Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
Es ist länger als ein Jahrzehnt her. An einem heiteren von Athen von Volpato über meinem Bette. Ich genoß an
Sommerabend war ich auf dem Schloß meines Freundes in diesem Abend ganz besonders, wie der harmonische Geist des
Klein-Oels angekommen. Und, wie es immer zwischen ihm und göttlichen Raphael den Streit der auf Tod und Leben sich
mir war, währte unser philosophisches Gespräch bis tief in die bekämpfenden Systeme gesänftigt hat zu einem friedlichen
Nacht. Es klang noch in mir nach, als ich in dem altvertrauten Gespräch. Über diese leise aufeinander bezogenen Gestalten
Schlafgemach mich auskleidete. Lange stand ich dabei noch, ist die Friedensstimmung ausgebreitet, welche zuerst in der
wie so manches Mal schon, vor dem schönen Stich der Schule Abenddämmerung der alten Kultur die starken Gegensätze der
2
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
Systeme auszugleichen strebte und die dann auch in der sah ich von links dem Tempel der Philosophen eine lange
Renaissance in den edelsten Geistern wirksam war. Reihe von Männern in den mannigfaltigen Trachten der
Schlafmüde, wie ich war, legte ich mich nieder. Auch schlief ich folgenden Jahrhunderte sich nähern. Sooft einer bei mir
sogleich ein. Und alsbald bemächtigte sich ein geschäftiges vorüberging und sein Gesicht mir zuwandte, mühte ich mich,
Traumleben des Raphaelschen Bildes und der Gespräche, die ihn zu erkennen. Das war Bruno, das Descartes, das Leibniz, so
wir geführt hatten. In ihm wurden die Gestalten der viele andere, wie ich sie mir nach ihren Bildern vorgestellt
Philosophen zu Wirklichkeiten. Und aus weiter, weiter Ferne hatte. Sie schritten die Treppen aufwärts. Wie sie
3
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
herandrängten, fielen die Schranken des Tempels. In einem Archimedes seine Kreise zieht und der Astronom Ptolemäus
weiten Felde mischten sie sich unter die Gestalten der erkennbar ist an der Weltkugel, die er trägt. Nun sammeln sich
griechischen Philosophen. Und nun geschah etwas, das selbst die Denker, welche ihre Welterklärung auf die feste,
in meinem Traum mich verwunderte. Wie von einem inneren allumfassende physische Natur gründen, die so von unten
Zwang vorwärtsgetrieben, strebten sie einander entgegen, um nach oben fortschreiten, die aus dem Zusammenhang
sich zu einer Gruppe zu vereinigen. Zunächst drängte die voneinander abhängiger Naturgesetze eine einheitliche
Bewegung nach der rechten Seite, wo der Mathematiker Kausalerklärung des Universums finden wollen und so den
4
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
Geist der Natur unterordnen oder auch resigniert unser Philosophie, dem ehrfürchtig ein Kreis von Denkern aus allen
mit denn leidenschaftlichen gottsuchenden Herzen, um den Macht des Denkens wie aufgeriebene Gestalt, und wurde wie
viele philosophierende Theologen sich gesammelt hatten. Ich durch eine innere Gewalt zu diesen Idealisten der Freiheit und
vernahm ihr Gespräch, in welchem sie den Idealismus der der Persönlichkeit hingezogen. Dann aber öffnete sich der
Persönlichkeit, der die Seele des Christentums ist, mit den ganze Kreis, als die leichtgebückte feingliedrige Gestalt Kants
Lehren jener ehrwürdigen Alten zu verknüpfen strebten. Und sich näherte, mit Dreispitz und Krückstock, die Züge wie in der
nun löste sich aus der Gruppe der mathematischen Anspannung des Denkens erstarrt der Große, der den
Naturforscher Descartes los, eine zarte, schmächtige, von der Idealismus der Freiheit zu kritischem Bewußtsein erhoben und
6
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
so mit den Erfahrungswissenschaften versöhnt hat. Und dem Schiller. Schon nahten sich Fichte und Carlyle, Ranke, Guizot
Meister Kant entgegen schritt mit noch jugendlichem Gange und andere große Geschichtsschreiber schienen mir diesen
die Treppen aufwärts eine überstrahlende Gestalt mit sinnend beiden zu lauschen. Es überlief mich aber mit einem seltsamen
gebeugtem edlen Haupt, in dessen schwermütigen Zügen Schauder, als ich ihnen zur Seite einen Freund meiner
tiefes Denken und dichterisch idealisierendes Schauen mit der Jugendjahre, Heinrich von Treitschke, erblickte.
