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Philosophie der
Quantenphysik
Zentrale Begriffe, Probleme, Positionen
2. Auflage
Prof. Dr. Cord Friebe Dr. Paul M. Näger
Philosophisches Seminar Philosophisches Seminar
Universität Siegen Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Deutschland Deutschland
Springer Spektrum
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Vorwort
Die Philosophie der Quantenphysik geht auf eine Initiative des Springer-Spektrum
Verlages zurück, wofür unser besonderer Dank Frau Dr. Vera Spillner gilt. Die
Koordinierung der Zusammenarbeit zwischen den Autoren und mit dem Verlag be-
sorgte Cord Friebe – die anderen Autoren danken ihm für diese mühevolle Arbeit
ganz herzlich!
Leitidee war es, eine Lücke auf dem deutschsprachigen Lehrbuchmarkt zu
schließen, die zwischen allgemeinen Einführungen in diesen Themenkreis und
spezialisierten Monografien besteht. Gerade die Vielzahl populärer Darstellungen
dokumentiert das große Interesse auch einer breiten Leserschaft an den erkenntnis-
theoretischen und ontologischen Implikationen der Quantentheorie. Unser Ziel war
es nun, fortgeschrittenen Philosophiestudenten mit einem Interesse für Physik ei-
ne aktuelle und solide Einführung in die Philosophie der Quantentheorie zu geben.
Zugleich konfrontiert das Buch auch Physikerinnen und Physiker mit den philo-
sophischen Fragen ihres Faches. Ebenso können dem Band Anregungen für die
Lehramtsausbildung in den Fächern Philosophie und Physik entnommen werden.
Dass zwischen diesen Disziplinen ein enger Zusammenhang besteht, bedarf
kaum einer besonderen Begründung, und dieses Verhältnis erfährt in Phasen des
wissenschaftlichen Umbruchs stets eine Intensivierung. Neue physikalische Theo-
rien können das bisherige philosophische Wirklichkeitsverständnis herausfordern
oder sogar revidieren. Gleichzeitig kann die Philosophie einen Beitrag zum genaue-
ren Verständnis und zur Interpretation naturwissenschaftlicher Ergebnisse leisten.
Die Umwälzungen in der Physik des frühen 20. Jahrhunderts durch die Entwicklung
von Quantenmechanik und Relativitätstheorie belegen das nachdrücklich.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte eine Entwicklung ein, in
deren Verlauf die Philosophie der Physik zu einem sehr lebendigen und hoch
professionalisierten Zweig der angelsächsisch geprägten Wissenschaftsphilosophie
wurde. Zwar spielen Anregungen durch Physiker weiter eine Rolle, aber die
Hauptströmung der Forschung wird von Philosophinnen und Philosophen getra-
gen, die in der Physik einen guten fachwissenschaftlichen Hintergrund haben,
in ihrer Arbeit sich aber ganz auf Grundlagenfragen und philosophische Pro-
bleme der jeweiligen physikalischen Theorien konzentrieren. Die Ergebnisse dieser
Forschungen werden in spezialisierten Zeitschriften publiziert und diskutiert. Die-
se Professionalisierung hat auch dazu geführt, dass die neueren Debatten und
Ergebnisse dieser Auseinandersetzung in Physikerkreisen wenig bekannt sind.
V
VI Vorwort
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem Themenkreis „Verschränkte Zustän-
de“ und „Nicht-Lokalität“. Da Verschränkung eine Relation zwischen zwei (oder
mehr) Quantensystemen ist, knüpft das Kapitel inhaltlich an die Konzepte an, die
im dritten Kapitel eingeführt wurden. Die Besonderheit dieser Systeme besteht dar-
in, dass sie sich zu beeinflussen scheinen, auch wenn sie räumlich beliebig weit
voneinander entfernt sind. Diese Nicht-Lokalität der Quantentheorie ist vor allem
deshalb problematisch, weil sich solche Einflüsse schneller als Licht ausbreiten
müssten, was nach üblichem Verständnis der speziellen Relativitätstheorie wider-
spricht. Die Debatte um Verschränkung hat ihre Ursprünge in einer berühmten
Arbeit von Einstein, Podolsky und Rosen aus dem Jahre 1935, in der ein Gedanken-
experiment an verschränkten Systemen dargestellt wird, das bis heute prägend für
die Debatte ist. EPR benutzten das Gedankenexperiment, um ein Argument gegen
die Vollständigkeit der Quantenmechanik zu geben, nahmen dabei aber fälschlicher-
weise an, dass die Quantenwelt lokal ist. Anfang der 60er Jahre demonstrierte Bell
durch sein Theorem, dass das Gedankenexperiment von EPR vielmehr zeigt, dass
die Quantenwelt nicht-lokal ist: auch eine Vervollständigung der Quantenmechanik
durch verborgene Variablen kann die von Einstein geforderte Lokalität nicht retten.
Mittlerweile ist das von EPR ersonnene Experiment vielfach tatsächlich durchge-
führt und die Nicht-Lokalität ist eine bestätigter Grundzug der Quantenwelt. Aus
Bells Argument sind weitreichende Konsequenzen gezogen worden, und das vierte
Kapitel beinhaltet eine ausführliche Diskussion dieser Zusammenhänge und ihrer
Begründungen. Mithilfe kausaler Graphen soll die abstrakte Diskussion um Bells
Theorem anschaulicher zugänglich gemacht werden.
Das Stichwort „verborgene Variablen“ wurde bereits angesprochen, und im
ersten Teil des fünften Kapitels wird mit der de Broglie-Bohm-Theorie der be-
kannteste Vertreter dieser Interpretationsgattung vorgestellt. Hier werden einige der
radikalen erkenntnistheoretischen und ontologischen Implikationen beispielsweise
der Kopenhagener Deutung vermieden: Quantenobjekte bewegen sich gemäß dieser
Deutung tatsächlich auf Bahnen, und in einem formalen Sinne ist diese Theorie
sogar deterministisch. Der Preis, der dafür gezahlt werden muss, liegt in Eigenschaf-
ten, deren Annehmbarkeit kontrovers diskutiert wird. Ähnlich verhält es sich mit
der Viele-Welten-Interpretation der Quantentheorie, die im zweiten Teil des fünften
Kapitels vorgestellt wird. Ihre Lösung des Messproblems ist ebenso elegant, wie
ihre metaphysischen Implikationen extravagant sind. Beide Interpretationen haben
die Gemeinsamkeit, auf den Kollaps der Wellenfunktion zu verzichten, daher ihre
gemeinsame Vorstellung in einem Kapitel.
Im sechsten Kapitel wird der Bogen zu (relativistischen) Quantenfeldtheorien
geschlagen. Teilchenzahlen werden nun variabel (man spricht etwa von „Erzeu-
gung“ und „Vernichtung“ von Teilchen). Quantenfeldtheorien erlauben es, auch
die Wechselwirkung von Strahlung und Materie im Rahmen der Quantentheorie
zu erfassen. So können alte Probleme wie der Dualismus von Welle und Teilchen
und die Nicht-Lokalität der Mikrowelt mit neuen mathematischen Mitteln diskutiert
werden. Allerdings wird hier noch einmal besonders deutlich, was in allen Kapiteln
für Schwierigkeiten gesorgt hat: Die Frage, wie der mathematische Formalismus der
Theorie mit der realen Welt in Zusammenhang gebracht werden kann, ist nicht mehr
VIII Vorwort
einfach beantwortbar, wenn man über die Zuweisung von möglichen Messwerten
für konkrete Messungen hinausgeht, wenn man also mit einer Minimalinterpretation
der Quantentheorie nicht zufrieden ist.
Schließlich rundet das siebte Kapitel das Buch im Rahmen einer kleinen
Chronologie wichtiger Entwicklungsschritte in physikalisch-mathematischer wie
auch interpretatorischer Hinsicht ab. Der im wesentlichen systematische Aufbau
des Buches wird hier durch historische Angaben ergänzt, und die kurzen Erläu-
terungen zu Meilensteinen der Entwicklung können auch wie ein Glossar gelesen
werden. Zudem kommen hier Interpretationsansätze zur Sprache, die im Rahmen
des Buches nicht eingehender behandelt werden konnten.
Die vielen intensiven Diskussionen im Kreis der Autoren haben gezeigt, dass
jeder der sechs Autoren zum gleichen Thema ein anderes Buch geschrieben hätte.
Wir hoffen, dass unsere Kooperation zur besten aller möglichen Versionen geführt
hat.
Das Angebot des Springer-Verlags zu einer zweiten Auflage haben wir gerne als
Gelegenheit genutzt, nicht nur einige Druck- und Schönheitsfehler zu beseitigen,
sondern auch Verbesserungen an der Textgestaltung sowie inhaltliche Ergänzun-
gen vorzunehmen. Viele hilfreiche Hinweise haben wir dazu von Studierenden aus
unseren Seminaren in Wuppertal, Mainz, Saarbrücken und Bonn erhalten. Die Auf-
nahme von Übungsaufgaben am Ende jeden Kapitels soll sowohl Hilfe für das
Selbststudium bieten als auch Anhaltspunkte für Seminardiskussionen liefern. Mus-
terlösungen zu den Aufgaben finden sich am Ende des Buches.
IX
Inhaltsverzeichnis
XI
XII Inhaltsverzeichnis
Cord Friebe
studierte Philosophie, Physik und Mathematik in Freiburg/Br. und Padua. Pro-
motion 1998 mit einer Arbeit zur Ontologie „ununterscheidbarer“ Objekte in
Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie. Seit 2018 Professor für Theoretische
Philosophie mit einem Schwerpunkt in Analytischer Philosophie an der Universität
Siegen. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Physik, Analytische Ontologie,
Theoretische Philosophie Kants. Forschungsaufenthalte in Trient und Sydney;
Lehrtätigkeit in Freiburg/Br., Bonn, Saarbrücken, Köln, Konstanz und Siegen.
Letzte Buchveröffentlichungen: Zeit–Wirklichkeit–Persistenz. Eine präsentistische
Deutung der Raumzeit (2012); Geld: eine philosophische Orientierung (2015). Ge-
genwärtiges Forschungsprojekt (DFG) zu neueren Entwicklungen bezüglich der
Individualität von Quantenobjekten.
Meinard Kuhlmann
studierte Physik und Philosophie an den Universitäten Bochum, München, St. An-
drews (Schottland) und Köln, 1995 Diplom in Physik in Köln; 2000 Promotion
und 2008 Habilitation in Philosophie in Bremen. Forschungsaufenthalte an den
Universitäten Chicago und Irvine (1998), Oxford (2002/2003), Pittsburgh (2010)
und LSE London (2011). Seit 2012 Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Philosophie
der Physik der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. 2010–2012 Lehrstuhlver-
tretungen an den Universitäten Hannover, Jena und Bielefeld. Seit 2014 vertritt
er die Professur für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Mainz. Haupt-
arbeitsgebiete: Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie und Analytische Ontologie;
dabei speziell die Ontologie physikalischer Theorien, Erklärungstheorien sowie die
Philosophie komplexer Systeme (insb. Econophysics). Monographien: Ontological
Aspects of Quantum Field Theory (hg. mit H. Lyre und A. Wayne 2002); The Ulti-
mate Constituents of the Material World - In Search of an Ontology for Fundamental
Physics (2010).
Holger Lyre
studierte Physik, Philosophie und Neuroinformatik an den Universitäten Marburg,
Dortmund und Bochum. 1993 Diplom in Physik in Dortmund, 1996 Promotion
XV
XVI Autoren
Paul M. Näger
studierte Physik und Philosophie in München (2006 Diplom in Physik, LMU Mün-
chen). Nach einem Forschungsaufenthalt in Oxford (2008/2009) war er 2010–2013
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen, wo er mit einer wis-
senschaftsphilosophischen Arbeit zu verschränkten Quantensystemen promoviert
wurde („Quantum Entanglement and Causation“). Seit 2013 forscht und lehrt er
an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (2013–2017 als wissenschaft-
licher Mitarbeiter, seit 2017 als akademischer Rat a. Z.). Seine Arbeitsschwerpunkte
liegen in der Philosophie der Physik (insb. Quantenphysik, Relativitätstheorie), der
Wissenschaftsphilosophie (insb. statistische Methoden und kausales Schließen, Er-
klärungen, Reduktion/Emergenz) und in der Metaphysik (insb. Raum und Zeit,
Kausalität, Mereologie).
Oliver Passon
studierte Physik, Mathematik, Philosophie und Erziehungswissenschaften an der
Universität Wuppertal. Diplom (1998) und Promotion (2002) in der experimentel-
len Elementarteilchenphysik mit einer Datenanalyse für das DELPHI Experiment
am Europäischen Labor für Hochenergiephysik (CERN) in Genf. Wissenschaft-
licher Mitarbeiter am Forschungszentrum Jülich im Zentralinstitut für Angewandte
Mathematik (2004–2007). Referendariat für das Lehramt Physik und Mathematik
(2. Staatsexamen 2008). Lehrer für Physik und Mathematik am Carl-Duisberg Gym-
nasium in Wuppertal (bis 2013). Seit 2013 akademischer Rat in der Arbeitsgruppe
Physik und ihre Didaktik der Bergischen Universität Wuppertal und Mitglied des
Interdisziplinären Zentrums für Wissenschafts- und Technikforschung (IZWT). Zu
den Hauptarbeitsgebieten gehören Phänomenologische Optik, Wissenschaftstheo-
rie und Interpretation der Quantenmechanik. Monographien: Bohmsche Mechanik
(2004, 2. verbesserte Auflage 2010).
Manfred Stöckler
studierte Physik und Philosophie in Heidelberg und Gießen und wurde nach ei-
nem Diplom in Theoretischer Atomphysik mit einer Arbeit über philosophische
Autoren XVII
Inhaltsverzeichnis
1.1 Spin und Superposition ................................................................................... 3
1.2 Mathematischer Formalismus der Quantenmechanik ............................................. 15
Übungsaufgaben zu Kap. 1 ...................................................................................... 39
Literatur zu Kap. 1 ................................................................................................. 39
1 DieQuantenphysik umfasst wie die klassische Physik mehr als nur Mechanik, insbesondere
auch Quantenfeldtheorie. Insofern diese ausdrücklich mitgemeint ist, wird von „Quantenphysik“
gesprochen, in der Regel aber beschäftigt sich dieses Grundlagenkapitel mit der Quantenmechanik.
C. Friebe ()
Philosophisches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland
e-mail: cgf88@hotmail.com
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 1
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_1
2 C. Friebe
Personen etwa gleichermaßen als „tapfer“, wie es bei Sokrates schon in einem Früh-
dialog Platons heißt. Daher stelle sich die Frage, was sie denn gemeinsam haben.
Die Tapferkeit vielleicht, also eine Universalie, die irgendwie Mehrerem zukommen
kann? Nämlich entweder als eine Idee ante rem in Platons Himmel, an der die kon-
kreten, individuellen Personen ‚teilhaben‘, oder aber als etwas in re, das zu einem
und demselben Zeitpunkt sowohl in dieser als auch in jener Person ‚instantiiert‘ ist.
Das hiermit erstmals aufgeworfene Problem des Verhältnisses eines Objekts oder ei-
ner Person zu seinen/ihren Eigenschaften ist bis heute Gegenstand philosophischer
Debatten – ganz unabhängig von den Entwicklungen in der modernen Physik.
Oder nehmen wir als zweites Beispiel den neuzeitlichen britischen Philosophen
David Hume und sein skeptisches Argument gegen bestimmte Auffassungen der
Kausalität: Wenn wir meinen, dass ein Ereignis wie etwa die Bewegung einer
Billardkugel durch den Stoß einer anderen bewegten Billardkugel verursacht oder
hervorgerufen werde, so glauben wir offenbar, dass die stoßende Billardkugel die
gestoßene zu ihrer Bewegung zwinge, dass eine Art Kraft dafür sorge, dass das Er-
eignis der Wirkung nicht ausbleiben kann, sondern stattfinden muss. Was wir aber
tatsächlich beobachten, so Hume, sei lediglich ein zeitliches Nacheinander und ein
räumliches Nebeneinander von zwei Bewegungen; eine bloß faktische Regularität
und keinen Zwang, keine Notwendigkeit. Sind Verursachungsverhältnisse somit gar
nichts anderes als raumzeitliche Regularitäten, oder gibt es über das Beobachtbare
hinaus notwendige Vernüpfungen zwischen Ereignissen in der Welt? Auch die-
se Kontroverse dauert bis heute an – ganz unabhängig von quantenphysikalischen
Phänomenen.
Worauf es in diesem ersten Kapitel vor allem ankommt, ist daher dieses:
Herauszustellen, dass ein quantenmechanisches Einzelsystem jedem theoretischen
Philosophen zusätzliche Schwierigkeiten bereitet. Gleichgültig, ob jemand ein
(moderner) Aristoteliker, Humeaner oder auch Kantianer ist: Es gibt empirische
Phänomene im Bereich des Mikroskopischen und theoretische Konsequenzen der
Quantenmechanik, die unabhängig von der philosophischen Grundeinstellung ei-
ne besondere Herausforderung darstellen – und zwar schon beim Einzelsystem.
Die Diskussion dieser Phänomene und Konsequenzen kann dann grundsätzlich auf
zwei verschiedene Weisen philosophisch fruchtbar sein: entweder als Befruchtung
andauernder philosophischer Kontroversen, indem die Quantenmechanik zur Stüt-
zung einer vorhandenen Position ins Feld geführt wird, oder aber in dem Sinne, dass
sie zur Entwicklung gänzlich neuartiger philosophischer Theorien zwingt.
Auf diese Weisen einzusteigen, könnte man aber als tendenziös empfinden:
Denn danach erscheint die Quantenmechanik ausschließlich als ein Problem für die
Philosophie, nämlich insofern anscheinend nur die Frage gestellt ist, welche die
zur Quantenmechanik passende philosophische Theorie sein möge. PhysikerInnen,
aber auch viele Physik-PhilosophInnen, sehen das vielleicht ganz anders: Wenn
etwa der Physiker Niels Bohr den Begriff „Komplementarität“ zur Deutung der
Quantenmechanik ins Spiel brachte, so habe dies vor allem den folgenden Zweck
gehabt: „Komplementär“ sollen laut Bohr zwei Größen oder zwei Beschreibungen
sein, die einerseits einander ausschließen, anderseits sich aber doch ergänzen; was
ja auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt. Was Bohr aber intendierte, sei
keineswegs widersprüchlich, da sich die beiden von ihm hauptsächlich betrachteten
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 3
2 Also Probleme zu behandeln wie die Beziehungen eines Einzelgegenstandes zu seinen Eigen-
schaften und eines Ganzen zu seinen Teilen, das Verhältnis von Ursache und Wirkung sowie die
fragliche zeitüberdauernde Identität und zeitliche Veränderung von Quantensystemen.
4 C. Friebe
demnach nicht so sehr um das Theoriengebäude der Physik geht, erscheint ein
Einstieg, welcher die Quantenmechanik aus der klassischen Physik hervorgehen
lässt und ihre ungewöhnlichen Phänomene mit Vorstellungen über klassische Teil-
chen oder Wellen zu veranschaulichen versucht, als unangemessen. Der historische
Entdeckungszusammenhang ist vielleicht systematisch irrelevant, weshalb wir – im
Gegensatz zu vielen populären Darstellungen der Quantenmechanik – weder mit
der Planckschen Strahlungsquantelung (entdeckt schon im Jahr 1900) noch mit
dem Doppelspaltexperiment oder dem Photoeffekt (1905) beginnen, also nicht mit
solchen physikalischen Phänomenen, die laut Bohr die klassisch unverständliche
Doppelnatur des Quantensystems als Teilchen und Welle nahelegen; Bilder, die sich
klassisch ausschließen, quantenmechanisch vorgeblich aber doch ergänzen sollen.
Stattdessen sei das Quantensystem von vornherein als ein Objekt mit eigenem
Recht angesehen, für das wir – nahezu unabhängig von der Frage, ob es eher ein
klassisches Teilchen oder doch eher eine Welle oder vielleicht beides sei – etwa
fragen, ob es in Ursache-Wirkungs-Verhältnissen steht, ob es Zeit überdauert, ob
es intrinsische Eigenschaften hat oder bloß relational individuiert werden kann,
usw. Wir setzen daher eher mit Bohrs zweitem, gänzlich anderem Verständnis von
„Komplementarität“ an, wonach vielmehr zwei Größen – wie etwa der Ort und der
Impuls3 – sich quantenmechanisch ‚ausschließen‘, die klassisch einander noch er-
gänzten. Wie sich zeigen wird, lässt sich dies im mathematischen Formalismus der
Quantenmechanik präzise wiedergeben. Und wir setzen daher mit einem Experi-
ment ein, das erst 1922 – als die Quantenmechanik also bereits über 20 Jahre auf
ihrem Wege war – durchgeführt wurde und eine Eigenschaft quantenphysikalischer
Systeme zutage förderte, für die es klassisch überhaupt kein Analogon gibt, die al-
so paradigmatisch für die Eigenständigkeit des Quantensystems stehen kann: den
Spin.4 Dieser Spin zeigt physikalisch, was quantenmechanisch eigentümlich ist,
und motiviert direkt den anschließend darzustellenden Vektorraum-Formalismus der
Quantenmechanik.
Eine Warnung ist allerdings angebracht: Auf diese Weise wird das Problem der
Einbettung in den (Anschauungs-)Raum heruntergespielt, was für die Standard-
Quantenmechanik durchaus angemessen ist. Im weiteren Verlauf wird sich aber
zeigen, dass dieses Problem weiterhin auf der Agenda der (Philosophie der) Quan-
tenphysik steht. Die raumzeitliche Interpretation der Quantenobjekte steht im
Zentrum von GRW, Bohm und QFT.
1.1.1 Stern-Gerlach-Experiment
Im Februar 1922 führten die Physiker Otto Stern und Walther Gerlach in Frank-
furt/M. ein Experiment durch, das theoretisch einen wichtigen Beitrag zur reifen,
in sich abgerundeten neuen Quantenmechanik lieferte, die seinerzeit noch immer
3 DerImpuls eines Objekts ist die mit seiner Masse multiplizierte Geschwindigkeit.
4 Der Spin ist ein Drehimpuls, der vielleicht als die Rotation des Objekts um sich selbst
veranschaulicht werden kann, was bei punktförmigen Teilchen aber eigentlich unanschaulich ist.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 5
Spin-up
50 %
N
Ag-Strahl
S
Ag-Dampf-
Quelle 50 %
Spin-down
Abb. 1.1 Das Stern-Gerlach-Experiment: Ein Strahl von Silberatomen wird durch ein Magnetfeld
aufgespalten, was durch den Elektronen-Spin erklärt wird
5 Eine Bemerkung für LeserInnen mit Physik-Hintergrund: Auch mathematisch sollte sich der
Spin wie ein Drehimpuls verhalten, also etwa denselben Vertauschungsrelationen genügen wie
die Operatoren des Bahndrehimpulses. Dass er sich nicht nur analog zu einem Drehimpuls ver-
hält, sondern tatsächlich einer ist, zeigt, dass der Bahndrehimpuls in der Quantenmechanik in der
Regel nur zusammen mit dem Spin eine Erhaltungsgröße bildet.
6 C. Friebe
Inzwischen kennt man auch Teilchen mit mehr als bloß zwei möglichen Einstel-
lungen ihres Spins; ein Strahl solcher Teilchen – elektrisch neutralisiert, um keine
überlagernden Effekte zu erzeugen – führt also zu einer mehrfächrigen Aufspaltung
im inhomogenen Magnetfeld. Darüber hinaus unterteilt man Quantensysteme heut-
zutage in solche mit halbzahligem Spin („Fermionen“, wie beispielsweise Elek-
tronen) und solche mit ganzzahligem („Bosonen“, wie etwa Photonen). Letzteres
wird im Kapitel über ‚ununterscheidbare‘ Quantenteilchen von Bedeutung werden,
und Ersteres sollte man im Hinterkopf behalten und sich an gegebener Stelle
fragen, wie sich die Physik und Mathematik des zweiwertigen Spins auf höhere
Spinsysteme verallgemeinern. An dieser Stelle ist aber nur noch Folgendes zu be-
rücksichtigen: Die Stern-Gerlach-Apparatur hat immer eine bestimmte räumliche
Ausrichtung, welche ihr inhomogenes Magnetfeld bestimmt. Auf diese Weise wird,
genauer gesagt, die Spinprojektion der Teilchen in einer bestimmten Raumrich-
tung gemessen, und diese hat bei Elektronen nur zwei mögliche Werte. Tatsächlich
hat das Elektron (und haben viele andere Teilchen) noch viele weitere mögliche
Spinwerte, nämlich (das Elektron) je zwei in jeder möglichen Raumrichtung. Mit
Hilfe von Stern-Gerlach-Apparaturen kann man aber zu einem bestimmten Zeit-
punkt den Spin eines Quantensystems immer nur in einer Raumrichtung messen,
was die philosophisch wichtigen Fragen aufwirft, ob etwa ein Elektron alle diese
nicht gleichzeitig messbaren Spinwerte ‚dennoch‘ zugleich hat oder nicht und was
bei einer Stern-Gerlach-Messung eigentlich geschieht, wenn nicht.
Die besonderen Charakteristika dieser neuen Eigenschaft(en) kommen entspre-
chend dann besonders klar zum Vorschein, wenn man mehrere Stern-Gerlach-
Experimente in Folge durchführt.6 Zunächst kann man etwa nach einer Messung7 in
einer bestimmten Raumrichtung erneut in dieser Raumrichtung messen, was intui-
tiv der bloßen Wiederholung einer Messung entspricht. Dann lassen sich mehrere
Spinmessungen in unterschiedlichen Raumrichtungen nacheinander miteinander
kombinieren, wobei sich vielleicht Unerwartetes zeigen wird. Von herausragender
Bedeutung wird schließlich sein, was geschieht, wenn man eine anscheinend zu-
nächst durchgeführte Messung anschließend rückgängig macht: Dies führt direkt
zum Prinzip der Superposition von Spin-Zuständen und somit zum Vektorraum-
Formalismus (vgl. zum Folgenden insbesondere Albert 1992, Kap. 1).
6 Das kann man natürlich nur dann, wenn man die Teilchen gerade nicht mit einem Schirm auffängt.
7 Hier und im Folgenden wird „Messung“ so vorausetzungslos wie möglich verwendet. Weder wird
vorausgesetzt, dass ein makroskopischer Detektor (Schirm) etwas irreversibel registrieren muss,
noch gar, dass das quantenmechanische System irgendwie kollabiert.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 7
N N
Ag-Strahl
50 % 100 %
S S
Spiegel Spin-down
Abb. 1.2 Die Wiederholungsmessung: 100 % aller Teilchen, die zuvor Spin-down in einer
bestimmten Raumrichtung hatten, zeigen erneut Spin-down in derselben Raumrichtung
die zuvor Spin-up (bzw. Spin-down) zeigten, anschließend mit Sicherheit erneut
Spin-up (bzw. Spin-down) zeigen, gleichgültig, wieviel Zeit zwischen den beiden
Messungen verstrichen ist – solange keine äußeren Einflüsse (Magnetfelder) die
Teilchen stören. Man sagt: Spinmessungen seien wiederholbar.8
Messen wir dagegen beim zweiten Mal den Spin in y-Richtung, so stellt sich
heraus, was man vielleicht weniger erwarten sollte, dass sich nämlich nun nicht mit
Sicherheit vorhersagen lässt, welcher Spinwert sich ergeben wird. Sowohl die Spin-
up-Teilchen der ersten Messung als auch deren Spin-down-Teilchen zeigen je zum
Teil Spin-up und Spin-down in y-Richtung. In unserem Beispiel einer von der ur-
sprünglichen Raumrichtung senkrecht abweichenden gilt genauer, dass je 50 % der
Teilchen Spin-up und Spin-down zeigen werden. Bei Vorliegen von beispielsweise
Spin-up in x-Richtung erfolgt anscheinend der Übergang zu beispielsweise Spin-
up in y-Richtung indeterministisch. Dies ist erstaunlich und nicht zu verwechseln
mit einer möglichen Indeterminiertheit der ursprünglichen Messung: Bei jener be-
saßen wir nämlich vorher keinerlei Kenntnis über den genauen Zustand der Teilchen
(abgesehen davon, dass es sich um Silberatome bzw. Elektronen handelt). Sie war
gewissermaßen eine Messung ins Blaue hinein. Dieses Mal hingegen wissen wir
bereits, dass die Teilchen die Eigenschaft Spin-up (bzw. Spin-down) in x-Richtung
haben. Wie sich zeigen wird, ist diese Information gemäß dem Formalismus der
Quantenmechanik und seiner Standard-Deutung(en) sogar bereits maximal – und
also die Indeterminiertheit des Spins in y-Richtung bei gegebenem Spinwert in
x-Richtung unvermeidlich. Einstein sah darin ein erhebliches Problem, wie sein
berühmter Ausspruch, dass Gott nicht würfele, klar zum Ausdruck bringt. Was
denn wäre die Erklärung, wenn die zweite Messung etwa Spin-down in y-Richtung
ergibt? Hatte das Teilchen diese Eigenschaft schon zeitlich-vor dieser Messung,
gewissermaßen ‚schon immer‘? Dann existierte in der Welt mehr, als wir maxi-
mal wissen können, und die Standard-Quantenmechanik wäre unvollständig. Ein
8 Wie aber „zeigen“ die Teilchen bestimmte Spinwerte, wenn kein Detektor (Schirm) registriert,
dass sie nach oben oder unten abgelenkt wurden? – So mag fragen, wer das Problem schon kennt:
Wir aber folgen den Teilchen in Gedanken auf ihren ‚Wegen‘ und zeigen, dass dies unvermeidlich
inkonsistent wird.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 9
(analog)
ù
1. S x
upx
N
S downx
50 % ù 50 %
S N Sy
upx upx
N N
downy upy
S S
downx ù ù downx
2. S x 2. S x
50 % 50 %
Abb. 1.3 Zerstörung des Resultats einer Spinmessung, von Ŝx , durch eine weitere in abweichen-
der Raumrichtung, von Ŝy
10 C. Friebe
wie solche mit Spin-down – erneut das Resultat der ersten Ŝx -Messung zeigen:
diejenigen mit Spin-up in x-Richtung mit Sicherheit erneut Spin-up und diejenigen
mit Spin-down in x-Richtung erneut mit Sicherheit Spin-down? Folgen die beiden
Ŝx -Messungen hier wie zuvor die beiden Ŝy -Messungen ebenso unmittelbar aufein-
ander, weil dazwischen ja ‚nur‘ eine von Ŝy liegt, also eine Messung ganz anderer
Art? Die Quantenmechanik (und natürlich die empirischen Belege) sagen: Nein!
Zeitlich-nach der Ŝy -Messung verhalten sich alle Teilchen auf eine Weise, als hätte
die von Ŝx zuvor gar nicht stattgefunden. Sowohl Teilchen, die zunächst Spin-up
in x-Richtung zeigten – und nun (zusätzlich?) entweder Spin-up oder Spin-down
in y-Richtung –, als auch solche, die zunächst Spin-down in x-Richtung zeigten –
und nun (zusätzlich?) entweder Spin-up oder Spin-down in y-Richtung –, liefern bei
der zweiten Ŝx -Messung zum Teil Spin-up und zum Teil Spin-down in x-Richtung,
nämlich zu je 50 % Spin-up und Spin-down. Die Messung von Ŝy zerstört offenbar
das Ergebnis der vorherigen Ŝx -Messung, so dass eine erneute Messung von Ŝx hier
nicht die Wiederholung der ersten ist.
Gleiches gilt im umgekehrten Fall, also bei Variante Ŝy Ŝx Ŝy ; Messungen von Ŝx
und Ŝy zerstören sich wechselseitig. Und all dies gilt unabhängig davon, wieviel Zeit
zwischen den jeweiligen Messungen vergangen ist (andere Einflüsse vernachläs-
sigt); d. h. insbesondere, dass schon zeitlich-unmittelbar nach der zweiten Messung
(im Diagramm: von Ŝy ) die dritte zu je 50 % Spin-up und Spin-down ergibt, gleich-
gültig, was die erste Messung sagte. Weder die zeitliche Reihenfolge (ob also
Ŝx Ŝy Ŝx oder aber Ŝy Ŝx Ŝy ) noch der zeitliche Abstand zwischen den Messungen ha-
ben also einen relevanten Einfluss auf das entscheidende Ergebnis, die Zerstörung
des Resultats einer Spinmessung durch eine andere, in abweichender Raumrich-
tung durchgeführte. Daraus wird gefolgert: Die gleichzeitige Messung des Spins in
unterschiedlichen Raumrichtungen ist prinzipiell unmöglich, wie es ja auch prak-
tisch unmöglich ist, eine Stern-Gerlach-Apparatur zu bauen, deren inhomogenes
Magnetfeld zugleich in zwei verschiedene Raumrichtungen zeigt. An dieser Stelle
nun entspringt, wie bereits erwähnt, eines der Hauptprobleme der Interpretation
der Quantenmechanik: Ist dies nur ein epistemisches Problem oder auch ein onto-
logisches? Ist es also bloß so, dass unser Wissen (notwendig) beschränkt ist, wir
niemals in der Lage sind, Spinwerte in abweichender Raumrichtung festzustellen?
Oder ist es sogar so, dass quantenmechanische Systeme solche Eigenschaften nicht
zugleich haben, sondern immer nur eine – also etwa nur Spin-up (bzw. Spin-down)
in x-Richtung und keinen Spinwert in y-Richtung und auch keinen in irgendeiner
anderen Raumrichtung? Im Moment einer Spinmessung, also etwa während der
von Ŝy , würde dann in der Regel ein realer Wechsel von Eigenschaften (etwa von
Spin-up in x-Richtung zu Spin-up in y-Richtung) erzeugt, indeterministisch zudem!
1.1.3 Superpositionsprinzip
Auch dieses Problem bleibt aber vorerst außer Betracht. Die sich jeweils erge-
benden philosophischen Probleme seien an dieser Stelle bloß angedeutet, geht
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 11
9 Indem Sinne jedenfalls, dass wir wieder in Gedanken den Teilchen auf ‚Wegen‘ folgen können,
auf denen sie bestimmte Spinwerte in x-Richtung haben sollten.
12 C. Friebe
Spiegel upx
ù ù
1. S x 50 % 2. S x 50 %
N N
100 %
upy
S S
Misch-Gerӓt
50 % 50 %
Spiegel downx
Abb. 1.4 Das Rückgängigmachen einer (vorgeblichen) Spinmessung, von Ŝx , durch Mischen der
Teilchen
ù 100 %!
2. S x
N
upx
Spiegel
S
ù
1. S x
N
upy upx
S Misch-Gerät
downx
ù
S N Sy
Spiegel
100 %
upy?
Abb. 1.5 Wird durch das Mischen der Teilchen ‚auch‘ der ursprüngliche Ŝy -Wert wieder
hergestellt?
erwarten ist. Das durch die ursprüngliche Ŝy -Messung erzielte Resultat von Spin-up
in y-Richtung wird durch die Ŝx -Messung vor dem Spiegelsystem zugunsten eines
Spinwerts in x-Richtung zerstört. Wenn dem aber so ist, so laufen nach dem Spiegel-
system jeweils 50 % Spin-up und Spin-down in y-Richtung zusammen, so dass eine
Ŝy -Messung nach dem Durchmischen vielmehr zu je 50 % Spin-up und Spin-down
zeigen sollte.
Darüber hinaus: Würde eine Ŝy -Messung nach dem Durchmischen mit Sicher-
heit den einen Spinwert vom Anfang ergeben (Spin-up in y-Richtung), so wäre
diese zweite Ŝy -Messung die bloße Wiederholung der ersten, so dass man sagen
müsste, dass zwischen der ursprünglichen Ŝy -Messung und dieser zweiten am En-
de des gesamten Durchgangs durch unser System gar nichts Relevantes geschieht.
Insbesondere scheint die Ŝx -Messung vor dem Spiegelsystem gar nichts Relevantes
zu bewirken, da man höchst plausibel der Auffassung zu sein hat, dass die ‚Spiegel‘
nichts für den Spinwert der Teilchen Relevantes bewirken. Es kann jedoch nicht
sein, dass auch die Ŝx -Apparatur nichts für den Spinwert der Teilchen Relevantes
bewirkt, wie ja sowohl Ŝy - als auch Ŝx -Messungen innerhalb der Wege bezeugen
könnten! Und dennoch ist es tatsächlich so, dass die zweite Ŝy -Messung mit Sicher-
heit das Resultat der ursprünglichen reproduziert: Sämtliche Teilchen zeigen nach
dem Durchmischen wieder ihren ursprünglichen Wert – Spin-up in y-Richtung.
Daraus kann nur folgen, dass auch dieser Effekt einer Ŝx -Messung – nämlich
die Zerstörung des Spinwerts in y-Richtung – durch das Durchmischen der Teil-
chen rückgängig gemacht wird. Während man aber für das Rückgängigmachen
14 C. Friebe
der Ŝx -Messung im Sinne der Zerstörung des Spinwerts in x-Richtung eine an-
schauliche Erklärung hat (bzw. zu haben glaubt) – nämlich das Mischen von
Teilchen mit Spin-up in x-Richtung mit Teilchen, die Spin-down in x-Richtung
zeigen –, versteht man eigentlich nicht, wie denn das Durchmischen der Teilchen
die Ŝx -Messung auch im Sinne der Wiederherstellung des ursprünglichen Spinwerts
in y-Richtung rückgängig machen kann. Gemischt werden doch Teilchen, die auf
ihren jeweiligen Wegen je zur Hälfte Spin-up und Spin-down in y-Richtung zeigen
(würden)!
Beide Phänomene – also zum einen dasjenige, dass am Ende eine zweite
Ŝx -Messung zu je 50 % Spin-up und Spin-down in x-Richtung ergibt, als hätte
es die erste von Ŝx nicht gegeben, und zum anderen dasjenige, dass eine zweite
Ŝy -Messung das Resultat der ersten reproduziert, indem sie zu 100 % Spin-up in
y-Richtung ergibt, als hätte es eine Ŝx -Messung dazwischen nie gegeben – können
anscheinend nur so erklärt werden, dass jene Ŝx -Messung überhaupt nur einen Effekt
hat. Es ist eben nicht so, dass eine solche Messung zwei verschiedene Wirkungen
hätte, die dann auch voneinander unabhängig rückgängig gemacht werden könn-
ten: zum einen diejenige, dass Teilchen einen bestimmten Spinwert in x-Richtung
annehmen, und zum anderen die Zerstörung jedes Spinwerts in abweichender
Raumrichtung. Dabei handelt es sich vielmehr um eine und dieselbe Wirkung: Das
Annehmen eines Spinwerts in einer Raumrichtung ist zugleich und nichts Zusätz-
liches als die Zerstörung eines Spinwerts in abweichender Raumrichtung. Indem,
in unserem Falle, der Spinwert in x-Richtung später wieder zerstört wird, wird der
Spinwert in y-Richtung wiederhergestellt. Das lässt sich nicht trennen, weil das Das-
selbe ist. Man sagt: Der Zustand eines Teilchens mit einem bestimmten Spinwert
in einer bestimmten Raumrichtung ist zugleich nichts anderes als die Superposi-
tion zweier gegensätzlicher Spinwerte in abweichender Raumrichtung. Damit ist
nicht gemeint, dass etwa ein Teilchen mit Spin-up in y-Richtung darüber hinaus
sowohl Spin-up als auch Spin-down in x-Richtung hätte: Dies wäre vielmehr wider-
sprüchlich, zumal es dann ja auch noch all die anderen Spinwerte in allen anderen
abweichenden Raumrichtungen haben müsste. Was stattdessen gemeint ist, ist un-
klar: ‚Superposition‘ ist an dieser Stelle vielmehr bloß ein Ausdruck für etwas, das
noch nicht verstanden ist, das aufzuklären das Hauptproblem der Interpretation der
gesamten Quantenphysik darstellt.10 Worauf es hier nur ankommt: „Superposition“
motiviert den mathematischen Formalismus der (gewöhnlichen) Quantenmecha-
nik. Sie verhält sich offenbar wie die Linearkombination von Vektoren – jede
solche Linearkombination ergibt einen neuen Vektor desselben Vektorraums, und
jeder Vektor ist auf unendlich viele Weisen als Linearkombination anderer Vekto-
ren darstellbar – und motiviert daher die Mathematik der Quantenmechanik als
Vektorraum-Theorie.
10 Inder Physik kennt man Superpositionen auch aus der klassischen Feldtheorie als Überlage-
rungen von Wellen. Historisch wurde das Superpositionsprinzip daher in die Quantenmechanik
eingeführt, um den Wellencharakter der Teilchen zu beschreiben. Hier aber fungiert es als ein sehr
abstraktes Prinzip: Spin-Zustände sind ja keine Wellen.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 15
Gesucht wird ein mathematischer Formalismus, der geeignet ist, die dargestell-
ten Phänomene und insbesondere das entscheidend Neue der Superposition von
‚Zuständen‘11 wiederzugeben. Als ein solcher erweist sich die Struktur eines
Vektorraums, die hier zunächst rein mathematisch vorgestellt werden soll. Um die
Sache nicht zu abstrakt werden zu lassen, geschieht dies möglichst anschaulich-
geometrisch, und auch die intendierte physikalische Interpretation soll nicht völlig
außer Betracht bleiben. Es ist aber zu beachten, dass zwischen dem Formalismus
und seiner Deutung sorgfältig unterschieden werden muss, um sich klarzumachen,
was strittig ist und was nicht, und wo die Interpretationsprobleme der Quanten-
mechanik genau liegen. Des Weiteren ist zu beachten, dass in diesen einführenden
Abschnitten der Standard-Formalismus der gewöhnlichen Quantenmechanik be-
trachtet wird, wie er 1932 in John von Neumanns Grundlagenwerk (vgl. von
Neumann 1932) geschaffen wurde. Abweichungen davon – wie sie etwa in der
GRW-Variante (vgl. Abschn. 2.4), bei Bohm und bei Everett (vgl. Kap. 5) oder in der
QFT (vgl. Kap. 6) vorgenommen werden – werfen weitere Deutungsprobleme auf.
Man kann gar fragen: Sind solche mathematische Modifikationen wirklich Inter-
pretationen derselben Quantenphysik oder nicht vielmehr schon Alternativen zur
Standard-Quantenmechanik? Schließlich betreffen, wie eingangs bereits angemerkt,
viele Deutungsprobleme „zusammengesetzte Systeme“, die ‚Ununterscheidbarkeit‘
gleichartiger Teilchen ebenso wie das berüchtigte EPR-Paradoxon: Ihre Behandlung
hat mathematische Besonderheiten, die an gegebener Stelle nachgetragen werden.
Wir beschränken uns hier noch immer auf das Einzelsystem.
Die folgende Darstellung gliedert sich in vier Abschnitte. Die ersten beiden –
„Vektoren und ihre Darstellung“ und „Operatoren und ihre Eigenwerte“ – liefern
die für das Verständnis der philosophischen Debatten um die Quantenphysik not-
wendigen Voraussetzungen. Sie knüpfen an Schulmathematik an, erweitert um
die zentralen Begriffe „(hermitescher) Operator“ (vorläufige Deutung: Messvor-
richtung; Messgröße), „Eigenwert“ (Messwert; Eigenschaft) und „Eigenvektor“
(Eigenzustand). Der darauffolgende Abschnitt – „Das Problem mehrfacher Eigen-
werte“ – ist komplexer. Er wird vor allem für ein vertieftes Verständnis von
„Ununterscheidbarkeit“ und „EPR/Bell“ benötigt und kann daher von LeserInnen,
die vor allem an den Interpretationskapiteln (zu ‚Kopenhagen‘, GRW, Bohm, Ever-
ett) interessiert sind, übergangen werden. Der vierte Abschnitt schließlich behandelt
„Spezielle Operatoren“, die je nach Problemstellung relevant werden. Es empfiehlt
sich, die entsprechenden Unterabschnitte zu konsultieren, wenn darauf verwiesen
wird.12
11 Der Ausdruck „Zustand“ wird erst in den verschiedenen Abschnitten zur Interpretation der
Quantenmechanik präzisiert. Intuitiv bildet er irgendwie die Menge der Eigenschaften ab, die ein
Quantensystem gerade hat.
12 Noch eine Anmerkung: Wir wählen den abstrakteren, insbesondere auch auf die QFT ver-
Ein Vektorraum V ist eine nicht-leere Menge, für deren Elemente, den Vekto-
ren, eine innere Verknüpfung + und eine äußere Verknüpfung · mit reellen oder
komplexen13 Zahlen definiert ist. Diese etwas abstrakt klingende Formulierung
hat den Zweck, den Begriff des Vektorraums möglichst weit zu fassen, also auch
nicht-anschauliche Räume unter ihn zu subsumieren. Im zweidimensionalen An-
schauungsraum jedenfalls entspricht sie der bekannten Addition und Streckung von
Pfeilen, wie in Abb. 1.6 dargestellt.
Zugleich liefert diese Veranschaulichung eine erste Vorstellung davon, wie
Superposition mathematisch gefasst wird: Korrespondieren mit den Vektoren auf
irgendeine Weise quantenphysikalische Zustände, so repräsentiert der Vektor14
|C eine Superposition derjenigen Zustände, die durch |A und |B repräsentiert
werden.15
→
a
aufwendig; so findet sich etwa keine einzige zu lösende Differenzialgleichung. Für den (viel-
leicht anschaulicheren, aber rechentechnisch komplexeren) Analysis-Zugang sei Philosophie-
Studierenden die Arbeit von Nortmann (2008) empfohlen.
13 Komplexe Zahlen bilden eine Erweiterung der reellen. Die Idee ist, dass quadratische Glei-
chungen immer, d. h. auch für negative Zahlen, lösbar sein sollen, indem für x2 = –1 die imaginäre
Größe i als Lösung gesetzt wird (das vereinfacht viele Rechnungen). Mit den reellen Zahlen a und
b haben komplexe dann im Allgemeinen die Form a + ib, also einen Realteil und einen Ima-
ginärteil, und können anschaulich in der Ebene dargestellt werden, wobei die eine Achse des
Koordinatensystems imaginäre Einheit hat.
14 Statt
c ist es in der Quantenmechanik üblich, für Vektoren |C zu schreiben. Der dazu duale
Vektor schreibt sich C|, so dass, wie wir gleich sehen werden, das Skalarprodukt zweier Vektoren
einfach durch A|B ausgedrückt wird (Bra-Ket-Schreibweise).
15 Durch Addition und Streckung erhält man stets neue Vektoren, die Elemente desselben Raumes
sind wie die addierten und gestreckten ursprünglichen Vektoren. Die Superposition zweier mög-
licher Zustände eines bestimmten physikalischen Einzelsystems ist ebenso stets ein weiterer
möglicher Zustand desselben Systems. Für mehrere, aber gleichartige Teilchen gilt diesbezüglich
eine wichtige Einschränkung (Stichwort: Superauswahlregel; vgl. Kap. 3).
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 17
|B〉
|A〉
〈A|B〉
Abb. 1.7 Das Skalarprodukt A|B zweier Vektoren ist die geometrische Projektion des einen auf
den anderen und bestimmt somit den Winkel zwischen ihnen
Ein Vektorraum heißt euklidisch (im komplexen Fall: unitär), wenn auf ihm ein
Skalarprodukt definiert ist. Damit ist gemeint, dass man zwei Vektoren auch
miteinander multiplizieren kann – Schreibweise: A|B (sprich: A mal B). Man er-
hält auf diese Weise allerdings keinen neuen Vektor, sondern eben einen Skalar,
d. h. eine reelle (bzw. komplexe) Zahl. Anschaulich entspricht dem Skalarprodukt
die geometrische Projektion des einen Vektors auf den anderen (vgl. Abb. 1.7).
√ Ein Skalarprodukt dient dazu, Längen von Vektoren zu messen – Norm: a =
|A|A| – sowie Abstände und Winkel zwischen ihnen. Im Besonderen verschwin-
det das Skalarprodukt zwischen zwei aufeinander senkrecht stehenden Vektoren:
A|B = 0. Dies ermöglicht, den zentralen Begriff der Orthonormalbasis (kurz:
Basis) einzuführen:16 Um eine solche Basis zu erhalten, müssen wir zunächst die
entsprechenden Vektoren auf Länge 1 normieren und dann eine maximale Anzahl
N von Vektoren wählen, die paarweise aufeinander senkrecht stehen, für die also
Ai |Aj = 0 ist; i, j laufen von 1 bis N, mit i =/ j. Im zweidimensionalen An-
schauungsraum gibt es maximal zwei aufeinander senkrecht stehende Vektoren –
eine Basis spannt dort ein rechtwinkliges, zweiachsiges Koordinatensystem auf –,
und allgemein gilt, dass N genau der Dimension des betrachteten Vektorraums ent-
spricht.17 Sonach lässt sich jeder Vektor in unserem Vektorraum bezüglich einer
Basis desselben wie in Abb. 1.8 darstellen.
|B〉
| A2 〉
| A1 〉
16 EineMenge von Vektoren ist eine Basis eines Vektorraums, wenn daraus alle anderen Vektoren
dieses Raumes durch Linearkombination erzeugt werden können. Wir betrachten nur Orthonormal-
basen. Wichtig ist, dass ein Vektorraum unendlich viele solcher Basen hat.
