor weiteren Zerstörungen zu retten.“ „Übrigens“, warf Professor Conrad ein, „wißt ihr über- haupt, ob der .Betende Knabe’ wirklich betet?“ Erstaunt sahen ihn die Freunde an. „Nun ja“, fuhr der Professor fort, „wenn ihr euch schon so begeistert für die Figur einsetzt, dann sollt ihr auch etwas mehr über den Adoranten erfahren,“ „Bitte, erzählen Sie“, bat Marianne. Der Professor ließ sich nicht lange drängen. „Das Original wurde im ersten Jahrhundert nach der Zei- tenwende in Rom von einem hervorragenden Künstler ge- schaffen. Man nennt die Statue den ,Betenden Knaben’. Es kann sein, daß die Gestalt ein christliches Gebet verrichtet. Vielleicht bringt aber der anmutige Knabe auch ein Opfer dar. Diese Vermutung liegt nahe, weil die Künstler noch die engsten Beziehungen zu der griechischen Sagenwelt hatten. Die christliche Deutung könnte der Gestalt durchaus später gegeben sein.“ „Ist es nicht ein Wunder?“ fragte Renate den Professor, „daß der Park die Schrecken des Krieges überstanden hat? Er blieb unversehrt wie eine Oase inmitten der schreckli- chen Trümmer Potsdams.“ „Das ist kein Wunder“, entgegnete Professor Conrad, „sondern die Rettung des Parkes haben wir der tatkräftigen Hilfe unserer sowjetischen Freunde zu danken.“ Volkspolizeikommissar Berner ergänzte Professor Conrads Ausführungen: „Es ist wenig bekanntgeworden, daß der verbrecherische Angriff der anglo-amerikanischen Bomber auf die unge- schützte Stadt Potsdam auf den Tag genau zweihundert Jah- re nach der Grundsteinlegung des Parkes erfolgte. Am 14. April 1745 legte Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff den Grundstein zum Bau von Sanssouci. Am 14. April 1945 erfolgte das Bombardement. Nur der Park blieb verschont. Fast alle anderen historischen Bauten Potsdams sanken in Schutt und Asche. Als aber die sowjetische Armee am 28. April von Westen her die Stadt eroberte, leiteten sowjeti- sche Offiziere die Panzer- und Marschkolonnen um das Ge- lände des Parkes herum, so daß nichts beschädigt wurde. Die historische Mühle war wenige Tage vorher von deut- schen Soldaten in Brand geschossen worden.“ „Ja, so ist es“, ergänzte Professor Conrad. „Wir haben den sowjetischen Menschen viel zu verdanken. Sie waren es auch, die mich bei meinen Arbeiten unterstützten, das ur- sprüngliche Bild des Parkes, wie ihn Knobelsdorff und der berühmte Gartenarchitekt Lenne schufen, wiederherzustel- len. Wir haben das Schlößchen Charlottenhof restauriert, den Heiligen Hain bei den Römischen Bädern neu geschaf- fen, die Umgestaltung der Bildergalerie vorgenommen und vieles andere mehr. Über zweihunderttausend Pflanzen bringen wir in jedem Frühjahr neu aus unseren Treibhäusern in den Park hinaus, und Ministerpräsident Otto Grotewohl schenkte uns Schwäne für die Gewässer des Parkes.“ Noch lange unterhielt sich der Professor mit seinen Besu- chern über die Kunstwerke des Parkes Sanssouci. Begeistert lauschten sie ihm. Endlich mußten sich die Freunde und der Volkspolizeikommissar verabschieden. „Mann“, sagte Horst, als die Studenten den breiten Park- weg zur Hochschule zurückgingen, „ein Wissen besitzt der Professor, und zu erzählen weiß er, alle Achtung! Den soll- ten wir mal einladen, bei uns über die Geschichte des Parkes zu sprechen. Vielleicht bekommen dann gewisse Leute mehr Achtung vor den Kunstschätzen und urteilen nicht nur nach dem Metallwert“, schloß er mit einem Seitenblick auf Günter, der merkwürdig in sich gekehrt schien. Der eiserne Ofen in der kleinen Baracke, die als Aufent- haltsraum der Taxifahrer am Bahnhof Potsdam diente, spendete wohlige Wärme, die in den kühlen Herbstnächten allerdings auch notwendig war. Der Uhrzeiger rückte auf die Mitternachtsstunde, und nur noch wenige Chauffeure warteten um diese Zeit auf Kunden. Da trat der aufsichtführende Kollege herein. „Du, Erich, eine Fuhre Tangobubis wartet draußen auf dich“, sprach er einen älteren Taxifahrer an. „Was?“ Der alte Erich klopfte seine Pfeife am Ofen aus. „Tangobubis? Ich denke, diese Sorte ist bei uns ausgestor- ben?“ „Da draußen sind aber noch welche. Dreiviertelschwenker, gelbe Schals, und vor allem: die Haare zwei Handbreit über den Kragen! Nun mach schon, man soll Fahrgäste nicht warten lassen.“ Erich Sotscheck erhob sich. „Das ist aber die letzte Fuhre für heute. Anschließend fahre ich gleich in die Garage. Bis morgen.“ Er tippte an den Schirm seiner Mütze und verließ den Aufenthaltsraum. An seinem blankgeputzten dunkelgrünen Ford unter der Laterne des Parkplatzes standen drei Burschen. Einer pfiff, die anderen summten Schlagermelodien, während ihre Füße und Schultern im Takt dazu zuckten. Sie gaben sich sehr ungezwungen und heiter. Erich Sotscheck schnupperte. Aber die Burschen rochen nicht nach Alkohol. Beruhigt nahm er seinen Platz hinter dem Steuer ein und ließ den Motor anlaufen, während die „Tangobubis“ einstiegen. Der Wagen ruckte an und fuhr dann die Kehre der Bahnhofstraße hinauf. „Wohin soll’s denn gehen?