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1954
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr 303 (305/99/54)
Umschlagzeichnung Fritz Ahlersv Prieros (Mark’
Gestaltung und Typographie Kollektiv Neues Leben
Druck: Karl-Marx-Werk Pößneek. V 15 30
Wie tastende Polypenarme glitten die Lichtkegel der
Scheinwerfer über die Plätze und Baracken des Ausbil-
dungslagers in Sidi bei Abbes. Es mochte gegen ein Uhr
sein. Aus dem Offizierskasino schallten amerikanische
Tanzmusik und das Grölen und Gelächter der zechen-
den Offiziere. In der Baracke CP 7 hörte man nichts
davon. Nur alle Viertelstunde tönten die Schritte der
wachhabenden Lagerstreife durch die dünnen Holzwän-
de.
Der Legionär Werner Scholz lag auf seiner Pritsche
und lauschte auf die verhallenden Schritte der Streife.
Für Sekunden warf der Scheinwerfer sein grelles Licht
in den Raum. Man wachte gut über die Männer der
„Legion etrangere“.
Werners Kameraden ruhten nach den Strapazen des
Tages in tiefem Schlaf. Die Tage im Ausbildungslager
Sidi bei Abbes waren lang und hart. Man nannte es tref-
fend: das „Tor zur Unterwelt“. In Werners Ohr drangen
die Atemzüge der schlafenden Legionäre.
„Nein! Nein! Nicht schlagen…“ Das war der Lünebur-
ger, er phantasierte wieder. Seine Stimme ging in ein
Röcheln über. „… Du elendes Schwein, dann laß mich
doch nach Hause…“
„Halt dei Goschen, jetzt wird’s g’schlafen!“ Das war
Sepp, ein Münchner, auch so ein blutjunges Kerlchen.
In seinen Papieren stand zweiundzwanzig Jahre. Wie alt
mochte er in Wirklichkeit sein? Vielleicht achtzehn,
höchstens neunzehn Jahre.
Jetzt war es wieder still im Raum. Auch die Ratten ra-
schelten nicht mehr. Die Stimme der Kameraden hatte
sie für kurze Zeit in ihre Löcher gescheucht.
Wenn er nur schlafen könnte. Werner drehte sich vor-
sichtig auf die andere Seite. Er biß die Zähne zusam-
men, um nicht aufzuschreien. Die Schultern schmerzten
ihn unerträglich. Das verdankte er dem Sergeanten
Gandon, diesem Leuteschinder. Er war ständig auf der
Suche nach Gründen, um die Legionäre bestrafen zu
können. Gandon fand seine Befriedigung darin, sie in
der schlimmsten Mittagshitze über den Lagerplatz zu
jagen und dabei immer neue Schikanen und Quälereien
zu ersinnen. So mußte Werner mit 25 Kilo Gepäck straf
exerzieren. Die Tragegurte des Tornisters waren durch
Telephondraht ersetzt und schnitten tief in das Fleisch
ein. Besonderes Vergnügen bereitete es dem Sergeanten
Gandon, ihn in Kniebeuge hüpfen zu lassen. Bei jedem
Sprung verursachten die tief in Schultern und Achsel-
höhlen einschneidenden Drähte qualvolle Schmerzen.
Nach etwa vier Stunden brach er ohnmächtig zusam-
men. Kameraden hatten ihn in die Baracke getragen und
die blutenden Schultern verbunden. Die ganze Schinde-
rei mußte er nur deshalb ertragen, weil er für lumpige
800 Francs an einen Eingeborenen seine Taschenuhr
verkauft hatte, um seine miserable Löhnung zu verbes-
sern. Gandon sah darin eine finanzielle Vorbereitung
zur Flucht.
Dabei war eine Flucht aus Sidi bei Abbes glatter
Selbstmord. Die meisten Legionäre, die es versuchten,
wurden bald wieder blutiggeschlagen ins Lager zurück-
gebracht. Manchen erschoß man auch auf der „Flucht“.
Man war nicht kleinlich im Umgang mit Menschenle-
ben und schon gar nicht mit dem der Legionäre.
So sah sie aus, die nackte Wirklichkeit in den marok-
kanischen Ausbildungslagern der französischen Frem-
denlegion. Nichts war von den Vorstellungen und Hoff-
nungen eines „schönen Soldatenlebens unter tropischem
Himmel“ geblieben, nur Flüche und Enttäuschungen.
Legionär Werner Scholz, zweiundzwanzig Jahre, Aus-
bildungslager Sidi bel Abbes (Marokko), Baracke CP 7.