17 Im Extremfall kann diese Dimension (abzählbar) unendlich sein.
18 C. Friebe
War ein Vektor bislang ein abstraktes Objekt, für das wir nur |A geschrieben
hatten, wird es nun schon etwas konkreter, bekommt er doch bestimmte Zahlen-
werte als Komponenten, deren Anzahl der Dimension des Vektorraums entspricht;
so erhält etwa der anschauliche Vektor die Darstellung: |B = 32 . Auch die
Basisvektoren selbst lassensich
in Komponentendarstellung
schreiben – im reellen,
zweidimensionalen Raum: 10 und 01 –, und danach lassen sich die Skalarprodukte
konkret ausrechnen, nämlich nach folgender Regel:18
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
ai bi
⎜ . ⎟ ⎜ .. ⎟
Für |A = ⎜ . ⎟ ⎜
⎝ . ⎠ und |B = ⎝
⎟
. ⎠ gilt
aN bN
N
A|B = a1 b1 + · · · + aN bN = ai bi . (1.1)
i=1
Nun gibt es allerdings nicht nur eine Basis, sondern vielmehr unendlich viele davon.
Bezüglich jeder solchen Basis haben die Vektoren je eigene Komponenten, so dass
die konkrete Zahlendarstellung davon abhängt, welche Basis man auswählt.
Ein und derselbe Vektor hat also unendlich viele mögliche Komponentendarstel-
lungen, die man mathematisch über sogenannte Basistransformationen berechnen
kann. Dieser Variabilität der Darstellung soll entsprechen, dass ein und derselbe
quantenphysikalische Zustand – also beispielsweise derjenige Zustand, Spin-up in
x-Richtung zu zeigen – nicht nur eine Superposition der Zustände zu Spin-up und
Spin-down in y-Richtung ist, sondern vielmehr zugleich unendlich viele andere
Superpositionen zu Spin-up und Spin-down in beliebiger anderer Raumrichtung.
Man muss allerdings beachten, dass der Wahl einer bestimmten Basis eine erheb-
liche Willkür anhaftet: Streng mathematisch ist sie rein konventionell und von
physikalischer Bedeutung sind daher eher solche Größen, die von der Wahl ei-
ner bestimmten Basis unabhängig, die also invariant unter Basistransformationen
sind – was die Komponenten der Vektoren klarerweise nicht sind. Ihre Längen und
Winkel zueinander sollten dagegen nicht davon abhängen, welche Basis man zu
|B〉
| C2 〉
| C1 〉
Abb. 1.9 Bezüglich einer anderen Basis {|C1 , |C2 } hat derselbe Vektor eine andere Darstellung:
|B = 3, 3|C1 + 1, 2|C2 (numerische Werte so, dass die Norm erhalten bleibt)
18 Man verifiziert leicht, dass die obigen Basisvektoren tatsächlich auf 1 normiert sind und
orthogonal zueinander stehen.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 19
ihrer Darstellung wählt, und in der Tat ist das Skalarprodukt eine unter Basistrans-
formationen unveränderliche Größe. Nicht zuletzt deshalb wird das Skalarprodukt
auch physikalisch von besonderer Bedeutung sein.
Der Unterschied zwischen dem Vektor selbst und seiner Darstellung bzgl. einer
bestimmten Basis gibt ein erstes Gefühl dafür, dass der Vektorraum-Formalismus
zunächst ein sehr abstrakter ist. Worauf eine empirische Theorie wie die Quanten-
mechanik aber letztlich abzielt, ist die Konfrontation der Theorie mit der Erfahrung,
d. h. mit Beobachtungsdaten. Es sind letztlich erfolgreiche Voraussagen für be-
stimmte Messresultate, mit denen sich eine empirische Naturwissenschaft bewährt.
Für Messwerte gibt es allerdings nur eine denkbare mathematische Repräsentation,
nämlich reelle Zahlen, die wir jedoch hier noch nicht einmal dann erreicht haben,
wenn wir eine bestimmte Basis zur konkreten Darstellung von Vektoren ausge-
wählt haben. Vektoren liefern nur Zahlenspalten mit möglicherweise gar (abzählbar)
unendlich vielen Komponenten, die darüber hinaus in der Quantenmechanik in
der Regel komplexwertig sind. Auch deshalb ist das Skalarprodukt von besonde-
rer Bedeutung: Sein Betragsquadrat – |A|B|2 – liefert verwertbare reelle Zahlen,
die, wie sich herausstellt, aber noch nicht die Messwerte, sondern zunächst nur
die Wahrscheinlichkeiten für zu erzielende Messausgänge wiedergeben. Um zu
den Messwerten zu gelangen, müssen wir ein weiteres mathematisches Objekt
einführen: den Operator.
∧
|B 〉 O |B 〉
∧
O |A 〉
|A 〉
Abb. 1.10 Der Operator Ô ‚bewirkt‘ eine Drehung aller Vektoren um einen bestimmten Winkel
Geometrisch kann man sagen, dass sie Parallelität erhalten, d. h. ehemals parallele
(durch Vektoren aufgespannte) Geraden bleiben parallel.19 Drehungen, Streckungen
oder Verschiebungen sind daher Beispiele für lineare Operationen.
Mit Blick auf unsere Suche nach den mathematischen Repräsentanten quan-
tenmechanischer Messwerte ist eine weitere mathematische Eigenschaft linearer
Operatoren hilfreich: Lineare Operatoren, die zunächst ebenso wie zunächst auch
die Vektoren mathematisch-abstrakte Objekte sind, haben – bei gegebener Basis –
ebenfalls eine Komponentendarstellung. Hierzu braucht man, mit N als der Dimen-
sion des Vektorraums, N 2 Komponenten – nämlich diese: Ai |Ô|Aj –, so dass ein
linearer Operator als quadratische Matrix dargestellt werden kann. Die Anwendung
eines Operators auf einen Vektor – also Ô|A = |A – lässt sich dann als Multiplika-
tion seiner Matrix mit dem Vektor nach folgender Regel berechnen (hier für den
zweidimensionalen Fall):
O11 O12 a1 O11 a1 + O12 a2
= . (1.3)
O21 O22 a2 O21 a1 + O22 a2
19 Injeder Deutung des Formalismus korrespondieren mit parallelen Vektoren physikalisch unun-
terscheidbare Zustände, so dass durch lineare Operationen kein physikalischer Unterschied ins
Spiel kommt, wo ‚vorher‘ keiner war.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 21
so dass sich für einen Winkel von 90 ◦ in Anwendung auf den einen Basisvektor 10
ergibt:
0 –1 1 0
= (1.5)
1 0 0 1
Wie zu erwarten, bildet der Drehoperator in diesem speziellen Fall den einen
Basisvektor genau auf den orthogonalen anderen ab.
Man beachte, dass die Drehachse hier senkrecht zur Ebene liegt, also außer-
halb des zweidimensionalen Vektorraums. Mit Blick auf den nächsten Schritt ist
es jedoch geschickter, eine Drehung um eine Achse innerhalb des zugrunde ge-
legten Vektorraums zu betrachten, also etwa eine Drehung um die z-Achse im
dreidimensionalen Anschauungsraum. Die entsprechende Matrix sieht dann so aus:
⎛ ⎞
cos θ – sin θ 0
⎜ ⎟
⎝ sinθ cos θ 0⎠ (1.6)
0 0 1
Dieser Operator, der also im Dreidimensionalen eine Drehung mit dem Winkel θ um
die z-Achse ‚bewirkt‘, hat eine charakteristische Eigenschaft: Er lässt genau einen
(normierten) Vektor unverändert, denjenigen nämlich, der die Drehachse aufspannt.
Im Allgemeinen heißen Vektoren, deren Richtung beibehalten wird, Eigenvektoren
des entsprechenden Operators, und die dazugehörigen Streckfaktoren heißen dessen
Eigenwerte. Seine Eigenvektoren und Eigenwerte hat ein Operator unabhängig von
der Basis, mit welcher er gerade als Matrix dargestellt wird, so dass sie ihn aus-
sagekräftig charakterisieren. Unsere Drehung im Dreidimensionalen ist natürlich
vor allem durch ihre Drehachse gekennzeichnet; der sie aufspannende Vektor ist
also Eigenvektor des Drehoperators, mit dem Eigenwert 1. Man beachte aber, dass
keineswegs alle Operatoren überhaupt Eigenvektoren (und Eigenwerte) haben, wie
etwa der Drehoperator im Zweidimensionalen in der Regel (d. h. außer für bestimm-
te Winkel) keinen Eigenvektor hat: Er dreht sämtliche Vektoren gleichermaßen,
ändert also die Richtung von allen Vektoren. Des Weiteren sind in komplexen Vek-
torräumen – wie im Fall der Quantenmechanik – Eigenwerte in der Regel komplexe
Zahlen, so dass sie weder geometrisch-anschaulich als Streckfaktoren aufgefasst
werden noch physikalisch als Messwerte dienen können.
Nun gibt es aber schließlich eine besondere Unterklasse linearer Operatoren,
sogenannte selbstadjungierte oder hermitesche Operatoren, deren Matrizen (un-
ter Berücksichtigung komplexer Konjugation20 ) symmetrisch sind. Sie haben, wie
sich mathematisch beweisen ließe, immer maximal viele – nämlich N – und
ausschließlich reelle Eigenwerte. Diese reellen Eigenwerte sind es, welche die
mathematischen Repräsentanten quantenphysikalischer Messwerte sein werden,
und zwar nahezu unabhängig von der jeweils vertretenen, speziellen Interpretation
Ein solches Gleichungssystem (für a1 und a2 !) ist lösbar, so lehrt halbwegs elemen-
tare Mathematik, wenn die sogenannte Determinante der Matrix 0 ist. Dies führt zu
folgender Gleichung für λ:
λ2 + i2 = 0 (1.10)
Der gegebene Operator hat also die Eigenwerte 1 und –1, was, wie man sich an
dieser Stelle vielleicht schon denken kann, den Messwerten Spin-up und Spin-down
in einer bestimmten Raumrichtung entsprechen soll.23
21 Für Einzelsysteme können wir sagen, dass jeder selbstadjungierte Operator irgendeine quan-
tenmechanische Messgröße wie Spin, Energie etc. darstellt, auch wenn es nicht immer leicht ist,
zu einem gegebenen mathematischen Operator die physikalische Realisierung konkret anzugeben.
Für Mehrteilchen-Systeme jedoch korrespondiert nicht mit jedem selbstadjungierten Operator auch
eine Messgröße (Stichwort: Superauswahlsektoren; vgl. Kap. 3).
22 Die folgende Rechnung soll nur illustrieren: Es gibt ein mathematisches Standardverfahren zur
Bislang, d. h. bevor wir ihn (bzw. seine Matrix) in Diagonalgestalt gebracht haben,
war unser Operator – und waren ebenso seine Eigenvektoren – also in einer anderen
Basis dargestellt (vgl. Abb. 1.11).
Aus der Perspektive der Vektorraumtheorie mag es trivial erscheinen, dass es
demnach viel mehr Basen gibt als solche, deren Elemente Eigenvektoren eines gege-
benen Operators sind. Mit Blick auf ihre quantenphysikalische Deutung ist dies aber
äußerst bemerkenswert, da es im Kern die Inkommensurabilität zweier Messgrö-
ßen und das Superpositionsprinzip impliziert. Um dafür ein Gespür zu bekommen,
wählen wir nochmals die Basis, in der unser Operator zunächst dargestellt war: Ihre
Elemente sind also keine Eigenvektoren des gegebenen Operators. Es gilt aber, dass
es nun einen anderen linearen und selbstadjungierten Operator geben muss, dessen
|EV1〉
|EV2〉
Abb. 1.11 Darstellung der Eigenvektoren von Ŝ bzgl. der fett gedruckten Basis. Sie wiederum
bilden selbst die Eigenvektor-Basis eines anderen Operators Ŝ
24 Vorsicht: Eigentlich gehört nur zu jedem Eigenvektor genau ein Eigenwert, während umgekehrt
zu einem Eigenwert nur dann genau ein Eigenvektor gehört, wenn er (der Eigenwert) einfach ist,
d. h. nur einmal vorkommt – was hier ja der Fall ist. Zum Problem mehrfacher Eigenwerte vgl. den
folgenden Abschn. 1.2.3.
24 C. Friebe
Eigenvektoren eben diese Basis bilden. Nicht nur hat nämlich jeder solche Opera-
tor (mindestens) eine Basis aus Eigenvektoren, sondern zu jeder Basis gehört auch
ein Operator, dessen Eigenvektor-Basis sie ist.25 Derjenige Operator, der zu unse-
rer Basis „passt“, muss als Diagonalmatrix dargestellt sein, und in ihrer Diagonalen
stehen dessen Eigenwerte. Wie sich zeigt, ist dies eben diese:
1 0
Ŝ = (1.13)
0 –1
Sie ist nicht zu verwechseln mit dem gerade oben (vgl. Matrix 1.12) dargestellten
Operator, dessen (gleiche) Diagonalgestalt ja in einer ganz anderen Basis auftritt.
Dennoch hat sie natürlich etwas Wesentliches mit dem ursprünglich gewählten Ope-
rator gemeinsam: Beide reellen Eigenwerte sind ebenfalls 1 und –1, was ebenfalls
den beiden Messwerten Spin-up und Spin-down in einer bestimmten Raumrich-
tung entsprechen soll. Tatsächlich stellt sich heraus, dass diesen beiden Operatoren
gerade unsere Messungen des Spins in x- und in y-Richtung zugeordnet werden
können.
Betrachten wir nochmals die beiden zweidimensionalen Koordinatensysteme
bzw. die beiden Basen aus den jeweiligen Eigenvektoren: Je ein Operator ist dann
als Diagonalmatrix darstellbar, während der jeweils andere eine andere Gestalt hat.
Auch dieses Ergebnis lässt sich verallgemeinern: Haben zwei (lineare und selbstad-
jungierte) Operatoren keine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren, so können ihre
Matrizen nicht zugleich, d. h. nicht in derselben Basis, in Diagonalgestalt gebracht
werden (und umgekehrt). Diese Formulierung legt nahe, dass es sehr wohl verschie-
dene Operatoren gibt, die gemeinsam in Diagonalgestalt gebracht werden können,
weil sie tatsächlich eine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren haben.26 Für je zwei
Operatoren, die beide nicht bereits als Diagonalmatrizen dargestellt sind, wo also
die Basis ungünstig gewählt ist, stellt sich daher die aufschlussreiche Frage, ob sie
eine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren haben, ob ihre Matrizen also gemeinsam
in Diagonalgestalt gebracht werden können.
Zur Beantwortung dieser Frage braucht man die folgende rein rechentechnische
Regel für die Multiplikation zweier Matrizen (hier wieder für den zweidimen-
sionalen Fall):
a11 a12 b11 b12 a11 b11 + a12 b21 a11 b12 + a12 b22
= (1.14)
a21 a22 b21 b22 a21 b11 + a22 b21 a21 b12 + a22 b22
Die Multiplikation zweier Matrizen ergibt also wieder eine Matrix derselben Di-
mension; sie stellt das Hintereinanderschalten zweier Operatoren dar,27 welches
wiederum als ein (weiterer) linearer Operator wirkt: ÂB̂|. Von zentraler Bedeu-
tung ist dann, dass die serielle Anwendung von Operatoren in ihrer Wirkung von
der Reihenfolge abhängen kann.28 Die wie oben definierte Matrizenmultiplikation
ist nämlich im Allgemeinen nicht kommutativ; wie etwa unser Beispiel zeigt:
1 0 0 –i 0 –i
= ,
0 –1 i 0 –i 0
jedoch:29
0 –i 1 0 0 i
= . (1.15)
i 0 0 –1 i 0
Es stellt sich heraus, dass eben genau dann die Multiplikation zweier Matrizen
kommutativ ist, wenn sie gemeinsam in Diagonalgestalt gebracht werden können,
wenn die dargestellten Operatoren also eine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren
haben. Kommutieren sie hingegen nicht, können sie nicht zugleich in Diagonal-
gestalt gebracht werden, haben die Operatoren sonach keine gemeinsame Basis aus
Eigenvektoren. Da, wie man zeigen kann, der Kommutator zweier Matrizen  und B̂
ist –, so zerstört die Messung der einen Größe das Resultat der Messung der ande-
ren, wie im Eingangsabschnitt vorgeführt, und zwar unabhängig von der zeitlichen
Reihenfolge und unabhängig vom zeitlichen Abstand der jeweiligen Messungen.
Realistisch kann man interpretieren, dass dem quantenphysikalischen System die
den jeweiligen Eigenwerten entsprechenden Eigenschaften nicht zugleich zukom-
men können. Nicht-kommutierende Matrizen (Operatoren) bilden daher das präzise
mathematische Gegenstück zu inkommensurablen (schlechter: komplementären)
Messgrößen. Ist der Kommutator zweier Matrizen hingegen 0, dann ist die se-
rielle Anwendung der durch sie dargestellten Operatoren unabhängig von der
Reihenfolge, zerstören die dadurch repräsentierten physikalischen Messungen sich
nicht wechselseitig ihre Resultate und kommen – realistisch interpretiert – dem
quantenphysikalischen System die den jeweiligen Eigenwerten entsprechenden
Eigenschaften gleichzeitig zu.31
So formuliert, gilt es aber, sich einer gewissen Zweideutigkeit bewusst zu
werden: Unstrittig ist nämlich nur, dass wenn der ‚Zustand‘ des quantenphysika-
lischen Systems durch einen Eigenvektor eines bestimmten Operators dargestellt
wird, eine Messung mit Sicherheit den Wert ergibt, der dem dazugehörigen Eigen-
wert entspricht. Dagegen strittig ist die Umkehrung, dass wenn eine Messung den
Wert eines bestimmten Eigenwerts eines bestimmten Operators ergibt, das Sys-
tem dann zumindest ‚unmittelbar anschließend‘ in dem Zustand ist, der durch
den entsprechenden Eigenvektor repräsentiert wird. Dies zu behaupten, heißt die
(in der Physik häufig als selbstverständlich angenommene) Eigenwert-Eigenvektor-
Verknüpfung anzunehmen – nämlich von Neumanns „ Projektionspostulat“. In
der Philosophie ist diese Verknüpfung aber umstritten (vgl. beispielsweise van
Fraassen 1991). Deshalb sei nur festgehalten, was wirklich unstrittig ist:
Da die Streuung um diesen Mittelwert 0 ist,34 kann man sagen, dass in diesem
Zustand der dem Eigenwert λi entsprechende Messwert mit Sicherheit gemessen
wird bzw. dass die λi entsprechende Eigenschaft mit Sicherheit vorliegt.
2. Jeder Vektor ist zugleich als Superposition von Eigenvektoren eines anderen, mit
Ô nicht kommutierenden Operators Ô darstellbar:35
31 Man beachte, dass die Kommutator-Beziehung nicht transitiv ist: Es kommt vor, dass A zwar mit
B und B mit C kommutiert, nicht aber A mit C.
32 So bezeichnet man in der Quantenmechanik den zugrunde gelegten unitären Vektorraum von
Geometrisch wird dabei der durch Anwendung von Ô auf |A resultierende Vektor auf |A zu-
rückprojiziert. Physikalisch entspricht er (unstrittigerweise) eben dem Mittelwert von zahlreichen
Messungen der Ô zugeordneten Messgröße.
34 Die Streuung (hier: Standard-Abweichung) berechnet sich als: Ô = A|Oˆ2 |A – |A|Ô|A|2 , was
hier 0 ist.
35 Diese Darstellung ist nicht eindeutig: Es gibt davon unendlich viele verschiedene.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 27
In Bezug auf |A ist der Erwartungswert dieses anderen Operators nicht identisch
mit einem seiner Eigenwerte μi (und die Streuung ist auch nicht 0):
Bislang waren die Eigenwerte eines gegebenen Operators nicht nur alle reell, son-
dern auch alle verschieden. Jedem solchen Eigenwert war genau ein Eigenvektor
zugeordnet. Dies muss nicht so sein, und wenn derselbe Eigenwert mehrfach
auftritt, ergeben sich aufschlussreiche Schwierigkeiten. Das Problem mehrfacher
Eigenwerte verdient einen eigenen Abschnitt.
Sie ist in Diagonalgestalt, also in einer Basis aus Eigenvektoren des durch sie dar-
gestellten Operators angegeben, und es stehen folglich N – nämlich 2 – reelle
Eigenwerte in ihrer Diagonalen. Im Gegensatz zum Bisherigen sind diese beiden
Eigenwerte aber nicht verschieden, was in diesem zweidimensionalen Beispiel den
ziemlich uninteressanten Fall widerspiegelt, dass durch diesen Operator, physika-
lisch interpretiert, nichts gemessen wird. Er ist mathematisch ja die Operation, bei
der jeder Vektor einfach um den Faktor 5 gestreckt wird, so dass in diesem speziellen
28 C. Friebe
Fall also jeder Vektor Eigenvektor dieses Operators ist – er differenziert daher in
keiner Weise.36
Treten dagegen in höheren Dimensionen mehrfache, aber nicht sämtlich gleiche
Eigenwerte auf – also etwa ein doppelter im dreidimensionalen Fall –, so hat dies
sehr wichtige und interessante Konsequenzen. Zunächst kann man sagen, dass ein
mehrfacher Eigenwert immer ein Hinweis darauf ist, dass der entsprechende Mess-
wert noch nicht genügend differenziell ist. Mathematisch gehört nämlich zu einem
mehrfachen Eigenwert keineswegs bloß genau ein (normierter) Eigenvektor, son-
dern vielmehr ein ganzer Eigenraum entsprechender Dimension, zu dem doppelten
Eigenwert im Dreidimensionalen also eine zweidimensionale Ebene, innerhalb de-
rer jeder Vektor Eigenvektor zu diesem doppelten Eigenwert ist. Vorausschauend
hatten wir daher zuvor formuliert, dass jeder lineare und selbstadjungierte Opera-
tor mindestens eine Basis aus Eigenvektoren hat, was wir jetzt präzisieren können:
Er hat genau eine Basis aus Eigenvektoren, wenn sämtliche seiner Eigenwerte ver-
schieden sind, und im Falle mehrfacher Eigenwerte zwar nicht beliebige, aber doch
unendlich viele verschiedene. Dieser Spielraum weist darauf hin, dass es im Fal-
le mehrfacher Eigenwerte (mindestens) noch einen weiteren, echt verschiedenen
Operator gibt, der mit dem gegebenen kommutiert, dass es folglich (mindestens)
noch eine weitere informative Messvorrichtung bzw. Messgröße gibt, die zugleich
messbar ist, und dass – in entsprechender Interpretation – das quantenphysikalische
System (mindestens) noch eine weitere Eigenschaft anderen Typs gleichzeitig hat.
Im Zweidimensionalen haben aber – abgesehen von dem Trivialfall einer gleich-
mäßigen Streckung – alle Operatoren verschiedene Eigenwerte und also jeder genau
eine Basis aus Eigenvektoren, weshalb es keinen echt verschiedenen Operator mehr
gibt, der mit einem gegebenen kommutierte, die beide also eine gemeinsame Ba-
sis aus Eigenvektoren hätten, welche ja nur die eine gemeinsame sein könnte. Und
deshalb gibt es für ein einzelnes Elektron keine zwei Spinwerte verschiedenen Typs
(d. h. in unterschiedlichen Raumrichtungen), die es zugleich haben könnte.37
Betrachten wir dagegen den ersten Anregungszustand des Wasserstoffatoms
bzw. das zweite Energieniveau des aus dem Chemieunterricht bekannten Orbital-
Modells. Wie man sich erinnert, unterscheidet man dort im Wesentlichen vier
verschiedene Zustände, nämlich ein kugelsymmetrisches s-Orbital und drei ‚Han-
teln‘, die p-Orbitale. Sie korrespondieren zunächst mit den Eigenwerten des
Bahndrehimpuls-Operators L̂2 , und zwar das s-Orbital mit dem Eigenwert 0 und
die p-Orbitale mit dem Eigenwert 1. Der Eigenwert 1 ist also dreifach; zu ihm ge-
hört also ein dreidimensionaler Eigenraum, der alle drei p-Orbitale (und noch mehr
als diese) umfasst. Es muss daher noch (mindestens) einen weiteren, gehaltvollen
Operator geben, der mit L̂2 kommutiert; uns fehlt noch eine gleichzeitig messbare
Größe, ein weiterer Messwert, der u. a. zwischen den drei p-Orbitalen differenziert.
36 Dies hat zur Konsequenz, dass in jeder physikalischen Interpretation des Formalismus zwei
Vektoren, die sich nur in ihren Längen unterscheiden, physikalisch ununterscheidbare Zustände
korrespondieren.
37 Wie gesagt: Diese letzte Formulierung ist zwar Standard, aber doch interpretationsabhängig.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 29
Sie haben eine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren, die, räumlich veranschau-
licht, genau den vier Orbitalen entsprechen. Dem quantenphysikalischen System
kommen so – in realistischer Interpretation – zugleich zwei qualitativ verschiedene
Eigenschaften zu, also etwa das Wertepaar (0, 0) für das s-Orbital oder (1, –1) für ei-
nes der p-Orbitale. Man beachte, dass ihm tatsächlich noch zwei weitere Messwerte
(Eigenschaften) zukommen, nämlich ein Energiewert, der bereits als „erster Anre-
gungszustand“ angesprochen wurde, und ein Spinwert des gebundenen Elektrons in
einer bestimmten Raumrichtung.38
Es stellt sich dann die wichtige Frage, wieviele paarweise miteinander kommu-
tierende Operatoren es bzgl. einer gegebenen Situation maximal gibt, wievie-
le Messwerte (Eigenschaften) einem bestimmten quantenphysikalischen System
sonach maximal zugleich garantiert sind. Und es ist noch wichtiger, sich immer
wieder klarzumachen, dass diese maximale Zahl in der Quantenmechanik nie-
mals alle bedeuten kann, dass es also immer noch andere Operatoren gibt, die
mit (mindestens) einem aus der betrachteten Menge maximal paarweise kommutie-
render Operatoren nicht kommutieren, dass es also immer noch (mindestens) eine
weitere Basis des Vektorraums gibt, die keine Eigenvektor-Basis der gegebenen
Operatoren ist – und dass also (gemäß Standard-Auffassung) das quantenphysi-
kalische System nicht zu jedem Eigenschaftstyp, zu dem es grundsätzlich einen
Eigenschaftswert haben kann, auch immer einen solchen hat. In diesem Beispiel
ist eine solche Größe etwa der Ort: Ein gebundenes Elektron, wie dasjenige des
Wasserstoffatoms, hat keinen bestimmten Ort!
Also: Mehrfache Eigenwerte öffnen den Weg zu gemeinsam messbaren bzw.
vorliegenden qualitativ verschiedenen Eigenschaften. Das Beispiel zeigt aber darü-
ber hinaus, dass man genau aufpassen muss: Wir hatten gesagt, dass kommutierende
Matrizen gemeinsam auf Diagonalgestalt gebracht werden können und dass die
durch sie dargestellten Operatoren folglich (mindestens) eine gemeinsame Basis
aus Eigenvektoren haben. Und ferner galt umgekehrt, dass nicht-kommutierende
Matrizen nicht gemeinsam auf Diagonalgestalt gebracht werden können und also
die durch sie dargestellten Operatoren keine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren
38 Wollte man diese Größen noch berücksichtigen, müsste man einen noch höheren als vierdimen-
haben. Man könnte daher denken, dass einerseits kommutierende Operatoren alle
ihre Eigenvektoren gemeinsam hätten, und dass andererseits nicht-kommutierende
Operatoren überhaupt keine gemeinsamen Eigenvektoren hätten. Dies gilt aber tat-
sächlich nur in dem Falle, in dem alle ihre Eigenwerte einfach sind. Mehrfache
Eigenwerte implizieren hingegen:
Projektionsoperator.
Projektionsoperatoren haben die zusätzliche Eigenschaft der „Idempotenz“, d. h.
ihre nochmalige Anwendung auf einen bereits projizierten Vektor hat keine Wir-
kung:41 P̂P̂ = P̂. Daraus folgt, dass seine einzigen Eigenwerte 1 und 0 sind: Wenn
P̂| = λ|, dann P̂P̂| = P̂(λ|) = λ2 | und also λ2 | = λ|. Diese
Eigenwerte lassen sich als Antworten auf eine Ja-Nein-Frage verstehen: Liegt ein
bestimmter Messwert (eine bestimmte Eigenschaft) vor oder nicht?
Man kann daher mit jedem Eigenwert λi eines beliebigen hermiteschen Ope-
rators Ô einen Projektionsoperator P̂λi assozieren. Ist λi ein einfacher Eigenwert,
so ist dies auch der Eigenwert 1 des entsprechenden Projektionsoperators; er
projiziert folglich auf den Eigenvektor |i zum Eigenwert λi und schreibt sich
dann: P̂λi = |i i |. Ist das quantenphysikalische System mit diesem Eigenvektor
zu assoziieren, ist der Erwartungswert dieses Projektionsoperators natürlich 1; für
jeden anderen Vektor | = i ci |i gilt:
Zwei Operatoren  und B̂ kommutieren nun genau dann, wenn die ihnen zugrun-
de gelegten Projektionsoperatoren P̂Â und P̂B̂ für alle ihre Eigenwerte paarweise
kommutieren.
Dies lässt sich auf mehrfache Eigenwerte verallgemeinern. In solch einem
Falle ist auch der Eigenwert 1 des jeweiligen Projektionsoperators mehrfach, so
dass er nicht länger auf genau einen Eigenvektor projiziert, sondern vielmehr auf
einen Eigenraum entsprechender Dimension. Nicht-trivial ist dann die Frage, wann
Projektionsoperatoren kommutieren, wenn sie auf solche mehrdimensionale Räume
projizieren. Notwendige Bedingung ist, dass der Schnitt nicht leer ist: So projiziert
der Projektionsoperator zum Eigenwert 0 von Ŝ2 auf den Singulett-Vektor, der in
der Ebene liegt, auf die der Projektionsoperator zum Eigenwert 0 von Ŝz projiziert.
Dies zeigt, dass die Kommutator-Beziehung nicht transitiv ist: Im Gegensatz zu
Ŝ2 kommutiert Ŝz mit den Einzelspin-Operatoren gleicher Raumrichtung; in seinem
Eigenraum zum Eigenwert 0 liegen auch die separierbaren Produkt-Vektoren. Hin-
reichend ist die Bedingung aber nicht: Der Singulett-Vektor liegt auch im Schnitt
der Ebenen zum Eigenwert 0 von Ŝx und Ŝy , ‚obwohl‘ sie miteinander und mit
Ŝz nicht kommutieren. Unterräume, auf die kommutierende Projektionsoperatoren
projizieren, müssen gewissen Orthogonalitätsbedingungen genügen.
42 Man beachte,dass, wie immer, der Vektor | auf Länge 1 normiert ist, so dass für seine
Komponenten i |ci |2 = 1 ist.
43 „Eindimensional“ heißen Projektionsoperatoren, die auf genau einen (normierten) Vektor
Statistischer Operator, wenn zusätzlich die „ Spur“ seiner Matrix44 1 ist. Für dessen
Eigenwerte pi gilt also
0 ≤ pi ≤ 1 und pi = 1, (1.25)
i
Für den Fall, bei dem alle pi bis auf eines 0 sind, wird der Statistische Operator
zu dem entsprechenden Projektionsoperator, so dass eindimensionale Projektions-
operatoren spezielle Statistische Operatoren sind. Dies legt die Deutung nahe, dass
Statistische Operatoren mit dem ‚Zustand‘ des quantenphysikalischen Systems kor-
reliert sind, im speziellen Fall mit einem „ reinen“ Zustand und allgemein mit einem
„gemischten“. Auch lässt sich der Erwartungswert eines Operators Ô in Bezug auf
einen reinen Zustand (vgl. Gl. 1.20):45
Die damit nahegelegte Annäherung von reinen und gemischten Zuständen ist aber
problematisch; jedenfalls steht sie in einer Spannung zur Standard-Deutung ei-
nes Operators als einer Messgröße: Demnach nämlich stellt auch der Statistische
Operator eine Messgröße bzw. eine Messvorrichtung dar, mit seinen Eigenwerten
als möglichen resultierenden Messwerten. Vor allem aber ist zu beachten, dass
im Gegensatz zu einem reinen Zustand, der mit dem Eigenvektor des entspre-
chenden Projektionsoperators zu dessen (einfachem) Eigenwert 1 korreliert ist,
einem gemischten Zustand kein Vektor im Hilbertraum entspricht. So ist etwa im
Zweidimensionalen – mit den Eigenvektoren |up und |down eines bestimmten
Spin-Operators – der sogenannte gemischte Zustand
44 Die Spur einer Matrix ist die Summe ihrer Diagonalelemente. Sie ist invariant unter Basistrans-
formationen, so dass bei einer Basis aus Eigenvektoren die Spur gerade die Summe der Eigenwerte
ist.
i λi |i i |
45 Mit Gleichung 1.24 gilt: Ô =
34 C. Friebe
1 1
|upup| + |downdown|
ρ̂ = (1.29)
2 2
nicht zu verwechseln mit der Superposition von Spin-up und Spin-down
1 1
| = √ |up + √ |down, (1.30)
2 2
46 Zur Diskussion dieser Problematik vgl. insbesondere van Fraassen (1991 S. 157ff. und 206/7).
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 35
Macht man sich nun auf die Suche nach der mathematischen Operation, mittels
derer im Hilbertraum die Dynamik quantenphysikalischer Systeme zu beschreiben
ist, wird man offenbar fordern müssen, dass alle bislang dargelegten Beziehungen –
etwa die zwischen einem hermiteschen Operator und seinen Eigenvektoren – durch
die Zeitentwicklung unberührt bleiben. Man fordert daher insbesondere, dass Ortho-
normalbasen weiterhin Orthonormalbasen seien, dass allgemein das Skalarprodukt
zweier Vektoren invariant bleibe, anschaulich also die Längen von Vektoren und
die Winkel zwischen ihnen. Operatoren, die das Skalarprodukt erhalten, ‚bewirken‘
(imaginäre) Rotationen und heißen „unitär“. Mathematisch ist ein unitärer Operator
Û durch
Û ∗ Û = 1̂ (1.31)
d
i |(t) = Ĥ|(t) (1.34)
dt
Diese Schrödinger-Gleichung ist bei gegebenem Anfangswert |(0) mathema-
tisch eindeutig lösbar und – bei Berücksichtigung der komplexen Konjugation –
invariant gegen die Umkehr der Zeitrichtung (t → –t). Sie ist daher determinis-
tisch und zeitreversibel, ganz genau so wie die Grundgleichungen der klassischen
Physik, also der Newtonschen Mechanik und der Maxwellschen Elektrodynamik.
Es mag daher erstaunen, dass sie in unserer Darstellung – und im Gegensatz zu
vielen einführenden Physiklehrbüchern – nicht im Zentrum der Theorie bzw. des
mathematischen Formalismus der Quantenmechanik steht. In der Tat ist hier viel-
mehr die Kommutator-Beziehung hermitescher Operatoren – [Â, B̂] = Â · B̂ – B̂ · Â –
47 In der Bra-Ket-Schreibweise ist Ô∗ immer der Operator, der nach links ‚wirkt‘, so dass im
unitären Fall gilt: |Û ∗ Û| = | – wie erwünscht.
48 Die komplexe Exponentialfunktion ist periodisch, so dass Û analog einer Drehmatrix ist. ist
ins Zentrum gestellt worden, und dies zu Recht: Denn man muss ja bedenken,
dass der unitäre Zeitentwicklungs-Operator nicht selbstadjungiert ist (nur Ĥ im Ex-
ponenten von Û ist selbstadjungiert). Ebenso wie die angeführte Drehmatrix im
dreidimensionalen Anschauungsraum (vgl. Gl./Matrix 1.6) hat auch diese Drehung
im Komplexen im Allgemeinen nicht maximal viele und zuweilen keine reellen
Eigenwerte. Dem Zeitentwicklungs-Operator entspricht daher keine Messvorrich-
tung bzw. keine Messgröße; man kann die damit beschriebene Zeitentwicklung des
quantenphysikalischen Systems nicht direkt beobachten. Vielleicht findet sie auch
gar nur im abstrakten Hilbertraum statt – was immer das heißen mag, und obwohl
sie Auswirkungen hat auf die Wahrscheinlichkeiten der Messausgänge.
Eine direkt beobachtbare zeitliche Dynamik des quantenmechanischen Systems
findet vielmehr höchstens bei den sogenannten Messungen statt. Eine Messung
aber, die häufig eine „zweite Dynamik“ genannt wird, wird durch den Forma-
lismus der Quantenmechanik (zunächst) nicht beschrieben – was der Grund für
das notorische Messproblem der Quantenphysik ist, das uns im weiteren Verlauf
noch häufig beschäftigen wird. Inzwischen vertreten sogar viele die (umstritte-
ne) Auffassung, dass man besser ohne eine solche zweite, mathematisch letztlich
nicht erfassbare Dynamik auskommen solle, dass es also überhaupt gar keine be-
sondere Messung gebe (z. B. die Physiker Ghirardi, Rimini und Weber, vgl. hier
Abschn. 2.4). An dieser Stelle jedenfalls lässt sich festhalten: Die mathematisch
beschreibbare zeitliche Entwicklung eines quantenmechanischen Systems ist nicht
direkt beobachtbar, und die direkt beobachtbare Dynamik bei einer Messung ist
mathematisch nicht beschreibbar – eine Herausforderung für die Interpretation der
Quantenmechanik!
bewegen; ihre ‚Bewegung‘ im Raum sei unstetig, sprunghaft, wenn sie überhaupt
noch als etwas Bewegtes gelten könnten.49
Mathematisch sind Orts- und Impulsoperatoren noch aus einem anderen Grund
problematisch: Geht man nämlich vor wie bislang, dann müsste doch für den Orts-
operator Q̂ – und Analoges für den Impulsoperator P̂50 – die Eigenwert-Gleichung
gelten, wobei mit „x“ die möglichen Ortskoordinaten des Teilchens bezeichnet sei-
en. Im Gegensatz zum Bisherigen nehmen hier die Eigenwerte aber alle reellen
Zahlen an. Während die Eigenwerte selbstadjungierter Operatoren bislang bloß end-
lich viele oder höchstens abzählbar viele waren – was der Idee der ‚Quantensprünge‘
entsprach –, sind die Eigenwerte des Ortsoperators kontinuierlich – was dem
anschaulichen Kontinuum des Raumes entspricht.51 Das bedeutet jedoch, dass sei-
ne Basis aus Eigenvektoren ebenso kontinuierlich ist, was allemal unanschaulich
macht, sie als Orthonormalbasis zu verstehen. Doch auch mathematisch-präzise be-
reiten solche Eigenvektoren Probleme: Wie man sich erinnert, hat ein Eigenvektor,
dargestellt in ‚seiner eigenen‘ Eigenvektor-Basis, die Gestalt eines (möglicherwei-
se unendlich langen) Spaltenvektors, bei dem alle Einträge bis auf einen 0 sind
und diese eine Komponente 1. Geht man nun über ins Kontinuierliche, entsteht ei-
ne ‚Funktion‘, deren Wert überall 0 ist, bis auf eine Stelle, an der sie unendlich
wird – was recht eigentlich keine wohlgeformte Funktion mehr ist.52 Und tatsäch-
lich ist der Hilbertraum der Quantenmechanik beschränkt und separabel, was, kurz
gesagt, bedeutet, dass weder solche Operatoren noch solche Eigenvektoren in ihm
vorkommen: Er ist von höchstens abzählbar unendlicher Dimension.
Solche Bedenken außer Betracht, fährt man in der Regel so fort, dass man
die Darstellung eines beliebigen Vektors | bezüglicheiner diskreten Basis von
Eigenvektoren irgendeines Operators – nämlich | = i ci |i – ins Kontinuier-
liche verallgemeinert, also von der Summe zum Integral und zu kontinuierlichen
Entwicklungskoeffizienten übergeht:
|(x) = ψ(x )δ(x – x )dx (1.36)
mente man zählen kann, die also nicht größer sind als die unendliche Menge der natürlichen
Zahlen, wie noch die Menge der rationalen Zahlen, von solchen, bei denen das nicht mehr mög-
lich sind, die also größer, mächtiger sind, wie etwa die reellen Zahlen. Ein Kontinuum bildet eine
Punktmenge dann, wenn sie überabzählbar unendlich und darüber hinaus noch dicht ist. Näheres
dazu in einschlägigen Lehrbüchern der Analysis.
52 In der Physik nennt man solche Gebilde „δ-Funktionen“.
38 C. Friebe
Dies ist die „Ortsdarstellung“ eines Vektors aus dem Hilbertraum, also seine wohl
konkreteste Darstellung, bezüglich der Eigenvektor-Basis des Ortsoperators.53 Sie
entspricht der Wellenfunktion der Schrödingerschen Wellenmechanik.
In Ortsdarstellung ‚wirkt‘ der Ortsoperator einfach wie die Multiplikation mit
reellen Zahlen, den Ortskoordinaten: Q̂ = x, und der Impulsoperator wie ei-
∂
ne Ableitung nach dem Ort:54 P̂ = –i ∂x . Es gilt dann die ja basisunabhängige
Kommutatorbeziehung 55
woraus sich die Heisenbergsche Unschärferelation zwischen Ort und Impuls ergibt:
x · px ≥ /2 (1.38)
Sie drückt eine Relation der Streuungen von Messwerten für Ort und Impuls aus,
woraus (nach Standard-Interpretation) wiederum folgt, dass Quantenobjekte sich
nicht im üblichen Sinn auf Bahnen bewegen.
2 ∂ 2
Mit Êkin = –( 2m ) ∂x2 und Êpot = V(x) folgt allgemein für die Zeitentwicklung56
∂ 2 ∂ 2
i ψ(x, t) = –( ) 2 ψ(x, t) + V(x)ψ(x, t), (1.39)
∂t 2m ∂x
53 Man beachte, dass der ‚Ortsraum‘ nur beim Einzelsystem dem dreidimensionalen Anschauungs-
raum entspricht. Im Mehrteilchen-Fall operieren wir dagegen – entsprechend der Teilchenzahl N –
im 3N-dimensionalen Konfigurationsraum, der so anschaulich nun auch wieder nicht ist. Es bleibt
(vorerst) dabei: Nur die Eigenwerte (hier: des Ortsoperators) entsprechen realen Messwerten bzw.
realen Eigenschaften realer quantenphysikalischer Systeme.
54 In Ortsdarstellung stellen die Eigenvektoren des Impulsoperators demnach, d. h. nach kurzer
Rechnung, ebene Wellen dar, was anschaulich einer räumlich vollständigen Delokalisierung des
Teilchens bei exaktem Impulswert entsprechen könnte.
55 In Ortsdarstellung ergibt sie sich wegen [x, –i d ]f (x) = –i(xf (x) – d (xf (x)) = if (x).
dx dx
56 Es gilt weiterhin Ĥ = Ê + Ê , wobei hier V(x) ein nur vom Ort abhängiges Potenzial ist – wie
kin pot
etwa das Coulomb-Potenzial beim Wasserstoffatom – und m die Masse des Teilchens.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 39
Kriterium der Wiederholbarkeit einer Messung. Darüber hinaus macht es aber auch
die philosophisch weit verbreitete Vorstellung der Persistenz, der zeitüberdauernden
Identität, solcher Objekte fraglich: Es scheint, als seien sie nicht wiedererkennbar
und also wohl gar nicht beharrlich, wie Kant sagen würde, nämlich kein zeitlich
Identisches, an dem Ortskoordinaten und andere Eigenschaften wechseln könnten.
Die Zeitentwicklung eines quantenphysikalischen Systems erweist sich erneut als
in hohem Maße interpretationsbedürftig.
Aber damit sind wir nun endgültig in die philosophische Deutungsdebatte ein-
gestiegen, und viele andere Interpretationsprobleme hatten sich im Laufe dieser
mathematischen Einführung ja bereits angedeutet, so dass es nun an der Zeit ist
für ein erstes Kapitel zu den Interpretationen der Quantenmechanik.
Übungsaufgaben zu Kap. 1
1. Niels Bohr führte zur Deutung der Quantenmechanik den Begriff „Komple-
mentarität“ ein. Unterscheiden Sie zwei Lesarten, wie man ihn verstehen
kann.
2. Bei aufeinanderfolgenden Spinmessungen wurden zuletzt vermeintlich zwei Ef-
fekte unterschieden, die durch das Mischen der Teilchen wieder rückgängig
gemacht werden könnten. Beschreiben Sie zunächst diese beiden vorgeblichen
Effekte und erläutern Sie anschließend, warum es sich dabei tatsächlich nur um
einen einzigen handelt. Was kann man daraus folgern?
3. Betrachten Sie die Erwartungswerte von Operatoren in Abhängigkeit davon, ob
das physikalische System durch einen Eigenvektor des gewählten Operators dar-
gestellt wird oder nicht. Berechnen Sie die Erwartungswerte der zuvor gegebenen
Spin-Operatoren bzgl. der (dort dargestellten) verschiedenen Vektoren. Erläu-
tern Sie die Ergebnisse anhand der Abbildungen zur Wiederholungs- und zur
Zerstörungsmessung.
4. Was besagt von Neumanns Projektionspostulat? Erläutern Sie insbesondere, in-
wiefern dieses Postulat über das hinausgeht, was in Bezug auf Erwartungswerte
als unstrittig festgehalten wurde.
5. Im Gegensatz zur Alltagsmeinung, zu vielen philosophischen Denkrich-
tungen, aber auch zu physikalischen Alternativen (z. B. GRW, Bohm) steht der
(Anschauungs-)Raum nicht im Zentrum der Standard-Quantenmechanik. Dis-
kutieren Sie diese These zunächst nicht-formal und anschließend anhand der
mathematischen Besonderheiten des Ortsoperators.
Literatur zu Kap. 1
Albert, David Z. (1992). Quantum Mechanics and Experience. Cambridge MA: Harvard Univer-
sity Press.
Aristoteles. Physik. Bücher V-VIII, hrsg. und übersetzt v. H. G. Zekl, (1988). Hamburg: Meiner.
40 C. Friebe
van Fraassen, Bas C. (1991). Quantum Mechanics. An Empiricist View. Oxford: Clarendon Press.
Kant, Immanuel (1781/87). Kritik der reinen Vernunft. Zit. nach A- und B-Auflage.
Mellor, Hugh D. (1998). Real Time II. London: Routledge.
Nortmann, Ulrich (2008). Unscharfe Welt? Was Philosophen über Quantenmechanik wissen
möchten. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
von Neumann, John (1932). Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik. Berlin: Springer
(Reprint 1968).
Räsch, Thoralf (2011). Mathematik der Physik für Dummies. Weinheim: Wiley-VCH.
Messproblem, Minimal- und
Kollapsinterpretationen 2
Cord Friebe
Inhaltsverzeichnis
2.1 Minimalinterpretation ..................................................................................... 42
2.2 Ensemble-Interpretation und Kopenhagener Deutung ............................................ 46
2.3 Messproblem und Dekohärenz.......................................................................... 57
2.4 Realistische Kollaps-Deutung: GRW.................................................................. 66
Übungsaufgaben zu Kap. 2 ...................................................................................... 73
Literatur zu Kap. 2 ................................................................................................. 73
Nicht erst in der Philosophie, sondern bereits in der Physik wird interpretiert.
Mathematische Formalismen wie jener, der im vorhergehenden Kapitel in seinen
Grundzügen präsentiert wurde, sind als solche selbst bloß abstrakt, sagen also
für sich betrachtet noch nichts über die konkrete Wirklichkeit aus. Es bedarf ei-
ner Interpretation, zunächst in dem Sinne, dass den mathematischen Symbolen und
Operationen Elemente in der Realität zugeordnet werden. Während aber in der klas-
sischen Physik – in der Newtonschen Mechanik ebenso wie in der Maxwellschen
Elektrodynamik – eine solche Interpretation im Grunde auf der Hand lag, tauchen
im Fall der Quantenmechanik von Beginn an erhebliche Schwierigkeiten auf: Der
Hilbertraum ist im Gegensatz etwa zum sogenannten Phasenraum der klassischen
Mechanik ein so abstrakter Vektorraum, dass dessen Vektoren und Operatoren nicht
automatisch etwas in der Welt zugeordnet werden kann. Es gibt in der Quanten-
mechanik einen größeren Interpretationsspielraum als in der klassischen Physik: ein
Spektrum, das weit reicht; von solchen Deutungen, die sich sehr nah am üblichen,
von Neumannschen Formalismus halten, bis zu Interpretationen, deren Eingriffe in
den mathematischen Apparat durchaus gravierend sind.