“ fragte der Taxifahrer den Fahrgast, der neben ihm saß. Dieser hatte mit dem Pfeifen aufgehört, seit er im Wagen saß. Nur die beiden anderen dudelten unbekümmert weiter. „Zum Cafe ,Historische Mühle’. Wir wollen tanzen“, ent- gegnete der Gefragte. Erich Sotscheck schüttelte den Kopf. „Da werden Sie kein Glück haben. Erstens ist da nie Tanz, und zweitens ist das Lokal nur im Sommer geöffnet.“ „Ach wo“, widersprach der Fahrgast. „Haben Sie nicht ge- lesen, daß heute dort großer Eröffnungsball ist? Ein neuer Wirt will den Laden hochreißen, damit Potsdam endlich einmal ein vernünftiges Tanzlokal bekommt. Ganz tolle Masche. Unsere Mädels warten schon.“ „Nichts davon gehört“, meinte Sotscheck, während er den Wagen durch die nächtlichen Straßen steuerte. Das Taxi fuhr jetzt über den Brandenburger Platz, die Schopenhauer- straße hoch und bog dann halblinks in die Bornstedter Stra- ße ein. Hier führt rechts ein kleiner Weg, beiderseitig von Gebüsch umsäumt, zum Cafe „Historische Mühle“. Noch eine Biegung, das Auto fuhr langsamer und hielt schließ- lich. Sie standen vor dem langgestreckten niedrigen Gebäu- de des Cafes. Aber alles war still und ruhig. Kein Lichtschimmer weit und breit. Wuchtige Läden versperrten die Fenster, und die Stühle im Vorgarten waren auf die Tische gekippt. Die bei- den Autoscheinwerfer beleuchteten eine verlassene Stätte. „Na, bitte“, sagte Sotscheck triumphierend. „Wer hat recht? Wir müssen nun sehen, wie…“ Mehr konnte er nicht hervorbringen. Plötzlich spürte er ei- nen heißen Atem im Nacken, zwei harte Hände legten sich um seinen Hals, klammernde Finger preßten ihm die Kehle zusammen, ein heftiger Schlag riß ihm das Steuer aus der Hand. Er verlor das Bewußtsein. „Solide Arbeit, genau wie im Film“, lachte Albert. Mit Gangsterstolz sah er auf den Taxichauffeur hinunter, der geknebelt und mit den gelben Schals gefesselt vor ihm auf dem Boden lag. „Mensch, da hat der Dussel doch tatsäch- lich gedacht, wir sind tanzwütig und hier im Cafe ist was los.“ „Los, schafft ihn da ins Gebüsch und redet nicht soviel. Wenn er Glück hat, findet ihn morgen jemand“, sagte Emil und setzte sich hinter das Steuer. Mit gelöschtem Scheinwerfer fuhr der Wagen in das Ge- büsch auf der anderen Seite des Weges, so daß er von der Straße aus nicht mehr zu sehen war. Die drei stiegen aus. „Guter Wagen“, lobte Emil und klopfte auf die Motorhau- be. „Der Ford V 8 nimmt es mit jedem BMW auf, und die weißen Kästchen, die Kennzeichnung der Taxis, sind der beste Schutz, um nicht angehalten zu werden.“ „Leider ist zu wenig Benzin im Tank“, meldete Otto. „Die Taxifahrer sind vorsichtige Leute“, meinte Emil. „Bestimmt ist im Kofferraum noch ein Reservekanister.“ Albert sondierte inzwischen das Gelände. „Wir stehen an der richtigen Stelle, gerade im Rücken des Schlosses Sans- souci. Wir brauchen bloß quer über die Straße zu gehen. Aber die Mauer ist dort drüben zu hoch. Wir gehen einfach den Seiteneingang hinein. Die Treppe ist zwar mit Stachel- draht versperrt, doch rechts können wir über das steinerne Geländer klettern.“ Otto schleppte nun einen halbvollen Kanister nach vorn. Emil hatte richtig getippt. Mit leisem Gluckern rann der Brennstoff in den Tank. -
In der dunklen Bibliothek des Schlosses Sanssouci saßen
zwei Jungen. Sie hatten in hohen, mit roter Seide überzoge- nen Sesseln Platz genommen, in denen man sich – wie Gün- ter sagte – nicht einmal ordentlich rühren konnte aus Furcht, die dünnen geschwungenen Füße könnten zerbrechen. Des- halb waren die Studenten bemüht, sich wenig zu bewegen, und verharrten in unbequemer Stellung. Sie hatten dicke Wintermäntel übergezogen und um die Beine Wolldecken geschlagen. Trotzdem froren sie. Für die heutige Nachtwache waren Horst und Günter ein- geteilt worden. Sie ging von 24 Uhr bis 3 Uhr morgens. Je- der Student des Lehrganges kam auf diese Weise alle acht Tage einmal an die Reihe. In diesen Abständen ließen sich einige durchwachte Stunden schon ertragen, ohne daß das Studium darunter litt. Nur die Kälte machte den „Nachtwächtern“ zu schaffen. Günter wickelte sich aus seiner Decke. Er stand auf und schlug die Arme übereinander. „Eine Kälte, brrr…“ Er schüttelte sich. „Wenn man dieses olle Schloß schon nicht heizt, dann wird es Zeit, daß wir uns etwas auskno- beln, woran wir uns wärmen können. Im Winter wird das Stillsitzen gar nicht auszuhalten sein.