Das war er, der Werner, dem die Verwandten eine gute
Laufbahn prophezeit hatten. Er hatte doch die Mittel-
schule besucht und Dentist gelernt. Ja, und dann wurde
er arbeitslos. – Danach kam der Krach mit den Eltern -
und schließlich traf er den „guten Kameraden“ – in Ge-
danken sah er ihn noch vor sich sitzen:
„Noch zwei Helle, Herr Ober, und ‘nen Doppelten für
den jungen Freund hier.“ Und Werner schüttete ihm
sein Herz aus: Keine Arbeit, kein Geld, den Eltern auf
der Tasche liegen – er hatte eben die Schnauze richtig
voll.
Das sei doch kein Problem hatte der „Kamerad“ ge-
sagt. „Hier in Deutschland ist ja sowieso nichts mehr
los. Du mußt ins Ausland gehen, mein Junge!“
„Wohin?“
„Na, da gibt’s viele Möglichkeiten, vielleicht nach
Frankreich. Ober, noch zwei Helle!“
Werner trank und hörte zu. Ja, das schien ihm richtig.
Zwei Jahre Fremdenlegion – Kleinigkeit! Haufen Geld,
fremde Länder sehen, dann die französische Staatsbür-
gerschaft erwerben und ‘ne Praxis aufmachen.
„Weißt du, in Frankreich nimmt man das nicht so ge-
nau. Du hast doch schon .ein bißchen Ahnung. Allez
hopp geht das, und du bist Arzt. Ja, ja, wirst sehen. Na,
denn Prost! Ober! bringen Sie…“
Am nächsten Tag schon fuhr er per Freifahrtschein von
Düsseldorf nach Landau zur französischen Panzerkaser-
ne. Als er, zusammen mit vielen anderen jungen Men-
schen, den in Französisch abgefaßten Dienstvertrag un-
terschrieb, ahnte er noch nicht, daß er sich für fünf Jahre
der „Grande Nation“ verpflichtet hatte. Man ließ sie in
dem Glauben, die Dienstzeit währe lediglich zwei Jahre.
Der Abtransport in Militäromnibussen nach Frankreich
erfolgte sehr rasch. Sie hatten Anweisung, sich nicht als
Deutsche auszugeben, damit es an der Grenze mit dem
deutschen Zoll keine Schwierigkeiten gäbe. Dann ging
es nach Marseille. Nach der Einkleidung und einer kur-
zen Ausbildung wurden sie nach Marokko eingeschifft.
Fünf Monate waren vergangen, angefüllt mit Strapazen,
Schikanen und bitteren Enttäuschungen.
Das alles ließ er noch einmal an sich vorüberziehen.
Schändlich hatte man sie alle belogen und betrogen. Der
Werber kassierte seine Kopfprämie, Frankreich hatte
einen Kolonialsoldaten mehr, und er, der Düsseldorfer
Dentist Werner Scholz, war Legionär Scholz, eine
Nummer, der jeder hergelaufene Sergeant einen Tritt
geben konnte.
Wie mochte es den Eltern gehen? Ob sie wußten, wo er
war? Heimlich hatte er sich von zu Haus davongestoh-
len. Auf seine Briefe kam keine Antwort. Die Postkon-
trolle der Legion war streng. Vielleicht wanderten seine
Briefe alle in den Papierkorb.
Er mußte wohl trotz seiner Schmerzen in den Schultern
doch noch eingeschlafen sein, denn am Morgen rüttelten
ihn die Kameraden aus dem Schlaf.
Wochen später.
In Düsseldorf halten zwei glückliche Menschen fol-
genden Brief in den Händen:
Nghialo, am 19. Oktober 1952 „Meine lieben Eltern!
Dieser Brief wird einen anderen Weg nehmen. Er
kommt über China, die Sowjetunion und Polen zu Euch.
Seit einer Woche bin ich nicht mehr in der Fremdenle-
gion, sondern auf vietnamesischer Seite. Nach schweren
Kämpfen haben wir heute die Stadt Nghialo erobert.
Macht Euch keine Sorgen um mich, denn es geht mir
gut.
Ich habe die erste freie Minute dazu benutzt, um Euch
diese Zeilen zu senden und sitze zwischen den rauchen-
den Trümmern, während ich schreibe. Wie alles ge-
kommen ist, daß ich heute ein freier Mensch bin und
weiß, wofür ich kämpfe, werde ich Euch erzählen, wenn
ich wieder in Deutschland bin. Lange wird das nicht
mehr dauern, denn unsere vietnamesischen Freunde le-
gen unserer Heimfahrt nichts in den Weg.