Geht man systematisch vor, so sollte man mit einer Interpretation begin-
nen, auf die sich noch alle einigen könnten: mit einer instrumentalistischen
C. Friebe ()
Philosophisches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland
e-mail: cgf88@hotmail.com
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 41
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_2
42 C. Friebe
2.1 Minimalinterpretation
Werfen wir zunächst einen Blick zurück auf die klassische Mechanik: Wir ha-
ben N Teilchen mit je 3 scharf bestimmbaren und vorliegenden Komponenten
1 Für Überblicke zur Interpretationslage vgl. Stöckler (2007) und Esfeld (2012).
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 43
von Ort und Impuls. Hierzu liefert die klassische Mechanik den „Zustandsraum“,
nämlich eben den Phasenraum der Dimension 6N; eine Punktmenge, deren Ele-
mente (q, p) direkt als die Orte und Impulse der Teilchen gedeutet werden können.
Zwischen den Teilchen wirken irgendwelche Kräfte, die Beschleunigungen erzeu-
gen, und sie haben Eigenschaften wie beispielsweise eine bestimmte kinetische
Energie oder einen bestimmten Drehimpuls. All dies hat ein naheliegendes mathe-
matisches Korrelat: Funktionen, die den Punkten des Phasenraums – also den Orten
und Impulsen – reelle Zahlen zuordnen, entsprechen den Messgrößen, und den
Funktionswerten – den zugeordneten reellen Zahlen – entsprechen die jeweiligen
Messwerte, die sogleich als Eigenschaften des physikalischen Systems aufgefasst
werden. So gibt etwa für ein einzelnes freies Teilchen die Funktion f ( ) = 2m
q, p 1
|
p|2
dessen kinetische Energie an. Im Allgemeinen gelten zwischen den Funktionen be-
stimmte Beziehungen, so insbesondere die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen,
die der bekannten Newtonschen Bewegungsgleichung F = ma äquivalent sind.
Wie eingangs ausgeführt, behandelt die Philosophie historisch wie systematisch
selbstverständlich auch klassische Objekte; Probleme der Persistenz, der Kausali-
tät, etc. sind nicht erst solche bezüglich quantenphysikalischer Systeme. Dasjenige
Interpretationsproblem aber, den mathematischen Symbolen überhaupt erst einmal
Realitätsbezug zu verleihen, ist klassisch ganz leicht zu lösen, so dass darüber keine
philosophischen Diskussionen entstanden sind.
Ganz anders in der Quantenmechanik: Ihr Zustandsraum, der Hilbertraum, ist
erheblich abstrakter als der Phasenraum; seinen Vektoren und Operatoren entspre-
chen nicht so einfach Elementen der physikalischen Realität. Zwar könnte man
meinen, dass etwa der Vektor |upx auf ein physikalisches System (Teilchen) ver-
weise, das die Eigenschaft Spin-up in x-Richtung hat. Doch wie wir wissen, lässt
sich jeder solche Vektor auf unendlich viele Weisen als Linearkombination ande-
rer Vektoren darstellen – was aber spiegelt eine solche Darstellung wider? Hat das
Teilchen etwa nicht nur die Eigenschaft Spin-up in x-Richtung, sondern darüber
hinaus irgendwie geartete Überlagerungen zahlreicher anderer Spinwerte? Sollen
wir solche Superpositionen tatsächlich realistisch deuten? Nicht jede mathematische
Operation in diesem Vektorraum hat automatisch auch ein reales Korrelat! Ferner
sollte konsequenterweise ein Teilchen mit der Eigenschaft Spin-up in y-Richtung
durch den Vektor |upy dargestellt werden, und eine Messung des Spins in y-
Richtung – welche ja den Spinwert in x-Richtung zerstört – sollte den Wechsel der
Spinwerte bewirken. Was aber entspricht mathematisch diesem Übergang? Brau-
chen wir etwa einen Operator, der in 50 % der Fälle |upx auf |upy abbildet (und in
den anderen 50 % auf |downy ; Spin-down in y-Richtung)? Einen solchen Operator
gibt es offenbar nicht. Nicht jeder Vorgang in der Wirklichkeit scheint mathematisch
repräsentiert zu sein!
Im einführenden Kapitel ist aber deutlich geworden, worauf sich offenbar al-
le einigen können: Die reellen Eigenwerte hermitescher Operatoren stellen wohl
unstrittigerweise die Messwerte dar, wobei unter „Messwerten“ hier zunächst nur
so etwas wie Zeigerstellungen makroskopischer Messgeräte gemeint sein sollen
und nicht sogleich Eigenschaften quantenmechanischer Mikrosysteme, was bereits
wieder umstritten wäre. Die Operatoren, deren Eigenwerte Messwerte darstellen,
44 C. Friebe
sind entsprechend das mathematische Korrelat der Messgrößen, wobei unter „Mess-
größen“ ebenfalls zunächst bloß makroskopische Messvorrichtungen wie etwa
Stern-Gerlach-Apparaturen verstanden werden sollen und nicht sogleich Eigen-
schaftsarten mikroskopischer Systeme wie etwa deren Spin in bestimmter Raum-
richtung. Mit dieser Deutung ist eine erhebliche Einschränkung verbunden: Im
Hilbertraum gibt es nämlich viel mehr Operatoren als solche, die Messgrößen ent-
sprechen können. Es gibt nicht-selbstadjungierte Operatoren, deren Eigenwerte,
wenn sie überhaupt welche haben, nicht alle reell sind, also keine Messwerte dar-
stellen können. Und es gibt sogar nicht-lineare Operatoren, denen physikalisch
erst recht nichts entspricht. Solche mathematische Objekte kommen im Hilbert-
raum zwar vor, repräsentieren physikalisch aber nichts – nach Meinung wohl
aller PhysikerInnen. Vor diesem Hintergrund ist es bereits eine starke These, dass
nun aber alle hermiteschen Operatoren irgendwelche Messvorrichtungen darstellen;
selbst dann, wenn man konkret gar nicht weiß, wie ein theoretisch vorgegebe-
ner Operator in der Praxis zu realisieren wäre.2 Nehmen wir nun aber einmal
an, ein bestimmter hermitescher Operator repräsentiere eine realisierbare Mess-
vorrichtung, so zeigen alle seine Eigenwerte physikalisch-mögliche Messwerte
(Zeigerstellungen) an.
Eine weitere Einschränkung ergibt sich sogleich im Anschluss: Der Eigenwert-
Gleichung Ô| = λ| entspricht ebenfalls kein physikalischer Vorgang; sie
dient lediglich der Berechnung der Eigenwerte und der Eigenvektoren. Dies ist
bemerkenswert, da man ja denken könnte, sie repräsentiere mathematisch den
Messvorgang, bei dem sich einer dieser Eigenwerte als Messwert einstellt. Das
kann aber nicht sein: Wenn Operatoren auf Vektoren im Hilbertraum ‚angewendet‘
werden – wie eben z. B. in der Eigenwert-Gleichung –, so bedeutet das in aller Regel
(nämlich vielleicht mit Ausnahme der Anwendung des unitären Zeitentwicklungs-
Operators; vgl. Abschn. 1.2.4) nicht, dass damit irgendein realer physikalischer
Vorgang beschrieben würde. Betrachten wir beispielsweise die folgende Operation:
0 –i 1 0
=i (2.1)
i 0 0 1
Sie ist in der Eigenvektor-Basis von Ŝy die Darstellung von Ŝx |upy = i|downy .
Der Operator der Messgröße des Spins in x-Richtung wird also angewendet auf den
Eigenvektor zum Eigenwert Spin-up in y-Richtung und bildet diesen auf den Eigen-
vektor zum gegensätzlichen Eigenwert Spin-down in y-Richtung ab. Sollte dies
etwa bedeuten, dass die Stern-Gerlach-Apparatur in x-Richtung bei einem quan-
tenphysikalischen System den Spinflip von Spin-up (in y-Richtung) zu Spin-down
(in y-Richtung) bewirkt? Doch wohl nicht: Sie bewirkt vielmehr, dass das System
entweder Spin-up oder Spin-down in x-Richtung zeigt!
Hermitesche Operatoren entsprechen daher lediglich Messgrößen oder Mess-
vorrichtungen, ihr Operieren im Hilbertraum stellt aber keinen Messvorgang in der
Dies ist die Verallgemeinerung einer Interpretation, die der Physiker Max Born der
Wellenfunktion, d. h. dem Vektor | in Ortsdarstellung, gegeben hat. Dort sah
man noch, dass es sich hierbei tatsächlich um eine Festlegung handelt und nicht
um etwas, das man dem Formalismus einfach ansehen könnte. Denn die Funk-
tion (x, t) war ursprünglich – beispielsweise von Erwin Schrödinger selbst – als
delokalisierte Masse- oder Ladungsdichte verstanden worden, was sich aber et-
wa für Mehrteilchen-Systeme als problematisch erwies, da die Funktion eigentlich
kein Feld im dreidimensionalen Anschauungsraum beschreibt, sondern eines im
abstrakten, allgemein höherdimensionalen Konfigurationsraum.4 Durchgesetzt hat
sich dann (vorerst) Borns Deutung der Funktion als Wahrscheinlichkeitsdichte mit
|(x, t)|2 als der Wahrscheinlichkeit, bei einer Ortsmessung zur Zeit t das Teil-
chen am Ort x zu messen. Verallgemeinert kann man nun sagen, dass wenn das
quantenphysikalische System zur Zeit t durch den Vektor | dargestellt wird, ei-
ne zeitlich-unmittelbar anschließende Messung von Ô mit der Wahrscheinlichkeit
|ci |2 den Messwert λi ergibt. In dem speziellen Fall, dass das System schon vor
der Messung durch den entsprechenden Eigenvektor |i repräsentiert ist, wird λi
mit Sicherheit gemessen, und für jeden anderen Eigenvektor von Ô ist die Mess-
wahrscheinlichkeit für dieses λi null – wie zu erwarten. Ist das System hingegen
durch eine Superposition der Eigenvektoren von Ô beschrieben, so ist die Wahr-
scheinlichkeit für jeden Eigenwert von Ô weder 0 noch 1, sondern ein präziser Wert
dazwischen, so dass die Messwerte streuen. Soweit gibt die Bornsche Regel also
Wesentliches des allgemeinen Verständnisses des mathematischen Formalismus der
Quantenmechanik wieder.
Die angegebene Gleichung gestattet aber wohlgemerkt – wie analog zuvor
die Eigenwert-Gleichung – zunächst lediglich die Berechnung der Messwahr-
scheinlichkeit. Sie spiegelt daher keineswegs den realen Vorgang wider, dass das
physikalische System von dem einen (Ausgangs-)Zustand | auf den anderen
(End-)Zustand |i projiziert würde. Im Gegensatz zur Eigenwert-Gleichung, die
3 Wie in Abschn. 1.2.4 bereits gesagt, ist die Messwahrscheinlichkeit identisch mit dem Er-
wartungswert des entsprechenden Projektionsoperators. Man sah dort ebenfalls, wie dies auf
gemischte Zustände zu verallgemeinern ist.
4 Zur Diskussion vgl. die historischen Artikel, gesammelt in Baumann und Sexl (1984).
46 C. Friebe
in keiner Interpretation einen realen Vorgang wiedergibt, ist man an dieser Stelle
jedoch immer wieder in der Versuchung, die geometrische Projektion des einen Vek-
tors auf den anderen als Kollaps des quantenphysikalischen Systems zu deuten. Man
will – über die Bornsche Regel hinaus – auch noch sagen, dass wenn umgekehrt ein
bestimmter Eigenwert eines bestimmten Operators tatsächlich5 gemessen wurde,
das System zeitlich-anschließend mit dem entsprechenden Eigenvektor korreliert
ist. Die hier vorgestellte Minimalinterpretation ist aber diesbezüglich agnostisch;
für sie haben die Vektoren des Hilbertraums lediglich operationalistische Bedeu-
tung als Rechengrößen. Um die Bornsche Regel anwenden zu können, muss man
ja den adäquaten Vektor, wie er zeitlich-unmittelbar vor der Messung ‚vorliegen‘
soll, kennen, und so rechnet man, der Einfachheit halber, nach einer vorhergehen-
den Messung mit dem ‚zugehörigen‘ Eigenvektor weiter, der sich zwischen den
i
Messungen gemäß der unitären Zeitentwicklung |t = e– tĤ |0 verhält.
Doch dies sind bloß Rechenvorgänge, die nicht so verstanden werden müssen,
als beschrieben sie reale Prozesse. Real sind (vielleicht: lediglich) makroskopische
Messvorrichtungen und Messwerte sowie Messwahrscheinlichkeiten: eine Auffas-
sung, die der überragenden Mehrheit allzu minimalistisch vorkommt. Insbesondere
sagt eine solche Minimalinterpretation noch gar nichts darüber, welchen Status denn
die Messwahrscheinlichkeiten eigentlich haben: Ist damit lediglich ein subjekti-
ves Unwissen ausgedrückt? Oder sind damit objektive Tatsachen gemeint, relative
Häufigkeiten etwa oder objektive Tendenzen als dispositionale Eigenschaften des
quantenphysikalischen Systems selbst? Sich hierzu festzulegen, heißt, über diese
Minimalinterpretation hinauszugehen.
Die erste Stufe der Interpretation des mathematischen Formalismus stellt die Ver-
bindung mit der Erfahrung soweit her, wie sie im Alltag der Physik im Labor oder
am Teilchenbeschleuniger benötigt wird. Die Bornsche Regel gestattet dabei die
präzise Vorhersage, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei realen, makroskopischen
Messungen bestimmte Messausgänge zu erwarten sind. Dass sich die Minimalinter-
pretation ausschließlich über makroskopische, der Erfahrung direkt zugängliche
Entitäten wie Messvorrichtungen, sogenannte Teilchenspuren in Nebelkammern,
geschwärzte Photoplatten etc. äußert, mag völlig genügen, wenn man als Aufgabe
einer empirischen Theorie wie der Physik lediglich verlangt, dass sie zu empi-
risch überprüfbaren Vorhersagen in der Lage ist. Der Naturphilosophie reicht dies
alleine nicht, und auch die meisten PhysikerInnen möchten sich darüber hinaus
eine Vorstellung davon machen, was hinter diesen Messausgängen steckt, wie al-
so die Mikrowelt beschaffen ist, die solche Wirkungen erzeugt. Im Gegensatz zur
|i ||2 ist die Wahrscheinlichkeit, bei einer Messung von Ô den Messwert λi zu
erhalten, gegeben, das System ist mit dem Vektor | korreliert.
Es stellt sich dann die Frage, ob der Bezug auf eine Messung an dieser Stelle
wirklich wesentlich ist oder nicht. Falls nicht, lautet die Bornsche Regel einfach:
|i ||2 ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ô den Wert λi hat, gegeben, das System
ist mit | korreliert.
Diese Formulierung legt nahe, dass das mikroskopische Quantensystem eine dem
Eigenwert λi korrespondierende Eigenschaft hat – und zwar unabhängig davon, ob
gemessen wird, und insbesondere unabhängig von einem menschlichen Beobachter.
Entsprechend drückt der Wahrscheinlichkeitsbegriff ein subjektives Unwissen aus,
und folglich ist die Quantenmechanik in ihrer bislang dargelegten Gestalt unvoll-
ständig. Denn nur in dem Falle, bei dem das System bereits mit einem Eigenvektor
von Ô korreliert ist, können wir mit Sicherheit sagen, welche Eigenschaft das Quan-
tensystem tatsächlich hat. Nur dann nämlich ist der Erwartungswert des gegebenen
Operators streuungsfrei und i |Ô|i = λi . In allen anderen Fällen bleibt das
Epistemische unvermeidlich hinter dem Ontologischen zurück.
Betrachten wir dazu erneut unser Beispiel in Abb. 1.11, also die Winkelhalbie-
rende(n) eines zweidimensionalen Koordinatensystems, das durch die Eigenvekto-
ren des Operators Ŝx erzeugt werde. Sie selbst seien dann Eigenvektoren des mit
Ŝx nicht kommutierenden Operators Ŝy , also der Messvorrichtung bzw. des Spins in
y-Richtung. Nehmen wir nun an, das System sei mit einem dieser Eigenvektoren
von Ŝy korreliert – woher auch immer wir das wissen –, so folgt, dass sein Zustand
bezüglich der Eigenvektoren und Eigenwerte von Ŝx superponiert. Das Skalarpro-
dukt (bzw. dessen Betragsquadrat) von einem Eigenvektor |up/downy mit einem
Eigenvektor |up/downx ist jeweils 12 , so dass nach der Bornschen Regel die Wahr-
scheinlichkeit dafür, dass das System die Eigenschaft hat, die einem Eigenwert von
Ŝx entspricht – also Spin-up oder Spin-down in x-Richtung –, jeweils 50 % beträgt.
Da nun im Hilbertraum kein Eigenvektor von Ŝy mit einem Eigenvektor von Ŝx zu-
sammenfällt, ist im Rahmen dieses Formalismus kein solcher Vektor denkbar, der
mit dem System so korreliert wäre, dass wir die Messwerte beider Messgrößen mit
Sicherheit vorhersagen könnten. Mit anderen Worten: Das mikroskopische Quan-
tensystem hätte unter der Annahme, dass in der Bornschen Regel der Ausdruck
„Messung“ nichts Wesentliches hinzufügt, mehr Eigenschaften, als mit den Mitteln
des mathematischen Formalismus mit Sicherheit prognostiziert werden könnten.
Ontologisch – in dem Sinne, dass reale Eigenschaften in der Welt vorliegen – lä-
ge mehr vor, als epistemisch mit Hilfe der Vektoren im Hilbertraum bestimmbar
ist. Die Quantenmechanik wäre unvollständig. Dies ist das Motiv einiger Physiker-
48 C. Friebe
6 Man beachte aber, dass in der Bohmschen Mechanik nur die Teilchenorte als zusätzliche Eigen-
schaften eingeführt werden und nicht etwa lokale Spin-Werte der Teilchen, wie man hier noch
denken könnte.
7 nämlich in das Potenzial V(x) in Ĥ = –( 2 ) ∂ 2 + V(x)
2m ∂x2
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 49
woraus eben nicht nur folgt, dass Teilchen wie Elektronen sich nicht längs Bahnen
bewegen, wie klassisch anzunehmen wäre, sondern insbesondere noch, dass nach ei-
ner präzisen Ortsmessung – aufgrund der dann extrem streuenden Impulswerte – die
korrelierte Wellenfunktion (d. h. der entsprechende Eigenvektor in Ortsdarstellung)
extrem schnell zerfließt: Jede unmittelbar, sogar zeitlich-unmittelbar, anschließen-
de Ortsmessung führt dann nicht mit Sicherheit zum selben (oder benachbarten)
Ortswert wie zuvor. Es gibt sogar – wenn auch sehr kleine – Wahrscheinlichkeiten
dafür, das Teilchen anschließend weit entfernt zu detektieren. Die Ortsmessung ist
also prinzipiell nicht wiederholbar.
Dann aber gibt es anscheinend kein Kriterium dafür, was physikalisch eine Mes-
sung auszeichnet. Der Quantenmechanik-Begriff der Messung verlangt offenbar
einen eigentümlichen Bezug auf ein (nicht-physikalisches) beobachtendes Subjekt
(vgl. Held 2012, S. 77). Nur ein solches Subjekt, das Zeigerstellungen und der-
gleichen auch registriert, ermöglicht anscheinend, den Messvorgang von anderen
Wechselwirkungen zuverlässig zu unterscheiden. Die objektivierende Physik käme
somit an eine für sie unüberwindliche Grenze, was viele als äußerst unbefriedigend
ansehen. Wie dem auch sei: Im Hilbertraum jedenfalls kommt ein solcher Messvor-
gang nicht vor, so dass jede Interpretation, die den Bezug auf eine Messung in der
Bornschen Regel für wesentlich ansieht, eine zusätzliche und erstmals indeterminis-
tische Dynamik annehmen muss, die durch die Standard-Quantenmechanik letztlich
nicht beschrieben wird.
2.2.1 Ensemble-Interpretation
Noch harmlos scheint all dies zu sein, wenn man die realistische Interpretation
nicht auf das individuelle System, sondern auf hinreichend viele solcher Sys-
teme bezieht, wie gemäß der Ensemble-Interpretation.8 Auch auf diese Deutung
könnten sich die meisten PhysikerInnen noch einigen. Sie geht über die Mini-
malinterpretation insbesondere in der Hinsicht hinaus, dass auch sie – ebenso
wie die angesprochene Bohmsche Variante – dem Begriff der Wahrscheinlichkeit,
wie er in der Bornschen Regel auftritt, eine bestimmte Deutung gibt. Während
aber nach Bohm die Standard-Quantenmechanik unvollständig ist, in der Welt
also mehr Eigenschaften quantenphysikalischer Systeme vorliegen, als mit den
Mitteln des üblichen Hilbertraum-Formalismus’ determiniert werden können, und
also die unvermeidlichen Wahrscheinlichkeitsaussagen epistemischer Natur sind,
erhalten in der Ensemble-Interpretation die Wahrscheinlichkeiten eine ontologische
Bedeutung. Sie sind nun relative Häufigkeiten.9
8 Laut Ensemble-Interpretation beschreibt der Zustandsvektor | eine große Anzahl gleich-
artig präparierter Systeme. Davon unabhängig und zu unterscheiden ist, ob | Ein- oder
Mehrteilchen-Systeme beschreibt. Die am besten ausgearbeitete Ensemble-Interpretation findet
sich in Ballentine (1998, Kap. 9).
9 Vorsicht: Dieser Gegensatz zu Bohm besteht natürlich nur dann, wenn man die Quantenmechanik
für vollständig hält und sie zugleich nicht auf einzelne Systeme anwenden will. In gewissem Sinn
50 C. Friebe
Blicken wir zurück auf die einleitend diskutierten Spin-Experimente und wäh-
len wir etwa die Variante Ŝx Ŝy Ŝx , also zunächst eine ursprüngliche Spinmessung
in x-Richtung, daran anschließend eine in y-Richtung und schließlich erneut eine
Spinmessung in x-Richtung: Je 50 % aller Teilchen (Elektronen bzw. Silberatome),
die nach dem ersten Ŝx Spin-up (bzw. Spin-down) in x-Richtung zeigen, soll-
ten bei einer anschließenden Ŝy -Messung Spin-up und Spin-down in y-Richtung
zeigen. Schließlich zeigen sie bei erneuter Ŝx -Messung jeweils zur Hälfte Spin-up
und Spin-down in x-Richtung, so dass das Ergebnis des ersten Ŝx zunichte ge-
macht wird. Solange wir uns auf eine große Anzahl von Teilchen beziehen, sollte
dies relativ unproblematisch sein: Von vielleicht 1 Million Elektronen, die bei
dem ursprünglichen Ŝx Spin-up (bzw. Spin-down) zeigen, zeigen etwa die Häl-
fte, also ca. 500.000, beim anschließenden Ŝy Spin-up in y-Richtung usw. Die
Anzahl positiver Resultate dividiert durch die Anzahl aller Teilchen ergibt etwa
1
2 ; das ist die relative Häufigkeit von 50 %, welche die objektive Größe in der
Welt sein soll, die durch den Wahrscheinlichkeitsbegriff in der Bornschen Regel
repräsentiert wird.
Tatsächlich ist diese Deutung aber nur relativ unproblematisch; wie man sieht,
gilt dies nämlich alles nur ungefähr: Es werden nur etwa die Hälfte aller Teil-
chen das gewünschte Resultat zeigen und nicht etwa exakt die Hälfte. Zwar könnte
man meinen, dass sich eine solche mögliche Ungenauigkeit dem Gesetz der großen
Zahl zufolge kontrollieren lasse. Bei einer immer höheren Zahl von Teilchen wer-
de sich der Anteil positiver Resultate immer mehr dem Wert von 50 % annähern,
so dass man in sehr guter Näherung den durch die Quantenmechanik vorhergesag-
ten exakten Wert erhalte. Doch strenggenommen gilt auch dies nur mit sehr hoher
Wahrscheinlichkeit, also niemals mit Sicherheit. Es ist nicht ausgeschlossen, dass
bei einem tatsächlichen Experiment sich ‚zufälligerweise‘ deutlich abweichende
Werte zeigen, im Extremfall kann es vorkommen, dass die ersten 1 Million Teil-
chen alle Spin-up in y-Richtung zeigen. Man wird dann noch etwas länger warten
müssen, bis sich tatsächlich das berechnete Verhältnis einstellt. Worauf es ankommt:
Bei der Deutung von Wahrscheinlichkeiten als objektiv im Sinne von relativen Häu-
figkeiten wird man offenbar den Bezug auf Wahrscheinlichkeiten nicht los – was
man aber sollte, da der Intention nach Wahrscheinlichkeiten hier nichts anderes
sind als eben relative Häufigkeiten. Sie tauchen aber auf einer nächsthöheren Ebe-
ne in Gestalt jenes „hochwahrscheinlich“ immer wieder auf und können sonach
nicht auf bloß tatsächliche Verhältnisse reduziert werden, wie aber erwünscht. In der
Philosophie werden noch weitere Einwände dieser Art gegen die Deutung von ob-
jektiven Wahrscheinlichkeiten als relative Häufigkeiten sehr ernst genommen (vgl.
etwa Rosenthal 2003), so dass wir sagen müssen, dass die Ensemble-Interpretation,
philosophisch gesehen, durchaus unbefriedigend ist.
Aber auch in der Physik empfinden viele diese Deutung als unbefriedigend:
Zunächst stellt man fest, dass man mit dieser Interpretation weder den
ist jede Bohmsche Theorie in ihrem statistischen Teil eine Ensemble-Deutung; diese ist aber nicht
gemeint, wenn hier von „ Ensemble-Interpretation“ gesprochen wird.
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 51
Gehen wir also über zu einer ersten Deutung, welche das einzelne mikroskopische
Quantensystem in den Blick nimmt und dabei auf Vollständigkeit des Hilbertraum-
Formalismus und also auf dem objektiven Charakter der Wahrscheinlichkeiten in
der Bornschen Regel besteht: zur Kopenhagener Deutung. Diese Deutung geht auf
die Pionierarbeiten der Quantenphysiker Niels Bohr und Werner Heisenberg zurück
und galt lange Zeit als die Standard-Auffassung der PhysikerInnen. Es ist aber nicht
ganz klar, was diese Interpretation genau besagt, so dass unsere Darstellung selbst
schon wieder Interpretation ist.
In der Literatur wird bestritten, dass es sich bei ‚Kopenhagen‘ um einen ein-
heitlichen Standpunkt handelt. Insbesondere wird ein Gegensatz zwischen Bohr
52 C. Friebe
und Heisenberg selbst betont, der darin bestehen soll,10 dass erst Heisenberg,
nicht aber bereits Bohr, eine ‚zweite Dynamik‘ der Messung annahm, welche
den berüchtigten, beobachter-induzierten ‚Kollaps der Wellenfunktion‘ beinhaltet.
Demgegenüber ließ Bohr sich auf Details des Messvorgangs überhaupt nicht ein,
zog die Grenze des Erklärbaren also enger als Heisenberg. Bohr vertrat demzu-
folge eine Art nicht-instrumentalistische Minimalinterpretation, also eine Deutung,
wonach Vektoren und Operatoren sehr wohl reale Eigenschaften einzelner quanten-
mechanischer Systeme zugeordnet werden, aber offen bleibt, wie es zu definiten
Werten kommt. Mit bewusstem Bezug zur von Neumannschen Messtheorie11 eta-
blierte Heisenberg in einem (späteren) Aufsatz von 1959 mit dem namensgebenden
Titel „Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie“ die Auffassung, wonach
kein isolierter Vorgang eine Messung sein kann, sondern nur ein solcher, der in ei-
ne Umgebung eingebettet ist, zu der wesentlich ein Beobachter hinzugehört.12 Es
ist diese Variante, die im weiteren Verlauf – zum didaktischen Zwecke der Ab-
grenzung zu realistischen Kollaps-Deutungen – als die eigentliche Kopenhagener
Deutung behandelt wird.
Zentral für Bohr erscheinen die folgenden drei Thesen:
der übrigen Welt, wenn es eine physikalische Wechselwirkung zwischen der Messanordnung und
dem Beobachter gibt.“ (Heisenberg, 1959, S. 41)
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 53
Welt aus einer solchen Quantenwelt hervorgeht – eine scheinbar allgemein ge-
teilte Frage. Laut Bohr aber gibt es gar keine unabhängig von makroskopischen
Systemen existierenden Quantensysteme, aus denen die uns umgebenden Objekte
bestünden: Sie – die Quantensysteme – existieren und haben ihre Eigenschaften
vielmehr umgekehrt nur bezogen auf eine bestimmte Experimentalanordnung und
daher nur bezogen auf etwas Makroskopisches, das vielmehr seinerseits unabhän-
gig von den Quantensystemen schon immer wirklich sein müsste. Der Bezug auf
die Messung, der in der Bornschen Regel nach Bohr wesentlich ist, impliziert
offenbar ontologisch, dass die gemessenen Quantensysteme und ihre Eigenschaf-
ten nicht fundamental sind, sondern ontologisch vom makroskopischen Messgerät
abhängen. Das Messgerät scheint sie zu erzeugen; und nicht etwa umgekehrt die
Quantensysteme das Messgerät, das aus ihnen bestünde.
Schießen wir damit nicht über das Ziel hinaus? Im Sinne Bohrs ist das vielleicht
nicht. Doch betrachten wir hypothetisch ein einzelnes Elektron, an dem der Spin in
y-Richtung gemessen werden soll, und nehmen wir ferner an, die Bornsche Regel
ergebe wieder die Wahrscheinlichkeit von 50 %, dass sich Spin-up in y-Richtung
ergibt. Nach Bohr kann es nun nicht sein, dass dieses einzelne Elektron bereits vor
der Ŝy -Messung die betreffende Eigenschaft hätte, da dann die Information, die der
(von irgendwoher) gegebene Zustandsvektor, der in die Bornsche Regel eingeht,
unvollständig wäre. Er gestattet ja nur die Vorhersage, dass die Spin-up-Eigenschaft
mit der Wahrscheinlichkeit von 50 % vorliegt. Zugleich die Bornsche Regel auf das
einzelne Quantensystem anwenden zu wollen und den Bezug auf die Messung in
ihr für wesentlich zu halten – was beides wohl auch Bohr tut –, führt zwangsläufig
dazu, dass das einzelne Teilchen die betreffende Eigenschaft keineswegs schon hat,
sondern eben vielmehr bei oder gar durch Messung erst bekommt (vgl. Held 2012,
S. 83); und zwar auf indeterministische Weise. So weit, so gut; d. h. so weit, so
ziemlich unstrittig als Interpretation der Kopenhagener Deutung. Aber folgt daraus,
dass unabhängig von der Messung gar kein Quantensystem existiert, wie wir oben
formuliert hatten?
Dagegen kann man nämlich einwenden, dass zwar vom Messgerät abhängt,
welche Eigenschaften ein mikroskopisches Quantensystem bekommt, dass also
das einzelne Quantensystem bei bzw. durch Messung auf charakteristische Weise
verändert wird, dass aber deswegen nicht sogleich die ganze Existenz des Quan-
tensystems vom makroskopischen Messgerät abhängig ist. Und offenbar richtig
scheint doch zu sein, dass die Existenz des einzelnen Elektrons nicht von dieser
hier und jetzt durchzuführenden Ŝy -Messung abhängt, ist es doch zuvor – durch ei-
ne ursprüngliche Ŝx -Messung beispielsweise – bereits als ein solches bestimmt, das
Spin-up (bzw. Spin-down) in x-Richtung als seine Eigenschaft hat. Wie man aber
eben dadurch sieht, wird man den Bezug auf irgendeine vorhergehende Messung
nicht so leicht los, so dass plausibler wird, dass jede Variante der Kopenhagener
Deutung tatsächlich die Behauptung impliziert, dass das mikroskopische Quanten-
system ontologisch – d. h. seinem Wirklichkeitsstatus nach – von Makroskopischem
abhängt.
Was wäre die Alternative? Man könnte sich an dieser Stelle an Aristoteles
erinnern, der zwischen Sokrates’ Mensch-Sein als seiner Wesens-Eigenschaft auf
54 C. Friebe
der einen Seite und seiner Stupsnasigkeit als einer bloß akzidentellen Eigenschaft
andererseits unterschieden hatte. Dann könnte man darauf verweisen, dass auch
die Quantenmechanik zwischen Eigenschaften, die etwa einem Elektron prinzipiell
zukommen, und zeitlich-wechselnden Zustands-Eigenschaften unterscheidet. Seine
Ladung, seine Masse, und dass sein Spin nur zwei Werte annehmen kann, kommen
danach dem Elektron wesentlich zu – ohne sie existiert kein Elektron. Bestimm-
te Impulswerte, bestimmte Spinprojektionswerte oder seine kinetische Energie sind
dagegen Eigenschaften, die bloß akzidentell sind, die also zeitlich wechseln können
und in der Quantenmechanik zuweilen gar gänzlich ausbleiben. Das Elektron, defi-
niert über seine wesentlichen Eigenschaften Ladung, Masse und Spin, sei dann das
immer schon existierende Quantensystem, während bei einer Messung ‚lediglich‘
seine Zustands-Eigenschaften erzeugt würden. Wie aber das Kapitel zur Ununter-
scheidbarkeit gleichartiger Quantenteilchen zeigen wird, sind Elektronen allein
über ihre ‚Wesens-Eigenschaften‘ weder zählbar noch wiedererkennbar, also we-
der Partikularien noch Individuen. Dann aber erfüllt der vermeintliche Träger der
akzidentellen Eigenschaften in keiner Weise seine traditionellen Funktionen. Darü-
ber hinaus ist er, für sich betrachtet, gänzlich unanschaulich, ja nicht-empirisch:
Denn ein bloß durch Ladung, Masse und Spin bestimmtes Elektron ist we-
der räumlich-delokalisiert – wie vielmehr bei scharf bestimmtem Impuls – noch
räumlich-lokalisiert – wie vielmehr bei scharf bestimmtem Ort. Es ist mithin unab-
hängig von seinen akzidentellen Eigenschaften überhaupt nichts Räumliches, was
diese Deutung wenig überzeugend macht.
Worauf es ankommt: Lässt man sich mit Bohr auf die Details des anschei-
nend so wesentlichen Messvorgangs gar nicht ein, bleibt der Wirklichkeitsstatus
des Quantensystems letztlich unklar. Zudem bleiben viele interessante Fragen, die
sich in Bezug auf ein einzelnes quantenmechanisches System stellen, auf das sich
mathematische Symbole doch beziehen lassen sollen, gänzlich ohne Antwort. Im
Sinne also der Kopenhagener Deutung geht Heisenberg über die Bohrsche Erklä-
rungsgrenze hinaus und zieht explizit die Konsequenz, dass die Eigenwerte hermi-
tescher Operatoren reale Eigenschaften einzelner Quantensysteme darstellen. Dies
führt bei gleichzeitiger Annahme der Vollständigkeit der Quantenmechanik und also
mit wesentlichem Bezug auf eine Messung in der Bornschen Regel offenbar dazu,
dass solche Eigenschaften bei bzw. durch Messungen diskontinuierlich und indeter-
ministischerweise wechseln bzw. neu erzeugt werden, bei zusammengesetzten und
‚verschränkten‘ Systemen wie im EPR-Fall gar über räumlich große Entfernungen
hinweg. Über die Bornsche Regel hinausgehend, vertritt Heisenberg zusätzlich von
Neumanns Projektionspostulat, nämlich die Eigenwert-Eigenvektor-Verknüpfung,
so dass zeitlich-unmittelbar nach einer Messung das quantenmechanische Sys-
tem mit dem zum gemessenen Eigenwert ‚gehörigen‘ Eigenvektor13 korreliert ist.
Nach der Heisenbergschen Kopenhagener Deutung gibt es nämlich tatsächlich zwei
zeitliche Dynamiken:
13 Vorsicht
bei mehrfachen Eigenwerten, wo erst noch (eventuell mehrere) andere Messgrößen
gemessen werden müssen.
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 55
14 Während das, „was in einem Atomvorgang geschieht“, nämlich der Wechsel von Eigen-
werten als Eigenschaften, etwas Physikalisches sei, gelte bezüglich des Zustandsvektors: „Die
unstetige Änderung der Wahrscheinlichkeitsfunktion findet allerdings statt durch den Akt der
Registrierung; denn hier handelt es sich um die unstetige Änderung unserer Kenntnis im Moment
der Registrierung.“ (Heisenberg, 1959, S. 38) | wird also epistemisch gedeutet.
15 Man beachte aber Maudlins lorentz-invariante realistische Kollaps-Deutung, nach der Wellen-
funktionen von Hyperebenen in der vierdimensionalen Raumzeit abhängig sind; vgl. Maud-
lin (1994, Kap. 7).
16 Mit Vorblick auf die GRW-Theorie sei hier angemerkt, dass dort die Bornsche Regel nicht
gilt: Ihr zufolge ist die (modifizierte) Quantenmechanik vollständig, und es gibt ‚dennoch‘ keine
Messung, was sich mit der Bornschen Regel ausschließt.
56 C. Friebe
wenn doch der zu erzielende Kollaps ohnehin nicht real ist bzw. sein wird, weil er
bloß epistemisch zu verstehen sei.17
Die Hauptschwierigkeit der Heisenbergschen Deutung aber liegt nach allge-
meinem Unbehagen woanders: Im Geiste des Formalismus der Quantenmechanik
müssten nämlich beim (ja wesentlichen) Messvorgang das zu messende Quan-
tensystem und das messende Makrosystem ein zusammengesetztes Ganzes bilden
(vgl. weiter unten, 2.3.1). Wenn dann das Quantensystem durch eine Superposi-
tion | = i ci |i von Eigenvektoren der zu messenden Größe Ô dargestellt
wird, so ist nach der Wechselwirkung mit dem Messapparat auch das Gesamtsystem
mit einer Superposition verknüpft. Was wir aber messen, ist ein scharf bestimmter
Wert, der einem bestimmten Eigenwert λi des Operators Ô entspricht. Dem kann
die Kopenhagener Deutung anscheinend nur gerecht werden, wenn sie einen so-
genannten Heisenberg-Cut durchführt, einen (objektiven?) Schnitt also zwischen
gemessenem Objekt und dem messenden System. Wie die populären Gedanken-
experimente um Schrödingers Katze und Wigners Freund (vgl. Audretsch 2002;
Baumann und Sexl 1984, und hier Kap. 7) aber zeigen sollen, ist es offenbar willkür-
lich, wo genau der Schnitt liegen soll: zwischen Wigners Freund und der Katze oder
bereits zwischen Katze und dem radioaktiven Stoff? Zwischen Mikro- und Makro-
system, könnte man vielleicht sagen – aber ab wie vielen Teilchen ist ein System ein
Makrosystem? Zirkulär erscheint jedenfalls die Antwort, dass ein System dann ein
Makro(Mikro-)system ist, wenn es den Gesetzen der klassischen(Quanten-)Physik
unterliege. Nein, keine Frage: Es gibt kein physikalisches Kriterium, woran man
bestimmen könnte, wo der Schnitt zwischen Zu-Messendem und dem Messenden
liegt. Die Gesetze der Physik und insbesondere der Standard-Formalismus der
Quantenmechanik geben für einen solchen Unterschied nichts her.18
Nun hatten wir aber ohnehin schon mehrfach ausgeführt, dass es kein physika-
lisches Kriterium wie etwa „ Wiederholbarkeit“ gibt, wodurch sich eine Messung
physikalisch von anderen (kontinuierlichen und deterministischen) Wechselwir-
kungen unterscheidet. Und wir hatten dort schon angemerkt, dass ein zuverlässi-
ges (anscheinend nicht-physikalisches!) Unterscheidungskriterium zwingend einen
wahrnehmenden Beobachter ins Spiel bringt, welcher die Messresultate auch ab-
liest.19 Könnte man daher nicht mit Heisenberg dafür argumentieren, dass an dieser
Stelle (erst) die Physik bzw. die Mathematisierbarkeit der Natur an eine Grenze
stößt, die etwa ein kantisches Subjekt bildet? Könnte man nicht die Kopenhagener
17 Konsistent, weil konsequent epistemisch ist die aktuell vertretene Bayesianische Deutung der
Quantenmechanik; vgl. beispielhaft Fuchs and Peres (2000) und die kritische Bilanz in Friederich
(2011).
18 Man kann mit dem Formalismus der Quantenmechanik sogar mathematisch zeigen, dass unter
der Voraussetzung, dass ein (realer) Kollaps stattfindet, man prinzipiell nicht feststellen kann, wann
er stattfinde, wo also der (objektive) Schnitt liege; vgl. dazu Albert (1992, S. 91).
19 Solche Formulierungen erzeugen oftmals abstruse Missverständnisse: Es ist natürlich nicht
gemeint, dass die ‚subjektunabhängige‘, objektive Welt so lange und soweit (also wohl als ganze)
in einer Superposition ist, bis jenseits davon ein transzendentes Ego auf sie ‚blickt‘.
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 57
Deutung (nämlich Heisenberg und Bohr) mit Kant verteidigen und sagen: Die Natur
hat zwei Seiten: eine Erscheinungs-Seite, wie sie experimentell-empirisch erfassbar
und physikalisch-mathematisch verstehbar ist, und einen Ansich-Aspekt, der nicht
mathematisierbar ist und auf den für die Natur als ganze das Subjekt verweist?
Bislang ist es aber nicht zwingend, eine Grenze des Mathematisierbaren zu
akzeptieren, wie die weitere Entwicklung zeigt. Die Grundlage für jede Lösung
oder Auflösung des Messproblems bildet heute die sogenannte Dekohärenz, wo-
mit ein wichtiger Schritt über Kopenhagen hinaus gegangen wird. Die Frage aber,
wie es letztlich zu definiten Messausgängen kommt, vermag auch dieses Programm
nicht zu beantworten, so dass das Interpretationsproblem im Wesentlichen beste-
hen bleibt. Nach einer kurzen Diskussion des Dekohärenzprogramms gehen wir
dann über zu realistischen Kollaps-Deutungen, am Beispiel der erstmals 1986 vor-
gestellten GRW-Theorie. Nicht-Kollaps-Interpretationen folgen in einem weiteren
Kapitel.
20 Populär ist allerdings noch Everetts Viele-Welten-Interpretation, die mathematisch sehr nah
am Standard-Formalismus liegt und im Gegensatz zur (Heisenbergschen) Kopenhagener Deutung
‚realistisch‘ ist. Zu Everett vgl. hier Unterkapitel 5.2.
58 C. Friebe
Kommt es dagegen in der Bornschen Regel wesentlich auf den Zusatz „bei
einer Messung“ an, kann man hingegen an der Vollständigkeit der Standard-
Quantenmechanik festhalten. Wenn aber ontologisch nicht mehr Eigenschaften vor-
liegen, als epistemisch mit Sicherheit vorausgesagt werden können, ist offenbar eine
zweite Dynamik vonnöten, die im Gegensatz zur ersten, der Schrödinger-Dynamik,
diskontinuierlich, indeterministisch, zeitlich-irreversibel und mathematisch nicht
beschreibbar ist: der Vorgang der Messung. Demnach kauft man sich mit von Neu-
manns Projektionspostulat einen Kollaps des Zustandsvektors ein, der jedoch nach
Heisenberg und Nachfolgern nicht in der Welt, sondern nur im Abstrakten bzw.
epistemisch stattfinden soll. Den Vektoren im Hilbertraum wird keine ontologische
Deutung gegeben.
Man sollte allerdings betonen, dass auch die Heisenbergsche Kopenhagener
Deutung immerhin soweit realistisch ist, als sie einzelnen mikroskopischen Syste-
men sehr wohl objektive Eigenschaften zuschreibt, die sie freilich in der Regel
erst während einer Messung annehmen. Ist ein quantenmechanisches System mit
einem Eigenwert eines bestimmten hermiteschen Operators korreliert, so erhält
dieser Eigenwert sehr wohl eine realistische Deutung als objektive Eigenschaft
eines einzelnen Objekts. Mehr ist nicht erforderlich, um die Quantenmechanik
als vollständig zu bewerten – und damit als epistemisch gleichwertig mit anderen
physikalischen Theorien.21 Einen unerwünschten Anti-Realismus der Heisenberg-
schen Kopenhagener Deutung sieht man vielmehr darin, dass die Abhängigkeit vom
Messprozess letztlich eine Abhängigkeit vom messenden Beobachter oder Subjekt
ist. Da eine (diskontinuierliche, indeterministische und irreversible) Messung mit
mathematisch-physikalischen Mitteln als die besondere Wechselwirkung, die sie
sein müsste, nicht ausgezeichnet werden kann, ist man letztlich auf den Messenden
angewiesen, der die Messresultate schließlich abliest. In dieser Abhängigkeit vom
Subjekt erblickt man jenen unerwünschten Anti-Realismus deshalb, da real anschei-
nend nur sein könne, was subjektunabhängig ist. Auch das ist aber nicht automatisch
so bzw. nicht automatisch ein Mangel, da abhängig von einem Subjekt zu sein,
nicht sogleich bedeuten muss, subjektiv zu sein, so dass Heisenberg und andere
keineswegs einen Subjektivismus vertreten.22 Das Hauptproblem ist daher offen-
bar, dass sich diese Subjektabhängigkeit der Beschreibung durch mathematische
Physik entzieht.23 Sie loszuwerden, aber an der Vollständigkeit der Quanten-
mechanik festzuhalten, verlangt, eine einheitliche zeitliche Dynamik zu entwerfen;
also eine Alternative zur Schrödinger-Gleichung aufzustellen, mit welcher der
Bohr den (physikalischen) Messprozess der Beschreibung durch mathematische Physik entzieht.
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 59
(makroskopische) Messprozess als zweite Dynamik obsolet wird. Dies war das Ziel
von GianCarlo Ghirardi, Alberto Rimini und Tullio Weber, die mit ihrer inzwi-
schen als GRW-Theorie bekannten Alternative zur Standard-Quantenmechanik das
notorische Messproblem aufzulösen beanspruchten.
Blicken wir zuvor noch einmal etwas genauer auf das (aufzulösende) Problem des
Messens: Nach Maudlin (1995) besteht es sinngemäß in dem folgenden Trilemma:
1. Die Quantenmechanik ist vollständig, d. h. der Vektor |, mit dem das quanten-
mechanische System korreliert ist, bestimmt sämtliche objektiven Eigenschaften
des betreffenden Systems.
2. Vektoren im Hilbertraum unterliegen immer einer linearen zeitlichen Dynamik,
nämlich (etwa) gemäß der Schrödinger-Gleichung.
3. Messungen haben bestimmte, definite Resultate. Nach einer Messung zeigt also
das Gerät genau einen der möglichen Werte an, die durch die Eigenwerte des
entsprechenden Operators gegeben sind.
Man erkennt, dass die Konjunktion der drei Behauptungen inkonsistent ist, so
dass eine Lösung dieses Messproblems nur darin bestehen kann, (mindestens)
eine der drei Aussagen zu bestreiten. Die erste Behauptung zu bestreiten, legt,
wie angedeutet, nahe, verborgene Parameter einzuführen, wie in der Bohmschen
Mechanik.24 Die dritte Behauptung kann man eigentlich nur negieren, wenn man
eine plausible Geschichte erzählt, warum es uns so scheint, als hätten Messungen
definite Resultate. In diesem Sinne lässt sich die Viele-Welten-Interpretation des
US-amerikanischen Physikers Hugh Everett III. (1957) verstehen, wonach sich bei
einer Messung nicht nur das bestimmte Messresultat ergibt, das wir anscheinend
wahrnehmen, sondern auch sämtliche anderen möglichen Messresultate noch – und
zwar in anderen ‚Welten‘, die auch uns bzw. ‚Kopien‘ von uns enthalten, die dann
eben je andere Resultate registrieren; eine Deutung, die inzwischen durchaus ernst-
haft vertreten wird. Die zweite Behauptung schließlich wird auf die zwei möglichen
Weisen bestritten: zum einen durch die Heisenbergsche Kopenhagener Deutung,
indem der linearen Schrödinger-Entwicklung eine zusätzliche zweite Dynamik der
Messung hinzugefügt wird, und zum anderen durch GRW, indem die Schrödinger-
Gleichung durch eine nicht-lineare Zeitentwicklung ersetzt wird. Diese beiden
Deutungen implizieren einen Kollaps des Zustandsvektors – ‚Kopenhagen‘ einen
24 Es gibt noch eine weitere Interpretation, die ebenfalls Behauptung 1 bestreitet, aber ohne ver-
borgene Variablen auskommen will: die Modal-Interpretation der Quantenmechanik (vgl. van
Fraassen 1991, Kap. 9). Ihr Hauptproblem – nämlich zu erklären, wieso Wiederholungsmessungen
(z. B. beim Spin) mit Sicherheit wieder zum selben Resultat führen, obwohl weder ein Kollaps
stattgefunden habe noch verborgene Variablen dies sicherstellten – ist aber nicht überzeugend
gelöst.