“ Auch Horst erhob sich. Er machte ein paar Kniebeugen. Beide Jungen trugen Filzpantoffeln und schlitterten auf dem blanken Parkett, um sich zu erwärmen. „Ein Glück, daß uns Professor Conrad nicht sieht“, meinte Günter, als sie ein wenig außer Atem zur großen Glastür zurückgingen, wo ihre Sessel standen. „Er würde uns nicht mehr für voll ansehen, da wir in diesen historischen Räu- men nicht die nötige Andacht aufbringen und so respektlos mit seinen Kunstschätzen umgehen.“ Die Worte „seinen Kunstschätzen“ sprach er ironisch aus. Horst korrigierte: „Unsere Kunstschätze…“ „Na ja, schön, unsere Kunstschätze“, gab Günter widerwil- lig zu. „Deshalb sitze ich ja schließlich im freiwilligen Ein- satz hier.“ „Ach nee“, tat Horst erstaunt, obwohl er schon seit länge- rer Zeit wußte, daß Günter heimlich begonnen hatte, Sans- souci kennenzulernen und sich die Schönheit der Kunstwer- ke zu eigen zu machen. Eine bebilderte Broschüre über das historische Potsdam, Werke von Knobelsdorff und gesam- melte Aufnahmen des Parkes Sanssouci lagen seit einigen Tagen auf dem Büchertisch seines Freundes. „Und ich dach- te, du wolltest bloß das Buntmetall retten und den Sabo- teuren das Handwerk legen“, stichelte er trockenen Tons. „Gewiß doch“, antwortete Günter, dem das Gespräch un- angenehm wurde. Er versuchte schnell abzulenken: „Kein ehrlicher Mensch kann tatenlos zusehen, wenn solche Ver- brecher ihr Unwesen treiben. Dabei ist es gleichgültig, wel- che Ansicht man über Kunstschätze und die von Preußens Königen errichteten Schlösser hat.“ Günter gab sich einen Ruck. „Aber, Horst, ich muß es dir sagen. Bei mir ist es das nicht allein, sondern…“ „Still“, zischte Horst plötzlich und legte seine Hand auf den Arm des Freundes. „Da draußen bewegt sich etwas!“ Wahrend der Unterhaltung hatten die Jungen den Pavillon, in dem der geschändete Adorant stand, nicht aus den Augen gelassen. Die jagenden Wolken, hinter denen zeitweilig der Mond verschwand, tauchten immer wieder die Bronzefigur in den Schatten. Da schob sich eine den Mond verhängende Wolke zur Seite. Es wurde für einen Augenblick hell, und Horst und Günter sahen zwei, drei Gestalten, die sich im Pavillon zu schaffen machten. Schon oft hatten sich die Studenten ausgemalt, was ge- schehen würde, wenn sie sich den Buntmetalldieben gege- nübersehen und das Alarmsignal betätigen würden. Jetzt war es endlich soweit! Anhaltend drückte Günter auf den Knopf der provisorisch in die Bibliothek gelegten Alarman- lage, und dann – geschah nichts. Sie mußten warten, indes die Verbrecher draußen ihr Werk fortsetzten. Fiebernd vor Erregung, standen Horst und Günter hinter der doppelten Glastür, die auch das geringste von außen kommende Geräusch abhielt. So wirkte die lautlose Ge- schäftigkeit der Diebe noch unheimlicher. Endlich wagte Horst zu flüstern: „Geh bloß nicht so nahe heran, sonst sehen sie unsere weißen Gesichter hinter den Scheiben.“ Die Spannung wuchs. Horst und Günter, fiebernd vor Er- wartung, dachten das gleiche: Hoffentlich beeilt sich die Volkspolizei, damit die Buntmetallräuber inzwischen nicht zuviel Schaden anrichten können… Doch lange hielten sie die Untätigkeit nicht aus. Nach kur- zer Verständigung tasteten sie sich durch die dunklen Räu- me dem Ausgang zu und standen bald draußen an der Stra- ßenseite des Schlosses. Den Verwalter, der in einem Anbau schlief, wagten sie nicht zu wecken aus Furcht, zuviel Lärm zu machen. So schlichen sie um das Schloß herum auf die Terrasse und drückten sich eng an die Wand. Deutlich konnten sie das Klirren von Werkzeug und Stimmen- gemurmel hören…
Die Banditen gingen beinahe sorglos zu Werke. Sie leuch-
teten, ohne ihre Lampen abzuschirmen, den Sockel der Bronzefigur ab und suchten nach einer geeigneten Stelle, um den Adoranten von der Befestigung zu lösen. Roh umfaßte Emil die Statue und begann sie zu rütteln. „Wenn wir sie auf diese Art nicht loskriegen, müssen wir sie zersägen“, meinte er. „Bloß das kostet uns zu viel Zeit… Kommt, versuchen wir es mal alle gemeinsam!“ Rücksichtslos bearbeiteten sie das kostbare Kunstwerk. „So ‘n Dreck!“ knurrte Albert wütend, als die Figur nicht von der Stelle wich. „Noch einmal, aber… zuu-gleich!“ Mit aller Kraft warfen sie sich gegen die bronzene Gestalt. Dabei kam ihnen nicht einmal der Gedanke, daß sie beo- bachtet wurden, daß ihre verbrecherische Tätigkeit gemeldet war und daß bereits der Volkspolizei-Apparat arbeitete. Vorsichtig wurden die Torflügel des „Grünen Gitters“ und des Parkeinganges am Obelisk auseinandergeschoben. Langsam fuhren zwei Überfallwagen die Parkwege entlang. Ein Stück vor der Großen Fontäne stoppten sie, um nicht die Verbrecher durch das Motorengeräusch zu alarmieren. Eini- ge Volkspolizisten schwärmten aus und krochen vorsichtig die breiten Stufen in der Mitte der Terrasse hinauf. Von allem merkten die hastig an der Bronzefigur Arbei- tenden nichts. Horst und Günter, die sich ganz eng an die Mauer preßten, wurden die Minuten zu Stunden. Da ließ sie ein lautes Scharren von den Terrassenstufen her aufhorchen. Auch die Verbrecher hatten das Geräusch gehört. Sie hielten in ihrer Arbeit inne. „Nanu, mir war doch…“ Erschrocken leuchtete Otto mit einer Stablampe die Stufen ab. Die Volkspolizisten ihrerseits glaubten sich entdeckt und stürmten die restlichen Stufen empor. Einer, der weiter un- ten stand, zog seine Pistole und rief den Dieben zu: „Halt! Stehenbleiben! Keine Bewegung!