göttliche Harmonie des Universums geschaut haben, Denker einwohnend, in allem nach Naturgesetzen wirkt: so daß es
aller Nationen sich sammelten. Giordano Bruno, Spinoza, außer ihr keine transzendente Ordnung gibt und keinen Bezirk
Leibniz. Sonderbar zu sehen - Hand in Hand wie in ihren von Freiheit der Wahl. Alle diese Denker schienen mir unter
Jugendzeiten und jugendstark - die beiden großen den arbeitsschweren Gesichtern dichterische Seelen zu
schwäbischen Denker unserer Nation Schelling und Hegel. Sie verbergen. Auch entstand unter ihnen eine ungestüm
alle, die Verkünder einer allverbreiteten geistigen göttlichen vordringende Bewegung, als zuletzt mit gemessenem Schritt
Kraft im Universum: die jedem Ding und jeder Person eine majestätische Gestalt in straffer, beinahe steifer Haltung
8
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
herankam: ich erschrak vor Ehrfurcht, als ich die großen, wie Aber vergebens liefen geschäftig die Vermittler zwischen
Sonnen leuchtenden Augen und das apollinische Haupt diesen Gruppen hin und her - die Ferne, die diese Gruppen
Goethes erblickte: er war in mittleren Jahren, und alle trennte, wuchs mit jeder Sekunde - nun verschwand der
Gestalten, der Faust und Wilhelm Meister, die Iphigenie und Boden selbst zwischen ihnen - eine furchtbare feindliche
der Tasso, schienen ihn zu umschweben: alle seine großen Entfremdung schien sie zu trennen - mich überfiel eine
Gedanken über die Bildungsgesetze, die von der Natur seltsame Angst, daß die Philosophie dreimal oder vielleicht
hinüberreichen zu dem Schaffen des Menschen. noch mehrere Male da zu sein schien - die Einheit meines
9
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
eigenen Wesens schien zu zerreißen, da ich sehnsüchtig bald Die Sterne schimmerten durch die großen Fenster des
zu dieser, bald zu jener Gruppe hingezogen ward, und ich Gemaches. Die Unermeßlichkeit und Unergründlichkeit des
strebte an, sie zu behaupten. Und unter diesem Aufstreben Universums umfing mich. Wie befreit gedachte ich der
meiner Gedanken wurde die Decke des Schlafes dünner, tröstlichen Gedanken, die ich dem Freunde in dem nächtlichen
leichter, die Gestalten des Traumes verblaßten, und ich Gespräch vorgelegt hatte.
erwachte.
Dieses unermeßliche, unfaßliche, unergründliche Universum
in Philosophen. Sie stehen alle unter der Macht des Ortes und Weltanschauungen sich gesondert. Hier gingen meine
der Stunde. Jede Weltanschauung ist historisch bedingt, Gedanken zurück auf die großen Grundformen derselben, wie
sonach begrenzt, relativ. Eine furchtbare Anarchie des sie dem Träumenden eben in dem Bilde von drei Gruppen der
Denkens scheint hieraus hervorzugehen. Aber eben das Philosophen sich dargestellt hatten. Diese Typen der
geschichtliche Bewußtsein, das diesen absoluten Zweifel Weltanschauung behaupten sich nebeneinander im Laufe der
hervorgebracht hat, vermag auch ihm seine Grenzen zu Jahrhunderte. Und nun das andere, Befreiende: die
bestimmen. Zuerst: nach einem inneren Gesetz haben die Weltanschauungen sind gegründet in der Natur des
11
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
Universums und dem Verhältnis des endlichen auffassenden Es ist eine alte unheilvolle Verbindung. Der Philosoph sucht
Geistes zu denselben. So drückt jede derselben in unseren allgemeingültiges Wissen und durch dasselbe eine
Denkgrenzen eine Seite des Universums aus. Jede ist hierin Entscheidung über die Rätsel des Lebens. Diese muß gelöst
wahr. Jede aber ist einseitig. Es ist uns versagt, diese Seiten werden.