60 C. Friebe
beziehungsweise
|M0 |down –→ |M–1 |down (2.3)
Während im Ausgangszustand das Messgerät noch neutral ist, passt es sich an-
scheinend durch die Wechselwirkung dem quantenmechanischen Objekt an: Seine
Zeigerstellung entspricht im Endzustand der bereits vorliegenden Eigenschaft des
Quantenobjekts, wie es sich für eine gute Messung auch gehört.28 Zu messen
25 Man beachte, dass in dieser Darstellung des Messproblems kein Bezug mehr auf die Bornsche
Regel genommen wird. In der Tat gilt diese Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Zustandsvekto-
ren weder in der GRW-Theorie noch bei Everett.
26 Dies anzunehmen, heißt, nicht bereits hier zu blocken und mit Bohr dogmatisch zu behaupten,
dener Hilberträume eingeführt, das wir bislang noch nicht hatten. In der Tat bilden Messgerät
und Quantenobjekt ein zusammengesetztes System, das eigentlich erst Thema im anschließenden
Kapitel ist. Ein solches (reines) Produkt wie |M–1 |down jedenfalls spiegelt noch ganz klassisch
ein Ganzes wider, dessen Eigenschaften durch seine Teile vollständig bestimmt sind. Man sagt, der
Zustand des Ganzen sei separierbar, indem etwa hier das Teilchen und das Messgerät je für sich +1
zeigen (dass sie am Ende stets in dieselbe Richtung zeigen, erklärt sich durch die Wechselwirkung).
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 61
Und nun stellt sich die Frage, welchen Endzustand man für diesen Regelfall mit den
Mitteln des Standard-Formalismus zu erwarten hat. Konsequenterweise müsste man
diesen Ausgangszustand der Zeitentwicklung durch den unitären Zeitentwicklungs-
i
Operator Ût = e– tĤ unterwerfen. Dies erscheint zwar zunächst als technisch
aussichtslos, da der dort eingehende hermitesche Hamilton-Operator Ĥ ja nun der
Gesamtenergie des zusammengesetzten Systems entspricht und also hoffnungslos
komplex ist, da das Messgerät, soll es überhaupt durch die Quantenmechanik be-
schreibbar sein, aus sehr vielen Teilchen zusammengesetzt ist, die alle berücksich-
tigt werden müssten. Macht man sich aber klar, dass eben diese Zeitentwicklung
den (vorherigen) Ausgangszustand |M0 |up in |M1 |up überführt30 – und ebenso
|M0 |down in |M–1 |down –, so vereinfacht sich die Sache erheblich: Denn in
der Standard-Quantenmechanik ist doch alles linear, so dass zunächst für den
Ausgangszustand die Umformung gilt:
Ein fatales Resultat: Denn nun ist der Endzustand des aus Messgerät und Quan-
tenobjekt zusammengesetzten Systems in einer Superposition aus makroskopisch-
wahrnehmbar verschiedenen Zuständen. Was immer das Summenzeichen in Glei-
chung 2.6 auch bedeuten mag,31 makroskopische Bestimmtheit hinsichtlich der
gewählten Größe ist jedenfalls noch gar nicht hergestellt. |end ist nämlich als
29 Im Idealfall: Es gibt natürlich Messungen, die das Quantenobjekt, auch wenn es bereits im
Durch die Wechselwirkung mit dem Messgerät hat sich demnach das Quantenobjekt
verändert, wie es für diesen Regelfall auch anzunehmen sei. Denn vor der Wech-
selwirkung war das Quantenobjekt mit einem Projektionsoperator korreliert und
zeitlich-nach ihr mit dem (diagonalen) Statistischen Operator, was ein physikali-
scher Unterschied ist.35 Das Messgerät wiederum ist nun auch in einem gemischten
Zustand, so dass dessen Komponenten, die nun solche eines Statistischen Opera-
tors sind, direkt als Wahrscheinlichkeiten gedeutet werden könnten. Man will dann
sagen: Das Quantensystem selbst ist tatsächlich entweder im Zustand |up oder
im Zustand |down und entsprechend das Messgerät selbst tatsächlich entweder im
Zustand |M1 oder im Zustand |M–1 – denn die Wahrscheinlichkeiten, die im Statis-
tischen Operator auftreten, seien bloß subjektive Glaubensgrade, reflektierten nur
unsere Unkenntnis über den tatsächlichen Zustand des Quantenobjekts.
32 Die Superposition ist selbst vielmehr Eigenvektor eines anderen, inkommensurablen Ope-
rators, den Verhältnissen im zweidimensionalen Spinraum analog, auch wenn es hier – im
Makroskopischen – nicht so einfach ist, den Operator konkret anzugeben.
33 Ein Umstand, den zu erklären Bohr von vornherein blockierte.
34 Näheres dazu in den folgenden Kapiteln.
Doch wie in Abschn. 1.2.4 zum Statistischen Operator bereits angedeutet, ist
die Ignoranzinterpretation von dessen Eigenwerten gerade an dieser Stelle nicht
haltbar; man sagt auch, dass der Statistische Operator hier nur ein „ uneigentli-
ches“ Gemisch beschreibe. Nehmen wir nämlich an (vgl. hierzu van Fraassen 1991,
S. 207), der tatsächliche Zustand des Quantenobjekts sei durch |up gegeben; was
schließt dann, auf der Basis der Ignoranzinterpretation, aus – was ja auszuschlie-
ßen ist –, dass im Gemisch des Gerätes |M–1 den tatsächlichen Zustand anzeigt?
Und: Wo kommen, auf der Basis der Ignoranzinterpretation, die Interferenzterme
für das Gesamtsystem eigentlich her; wieso also ist das Ganze dann nicht auch durch
einen Statistischen Operator zu beschreiben? Ohne die Ignoranzinterpretation ist der
ganze Messprozess aber eher ein Rückschritt: Die zu erzielende Bestimmtheit ist
durch die Veränderung des Quantenobjekts – also durch den Übergang vom reinen
(Superpositions-)Zustand zum gemischten – noch gar nicht hergestellt, stattdessen
nur die zuvor vorhandene zerstört!36
2.3.2 Dekohärenzprogramm
Demgegenüber einen Fortschritt stellt das Programm der Dekohärenz dar.37 Mit
ihm war sogar ursprünglich die Hoffnung verbunden, das Interpretationsproblem
der Quantenphysik zu lösen, und tatsächlich liefert es (zumindest lokal) eine
physikalische Erklärung für die Überwindung von Superpositionen makroskopisch
unterscheidbarer Zustände.38 Wirklich gelöst ist das Messproblem dennoch nicht.
Das Dekohärenzprogramm stellt aber eine wichtige Ergänzung für alle noch vertre-
tenen Deutungsoptionen dar. Im Detail ist es mathematisch recht aufwändig, so dass
hier nur angedeutet werden kann, worin der Fortschritt besteht und wo die Grenzen
liegen.
Die Grundidee besteht darin, dass das aus Quantenobjekt und Messgerät zusam-
mengesetzte System nicht länger, wie bislang angenommen, als ein abgeschlossenes
System aufgefasst wird. Berücksichtigt wird nun, dass dieses System auf vielfältige
Weise physikalisch mit der Umgebung wechselwirkt – etwa dadurch, das das Mess-
gerät ständig Licht reflektiert. Der eigentliche Endzustand ist demzufolge ein viel
36 Der ursprüngliche (Superpositions-)Vektor war ja, wie jeder Vektor eines reinen Zustands,
Eigenvektor eines anderen (inkommensurablen) Operators. Bezüglich des nun erzielten Statis-
tischen Operators ist der Erwartungswert jenes Operators aber nicht mehr der (ehemalige)
Eigenwert und nicht mehr streuungsfrei.
37 „Kohärent“, ‚zusammenhängend‘, bezeichnet klassisch die Bedingung, die Wellen erfüllen müs-
(2007).
64 C. Friebe
ρ̂ = |c1 |2 |up, M1 M1 , up| + |c2 |2 |down, M–1 M–1 , down| (2.10)
x’
Abb. 2.1 Zeitentwicklung des Zustands (in Ortsdarstellung) durch Einfluss der Umgebung: Lo-
kal verschwinden die Interferenzterme (Abbildungsvorlage entnommen aus Schlosshauer 2007,
S. 149)
der sogenannten Zeiger-Basis? Kopenhagen ‚löst‘ auch dieses Problem auf die
für viele unakzeptable Weise der Beobachterabhängigkeit: Eine Basis wird aus-
gezeichnet durch die Wahl der Messanordnung. Ohne eine physikalische Lösung
des Problems der bevorzugten Basis wäre etwa Everetts Interpretation der Vielen
Welten zum Scheitern verurteilt. Insofern ist es ein bedeutsames Resultat, dass
der Dekohärenzansatz diesen Teil des Messproblems tatsächlich gelöst hat: Nach
dem „triorthogonal uniqueness theorem“ (vgl. Elby und Bub 1994) ist die Zer-
legung in orthogonale Zustände eines dreifachen Produktraums, wie dessen, der
Quantensystem, Messgerät und Umgebung umfasst, eindeutig.
Die dynamische Auszeichnung einer Basis und die physikalische Erklärung,
warum wir keine Superpositionen wahrnehmen, sind also die beide Fortschrit-
te, die das Dekohärenzprogramm erreicht hat. Doch ist damit zum einen nur der
Eigenschaftstyp objektiv festgelegt und zum anderen nur geklärt, dass wir keine
Superpositionen wahrnehmen. Es kommt aber offenbar darauf an, dass keine mehr
vorliegt, sondern vielmehr ein neuer reiner Zustand. Denn zu erklären ist doch
des Weiteren, dass wir bei einer Messung einen ganz bestimmten Eigenschaftswert
messen. Da man also ontologisch die Superposition nicht überwunden hat, ist man
womöglich noch immer auf von Neumanns Projektionspostulat angewiesen. Im üb-
rigen: Selbst wenn die Interferenzterme physikalisch alle verschwänden und (daher)
die Ignoranzinterpretation des Statistischen Operators angemessen wäre, hätte man
nur ein (zwar klassisch verständliches) Entweder-Oder erreicht und damit immer
noch einen Fall von Unbestimmtheit. Selbst ein „ eigentliches“ Gemisch, zu dem
das Dekohärenzprogramm hypothetisch hätte führen können, löst das Messproblem
nicht. Es gäbe dann nämlich subjektive Wahrscheinlichkeiten auf fundamenta-
ler Theorieebene. Ignoranzinterpretation heißt ja, dass ontologisch ein definiter
(neuer) reiner Zustand vorliegt, man aber epistemisch nicht weiß, welcher. Die
mathematische Beschreibung endete beim Gemisch, objektiv läge aber ein reiner
Zustand (bzw. der dazugehörige Eigenwert) vor: Entweder wäre die Standard-
Quantenmechanik dann unvollständig, oder man wäre auf Everetts Viele Welten
angewiesen, müsste also Behauptung 3 von Maudlins Trilemma bestreiten.39
39 Die Bedeutung der Dekohärenztheorie für die Everett-Interpretation klärt Abschn. 5.2.4.
66 C. Friebe
Das Ziel der von Ghirardi, Rimini und Weber 1986 entwickelten Theorie war eine
einheitliche Dynamik für Mikro- und Makrowelt und damit die Überwindung der
Kopenhagener Spaltung, die Auflösung des Messproblems. Sie ist mathematisch
recht komplex und kommt bis dato in Physiklehrbüchern nicht vor. Unmittelbar
nach Erscheinen ist sie aber von Bell (1987) enthusiastisch begrüßt worden. In der
Philosophie der Physik ist sie seit ihrer Rezeption in Albert (1992) recht populär,
die Debatte um die adäquate GRW-Ontologie hält bis heute an.
Nun können wir sagen, dass ein nahezu instantaner, diskontinuierlicher Übergang
von einer Superposition der Eigenvektoren eines bestimmten Operators auf einen
speziellen dieser Eigenvektoren – wie ihn von Neumanns Projektionspostulat ver-
langt – nur möglich ist, wenn die Linearität der Quantenmechanik an relevanter
Stelle durchbrochen ist. Dies in einer einheitlichen, also durchgängig mathematisch
beschreibbaren Weise zu realisieren, verlangt, die unitäre Schrödinger-Entwicklung
durch eine neue nicht-lineare Gleichung zu ersetzen.
Das wird nicht ohne weitere Auswirkungen möglich sein: In Abschn. 1.2.2
hatten wir nämlich des Weiteren gesagt, dass lineare Abbildungen mathematisch im-
plizieren, dass parallele Geraden (Vektoren) parallel bleiben. Da parallele Vektoren
im Hilbertraum mit identischem physikalischen Zustand korreliert sind, implizie-
ren lineare Abbildungen physikalisch, dass kein physikalischer Unterschied ins
Spiel kommen kann, wo ‚vorher‘ keiner war. Angewendet auf die Zeitentwicklung,
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 67
kann man daraus folgern, dass sie deterministisch ist, wenn sie linear ist. Eine
nicht-lineare zeitliche Dynamik, wie sie die ersetzende GRW-Gleichung ausdrücken
wird, öffnet daher zumindest die Möglichkeit für einen objektiven, naturgesetz-
lichen Indeterminismus: Es kann nun, im Laufe der Zeit, ein physikalischer
Unterschied ins Spiel kommen, wo zeitlich-vorher keiner war. Ein physikalischer
Zustand ‚splittet‘ auf, indem er sich nicht-linear auf solch eine Weise entwi-
ckelt, dass er zu einer späteren Zeit entweder schon kollabiert ist oder eben
noch nicht.40 Die nicht-lineare Dynamik ist dann nicht nur diskontinuierlich, son-
dern auch indeterministisch. Schließlich spricht alles dafür, dass dieser Vorgang
nicht umkehrbar ist, es also erheblich unwahrscheinlicher ist, dass sich zwei Aus-
gangszustände, die den bisherigen zwei (möglichen) Endzuständen entsprechen,
in den einen Endzustand (den bisherigen Ausgangszustand) entwickeln. In der
Tat: Die GRW-Dynamik ist (zuweilen) diskontinuierlich, indeterministisch und
zeitlich-irreversibel.
Dies ist natürlich das Erwünschte! Die Nicht-Linearität hat aber noch weitere
Folgen: Viele Charakteristika der Standard-Quantenmechanik beruhen auf der Li-
nearität der Theorie, so etwa die Tatsache, dass die Wahl einer Basis konventionell
ist, dass also ein Vektor im Hilbertraum auf (unendlich) viele Weisen als Superposi-
tion (Linearkombination) anderer Vektoren darstellbar ist. GRW dagegen zeichnet
eine Basis als bevorzugt aus: die Ortsdarstellung.41 Des Weiteren hatten wir festge-
stellt, dass etwa die Frage, welche Eigenwerte (physikalisch-mögliche Messwerte)
ein gegebener hermitescher Operator habe und welches seine Eigenvektor-Basis
sei, zeitunabhängig bestimmt ist. Daraus hatten wir gefolgert, dass die (mess-
unabhängige) Zeitentwicklung unitär, also allemal linear sein müsse. Wenn nun
die Zeitentwicklung aber nicht-linear sein soll, hat dies also Auswirkungen auf das
Konzept einer quantenmechanischen Messgröße; keine Frage: Die GRW-Theorie
ist eine andere Theorie als die Standard-Quantenmechanik.42 Jedenfalls steht bei
GRW die Zeitentwicklung wieder im Zentrum, nämlich am Anfang, wovon etwa
das Konzept von Messgrößen abhängt – während in der Standard-Quantenmechanik
vielmehr umgekehrt die Zeitentwicklung eine Konsequenz aus grundlegenden zeit-
unabhängigen Verhältnissen von Operatoren, Eigenwerten und Eigenvektoren ist.
Die Zeitentwicklung der Wellenfunktion, eines Vektors in Ortsdarstellung, ist also
das Grundlegende der GRW-Theorie.43
40 Dem Ausgangszustand folgen danach zwei mögliche Endzustände: In eine Zeit-Richtung, die
ner Fortschritt ja darin besteht, dass tatsächlich eine Basis dynamisch ausgezeichnet wird? Es
gibt zumindest eine Spannung zwischen ‚Dekohärenz‘ und GRW, wenn sich zeigt, dass die aus-
gezeichnete Basis in bestimmten Situationen nicht die Ortsbasis ist. Vgl. zu diesem Problem
Schlosshauer (2007, S. 349f.).
42 Es ist vielleicht sogar so, dass sie empirisch-abweichende Vorhersagen macht, so dass zukünftige
Experimente GRW auch empirisch als realistischer ‚erweisen‘ könnten – oder aber falsifizieren!
43 Dies ist eine Gemeinsamkeit zur aber deterministischen Bohmschen Mechanik.
68 C. Friebe
Wie sieht diese Gleichung nun konkret aus? Die Idee ist (vgl. Bell 1987), dass
die Ortswellenfunktion von N Teilchen, also
N
; mit Teilchenzahl N und τ = 1015 s (2.13)
τ
Dieser Bruch gibt die Wahrscheinlichkeit pro Zeit eines Quantensprungs an, die
offensichtlich für kleine Teilchenzahlen N sehr klein ist, für makroskopische Zahlen
der Größe 1023 aber sehr groß wird – wie erwünscht.
Man sieht bereits hier einen entscheidenden Unterschied zur gewöhnlichen
Quantenmechanik: Während dort nach Bornscher Regel die Wellenfunktion bzw.
ihr Betragsquadrat als (Mess-)Wahrscheinlichkeit gedeutet wird, trägt hier ein neu
eingeführter Parameter die Wahrscheinlichkeitsinterpretation. Auf diese Weise ist
die Wahrscheinlichkeit keine bedingte mehr, insbesondere keine, die durch „bei
einer Messung“ bedingt wäre. Des Weiteren lässt sie sich problemlos auf Einzel-
ereignisse anwenden, also auf einen einzelnen Kollaps beziehen. Daher besteht
in der Literatur Einigkeit darüber, dass die GRW-Wahrscheinlichkeiten keine sub-
jektiven Glaubensgrade, sondern objektive chances repräsentieren (vgl. Frigg und
Hoefer 2007, S. 376).
Bezüglich der Fragen, wie und wo ein Kollaps stattfinde, wird ein Lokalisations-
operator eingeführt:
α 3 α
L̂ = ( ) 4 exp[ – (q̂k – x)2 ] (2.14)
π 2
Er hat die Gestalt einer Gaußschen Kurve mit einem zufällig ausgewählten Zentrum
um den Ort(soperator) des k-ten Teilchens. Den Lokalisationsgrad, also die Schärfe
der Gaußschen Kurve, bestimmt die zweite neue Naturkonstante mit Längeneinheit:
α = 10–5 cm (2.15)
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 69
Wenn man nun aber die Zustandsbestandteile des Messgerätes (bzw. des makro-
skopischen Anteils beim Katzen-Beispiel) genauer betrachtet, also davon ausgeht,
dass das Messgerät (die Katze) aus Milliarden von Teilchen zusammengesetzt ist,
die jeweils – Zeigerstellung +1 verglichen mit Zeigerstellung –1 (lebendig vs. tot) –
an signifikant verschiedenen Orten sind, dann lässt sich der Zustand wie folgt
schreiben:
Die sehr große Zahl N von Teilchen garantiert – zusammen mit den Werten der neu-
en Naturkonstanten –, dass es nahezu sofort zu einem solchen Kollaps kommt, so
dass makroskopisch nahezu immer einer der beiden Produktzustände vorliegt und
nahezu niemals der Superpositionszustand, wie es unserer Erfahrung entspricht. Es
sei betont, dass diese Beschreibung, wenn überzeugend, tatsächlich die Auflösung
des Messproblems ist: Denn mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit kommt es zum
Kollaps eines Einteilchen-Zustandes – und damit zum Kollaps des Gesamtzustan-
des –, so dass makroskopische Bestimmtheit tatsächlich hergestellt wird (und nicht
etwa nur ein Entweder-oder wie beim Dekohärenz-Ansatz), und zwar unabhängig
davon, ob ein messender Beobachter das Resultat schließlich abliest.
Wissenschaftstheoretisch ist gegen diesen GRW-Ansatz aber einzuwenden,
dass die Einführung der neuen Naturkonstanten ad hoc ist: Die Werte dieser
44 Besser stellt man die GRW-Grundgleichung bzgl. der Dichte-Matrix dar, vgl. Frigg und Hoefer
(2007 S. 374).
70 C. Friebe
Die Auszeichnung der Ortsbasis und der fundamentale Charakter der Zeitentwick-
lung machen GRW prima facie philosophisch-ontologisch sympathischer als die
Standard-Quantenmechanik: Bestimmt man als ein Ziel von moderner Naturphilo-
sophie, den offenkundigen Konflikt zwischen unserem (durchaus aufgeklärten)
Alltagsbild und demjenigen Bild, das aktuellste wissenschaftliche Theorien wie die
Quantenphysik von der Welt zeichnen, zu behandeln und idealerweise zu lösen, so
ist die Auszeichnung von Ort und Zeit anscheinend zu begrüßen. Keineswegs bloß
naive Intuitionen sagen offenbar, dass Verhältnisse im Raum und Entwicklungen
in der Zeit zu den grundlegenden Phänomenen der uns umgebenden Welt gehö-
ren, so dass eine wissenschaftliche Theorie, welche diese ins Zentrum stellt, den
besagten Konflikt verkleinert. Die Standard-Quantenmechanik hingegen mit ihrem
abstrakten Hilbertraum, in dem einerseits der Ortsoperator nur einer unter vielen ist,
und zudem ein mathematisch unschöner, und andererseits die Zeitentwicklung keine
Messgröße, ist offenbar weiter weg von unseren Intuitionen, die Naturphilosophie
eben immer auch im Blick haben sollte.
Allerdings ist zu betonen, dass GRW ja eine einheitliche Dynamik für
mikro- wie makrophysikalische Phänomene zu geben beansprucht, so dass die
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 71
45 Nach dieser Auffassung korrespondiert mit der Wellenfunktion des Konfigurationsraumes ein
kontinuierliches „materielles“ Feld in der konkreten Raumzeit. Sie wird u. a. von Ghirardi selbst
vertreten.
46 Physikalische Schwierigkeiten von GRW betreffen die ‚Ununterscheidbarkeit‘ gleichartiger
besteht anscheinend darin,47 dass die flashes nicht fundamental sein können. Sie
hängen ja von der Wellenfunktion im Konfigurationsraum ab, so dass in unserer rea-
len, physikalischen Welt derartige Ereignisse zeitlich diskontinuierlich auftreten –
und im Grunde unerklärterweise, jedenfalls nicht erklärt durch etwas in unserer
Welt Existierendes. Solange und immer dann, wenn die Wellenfunktion unkollabiert
sich in einer Superposition befindet, existiert physikalisch schlicht nichts, sondern
bloß mathematisch etwas im 3N-dimensionalen Konfigurationsraum. Insofern erbt
Bell einen anti-realistischen Zug von ‚Kopenhagen‘, zum Unbehagen der mit GRW
verbundenen Hoffnung eines durchgängigen Realismus.
Entsprechend ist kürzlich vorgeschlagen worden (vgl. Dorato und Esfeld 2010),
den Bellschen stochastischen Ereignissen ein reales, raumzeitliches Fundament
zu geben. Die ‚räumlichen‘ Superpositionen im Konfigurationsraum repräsentie-
ren demnach dispositionale Eigenschaften in der physikalisch-realen Raumzeit, die
spontan Bellsche flashes kausal hervorrufen. Nach Dorato/Esfeld kommt man al-
so dadurch aus dem Mathematisch-Abstrakten in das Physikalisch-Konkrete, indem
man Superpositionen einen modalen Charakter verleiht, sie als metaphysische Krä-
fte auffasst. Die Grundidee entstammt einer inzwischen etablierten Position aus
der philosophischen Debatte um den Status von Naturgesetzen: Der Humeschen
Auffassung, wonach Naturgesetze auf bestimmten Regularitäten kategorialer (rein
qualitativer) Eigenschaften ohne modale Fähigkeiten supervenieren, steht die Po-
sition entgegen, dass fundamentale Eigenschaften der Physik (Ladung, Masse)
dispositionale (modal-kausale) Eigenschaften seien.48 Diese allzu stark metaphy-
sisch anmutende Position kann man dadurch verteidigen, indem man sagt, dass man
ohne die Deutung von Eigenschaften als modalen oder dispositionalen physika-
lische von mathematischen Strukturen nicht unterscheiden könne. So jedenfalls
argumentieren Dorato/Esfeld in Bezug auf die GRW-Theorie. Wenn überzeugend,
liefern sie damit ein real-raumzeitliches, kausales Fundament der Bellschen flashes,
was sicher wünschenswert erscheint. Das Problem aber ist, dass Dispositionen –
wie etwa die Wasserlöslichkeit des Zuckers – zu ihrer Manifestation normalerweise
einen externen Trigger benötigen, einen Auslöser von außen. GRW-Lokalisationen
sind jedoch spontan, der GRW-Kollaps benötigt ja gerade keine externe Wechsel-
wirkung (insbesondere keine Messung). Daraus folgt für ihre realistische Deutung,
dass die Superpositionen raumzeitliche, dispositionale Eigenschaften repräsentie-
ren, die „manifest themselves spontaneously“ (Dorato und Esfeld 2010, S. 44),
die sich also spontan selbstverwirklichen. In Zwischenphasen hätten reale Eigen-
schaften raumzeitlicher Quantensysteme keine definiten Werte, jedoch seien sie
„mind-independently and probabilistically disposed to become definite“ (Dorato
und Esfeld 2010, S. 45): Im Kollaps geben sie sich selbstätig ihre eigenen Werte,
wenn auch bloß probabilistisch. Man hat den Eindruck: Das Subjekt als den mes-
senden Beobachter wird man mit GRW nur animistisch los, indem nun die Welt als
47 Inder Literatur wurde des Weiteren eine sogenannte counting anomaly diskutiert, die hier aber
außer Betracht bleiben kann.
48 Eine Humesche Interpretation von GRW verteidigen Frigg und Hoefer (2007).
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 73
ganze wie ein Subjekt sich selbstätig verwirklicht („manifestiert“). Die Alternative
dazu ist die wave function ontology und damit die Identifizierung des Physischen
mit einem Ausschnitt des Mathematischen.
Damit sind wir am Ende des ersten Kapitels zu den Interpretationen der
Quantenphysik angelangt. Es behandelte unstrittige, aber auch zu kurz greifende
Deutungen (Minimalinterpretation und Ensemble-Deutung) sowie die umstrittenen
Kollaps-Deutungen (Kopenhagen, GRW). Bevor in einem weiteren Interpretations-
Kapitel die no-collapse-Varianten (Bohm, Everett) diskutiert werden, kommen
wir nun zunächst zu den zwei wichtigsten Spezialproblemen der Quantenmecha-
nik: zu gleichartigen Teilchen und deren ‚Ununterscheidbarkeit‘ sowie zum EPR-
Paradoxon. Individuation von Objekten und das Verhältnis eines Ganzen zu seinen
Teilen gehören zu den herausragenden Themen der Ontologie, die diesbezüglich –
schon durch die Standard-Quantenmechanik – vor ganz neuartige Herausforde-
rungen gestellt wird.
Übungsaufgaben zu Kap. 2
1. Unterscheiden Sie zwei Lesarten der Bornschen Regel, abhängig davon, ob der
Bezug auf eine Messung in ihr wesentlich ist oder nicht.
2. Nach der (Heisenbergschen) Kopenhagener Deutung gibt es zwei zeitliche Dy-
namiken des Zustandsvektors. Beschreiben Sie diese in eigenen Worten. Wie
verhält sich die zweite Dynamik zur Bornschen Regel und zu von Neumanns
Projektionspostulat? Was ist an ihr problematisch?
3. Das Interpretationsproblem der Quantenmechanik kann auch als ein Trilemma
dargestellt werden. Erläutern Sie die drei Aussagen und zeigen Sie, dass
sie zusammen genommen inkonsistent sind. Worin besteht der Vorteil dieser
Darstellung gegenüber der bisherigen, an der Bornschen Regel orientierten?
4. Das Dekohärenzprogramm stellt einen wichtigen Fortschritt dar. Stellen Sie her-
aus, wodurch alle Interpretationsvarianten profitieren können. Warum aber löst
das Programm das Messproblem letztlich nicht?
5. Formulieren Sie in eigenen Worten, was die GRW-Theorie in den Augen ih-
rer VertreterInnen leistet. Verteidigen Sie demgegenüber die Standardsicht der
PhysikerInnen.
Literatur zu Kap. 2
Albert, David Z. (1992). Quantum Mechanics and Experience. Cambridge MA: Harvard Univer-
sity Press.
Audretsch, Jürgen (Hg.) (2002). Verschränkte Welt. Faszination der Quanten. Weinheim: Wiley-
VCH.
Baumann, Kurt und Roman U. Sexl (1984). Die Deutungen der Quantentheorie. Braunschweig:
Vieweg.
74 C. Friebe
Inhaltsverzeichnis
3.1 Quantentheorie gleichartiger Objekte ................................................................. 75
3.2 Ontologie der Quantentheorie........................................................................... 85
Übungsaufgaben zu Kap. 3 ...................................................................................... 103
Literatur zu Kap. 3 ................................................................................................. 103
Kapitel 3 steht technisch und sachlich zwischen Kap. 1 und 6. In Kap. 1 wurde die 1-
Teilchen-Quantenmechanik im Hilbertraum H eingeführt, das vorliegende Kapitel
behandelt n Teilchen im Vielteilchen-Hilbertraum Hn und Kap. 6 variable Teil-
chenzahlen mit Aufsteige- und Absteigeoperatoren im Fockraum HF = ⊕Hn . Das
Kapitel zerfällt in zwei Teile, wobei 3.1 physikalisch, 3.2 aber stärker philosophisch
orientiert ist.
H. Lyre ()
Lehrstuhl für Theoretische Philosophie, Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
e-mail: lyre@ovgu.de
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 75
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_3
76 H. Lyre
(1) ab
(2) ab
(3.1)
(3) a b
(4) b a
1 Diemakroskopische Charakterisierung des Zustands eines Gases ist durch die Größen Druck,
Volumen und Temperatur gegeben, eine mikroskopische Beschreibung erfordert im Prinzip die
Erfassung der Orte und Impulse aller einzelnen (individuellen) Moleküle.
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 77
Im ersten und zweiten Fall befinden sich beide Teilchen jeweils im gleichen Ener-
giezustand, im dritten und vierten Fall in unterschiedlichen Energien. Die Zählung
der Besetzungszahlmöglichkeiten hängt nun davon ab, wie man die Fälle (3) und
(4) gewichtet. Falls sich nämlich, wie durch den Gibbsschen Korrekturfaktor indi-
ziert, die Objekte a und b nur bis auf Permutation bestimmen lassen, lassen sich die
1
Fälle (3) und (4) nicht unterscheiden. Mit 2! gewichtet wird hieraus in der Zählung
nur ein Zustand. Insgesamt ergeben sich daher gegenüber den vier Möglichkeiten in
(3.1) nur noch drei mögliche Besetzungen:
(1) ••
(2) •• (3.2)
(3) • •
Die Notation • deutet an, dass die durch a und b vormals suggerierte eindeutige
Erfassung der beiden Objekte aufgegeben wurde. De facto bedeutet dies, dass
die beiden Objekte empirisch ununterscheidbar sind (jedenfalls hinsichtlich der
Zählung physikalischer Besetzungsmöglichkeiten).
Die Verwendung des Gibbsschen Korrekturfaktors erwies sich in der Folge in
allen Bereichen der statistischen Mechanik als unvermeidlich, um mit dem Expe-
riment in Einklang stehende Resultate zu erzielen. Insbesondere erwies es sich als
unerlässlich, bei der Konstruktion einer Quantenmechanik mehrerer Teilchen in den
20er Jahren des 20. Jahrhunderts ein Ununterscheidbarkeits-Postulat der folgenden
Form zugrundezulegen:
Die Anwendung einer Teilchenpermutationen auf einen Viel-Teilchen-Zustand
führt formal auf einen Zustand, der vom ursprünglichen Zustand physikalisch
ununterscheidbar ist.
Die mathematische Umsetzung dieses Postulats liegt in der Forderung der
Permutationssymmetrie quantenmechanischer Zustände, die wir in den beiden
kommenden Abschnitten betrachten.
3.1.2 Mehr-Teilchen-Tensorprodukt
In Kap. 1 wurde die Quantenmechanik eines Teilchens, oder allgemeiner: eines Ob-
jekts, betrachtet, nun fragen wir nach der Verallgemeinerung für Systeme aus belie-
big vielen Objekten. Dabei werden wir uns auf gleichartige Teilchen kaprizieren, al-
so solche, die von derselben Sorte sind wie beispielsweise mehrere Elektronen oder
Photonen oder dergleichen. Allgemein besitzt ein quantenmechanisches Objekt mit
n Eigenzuständen Zustände, die als Vektoren eines n-dimensionalen Hilbertraums
darstellbar sind. Setzt man ein n- und ein m-dimensionales Objekt zu einem größe-
ren Objekt, einem Compound-System, zusammen, so besitzt das Gesamtobjekt im
78 H. Lyre
n
Hn = H1 ⊗ H2 ⊗ . . . ⊗ Hn = Hi . (3.3)
i=1
2 Die Darstellung der beiden folgenden Absätze wird in Abschn. 6.3.3 aufgegriffen und fortge-
führt. Für die Zwecke dieses Kapitels ist vor allem die Einführung des Permutationsoperators (3.4)
relevant.
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 79
ψ = ψ(1, 2, 3 . . . n) = ψ1 ⊗ ψ2 ⊗ . . . ⊗ ψn , ψi ∈ Hi .
haben, wobei auf der rechten Seite die Summe über n! Permutationen zu bilden ist
(mit einem hier nicht näher zu bestimmenden und ggf. komplexen Faktor C(n), der
von der Teilchensorte abhängt).
Die Menge aller Permutationen einer geordneten Menge aus n Elementen mit
der Dimension n! wird Symmetrische Gruppe Sn oder auch Permutationsgruppe ge-
nannt. Die Invarianz eines Zustands unter der Permutationsgruppe besagt, dass jede
physikalische Observable Ô mit jedem Permutationsoperator P̂ kommutiert; keine
physikalische Messobservable kann daher zwischen einem permutierten und einem
unpermutierten Zustand unterscheiden. Formal bedeutet dies
3.1.3 Quantenstatistik
3 DerPermutationsoperator P̂ij ist selbstadjungiert und hat die spezielle Eigenheit, dass seine
Eigenwerte 1 und –1 sind (vgl., analog, Abschn. 1.2.4).
80 H. Lyre
Elektrodynamik, wie vormals Planck, sondern allein gestützt auf die Annahme
von Lichquanten mit Phasenraumvolumina h3 abzuleiten (vgl. Darrigol 1991). In
die Besetzungszahlen der Zustände ging dabei der Gibbsche Korrekturfaktor ein.
Bose bat Einstein, der die Lichtquantenhypothese 1905 aufgebracht hatte, um
Hilfestellung bei der Publikation. Einstein erkannte die Bedeutung der Arbeiten
Boses und fügte eigene Ergänzungen hinzu. Nach Schrödingers Wellenmechanik
von 1926 wurde die Allgemeinheit der Bose-Einstein-Statistik für Vielteilchen-
Wellenfunktionen erkannt, die Teilchen mit ganzzahligem Spin beschreiben. Formal
liegt der Bose-Einstein-Statistik das Ununterscheidbarkeits-Postulat zugrunde, was
auf die Permutationsinvarianz bosonischer Zustände unter der Transformation (3.4)
führt.
Da nicht ψ, sondern |ψ|2 mit observablen Größen verknüpft ist, liegt die
Wellenfunktion nur bis auf einen Phasenfaktor fest. Ferner gilt für den Permuta-
tionsoperator P̂2ij = 1, er besitzt also die Eigenwerte ±1 (siehe Fußnote 3). Neben
(3.4) lässt dies daher auch die Möglichkeit zu, dass eine Permutation im Gegensatz
zu (3.4) auf einen Vorzeichenwechsel führt und antisymmetrisch ist:
1
A = √ ψa ψb – ψb ψa . (3.7)
2
Demgegenüber gestattet Bose-Einstein alle drei Möglichkeiten in Form symmetri-
sierter Wellenfunktionen
(1)
S = ψa ψa , (3.8)
(2) 1
S = √ ψa ψb + ψb ψa , (3.9)
2
(3)
S = ψb ψb . (3.10)
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 81
Nun sei angenommen, die Richtungen 1 und 2 näherten sich einander an, dann
reduziert sich der obige Ausdruck mit a = a1 = a2 und b = b1 = b2 auf
P = 2|a|2 |b|2 .
Falls a und b nun ununterscheidbare Bosonen sind, lässt sich zwischen dem Doppel-
streuprozess a in Richtung 1 und b in Richtung 2 sowie dem Austauschprozess a
82 H. Lyre
Pf = 0
Der jetzige Abschnitt richtet sich an mathematisch Interessierte und kann beim
ersten Lesen übersprungen werden. Es geht vornehmlich darum, die bisherigen
Überlegungen gruppentheoretisch zu charakterisieren.
Das Ununterscheidbarkeits-Postulat wirkt als Superauswahlregel auf dem Raum
(3.3) der Zustände gleichartiger Objekte. Es besagt, dass Hn in Teilräume oder
Sektoren zerfällt, die den Darstellungen der Permutationsgruppe entsprechen. Im
Zusammenspiel mit den beiden vorgängigen, empirischen Bemerkungen führt
das Ununterscheidbarkeits-Postulat auf folgendes Symmetrisierungspostulat (vgl.
Messiah 1979, Kap. 14):
Nun interessieren wir uns hier für die Darstellungen der Sn , diese hängen jedoch
mit der SU(n) zusammen. Während (3.7) eine eindimensionale (antisymmetrische)
Darstellung der S2 bildet, spannen (3.8)–(3.10) einen dreidimensionalen (symme-
trischen) Darstellungsraum auf. Letzterer ist reduzibel, denn jeder der Zustände
(3.8)–(3.10) entspricht einer irreduziblen eindimensionalen Darstellung. Allgemein
gilt, dass sämtliche total symmetrischen und total antisymmetrischen irreduziblen
Darstellungen der Sn eindimensional sind (in unserem Beispiel führt die Anwen-
dung des Permutationsoperators auf jeden der Zustände (3.7)–(3.10) nicht aus dem
eindimensionalen Strahl cψ, wobei ψ einer der Zustände (3.7)–(3.10) ist, heraus).
Demgegenüber sind die irreduziblen gemischt-symmetrischen Darstellungen, die
ab S3 auftreten, höherdimensional. So zerlegt die S3 den Zustandsraum H 3 dreier
Teilchen irreduzibel in je eine total symmetrische und eine total antisymmetrische
sowie zwei zweidimensionale gemischt-symmetrische Darstellungen, also Dubletts
(die wir hier nicht betrachten).4
Was sich hier am Beispiel des Zusammenhangs von S2 und SU(2) andeutet,
gilt allgemein: Die Multiplizität einer irreduziblen Darstellung der Sn ist gleich
der Dimension der irreduziblen Darstellung der SU(n) und umgekehrt.5 Die Dar-
stellungen von Sn und SU(n) lassen sich graphisch elegant durch die so genannten
Young-Schemata (auch Young-Tableaux) illustrieren, was hier leider nicht ausge-
führt werden kann (siehe hierzu Messiah 1979, Anhang D.4, sowie bereits Weyl
1928, Kap. V, § 13).
4 Vergleiche Übungsaufgabe 1.
5 Einige zusätzliche Beispiele ohne weiteren Kommentar: Das Tensorprodukt dreier fundamen-
taler SU(2)-Dubletts zerfällt in ein Dublett und ein Quartett: (2) ⊗ (2) ⊗ (2) = (2) ⊕ (4).
Das Tensorprodukt zweier fundamentaler SU(3)-Tripletts zerfällt in ein Triplett und ein Sextett:
(3) ⊗ (3) = (3) ⊕ (6). Und für das Tensorprodukt dreier fundamentaler SU(3)-Tripletts erhält
man: (3) ⊗ (3) ⊗ (3) = (1) ⊕ (8) ⊕ (8) ⊕ (10). Entsprechend besitzt die S3 1 eindimensionale anti-
symmetrische, 8 zweidimensionale gemischt-symmetrische und 10 eindimensionale symmetrische
irreduzible Darstellungen.
84 H. Lyre
ψ|Â|φ = φ|Â|ψ = 0.
In 3.1 wurde auf die Konsequenzen des empirischen Faktums der physikalischen
Ununterscheidbarkeit von Teilchen oder Objekten im formalen Apparat der Quan-
tentheorie eingegangen. Nun sollen die Implikationen dieses Faktums in Hinblick
auf Ontologie (oder auch zeitgenössische Metaphysik) diskutiert werden. Als
Ontologie bezeichnet man diejenige Teildisziplin der Philosophie, die nach dem
Sein und den Seinsformen fragt, also danach, was existiert, und den Arten und
Weisen, wie es existiert.6
6 Siehe Loux (1998) als empfehlenswerte Einführung in die moderne Ontologie, Castellani
(1998) als nützliche Textsammlung und insbesondere French und Krause (2006) als umfassende
Darstellung der nachfolgend behandelten Fragen der Quanten-Ontologie).
7 Beide Begriffe werden hier weitestgehend synonym gebraucht (Vorsicht ist allerdings geboten bei
9 Eigenschaften seien hier zunächst als im Prinzip empirisch erfassbar verstanden (wenn auch nicht
unbedingt direkt beobachtbar). In einer empirischen Wissenschaft wie der Physik scheint es vorder-
gründig immer um derartige Eigenschaften zu gehen, in der Metaphysik lassen sich Eigenschaften
jedoch auch jenseits ihrer Empirizität noch grundlegender unterscheiden, wie etwa die Unterschei-
dung zwischen Eigenschaften als Universalien und als Tropen andeutet – hierauf wird weiter unten
eingegangen. Zunächst seien Eigenschaften im Sinne der Physik aber als an Raumzeitpunkten in-
stantiierte Universalia, also in re verstanden. Zur Erläuterung: Da Universalia, wie in Fußnote 8
hervorgehoben, Abstrakta sind, lassen sich im Prinzip auch nicht-instantiierte Eigenschaften, so
genannte Universalia ante rem, betrachten. Die Eigenschaft, ein Einhorn zu sein, wäre ein Beispiel
dafür. Strenge Universalienrealisten nehmen derartige Eigenschaften (aus Gründen, die wir hier
nicht diskutieren können), in ihre Ontologie auf. Von diesen Möglichkeiten sei hier abgesehen.
10 In den Vorlesungen über die Metaphysik (herausgegeben von Pölitz 1821) schreibt Kant über den
Raum als Individuationsprinzip: „Die Gegenstände im Raum sind darum schon plura, weil sie im
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 87
Nehmen wir an, die Objekte a und b könnten einander vollständig durchdringen,
so dass sie fortan dieselbe Raumzeitstelle oder, bei ausgedehnten Objekten, Raum-
zeitregion einnehmen (vgl. auch Della Rocca 2005). Nennen wir die an dieser Stelle
oder Region befindliche Entität X. Welche Berechtigung hätten wir dann, von X zu
sagen, es handele sich um zwei Objekte im Gegensatz zu einem – oder auch tau-
send – Objekten? Falls wir ausschließlich im Sinne von (2) individuieren, müssten
wir strenggenommen sagen, a und b verlieren ab dem Moment der vollständigen
Durchdringung ihre Identität, statt dessen entsteht das neue Objekt X. Wir könn-
ten dem nur entgehen, falls wir zusätzlich zu (2) die Impenetrabilität der Objekte
fordern. Dass ferner auch die Topologie der Raumzeit oder konventionalistische
Elemente bezüglich der Begründung der physikalischen Topologie und Geometrie
eine Rolle spielen, wird am Ende des nächsten Abschnitts ausgeführt.
Das Leibniz-Prinzip
Man könnte einwenden, dass Orte und Abstände, also Lokalisation im Raum,
zu den Eigenschaften der Objekte hinzuzählen. Individuation im Sinne von (2)
reduziert sich dann auf Individuation im Sinne von (1). Wir wollen daher die
Idee, Identität durch Eigenschaftsgleichheit festzulegen, näher verfolgen. Diese
Idee liegt Gottfried Wilhelm Leibniz’ bekanntem Prinzip der Identität des Un-
unterscheidbaren zugrunde (gängigerweise abgekürzt als PII: Principium identitatis
indiscernibilium)11 :
Raume sind“ (PM 66). Die dann folgende Betrachtung zweier Wassertropfen findet sich auch im
Anhang zur „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ der Kritik der reinen Vernunft (A 1781/B 1787):
. . . ist doch die Verschiedenheit der Örter [. . .] zu gleicher Zeit ein genugsamer Grund der
numerischen Verschiedenheit des Gegenstandes (der Sinne) selbst. So kann man bei zwei
Tropfen Wasser von aller innern Verschiedenheit (der Qualität und Quantität) völlig abstra-
hiren, und es ist genug, daß sie in verschiedenen Örtern zugleich angeschaut werden, um
sie für numerisch verschieden zu halten. (A263/B319)
Kants Position lässt sich im Detail nur vor dem Hintergrund seiner Transzendentalphilosophie
verstehen, auf die hier nicht eingegangen werden kann und nach der sich die Physik nicht auf
die Dinge an sich bezieht, sondern nur darauf, wie die Dinge uns unter Maßgabe der Anschau-
ungsformen von Raum und Zeit und der Verstandeskategorien erscheinen. Zur Impenetrabilität
findet sich in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786 der Lehrsatz
3 im zweiten Teil zur Dynamik: „Die Materie kann ins Unendliche zusammengedrückt, aber nie-
mals von einer Materie, wie groß auch die drückende Kraft derselben sei, durchdrungen werden“
(AA IV:501).
11 In den Primae veritates schreibt Leibniz: „ Sequitur etiam hinc non dari posse duas res singulares
solo numero differentes“ (es folgt sogar, dass es keine zwei Einzeldinge geben kann, die sich
lediglich numerisch unterscheiden). Die Fortführung des Zitats zeigt zugleich, dass Leibniz das PII
als Folge eines von ihm als noch grundlegender angesehenen Prinzips angesehen hat, des Prinzips
vom zureichenden Grunde: „utique enim oportet rationem reddi posse cur sint diversae, quae ex
aliqua in ipsis differentia petenda est“ (denn es muss möglich sein, einen Grund anzugeben, warum
sie verschieden sind, was in irgendeinem Unterschiede in ihnen aufgesucht werden muss). Die
Bedeutung des PII illustrierte Leibniz nach eigenem Bekunden ganz anschaulich den Damen am
Schloss Herrenhausen, indem er sie aufforderte, zwei gleiche Blätter zu finden, was ihnen nicht
88 H. Lyre
Für alle Objekte x, y gilt: Wenn, für alle Eigenschaften F, x F dann und nur dann hat, wenn
y F hat, dann ist x mit y identisch.
Leibniz hatte sein Prinzip so verstanden, dass es sich bei den Eigenschaften, über
die quantifiziert wird, um monadische und intrinsische Eigenschaften handelt. Eine
Eigenschaft ist intrinsisch, falls sie einem Objekt unabhängig von der Existenz ande-
rer Objekte und Eigenschaften zukommt, andernfalls ist sie extrinsisch. Generische
Kandidaten, wenn auch keineswegs unkontrovers, für intrinsische Eigenschaften
sind Masse, Ladung und Spin bei Elementarteilchen. Extrinsische oder relationale
Eigenschaften, kurz: Relationen, hängen von mehreren Entitäten ab und sind
insofern mehrstellig. Die Relationen „ größer als“ oder „Bruder von“ sind para-
digmatische Beispiele für zweistellige Relationen, „ liegt zwischen“ ist dreistellig.
Monadische Eigenschaften sind demgegenüber einstellig.
Im Lichte des obigen Lewis-Zitats besitzt unsere Formulierung des PII den
Klang des Paradoxen, da zunächst von zwei Objekten x und y ausgegangen wird,
die dann als identisch behauptet werden. Um dies zu vermeiden, sollte das PII eher
in Form der logisch äquivalenten, kontrapositiven Formulierung der Ungleichheit
des Verschiedenen ausgedrückt werden:
Die Objekte x und y sind verschieden, falls x wenigstens eine Eigenschaft besitzt, die y
nicht besitzt oder umgekehrt.
gelang (vgl. C. I. Gerhardt (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften. 7 Bände,
Berlin 1875–1890. Nachdruck: Olms, Hildesheim, 1960, 214).