“ Der Motor eines Überfallwagens heulte auf. Der Wagen brauste zur Fontäne heran. Ein starker Scheinwerfer blende- te von dem Dach des Wagens auf und beleuchtete grell die drei verdutzt in dem kleinen Pavillon vor dem rechten Flü- gel des Schlosses Sanssouci stehenden Banditen. „Verdammt!“ Otto bückte sich und schleuderte einige glä- serne Ampullen gegen die heranstürmenden Volkspolizi- sten. Sogleich verbreitete sich beißender Qualm. Die Volkspolizisten mußten husten und sich die Tränen aus den Augen wischen. Diesen Augenblick benutzten die Ertappten zur Flucht. Sie glaubten, die einzigen auf der obersten Terrasse zu sein. Da sprangen, zum Äußersten entschlossen, Horst und Gün- ter vor. „Halt!“ Einen Augenblick stutzten die Flüchtenden, doch dann stürmten sie auf die Studenten los. Horst spürte einen Schlag wie von einem schweren eisernen Gegenstand gegen den Arm und wurde zur Seite geschleudert. In der Hand Emils blitzte es auf. Einmal, zweimal. Günter fühlte, wie ein Schmerz an seiner Hüfte entlangfuhr, und brach zusammen. Emil richtete seine Pistole gegen die Volkspolizei. Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden. Noch kämpften die auf den oberen zwei Terrassen befindlichen Volkspolizisten mit dem Tränengas. Die weiter unten ste- henden Kameraden wagten nicht, das Feuer der Verbrecher zu erwidern, denn die Studenten befanden sich oben zu sehr im Schußfeld. Die Diebe, die jetzt die Gefahr erkannt hatten, liefen in pa- nischer Furcht auseinander und verschwanden aus dem Scheinwerferkegel. Sofort begann ihre Verfolgung. Horst hatte vorhin nicht auf Günter geachtet. So entging es ihm, daß sein Freund zusammengebrochen war. Er war nur erfüllt von Haß gegen die Denkmalschänder, besonders ge- gen den Burschen, der ihn mit der Eisenstange geschlagen hatte. Er verbiß sich den Schmerz und rannte ebenfalls hin- ter dem Banditen her. Laute Schritte verrieten diesen. Otto, der sich mit der Brechstange zur Wehr gesetzt hatte, lief im Dunkeln den glatten, asphaltierten Fahrweg neben den Ter- rassen hinunter. Es gelang ihm, einen Vorsprung herauszu- holen, denn schneller und schneller trieb ihn die Angst vor- wärts, als er die Verfolger hinter sich spürte. Horst vor allem blieb ihm auf den Fersen. Er spürte längst nicht mehr den Schmerz in seinem Arm. Allerdings behin- derte er ihn im Laufen, weil er den Arm nicht wie den ge- sunden pendeln konnte. Hinter Horst liefen drei Volkspoli- zisten. Die Jagd ging über Rasen, durch Hecken und Gebüsch. Rücksichtslos wurden die Blumenrabatten zertreten. Näher und näher kamen die Verfolger. Otto schlug geradezu ver- zweifelte Haken und versuchte mit allen möglichen Kniffen zu entkommen. Doch er fühlte immer deutlicher, daß alle Mühe vergeblich war. Angstschweiß überströmte sein Ge- sicht. Noch immer war Horst als erster dicht hinter dem Fliehen- den her. Er merkte erst jetzt, daß er auf Strümpfen, genauer, daß er schon barfuß lief. Die Jungen waren ja auf Filzpan- toffeln aus dem Schloß geschlichen, und beim Laufen hatte Horst sie verloren. Aber er wollte nicht aufgeben und biß die Zähne zusammen. Der Verfolgte raste mit letzter Kraft an den Römischen Bädern vorbei. Links sah er plötzlich Wasser, dann eine kleine Holzbrücke. Hinüber, vielleicht war hier der Aus- weg! Er rannte über einen kleinen Berg, aber auf der ande- ren Seite versperrte ihm das Wasser den Weg. Es gab keine zweite Brücke. Otto hörte schon die Schritte hinter sich über die Holzplanken der Brücke poltern. Ohne zu zaudern stürz- te er sich ins Wasser und schwamm dem anderen Ufer zu. Durch Atemnot behindert kam er aber nur sehr langsam vorwärts. Erschöpft zog sich der Schwimmer an einer überhängen- den Weide aus dem kalten Wasser. Da blitzten zwei Ta- schenlampen auf. Volkspolizei nahm den nassen Burschen in Empfang…! Emil war, nachdem er die Munition seiner Pistole ver- schossen hatte, mit einem Satz aus dem Licht des Schein- werfers seitwärts in das Gebüsch gesprungen. Zwar eröffne- ten mehrere Volkspolizisten sogleich auf ihn das Feuer, aber die Dunkelheit erschwerte das Zielen, und so pfiffen die Kugeln ein gutes Stück an ihm vorbei. Inzwischen hatten zwei Volkspolizisten den verwundeten Günter gefunden, und während sie sich um den Stöhnenden bemühten, nahmen andere die weitere Verfolgung Emils auf. Es wurde ein regelrechtes