den Dichtern verwandt. Aber der Philosoph unterscheidet sich - rechtfertigt es vor sich selbst. Es gibt in den Erscheinungen
von ihnen, indem er durch allgemeingültiges Wissen dies zugängliche Realität: die Ordnung nach Gesetzen; diese ist die
Rätsel lösen will. Diese alte Verbindung muß sich uns heute einzige Wahrheit, die uns allgemeingültig gegeben ist, auch sie
lösen. Anfang und höchste Aufgabe der Philosophie ist: sie in der Zeichensprache unserer Sinne und unseres
erhebt das gegenständliche Denken der Auffassungsvermögens. Dies ist der Gegenstand der
Erfahrungswissenschaften, das aus den Erscheinungen eine philosophischen Grundwissenschaft. Diese Begründung
Ordnung nach Gesetzen auslöst, zum Bewußtsein seiner selbst unseres Wissens ist die große Funktion der philosophischen
13
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
Grundwissenschaft, an deren Aufbau alle wahren Philosophen Erkenntniswert geprüft werden. Aber die Zeit scheint mir zu
seit Sokrates arbeiten. Eine andere Leistung der Philosophie ist Ende zu gehen, wo es noch eine abgesonderte Philosophie der
die Organisation der Erfahrungswissenschaften. Kunst und der Religion, des Rechtes oder des Staates gab. Das
Philosophischer Geist ist überall gegenwärtig, wo Grundlagen also ist die höchste Funktion der Philosophie: Begründung,
einer Wissenschaft vereinfacht werden oder wo Rechtfertigung, kritisches Bewußtsein, organisierende Kraft,
Wissenschaften verknüpft werden oder wo ihr Verhältnis zur die alles gegenständliche Denken, alle Wertbestimmungen und
Idee des Wissens festgestellt oder Methoden auf ihren Zwecksetzungen ergreift. Der so entstehende gewaltige
14
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
Zusammenhang ist bestimmt, das menschliche Geschlecht zu Leben und dem Tode gegenüber für sich allein ist. Die Antwort
leiten. Die Erfahrungswissenschaften der Natur haben die auf diese Fragen ist nur da in der Ordnung der
äußere Welt umgestaltet, und nun ist die Weltepoche Weltanschauungen, welche die Mehrseitigkeit der Wirklichkeit
angebrochen, in welcher die Wissenschaften der Gesellschaft für unseren Verstand in verschiedenen Formen aussprechen,
auf diese selber steigenden Einfluß gewinnen. die auf eine Wahrheit hinweisen. Diese ist unerkennbar, jedes
Naturforschung nicht zerreißen konnten. Der Mensch steht Seiten des unergründlichen Zusammenhangs nahebringt -
nun ganz frei da. Aber es rettet zugleich dem Menschen die wenn die Wahrheit der Weltanschauung, die diese Seite
Einheit seiner Seele, den Blick in einen obzwar ausspricht, uns lebendig ergreift, dann mögen wir uns dem
unergründlichen, doch der Lebendigkeit unseres Wesens ruhig überlassen: die Wahrheit ist in ihnen allen gegenwärtig.
verehren. Und wenn der Lauf unseres Lebens uns nur einzelne
die Ideen, denen ich lange nachsann, den Blick auf die
16
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
sommerliche Pracht der Gestirne gerichtet. Endlich kam ein einer höchsten Freiheit und Beweglichkeit der Seele in ihnen
leichter Morgenschlummer über mich und die Träume, die ihn sich ausdrückte. So habe ich denn diesen Traum für meine
zu begleiten pflegen. Das Sternengewölbe schien mir heller Freunde aufgeschrieben, ob etwas von dem Lebensgefühl, in
und heller zu erglänzen, wie das Morgenlicht hereinflutete. welchem er ausklingt, sich denselben mitteilen möchte.
Leichte, selige Gestalten zogen am Himmel entlang. Vergebens Angestrengter als je sucht unser Geschlecht zu lesen in dem
strebte ich, als ich erwachte, mich dieser glückseligen geheimnisvoll unergründlichen Antlitz des Lebens mit dem
Traumgebilde zu erinnern. Ich empfand nur, daß die Seligkeit lachenden Mund und den schwermütig blickenden Augen. Ja,
17
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
meine Freunde, lasset uns dem Licht zustreben, der Freiheit Und was blieb übrig? Doch nur ein geschichtlich Bedingtes: die
und der Schönheit des Daseins. Aber nicht in einem neuen Züge des Machtmenschen der Renaissance. Was der Mensch
Anfang, abschüttelnd die Vergangenheit. Die alten Götter sei, sagt ihm nur seine Geschichte. Umsonst werfen andere die
müssen wir mitnehmen in jede neue Heimat. Nur der lebt sich ganze Vergangenheit hinter sich, um gleichsam neu
aus, der sich dahingibt. -Umsonst suchte Nietzsche in einsamer anzufangen vorurteilslos mit dem Leben. Sie vermögen nicht
Selbstbetrachtung die ursprüngliche Natur, sein abzuschütteln, was gewesen, und die Götter der
geschichtsloses Wesen. Eine Haut nach der anderen zog er ab. Vergangenheit werden ihnen zu Gespenstern. Die Melodie
18
Ein Traum
Entwurf seiner Rede zu seinem 70. Geburtstag
Auch in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Weltanschauungslehre, Leipzig 1931, S. 218 - 224
der Vergangenheit. Von der Qual des Augenblicks und von der
Flüchtigkeit jeder Freude befreit sich der Mensch nur durch die