12 Dies zeigt man wie folgt:
Isn’t it logically possible that the universe should have contained nothing but two exactly
similar spheres? We might suppose that each was made of chemically pure iron, had a
diameter of one mile, that they had the same temperature, color, and so on, and that nothing
else existed. Then every quality and relational characteristic of the one would also be a
property of the other. (Black 1952, S. 156)
Blacks Szenario geht von der Voraussetzung aus, dass die Raumzeitstelle nicht zur
Individuation der beiden Kugeln herangezogen werden kann. Eine solche Voraus-
setzung ist beispielsweise in einer Welt erfüllt, in der der Raum relational ist. Ein
Relationalismus des Raumes besagt, dass der Raum nichts als die Menge möglicher
Körperrelationen ist, und dass daher ein leerer Raum unmöglich ist. Dem steht eine
substantialistische Raum-Ontologie gegenüber, die den Raum oder dessen Konsti-
tuenten als Entitäten sui generis ansieht. Während in einem relationalen Raum Orte
und Abstände lediglich relationale Eigenschaften der in ihm befindlichen Objekte
darstellen, besitzt ein Raumpunkt in einem substantialistisch verstandenen Raum
seinen Ort intrinsisch; im Prinzip existiert daher auch ein absolutes Bezugssystem
im Raum.14
Wie am Ende des vorigen Abschnitts schon angedeutet, berührt sich noch ein
weiteres Themenfeld der Philosophie der Raumzeit-Theorien mit unserer Thema-
tik: der Raumzeit-Konventionalismus. Hierunter wird die These verstanden, dass
die Geometrie (und gegebenenfalls auch die Topologie) der physikalischen Welt
für sich genommen kein empirisches Faktum ist, sondern lediglich die Konjunktion
aus Raumzeit-Geometrie und der Gesamtheit der physikalischen Gesetze. Um die
Geometrie der Raumzeit empirisch zu bestimmen, benötigt man vorgängig konven-
tionelle Annahmen über das Verhalten von Maßstäben und Uhren bei Transport.
Dabei kann eine gegebene Konvention (etwa die Annahme, dass Maßstäbe bei
13 David Lewis vertritt in seinem modalen Realismus bezüglich möglicher Welten die Auffassung,
dass es in anderen möglichen Welten Gegenstücke (counterparts) zu in der aktualen Welt befind-
lichen Entitäten gibt (etwa auch zu jedem Leser dieser Zeilen), nicht aber, wie beispielsweise
Plantinga, dass Transwelt-Identität möglich ist, dass also eine Person in dieser Welt identisch ist
mit Personen in anderen möglichen Welten (von denen wir reden, wenn wir Dinge sagen wie: „ich
wäre beinahe getroffen worden, konnte aber rechtzeitig zur Seite springen“). Counterparts hängen
über die Beziehung der Ähnlichkeit miteinander zusammen, sie können einander beliebig ähnlich,
nicht aber identisch sein. Vertreter der Transwelt-Identität verletzen demgegenüber, so Lewis, das
Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen (vgl. Lewis 1986, 198ff; Loux 1998, 166ff).
14 Zur Einführung in die Philosophie der Raumzeit-Theorien vgl. Lyre (2007).
90 H. Lyre
Transport starr und von invarianter Länge sind) im Prinzip durch jede andere er-
setzt werden, solange entsprechende Adjustierungen an anderer Stelle (etwa in der
Optik und Elektrodynamik bezüglich des Gangs von Lichtstrahlen) vorgenommen
werden. Insofern ist die Raumzeit-Geometrie für sich genommen empirisch unter-
bestimmt und nur die Summe aus Geometrie und Naturgesetzen Gegenstand der
empirischen Prüfung.
Hacking (1975) weist nun darauf hin, dass sich durch geeignete Wahl der
raumzeitlichen Struktur das PII gegen Kants Wassertropfen und Blacks Kugeln
verteidigen lässt. Blacks Welt lässt eigentlich nur folgende Beschreibung zu: Ge-
geben ist eine Kugel mit intrinsischen Eigenschaften Q, von der aus eine Kugel mit
Eigenschaften Q nach z Kugeldurchmessern entlang einer geraden Linie erreich-
bar ist. Dies Szenario lässt sich nun entweder beschreiben durch eine Welt, die zwei
Kugeln im euklidischen Raum enthält, oder aber eine Welt, die eine Kugel enthält in
einem zylindrischen Raum mit Zylinderumfang z (vgl. Adams 1979, S. 15). Blacks
Szenario zweier Kugeln lässt sich also konventionalistisch umdeuten in ein Szenario
mit nur einer einzigen, leibniz-individuierten Kugel. Hacking behauptet, dass sich
jeder Einwand gegen das PII konventionalistisch umdeuten lässt, so dass das PII
erfüllt ist.
Für das Folgende sei von konventionalistischen Vorbehaltsklauseln abgesehen
(siehe French 1975 für eine explizite Kritik an Hacking). Blacks Gedankenexperi-
ment unterminiert dann das PII als metaphysisches Grundprinzip zur Definition von
Identität. Man mag einräumen, dass es sich hierbei nur um eine denkbare, nicht
aber um die aktuale Welt handelt. Doch selbst wenn es wahr wäre, dass sich in un-
ser aktualen Welt keine Dinge finden lassen, die alle intrinsischen Eigenschaften
teilen (was gerade der springende Punkt des Ununterscheidbarkeits-Postulats der
Quantentheorie ist, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden), so bedroht be-
reits die bloße Vorstellbarkeit eines solchen Szenarios den Anspruch auf das PII als
metaphysisches Grundprinzip. Eine Welt, in der ein metaphysisches Grundprinzip
verletzt ist, sollte gar nicht widerspruchsfrei denkbar sein, sollte also keine logisch
mögliche Welt sein. Blacks Kugeln sind aber sehr wohl denkbar und konstituieren
somit einwandfrei eine logisch mögliche Welt.
Anhand der Blackschen Kugeln lässt sich die Idee illustrieren. Da die Kugeln
keinerlei intrinsische Unterschiede aufweisen, aber dennoch zwei anstelle
einer Kugel sind, scheinen sie ihre Identität solo numero zu besitzen: wir
können eine Vielheit bzw. Kardinalität zuweisen, auch wenn die Kugeln
nicht individuell zählbar sind, ihnen also keine Ordinalität zukommt. Ein
weiteres, gängiges Beispiel sind die Punkte einer Raumzeit-Mannigfaltigkeit.
Als Mannigfaltigkeits-Substantialismus bezeichnet man diejenige Variante des
Raumzeit-Substantialismus, nach der die ontologischen Konstituenten der Raum-
zeit die Punkte der Raumzeit-Mannigfaltigkeit sind. Als Punkte kommen ihnen
keinerlei Eigenschaften zu, sie sind völlig homogen. Zu Ihrer Individuation bieten
Mannigfaltigkeits-Substantialisten daher an, Raumzeit-Punkte als haecceistische
Entitäten anzusehen.15
Der Haecceitismus stellt die dritte Option im Rahmen der obigen Dreierliste
(Seite 86) dar. Individuation im Sinne von (1) und (2) war ja, wie wir gesehen haben,
mit Problemen behaftet. In beiden Fällen wird versucht, einen reduktiven Zugang
anzugeben und Identität auf andere Größen zurückzuführen wie etwa Mengen von
Eigenschaften oder Raumzeit-Verhalten. Individuation im Sinne von (3) sieht Iden-
tität als ontologisch irreduzibel und primitiv an. Für den Haecceitisten macht es
durchaus Sinn zu fragen, ob ein bestimmtes Individuum in einer anderen möglichen
Welt existiert, ohne dabei Bezug zu nehmen auf Eigenschaften oder raumzeitliches
Verhalten, ohne also Individualität auf (1) oder (2) zu reduzieren. Haecceistische
Unterschiede zwischen möglichen Welten sind folglich Unterschiede, die nicht auf
Unterschieden von Eigenschaften oder Verhalten beruhen. Aber genau dies lässt
den Haecceitismus für jede empirisch orientierte Metaphysik obskur erscheinen.
Das Konzept der Identität hat, wie es scheint, so oder so seinen Preis.16
Betrachten wir noch einmal das obige Beispiel der Individuation zweier Teilchen a
und b mit Raumzeit-Trajektorien γa und γb . Wir wollen nun zusätzlich annehmen,
dass das Raumzeitverhalten der Teilchen chaotisch ist, dass die Trajektorien γa und
γb also praktisch unvorhersagbar sind. Falls die Teilchenorte einem Beobachter
nur in diskreten Zeitintervallen zugänglich sind, besteht offenbar keine Chance
15 Gerade hiergegen hatte sich Leibniz in seiner bekannten Debatte mit Clarke (respektive Newton)
unter Berufung auf das PII und, vorgängig, den Satz vom zureichenden Grunde gewandt (vgl.
nochmals Lyre 2007).
16 Im Lichte der Tropenontologie zeigt sich, dass neben Eigenschaftsindividuation im Sinne von
(1), wobei Eigenschaften als Universalien zu verstehen sind, und haecceistischer Individuation
im Sinne von (3) noch die Individuation mittels Tropen als weitere Option hinzutritt. Offenbar
stellt sie eine Art Kombination aus (1) und (3) dar, insofern Tropen einerseits Eigenschaften sind,
andererseits aber irreduzibel und primitiv. Erstaunlicherweise wird diese Option in der Debatte um
Quantenidentität und Leibniz-Prinzip nirgends explizit in der Literatur betrachtet. Der Grund ist
wohl, dass Unterschiede gleichartiger Tropen (also beispielsweise die Elementarladungs-Tropen
zweier Elektronen) keine empirischen, sondern lediglich metaphysische Unterschiede darstellen,
ähnlich wie Haecceitäten.
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 93
In der klassischen Mechanik verlieren gleichartige Teilchen (sagen wir Elektronen) trotz
der Identität ihrer physikalischen Eigenschaften ihre „Individualität“ nicht. [. . .]
In der Quantenmechanik ist die Sachlage ganz anders. Wir haben bereits mehrfach darauf
hingewiesen, dass der Begriff der Bahnkurve eines Elektrons wegen des Unbestimmt-
heitsprinzips seinen Sinn vollkommen verliert. [. . . ] Lokalisieren wir die Elektronen und
nummerieren sie in einem gewissen Zeitpunkt durch, so haben wir dadurch nichts für ihre
Identifizierung in späteren Zeitpunkten gewonnen. Wenn wir eines der Elektronen in einem
anderen Zeitpunkt an einer Stelle des Raumes lokalisieren, dann können wir nicht angeben,
welches der Elektronen an diesen Punkt gelangt ist.
In der Quantenmechanik gibt es also prinzipiell keine Möglichkeit, ein einzelnes von
gleichartigen Teilchen gesondert zu verfolgen und damit die Teilchen zu unterscheiden.
Man kann sagen, dass gleichartige Teilchen ihre „ Individualität“ in der Quantenmechanik
vollkommen verlieren. (Landau und Lifschitz 1979, S. 218)
Entscheidend ist, dass der argumentative Fokus hier nicht auf der Frage der
gleichzeitigen Unterscheidbarkeit gleichartiger Teilchen liegt, sondern auf deren
Wiedererkennbarkeit in der Zeit. Man kann in systematischer Hinsicht zwischen
synchroner Identität (zu einem bestimmten Zeitpunkt) und diachroner Identität, al-
so der Persistenz eines Objekts in der Zeit, unterscheiden. Diese Unterscheidung
liegt auch tentativ der Alternative einer Individuation im Sinne von (1) gegenüber
(2) zugrunde. Die Problematik der Wiedererkennbarkeit wurde von den Gründer-
vätern der Quantentheorie frühzeitig erkannt, einen expliziten Zusammenhang zum
Leibniz-Prinzip stellte insbesondere Hermann Weyl her. Seine Ausführungen ge-
ben vordergründig Rätsel auf, hierüber stolpern auch Muller und Saunders (2008).
Spürt man dem nach, so zeigt sich, wie sich die Sichtweise auf das Leibniz-
Prinzip im Zusammenhang mit der Quantenmechanik historisch verändert hat. In
„ Gruppentheorie und Quantenmechanik“ von 1928 schreibt Weyl:
. . . die Möglichkeit, dass eines der beiden Individuen Hans und Karl im Quantenzustand E1 ,
das andere im Quantenzustand E2 sich befindet, vereinigt nicht zwei unterscheidbare Fälle,
die durch die Vertauschung von Hans und Karl auseinander hervorgehen; es ist unmöglich,
die wesensgleichen Individuen Hans und Karl, jedes für sich, in seiner dauernden Identität
mit sich selbst festzuhalten. Von Elektronen kann man prinzipiell nicht den Nachweis ihres
17 In der Bohmschen Theorie liegen die Dinge anders, wie Brown et al. (1999) zeigen. Aller-
dings muss hier die Möglichkeit der Beibehaltung der Individuation im Sinne von (2) dadurch
erkauft werden, dass die Topologie einander nicht überschneidender Raumzeit-Trajektorien direkt
in die Struktur des Konfigurationsraums und die Bohmsche Führungsgleichung eingebaut wird. In
gewisser Weise ist dabei die Forderung der Impenetrabilität ontologisch primitiv.
94 H. Lyre
Alibi verlangen. So setzt sich in der modernen Quantentheorie das Leibnizsche Princip von
der coincidentia indiscernibilium durch. (Weyl 1928, S. 214)
Das Ende von alledem ist, dass die Elektronen Leibnizens principium identitatis in-
discernibilium befriedigen, oder dass das Elektronengas ein „monomisches Aggregat“ ist
(Dirac-Fermi-Statistik). In einem tiefen und präzisen Sinn bestätigt die Physik die Mu-
takallimūn: weder dem Photon, noch dem (positiven und negativen) Elektron kann man
Individualität zuschreiben. Es hat sich herausgestellt, dass das Leibniz-Pauli-Verbot für
Elektronen, doch nicht für Photonen gilt. (Weyl 1966, S. 316–317)
Wiederum ist von einer Bestätigung des Leibniz-Prinzips die Rede, diesmal aller-
dings mit Hinweis darauf, dass das Elektronengas (und aufgrund der vorhergehen-
den Passagen im gleichen Sinne wohl auch das Photonengas) ein „monomisches
Aggregat“, also ein Ganzes, bildet. Bemerkenswert ist ferner Weyls Redeweise vom
„ Leibniz-Pauli-Verbot“ (hierauf soll weiter unten eingegangen werden).
Den Passagen kann aber sehr wohl eine stimmige Lesart abgewonnen werden.
Weyl hat offenbar nicht das Blacksche Szenario (als Gegenbeispiel des PII) vor
Augen, er betrachtet vielmehr, ähnlich wie später Landau und Lifschitz, die Frage
der Wiedererkennbarkeit in der Zeit, diskutiert also die diachrone im Gegensatz zur
synchronen Identität. Nun sind die zwei Szenarien von Hans und Karl vor und nach
der Vertauschung empirisch ununterscheidbar, sie müssen daher physikalisch als ein
einziges Szenario gezählt werden – im Sinne des PII.
Die numerische Distinktheit der Elektronen zu einem Zeitpunkt, also deren syn-
chrone Identität, stellt Weyl erst gar nicht in Frage. Vielleicht hat er stillschweigend
eine haecceistische Position vertreten, dies bleibt in den genannten Passagen offen.
In seinem späteren Buch „Symmetry“ von 1952 schreibt er:
I told you that Leibniz had given the geometric notion of similarity this philosophical twist:
Similar, he said, are two things which are indiscernible when each is considered by itself.
Thus two squares in the same plane may show many differences when one regards their
relation to each other; for instance, the sides of the one may be inclined by 34 ◦ against the
sides of the other. But if each is taken by itself, any objective statement made about one
will hold for the other; in this sense they are indiscernible and hence similar. (Weyl 1952,
S. 127–128)
Abermals: Die zwei Quadrate können zwar relational in ihrer Zweiheit unter-
schieden werden, im Sinne des „Quadratseins“ sind sie aber gleichartig, al-
so ununterscheidbar. Wäre Weyl der Frage der relationalen Unterscheidung der
Quadrate weiter nachgegangen, hätte er den Fokus also auf synchrone Identität ver-
schoben, so wäre er womöglich bei Überlegungen ausgekommen, die den späteren
Debatten wie in Abschn. 3.2.3 beschrieben nahe kommen. Statt dessen findet sich
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 95
Ebenso wie Weyl analogisiert Cassirer die Prinzipien von Leibniz und Pauli. Nach
dem Pauli-Prinzip besitzen keine zwei Fermionen die gleichen Quantenzahlen, also
Eigenschaften. Dies sieht nach einer Analogie zum PII aus – und zwar auch im
Sinne synchroner Identität. Da ein derartiges Verbot für Bosonen aber nicht besteht,
sollte hier eine Unterscheidung erfolgen. Die Passagen sowohl von Weyl als auch
von Cassierer sind in dieser Hinsicht unbefriedigend. Dies hat nicht nur mit der
Unterscheidung von Fermionen und Bosonen zu tun, sondern eben damit, ob man
das Leibniz-Prinzip zur diachronen oder zur synchronen Individuation heranzieht.
Letzteres kommt im weiteren Verlauf der Debatte immer mehr in den Fokus mit der
Folge, dass nun zum Teil gegenteilige Konsequenzen gezogen werden (zumindest
dem Wortlaut nach).
Henry Margenau spricht 1944 explizit von einem Widerspruch zwischen Pauli-
Prinzip und Leibniz-Prinzip und einer Verletzung des letzteren. Er sagt zunächst:
This conclusion recalls Leibnitz’ principle of the identity of indiscernibles; indeed physi-
cists have occasionally thought that the E.P. [exclusion principle] implies this principle with
regard to elementary particles of the same species.
Leider lässt Margenau offen, welche Physiker es waren, die dies zunächst behauptet
haben (aber es liegt natürlich nahe, dass er hierbei auch an Weyl dachte). Dann fährt
er fort:
. . . the E.P., so far as it goes, contradicts Leibnitz [. . .] two particles, as we have seen,
differ in no observable respect. Nevertheless quantum mechanics would lead to entirely
erroneous results if they were treated as a single entity. The particles, though they can not
96 H. Lyre
be labelled individually, can be counted. If and only if identity were understood as not
implying numerical identity, then two electrons in an atom could be said to be identical.
(Margenau 1944, S. 202)
Hier ist nun in klarer Weise die synchrone Fragestellung adressiert und damit die
Frage, wie es denn sein kann, dass zwei Teilchen, obwohl sie „in no observable
respect“ differieren, also empirisch ununterscheidbar sind, dennoch zwei Teilchen
sind. Dies lässt scheinbar nur einen Schluss zu: in synchroner Hinsicht ist das PII
verletzt.
Genau diese Ansicht findet, vor allem vonseiten der Wissenschaftsphilosophie,
in der Folge zunehmend Anhänger (siehe z. B. Post 1963; Cortes 1976; Teller 1983;
French und Redhead 1988; Butterfield 1993). Castellani und Mittelstaedt schreiben:
„[I]t is also commonly held that a form of the principle of the identity of indiscerni-
bles is valid in the domain of classical physics, while the principle is inapplicable in
the quantum case“ und sie setzen in Fußnote hinzu: „This is undoubtly the prevai-
ling position in the literature“ (Castellani und Mittelstaedt 2000, S. 1589). Insofern
ist Steven French durchaus zuzustimmen, wenn er die Verletzung des Leibniz-
Prinzips in der Quantentheorie in seinem Enzyklopädieartikel über „Identity and
Individuality in Quantum Theory“ (French 2011) als „received view“, als die herr-
schende Schulmeinung, bezeichnet (zur Fortführung dieser Problematik in der QFT
siehe 6.4.2).
Wenn aber das PII in der Quantentheorie verletzt ist, was folgt dann daraus?
Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass hier eine Reihe von Fragen
auseinandergehalten werden müssen, unter anderem:
Die Motive für diese Fragen tauchten im Verwirrspiel der obigen Zitate bereits ver-
schiedentlich auf. Sie sind im Folgenden noch genauer zu behandeln. Im der dritten
Frage kehren wir im nächsten Abschn. 3.2.3 nur vorläufig bejaht wird. Die vierte
Frage wird in Abschn. 3.2.4 aufgegriffen enden wir uns zunächst der ersten Frage
zu.
Haben wir es bei Quantenobjekten mit Nicht-Individuen zu tun? Was sollte
das bedeuten? In der Tat scheint die Quantentheorie das Blacksche Szenario Wirk-
lichkeit werden zu lassen: gleichartige Quantenobjekte besitzen eine Kardinalität,
keine Ordinalität. Dies ist eine direkte Konsequenz des Ununterscheidbarkeits-
Postulats – gleichartige Quantenobjekte befinden sich in Zuständen, für die es
möglich ist, eine Objekt-Gesamtzahl anzugeben, obwohl die Objekte für sich
empirisch ununterscheidbar sind. Man hat versucht, dies in didaktische Bilder zu
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 97
kleiden: Die Geldmenge in meinem Portemonaie ist durch die einzelnen Mün-
zen leibniz-individuiert, derselbe Geldbetrag auf meinem Konto ist es nicht.18 Es
bleibt zunächst unklar, ob dies eine zulässige Analogie ist, ob wir mathematische
Verhältnisse auf die Welt abbilden dürfen (siehe hierzu 3.2.4) und ob wir dadurch
das Wesen von Kardinalität erfasst haben. Quantenobjekte scheinen eine Art Ver-
schiedenheit solo numero zu besitzen – im Widerspruch zum Leibniz-Prinzip. Folgt
daraus dann nicht, dass die Quantentheorie den Haecceitismus bestätigt? Besitzen
Quantenobjekte also eine primitive Identität, die sich weder an der raumzeitlichen
Historie noch an Eigenschaften festmachen lässt? Interessanterweise haben nur
wenige Autoren diese Konsequenz explizit gezogen, und dies, obwohl die Überzeu-
gung, dass die Quantenmechanik das PII verletzt, sich als vorherrschend durchsetzte
(vgl. French und Redhead 1988). In jüngerer Zeit probieren einige Autoren sogar
eine Revision der Logik oder Mengenlehre (siehe 3.2.4).
Sowohl Weyl als auch Cassirer haben die Prinzipien von Leibniz und Pauli analogi-
siert. Pauli selbst war hiermit keineswegs einverstanden, 1949 schreibt er an Fierz
sinngemäß, dass das Leibniz-Prinzip als metaphysisches Prinzip doch eigentlich
keine empirischen Konsequenzen haben kann, und dann wörtlich:
Das wäre doch ein merkwürdiges Prinzip in der Philosophie von Leibniz, das nicht für
alle Objekte gilt (z. B. nicht für Photonen, was Weyl ausdrücklich betont), sondern nur für
manche.19
Auch Weyl wird von Pauli mit einem Brief bedacht. Zwar zeigen die Briefe, dass
Pauli über das PII nicht genau informiert war, aber er berührt die oben bereits an-
gesprochene, wichtige Frage, ob zwischen Bosonen und Fermionen hinsichtlich
PII und Ontologie ein Unterschied besteht. Dieser Punkt verdient eine genauere
Betrachtung.
Das Pauli-Prinzip besagt ja, dass sich keine zwei Fermionen im gleichen Zu-
stand befinden können, dass sie sich also in wenigstens einer Quantenzahl (also
einer Eigenschaft) unterscheiden müssen. Insofern entsteht in der Tat der Eindruck,
18 Schrödinger benutzt diese Illustration 1949: „ . . . the shillings and pennies in your bank account
are not individuals.“ (zitiert nach French und Krause 2006, S. 122), und Mary Hesse schreibt:
With pounds, shillings, and pence in a bank balance, however, it is not merely the case
that we cannot in practice re-identify a given pound appearing in the credit column, but
that there is no sense in speaking of the self-identity of this pound, and of asking where
it reappears in another column or whether it is the pound paid over the counter yesterday.
(Hesse 1966, S. 49–50)
19 Zitiert
nach von Meyenn 1987; siehe dort speziell den zweiten Abschnitt zum Ausschließungs-
prinzip und zur Teilchenunterscheidbarkeit.
98 H. Lyre
dass das Leibniz-Prinzip von Fermionen erfüllt wird. Wieso kommen dann aber
Margenau und der „received view“ zur gegenteiligen Ansicht? Die Anwendung
eines Permutationsoperators auf einen Fermionenzustand (3.6) führt ja lediglich
auf einen Vorzeichenwechsel, darüber hinaus entspricht seine Wirkung derjenigen
auf einen Bosonenzustand (3.4). Da ferner jede physikalische Observable Ô mit
jedem Permutationsoperator P̂ kommutiert (3.5), sind die Erwartungswerte aller
Operatoren für ein einzelnes Fermion in einem Viel-Fermionen-Zustand diesel-
ben. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen Fermionen und Bosonen:
Durch keine physikalische Messung kann eine Unterscheidung zwischen einzelnen
Fermionen oder Bosonen vorgenommen werden.
Trotz dieser zunächst überzeugenden Argumentation des „ received view“ hat
die Debatte um den Status des Leibniz-Prinzips in der Quantentheorie in der ersten
Hälfte der 2000er Jahre völlig unerwartet neuen Schub bekommen. Einen entschei-
denden Anstoß hierzu lieferten die Arbeiten von Simon Saunders (2003, 2006).
Saunders greift dabei auf frühere Arbeiten von Quine über schwache Unterscheid-
barkeit zurück – und deckt eine Ungenauigkeit in unserer bisherigen Argumentation
auf. Wir waren bislang davon ausgegangen, dass im PII über monadische, intrinsi-
sche Eigenschaften quantifiziert wird. Dies ist aber unter Umständen eine unnötig
starke Forderung. Gibt man diese Forderung auf, so lassen sich Leibniz-Prinzipien
unterschiedlicher Stärkegrade formulieren, je nachdem, über welche Arten von
Eigenschaften quantifiziert wird. Neben intrinsischen Eigenschaften lassen sich
auch relationale Eigenschaften betrachten, wobei insbesondere Ordungsrelatio-
nen und irreflexive Relationen zu interessanten Erweiterungen des Konzepts der
Unterscheidbarkeit führen.
Nach Quine (1976) lassen sich drei Arten von Unterscheidbarkeit differenzieren:
absolute, relative und schwache Unterscheidbarkeit. Sie sind wie folgt definiert:
Eine Relation R ist reflexiv, wenn für alle x in der betrachteten Domäne R(x, x) gilt. Falls
¬R(x, x) gilt, ist R irreflexiv.
Die verschiedenen Formen von Unterscheidbarkeit lassen sich auch anhand von
Graphen illustrieren: Im einfachen Fall eines benannten Graphen („labelled graph“)
mit zwei Knoten und einer Kante
a •·······• b (3.14)
sind die beiden Knoten absolut unterscheidbar. Hierbei kann „ ······“ sowohl eine
gerichtete als auch ungerichtete Verbindung sein. Der unbenannte und gerichtete
Graph
•–→––• (3.15)
stellt ein Beispiel für relative Unterscheidbarkeit der Knoten dar, der unbenannte
und ungerichtete Graph
•––––• (3.16)
ein Beispiel für schwach unterscheidbare Knoten. Demgegenüber sind die beiden
Knoten des kantenlosen Graphen
• • (3.17)
20 Einderartiger Zustand stellt eine didaktische Vereinfachung dar, die zwar gang und gäbe ist,
die aber zu falschen Schlussfolgerungen führen kann. Insbesondere fallen Antisymmetrie und
EPR-Verschränkung nicht zusammen. Denn die vollständige Zustandsbeschreibung eines Elek-
trons muss ja neben den Spinfreiheitsgraden noch die Freiheitsgrade im Raum mit umfassen, der
Zustand (3.18) könnte sonst so missverstanden werden, dass sich beide Spins am selben Raumzeit-
punkt befinden, was im Falle zweier Elektronenspins offensichtlich unmöglich ist. Für Teilchen ist
der vollständige Zustand eine Wellenfunktion im Spin-Orts-Raum. Dort sind aber Zustände, die
durch direkte Antisymmetrisierung von Produktzuständen entstehen, noch nicht EPR-verschränkt
100 H. Lyre
1
| = √ |↑|↓ – |↓|↑ . (3.18)
2
Beide Elektronen genügen der irreflexiven Relation R = „ haben entgegengesetzten
Spin zueinander, jedoch nicht zu sich selbst“. Die Elektronen oder allgemeiner Fer-
mionen sind daher nach Saunders schwach unterscheidbar, ihre Identität lässt sich
mit Hilfe des schwachen PII in R fundieren.
Folgt man dieser Argumentation, so sind Fermionen in derselben Weise schwach
unterscheidbar wie Blacksche Kugeln, nicht aber Bosonen. Saunders hält dies
für unproblematisch, denn es sind die elementaren Fermionen – Leptonen und
Quarks –, die den Aufbau der Materie bestimmen, während elementare Bosonen nur
als Eichteilchen und Higgs-Boson auftauchen. Als solche sind sie nach Saunders
nicht als Objekte, sondern als Anregungsmoden von Quantenfeldern anzusehen:
„We went wrong in thinking the excitation numbers of the mode, because differing
by integers, represented a count of things; the real things are the modes“ (Saun-
ders 2006, S. 60). Es ist fraglich, inwieweit eine solche Trennung von Fermionen
und Bosonen ontologisch plausibel ist, mindestens ebenso fraglich ist, inwieweit
Eichbosonen (in sowohl masseloser als auch massiver Form) und Higgs-Bosonen
ontologisch gleichrangig zu behandeln sind, denn schließlich kommt dem Higgs
nicht die Rolle eines Wechselwirkungsfeldes zu.
Doch man muss diese Fragen nicht weiter vertiefen, folgt man der Argumenta-
tion von Muller und Seevinck (2009), die zeigen, dass sich Saunders’ Resultat auf
Bosonen bzw. sämtliche Quantenobjekte erweitern lässt. Ihre Grundidee ist, dass
Quantenobjekte in einem Mehrobjekt-Zustand aufgrund der nicht-kommutativen
Algebrastruktur der Quantentheorie zwangsläufig bestimmten Heisenbergschen
Kommutatorrelationen genügen müssen, etwa der irreflexiven Relation „haben kom-
plementären Ort und Impuls zueinander“ oder allgemeiner „genügen kanonisch
konjugierten Variablen“. Nach dieser Argumentation spielt es keine Rolle, ob
wir Fermionen oder Bosonen betrachten, sämtliche Quantenobjekte genügen dem
schwachen PII (siehe auch Huggett und Norton 2014 für eine Verfeinerung der
Argumente).
Die Arbeiten von Saunders und Muller zur schwachen Unterscheidbarkeit haben
die Diskussion um den Status des PII und allgemein die Ontologie der Quantentheo-
rie neu belebt, sind aber nicht unkontrovers geblieben. Dies leitet über zum letzten
Abschnitt.
3.2.4 Ausblick
Rekapitulieren wir kurz den Stand der Dinge: Unstrittig in der Debatte um
die Ontologie der Quantentheorie sind der empirische Befund der physika-
lischen Ununterscheidbarkeit der Anwendung einer Teilchenpermutation auf einen
(im Sinne von Kap. 4). Antisymmetrie und EPR-Verschränkung sind konzeptionell voneinander zu
trennen, wie Ghirardi et al. (2002) ausführlich zeigen; siehe ebenso Friebe (2014).
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 101
There is no sign within the standard interpretation of quantum mechanics that „identical
fermions“ are things at all; there is no ground for the supposition that the quantum relations
„between fermions“ connect any actual physical objects. The irreflexivity of these relations
does not help us here. Quantum relations have a standard interpretation not in terms of what
is actual, but rather via what could happen in case of a measurement. (Dieks und Versteegh
2008, 934)
klassischer und Quantenphysik bei Fragen der Individuation keine Rolle spielen
soll.
Ferner berührt sich die Debatte um die Quantenontologie an wenigstens vier
Stellen in bemerkenswerter Weise mit der jüngere Debatte um den Strukturenrealis-
mus, einer moderaten Variante eines wissenschaftlichen Realismus mit vorrangigem
Bezug auf die moderne Physik (vgl. auch Abschn. 6.5.1 zur strukturenrealistischen
Interpretation der QFT). Strukturenrealisten, vor allem in der weit verbreiteten
ontischen Spielart dieser Position, vertreten die Ansicht, dass die fundamentalen
Entitäten der Welt strukturell individuiert sind. Wie dies genau zu verstehen ist,
ist Gegenstand eigener Diskussionen und kann im Folgenden nur implizit deutlich
gemacht werden (vgl. Lyre 2012 und French 2014 als umfassende Darstellung).
Steven French (1989) argumentiert, dass die Quantentheorie sowohl mit der An-
nahme verträglich ist, Quantenobjekte seien keine Individuen (im Leibnizschen
Sinne aufgrund der Verletzung des starken PII), als auch mit der gegenteiligen An-
nahme, sie seien Individuen (im haecceistischen Sinne). Wir haben es also mit
einer Unterbestimmtheit in Bezug auf die Metaphysik selbst zu tun. Diese meta-
physische Unterbestimmtheit ist nach French und Ladyman (2003) ein Beleg dafür,
dass eine an objekt-artigen Entitäten orientierte Ontologie fehl geht und durch eine
strukturelle Metaphysik zu ersetzen ist.
French und Krause (2006) gehen noch weiter und versuchen, eine revidierte
Mengenlehre für Quasi-Objekte zu entwickeln. Hierin besteht eine zweite Berühr-
stelle zwischen Quantenontologie und Strukturenrealismus. Eine dritte Berührstelle
hängt mit der Beobachtung zusammen, dass die Permutations-Invarianz der Quan-
tentheorie eine Entsprechung in der Allgemeinen Relativitätstheorie in Form der
Diffeomorphismen-Invarianz hat, genauer: Nach John Stachel (2002) zielen beide
Invarianzen auf die abstrakte Eigenschaft bestimmter Theorien, allgemein permu-
tierbar zu sein. Eine Theorie T ist allgemein permutierbar, falls Modelle von T
als äquivalent angesehen werden, die sich nur darin unterscheiden, welche Objekte
welche Stellen oder Rollen in einem Netz von Relationen einnehmen. In der All-
gemeinen Relativitätstheorie bezieht sich die Diffeomorphismen-Invarianz auf die
allgemeine Permutierbarkeit von Raumzeit-Punkten, für die Quantentheorie argu-
mentieren Caulton und Butterfield (2012), dass sie allgemein permutierbar ist, wenn
man die volle Symmetrische Gruppe, also auch die gemischt-symmetrischen Dar-
stellungen bzw. Parastatistik mit betrachtet. Ob derartige Objekte in der Natur fak-
tisch realisiert sind, ist sekundär; entscheidend ist, dass Ununterscheidbarkeits- und
Symmetrisierungspostulat der Quantentheorie die Möglichkeit hierzu beinhalten.
Viertens ist das schwache PII vordergründig durchaus verträglich mit einem
Strukturenrealismus: Objekte oder Relata werden lediglich bis auf irreflexive Rela-
tionen individuiert. Die weiter oben schon artikulierte Kritik an nicht in Relata
fundierten Relationen in Zusammenhang mit dem schwachen PII kann von struk-
turalistischer Seite auch so gewendet werden, dass entweder Relationen und ihre
Relata ontologisch auf derselben Stufe stehen, oder aber die Relata bloße Knoten-
punkte in einem Netz aus Relationen sind. Strukturalismus (sowohl in Physik als
auch Mathematik) ist in allgemeinster Hinsicht gerade definierbar als diejenige Po-
sition, die die Individualität oder Kardinalität (numerische Verschiedenheit) von
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 103
Objekten in deren Verortung oder Rolle in einem Gefüge oder Netzwerk relationaler
Eigenschaften fundiert. Somit treffen sich die Projekte des Strukturenrealismus und
der Verteidigung des schwachen PII genau bei dem Versuch, eine Fundierung von
Relationen zu erreichen, die weder in einen starken Objektbegriff nach Maßgabe des
starken PII mündet noch in einen Haecceitismus oder gar einen Eliminativismus (im
Sinne von Relationen ohne Relata), sondern mit einer schlanken Konzeption von
Objekten bzw. Relata im Sinne primitiver numerischer Verschiedenheit auskommt
(„thin objects“; vgl. French und Ladyman 2011).21
Die Debatte um die Ontologie der Quantentheorie zeigt exemplarisch, wie sich
Fortschritt in der Philosophie sehr häufig gestaltet: Neue Einsichten werden gewon-
nen und die Diskussion auf ein höheres und abstrakteres Niveau gehoben. Doch es
ergeben sich nicht minder vertrackte Anschlussfragen, und die Debatten bleiben of-
fen. Wie offen die Debatte im Falle der Quantenontologie ist, haben diese letzten
Ausblicke gezeigt.
Übungsaufgaben zu Kap. 3
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21 Nach Leitgeb und Ladyman (2008) könnte die Welt einem kantenlosen Graphen entsprechen,
ohne dass dies in einen Haecceitismus mündet, sondern immer noch in Einklang mit dem
Strukturalismus stünde. Graphentheoretisch genügt der kantenlose Graph (3.17) ebenso wie sein
Gegenstück mit Kanten (3.16) denselben nicht-trivialen Automorphismen, beide sind strukturel-
le Invarianten unter Knotenpermutation. Dennoch wird die Verschiedenheit der Knoten in (3.17)
durch keinerlei Relationen, nicht einmal durch schwach unterscheidende, irreflexive Relationen
fundiert.
104 H. Lyre
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Verschränkung und Nicht-Lokalität:
EPR, Bell und die Folgen 4
Paul M. Näger und Manfred Stöckler
Inhaltsverzeichnis
4.1 Einführung und Überblick ............................................................................... 107
4.2 Das EPR-Argument und seine Folgen ................................................................ 110
4.3 Der Bellsche Beweis ...................................................................................... 125
4.4 Nicht-Lokalität.............................................................................................. 148
4.5 Alternative Lösungsvorschläge ......................................................................... 171
4.6 Resümee ...................................................................................................... 180
Übungsaufgaben zu Kap. 4 ...................................................................................... 181
Literatur zu Kap. 4 ................................................................................................. 182
Die Probleme, die wir in diesem Kapitel diskutieren, haben ihren formalen Ur-
sprung in der Art und Weise, wie in der Quantentheorie zusammengesetzte Systeme
beschrieben werden (vgl. Abschn. 3.1.2). Bei solchen Beschreibungen gibt es
einerseits Produktzustände, wie z. B.
Dieser Zustand soll ein aus zwei Objekten zusammengesetztes System beschrei-
ben, die verschiedenartig sind. Die Indizes „1“ bzw. „2“ außerhalb der Klammern
kennzeichnen, welchem Teilsystem der Zustand in der Klammer zukommt. „|↑z 1 “
M. Stöckler
Institut für Philosophie, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
e-mail: stoeckl@uni-bremen.de
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 107
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_4
108 P.M. Näger und M. Stöckler
bedeute z. B., dass das Teilsystem 1 den Zustand Spin-up bzgl. der räumlichen Rich-
tung z hat, „|↓z 1 “ entsprechend, dass es Spin-down in dieser Richtung besitzt. Ganz
analog zur klassischen Physik und unseren Intuitionen kann also in Produktzustän-
den jedem der Teilsysteme ein eindeutiger Zustand zugeschrieben werden.
In der Quantenphysik kann man jedoch im allgemeinen Fall zusammengesetzte
Systeme nicht durch Produktzustände charakterisieren, sondern nur durch Super-
positionen von Produktzuständen, d. h. durch sog. verschränkte Zustände, wie
z. B.
1
|ψ – = √ |↑z 1 |↓z 2 – |↓z 1 |↑z 2 . (4.2)
2
Im folgenden Abschnitt werden wir solche Zustandsvektoren auch formal genauer
analysieren, in dieser Einleitung geben wir zunächst nur einen anschaulichen Über-
blick. Ein Zustand wie (4.2) beschreibt ein Gesamtsystem, das man sich aus zwei
Teilsystemen zusammengesetzt denken kann (wie es die Indizes nahe legen). Im
Gegensatz zu einem Produktzustand kann er jedoch nicht in Produktform gebracht
werden. Dies bedeutet, dass beim Vorliegen des Zustands |ψ – weder dem Sys-
tem 1 noch dem System 2 ein eindeutiger Spinzustand zugeordnet werden kann.
D. h. den einzelnen Teilsystemen 1 und 2 kann weder der Zustand Spin-up noch der
Zustand Spin-down noch ein Überlagerungszustand beider zugeordnet werden. Der
Gesamtzustand (4.2) legt die Zustände der Teilsysteme nicht fest.
Wenn man jedoch an den Systemen 1 und 2 Spin-Messungen durchführt, findet
man an den Teilsystemen zufällig verteilte, aber eindeutige Ergebnisse Spin-up bzw.
Spin-down, und insbesondere Korrelationen zwischen diesen Messergebnissen:
Wenn man für System 1 den Zustand |↑z 1 misst, liegt nach der Messung am System
2 mit Sicherheit der Zustand |↓z 2 vor (und umgekehrt), ebenso sind |↓z 1 und |↑z 2
korreliert. Diese Korrelationen liegen nach Auskunft der Quantenmechanik auch
dann vor, wenn die Orte der Messungen sehr weit voneinander entfernt sind, und
selbst dann, wenn der zeitliche Ablauf der Messungen so ist, dass nicht einmal ein
Signal mit Lichtgeschwindigkeit diese Korrelationen herstellen könnte. Verschrä-
nkung etabliert einen besonderen Zusammenhang zwischen den Teilsystemen, der
alle üblichen raumzeitlichen Beschränkungen ignoriert.
Solche verschränkten Systeme sind der Grund für fast alle zentralen Probleme
der Interpretation der Quantentheorie. Wir sind ihnen bei der Diskussion des Mess-
prozesses (Abschn. 2.3.1) und der quantenmechanischen Beschreibung gleicher
Teilchen (Kap. 3) begegnet. Erwin Schrödinger hat die Möglichkeit verschränkter
Systeme als den charakteristischen Zug der Quantentheorie bezeichnet, der eine
entscheidende Abweichung von der klassischen Denkweise erzwingt (Schrödinger
1935b, S. 555).
In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf diese Korrelationen und damit
auf eine besondere Konsequenz der Existenz verschränkter Systeme, die zum
ersten Mal in einem berühmten Gedankenexperiment von Albert Einstein, Boris
Podolsky und Nathan Rosen (1935) hervorgehoben wurde. (Das Akronym ihrer
Nachnamen, „EPR“, wurde zum Namensgeber für das gesamte damit zusammen-
hängende Themenfeld.) Der Aufsatz, in dem sie diese wegen der klassisch ganz
unerwarteten Korrelationen oft „EPR-Paradoxon“ genannte Situation darstellen und
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 109
1 Fürdie Auseinandersetzungen der ersten 50 Jahre vgl. Stöckler (1984), für gegenwärtige
Diskussionen Fine (2013).
110 P.M. Näger und M. Stöckler
ψ(x1 , x2 ) = ei(x1 –x2 +x0 )p/ dp. (4.3)
Eine solche Situation entsteht, wenn zwei Systeme einige Zeit in Wechselwirkung
standen, dann aber getrennt werden und keine Wirkung mehr aufeinander ausüben.
Es wird nun überlegt, was geschieht, wenn man in großer Entfernung voneinander
den Ort bzw. den Impuls des jeweiligen Teilchens misst. Wohl in Anlehnung an die
Theorie der Beschreibung zusammengesetzter Systeme, die von Neumann für seine
Analyse des Messprozesses vorgelegt hat (vgl. Abschn. 2.3), gehen Einstein, Podol-
sky und Rosen davon aus, dass man aufgrund der Verschränkung der Wellenfunktion
durch Orts- oder Impulsmessungen am Teilchen 1 den entsprechenden Zustand des
Teilchens 2 bestimmen kann. Wenn man am Teilchen 1 einen bestimmten Impuls
misst, kann man sofort auch für das Teilchen 2 dessen Impuls mit Sicherheit vorher-
sagen. Wenn man für das Teilchen 1 einen bestimmten Ort misst, kann man sofort
auch den Ort des Teilchens 2 mit Sicherheit vorhersagen.
Da, so das Argument, die Messung am Teilchen 1 den Zustand am Teilchen 2
wegen der fehlenden physikalischen Wechselwirkung nicht ändern kann, muss dem
Teilchen 2 sowohl ein definierter Impuls als auch ein definierter Ort zugeschrieben
werden. Das wird aber in der Zustandsbeschreibung der Quantenmechanik nicht
abgebildet, woraus folgt, dass die Quantenmechanik unvollständig ist. Die Mes-
sung wird epistemisch verstanden, als eine Änderung unseres Kenntnisstandes des
Systems:
Wir sehen daher, dass als Folge zweier verschiedener Messungen, die an dem ersten Sys-
tem ausgeführt werden, dem zweiten System zwei verschiedene Zustände zugesprochen
werden. Da andererseits die beiden Systeme zum Zeitpunkt der Messung nicht mehr mit-
einander in Wechselwirkung stehen, kann nicht wirklich eine Änderung in dem zweiten
112 P.M. Näger und M. Stöckler
System als Folge von irgendetwas auftreten, das dem ersten System zugefügt werden mag.
(Einstein et al. 1935, dt. Übers. in Baumann und Sexl 1987, S. 84)
Einstein und seine Ko-Autoren setzen also voraus, dass die getrennten Teilsys-
teme keine physikalischen Wirkungen mehr aufeinander ausüben können (was man
als eine Art von Lokalitätsannahme ansehen kann). Das wird auch in einem Brief
Einsteins an Karl Popper vom 11.9.1935 deutlich:
Da es aber ungereimt ist, anzunehmen, dass der physikalische Zustand von B davon abhän-
gig sei, was für eine Messung ich an dem von ihm getrennten System A vornehme, so heißt
dies, dass zu demselben physikalischen Zustande von B zwei verschiedene ψ-Funktionen
gehören. Da eine vollständige Beschreibung eines physikalischen Zustandes notwendig ei-
ne eindeutige Beschreibung sein muss . . . , so kann die ψ-Funktion nicht als die vollständige
Beschreibung eines Zustandes aufgefasst werden . . .
Man kann also nicht wohl um die Auffassung herumkommen, dass das System B tatsächlich
einen bestimmten Impuls und eine bestimmte Koordinate hat. Denn was ich nach freier
Wahl prophezeien kann, das muss auch in der Wirklichkeit existieren. (Einstein, Brief an
Popper 1935, abgedr. in Popper 1971, S. 412–418)
Während wir somit gezeigt haben, dass die Wellenfunktion keine vollständige Beschreibung
der physikalischen Realität liefert, lassen wir die Frage offen, ob eine solche Beschreibung
existiert oder nicht. Wir glauben jedoch, dass eine solche Theorie möglich ist. (Einstein
et al. 1935, dt. Übers. in Baumann und Sexl 1987, S. 86)
Der kurze EPR-Aufsatz (vier Seiten in der Zeitschrift Physical Review von 1935),
insbesondere die Verwendung einer verschränkten Wellenfunktion, die besonde-
re Messanordnung sowie einzelne Definitionen und Beweisschritte, haben eine
Fülle von Reaktionen und Diskussionen ausgelöst, die bis heute anhalten. Er ge-
hört zu den wirkungsmächtigsten Arbeiten zur Philosophie der Quantentheorie.
Im Folgenden soll der Aufbau dieses Aufsatzes genauer betrachtet werden, auch
weil man dabei studieren kann, wie mathematischer Formalismus, physikalische
Interpretation und philosophische Prinzipien ineinander greifen.2
Aus heutiger Sicht ist das Argument aufgrund mindestens einer falschen Prämis-
se, der Lokalitätsannahme, fehlerhaft. Die Argumentationsstrategie ist zudem nicht
leicht durchschaubar. Die Prämissen, die unterschiedlicher Art sind (Bedeutungs-
festlegungen, Elemente des mathematischen Formalismus der Quantenmechanik,
2 Eine wertvolle Hilfe sind dabei das Material und die sorgfältigen Analysen von Kiefer (2015).
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 113
(R) Realitätskriterium:4 „Wenn wir, ohne auf irgendeine Weise ein System zu
stören, den Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit (d. h. mit der Wahr-
scheinlichkeit gleich eins) vorhersagen können, dann gibt es ein Element der
physikalischen Realität, das dieser physikalischen Größe entspricht.“ (S. 81)
3 Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Übersetzung der EPR-Arbeit in Baumann und Sexl 1987.
Diese Seitenzahlen sind auch im Abdruck der Arbeit im Buch von Kiefer (2015) zu finden.