Anschleichen, wobei jeder be- müht war, sich keine Blöße zu geben. Emil stürzte nicht unbedacht davon, sondern versuchte, im Schütze der Nacht die Mauer zu erreichen. Die Volkspolizisten wußten, daß der Verbrecher unter Umständen wieder rücksichtslos von seiner Waffe Ge- brauch machen würde. Sie durchkämmten das ganze Ge- büsch, Baum für Baum und Strauch für Strauch; sie rückten in weitem Halbkreis vor, der sich immer enger und enger um Emil schloß. Dieser, von der Dunkelheit begünstigt, kam ziemlich schnell vorwärts. Sein Ziel war das Taxi hinter der hohen Mauer, mit dem er fliehen wollte. Endlich stand er vor der Steinwand. Von weitem sah er die Gestalten der Volkspolizisten, die langsam näher kamen. Es blieb ihm kein anderer Ausweg, als die Mauer, die an dieser Stelle besonders hoch war, zu überklettern. Er ging ein paar Schritte rückwärts, nahm einen Anlauf und sprang. Seine Finger bekamen die oberen Steine der Mauer zu fassen. Die Angst verdoppelte seine Kräfte. Er zog sich empor und sprang auf der anderen Seite hinunter. Die Volkspolizisten waren durch den Lärm aufmerksam geworden. Gebückt liefen sie vor. An der Mauer bildeten sie in aller Eile Zweimann-Pyramiden, aber dann sahen sie von der Höhe der Mauer aus nur noch ein dunkelgrünes Taxi mit aufheulendem Motor davonrasen. Hinterhergesandte Schüs- se verfehlten das Ziel… Volkspolizeikommissar Berner wohnte in der Potsdamer Vorstadt. Sofort, als die Studenten durch das Klingelsignal benachrichtigt wurden und dann die Meldung telephonisch an das Einsatzkommando der Volkspolizei weitergaben, war auch Berner verständigt worden. Ein schneller Funkwagen wurde zu ihm geschickt, der ihn zum Park Sanssouci brach- te. Mit eingeschaltetem Blaulicht fuhr der BMW durch die nächtliche Stadt.
Volkspolizeikommissar Berner hatte die Kopfhörer umge-
schnallt und ließ sich Bericht vom Verlauf der Aktion ge- ben. Man hatte den gefesselten Taxifahrer im Gebüsch ge- funden und befreit. Im gleichen Augenblick, als Berner die Meldung vernahm, daß einer der Verbrecher mit diesem dunkelgrünen Taxi geflohen sei, sah er den Wagen, der ih- nen am Alten Markt bei der Nikolaikirche entgegenkam. Berner reagierte blitzschnell. „Genosse Müller“, rief er seinem Fahrer zu, ,,da, dem Taxi folgen! Das ist einer von den Dieben! Wenden, schnell!“ Trotzdem war das Taxi bereits auf der Langen Brücke, ehe der BMW gewendet hatte und die Verfolgung aufnehmen konnte. Albert, der dritte der Buntmetalldiebe, war ebenso wie sei- ne Kumpane vom Eintreffen der Volkspolizei überrascht worden. Er erkannte sofort, daß der Raub der Statue ge- scheitert war, und daß es jetzt galt, die eigene Haut zu ret- ten. Für eine plötzliche Flucht hatten sie nicht vorgesorgt, weil sie ihrer Sache zu sicher gewesen waren. Jeder ist sich selbst der Nächste, war nun die Parole. Es war für ihn günstig, daß Emil durch seine Schüsse und Otto durch das Handgemenge mit den Leuten, die auf ein- mal hinter dem Schloß hervorgekommen waren, die allge- meine Aufmerksamkeit auf sich konzentriert hatten. Diese wenigen Sekunden genügten, ihm die Möglichkeit zu geben, unbeachtet davonzuschleichen. Er hastete den Abhang zu den Neuen Kammern hinunter. Als die Volkspolizisten die Verfolgung des dritten Diebes aufnehmen wollten – je ein Trupp verfolgte Otto und Emil – , fanden sie vorerst keine Spur von Albert. Nicht ein Ge- räusch wies die Richtung des Fliehenden. Deshalb gingen die Volkspolizisten in breiter Kette in östlicher Richtung vor. Von dem Alarm auf der Terrasse war der Verwalter des Schlosses Sanssouci aufgeweckt worden. Noch schlaftrun- ken führte er den Einsatzleiter des Volkspolizeikommandos auf dessen Bitte zum Telephon. Der Volkspolizeirat bat die Studenten des Internats bei den Communs um Unterstüt- zung. Sie sollten vom Neuen Palais her den Park sorgsam in westlicher Richtung durchkämmen, um auch den dritten Dieb aufzuspüren. Endlich konnten die Freunde des B-Lehrganges eingreifen. Das Alarmsignal von Horst und Günter hatte sie in ver- ständliche Aufregung versetzt. Sie warteten erregt auf Nachrichten der Volkspolizei und brannten darauf, ihren beiden Studienkollegen zu Hilfe zu eilen. Doch sie hatten mit Kommissar Berner vereinbart, daß sie nicht ohne Auf- forderung in den nächtlichen Park hinaus sollten. Aber jetzt mußten sie helfen, da gab es kein Zaudern! Schnell wurden die Freunde der anderen Lehrgänge und Semestergruppen geweckt und unterrichtet. Sie rüsteten sich, soweit vorhanden, mit Taschenlampen aus, und dann ging es im Laufschritt von den Communs zum Neuen Palais hinüber… Albert stand am Sizilianischen Garten und konnte trotz al- ler Anstrengung nichts Verdächtiges hören. Doch ihm war unheimlich zumute. Er fluchte und wünschte, daß die ver- einzelt durch den Park schwebenden Nebelschleier dichter wären, um ihn gänzlich zu verhüllen. Hinter jedem Busch konnten die Verfolger lauern. Albert wußte genau die Tragweite seiner verbrecherischen Handlungen einzuschät- zen und erhoffte sich keinerlei mildernde Umstände. Ver- zweifelt suchte er nach einem Ausweg. Doch in ihm regte sich auch jetzt noch nicht das Gewissen. Es war nur die Angst vor dem Entdecktwerden. Die Angst davor, jetzt die Rechnung präsentiert zu bekommen, und er wollte doch sein leichtes, ohne Verantwortung geführtes Leben nicht aufgeben. Wie einfach sah doch das Leben aus, wenn er an seine „Helden“ aus den vielen Filmen dachte, die er in den West- berliner Kinos gesehen hatte. Man brauchte nur brutal und rücksichtslos vorzugehen, sich den Teufel um Recht und Gesetz zu scheren, und schon lachte einem das Glück. Bis- her hatte er auch immer „Erfolg“ gehabt, er war geachtet in seinen „Kreisen“, und nun sollte auf einmal alles vorbei sein? Albert hatte sich zuerst vorgenommen, über den unteren Teil der Orangerie oberhalb des Sizilianischen Gartens zur Maulbeer-Allee, die den nördlichen Teil des Parkes ab- grenzt, vorzustoßen, um dann über den Klausberg, dort, wo das Belvedere stand, durch Katharinenholz nach Bornstedt zu gelangen. Von da aus wollte er in weitem Bogen über Krampnitz und Großglienicke Westberlin erreichen. Von diesem Plan nahm er bald Abstand. Die Überquerung der Maulbeer-Allee schien ihm nicht ratsam. Diese konnte die Volkspolizei leicht überblicken und absperren. So blieb ihm nur der westliche Ausgang des Parkes beim Neuen Pa- lais übrig. Albert kamen jetzt die Kenntnisse, die er sich vom Parkge- lände bei der Vorbereitung der Raubzüge gesammelt hatte, sehr gut zustatten. Er schlug den Weg nach links ein und lief unhörbar über den weichen taufrischen Rasen. Er näher- te sich dem Antiken Tempel. Plötzlich hörte er Stimmen und sah Taschenlampen leuchten. Die Studenten kamen ihm entgegen! Albert unterdrückte einen Fluch. Er vermutete eine neue Polizeistreife; ja, er ahnte bereits, daß ein Kesseltreiben auf ihn veranstaltet wurde. Jeden Augenblick konnten auch die Volkspolizisten in seinem Rücken auftauchen. Was tun? Da erblickte er eine große Eiche, die ihre mächtigen Äste weit von sich streckte und dem Mondlicht den Durchgang ver- wehrte. Sofort stand Alberts Entschluß fest. Er lief auf den Baum zu und zog sich an den Ästen hoch. Eng schmiegte er sich oben an den Stamm, klammerte sich mit den Armen und Beinen fest und drückte sein Gesicht an die rauhe Bor- ke. Unten liefen die suchenden Studenten vorbei. Die Blätter des Eichenbaumes verbargen den Dieb. Nach einer Stunde wurde die Suche im nächtlichen Park ergebnislos abgebro- chen. Die dunkelgrüne Taxe raste die Friedrich-Engels-Straße durch Babelsberg entlang. Als Emil die Kurve am Hochhaus der „Märkischen Volksstimme“ nahm, bemerkte er die Lichter des Verfolgers. Eisiger Schreck durchfuhr ihn. Ein Druck auf das längliche Gaspedal, der Ford V 8 erhöhte die Geschwindigkeit. Die Nadel des Kilometeranzeigers tanzte auf 110.
Im Funkwagen gab Volkspolizeikommissar Berner laufend
durch den Sprechfunk die Position des Flüchtenden durch: „Der Verbrecher versucht mit der geraubten Taxe augen- scheinlich die Autobahn zu erreichen. Der Bursche rast toll- kühn durch die Straßen. Der Kontrollpunkt Babelsberg ist zu verständigen…“ Der Fahrer des Polizeifahrzeuges holte das Letzte aus sei- ner Maschine heraus. Er blieb stets im gleichen Abstand hinter der Taxe. Emil hatte das Steuer des Ford fester gefaßt und nahm den Fuß kaum vom Gaspedal. Das wurde ihm beinahe zum Verhängnis. Im letzten Augenblick konnte er in die Bremsen treten und den Wagen abfangen, als er plötz- lich die Todeskurve am Übergang vor sich sah. Es handelte sich hier um eine spitzwinklige Straßenführung, die selbst bei Tage vorsichtig gefahren werden mußte. Und Emil wa- ren die Straßen fremd. Doch nun konnte nichts mehr passieren. Vor ihm lag schnurgerade die Ernst-Thälmann-Straße, die zur Autobahn führte. Hier würde er die Verfolger abhängen. Emil sah schon von weitem, wie sich die rot-weißen Schlagbäume der Eisenbahnüberquerung am Bahnhof Dre- witz senkten. Seine überreizten Nerven glaubten sogar, die eintönigen Warnschläge der Schrankenglocke wahrzuneh- men. Ausbiegen konnte er nicht. Dem Fliehenden blieb kei- ne Wahl. Im vollen Tempo rumpelte der Ford über die Schienen. Der Wagen schleuderte, die Stoßdämpfer schlugen durch. Fast schien es, als ob der Fahrer die Herrschaft über den Wagen verlieren würde. Aber Emil bekam das Steuer wie- der in seine Gewalt. Unter dem ersten Schlagbaum war das Taxi hindurch. Der Schrankenwärter wurde von dem heran- brausenden Wagen überrascht. Er war es gewohnt, daß man die heruntergehenden Schlagbäume respektierte