4 Diese etwas missverständliche Bezeichnung geht zurück auf Bohr (1935).
114 P.M. Näger und M. Stöckler
könne. Dieser Auffassung, der von Niels Bohr seit seinem Solvay-Vortrag 1927 ge-
prägten Mehrheitsmeinung, wollen die Autoren widersprechen, indem sie zeigen,
dass einem Teilchen zumindest unter bestimmten Bedingungen doch gleichzeitig
ein definierter Ort und ein definierter Impuls zugeordnet werden kann.
Die formale Struktur des Arguments nimmt dieses Ziel in einer zunächst nicht
ganz offensichtlichen Weise auf. Einstein, Podolsky und Rosen stellen in einem
Zwischenschritt nämlich fest, dass aus der Quantenmechanik und ihren seman-
tischen Annahmen (V) und (R) für Größen mit nichtvertauschbaren Operatoren
folgende aus den Teilaussagen (1) und (2) zusammengesetzte Aussage folgt (vgl.
EPR, S. 83):
(A1): Entweder ist (1) die quantenmechanische Beschreibung der Realität, wie
sie durch die Wellenfunktion gegeben ist, nicht vollständig oder (2) den beiden
physikalischen Größen kommt nicht gleichzeitig Realität zu.
Käme den beiden Größen nämlich gleichzeitig Realität zu, müssten sie in einer
vollständigen Theorie eine Entsprechung haben. In die Herleitung von (A1) gehen
Elemente der Quantentheorie sowie semantische Festlegungen wie (V) und (R) ein,
aber keine Annahmen über die Lokalität oder Nicht-Lokalität der Quantentheorie.
Im zweiten Teil des Aufsatzes wird die verschränkte Wellenfunktion (4.3) für
zwei Teilchen benutzt, um die Unvollständigkeit der Quantenmechanik zu zeigen.
Die Autoren geben dafür (im drittletzten Abschnitt ihrer Arbeit, S. 86) folgende
aussagenlogische Struktur an. Die oben genannte Aussage (A1) (entweder (1) oder
(2)) ist die erste Prämisse. Die zweite Prämisse ist die Aussage (A2), die in einer
längeren Überlegung und mit weiteren Voraussetzungen mit Hilfe der verschränkten
Wellenfunktion hergeleitet wird ((1) und (2) stehen für die gleichen Aussagen wie
in (A1)):
(A2): Aus der Negation von (1) folgt die Negation von (2).
(A2) besagt also, dass aus der Vollständigkeit der quantenmechanischen Be-
schreibung folgt, dass den beiden physikalischen Größen gleichzeitig Realität
zukommt.
Aus (A1) und (A2) folgt dann aussagenlogisch korrekt5 die Konklusion (K),
dass die Aussage (1) wahr ist, d. h.:
Allerdings wird nicht richtig deutlich, warum die Autoren meinen, sie hätten
die Implikation (A2) hergeleitet. Es ist nämlich nicht klar, an welcher Stelle der
5 Prämisse A1: Entweder (1) ist wahr oder (2) ist wahr. Prämisse A2 durch Kontraposition um-
geformt: (2) impliziert (1). Der Nachweis der Gültigkeit dieses Schlusses ist eine Variante des
klassischen Dilemmas: Entweder (1) (und damit K) ist wahr. Oder (2) ist wahr, aber auch in diesem
Fall ergibt die Prämisse A2, dass (1) wahr ist.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 115
Überlegungen im zweiten Teil des Aufsatzes die Annahme der Vollständigkeit der
Theorie eine Rolle spielt (vgl. Fine, 2013, Abschn. 1.2). Leicht nachvollziehbar wä-
re dagegen die Behauptung, dass unter Benutzung von (R) gezeigt wurde, dass (2)
falsch ist (vgl. das im Überblick 4.2.1 skizzierte Kern-Argument von EPR) und
wegen (A1) die Aussage (1) wahr sein muss (vgl. Kiefer 2015, S. 40) – aber das
schreiben EPR nicht. Eine Erklärung für die Undurchsichtigkeit der Argumentation
könnten Differenzen zwischen Einsteins eigentlichem Anliegen und den Formulie-
rungen Podolskys sein, der nach vielen Diskussionen zwischen den Autoren den
Artikel dann (wie es heißt, aus sprachlichen Gründen) aufgeschrieben hat (vgl.
Kiefer 2015, S. 44–45, und Fine 2013, Abschn. 1).
Soweit zur groben formalen Struktur. Schauen wir uns nun das bereits im voran-
gehenden Abschn. (4.2.1) skizzierte Kern-Argument von EPR, das angeblich durch
(A2) formalisiert wird, noch einmal genauer an. Wir haben schon skizziert, dass
mit Hilfe der Zustandsfunktion (4.3) für ein System aus zwei Teilchen gezeigt wird,
wie es durch Messungen am Teilchen 1 möglich ist, für das Teilchen 2 einen be-
stimmten Wert für eine Ortsmessung bzw. für eine Impulsmessung vorherzusagen.6
Mit Hilfe der Quantentheorie unter Einschluss der Annahme, dass sich bei einer
Messung der Zustandsvektor unstetig ändert („Kollaps“, von EPR auch „Reduk-
tion des Wellenpakets“ genannt, S. 84)7 wird abgeleitet, dass nach der Messung
für das Gesamtsystem ein Produktzustand vorliegt und damit in jedem Teilsystem
ein definierter Zustand vorliegt. Aufgrund der Verschränkung des ursprünglichen
Zustandsvektors (4.3) folgt, dass je nachdem welche Messung man am ersten
Teilchen durchführt, dem zweiten Teilchen je unterschiedliche Zustandsvektoren
zugeordnet werden können (S. 84), gegebenenfalls sogar solche, die Eigenzustände
nicht-kommutierender Operatoren sind (S. 85).
Bis dahin haben EPR nur Voraussetzungen gemacht, die im Einklang mit der
Quantentheorie stehen.8 Auf S. 84 wird dann allerdings – beinahe beiläufig – ei-
ne weitere Prämisse eingeführt: „Da . . . die beiden Systeme zum Zeitpunkt der
Messung nicht mehr miteinander in Wechselwirkung stehen, kann nicht wirklich
eine Änderung in dem zweiten System als Folge von irgendetwas auftreten, das
dem ersten System zugefügt werden mag.“ Das ist eine Lokalitätsannahme, die
physikalische und philosophische Gründe hat, die wir im weiteren Verlauf dieses
Kapitels noch diskutieren werden. Wir werden sehen, dass aus heutiger Sicht die-
se Lokalitätsannahme falsch und das EPR-Argument deswegen zu beanstanden ist.
Die Annahme wird benötigt um zu argumentieren, dass die Messung an dem einen
Objekt den Zustand des anderen Objekts nicht stört. Nur unter dieser Voraussetzung
kann man EPRs Konklusion ableiten.
nes System von EPR schon als Vollständigkeitsannahme im Sinne der Negation von (1) gedeutet.
Einstein stellte nämlich z. B. auf dem Solvay-Kongress 1927 seine eigene statistische Ensemble-
Interpretation einer Interpretation gegenüber (die offenbar Bohr zugeschrieben wird), nach der die
Wellenfunktion eine „vollständige Theorie einzelner Prozesse“ ist (s. Howard 1990, S. 92).
116 P.M. Näger und M. Stöckler
9 EPR müssen also nicht kontrafaktisch argumentieren. Sie schließen explizit aus, dass Ort und
Impuls der Objekte gleichzeitig vorhergesagt oder gemessen werden können (S. 86).
10 Siehe Fine 2013, Abschn. 1.3; vgl. auch Held 2002 und Kiefer 2015, S. 50.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 117
(P1) Eine Störung an einem Objekt A kann ein anderes entferntes Objekt B
nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit beeinflussen. (Lokalität)
(P2) Wenn man, ohne auf irgendeine Weise ein System zu beeinflussen, den
Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit vorhersagen kann, dann
gibt es ein Element der physikalischen Realität (eine Eigenschaft), das
dieser Größe entspricht. (Realitätskriterium)
(P3) In einer vollständigen physikalischen Theorie muss jedes Element der
physikalischen Realität seine Entsprechung in der Theorie haben. (Be-
dingung der Vollständigkeit)
(P4) Quantenmechanischer Formalismus
(C1) Eine Messung an Objekt A eines verschränkten Zustandes erlaubt,
das Ergebnis einer Messung am entfernten Objekt B mit Sicherheit
vorherzusagen. (aus P4)
(C2) Eine Messung an Objekt A eines verschränkten Zustandes beeinflusst
das entfernte Objekt B nicht (oder zumindest nicht bevor die Messung
an B abgeschlossen ist). (aus P1)
(C3) Dem Wert der bei B gemessenen Größe entspricht ein Element der
Realität. (aus P2, C1 & C2)
(C4) Das Element der Realität bei B muss bereits vor der Messung an A
vorgelegen haben. (aus P1 & C3)
(C5) Gemäß der Quantentheorie liegt vor der Messung an A die Eigenschaft
von B nicht fest. (aus P4)
(C6) Also kann die Quantenmechanik nicht vollständig sein.
Dieses Argument ist gültig (d. h. logisch korrekt). Es ist wohl auch einfa-
cher als das Argument, das EPR im Sinn hatten, weil nur die Messung einer
Größe (jeweils an A und B) statt zweier Größen nötig ist. Da durch Bells Argu-
ment (s. Abschn. 4.3) heute mit hoher Sicherheit davon ausgegangen werden
kann, dass die Quantenwelt nicht-lokal ist, ist jedoch mindestens eine Prä-
misse des Arguments, nämlich (P1), nicht wahr. Dem Argument gelingt es
also nicht, seine Konklusion als wahr zu erweisen. Aus dem Scheitern des
Arguments folgt natürlich nicht, dass die Quantenmechanik vollständig ist.
Ob dies der Fall ist, ist nach wie vor eine offene Frage (siehe die Debatte um
Interpretationen der Quantentheorie in Kap. 2 und 5).
118 P.M. Näger und M. Stöckler
Kehren wir zum Abschluss noch einmal zur EPR-Arbeit zurück. Im viertletz-
ten Absatz wird dort eine stringente Argumentation angedeutet. In ihr wird an
einem Beispiel gezeigt, dass es Elemente der Realität gibt (nämlich das gleich-
zeitige Vorliegen eines definierten Ortes und eines definierten Impulses an einem
der Teilchen des Systems), die nach der Quantentheorie nicht gleichzeitig vorliegen
dürften (veranschaulicht in der Heisenbergschen Unschärferelation). Das gleichzei-
tige Vorliegen wird dabei dadurch bewiesen, dass Ort und Impuls mit Sicherheit
vorhergesagt werden können, ohne dass das System gestört wird. Aus (V) und
(R) folgt damit die Unvollständigkeit der Quantentheorie. Diese Argumentations-
weise ist etwas irreführend, denn auf die Nichtvertauschbarkeit der Größen (und
damit auf die Verletzung der Heisenbergschen Unschärferelation) kommt es gar
nicht so sehr an. Auf gleiche Weise könnte man nämlich argumentieren, dass man
dem zweiten Teilchen verschiedene Impulswerte gleichzeitig zuordnen kann, wenn
man am ersten Teilchen passende Messungen macht. Mit Hilfe der Struktur des
EPR-Arguments könnte man dann die absurde Konklusion ableiten, dass das zweite
System in Wirklichkeit beliebige Impulswerte hat. Diese Konsequenz zeigt, dass
mindestens eine Prämisse falsch oder die Prämissenmenge inkonsistent ist. Man
kann dann aber aus dem Argument nicht mehr einen Hinweis darauf ableiten, dass
Quantenobjekte gleichzeitig einen Ort und einen Impuls haben.
EPRs Aufsatz ist ein klarer Angriff auf die noch junge Quantentheorie. Ent-
sprechend sahen sich die Urheber der Theorie genötigt, schnell zu reagieren: Bohr
schreibt noch im selben Jahr (1935) eine Antwort auf das EPR-Argument. Sein
Artikel greift – unter dem selben Titel („Can quantum mechanical description of
physical reality be considered complete?“) – die Frage von EPR auf und versucht die
Theorie auf Grundlage seiner eigenen, speziellen Deutung zu verteidigen. Er geht
dabei nicht auf den mathematischen Teil und auf die Verschränkung ein, sondern
konzentriert sich auf das richtige Verständnis der quantenmechanischen Zustands-
beschreibung. Er bestreitet, dass zwei Größen wie Ort und Impuls gleichzeitig
Realität zugeordnet werden kann. Dennoch sei deswegen die quantenmechanische
Beschreibung nicht unvollständig, weil nicht willkürlich auf weitere Informationen
verzichtet wird, sondern eine weitergehende Kenntnis im Prinzip ausgeschlossen ist.
Nach Bohrs Interpretation der Quantentheorie muss eine eindeutige Beschreibung
von Quantenphänomenen grundsätzlich die Angabe über die verwendete Messappa-
ratur einschließen („Kontextualismus“). Unter diesen Voraussetzungen greift das
EPR-Argument nicht mehr in seiner ursprünglichen Fassung. In dieser Hinsicht ist
Bohrs Entgegnung erfolgreich.
Bohrs Antwort birgt jedoch auch große Schwierigkeiten. Erstens kommt ein
vereinfachtes EPR-Argument mit der Messung nur einer Größe aus (siehe grau-
en Kasten „Rationale Rekonstruktion des EPR-Arguments“ in Abschn. 4.2.2) und
gegen dieses Argument wäre Bohrs Antwort nicht erhellend. Zweitens behauptet
Bohr, der Kollaps sei kein physikalischer Prozess („no question of a mechanical
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 119
disturbance“; Bohr 1935, S. 700), was wohl zeigt, dass er den Kern von EPRs Argu-
ment nicht verstanden hat. Denn wenn der Kollaps nicht physikalisch ist, dann folgt
mit dem Gedankenexperiment von EPR unmittelbar, dass die QM unvollständig
ist (was Bohr aber bestreiten wollte). Drittens setzen spätere Diskussionen um die
EPR-Korrelationen bei Messungen und Wahrscheinlichkeiten von Messergebnissen
an. Bohr hat jedoch keine plausible Erklärung für die strengen Korrelationen. Sein
Hinweis, dass die Beschreibungsmöglichkeiten der Quantenmechanik gegenüber
der klassischen Mechanik eingeschränkt sind, weil es unkontrollierbare quanten-
hafte Wechselwirkungen zwischen atomarem System und Messgerät gibt, hilft
im Falle der EPR-Situation nicht recht weiter, weil ja zum Zustandekommen der
Messergebnisse keine physikalischen Wechselwirkungen zwischen den entfernten
Messgeräten in Frage kommen (vgl. Hooker 1972, S. 194ff., S. 222ff.).
Auch Erwin Schrödinger (1935b) nimmt sehr schnell zu dem EPR-Aufsatz Stel-
lung und hebt hervor, dass in dem dort verwendeten verschränkten Zustandsvektor
den getrennten Systemen nicht einzeln ein Zustandsvektor (bei Schrödinger: eine
Wellenfunktion) zugeordnet werden kann. Dazu müsste der Zustand des Gesamtsys-
tems als Produkt der Zustände der einzelnen Systeme darstellbar sein. Schrödinger
spricht hier erstmals von der Verschränkung („entanglement“) der Systeme, die
durch eine Messung wieder aufgelöst werden kann, wobei dann die typischen
Korrelationen auftreten. Er folgt Einstein nicht in der Annahme der Unvollstän-
digkeit der Quantenmechanik, findet aber, offenbar anders als Bohr, Verschränkung
als Folge der Beschreibung von Vielteilchensystemen in der Quantenmechanik un-
befriedigend. Insgesamt geht er mit den Problemen verschränkter Systeme zunächst
eher als Mathematiker und instrumentalistisch um.
In einer anderen Arbeit aus dem gleichen Jahr (Schrödinger 1935a) benutzt er
verschränkte Zustände, um – diesmal ganz anschaulich – zu zeigen, dass Super-
positionen eines mikroskopischen Objekts durchaus makroskopische Folgen haben
können. Dazu konstruiert er den „burlesken Fall“ einer radioaktiven Substanz, die
sich nach einiger Zeit in einem Zustand der Überlagerung von „noch kein Atom zer-
fallen“, |↑1 , und „ein Atom zerfallen“, |↓1 , befindet. In dem Gedankenexperiment
nimmt Schrödinger an, dass der Zerfall eines Atoms über eine „Höllenmaschine“,
d. h. über einen Geigerzähler, der bei Nachweis Gift freisetzt, zum Tod der Katze
führt. Das Gesamtsystem wird dann durch den Zustandsvektor
1
|ψ = √ |↑1 |↑2 + |↓1 |↓2 (4.4)
2
beschrieben, in dem die Katze weder in dem Zustand „tot“, |↓2 , noch in dem
Zustand „lebendig“, |↑2 , ist. Die Katze hat, wie alle Systeme, die Teil eines ver-
schränkten Gesamtsystems sind, für sich betrachtet keinen definierten Zustand. Nur
der Zustand des Gesamtsystems aus Katze und radioaktiver Substanz ist wohldefi-
niert. Schrödinger stellt fest, dass die durch (4.4) gegebene maximale Kenntnis des
Gesamtsystems nicht die maximale Kenntnis der Teilsysteme einschließt. Am Bei-
spiel der Katze will Schrödinger vor allem zeigen, dass dies auch dann gilt, wenn
ein Teilsystem makroskopisch ist. In Schrödingers Gedankenexperiment wird der
120 P.M. Näger und M. Stöckler
Konflikt mit klassischen Intuitionen besonders deutlich, weil man sich ja offenbar
während des gesamten Versuchsablaufs ein Bild vom Gesundheitszustand der Katze
machen kann.
Das EPR-Argument hat zunächst nicht dazu geführt, dass man von der ge-
wohnten quantenphysikalischen Beschreibung abrückte. Es war unklar, wie eine
„vollständige“ lokale Theorie mit verborgenen Variablen aussehen könnte, und
trotz der rätselhaften Korrelationen waren die Erfolge und Erklärungsleistungen der
Quantentheorie zu groß, als dass ein Gedankenexperiment den Glauben an sie hät-
te erschüttern können. Die Physiker fuhren zunächst einfach fort, die bestehende
Quantentheorie weiter zu entwickeln. Erst in den 50er Jahren gab es ein neues
Interesse an Theorien mit verborgenen Variablen (aufgrund von Bohms Theorie,
s. Kap. 5), und in den Diskussionen darüber bekam das EPR-Argument eine neue
Bedeutung.
Seit den 50er Jahren wird das EPR-Argument nicht mehr mit der Wellenfunk-
tion von Einstein, Podolsky und Rosen, sondern mit einem verschränkten Zustand
diskutiert, den David Bohm in seinem Lehrbuch zur Quantentheorie angegeben
hat (1951, S. 616) und den wir in Gl. (4.2) schon kennengelernt haben. Mes-
sungen mit einem raumzeitlichen Aufbau wie bei EPR aber an diesem einfacheren
verschränkten Quantenzustand heißen „EPR/B-Experimente“. In der Debatte um
das EPR-Argument werden seit Bohms Einführung fast immer diese im Vergleich
zu EPRs ursprünglichem verschränkten Zustand (4.3) mathematisch wesentlich
einfacheren Zustände diskutiert. Bei Bohm beschreibt dieser Zustandsvektor den
Spinzustand eines Systems aus zwei Atomen (mit je Spin 1/2), die zunächst in ei-
nem Molekül vereint waren und nach dem Zerfall des Moleküls diesen speziellen
Spinzustand angenommen haben. Während solche Zerfälle in Experimenten relativ
schwierig zu vermessen sind, hat sich gezeigt, dass es in der Natur eine Vielzahl an
Realisierungen dieser mathematischen Struktur gibt. Zum Beispiel sind verschränk-
te Polarisationszustände von Photonen experimentell relativ einfach zugänglich
und werden deshalb heute überwiegend für die Vermessung verschränkter Systeme
benutzt. Wir werden solche Zustände im Abschn. 4.2.4 noch genauer analysieren.
Der verschränkte Zustand (4.2) ist auch Ausgangspunkt des nordirischen Physi-
kers John Stewart Bell, der dem Argument von Einstein, Podolsky und Rosen eine
ganz neue Wendung gegeben hat. In einer bahnbrechenden Arbeit von 1964 argu-
mentierte er gegen EPR, dass die Korrelationen aus Experimenten mit verschränkten
Zuständen selbst dann nicht durch lokale Prozesse erklärt werden können, wenn
man verborgene Variablen annimmt: Die Annahme von verborgenen Variablen
reicht nicht aus, um die starken Korrelationen auf lokale Weise zu erklären. Im
nächsten Abschnitt werden wir Details dazu kennenlernen.
Aus dem Beweis von Bell folgt, dass jede korrekte Theorie der Mikrowelt
eine gewisse Nicht-Lokalität beinhalten muss. Dies kann Bell zeigen, ohne auf
Formulierungen spezieller Theorien über die Quantenwelt einzugehen. Zu seinem
Beweis bedarf es lediglich der Feststellung von Korrelationen zwischen Messergeb-
nissen, wie sie in der EPR-Situationen vorliegen, einiger allgemeiner, plausibler
Hilfsannahmen und etwas Wahrscheinlichkeitstheorie.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 121
Wenn Bells Theorem tatsächlich zeigt, dass die Quantenwelt nicht-lokal ist (und
nicht dass eine der Hilfsannahmen falsch ist), dann ist die Lokalitätsannahme in
EPRs Argument eine falsche Prämisse und die Wahrheit von EPRs Konklusion
kann nicht gefolgert werden: Verschränkte Zustände sprechen nicht zwingend für
die Unvollständigkeit der Quantenmechanik (einen Realismus bzgl. grundlegender
Eigenschaften), weil die Quantenwelt nicht-lokal ist. Das beste, was man aus EPRs
Argument rein inhaltlich dann noch machen kann, ist, Lokalität nicht vorauszu-
setzen und das Argument auf eine disjunktive Konklusion umzuformulieren: Die
Quantenmechanik ist unvollständig oder es gilt Nicht-Lokalität. Durch Bells Argu-
ment wissen wir heute ziemlich sicher, dass Nicht-Lokalität gilt. Ob zusätzlich die
Quantenmechanik vollständig ist (das „Realismus“-Thema), ist nach wie vor eine
offene Frage (vgl. die verschiedenen Interpretationen der Quantenmechanik).
Weil es eine falsche Prämisse enthält, muss man das EPR-Argument inhalt-
lich als gescheitert betrachten. Konzeptuell hingegen, wenn man die Einführung
verschränkter Zustände, den Messaufbau, die Klarheit ihrer Prinzipien und den Ge-
dankengang betrachtet, hat es, wie hier dargestellt, eine enorme Wirkung entfaltet
und ist einer der Meilensteine der Wissenschaftsgeschichte. Es zeigt, wie fruchtbar
falsche Argumente sein können, wenn sie gut durchdacht sind. Schließlich muss es
wohl als eine Ironie der Geschichte betrachtet werden, dass Einstein durch seine
Überlegungen zu verschränkten Zuständen – die darauf zielten nach einer lokalen
Theorie der Gravitation auch eine lokale Theorie der Mikrowelt zu schaffen – eine
Debatte initiiert hat, die – durch Bells Nachweis einer Nicht-Lokalität – genau diese
Intuitionen widerlegte.
Entsprechend wird in der neueren Diskussion die EPR-Situation nicht mehr als
Evidenz für die Unvollständigkeit der Quantenmechanik gewertet, sondern als Be-
leg dafür, dass eine große Klasse von Theorien mit verborgenen Variablen – nämlich
die Klasse lokaler Theorien – ausgeschlossen wird. Der Schwerpunkt der Diskus-
sion hat sich von der Frage, ob die Wellenfunktion alle Züge der Realität wiedergibt,
zu der Bedeutung der spezifischen Nicht-Lokalität verschoben, die sich in den
von der Quantenmechanik vorhergesagten EPR-Korrelationen zeigen. Die Nicht-
Lokalität ist eine Eigenschaft der Quantenmechanik geworden, mit der man sich
auseinanderzusetzen hat.
zum Eigenwert –/2. Ŝz1 ist der Operator zur Observablen „Spinprojektion in
z-Richtung“. Ebenso ist für das zweite Teilchen |↑z 2 der Eigenvektor des Ope-
rators Ŝz2 zum Eigenwert +/2 und |↓z 2 der Eigenvektor zum Eigenwert –/2. Die
Eigenvektoren bilden jeweils ein vollständiges System von Basisvektoren in den
Spinräumen der einzelnen Teilchen.
Die Vektoren |↑z 1 |↑z 2 , |↑z 1 |↓z 2 , |↓z 1 |↑z 2 und |↓z 1 |↓z 2 bilden
eine vollständige Basis im Hilbertraum des Tensorprodukts. Kehren wir zu dem
Zustand (4.2), dem vielzitierten Singulett-Zustand zurück. Dieser Zustandsvektor
ist gemeinsamer Eigenvektor zu den Spinprojektionsoperatoren Ŝx , Ŝy und Ŝz des
Gesamtsystems.11 Man kann ihn auch wie folgt aufschreiben:
1
|ψ – = √ |↑x 1 |↓x 2 – |↓x 1 |↑x 2 . (4.5)
2
Anschaulich kann man sagen, dass der Singulett-Zustand rotationssymmetrisch zur
Achse ist, in der sich die Teilchen voneinander entfernen.
Der Zustand (4.2) ist zugleich Eigenvektor des Gesamtspins
Ŝz und Ŝ2 bilden ein maximales System von kommutierenden Operatoren (vgl.
Abschn. 1.2.3) für diesen Zustand, d. h. man kann dem System in diesem Zustand
maximal den Wert (die Eigenschaft) des Gesamtspins (hier 0) und gleichzeitig den
Wert (die Eigenschaft) der Spinprojektion in z-Richtung (hier auch 0) zuordnen.
Der Zustand (4.2) ist allerdings kein Eigenzustand zu dem Operator Ŝz1 ⊗ I, der
auf dem gesamten Spinraum dadurch definiert ist, dass Ŝz wie Ŝz1 auf den ersten
Faktor der Basisvektoren im Produktraum wirkt und der zweite Faktor unverändert
bleibt. Den einzelnen Teilchen kann also kein Eigenwert des Operators Ŝz1 und da-
mit keine definierte Größe der Spinprojektion zugeordnet werden. Dem entspricht
anschaulich, dass der Zustandsvektor der einzelnen Teilchen nicht durch einen rei-
nen Zustand charakterisiert werden kann. Mit diesem mathematischen Befund kann
man unterschiedlich umgehen. Wenn man auch im Singulett-Zustand an der Vor-
stellung festhalten will, dass die zwei Teilchen jeweils durch einen eigenen Zustand
charakterisiert werden sollen, kommt dafür nur der Statistische Operator
1 1
ρ̂ = |↑↑| + |↓↓| (4.7)
2 2
in Frage, der anzeigt, dass die Teilsysteme in einem sog. „gemischten Zustand“
vorliegen (vgl. Abschn. 1.2.4 und 2.3.1). Aus diesen „reduzierten“ Zuständen kann
man die Korrelationen zwischen den Messungen nicht bestimmen, deshalb wird
dann gesagt, dass der Gesamtzustand durch die Zustände der Teilsysteme nicht
festgelegt wird. Die Dichte-Operatoren für die beiden Teilchen sind in diesem Fall
sogar gleich, so dass deswegen einige Autoren zu der Auffassung gekommen sind,
das Leibniz-Prinzip (vgl. Abschn. 3.2.3) sei hier verletzt. Näher an dem, was der
mathematische Apparat nahe legt, scheint aber die Interpretation zu sein, dass in
einem verschränkten Zustand wie (4.2), im Unterschied zu Zuständen, die als Pro-
dukt geschrieben werden können, gar nicht von „Zuständen“ oder „Eigenschaften
der Komponenten“ gesprochen werden sollte.
In der vereinfachten Bohmschen Variante des EPR-Gedankenexperiments wird
angenommen, dass an weit auseinander liegenden Raumpunkten jeweils eine Mes-
sung der Spinprojektion eines Teilchens in einer Richtung a durchgeführt wird. Die
Quantenmechanik sagt vorher, dass Ergebnisse von Spinmessungen an den Mess-
geräten 1 und 2, jeweils in a-Richtung, eine perfekte Korrelation zeigen. Wenn
man am Messgerät 1 Spin-up misst, misst man am Messgerät 2 Spin-down (und
umgekehrt). Auf der Ebene der Zustandsvektoren erhält man nach einer Messung
entweder |↑a 1 |↓a 2 oder |↓a 1 |↑a 2 .
Diese Korrelation kann man im Singulett-Zustand aufgrund der Rotationssym-
metrie bei Messungen in beliebigen Richtungen finden. Die Wahrscheinlichkeit,
dass am Messgerät 1 Spin-up gemessen wird, ist z. B. 1/2, die Wahrscheinlichkeit,
dass man am Messgerät 2 Spin-down findet, ist auch 1/2. Die Wahrscheinlichkeit,
am Gerät 1 Spin-up und am Gerät 2 Spin-down zu finden, ist aber auch 1/2. Die
bedingte Wahrscheinlichkeit, am Gerät 2 Spin-down zu messen, wenn am Gerät 1
Spin-up gemessen wurde, ist 1. Diese Korrelationen konnten dann später auch in
Experimenten bestätigt werden.
In den Zuständen, die nach der Messung vorliegen, kann man den Einzelteil-
chen, deren Spinprojektion in einer bestimmten Richtung gemessen wurden, wieder
einen bestimmten Spinzustand zuordnen. Die Zustände nach einer Messung in z-
Richtung am Gerät 1 sind Eigenvektoren des Operators Ŝz1 ⊗ I (zu den Eigenwerten
+/2 oder –/2) und zugleich Eigenvektoren des Operators Ŝz (zum Eigenwert 0).
Die Zustände nach der Messung sind nicht mehr verschränkt. Dafür gibt es verschie-
dene äquivalente Kriterien (vgl. dazu die sorgfältige Untersuchung in Ghirardi et al.
2002, insbes. Abschn. 4.1). Für uns wichtig ist, dass in nicht-verschränkten Syste-
men (typischerweise repräsentiert durch Produktzustände im Tensorproduktraum)
den Teilsystemen ein reiner Zustand zugeordnet werden kann und sie keine der
nicht-klassischen Korrelationen zeigen, die wir am Beispiel des Singulettzustands
kennengelernt haben. In nicht-verschränkten Zuständen kann man wieder von zwei
Teilchen mit individuellen Eigenschaften sprechen (auf die Komplikationen im Fal-
le ununterscheidbarer Teilchen kommen wir gleich noch zurück). Manchmal nennt
man Zustände, die nicht-verschränkt sind, „separabel“.
Das Kriterium, dass Zustände genau dann nicht verschränkt sind, wenn sie
als Produkt geschrieben werden können, führt bei ununterscheidbaren (genauer:
gleichartigen) Teilchen zu Schwierigkeiten, da bei ihnen schon die einschlägigen
Symmetrieforderungen zu Superpositionen von Produktzuständen führen. Als wir
die möglichen Zustände nach der Messung notiert haben, sind wir stillschweigend
davon ausgegangen, dass am Messgerät 1 immer der Zustand vorliegt, der zu H1
gehört, also den Index 1 hat. Wenn die beiden Teilchen ununterscheidbar sind, müss-
te aber auch der Zustand nach der Messung symmetrisch gegenüber Vertauschung
124 P.M. Näger und M. Stöckler
der Indizes 1 und 2 sein. Der Zustand nach der Symmetrisierung ist aber in der
gegebenen Basis nicht mehr als Produkt darstellbar. Tatsächlich ist es ja auch so,
dass man bei den Spinmessungen am Gerät 1 nicht feststellen kann, ob z. B. das
Ergebnis Spin-up dem Teilchen 1 oder dem Teilchen 2 zugeordnet werden kann.
Für dieses Problem gibt es verschiedene technische Auswege (vgl. Ghirardi et al.
2002; Ladyman et al. 2013), auf die wir hier nicht im Detail eingehen können,
zumal sie für unsere grundsätzlichen Überlegungen auch keine wesentlichen neu-
en Einsichten bringen. Einer der Vorschläge bedeutet anschaulich, dass Zustände,
die eine Superposition von Produktzuständen sind, dann trotzdem nicht verschränkt
sind, wenn sie durch eine Symmetrisierung der Indizes aus einem Produktzustand
hervorgehen. Ein anderer Weg ist in Audretsch (2005, S. 139) für die Verschrän-
kung der Polarisation von Photonen dargestellt. Hier werden als Basiszustände für
die Messergebnisse gleich Zustandsvektoren angegeben, in denen keine Teilchenin-
dizes mehr vorkommen, sondern nur die Angaben, ob am linken oder am rechten
Messgerät gemessen wird und welchen Polarisationszustand man dort gefunden hat.
Die bisherige Analyse der Bohmschen Variante der EPR-Situation war auch
noch in einer anderen Hinsicht vereinfacht. Wir haben uns nur auf den Spin-
raum beschränkt und die Ausbreitung der Teilchen im Raum nicht beachtet. Diese
Vereinfachung hat eine gewisse Berechtigung, weil die Korrelationen durch den
Zustandsvektor im Spinraum festgelegt sind und nach Auskunft der Quantentheo-
rie auch für beliebig große Entfernungen der Messgeräte beobachtbar sein müssten.
Andererseits ist es so, dass bei einer Messung Spin-up an einer bestimmten Raum-
stelle gemessen wird und Spin-down an einer anderen, was in der Formulierung
des Zustands nach der Messung berücksichtigt werden müsste. Außerdem muss
bei ununterscheidbaren Teilchen bei der Symmetrisierung auch der Anteil der Zu-
standsvektoren im Ortsraum berücksichtigt werden. Details dazu kann man in der
umfassenden und genauen Studie von Ghirardi et al. (2002) finden. Auch in diesem
Fall kann man einen ersten Eindruck von den grundlegenden philosophischen
Konsequenzen bekommen, ohne sich in die technischen Details zu vertiefen.
Die wichtigste physikalische Konsequenz der bisherigen Überlegungen ist die
Existenz nicht-klassischer Korrelationen zwischen den Messergebnissen. In Ana-
logie zum ursprünglichen EPR-Argument kann man davon ausgehen, dass durch
die Messung der Spinprojektion in Richtung a bzw. in Richtung b am System 1
der Spinzustand am System 2 in einen der Zustände |↑a 2 oder |↓a 2 bzw. in
einen der Zustände |↑b 2 oder |↓b 2 „hineingesteuert“ werden kann, ohne dass eine
klassische Wechselwirkung zwischen den Systemen vorliegt. In den folgenden Ab-
schnitten werden wir in einem allgemeineren Rahmen untersuchen, ob und wie das
verständlich gemacht werden kann.
Zum Abschluss der Betrachtung der verschränkten Systeme im EPR-Kontext
wollen wir noch einen kurzen Blick auf mögliche Folgerungen für die Ontologie
der Quantentheorie werfen. Im verschränkten Zustand vor der Messung ist es, wie
wir gesehen haben, nicht möglich, Teilsystemen bestimmte Eigenwerte und Eigen-
vektoren, und damit Eigenschaften, zuzuschreiben. Das ist erst wieder bei den
Zuständen nach der Messung möglich. So ist eigentlich nicht klar, in welchem Sinn
man überhaupt von Teilsystemen sprechen kann. Möglicherweise gibt es Gründe für
die Annahme von Teilobjekten, die aus Hintergrundannahmen kommen, z. B. die
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 125
Vorstellung, dass man es mit voneinander verschiedenen Objekten zu tun hat, die
aus einer Quelle in entgegengesetzter Richtung auseinanderlaufen. Es gibt die Vor-
stellung, dass in (4.2) die Teilsysteme ihre Zustände nur in Relation zu dem anderen
System haben. Wenn man nur auf die Art der Zustandsbeschreibung schaut, liegt die
Annahme näher, dass in einem Zustand wie (4.2) gar keine Teile existieren. Diese
Teile entstehen danach erst bei einer Messung, die das Gesamtsystem, das durch
einen Zustand im Tensorraum beschrieben wird, teilt, so dass man Komponenten
bekommt, denen man Zustandsvektoren wie |↑a 1 oder |↓b 2 in den Teilräumen zu-
ordnen kann (vgl. Friebe 2004, für die Verteidigung dieser Sichtweise). Allerdings
gibt die Quantenmechanik keinerlei Hinweise, was bei einer Messung im Detail ge-
schieht und warum danach wieder von zwei individuellen Systemen gesprochen
werden kann. Die Quantenmechanik liefert nur die Zustände vor und nach der
Messung und die Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten bestimmter Messwerte.
All das macht es schwierig, ontologische Folgerungen aus den EPR-Situationen
zu ziehen. Im Abschn. 4.3 werden wir zunächst einen Zugang wählen, der sich
ganz auf die Messausgänge und ihre statistischen Relationen zurückzieht, und
im Abschn. 4.4 noch einmal mögliche Folgerungen für ein holistisches Weltbild
diskutieren.
In diesem Abschnitt wollen wir uns nun Bells berühmtes Theorem aus einer
systematischen Perspektive genauer ansehen. Wir werden versuchen, seine Ar-
gumentation nachzuvollziehen, seine impliziten Voraussetzungen herauszuarbeiten
und die Konsequenzen des Theorems zu diskutieren. Bells Theorem ist auch 50
Jahre nach seiner Entdeckung eines der meistdiskutierten Themen in der Philo-
sophie der Quantenphysik. Trotz seiner mathematischen Einfachheit und Klarheit
wird über seine korrekte Interpretation bis heute gestritten. Es betrifft auf eine un-
mittelbare Weise, nämlich weitgehend theorieunabhängig, ein zentrales Problem der
Quantenwelt, nämlich die Einbettung von Quantenobjekten in Raum und Zeit.
Das Theorem zeigt, dass es einen Widerspruch zwischen den Phänomenen
der Quantenwelt und den Annahmen einer lokalen, klassischen Weltsicht gibt.
Lokal heißt hier, dass physikalische Prozesse mit einer Geschwindigkeit langsa-
mer als der des Lichts ablaufen, wie es die Relativitätstheorie offenbar impliziert.
Der Widerspruch zeigt sich darin, dass man aus der lokalen klassischen Weltsicht
eine obere Grenze für die Stärke von Korrelationen ableiten kann („Bellsche Un-
gleichung“), die aber durch Messergebnisse aus Experimenten mit verschränkten
Quantenobjekten überschritten wird („Verletzung der Bellschen Ungleichung“).
Zur Zeit der Formulierung des Theorems (1964) war zunächst nicht klar, welche
Seite des Widerspruchs als die falsche zu betrachten ist, weil der Ausgang der
Experimente, in denen die genannten Quantenphänomene auftreten, nur durch die
quantenmechanischen Vorhersagen erschlossen wurde (Gedankenexperimente auf
Grundlage der Quantentheorie). In den folgenden Jahrzenten jedoch wurden ver-
schiedene Varianten der Experimente tatsächlich durchgeführt, und es zeigte sich,
126 P.M. Näger und M. Stöckler
dass die Vorhersagen der Quantenphysik richtig waren. Damit war entschieden, dass
es die lokale, klassische Weltsicht sein muss, die mindestens eine nicht haltbare
Annahme enthält. Die meisten Autoren argumentieren dafür, dass es die Lokali-
tätsannahme ist, die in der Quantenwelt verletzt ist. Da Lokalität anscheinend ein
Grundzug unserer akzeptierten relativistischen Raum-Zeit-Theorien ist, rüttelt Bells
Theorem somit an den Grundfesten unseres Verständnisses von Raum und Zeit
und den darin ablaufenden kausalen Prozessen. Als erstes wollen wir uns nun den
Experimenten zuwenden, die die empirische Grundlage des Theorems darstellen.
Die Experimente, die Bells Theorem zugrunde liegen, sind Realisierungen des von
Einstein et al. (1935) vorgeschlagenen und von Bohm (1951) vereinfachten Ge-
dankenexperiments und werden entsprechend als EPR/B-Experimente bezeichnet.
In ihrer modernsten Variante werden diese Experimente mit Photonen (Licht-
quanten) durchgeführt. Das Experiment läuft typischerweise wie folgt ab: Eine
geeignete Quelle C wird dazu angeregt, ein Photonenpaar zu emittieren, dessen
Polarisationszustände verschränkt sind. Der verschränkte Polarisationszustand, der
strukturell dem im vorigen Abschnitt diskutierten Singulett-Zustand ähnlich ist (für
den Zusammenhang siehe grauen Kasten „Bell-Zustände“), lautet z. B.
1
|φ + = √ |+z 1 |+z 2 + |–z 1 |–z 2 . (4.8)
2
Hierbei steht |+z für eine Polarisation in Richtung z, während |–z eine Polarisation
senkrecht zu z repräsentiert. Analog zu den verschränkten Zuständen, die wir bisher
kennengelernt haben, haben auch die einzelnen Photonen in diesem Zustand keine
eindeutige Polarisation. Diese Beschreibung des Quantenzustands dient hier aber
nur der Erläuterung, welche Art von Zuständen in dem Experiment benötigt wird;
nichts in Bells Argument hängt von dieser theoretischen Beschreibung ab, es kommt
allein auf den Messaufbau und die Messergebnisse in den Experimenten an, die wir
nun näher charakterisieren werden.
Bell-Zustände
|ψ = c1 |+z 1 |+z 2 + c2 |+z 1 |–z 2 + c3 |–z 1 |+z 2 + c4 |–z 1 |–z 2 , (4.9)
wobei die ci komplexe Koeffizienten sind mit i |ci |2 = 1. M. a. W. bil-
den die Produktzustände |+z 1 |+z 2 , |+z 1 |–z 2 , |–z 1 |+z 2 und |–z 1 |–z 2 eine
Orthonormalbasis des entsprechenden Hilbertraums.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 127
(„|αa , βb “ bezeichnet hierbei den Zustand, dass das Photon 1 die Polarisation
α in Richtung a und das Photon 2 die Polarisation β in Richtung b hat.)
Während die Zustände |φ + und |ψ + symmetrisch unter Indexvertauschung
sind, sind |φ – und |ψ – antisymmetrisch. Photonen sind Bosonen (Spin = 1)
und müssen eine symmetrische Gesamtwellenfunktion haben. Dennoch kön-
nen sie sich auch in antisymmetrischen Bell-Polarisationszuständen befinden,
weil sich durch einen antisymmetrischen Orts- bzw. Impulsteil (der in den
obigen Gleichungen nicht notiert ist) insgesamt wieder eine symmetrische
Gesamtwellenfunktion ergibt.
Analoges gilt für die Spin-Zustände von Quantenobjekten mit der No-
tation |↑z und |↓z statt |+z und |–z , allerdings mit einem wichtigen
Unterschied. Da die Winkel in Spinraum und physikalischem Raum unter-
schiedlich skaliert sind, ergeben sich andere Winkelabhängigkeiten bei den
Wahrscheinlichkeiten:
P(αβ|abφ ± ) = 12 cos2 12 (a ∓ b) ,
P(αβ|abψ ± ) = 12 sin2 12 (a ± b) .
128 P.M. Näger und M. Stöckler
A B
a C
–+ +–
Nach Emission durch die Quelle bewegen sich die Photonen in entgegengesetz-
ten Richtungen auf zwei Polarisations-Messgeräte zu (siehe Abb. 4.1). Jedes der
beiden Messgeräte A bzw. B besitzt einen Zeiger, mit dem man die Richtung a bzw.
b einstellen kann, in der die Polarisation gemessen wird.12 Diese Messrichtung wird
für jedes der Geräte zufällig aus einem von drei möglichen Winkeln ausgewählt,
z. B. wird der Zeiger mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf einen Winkel von 0 ◦ , 30 ◦
oder 60 ◦ eingestellt. In den stärksten Versionen der Experimente werden Auswahl
und Einstellung der Richtung vorgenommen, während die Photonen schon unter-
wegs sind. Dies soll sicherstellen, dass die Wahl der Einstellung keinen Einfluss
auf den Zustand der Photonen an der Quelle haben kann (wir werden unten sehen,
warum dies wichtig ist).
Wenn ein Photon auf das Messgerät trifft, detektiert dieses, ob das Photon ent-
weder in der eingestellten Richtung polarisiert ist (+) oder senkrecht dazu (–). An
jedem Messgerät gibt es also zwei mögliche Messergebnisse α = ± bzw. β = ±.
Ein kompletter Durchgang des Experiments wird demnach durch fünf Variablen
charakterisiert: die Präparation der Quelle (die den Zustand der Photonen an der
Quelle festlegt), die beiden Messeinstellungen und die beiden Messergebnisse. Ein
typisches Laborprotokoll für ein Experiment (mit einer festen Präparationsproze-
dur der Photonen, die deshalb nicht notiert wird) sieht dementsprechend wie das in
Tab. 4.1 dargestellte aus.
Diese harmlos aussehende Zahlenreihe nun hat es in sich: Alle weitreichenden
Konsequenzen, die mithilfe von Bells Theorem gezogen werden – Nicht-Lokalität,
Nicht-Separabilität, Holismus etc. – basieren auf solchen einfachen Daten, die aus
EPR/B-Experimenten gewonnen wurden. Einen ersten Hinweis auf die Besonder-
heit der Daten erhält man, wenn man eine statistische Auswertung vornimmt. Es
ergeben sich drei Typen von Korrelationen:
1. (Ungefähr) Perfekte Korrelation: Wenn die Winkel der Messgeräte gleich sind
(vgl. Durchgang 1, 3, 8, 10, . . . in Tab. 4.1) stimmen die Messergebnisse in
annähernd, aber nicht exakt 100 % der Fälle überein. Es ist allerdings plausi-
bel anzunehmen, dass es sich tatsächlich um eine perfekte Korrelation handelt
12 Nach einer üblichen Konvention werden die Winkel relativ zur z-Achse angegeben. Im Prinzip
kann auch jede andere Richtung als Bezugspunkt gewählt werden, weil der Zustand |ψ in (4.8)
rotationssymmetrisch ist.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 129
(wie die Quantentheorie es vorhersagt), weil man die Abweichungen darauf zu-
rückführen kann, dass die Detektoren keine idealen Messgeräte sind, sondern
Ineffizienzen aufweisen.13
2. Nicht-perfekte Korrelation 1: Wenn die Winkel der Messgeräte um 30 ◦ differie-
ren (vgl. Durchgang 2, 6, 9, . . . , 1000 in Tab. 4.1), stimmen die Messergebnisse
in 75 % der Fälle überein.
3. Nicht-perfekte Korrelation 2: Wenn die Winkel der Messgeräte um 60 ◦ differie-
ren (vgl. Durchgang 4, 5, 7, . . . in Tab. 4.1), stimmen die Messergebnisse in 25 %
der Fälle überein.
13 Eine weitere Konsequenz der Detektorineffizienzen ist das Detektions-Schlupfloch (siehe Ende
dieses Abschnitts).
130 P.M. Näger und M. Stöckler
• Inneres des Lichtkegels (zeitartig): Punkte in dieser Region können mit P durch
Prozesse verbunden sein, die sich langsamer als Licht ausbreiten.
• Rand des Lichtkegels (lichtartig): Punkte in dieser Region können mit P durch
Prozesse verbunden sein, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten.
• Äußeres des Lichtkegels (raumartig): Punkte in dieser Region können mit P nur
durch Prozesse verbunden sein, die sich schneller als Licht ausbreiten.
Man sagt, dass Ereignisse, die sich auf dem oder innerhalb des Lichtkegels von P
befinden, lokal zu P liegen. Raumartig getrennte Ereignisse hingegen liegen nicht-
lokal zu P.
Der entscheidende Punkt für die Überlegungen hier ist nun, dass gemäß der
Standard-Interpretation der Relativitätstheorie folgendes Prinzip gilt:
Q2
ht
ar
ar
ht
tig
lic
zeitartig
Q3
raumartig P raumartig P
Q6
zeitartig Q5
t t Q4
x x
Ein kausaler Prozess ist eine Ursache-Wirkungs-Kette, d. h. eine Abfolge von Ereig-
nissen, bei der jedes Ereignis in der Kette Wirkung des vorangehenden Ereignisses
und Ursache des darauffolgenden ist (beispielsweise eine umfallende Reihe von
Domino-Steinen). Äquivalent zu diesem Prinzip sagt man auch, dass es gemäß
der Relativitätstheorie nur lokale Prozesse gebe oder dass die Relativitätstheorie
eine lokale Theorie sei. Wenn dieses Prinzip gilt, ist es unmöglich, dass raum-
artig getrennte Ereignisse einander beeinflussen (siehe Abb. 4.2b). Der Bereich der
Raumzeit, in dem Ereignisse liegen, die Ereignisse bei P beeinflussen können, ist
dann gegeben durch die eine Hälfte des Lichtkegels von P, den „Vergangenheits-
lichtkegel“ oder die „kausale Vergangenheit“, und der Bereich, den Ereignisse bei P
beeinflussen können, ist gegeben durch die andere Hälfte, den „Zukunftslichtkegel“
oder die „kausale Zukunft“.