und sich nicht unnötig einer Gefahr aussetzte. Jetzt kam er vor lauter Überraschung nicht einmal dazu, seinem Herzen Luft zu machen. Seine Hände drehten automatisch die Kurbeln wei- ter. Da klirrte es. Emil duckte sich und schloß die Augen. Ein Hagel kleiner Glassplitter prasselte ihm ins Gesicht. Das herunterhängende Eisengestänge des zweiten Schlagbaumes hatte die Windschutzscheibe des Autos zertrümmert und das Dach zerbeult. Emil wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Für ihn war die Hauptsache, daß er die Verfolger hinter sich gelassen hatte. Vor der geschlossenen Eisenbahnschranke trat Volkspoli- zeifahrer Müller so stark in die Bremsen, daß der BMW beinahe in das kleine Zeitungshäuschen am linken Straßen- rand gefahren wäre. „So ein Pech“, schimpfte er und deutete auf den vorüberfahrenden Interzonenzug. Volkspolizeikommissar Berner blieb ruhig und bot seinem Kameraden Zigaretten an. „Keine Sorge, der entkommt uns nicht“, sagte er. „Die Kontrollstelle ist bereits alarmiert, und die notwendigen Maßnahmen sind getroffen.“ Emil mäßigte das Tempo und ging bis auf neunzig herun- ter. Der scharfe Fahrtwind, der durch das offene Fenster fegte, war fast nicht zu ertragen. Aber er wollte mit dem Wagen so nahe wie möglich an den Kontrollpunkt Babels- berg heranfahren, um dann unbemerkt nach Westberlin hin- überzuschleichen. Endlich sah er die Auffahrt zur Autobahn vor sich. Noch einmal trat Emil auf das Gaspedal, um die Steigung zu nehmen. Plötzlich sah er zwei grelle Scheinwerfer auf sich gerichtet und das rote Stoppsignal der Volkspolizei. Er war gefangen. Gab es keinen Ausweg mehr? Emil riß das Steuer herum, die Vorderräder des Wagens verloren den Halt, rissen den Wagen nach – das Auto stürzte den Abhang hinunter und überschlug sich. Die Volkspolizisten fanden einen Schwerverletzten. Im „Goldenen Hufeisen“, in der Nähe des Tauentzien, herrschte zu mitternächtlicher Stunde Hochbetrieb. Die run- den Tische waren dicht besetzt. Die meisten Gäste hatten ihre Hüte und Mützen aufbehalten und sprachen laut schrei- end aufeinander ein. In der hintersten Ecke des Saales war ein Buchmacherstand. Hier konnten die Gäste, nachdem sie alles Für und Wider ausführlich – manchmal auch hand- greiflich – diskutiert hatten, ihre Wetten abschließen. Der Stand war immer dicht umlagert. Das Publikum des „Gol- denen Hufeisens“ bestand fast ausschließlich aus leiden- schaftlichen Wettern bei Pferderennen, die so ihr Glück ma- chen wollten. An einem der runden Tische saß Gustav Maluschke, Inha- ber der Altmaterialhandlung G. Maluschke, Berlin- Neukölln. Ihm gegenüber hatte Albert Platz genommen. Auf der Tischplatte vor den beiden stand eine halbgeleerte Fla- sche. Aus der Tasche Maluschkes lugte der unvermeidliche „Renn-Courier“, den er, als Stammgast des „Goldenen Huf- eisens“, ständig mit sich führte. Eifrig sprach Maluschke auf Albert ein: „Das ist der einzi- ge und vernünftigste Ausweg, den du gewählt hast. Be- stimmt, mein Junge! Dabei ist das für dich überhaupt kein Risiko. Fünf Jahre sind doch keine Zeit, wenn man jung ist. Hier kommst du doch auf keinen grünen Zweig mehr, denn Material kannst du keins mehr besorgen.“ Maluschke sah, daß er sich verplappert hatte, und versuch- te, den schlechten Eindruck zu vertuschen. Er goß die Glä- ser voll. „Komm, kannst ,du’ zu mir sagen. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen.“ Mechanisch tat ihm Albert Bescheid. Er wußte, daß alles leeres Geschwätz war, was Maluschke hervorbrachte. Der war nur froh, daß er ihn auf solche Art los wurde, obwohl er sich auch nicht gescheut hätte, ihn ganz offen fallenzulas- sen. Eigentlich hatte er es schon getan, und nicht nur er… Alle seine früheren „Freunde“ wollten plötzlich nichts mehr von ihm wissen, seit er kein Geld mehr hatte und kei- ne neue Ware liefern konnte. In die Republik traute er sich nicht mehr. Er wußte, daß man ihn sofort schnappen würde. Doch was nützte ihm die Anerkennung als „politischer Flüchtling“? Einen Dreck! Er mußte sich in übelriechenden Lagern umhertreiben, be- kam wenig zu essen – und Arbeit? Pah, selbst wenn es wel- che gegeben hätte, er wollte keine! Das bisherige Leben hatte Albert verdorben. Er war ein Verbrecher geworden, und ihm blieb als letzte Chance nur noch die Fremdenlegi- on. Im „Centre Jeanne d’Arc“ in Frohnau im französischen Sektor war er mit offenen Armen empfangen worden. Den fünfjährigen Verpflichtungsschein hatte er unterschrieben, und morgen sollte es losgehen. Er bekam Ausgang, denn die, die sich zur Fremdenlegion meldeten, hatten ihre Grün- de dafür und kamen wieder; das wußten die Werber. Albert suchte Maluschke im „Goldenen Hufeisen“ auf, um bei ihm noch eine Flasche locker zu machen. Doch dieser wartete nur darauf, daß Albert die Flasche austrinken und gehen würde. Aber vorläufig machte Albert dazu noch keine Anstalten. „Weißte, Maluschke, was mich am meisten wurmt?“ fragte Albert und wartete nicht erst auf Antwort, „daß der Otto, dieser Hund, vor Gericht ausgesagt hat, es täte ihm leid, was er getan hätte, und alles zugab. Ich hab’s gelesen in der Zei- tung von drüben.“ Er schlug mit der Hand auf den Tisch. „Da hat’s der Emil schon besser gemacht, Mensch! Geredet wie ‘n Buch und alle Schuld auf mich geschoben. Na, mir tut’s nicht weh. Bloß genützt hat es ihm nichts. Was mein- ste, Maluschke, wieviel hätten sie mir wohl aufgebrummt?“ Hastig kippte Albert seinen Schnaps hinunter, als wollte er etwas Unangenehmes fortspülen. Maluschke heuchelte Anteilnahme. Er lachte meckernd. „Na so was, du sollst also schuld haben! Dabei hat er dich doch angelernt. So ein gerissenes Aas.“ „Schuld?“ fragte Albert. Mit einem Male klang seine Stimme beinahe nüchtern. Er stierte Maluschke an. „Du hast doch eigentlich schuld! Von dir kamen die Aufträge! Oder bist du noch nicht der letzte? Steht hinter dir auch noch je- mand?“ Maluschke wurde der Kragen eng. „Ich verstehe nicht…“, beteuerte er scheinheilig. Aber Albert war wieder auf seinem Stuhl zusammenge- sunken. Um ihn loszuwerden, drückte ihm Maluschke einen Geldschein in die Hand. „Da, nimm das. Für deine letzte Nacht in Berlin.“ Albert riß ihm den Schein aus den Fingern und stand auf. ,,Hast recht“, sagte er mit brüchiger Stimme, und ohne sich von Maluschke zu verabschieden, eilte er dem Ausgang zu. Der Schrotthändler bestellte erleichtert eine neue Flasche. Als die Kapelle die Melodie seiner Lieblingspolka anstimm- te, sang er laut mit: „Wovon lebt der Max so flott? Von Schrott…“ Günters Verwundung war zum Glück nicht lebensgefähr- lich, machte aber eine längere Behandlung notwendig. Das Schmerzlichste dabei war, daß er fortgesetzt auf der rechten Seite liegen mußte, was ihm mit der Zeit natürlich sehr un- bequem wurde. Die Ärzte und Schwestern des Franz-Josef-Krankenhauses gaben sich mit Günter viel Mühe. Er war der Mittelpunkt des Krankenhauses, das nur wenige Meter vom Park Sans- souci entfernt lag. Fast täglich erhielt er Besuch von Patien- ten, die laufen konnten, und immer wieder mußte Günter seine Geschichte erzählen. Bescheiden wehrte er jedes Lob ab und wies darauf hin, daß es nur durch die gemeinsame Arbeit der Volkspolizei und aller Studenten zu diesem Er- folg kommen konnte. Doch etwas stolz war er auch, mit dazu beigetragen zu haben, Verbrecher unschädlich zu ma- chen, die seiner Heimat Schaden zufügen wollten. Über dem Kopfende des Bettes hing nicht wie üblich die Fiebertabelle, sondern das gerahmte Bild des „Betenden Knaben“, ein Geschenk der Volkspolizei. Günter hatte Besuch. Horst und Marianne, die beiden Sanssouci-Schwärmer, saßen an seinem Bett. Sie unterhiel- ten sich alle drei über den Park von Sanssouci. „Ich habe falsch gedacht und gehandelt“, gab Günter zu, „nun habe ich gelernt, wie schön es doch ist, sich an den Werken unserer großen Künstler, Baumeister und Bildhauer erfreuen zu können. Inhaltreicher wird das Leben, wenn wir unser nationales Kulturerbe pflegen, unsere Künstler daraus Kraft für ihre Werke schöpfen und wir alle uns daran freu- en.“ „Übrigens, lernen“, unterbrach ihn Marianne. „Der Doktor hat erlaubt, daß wir dich täglich besuchen und mit dir die neuen Arbeiten durchsprechen dürfen. Unser Aktiv hilft dir, damit du nicht so weit zurückbleibst.“ „Das ist schön“, freute sich Günter, „wenn man so viele Freunde hat, die einen nicht im Stich lassen.“ „Etwas anderes gibt es auch gar nicht“, meinte Horst. „Wir gehören doch alle zusammen.“ Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich, und herein kam Professor Conrad. Der kleine bewegliche und doch würde- voll schreitende Mann mit den klugen Augen begrüßte die Freunde. „Ich bringe gute Nachrichten“, sagte er, und man sah es ihm an, wieviel Freude es ihm machte, der Überbrin- ger froher Botschaften zu sein. „Unsere Regierung hat Mit- tel und Material zur Verfügung gestellt, um dem Adoranten neue Arme zu schaffen. Ich bin bereits auf der Suche nach einem geeigneten Künstler. Das zweite ist: Der Kulturbund hat sich endlich entschlossen, eine populärwissenschaftliche Broschüre über den Park herauszubringen. Der Fremdenfüh- rer aus dem Jahre 1934 enthält nur trockene Zahlen und Angaben, die zum Teil noch verdreht und hohenzollerisch glorifiziert sind. Unser Volk soll endlich wissen, welche großen Kulturschätze es besitzt. Unsere Arbeit werden wir der Jugend widmen.“ Eine Weile war Schweigen. Dann sagte Günter: „Das sind wirklich gute Nachrichten. So wird unser Park mit seinen Kunstschätzen noch viele Freunde gewinnen, die es nie zu- lassen werden, daß er zerstört wird.“