Wenden wir diese Überlegungen nun auf die oben geschilderten EPR/B-Experi-
mente an. In Abb. 4.3 haben wir das Raum-Zeit-Diagramm der Experimente
gezeichnet (vgl. Bell 1975). Der Rand des Zukunftslichtkegels des verschränkten
Zustands an der Quelle ψ (schwarze Linie) beschreibt den Weg der Photonen von
der Quelle zu den Messgeräten. Damit ist klar, dass der Zustand an der Quelle nur
die Messergebnisse α und β, aber nicht die Messeinstellungen a und b, die au-
ßerhalb dieses Lichtkegels liegen, beeinflussen kann (und auch nicht von diesen
beeinflusst werden kann). Die Vergangenheitslichtkegel der Messereignisse sind als
graue Bereiche eingezeichnet, wobei jede hellgraue Fläche die je eingeschlossene
dunkelgraue Fläche beinhaltet (aber nicht umgekehrt). So sollte z. B. das Mess-
ergebnis α nur von Ereignissen innerhalb der hellgrauen Fläche beeinflusst werden
können, die auf es zuläuft, also von der Messeinstellung am gleichen Flügel a und
dem Zustand der Photonen an der Quelle ψ. Insbesondere sollte es nicht beeinflusst
werden können von der Messeinstellung b und dem Messereignis β am anderen Flü-
gel! Entsprechend dürfte es gemäß der Relativitätstheorie keinerlei Einfluss von der
einen Messung auf die andere geben, weil ein solcher Einfluss schneller als Licht
laufen müsste.
a b
a b
Die verbleibenden möglichen Einflüsse zeigen wir in Abb. 4.4. In dem Dia-
gramm sind kausale Einflüsse durch Pfeile zwischen Variablen dargestellt. Solche
Diagramme, die eine bestimmte kausale Struktur repräsentieren, heißen „kausale
Graphen“.14 Die hier gezeigte kausale Struktur ergibt sich aus der Tatsache, dass
nur Einflüsse zwischen lokal zueinander gelegenen Ereignissen zugelassen sind.
Insbesondere sieht man, dass es keine direkten Verbindungen zwischen den beiden
raumzeitlich getrennten Messungen geben darf. Durch die spezielle raumzeitliche
Anordnung ist die einzige Verbindung zwischen der linken und der rechten Mes-
sung der Zustand der Photonen an der Quelle, der als gemeinsame Ursache fungiert.
In diesem Sinne hatten wir oben geschrieben, dass die raumzeitliche Anordnung
des Experiments darauf ausgelegt ist, Korrelationen zwischen den Messungen zu
minimieren.
Trotz all dieser Beschränkungen gibt es die starken gemessenen Korrelationen,
und im nächsten Abschnitt werden wir sehen, dass sie zu stark sind, um auf ge-
wöhnliche Weise durch lokale kausale Prozesse erklärt zu werden. Entgegen den
üblicherweise angenommenen Beschränkungen der Relativitätstheorie scheint es so
zu sein, als ob es doch Einflüsse zwischen den beiden Messflügeln gibt, also Ein-
flüsse, die die relativistische Beschränkung auf kleiner-gleich Lichtgeschwindigkeit
nicht beachten.
Bevor wir uns möglichen Erklärungen zuwenden, wollen wir kurz noch erwäh-
nen, dass es die Arbeitsgruppe um Alain Aspect war, der es als erster gelang, diese
Experimente in einer überzeugenden Form durchzuführen (Aspect et al. 1982). Da
die Photonen schnell sind, ist es technisch äußerst aufwändig, die Messrichtung
in der kurzen Zeitspanne einzustellen, die die Photonen von der Quelle zum Gerät
14 Während für die Überlegungen hier zunächst ein intuitiver Begriff von kausalem Einfluss genügt,
werden wir den Begriff in Abschn. 4.3.4 auf formale Weise präzisieren (siehe dort insbesondere die
Kausale Markov-Bedingung).
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 133
benötigen, und Aspect und seine Mitarbeiter hatten dafür als erste eine Lösung ent-
wickelt. Weihs et al. (1998) gelang es dann zusätzlich, die Auswahl der Richtungen
durch einen Zufallsgenerator in dieser kurzen Zeitspanne durchzuführen. Diese aus-
gefeilten Aufbauten, in denen die Messeinstellungen so spät gewählt werden, dass
sie raumartig zur entfernten Messung und zur Emission an der Quelle liegen, sollen
sowohl ausschließen, dass eine Messeinstellung lokal auf die entfernte Messung
Einfluss nehmen kann (was das sog. „Lokalitäts-Schlupfloch“, „locality loophole“,
schließt) als auch dass eine Messeinstellung auf den Zustand der Photonen an der
Quelle wirkt (was das sog. „Unabhängigkeits-Schlupfloch“, „freedom-of-choice
loophole“, versperrt).15
In den letzten 15 Jahren wurden immer neue Variationen des Experiments aufge-
baut. Insbesondere die Gruppe um Anton Zeilinger hat sich hier verdient gemacht
(Walther et al. 2006; Gröblacher et al. 2007; Paterek et al. 2007). Zum Beispiel
konnten die Messungen mit immer größeren Distanzen zwischen den Messgeräten
durchgeführt werden, und inzwischen sind Entfernungen von über 100 km möglich
(Ursin et al. 2007). Bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich die Korrelationen
mit zunehmender Entfernung abschwächen. Die Quantentheorie sagt das auch gar
nicht voraus, und entsprechend geht man davon aus, dass verschränkte Systeme die
oben genannten Korrelationen über beliebig große Distanzen erzeugen.
Es gibt ein weiteres Schlupfloch bei solchen Experimenten, das wir bislang nicht
erwähnt haben. Es geht um die Tatsache, dass Detektoren, auch wenn sie sehr gut
gebaut sind, nicht alle Objekte registrieren, d. h. jeder Detektor hat eine begrenz-
te Effizienz. Diese Tatsache führt nun dazu, dass in realen EPR/B-Experimenten
Durchgänge vorkommen, in denen nur einer der Detektoren ein Photon regis-
triert, und diese Durchgänge werden in der Regel bei der statistischen Analyse der
Messergebnisse beiseite gelassen. Wenn die Nicht-Registrierung eines Photons rein
zufällig geschieht, wird durch dieses Vorgehen die Gesamtstatistik nicht verfälscht.
Wenn es jedoch so wäre, dass die Nicht-Registrierung eines Photons auch davon
abhängt, welche Messeinstellung vorliegt, kann man zeigen, dass auch in einer voll-
kommen lokalen Welt eine Bellsche Ungleichung scheinbar verletzt werden kann,
indem auf passende Weise, d. h. bei bestimmten Messeinstellungen, der Detektor
nicht registriert (Clauser und Horne 1974; Fine 1982). Diese Tatsache wird als
„Detektions-Schlupfloch“ („detection loophole“) oder „Repräsentative-Stichprobe-
Schlupfloch“ („fair-sampling loophole“) bezeichnet. Um dennoch von einer echten
Verletzung der Bell-Ungleichung ausgehen zu können, braucht man deshalb die zu-
sätzliche Annahme („fair-sampling assumption“), dass die Durchgänge, bei denen
zwei Photonen registriert werden, eine repräsentative Stichprobe aller Durchgä-
nge sind (also inkl. der Durchgänge, in denen ein oder gar zwei Photonen nicht
registriert wurden).
15 Der inzwischen leider weit verbreiteten und irreführenden Sprechweise, dass es hier um Wahl-
freiheit der Experimentatoren ginge, schließen wir uns nicht an. Es geht lediglich darum, dass
die Messeinstellungen statistisch unabhängig vom Zustand der Photonen an der Quelle gewählt
werden können – Freiheit ist nicht nötig.
134 P.M. Näger und M. Stöckler
Bell legte in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1964 die geschilderte experimentelle
Situation zugrunde. Ihm ging es dabei um die Frage, ob die Quantenmechanik
durch die Einführung verborgener Variablen wieder zu einer lokalen und deter-
ministischen Theorie gemacht werden kann. Das Ergebnis seiner Überlegungen
war, dass dies nicht möglich ist. Im Folgenden wurde schnell klar, dass der Grund
dafür nicht die Annahme des Determinismus ist (diese Annahme kann man in stär-
keren Beweisen fallen lassen), sondern die Annahme der Lokalität. Also kann
keine Theorie mit verborgenen Variablen, wenn sie die Vorhersagen der Quan-
tenmechanik wiedergibt, lokal in dem Sinne sein, dass die Messung an einem
System nicht von der Messeinstellung an dem anderen entfernten System beeinflusst
wird.
Wir geben die Grundidee des Bellschen Beweises hier wieder, weil sie mit we-
nig Mathematik den physikalischen Kern von Bells Strategie zeigt. In den folgenden
Abschnitten werden Bells Überlegungen dann systematischer und mit Hilfe sta-
tistischer Überlegungen noch genauer analysiert. Alle, die sich mit mathematischen
Formeln nicht so gern anfreunden wollen, finden im folgenden Abschnitt (4.3.3)
einen Zugang, der fast ganz ohne formale Hilfsmittel auskommt, und können den
aktuellen Abschnitt (4.3.2) zunächst überspringen.
Bell betrachtet einen Messaufbau ähnlich zu Abb. 4.1, bei dem die Quelle nicht
Photonen sondern Spin- 12 -Teilchen, beispielsweise Elektronen, emittiert und die
Messgeräte die aus Kap. 1 bekannten Stern-Gerlach-Apparaturen sind. Seien a und
b die Messeinstellungen am linken bzw. rechten Apparat.16 Das Ergebnis der Mes-
sung A(a) am linken Messgerät kann Spin-up in Richtung a sein (mit dem Messwert
16 Indiesem Abschnitt schreiben wir die Variablen a und b für die Messeinstellungen fett, weil wir
sie wie Bell als vektorielle Größen verstanden wissen wollen. Im Rest dieses Kapitels genügt es, a
und b als skalare Variablen anzusehen, die die Winkel der Messeinstellungen beschreiben (deshalb
sind sie dort nicht fett gesetzt).
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 135
+1) oder Spin-down in Richtung a (mit dem Messwert –1). Das Ergebnis der Mes-
sung B(b) am linken Messgerät kann Spin-up in Richtung b sein (mit dem Messwert
+1) oder Spin-down in Richtung b (mit dem Messwert –1).
Bell nimmt an, dass der Erwartungswert der Messung am linken und rechten
Messgerät nur durch die Messrichtungen a und b und eine verborgene Variable λ
bestimmt ist, d. h. A(a, λ) = ±1 bzw. B(b, λ) = ±1. Die verborgene Variable λ
wird von Bell nicht weiter spezifiziert, für seinen Beweis benötigt er auch keine
konkrete Theorie über einen Mechanismus, die beschreibt, wie λ den Messausgang
beeinflusst. Vorausgesetzt wird nur eine Verteilungsfunktion ρ(λ), die angibt, mit
welcher Wahrscheinlichkeit die verschiedenen Werte
von λ auftreten, und die – wie
für Wahrscheinlichkeiten üblich – normiert ist, dλρ(λ) = 1.
Entscheidend ist, hier zu bemerken, dass Bells Annahme, jedes Messergebnis
sei eine Funktion nur der lokalen Messeinstellung und der verborgenen Variable,
bereits eine Lokalitätsannahme enthält, weil die Messergebnisse damit eine Funk-
tion rein lokaler Größen sind. (Insbesondere hängt ein Messergebnis weder vom
entfernten Messergebnis noch von der entfernten Messeinstellung ab.) Diese Be-
schränkung auf lokale Abhängigkeiten ist durch die in Abschn. 4.3.1 angedeuteten
relativistischen Überlegungen motiviert, dass sich nur lokal zueinander liegende Er-
eignisse beeinflussen können. Die Annahme läuft darauf hinaus, dass jedes einzelne
Teilchen lokal die gesamte für den Messausgang benötigte „Information“ trägt.
Aufbauend auf diesen einfachen Annahmen definiert Bell die zentrale Grö-
ße für seinen folgenden Beweis, den Erwartungswert des Produkts der beiden
Messergebnisse:
E(a, b) = dλρ(λ)A(a, λ)B(b, λ). (4.14)
Zur Berechnung wird also über alle mit dem jeweiligen Gewicht ρ(λ) versehenen
Produkte summiert. Aus dem Erwartungswert E(a, b) kann man ablesen, ob und wie
die beiden Messungen korreliert sind.
Mit diesen Voraussetzungen kann Bell nun seinen Beweis führen. Wenn man
mit Bell drei Richtungen u, v, w unterscheidet, in denen an beiden Messgeräten die
jeweilige Spinkomponente gemessen werden kann, lässt sich folgende Ungleichung
herleiten, die ursprüngliche Bellsche Ungleichung:
Für die Ableitung dieser Beziehung braucht Bell nur einfache geometrische Über-
legungen und Betragsabschätzungen für die Messergebnisse und ihre Erwartungs-
werte.
Im nächsten Schritt zeigt Bell, dass der aus der Quantenmechanik für den
typischen EPR-verschränkten Zustand folgende Erwartungswert diese Bellsche Un-
gleichung verletzt. Für den Erwartungswert des Produkts zweier Spinmessungen
in Richtung a am linken Messgerät und in Richtung b am rechten Messgerät gilt
nämlich nach der Quantenmechanik
Dabei ist ab das Skalarprodukt der Messrichtungen, das durch cos (φ), also
durch den Winkel φ zwischen den beiden Richtungen bestimmt wird. Wird z. B.
an beiden Messgeräten in der gleichen Richtung gemessen, ist der Erwartungswert
EQM (a, a) gleich –1, d. h. auf einer Seite findet man Spin-down und auf der anderen
Seite Spin-up.
Durch eine spezielle Wahl der Richtungen17 u, v, w,
kann man erreichen, dass die entsprechenden Erwartungswerte nach ihrer Einset-
zung in die Bellsche Ungleichung einen Widerspruch ergeben, nämlich
√
2 ≤ 1. (4.18)
Daraus folgt: Keine Theorie, die für die Erwartungswerte die in (4.14) enthaltene
Lokalitätsbedingung und damit die Bellsche Ungleichung (4.15) erfüllt, kann die
Erwartungswerte (und damit die Korrelationen zwischen den Messungen) vorher-
sagen, die aus der Quantenmechanik folgen. Wenn nun, wie die Messungen zeigen,
die Erwartungswerte der Quantenmechanik empirisch zutreffend sind, muss jede
Theorie, die die Annahme (4.14) erfüllt, in Konflikt mit der Erfahrung kommen.
Die Darstellung in diesem Abschnitt kommt den Erwartungen entgegen, die
man aus der Physik heraus hat. In den nächsten Abschnitten wird das Theorem
noch einmal vor allem auf der Grundlage von bedingten Wahrscheinlichkeiten von
Messergebnissen und statistischen Überlegungen analysiert. In dieser Darstellung
wird das Bellsche Theorem zugleich verallgemeinert und aus schwächeren Voraus-
setzungen hergeleitet, insbesondere kann die Annahme aufgegeben werden, dass
die verborgenen Variablen den Messausgang deterministisch festlegen. Man kann
eine Bellsche Ungleichung auch dann ableiten, wenn die verborgene Variable λ
zusammen mit der Ausrichtung des Messgeräts nur Wahrscheinlichkeiten für den
jeweiligen Messausgang bestimmt.
Mit den einfachen statistischen Beziehungen für entfernte Messungen, die wir in
Abschn. 4.3.1 dargestellt haben, kann man zeigen, dass die Welt, in der diese Be-
ziehungen gemessen werden, nicht-lokal sein muss. Man sieht der Statistik auf den
ersten Blick nicht an, dass sie so bedeutsam ist, und der Bellsche Beweis, der die-
se weitreichenden Konsequenzen aus den Daten ableitet, ist ein Musterbeispiel für
Schlichtheit und Eleganz in wissenschaftlicher Argumentationsführung.
Die Hauptaussage von Bells Beweis ist, dass die gemessene Statistik nicht
erklärt werden kann, wenn es nur lokale Einflüsse gibt (und normale Hintergrund-
annahmen gelten). Mit anderen Worten, wenn man aufgrund der Relativitätstheorie
annimmt, dass globale kausale Einstein-Lokalität gilt, d. h. Einflüsse mit Überlicht-
geschwindigkeit ausgeschlossen sind, ergibt sich ein Widerspruch zu den empi-
rischen Daten. Rein lokale Theorien können die Korrelationen nicht reproduzieren.
Wenn man an den üblichen Hintergrundannahmen festhält (siehe Abschn. 4.5), muss
es also in irgendeinem Sinne nicht-lokale Einflüsse geben. In Abb. 4.4 hatten wir die
maximale Menge von kausalen Relationen gezeigt, die in der EPR/B-Situation unter
der Annahme von globaler Einstein-Lokalität auftreten können. Es ist das Ergebnis
von Bells Theorem, dass solche Strukturen nicht die Korrelationen erklären können
und also die Situation nicht adäquat repräsentieren.
Ein entscheidendes Charakteristikum von Bells Theorem ist, dass man da-
für keine spezielle Theorie mit bestimmten Zustandsbeschreibungen oder einer
bestimmten Dynamik annehmen muss. Insbesondere nimmt es keinen Bezug auf die
Quantenmechanik, die quantenmechanische Wellenfunktion oder eine ihrer Inter-
pretationen. Es beruht auf den (weitgehend) theorieunabhängigen Messergebnissen
aus EPR/B Experimenten und argumentiert auf einer abstrakten allgemeinen Ebe-
ne. Deshalb ist sein Resultat so stark: Alle Theorien, die sich auf lokale Wirkungen
beschränken, können nicht richtig sein. Dieses Ergebnis gilt selbst dann, wenn man
zulässt, dass ein Photon an der Quelle beliebig viel Information über das jeweils
andere Photon tragen kann. Diese Annahme erlaubt es, über die quantenmecha-
nische Zustandsbeschreibung hinauszugehen und den Zustand der Photonen durch
eine sogenannte verborgene Variable genauer zu spezifizieren. Von Kritikern der
Quantenmechanik wurde immer wieder die Hoffnung geäußert, dass es verborge-
ne Variablen geben könnte, die die Beschreibung der Quantenobjekte durch den
quantenmechanischen Zustand präzisieren und die Quantenwelt schließlich doch als
deterministisch und lokal erweisen. Bell wollte dieser Möglichkeit Raum geben und
nahm an, dass der Zustand der Photonen an der Quelle neben dem Quantenzustand
auch durch eine weitere empirisch nicht zugängliche Variable λ beschrieben wird.
Wie der quantenmechanische Zustand an der Quelle, ψ, kann sie aufgrund der glo-
balen Einstein-Lokalität in der kausalen Struktur nur die Rolle einer gemeinsamen
Ursache der Messergebnisse spielen. Das erweiterte kausale Diagramm mit der la-
tenten gemeinsamen Ursache λ haben wir in Abb. 4.5 abgedruckt (wir verzichten
hier und im Folgenden auf die Einzeichnung der Lichtkegel). Auch diese stärke-
re lokale Struktur (mit zwei gemeinsamen Ursachen) kann nach Bells Theorem die
Korrelationen nicht erklären.
Bevor wir eine wissenschaftsphilosophisch klare Analyse von Bells Beweis-
gang präsentieren, wollen wir in diesem Abschnitt zunächst das Argument in einer
intuitiven Form darlegen. Tim Maudlin (2011, Kap. 1) hat eine tiefgehende und
erhellende Analogie für das Bellsche Argument gefunden. Er vergleicht die Situa-
tion der Photonen in EPR/B-Experimenten, die nach Verlassen der gemeinsamen
Quelle nicht mehr interagieren können (weil sie ab da raumartig getrennt sind),
mit der Situation, dass zwei Personen sich zunächst in einem Raum befinden und
138 P.M. Näger und M. Stöckler
a b
dann in verschiedene Räume getrennt werden. Solange sie sich gemeinsam in ei-
nem Raum befinden, dürfen sie nach Belieben Absprachen treffen. (Dies entspricht
der Tatsache, dass die Photonen durch ihre gemeinsame Anwesenheit an der Quelle
beliebige Informationen über einander besitzen können.) Nach ihrer Trennung in
verschiedene Räume können die Personen nicht mehr miteinander kommunizieren.
(Das reflektiert den Aufbau, bei dem die Photonen sich mit Lichtgeschwindigkeit
voneinander wegbewegen und deshalb nicht mehr miteinander interagieren kön-
nen.) In den einzelnen Räumen wird jeder der Personen dann zufällig eine von
drei Fragen gestellt, die sie mit „ja“ oder „nein“ beantworten muss. (Die Fragen
entsprechen den Messrichtungen der Messapparate, auf die die Photonen treffen,
die Antworten dem Verhalten der Photonen, das eines von zwei möglichen Mess-
ergebnissen erzeugt.) Zum Beispiel erhält eine der Personen die Frage „30 ◦ ?“ und
antwortet mit „nein“, während die andere die Frage „0 ◦ ?“ gestellt bekommt und mit
„ja“ antwortet. Diese Prozedur und Befragung wird viele Male mit jeweils anderen
Personenpaaren wiederholt. Es ergibt sich eine Ergebnistabelle von einer Form, die
analog zum Laborprotokoll aus EPR/B-Experimenten ist (vgl. Tab. 4.1; einziger for-
maler Unterschied: „ja“ statt „+“ und „nein“ statt „–“). Das Ziel der Personen soll
es sein, auf die Fragen so zu antworten, dass die Befragungsergebnisse auch die
gleiche Statistik wie die Messungen an Photonen in EPR/B-Experimenten haben.
Das heißt, immer wenn die Personen die gleiche Frage erhalten, müssen ihre Ant-
worten übereinstimmen, und wenn sich die Fragen um 30 ◦ unterscheiden, müssen
die Antworten in 75 % der Fälle übereinstimmen, und bei einer Differenz um 60 ◦
in 25 % der Fälle. Kann diese Aufgabe gelingen?
Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Personen, während sie antworten, we-
der die Frage kennen, die der anderen Person gestellt wird, noch deren Antwort. Das
heißt, wenn sie überhaupt irgendeine Chance haben wollen, die Statistik zu repro-
duzieren, müssen sie, bevor sie den gemeinsamen Raum verlassen, eine Strategie
vereinbaren, gemäß der sie später, wenn sie getrennt sind, die Fragen beantwor-
ten (bei den Photonen entspricht das verborgenen Variablen). Welche Strategie ist
erfolgversprechend? Um die erste statistische Forderung zu erfüllen, bei gleichen
Fragen mit Sicherheit gleiche Antworten zu geben, müssen sie auf jeden Fall vorher
vereinbaren, mit welcher Antwort beide auf jede der drei möglichen Fragen reagie-
ren (deterministische Strategie). Für jedes Paar von Probanden gibt es demnach acht
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 139
mögliche Strategien, von denen jede eine eindeutige Antwort auf jede Frage festlegt
(Tab. 4.2).
Wenn jedes Paar von Personen eine dieser Strategien wählt, ist gesichert, dass
sich bei gleichen Fragen perfekte Korrelationen ergeben. Da die Antworten auf
gleiche Fragen zwischen verschiedenen Durchgängen in der Statistik variieren, ist
außerdem klar, dass Paare in verschiedenen Durchgängen verschiedene Strategien
wählen müssen. Dies müsste so geschickt geschehen, dass sich die beiden anderen
Korrelationen für verschiedene Fragen ergeben. In welchem Verhältnis müssen die
Personen die Strategien mischen, damit sich die Statistik ergibt?
Wir werden nun zeigen, dass es keine Mischung geben kann, der dies ge-
lingt. Dazu betrachten wir die möglichen Mischungen ganz allgemein, d. h. ohne
besondere Annahmen, und bezeichnen den Anteil der Fälle, in denen die Perso-
nen Strategie 1 wählen, mit f1 , den Anteil der Fälle, in denen sie Strategie 2
wählen, mit f2 usw. Aus diesen Gewichten kann man dann aus der Tab. 4.2 die
resultierende Statistik ableiten. Zum Beispiel ist die Wahrscheinlichkeit, dass Per-
son A mit „ja“ und Person B mit „nein“ antwortet, wenn A die Frage „0 ◦ ?“ und
B die Frage „60 ◦ ?“ gestellt wird, gleich f2 + f5 . Hierzu haben wir einfach die
Gewichte aller Strategien summiert, die diese Antworten für die entsprechenden
Fragen ergeben. Wir notieren diese Tatsache in der üblichen Kurzschreibweise als
P(α = +, β = – | a = 0 ◦ , b = 60 ◦ ) = f2 + f5 . Die Wahrscheinlichkeit für die glei-
chen Antworten bei den Fragen „0 ◦ ?“ und „30 ◦ ?“ bzw. bei den Fragen „30 ◦ ?“ und
„60 ◦ ?“ ergibt sich aus Tab. 4.2 als P(α = +, β = – | a = 0 ◦ , b = 30 ◦ ) = f3 + f5
bzw. als P(α = +, β = – | a = 30 ◦ , b = 60 ◦ ) = f2 + f6 . Da die Gewichte alle po-
sitiv oder 0 sind, ist es einfach, zu sehen, dass diese drei Wahrscheinlichkeiten einer
Ungleichung gehorchen müssen:
f2 + f 5 ≤ f 3 + f 5 + f 2 + f 6 , (4.19)
P(α = +, β = – | a = 0 ◦ , b = 60 ◦ ) ≤ P(α = +, β = – | a = 0 ◦ , b = 30 ◦ ) +
+ P(α = +, β = – | a = 30 ◦ , b = 60 ◦ ). (4.20)
Die präzise Darstellung von Bells Theorem, die wir in diesem Abschnitt entwickeln
wollen, entspricht in zweierlei Hinsicht nicht Bells ursprünglicher Arbeit (1964).
Erstens wurde durch die Diskussion im Laufe der Jahre deutlich, dass das Theorem
auch aus einem schwächeren Satz von Annahmen abgeleitet werden kann. Durch die
Erkenntnis, dass einige der ursprünglichen Annahmen fallengelassen werden kön-
nen, wurden die möglichen Reaktionen auf das Theorem eingeschränkt und seine
Bedeutung immer klarer. Wir legen hier die Standardversion von Bell (1975) zu-
grunde, die ohne die ursprünglichen Annahmen „perfekte Korrelationen“ (Clauser
et al. 1969) und „Determinismus“ (Bell 1971) auskommt. Weitere Verstärkungen
aus jüngster Vergangenheit werden wir unten diskutieren.
Zweitens handelt es sich hier nicht um eine bloße Wiedergabe von Bells Argu-
mentation, sondern um eine wissenschaftsphilosophische Rekonstruktion. Letztere
unterscheidet sich vor allem darin von Bells Darstellung, dass versucht wird, al-
le impliziten inhaltlichen und methodischen Annahmen explizit zu machen. Nur
so kann man eine verlässliche Interpretation dieses Theorems mit weitreichenden
Folgen sicherstellen. Bells Beweis ist im Kern ein mathematisches Argument, das
in seinen stärksten Versionen in der Sprache bedingter Wahrscheinlichkeiten for-
muliert ist. In seiner mathematischen Präzision liegt einerseits seine Stärke (wenn
die Prämissen richtig sind, folgt zwingend die Konklusion), andererseits bedürfen
die mathematischen Ausdrücke natürlich einer Interpretation, wenn man inhaltlich
gehaltvolle Schlüsse aus ihnen ziehen möchte – und diese Übergänge von forma-
len Ausdrücken zu physikalischen oder metaphysischen Tatsachen haben sich als
die „Problemzonen“ des Arguments erwiesen. Während die formalen Tatsachen
allgemein akzeptiert sind, besteht ein nicht unerheblicher Dissens in der ange-
messenen Interpretation und Bewertung der Prämissen und auch der Konklusion.
In der folgenden Darstellung wollen wir ein besonderes Augenmerk auf diese
Interpretationsübergänge haben.
Die Aufgabe des oben skizzierten Spiels, die gemessene Photonen-Statistik
zu reproduzieren, hat einen tieferen Hintergrund. Es handelt sich um eines der
zentralen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens, nämlich dass Korrelationen er-
klärungsbedürftig sind. Wenn wir finden, dass zwei Variablen korreliert sind, z. B.
dass Schnupfen in, sagen wir, 70 % der Fälle mit Halsweh einhergeht, versuchen
wir, den statistischen Zusammenhang zu erklären. In der Regel tun wir dies, indem
wir einen kausalen Zusammenhang herstellen, also annehmen, dass entweder eine
der Variablen Ursache der anderen ist oder die beiden eine gemeinsame Ursache
haben. Die Erklärung für die Korrelation von Schnupfen und Halsweh ist natürlich,
dass Erkältungsviren eine gemeinsame Ursache sind.
Im Fall der EPR/B-Experimente hatten wir ebenfalls Korrelationen gefun-
den, die erklärungsbedürftig sind (bei gleichen Messeinstellungen eine perfekte
Korrelation für Übereinstimmung der Messergebnisse und bei verdrehten Messein-
stellungen entsprechend schwächere). Wir hatten oben gesehen, dass die Relati-
vitätstheorie durch das Prinzip der globalen Einstein-Lokalität nahelegt, dass die
142 P.M. Näger und M. Stöckler
Korrelationen auf lokale Weise erklärt werden. Wenn man typische Hintergrundan-
nahmen trifft, dann ist die stärkste Struktur, die man zur Erklärung der Korrelationen
annehmen kann und die konsistent mit globaler Einstein-Lokalität ist, die lokale
Gemeinsame-Ursache-Struktur in Abb. 4.5.
Zu den Hintergrundannahmen gehören erstens die Voraussetzungen, dass
kausale Relationen immer vorwärts in der Zeit gerichtet sind („keine Rück-
wärtsverursachung“), und zweitens, dass die Variablen des Experiments, die
vom Experimentator kontrolliert werden, nämlich die Messeinstellungen und der
Quantenzustand, keine Wirkungen anderer Variablen im Aufbau sind („Interven-
tionsannahme“). Wir weisen außerdem darauf hin, dass die verborgene Variable λ
so verstanden wird, dass sie alle möglicherweise vorhandenen verborgenen gemein-
samen Ursachen der Messergebnisse beschreibt, d. h. dass es über λ hinaus keine
weiteren versteckten gemeinsamen Ursachen gibt (dies ist allerdings Teil der De-
finition von λ, keine Annahme). Jede der beiden Annahmen ist sehr plausibel und
natürlich, aber wir werden sehen, dass die Diskussion um Bells Theorem so kniff-
lig ist, dass selbst solche natürlich erscheinenden Annahmen angezweifelt werden
(siehe Abschn. 4.5).
Man kann Bells Theorem als ein Argument verstehen, das die ganze Klasse lo-
kaler kausaler Erklärungen für die EPR/B-Korrelationen ausschließt. Es geht dabei
indirekt vor: Man nimmt die stärkste lokale Struktur an, leitet daraus statistische
Konsequenzen ab (nämlich eine Bellsche Ungleichung, die eine obere Schranke für
die Stärke von Korrelationen aus solchen Strukturen darstellt) und zeigt dann, dass
diese im Widerspruch zur gemessenen Statistik stehen (die gemessenen Korrela-
tionen sind stärker, als die Bellsche Ungleichung erlaubt). Um aus der kausalen
Struktur statistische Konsequenzen abzuleiten, braucht man noch ein Übersetzungs-
prinzip zwischen kausalen Strukturen und statistischen Tatsachen. Das zentrale
Übersetzungsprinzip zwischen diesen beiden Bereichen, das wir als dritte Voraus-
setzung zu den Hintergrundannahmen des Theorems zählen, lautet (Spirtes et al.
1993; vgl. auch Pearl 2000):
Diese Bedingung müssen wir etwas erläutern: Direkte Ursachen einer Variable X
in einem gegebenen kausalen Graph sind alle Variablen, von denen ein Pfeil nach
X führt. (Zum Beispiel sind in Abb. 4.5 a, ψ und λ direkte Ursachen von α.) Die
Menge der Variablen, die keine Wirkungen einer Variable X sind, besteht aus allen
Ursachen von X (direkten und indirekten) und allen Variablen, die weder Ursachen
noch Wirkungen sind, d. h. Variablen, die mit X kausal nur über gemeinsame Wir-
kungen oder gar nicht verbunden sind. (Beispielsweise sind in Abb. 4.5 a, b und λ
keine Wirkungen von ψ.)
P(X|YZ) ist die bedingte Wahrscheinlichkeit von X gegeben Y und Z und
P(X|YZ) = P(X|Z) ist die Definition der statistischen Unabhängigkeit von X und Y
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 143
gegeben Z. Hierbei muss die Gleichung für alle Werte der Variablen X, Y und Z
gelten. Statistische Unabhängigkeit von X und Y gegeben Z besagt, dass wenn In-
formation über den Wert von Z vorliegt, Y keine zusätzliche Information darüber
liefert, welchen Wert X hat (denn Information über Y ändert die Wahrscheinlichkeit
von X nicht). Mit diesen Erläuterungen können wir die Aussage der Markov-
Bedingung nun auch so formulieren: Wenn man weiß, ob die direkten Ursachen
Z einer Variable X aufgetreten sind, dann liefert Wissen über die indirekten Ursa-
chen (ein Teil von Y) und die mit X nur über gemeinsame Wirkungen oder gar nicht
verbundenen Variablen (der andere Teil von Y) keine weitere Information darüber,
ob X eingetreten ist oder nicht.
Offensichtlich ist die kausale Markov-Bedingung ein Übersetzungsprinzip, das
kausale Gegebenheiten in Bezug zu statistischen Unabhängigkeiten setzt. Als
solches ist sie das zentrale Brückenprinzip zwischen kausalen und statistischen
Tatsachen. Die kausalen Strukturen sind in der Regel gegeben als kausale Gra-
phen, bei denen die Knotenpunkte Variablen sind. Paare von Knoten können durch
Pfeile verbunden sein, die kausale Relationen symbolisieren. Des Weiteren müssen
solche Graphen azyklisch in dem Sinne sein, dass Pfeile in ihnen keinen Kreis bil-
den dürfen. Solche Graphen haben wir oben schon intuitiv verwendet (siehe z. B.
Abb. 4.5).
Die kausale Markov-Bedingung kann in beliebig komplexen kausalen Graphen
eingesetzt werden, aber es ist instruktiv sich klar zu machen, dass sie statistische
Unabhängigkeiten in folgenden drei paradigmatischen Grundstrukturen impliziert:
(i) Variablen A und B, die kausal nur über eine gemeinsame Wirkung C verbun-
den sind, A → C ← B, sind unabhängig, P(A|B) = P(A); (ii) Variablen A und B in
einer kausalen Kette, A → C → B, sind unabhängig gegeben die mittlere Varia-
ble C, P(A|BC) = P(A|C); (iii) Variablen A und B, die nur über eine gemeinsame
Ursache C verbunden sind, A ← C → B, sind unabhängig gegeben C, P(A|BC) =
P(A|C).
Der letzte Fall, (iii), verdeutlicht, dass die kausale Markov-Bedingung das
Reichenbachsche Prinzip der Gemeinsamen Ursache (Reichenbach 1956) als Spe-
zialfall enthält: Wenn zwei statistisch korrelierte Variablen X und Y nicht direkt
kausal verbunden sind, dann gibt es eine gemeinsame Ursache Z, die X und Y
statistisch voneinander abschirmt, d. h. X und Y werden statistisch unabhängig
gegeben Z: P(X|YZ) = P(X|Z). Während die Reichenbach-Bedingung nur die
statistischen Unabhängigkeiten in einfachen Fällen mit gemeinsamen Ursachen
erschließen lässt, geht die kausale Markov-Bedingung über die Reichenbach-
Bedingung hinaus, insofern sie die Unabhängigkeiten für beliebige Strukturen
impliziert (solange diese azyklisch sind).
Bevor wir die kausale Markov-Bedingung als Übersetzungsprinzip auf die
lokale kausale Struktur anwenden, wollen wir erwähnen, dass die Markov-
Bedingung auch ein weitreichendes methodisches Prinzip darstellt. Sie besagt, dass
alle Korrelationen verursacht sind, d. h. es kann keine unverursachten Korrelationen
geben. Damit ist die Markov-Bedingung das methodische Prinzip, das wissen-
schaftlichem Forschen nach Ursachen und unseren Überlegungen in diesem Kapitel
zugrunde liegt. Diese methodische Aussage ist in der obigen Formulierung der
144 P.M. Näger und M. Stöckler
Markov-Bedingung nicht offensichtlich, man kann aber zeigen, dass die Bedin-
gung äquivalent damit ist. In ihren beiden Funktionen als methodische Forderung
und als Brückenprinzip zwischen kausalen und statistischen Tatsachen ist die
Markov-Bedingung das zentrale Prinzip kausaler Erklärungen.
Die zentrale Rolle der Markov-Bedingung für den Bellschen Beweis ergibt sich
daraus, dass man sie benötigt, um die Forderungen nach einer lokalen gemeinsame-
Ursache-Struktur (Abb. 4.5) zu übersetzen in bedingte Wahrscheinlichkeiten. Diese
Struktur scheint die natürliche Erklärung der EPR/B-Korrelationen zu sein, wenn
man dem Weltbild der klassischen Physik anhängt, in dem alle Prozesse lokal sind
und die normalen methodischen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens gelten. Die
geniale Einsicht von Bell war nun, dass eine solche Struktur unmöglich die ge-
messenen Korrelationen erklären kann. Dies kann man nachvollziehen, wenn man
mithilfe der Markov-Bedingung folgende statistischen Tatsachen aus dem Graphen
ableitet:18
18 DieBedingung der Messunabhängigkeit folgt direkt mit der Markov-Bedingung. Für die lokale
Faktorisierbarkeitsbedingung ist zusätzlich ein Zwischenschritt nötig:
Der erste Schritt folgt mit der Produktregel der Wahrscheinlichkeitstheorie, der zweite mit der
Markov-Bedingung aus dem kausalen Graphen.
19 Manchmal wird die Bedingung auch „autonomy“, „no conspiracy“ oder „freedom of choice“ ge-
nannt. Insbesondere die beiden letzteren Bezeichnungen legen aber bereits bestimmte Deutungen
nahe, die zusätzliche Annahmen erfordern würden; dies möchten wir um der Allgemeinheit unserer
Betrachtung willen hier vermeiden.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 145
– 2 ≤ xy + xy + x y – x y ≤ 2. (4.22)
Man wählt x = α αP(α|aψλ), y = β βP(β|bψλ), x = α αP(α|a ψλ)
und y = β βP(β|b ψλ) und verwendet das Distributivgesetz:
Dies ist eine Ungleichung für die gemeinsamen Erwartungswerte auf der ver-
borgenen Ebene. Um eine empirisch testbare Ungleichung zu erhalten, muss
man noch λ eliminieren. Man multipliziert die Ungleichung mit P(λ), inte-
griert über λ und wendet die Messunabhängigkeitsbedingung in passender
Weise an, so dass λ sich herausmarginalisiert. Wir demonstrieren dies für den
ersten Summanden:
αβP(αβ|abψλ)P(λ)dλ = αβ P(αβ|abψλ)P(λ|abψ)dλ =
α,β α,β
Im letzten Schritt haben wir eine Notation für den gemeinsamen Erwartungs-
wert der Messergebnisse eingeführt (gegeben die Messeinstellungen und den
146 P.M. Näger und M. Stöckler
Dies ist eine Bellsche Ungleichung. Die vorliegende prominente Form wurde
zuerst (aber in anderer Weise als hier demonstriert) von Clauser, Horne, Shi-
mony und Holt (1969) abgeleitet und wird „CHSH-Ungleichung“ genannt.
Entscheidend für das Argument ist aber, dass auch diese neue Ungleichung für
manche Messeinstellungen durch die empirische Statistik aus den Experimenten
verletzt wird. Es gibt somit einen Widerspruch zwischen der empirischen Statistik
und den theoretischen Annahmen, die wir plausiblerweise zu ihrer Erklärung ange-
führt hatten. Bei den Annahmen können wir zwei Ebenen unterscheiden. Erstens
muss mindestens eine der probabilistischen Annahmen lokale Faktorisierbarkeit
oder Messunabhängigkeit falsch sein. Zweitens muss mindestens eine der An-
nahmen falsch sein, aus denen wir die probabilistischen Annahmen hergeleitet
haben, nämlich globale Einstein-Lokalität oder eine der Hintergrundannahmen.
Hier ist die Struktur des Arguments noch einmal im Überblick:
(P1) Globale Einstein-Lokalität (GEL) und eine Menge von klassischen Hinter-
grundannahmen (HA) implizieren lokale Faktorisierbarkeit (LF) und Messun-
abhängigkeit (MU): (GEL) ∧ (HA) → (LF) ∧ (MU)
(P2) Messunabhängigkeit und lokale Faktorisierbarkeit implizieren Bellsche Un-
gleichungen (BU): (MU) ∧ (LF) → (BU)
(P3) Bellsche Ungleichungen sind verletzt: ¬(BU)
Bells Argument hat also ein negatives Ergebnis: Es ist ein typisches No-go-Theorem.
Es beweist, dass die EPR/B-Korrelationen nicht unter den Annahmen erklärt werden
können, von denen wir normalerweise ausgehen. In diesem Sinne zeigt es, dass die
Quantenwelt unvereinbar ist mit einem klassischen Weltbild. Mindestens eine der
prima facie plausiblen Annahmen, die wir getroffen haben, muss falsch sein.
Die explizite Struktur des Arguments verdeutlicht auch noch einmal, dass es
einen mathematischen Kern des Arguments gibt, nämlich den Schluss von (P2)
und (P3) auf (C1). (P1), das den Schluss auf (C2) ermöglicht, hat dann eher den
Status einer interpretierenden Prämisse, die dem formalen Argument eine kausale
Deutung verleiht. Entgegen manchem Eindruck, den man aus physikalischen Fach-
artikeln zu dem Thema bekommen kann, ist es erst dieser Interpretationsrahmen, der
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 147
20 So suggeriert es auch der Artikel zur Bellschen Ungleichung auf der deutschen Wikipedia-Seite,
aus, die realistischen ebenso wie die anti-realistischen. Es sind dann nur nicht-lokale
Theorien möglich, darunter realistische als auch anti-realistische, aber Bells Theo-
rem sagt nichts darüber aus, ob die einen oder die anderen zu bevorzugen sind. Bells
Theorem ist neutral gegenüber der Realismus-Frage.
4.4 Nicht-Lokalität
Welche der Annahmen aus der Herleitung der Bellschen Ungleichung gilt nicht?
Wir hatten zwei Ebenen in der Herleitung unterschieden, eine probabilistische und
eine kausale, und auf jeder Ebene muss mindestens eine Annahme falsch sein. Es
scheint fast unmöglich zu sein, auf rein probabilistischer Ebene ein Argument da-
für zu finden, welche Annahme plausiblerweise verletzt ist. Praktisch alle Autoren,
selbst wenn es explizit anders behauptet wird, beziehen sich mindestens implizit
auf die kausale Ebene, weil nur dort Kriterien zu finden sind, die Stoff für mögliche
Gründe liefern.
Das wird auch unser Weg hier sein: In diesem Abschnitt werden wir zunächst
die Lokalitätsannahme und im folgenden dann die Hintergrundannahmen auf der ge-
haltvolleren kausalen Ebene überprüfen. Zum einen müssen wir bei jedem Prinzip
untersuchen, ob eine Verletzung des Prinzips tatsächlich die Verletzung der Bell-
schen Ungleichung erklären kann. Die Verletzung mindestens eines Prinzips ist ja
nur eine notwendige Bedingung für die Verletzung der Ungleichung. Zum anderen
müssen wir bei den Prinzipien, für die das der Fall ist, diskutieren, ob ihre Auf-
gabe plausibel ist und welche Konsequenzen dies hätte. Hierbei dürfen wir nicht
erwarten, dass wir eine eindeutige und nicht mehr anzweifelbare Lösung erhalten.
Gerd Graßhoff hat das Vorgehen in der Debatte um die Bellsche Ungleichung in ei-
nem Vortrag einmal mit einer Detektivgeschichte verglichen: Es gibt verschiedene
Personen, die unter Verdacht stehen, und es gilt herauszufinden, wer der Mörder ist.
In den seltensten Fällen kann der Detektiv in einem strengen Sinne beweisen, wer
die Tat begangen hat, aber oft lassen wir uns auch von guten Indizien überzeugen.
Die weitaus meisten Autoren interpretieren die Verletzung der Bellschen Un-
gleichung als Zeichen einer Nicht-Lokalität: Es muss eine irgendwie geartete
Verbindung zwischen den beiden Flügeln des Experiments geben, die mit Über-
lichtgeschwindigkeit wirkt. Diese These folgt aus dem Bell-Argument, wenn man
voraussetzt, dass diejenigen Annahmen gelten, die wir als „Hintergrundannah-
men“ bezeichnet haben. Was sind die Gründe, die Lokalitätsannahme und nicht
eine der Hintergrundannahmen aufzugeben? Bei der Entwicklung dieser Positi-
on spielt es sicherlich eine große Rolle, dass zwei Hauptpositionen zur Lösung
des quantenmechanischen Messproblems (siehe Abschn. 2.3.1) – die GRW-Theorie
(siehe Abschn. 2.4) und die De-Broglie-Bohm-Theorie (siehe Abschn. 5.1) – ex-
plizit nicht-lokal sind. So theoriefrei das Bellsche Projekt von seinen Annahmen
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 149
her aufgezogen ist: Bei der Bewertung, welche der Annahmen fehlgeht, schei-
nen die Autoren doch auf die existierenden Theorien zu schielen. Dies verhindert
andererseits aber auch, dass der Lösungsvorschlag als ad hoc abgetan werden
kann.
Im folgenden Abschnitt werden wir dann diskutieren, was es heißen würde,
statt der Lokalitätsannahme eine der Hintergrundannahmen aufzugeben. Solche
Vorschläge spielen in der Diskussion aber eher die Rolle von alternativen Lösungs-
vorschlägen. Ihr hartnäckiges Fortbestehen jedoch zeigt, dass der Vorschlag einer
Nicht-Lokalität nicht ohne problematische Konsequenzen ist. Insbesondere die Ver-
einbarkeit mit der Relativitätstheorie ist, wie wir sehen werden, nach wie vor ein
großes Thema. Dennoch ist die Annahme einer Nicht-Lokalität die weitgehend
akzeptierte Konsequenz aus Bells Theorem. Die Tatsache, dass sich herausstellen
wird, dass alle alternativen Lösungsvorschläge ebenfalls große (wenn nicht größe-
re) Probleme aufweisen, ist ein weiterer Grund, die Lösung in einer Nicht-Lokalität
zu suchen.
Wie genau ist es zu verstehen, dass die Lokalitätsannahme in der Quantenwelt ver-
letzt ist? Wir haben schon erwähnt, dass Nicht-Lokalität heißt, dass es einen Einfluss
zwischen Variablen gibt, die raumartig zueinander gelegen sind, so dass der Ein-
fluss zwischen ihnen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit propagieren müsste
(s. Abschn. 4.3.1). In EPR/B-Experimenten ordnet man die Messgeräte absichtlich
so an, dass die eine Messung raumartig zu der anderen liegt, um Beeinflussungen
zwischen den beiden Messungen auszuschließen. Unsere Argumentation scheint
uns jetzt aber an einen Punkt gebracht zu haben, an dem wir diese Annahme auf-
geben müssen. Es scheint, dass es auf eine zu bestimmende Weise einen Einfluss
zwischen den beiden Flügeln geben muss. Hierbei gibt es drei Prototypen (siehe
Abb. 4.6): Entweder gibt es (a) einen Einfluss von einem Messergebnis auf das
andere (was in der Debatte mit dem Schlagwort „Ergebnis-Abhängigkeit“, „outco-
me dependence“, assoziiert wurde) oder es gibt (b) einen direkten Einfluss zwischen
einer Messeinstellung und dem entfernten Ergebnis („Parameter-Abhängigkeit“,
„parameter dependence“) oder es gibt (c) einen indirekten Einfluss von einer Mess-
einstellung auf das entfernte Messergebnis, und zwar vermittelt über die verborgene
gemeinsame Ursache λ. (Im Spiel der Personen würde dies bedeuten, dass eine der
Personen bei Beantwortung der Frage Informationen darüber hat, (a) welche Ant-
wort die andere Person gegeben hat, oder (b) welche Frage ihr gestellt wurde, oder
dass (c) bei Auswahl der Strategie eine der Fragen bereits bekannt war.)
Zu letztgenanntem Fall sollten wir anmerken, dass λ durch die Aufgabe der
Lokalitätsannahme nicht mehr unbedingt einen Zustand an der Quelle beschreiben
muss und auch nicht mehr unbedingt verborgene Variablen der Photonen bedeutet.
Aus abstrakt-kausaler Sicht war λ von Anfang an einfach eine verborgene gemein-
same Ursache der Messergebnisse und ist ansonsten eine Art „Joker-Variable“ im
Diagramm. In einer lokalen Welt muss eine gemeinsame Ursache der Messergeb-
nisse natürlich im Schnitt der Vergangenheitslichtkegel der Messergebnisse liegen,
150 P.M. Näger und M. Stöckler
a b a b
a b
Abb. 4.6 Prototypen nicht-lokaler kausaler Strukturen (Wichtige Kausalrelationen sind hier und
in vielen folgenden Abbildungen der übersichtlicheren Darstellung halber fett gedruckt.)
und das plausibelste Szenario ist, dass λ an der Quelle positioniert ist und verborge-
ne Variablen der Photonen beschreibt. In einer nicht-lokalen Welt hingegen müssen
die Zustände, die λ beschreibt, nicht im Vergangenheitslichtkegel der Messergeb-
nisse liegen; vielmehr können sie nun überall in der Raumzeit-Region zwischen den
Messflügeln21 liegen (also auch raumartig zu den Messergebnissen) und dennoch
gemeinsame Ursache der Messergebnisse sein.
Das Hauptproblem für solche nicht-lokalen Modelle ist, dass sie in einem ernst-
haften Konflikt mit der Vorstellung von Raum und Zeit zu stehen scheinen, die die
Relativitätstheorie nahelegt. Wir hatten oben die Standard-Interpretation der Relati-
vitätstheorie zugrunde gelegt, in der das Prinzip der globalen Einstein-Lokalität gilt
(siehe Abschn. 4.3.1). Wenn es, wie diese Interpretation behauptet, richtig ist, dass
die Relativitätstheorie das Prinzip der globalen Einstein-Lokalität impliziert, dann
21 Genau genommen müsste λ, auch wenn dies am plausibelsten erscheint, nicht unbedingt zwi-
schen den Flügeln liegen, sondern lediglich an irgendeinem Ort außerhalb der Zukunftslichtkegel,
die von α und β ausgehen.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 151
Dies sind die Gründe, die gegen nicht-lokale kausale Verbindungen in einer
relativistischen Raumzeit sprechen. Wenn man die Verletzung der Bellschen Un-
gleichung durch eine solche Nicht-Lokalität erklären will, muss man zu diesen
Argumenten Stellung beziehen. Entweder muss man zeigen, dass sie nicht gelten,
oder man muss zeigen, dass die Verbindung, die man als Lösung vorschlägt, die
problematische Eigenschaft nicht besitzt.
Es ist klar, dass Argument 1 nicht schlagend ist: Es könnte kausale Verbin-
dungen geben, die einfach nicht auf Materie- oder Energiefluss beruhen. Auch
wenn die typischen kausalen Verbindungen, die wir kennen, nicht von dieser Art
sind, scheinen viele Autoren diese Möglichkeit zuzugestehen. So spielt das Ar-
gument kaum eine Rolle in der Debatte, wahrscheinlich auch weil gemäß den
theoretischen Beschreibungen, die wir in der Quantentheorie und in der De-Broglie-
Bohm-Theorie haben, der Zusammenhang zwischen den Messflügeln nicht mit
Materie- oder Energiefluss verbunden ist.
Weitaus einflussreicher in der Debatte ist aber das Argument 2. Es verbietet nicht-
lokale Verbindungen, mit denen man Signale senden kann. Die Überzeugung, dass
die Relativitätstheorie superluminale Signale verbietet, ist Common Sense, aber
nicht alle Autoren machen deutlich, warum dies so ist. Der stärkste Grund, wie
Arntzenius (1994) betont, ist, dass superluminale Signale in einer relativistischen
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 153
22 Um superluminale Signale senden zu können, müsste es eine Korrelation zwischen einer kon-
trollierbaren Variable an einem und einer detektierbaren Variable am anderen Flügel geben. Dies
ist aber nicht der Fall: Einerseits sind die Messergebnisse korreliert, aber keines der beiden ist
kontrollierbar (jedes Ergebnis variiert zufällig von Durchgang zu Durchgang). Andererseits kann
man die Messeinstellungen zwar kontrollieren, aber es gibt keine Korrelation zwischen einer
Einstellung und einer Variable am anderen Flügel. Insbesondere ist eine Einstellung (marginal)
unabhängig vom entfernten Messergebnis. (Gegeben das lokale Messergebnis gibt es zwar eine
Korrelation zwischen Einstellung und entferntem Ergebnis, aber das lokale Ergebnis kann man
nicht kontrollieren, und so kann man auch diese bedingte Abhängigkeit nicht nutzen, um Signale
zu senden.)
154 P.M. Näger und M. Stöckler
mit der man keine Signale senden kann, keine Fernwirkung („action at-a-distance“)
sei, sondern eine „Fernleidung“ („passion at-a-distance“, Shimony 1984, S. 224).
Deshalb könne diese Art von Nicht-Lokalität in EPR/B-Experimenten mit der Rela-
tivitätstheorie „friedlich koexistieren“. Andere Autoren vertreten ähnliche Thesen,
z. B. Jarrett (1984) oder Redhead (1983, 1987).
Es bleibt allerdings zu einem gewissen Grade rätselhaft, wie eine solche beson-
dere Verbindung die Phänomene in EPR/B-Experimenten erklären soll. Zum einen
bräuchte es für eine überzeugende Erklärung klare, allgemeingültige Prinzipien, die
sagen, unter welchen Umständen eine solche Verbindung welche statistischen Tat-
sachen impliziert, also ganz analog dazu, was die kausale Markov-Bedingung für
kausale Verbindungen leistet. Da die Verbindung jedoch einzigartig für verschränk-
te Zustände zu sein scheint, ist es schwierig, Prinzipien aufzustellen, die nicht sofort
als ad hoc gelten müssen.
Zum anderen besteht wie für kausale Verbindungen auch für eine nicht-kausale
Verbindung das zentrale Problem, dass sie einerseits korrelationserzeugend sein
muss, um die starken EPR/B-Korrelationen (zwischen den Messergebnissen) zu
erklären; anderseits sollte sie aber gerade nicht korrelationserzeugend sein, um
zu verhindern, dass man superluminal Signale senden kann. Dieses Dilemma be-
steht also nicht nur für kausale Verbindungen sondern für jede Art von Verbindung,
die beansprucht, die statistischen Tatsachen zu erklären. Sich auf nicht-kausale
Verbindungen zu berufen beseitigt dieses fundamentale Problem nicht.
Da die statistischen Unabhängigkeiten, die garantieren, dass man keine su-
perluminalen Signale senden kann, eine empirische Tatsache sind, besteht das
letztere Problem auch dann, wenn man raumzeitliche Beschränkungen, die aus
der Relativitätstheorie folgen, unberücksichtigt lässt. Unabhängig von raumzeitli-
chen Beziehungen handelt es sich erst einmal um die Frage, ob man eine Struktur
aus kausalen (oder nicht-kausalen) Verbindungen angeben kann, die zusammen mit
nicht-willkürlichen Prinzipien die schwierige Statistik erklärt. Dieses fundamentale
Problem wurde erst kürzlich formuliert (Näger 2016; vgl. auch Wood und Spek-
kens 2015) und wird als „das kausale Problem der Verschränkung“ bezeichnet (im
Gegensatz zum klassischen raumzeitlichen Problem der Verschränkung, bei dem es
darum geht, wie man die Nicht-Lokalität im Einklang mit der Relativitätstheorie
verstehen kann).
Das kausale Problem der Verschränkung kann man mit Hilfe der Theorie kau-
saler Graphen sehr klar fassen. Die Theorie kausaler Graphen beinhaltet drei
Axiome: (i) Kausale Graphen enthalten keine Schleifen (Axiom der Azyklizität),
(ii) kausal unverbundene Variablen23 sind statistisch unabhängig (kausale Markov-
Bedingung) und (iii) kausal verbundene Variablen sind statistisch abhängig (kausale
Faithfulness-Bedingung). Wenn diese drei Axiome gelten, kann man zeigen, dass
sich ein Widerspruch zur Statistik von EPR/B-Experimenten ergibt: Entweder kann
man nicht die starken EPR/B-Korrelationen erklären oder nicht die statistischen
23 Zwei Variablen A und B in einem kausalen Diagramm sind genau dann verbunden, wenn A
Ursache von B ist oder B von A oder wenn beide eine gemeinsame Ursache haben. Insbesondere
sind A und B nicht kausal verbunden, wenn sie nur eine gemeinsame Wirkung haben.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 155
24 Auch Verletzungen der kausalen Markov-Bedingung sind behauptet worden (z. B. van Fraas-
sen 1982; Cartwright 1988), aber sie sind umstritten (z. B. Hausman 1999). Vor allem aber kann
man zeigen, dass diese nicht ausreichen würden, um die starken EPR/B Korrelationen zu erklären
(Näger 2013, siehe unten Abschn. 4.5.1).
25 In einem typischen kausalen System ist jedem Pfeil in einem kausalen Diagramm ein kau-
saler Parameter zugeordnet. Er beschreibt, grob gesagt, wie stark die Ursachenvariable die
Wirkungsvariable beeinflusst.
26 Normalerweise sind solche Feinabstimmungen instabil gegenüber äußeren Störungen, weil ei-
ne Störung in der Regel nur einen der beiden Pfade beeinflusst und somit die Balance zwischen
ihnen aufhebt. Dann werden Ursache und Wirkung abhängig und man kann Signale senden. Der
quantenmechanische Formalismus demonstriert jedoch, wie es möglich ist, dass eine solche Fein-
abstimmung stabil gegen äußere Störungen ist: In der quantenmechanischen Nicht-Faithfulness
sind die Pfade so eng miteinander verwoben, dass äußere Störungen immer auf beide Pfade wir-
ken, und die Gesetze für solche Störungen sind so, dass beide Pfade immer so gestört werden, dass
sie in Balance bleiben.
156 P.M. Näger und M. Stöckler
Die Debatte um eine mögliche Signalübertragung und die Frage nach dem Wesen
der nicht-lokalen Relation ist in den meisten Fällen verbunden mit einer verwandten
Diskussion, bei der es darum geht, herauszufinden, welche der Variablen genau mit-
einander nicht-lokal verbunden sind. Die Debatte wird geführt auf Grundlage des
probabilistischen Kerns des Bell-Arguments, für die J. Jarrett (1984) eine ebenso
berühmt gewordene wie irreführende Analyse einführt. Jarrett folgert aus Bells
Theorem, dass auf probabilistischer Ebene die lokale Faktorisierbarkeitsbedingung
verletzt sein muss, und zeigt, dass deren Verletzung mathematisch äquivalent ist
mit der Disjunktion aus der Annahme einer Korrelation zwischen den beiden Mess-
ergebnissen („ Ergebnis-Abhängigkeit “, „outcome dependence“) und der Annahme
einer Korrelation zwischen der Messeinstellung auf der einen und dem Messergeb-
nis auf der anderen Seite („Parameter-Abhängigkeit“, „parameter dependence“).
Diese beiden Korrelationen werden nun zu den beiden großen Alternativen stili-
siert: „Ergebnis-Abhängigkeit oder Parameter-Abhängigkeit?“ scheint die wichtige
Frage zu sein, und es entspinnt sich eine bis heute andauernde Debatte, welche der
Abhängigkeiten nun tatsächlich bestehe.
Ergebnis-Unabhängigkeit:
Parameter-Unabhängigkeit:
27 Während bei Experimenten mit den vollkommen verschränkten Bell-Zuständen (siehe Kasten
in Abschn. 4.3.1) die Messergebnisse unabhängig von der jeweils lokalen Messeinstellung sind,
verschwindet diese aus einer Symmetrie resultierende Schein-Unabhängigkeit für partiell ver-
schränkte Zustände.
158 P.M. Näger und M. Stöckler
Ebene (Näger 2013): Direkte kausale Strukturen (wie in Abb. 4.6a), die als ein-
zige Verbindung zwischen den Flügeln einen Einfluss von einem Messergebnis zum
anderen annehmen, sind ausgeschlossen. Was jahrelang als die Standardlösung des
Problems galt, eine statistische Abhängigkeit und eine quasi-kausale Verbindung
zwischen den Messergebnissen anzunehmen, hat sich als unhaltbar erwiesen. Um
eine Bellsche Ungleichung verletzen zu können, muss mindestens eines der Mess-
ergebnisse Wirkung beider Messeinstellungen sein, d. h. es muss mindestens eine
der Messeinstellungen auf das entfernte Ergebnis wirken. Dies kann entweder direkt
geschehen (wie in Abb. 4.6b), oder indirekt über die verborgene Variable λ (wie in
Abb. 4.6c), aber nicht indirekt über das lokale Messergebnis (wie in Abb. 4.6a).
Schließlich folgt aus dem Gesagten: Da die Quantenmechanik Bellsche Un-
gleichungen verletzt, kann sie gar nicht, wie oft behauptet wurde, die Struktur in
Abb. 4.6a haben. Tatsächlich zeigt eine Analyse des quantenmechanischen Forma-
lismus, dass sie eine Variante der indirekten Struktur aus Abb. 4.6c besitzt (für die
exakte Struktur s. u. Abb. 4.8c).
Bisher hatten wir argumentiert, dass die Verletzung der Bellschen Ungleichung ei-
ne Nicht-Lokalität in dem allgemeinen Sinne erfordert, dass es mindestens einen
kausalen Prozess zwischen den raumartig getrennten Flügeln geben muss. Wir
hatten kausale Prozesse in den Diagrammen repräsentiert durch Pfeile und insbeson-
dere wurden nicht-lokale Prozesse repräsentiert durch Pfeile zwischen Variablen,
die raumartig zueinander gelegene Zuständen beschreiben. Wir wollen nun noch
etwas genauer betrachten, wofür die Pfeile stehen und welche Varianten es im
Verständnis der Nicht-Lokalität gibt.
Kausale Graphen sind eine vereinfachende Repräsentation der tatsächlichen
Vorgänge. Jeder Pfeil steht für einen kausalen Prozess, aber der Graph sagt uns
nichts weiter darüber. Tatsächlich ist ein kausaler Prozess von A nach B i. A. eine
Abfolge von Zuständen, die in kausalen Relationen stehen (A → C1 → C2 →
. . . → Cn → B), und der Graph repräsentiert die mittleren Zustände Ci nur im-
plizit durch den Pfeil zwischen A und B. Beispielsweise ist in einer Kette von 100
Dominosteinen das Umfallen des ersten Steines (A) eine Ursache für das Umfallen
des letzten Steines (B) und kann als A → B im Diagramm repräsentiert werden.
Aber natürlich kann man den kausalen Prozess zwischen A und B durch das Um-
fallen der dazwischenliegenden Steine noch genauer beschreiben. Das Auslassen
von Zwischenzuständen in kausalen Prozessen ist zulässig, weil die Schlüsse, die
man aus dem Graphen auf die Statistik zieht, auch unter solchen Auslassungen kor-
rekt bleiben;28 und dies ist wichtig, weil die Komplexität realer Prozessen es oft
schwierig macht, die Prozesse im Detail zu kennen oder unverkürzt darzustellen.
Im Falle der nicht-lokalen Pfeile in kausalen Graphen lohnt es sich, genauer hin-
zusehen, wie die zugrundeliegenden kausalen Prozesse realisiert sein könnten. Dazu
28 Man darf nur keinen Zustand auslassen, der eine gemeinsame Ursache ist („causal sufficiency“).
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 159
müssen wir etwas weiter ausholen und einige Begriffe einführen. Wir hatten oben
definiert, dass eine lokale Weltsicht erfordert, dass alle kausalen Prozesse langsamer
als oder gleich schnell wie Licht ablaufen (Prinzip der globalen Einstein-Lokalität).
Dieses Prinzip ist grundlegend für eine lokale Weltsicht, wie sie in der Relativitäts-
theorie und den relativistischen Feldtheorien zum Ausdruck kommt. Einstein (1948)
zeigt, dass das Prinzip genau dann erfüllt ist, wenn die – gleich genauer explizier-
ten – Bedingungen (kausale) Lokalität und Separabilität gelten. Die Idee ist hier,
dass beide Bestandteile kausaler Prozesse – Zustände und die zwischen ihnen be-
stehende kausale Relationen – lokal sein müssen; nur wenn dies der Fall ist, gilt
globale Einstein-Lokalität. Sehen wir uns dies etwas näher an.
Mit der Bedingung der (kausalen) Lokalität ist folgendes gemeint:
Der Unterschied zur früher definierten globalen Einstein-Lokalität ist nicht ganz
einfach zu sehen. Er wird markiert durch das Wort „fundamental“: A und B stehen
in einer fundamentalen kausalen Relation, wenn es zwischen A und B keine Kette
von weiteren Zustände gibt, die den kausalen Einfluss von A nach B transmittieren,
d. h. wenn A unmittelbar auf B wirkt.29 Das Prinzip der kausalen Einstein-Lokalität
garantiert also, dass die grundlegende Dynamik physikalischer Systeme lokal ist –
während globale Einstein-Lokalität garantiert, dass physikalische Prozesse als
Ganzes lokal sind. Terminologisch ist es etwas unglücklich, dass sich der Begriff
„Lokalität“ sowohl für die Beschränkung fundamentaler kausaler Relationen als
auch für die Beschränkung kausaler Prozesse als Ganzes durchgesetzt hat. Des-
halb qualifizieren wir diese verschiedenen Lokalitäts-Aussagen durchgehend mit
den Zusätzen „kausal“ bzw. „global“. Der Leser sei darauf hingewiesen, dass dies
nicht in allen Texten der Debatte der Fall ist: „Lokalität“ bzw. „Einstein-Lokalität“
kann manchmal für die eine, manchmal für die andere Bedingung stehen.
Einstein macht deutlich, dass kausale Einstein-Lokalität nicht genügt, damit
eine Welt als lokal gelten kann. Man muss auch fordern, dass die Zustände in
folgendem Sinne lokalisiert sind (vgl. Howard 1989):
29 „Fundamental“ soll hier nicht heißen, dass die kausalen Relationen nicht durch nicht-kausale
Begriffe analysiert werden könnten.
160 P.M. Näger und M. Stöckler
Da dies für jedes Paar von Raumzeit-Regionen gelten soll, bedeutet das Prin-
zip letztlich, dass jeder Raumzeit-Punkt seinen eigenen Zustand mit intrinsischen
Eigenschaften (im Gegensatz zu relationalen Eigenschaften) hat und dass die
Zustände ausgedehnter Raumzeit-Regionen durch die ihrer punktförmigen Bestand-
teile und den raumzeitlichen Relationen dazwischen festgelegt sind. Man sagt auch,
dass der Zustand ausgedehnter Raumzeit-Regionen über denen der Punkte und Rela-
tionen „superveniert“ (was ungefähr heißt, dass letztere Zustände erstere festlegen,
aber nicht umgekehrt).30 Dieses Prinzip ist in der klassischen Feldtheorie verwirk-
licht, gemäß der z. B. das elektrische und das magnetische Feld an jedem Punkt
einen definierten Wert haben und das Gesamtfeld durch die Werte an den ein-
zelnen Punkten festgelegt ist. Einstein misst dem Prinzip eine tiefe methodische
Bedeutung zu:
Ohne die Annahme einer solchen Unabhängigkeit der Existenz (des „So-Seins“) der räum-
lich distanten Dinge voneinander, die zunächst dem Alltags-Denken entstammt, wäre
physikalisches Denken in dem uns geläufigen Sinne nicht möglich. Man sieht ohne solche
saubere Sonderung auch nicht, wie physikalische Gesetze formuliert und geprüft werden
könnten. (Einstein 1948, S. 321)
Auch aus philosophischer Sicht ist das Prinzip eine attraktive Forderung, weil seine
Gültigkeit implizieren würde, dass man ontologisch alle physikalischen Zustände
von ausgedehnten Regionen auf die intrinsischen Eigenschaften an den Raumzeit-
Punkten reduzieren kann. Dies würde bedeuten, dass man ontologisch besonders
sparsam sein kann – was generell als attraktive Eigenschaft betrachtet wird. David
Lewis hat ein ähnliches Prinzip unter dem Label „Humesche Supervenienz“ in die
philosophische Literatur eingeführt:31
30 Der recht technische Begriff der Supervenienz hat seinen Ursprung in der Philosophie des Geis-
tes und in der Metaethik. Cleland (1984) hat eine Variante des ursprünglichen Begriffs in die
Debatte um Raum und Zeit eingeführt, und es ist diese Variante, die in der Debatte um verschränk-
te Quantensysteme angewandt wird (vgl. z. B. French 1989; Esfeld 2004). Die Definition lautet:
Eine dyadische Relation R ist supervenient über einer determinablen, nicht-relationalen Eigen-
schaft P genau dann, wenn (i) jedes der Relata von R die Eigenschaft P auf determinierte Weise
instanziiert und (ii) die Instanziierungen der Eigenschaft P die Relation R festlegen. Ein einfaches
Beispiel: Die Massiver-als-Relation superveniert über den Massen physikalischer Objekte.
31 Obwohl ähnlich, decken sich die beiden Prinzipien nicht. Humesche Supervenienz ist einerseits
stärker als das Prinzip der Nicht-Separabilität, weil sie fordert, dass alles über den Zuständen
von Raumzeit-Punkten superveniert, also nicht nur die Zustände von ausgedehnten Raumzeit-
Regionen, sondern auch Entitäten, die nicht unbedingt in Raum und Zeit verortet sein müssen, wie
z. B. mentale Zustände oder Zahlen. Humesche Supervenienz ist andererseits aber auch schwächer
als Nicht-Separabilität, weil sie im Gegensatz zu letzterem nicht fordert, dass die Supervenienz
lokal ist. Die Frage, ob z. B. ein Ereignis in Region A ein anderes Ereignis in Region B verursacht,
wird bei Lewis nicht durch den Zustand der betreffenden Raumzeit-Regionen festgelegt, sondern
durch die gesamten Raumzeiten aller möglichen Welten.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 161
of spatio-temporal distance between points. Maybe points of spacetime itself, maybe point-
sized bits of matter or aether or fields, maybe both. And at those points we have local
qualities: perfect natural intrinsic properties which need nothing bigger than a point at which
to be instantiated. For short: we have an arrangement of qualities. And that is all. There is
no difference without difference in the arrangement of qualities. All else supervenes on that.
(Lewis 1986, S. ix–x)
a b a b
a b
nehmen die meisten Autoren in der Debatte an, dass es sich um eine Nicht-
Separabilität handelt, und meinen oft auch, dieses aus dem Bell-Argument ableiten
zu können. Es ist jedoch schwierig, dieses Ergebnis in einer überzeugenden Weise
aus dem Resultat des Bell-Arguments zu begründen. Das Bell-Argument ist, wie
wir gezeigt haben, ein Argument darüber, welche Variablen von welchen abhängen,
letztlich also ein kausales Argument. Dass es eine Abhängigkeit zwischen raumartig
getrennt Variablen geben muss, sagt uns aber nichts darüber, ob diese Abhängigkeit
nun durch eine Verletzung der Lokalität oder durch eine Verletzung der Separabilität
zustande kommt. Im Bell-Argument selbst kann man demnach keine Begründung
für diese Sicht finden.
Manche Autoren haben versucht zu argumentieren, dass es sich um eine Nicht-
Separabilität handeln muss, weil es eine empirische Tatsache ist, dass man mit der
Verbindung keine Signale senden kann. Dies ist aber ein Missverständnis, denn die
Frage, ob man Signale senden kann oder nicht, hängt (wie wir in Abschn. 4.4.3 ar-
gumentiert haben) daran, ob die (kausalen) Parameter feinabgestimmt sind; sie hat
hingegen nichts mit der vorliegenden Frage zu tun, welcher Art die nicht-lokalen
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 163
Relationen auf diesen Pfaden sind. Zum Beispiel kann man mit der nicht-separablen
kausalen Struktur in Abb. 4.8b ebenso gut Signale senden, wenn keine Feinabstim-
mung der kausalen Parameter vorliegt, wie mit der entsprechenden nicht-lokalen
Struktur in Abb. 4.8c. Insbesondere erweist sich auch eine Überlegung als zweifel-
haft, die oft im Hintergrund solcher Argumente steht, nämlich dass eine Erklärung
der EPR/B Korrelationen, die eine Nicht-Separabilität (und keine kausale Nicht-
Lokalität) beinhaltet, eine nicht-kausale Erklärung darstellt. Die Frage, ob eine
kausale Nicht-Lokalität oder eine Separabilität vorliegt, betrifft nur die raum-
zeitliche Realisierung der betrachteten Prozesse; ob ein solcher Prozess kausal
ist, ist völlig unabhängig von dieser Frage. Vielmehr ist es so, dass ein nicht-
separabler Zustand, der als Variable Teil eines ansonsten kausalen Prozesses ist,
nichts an der Tatsache ändert, dass es sich auch insgesamt um einen kausalen Pro-
zess handelt (allerdings einen kausalen Prozess mit ungewöhnlichen raumzeitlichen
Eigenschaften).
Auf abstrakter Ebene scheint schließlich nur ein Argument zu bleiben, das
für eine Nicht-Separabilität spricht, nämlich der genannte Konfliktpunkt 3 mit
der Relativitätstheorie, dass eine nicht-lokale kausale Verbindung in manchen
Bezugssystemen vorwärts, in manchen aber rückwärts in der Zeit laufen würde.
Dieser Konflikt mit der Asymmetrie der Kausalität scheint nahezulegen, dass die
nicht-lokale Relation eine symmetrische und damit keine kausale sein sollte. Ei-
ne Nicht-Separabilität hingegen kann eine perfekt symmetrische Relation sein und
umgeht diesen Konfliktpunkt.
Dieses einleuchtende, aber nicht ganz schlagende Argument bekommt schließ-
lich Unterstützung aus einem anderen Gedankengang, der sich auf die Quantentheo-
rie beruft. Hiermit verlassen wir die Ebene von Bells theorieunabhängigem, abstrak-
tem Beweis und beziehen uns explizit auf eine Theorie. Tatsächlich scheint es so zu
sein, dass manche der Autoren, die behauptet haben, eine Nicht-Separabilität aus
Bells Argument abzuleiten, immer schon die Quantentheorie im Blick gehabt haben
und sich bei den Folgerungen aus den abstrakten Tatsachen des Bell-Arguments
davon haben leiten lassen.
Gemäß der Quantentheorie erstreckt sich der verschränkte Quantenzustand aus
Gl. (4.8) zwischen den Flügeln des Experiments (und bis ins Unendliche). Man
kann dies daran sehen kann, dass der Zustand durch Messungen sowohl an einem
als auch am anderen Flügel verändert werden kann (er kollabiert dann auf einen
der Terme in der Superposition), d. h. der Quantenzustand als ganzer kann von
jedem Punkt seiner Ausdehnung lokal beeinflusst werden. Wenn wir die Raumzeit-
Region um die linke Messung mit „A“ bezeichnen und die Raumzeit-Region um
die rechte Messung mit „B“, dann verletzt die Quantentheorie klarerweise die erste
Bedingung des Separabilitätsprinzips: Es ist nicht der Fall, dass A und B eigene, ge-
trennte Zustände haben, weil es einen Zustand gibt, nämlich den des verschränkten
Photonenpaares, der sich über beide Regionen erstreckt. (Eine Verletzung der ersten
Bedingung zieht übrigens aus logischen Gründen auch eine Verletzung der zweiten
Bedingung nach sich: Wenn die Regionen keine getrennten, unabhängigen Zustän-
de haben, kann man auch nicht davon sprechen, dass der Gesamtzustand auf den
getrennten Zuständen superveniert.) Kurz gesagt: Nicht-lokale Zustände verletzen
164 P.M. Näger und M. Stöckler
4.4.6 Holismus
Diese Definition von Partikularismus ist ganz analog zu der Definition von Sepa-
rabilität, nur dass die Dinge, um die es geht, hier nicht Raumzeit-Regionen, sondern
physikalische Systeme sind. Insofern könnte man statt „Partikularismus“ auch
„System-Separabilität“ (im Unterscheid zu raumzeitlicher Separabilität) sagen. Die
beiden Begriffe unterscheiden sich insofern, als sich verschiedene Systeme nicht
in verschiedenen Raumzeit-Regionen aufhalten müssen. Partikularismus läuft dar-
auf hinaus, dass die Welt aus Individuen mit intrinsischen Eigenschaften besteht
und alle Relationen zwischen Individuen (außer den raumzeitlichen) auf diesen in-
trinsischen Eigenschaften supervenieren. Insbesondere besagt Partikularismus auch,
dass Individuen in ihren Eigenschaften nicht voneinander und (sofern sie Teile eines
Systems sind) auch nicht von ihrem Gesamtsystem abhängen.
Holismus wäre dann die Verletzung einer dieser Bedingungen, die Partikula-
rismus ausmachen, und gemäß der Quantentheorie sind sogar beide Bedingungen
verletzt. Man sieht dies am besten, wenn man sich einen der verschränkten Zustän-
de vor Augen führt, z. B. den Singulett-Zustand (4.2), den wir hier noch einmal
notieren:
1
|ψ – = √ |↑z 1 |↓z 2 – |↓z 1 |↑z 2 . (4.27)
2
Gemäß diesem Zustand hat keines der Objekte einen eigenen, intrinsischen Spin-
Zustand. Vielmehr ist es allein der verschränkte Zustand des Gesamtsystems, der
das zu erwartende Verhalten unter Spin-Messungen beschreibt.
Man kann solche verschränkten Zustände ontologisch auf zwei verschiedene
Weisen interpretieren. Eine erste Möglichkeit ist anzunehmen, dass es die Teil-
systeme gar nicht gibt, wenn der verschränkte Zustand besteht. Ein verschränkter
Zustand wäre dann ein Ganzes ohne Teile, das die Disposition besitzt, bei einer
Messung in mehrere Systeme zu zerfallen. Diese Dispositionen werden durch den
spezifischen Aufbau aus Zustandsvektoren für Untersysteme angegeben, aber dieser
Aufbau aus Teilsystemen dürfte nach diesem Vorschlag nicht als eine Aussage über
die momentan realisierten Eigenschaften des Systems verstanden werden, sondern
müsste als Beschreibung potentieller Eigenschaften angesehen werden, die dann
manifestiert werden, wenn bestimmte Bedingungen eintreffen.
Die Standardsicht hingegen ist es, zweitens, diesen Aufbau aus Untersystemen
auch ontologisch ernst zu nehmen, also anzunehmen, dass das verschränkte System
tatsächlich Teile hat. Da diese Teilsysteme gemäß der Zustandsbeschreibung in
(4.27) keinen eigenen Spinzustand haben, impliziert dies die bemerkenswerte Si-
tuation, dass das Gesamtsystem einen wohldefinierten Zustand hat, die Teilsysteme
aber nicht. Die Einzelsysteme sind nur über den Zustand des Gesamtsystems be-
schrieben, und in diesem Sinne gibt es eine ontologische Abhängigkeit der Teile
166 P.M. Näger und M. Stöckler
vom Ganzen. Dies ist eine klare Verletzung der ersten Bedingung des Partikularis-
mus und macht die Besonderheit des Quantenholismus in der Standardinterpretation
aus (Esfeld 2004).
Des Weiteren impliziert eine Verletzung der ersten natürlich auch eine Ver-
letzung der zweiten Bedingung des Partikularismus: Wo es keine unabhängigen
Zustände der Einzelsysteme gibt, kann auch der Zustand des Gesamtsystems nicht
über ihnen supervenieren. Viele Autoren fassen den verschränkten Zustand als Re-
lation zwischen den Teilsystemen auf. Teller (1986, 1989) spricht in diesem Sinne
von einem „relationalen Holismus“, Esfeld (2004) von einer „Metaphysik der Rela-
tionen“. Andere betrachten den Zustand hingegen als intrinsische Eigenschaft des
Gesamtsystems (Healey 1991). So oder so handelt es sich klarerweise um eine nicht-
superveniente Eigenschaft. In der Quantenwelt haben Systeme auf höherer Ebene
Eigenschaften, die nicht aus ihren Teilsystemen abgeleitet werden können, d. h. ei-
ne Reduktion des Gesamtsystems auf seine Teile zu einem gegebenen Zeitpunkt
(synchrone Mikroreduktion) gelingt i. A. nicht (Hüttemann 2005).
Da Verschränkung ein allgegenwärtiges Phänomen in der Quantenwelt ist, muss
man davon ausgehen, dass unsere Welt auf fundamentaler Ebene durch und durch
holistisch strukturiert ist. Das alte, lange Zeit sehr erfolgreiche Bild der Welt als
aufgebaut aus kleinen Teilchen, die unabhängig voneinander existieren und nur
dadurch zusammenhängen, dass sie miteinander wechselwirken, ist mit hoher Wahr-
scheinlichkeit nicht richtig. In der Quantenwelt sind die Objekte zu einem Ganzen
verwoben, das sich nicht auf seine Bestandteile reduzieren lässt. Es ist wichtig
zu betonen, dass der Holismus der Quantenwelt keine Irgendwie-hängt-alles-mit-
allem-zusammen-Behauptung ist, sondern – wie gezeigt – begrifflich gut zu fassen
ist und klaren mathematischen Regeln folgt. Aus dieser neuen Sicht bleibt es ei-
ne große Frage, warum wir den Eindruck haben, dass die mesoskopischen Objekte
unserer Sinneserfahrung so relativ unabhängig voneinander existieren.
Bis hierher hatte sich alles schön ergeben. Wir konnten zeigen, dass drei von
vier Konfliktpunkten mit der Relativitätstheorie vermieden werden können, wenn
man annimmt, dass (1.) die Nicht-Lokalität keinen Materie- oder Energietransport
beinhaltet, (2.) mit ihr keine Signale schneller als Licht gesendet werden können,
weil die kausalen Parameter entsprechend feinabgestimmt sind, und (3.) die Nicht-
Lokalität durch eine symmetrische Nicht-Separabilität (statt einer asymmetrischen
Kausalrelation) realisiert ist. Außerdem wird eine solche Nicht-Separabilität durch
die Quantentheorie (in einer realistischen Interpretation wie z. B. der GRW-Theorie)
nahegelegt.
Nun müssen wir uns aber dem vierten Konfliktpunkt mit der Relativitätstheorie
zuwenden, bei dem es darum geht, dass eine Nicht-Lokalität einerseits die Tendenz
hat, das Bezugssystem auszuzeichnen, in dem sie simultan ist, andererseits das Re-
lativitätsprinzip fordert, dass alle Bezugssysteme gleichwertig sein müssen. Für die
Entstehung des Konflikts ist es gleichgültig, ob es sich um eine nicht-lokale kausale
Relation oder um eine Nicht-Separabilität handelt; er besteht für beide Arten von
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 167
Nicht-Lokalität. Der Konflikt ist die größte Herausforderung für den Vertreter ei-
ner Nicht-Lokalität. Bis heute existiert keine allgemein akzeptierte Lösung, und es
ist nicht klar, ob der Konflikt auf eine überzeugende Weise gelöst werden kann.
Wir werden sehen, dass er so tief ist, dass ernsthaft vorgeschlagen wurde, das
Relativitätsprinzip auf fundamentaler Ebene wieder aufzugeben.
Bevor wir diesen Sachverhalt näher erläutern, müssen wir zwei Dinge erwäh-
nen. Erstens besteht ein Konflikt bereits zwischen einer Nicht-Lokalität und der
speziellen Relativitätstheorie, so dass wir uns im Folgenden auf diese konzentrieren
können (und die allgemeine Relativitätstheorie beiseite lassen).32 Zweitens liegt der
Spannung zwischen Nicht-Lokalität und (speziellem) Relativitätsprinzip ein tieferer
Konflikt zugrunde: Eine Nicht-Lokalität verletzt die fundamentale Symmetrie der
speziellen Relativitätstheorie, die Lorentz-Invarianz der Gesetze. Lorentz-Invarianz
ist eine stärkere Forderung als das Relativitätsprinzip, und Lorentz-Invarianz ist
auch die eigentliche Forderung der (speziellen) Relativitätstheorie, ihr Kern. (Denn
eine Theorie ist dann voll relativistisch, wenn die Gesetze, die sie involviert,
Lorentz-invariant sind.) Nun ist Lorentz-Invarianz aber eine sehr mathematische
Forderung, und wir können auf solche technischen Fragen hier nicht eingehen.
Glücklicherweise kann die zentrale Idee des Konflikts auch mit der schwächeren
(und nur notwendigen, nicht hinreichenden) Forderung des Relativitätsprinzips ver-
anschaulicht werden. Hin und wieder, wo dies nötig ist, werden wir allerdings auf
die stärkere Forderung der Lorentz-Invarianz verweisen.
Kehren wir zurück zum Konflikt zwischen Nicht-Lokalität und Relativitätsprin-
zip. Die Tatsache, dass eine Nicht-Lokalität ein Bezugssystem auszeichnet, kann
man an Raumzeit-Diagrammen veranschaulichen. Nehmen wir zur Illustration an,
die quantenmechanische Beschreibung wäre richtig und die Nicht-Lokalität bestün-
de in einem raumzeitlich nicht-separablen Quantenzustand λ. In Abb. 4.9 bilden
wir drei (von unendlich vielen) Möglichkeiten ab , wie ein solcher nicht-separabler
Zustand in der Raumzeit liegen kann. Der Zustand ist nicht-lokal ausgedehnt, und
man sagt, dass er entlang einer raumartigen Hyperebene liegt („raumartig“, weil
alle Punkte auf der Ebene raumartig zueinander liegen, und „Hyper-“, weil es sich
um eine Ebene in einem 4-dimensionalen Raum handelt). Zu jedem nicht-lokalen
Zustand λ gibt es jeweils genau ein Bezugssystem, dessen Simultaneitätsebenen33
parallel zu λ liegen, d. h. in diesem Bezugssystem breiten sich Veränderungen
am nicht-lokalen Zustand instantan aus. Es ist dieses System, das der betreffen-
de Zustand auszeichnet. Eine solche Auszeichnung nun widerspricht einem der
beiden Axiome der Relativitätstheorie, dem Relativitätsprinzip, das besagt, dass alle
32 Während in der allgemeinen Relativitätstheorie alle Bezugssysteme als gleichwertig gelten, ist
dies in der speziellen Relativitätstheorie nur für inertiale, d. h. nicht beschleunigte, Bezugssysteme
der Fall (spezielles Relativitätsprinzip).
33 Eine Simultaneitätsebene eines Bezugssystems durch einen Punkt P ist die Menge aller
a b
x
(a) λ simultan im Laborsystem S
a b
t t’
x’
x
(b) λ simultan im Bezugssystem S′ (das sich relativ zu S in
x-Richtung bewegt)
a b
t”t
x
x”
(c) λ simultan im Bezugssystem S″ (das sich relativ zu S
entgegen x-Richtung bewegt)
stattfinden, dass wir meinen, kontinuierliche Objekte zu sehen. Die zeitliche Auf-
lösung unserer Wahrnehmung ist einfach zu gering. Wenn man bereit ist, diesen
ontologischen Preis zu zahlen, ist man auf einer nicht ganz aussichtslosen Spur.
Viele Autoren halten aber auch diesen Preis für zu hoch.
Wenn man die kontraintuitiven Ontologien, die aus Hyperebenen-Abhängigkeit
oder der GRW-Flash-Theorie folgen, nicht in Kauf nehmen möchte, dann bleibt
einem aus heutiger Sicht nur die Möglichkeit, die Maudlin sogar als den vielleicht
plausibelsten Ausweg beschreibt, nämlich anzunehmen, dass es tatsächlich doch ein
bevorzugtes Bezugssystem in der Struktur der Raumzeit gibt. Dies würde bedeu-
ten anzunehmen, dass es zusätzlich zur relativistischen Struktur der Raumzeit eben
noch die Struktur einer ausgezeichneten Foliation gibt, die globale Simultaneitäts-
ebenen festlegt. Dieser Vorschlag müsste übrigens nicht bedeuten, relativistische
Effekte durch einen Lorentzschen Ätherwind oder dergleichen zu erklären. Die
relativistischen Effekte könnten wie üblich erklärt werden. Es wäre lediglich der
Fall, dass die Raumzeit zusätzliche Struktur beinhalten würde, die es den Quanten-
systemen ermöglicht, mit einer nicht zu extravaganten Ontologie die empirischen
Resultate in EPR/B-Experimenten zu erzeugen, wie wir sie messen. Nachteil
dieses Vorschlags wäre, dass die elegante relativistische Symmetrie und Struktur
durch die Zusatzstruktur gebrochen würde. Außerdem ist die Annahme einer Zu-
satzstruktur eine durchaus starke Annahme. Sie hätte auch den Charakter einer
Ad-hoc-Annahme, wenn sie nicht zur Lösung weiterer Probleme beiträgt.
Letztlich bleibt festzuhalten, dass alle drei Vorschläge – Hyperebenen-Ab-
hängigkeit, GRW-Flash und bevorzugtes Bezugssystem – große Kosten bedingen.
Gegeben, dass es nicht die eindeutig plausibelste Lösung gibt, ist es wohl vertretbar,
für jede der drei Positionen zu argumentieren. Es ist jedoch auch nicht verwun-
derlich, dass keine der drei Lösungen bisher allgemein akzeptiert ist. Nur eines
ist sicher: Die Diskussion um die Vereinbarkeit zwischen Relativitätstheorie und
Quanten-Nicht-Lokalität wird weitergehen.
Da keine der Lösungen für die Kompatibilität der Relativitätstheorie mit einer
Nicht-Lokalität allgemein akzeptiert ist, haben manche Autoren einen ganz anderen
Weg eingeschlagen: Sie plädieren dafür, dass statt der Lokalitätsannahme eine der
anderen Annahmen, die man zur Herleitung von Bells Theorem braucht und die wir
Hintergrundannahmen genannt hatten, verletzt ist. Hierbei wurde fast jede denk-
bare Position vertreten, was die Debatte komplex und unübersichtlich macht. Im
Folgenden wollen wir kurz anreißen, was es heißen würde, die jeweilige Annahme
aufzugeben, ob die Aufgabe eine Verletzung der Bellschen Ungleichung erklären
kann und ob die Aufgabe plausibel ist.
172 P.M. Näger und M. Stöckler
Zerfallendes Molekül: Sei S der Zustand des Moleküls vor dem Zerfall, und
das Molekül zerfalle mit gleicher Wahrscheinlichkeit
1
P( p, –p|S ) = = P( p , –p |S ) (4.28)
2
entlang einer von zwei Richtungen, wobei p, –p bzw. p , –p die Zustände (hier:
Impulse) der Teile nach dem Zerfall sind. D. h. die Zustände der Teile nach
dem Zerfall sind perfekt anti-korreliert, aber der Zustand des Moleküls schirmt
die Korrelation nicht ab:
1 1 1 1
P( p, –p|S ) = =/ P( p|S ) · P( – p|S ) = · = . (4.29)
2 2 2 4
S ist also eine interaktive gemeinsame Ursache.
Verschränkter Quantenzustand: Ähnlich zum zerfallenden Molekül sind
verschränkte Quantenzustände interaktive Ursachen ihrer Messergebnisse.
Zum Beispiel zerfällt der verschränkte Zustand |φ + aus Gl. (4.8) bei Messung
entlang gleicher Messrichtungen z mit der Wahrscheinlichkeit 12 entweder in
den Zustand |+z 1 |+z 2 oder in den Zustand |–z 1 |–z 2 . Dann gilt eine zu (4.29)
strukturell gleiche Formel (man ersetze p durch |+z 1 , –p durch |+z 2 , p durch
|–z 1 , –p durch |–z 2 und S durch |φ + ).
a b
174 P.M. Näger und M. Stöckler
Die Antwort ist nein. Interaktive gemeinsame Ursachen allein können Bellsche
Ungleichungen nicht verletzen. Man kann zeigen, dass die Korrelationen, die eine
interaktive gemeinsame Ursache liefert, nur von der gleichen Stärke sind wie zwei
gemeinsame Ursachen, die zusammen abschirmen (Näger 2013). Da in letzteren
Situationen aber Bellsche Ungleichungen impliziert werden, reicht eine Verletzung
der kausalen Markov-Bedingung durch interaktive gemeinsame Ursachen also nicht
aus, um die EPR/B-Korrelationen zu erklären.
Die Quantenmechanik z. B. verletzt die kausale Markov-Bedingung in dem an-
gegebenen Sinne und verletzt außerdem noch die Lokalitätsannahme. Wir hatten
gesehen, dass die quantenmechanische Struktur die in Abb. 4.8c gezeigte ist (und
also nicht die in Abb. 4.10). Gemäß der Quantenmechanik schirmt der nicht-lokale
Quantenzustand λ vor dem Kollaps die Korrelationen nicht ab, und korrekterweise
sollte man dies im Diagramm auch kennzeichnen (z. B. durch einen Bogen, analog
zu dem in Abb. 4.10 gezeigten). Entscheidend dafür, dass die quantenmechanische
Struktur eine Bellsche Ungleichung verletzen kann, ist aber, dass die gemeinsame
Ursache λ von den Messeinstellungen beeinflusst wird, so dass es einen kausa-
len Pfad von mindestens einer der Messeinstellungen zum entfernten Messergebnis
gibt. Das ist für die Struktur in Abb. 4.10 nicht gegeben, und die Tatsache, dass die
gemeinsame Ursache nicht abschirmt, reicht dann für eine Verletzung nicht aus.
Wir sollten betonen, dass eine solche Verletzung der kausalen Markov-
Bedingung keinen Bruch mit dem impliziten methodischen Prinzip bedeuten muss,
dass alle Korrelationen verursacht sein müssen. Vielmehr kann man eine ver-
allgemeinerte Markov-Bedingung formulieren, die solchen interaktiven gemein-
samen Ursachen Rechnung trägt und das methodische Prinzip aufrecht erhält
Näger (im Erscheinen b). Insofern ist die hier diskutierte Verletzung der kausa-
len Markov-Bedingung nur eine Art schwache Verletzung. Sie bricht nicht mit dem
Grundgedanken des Prinzips.
Es sind aber auch stärkere Verletzungen denkbar, die darauf hinauslaufen, die
EPR/B-Korrelationen als kausal unerklärte Korrelationen zu akzeptieren. Während
Butterfield (1989) dies für eine mysteriöse aber unausweichliche Tatsache hält, ar-
gumentiert Fine (1989), dass unser Erklärungsideal, alle Korrelationen kausal zu
erklären, überholt sei. Man könne auch kausal unerklärte, basale Korrelationen ak-
zeptieren, und die EPR/B-Korrelationen seien ein guter Kandidat dafür. Vor dem
Hintergrund, dass die Erklärungsbedürftigkeit von Korrelationen zentrale metho-
dische Grundannahme aller empirischen Wissenschaften ist, wäre die Akzeptanz
kausal unerklärter Korrelationen eine ziemlich radikale Konsequenz. (Im Spiel der
Personen würde dies bedeuten, dass sich Korrelationen ergeben, die stärker sind als
man durch vorherige Absprache erreichen kann, aber dass man annimmt, das sei
nicht erklärungsbedürftig.) Es spricht daher vieles dafür, eine solche Schlussfolge-
rung nur als letzten Ausweg zu sehen, wenn alle anderen Lösungsvorschläge sich
als nicht tragbar erweisen.
4.5.2 Interventionsannahme
waren nur Ursachen, nie Wirkungen der anderen Variablen. Solche Variablen hei-
ßen „exogen“. Die Begründung für die Exogenität dieser Variablen ist, dass ihre
Werte durch externe Interventionen des Experimentators unabhängig voneinander
festgelegt werden. „Intervention“ ist hier ein Fachbegriff und heißt, dass es sich um
einen Eingriff handelt, der (i) eine direkte Ursache genau einer Variablen ist (und
keiner anderen), der (ii) den Wert dieser Variablen determiniert und der (iii) selbst
keine Wirkung einer der betrachteten Variablen ist (Spirtes et al. 1993, Abschn.
3.7.2; Pearl 2000, Abschn. 3.2).
Wenn die Eingriffe des Experimentators, der den Quantenzustand präpariert und
die Messeinstellungen festlegt, Interventionen sind, dann heißt das wegen (ii), dass
die Messeinstellungen und der Quantenzustand nicht direkte Wirkungen einer ande-
ren Variable sein können. Denn wenn der Experimentator z. B. die Messrichtung
festlegt, kann die Messrichtung nicht direkt durch andere Variablen des Experi-
ments beeinflusst werden; Festlegung verhindert direkte Beeinflussung durch andere
Faktoren. Die vom Experimentator kontrollierten Variablen könnten dann allen-
falls indirekt beeinflusst werden, nämlich indem eine Variable des Experiments die
Intervention des Experimentators beeinflusst – aber das ist durch (iii) ausgeschlos-
sen. Also müssen die kontrollierten Variablen exogen sein, wenn es sich bei den
Eingriffen des Experimentators um Interventionen handelt.
Aber handelt es sich wirklich um Interventionen? Folgendes Prinzip formuliert
die übliche Auffassung:
34 Man beachte, dass auch die Präparation des Quantenzustandes durch eine experimentelle
Apparatur kontrolliert wird, die, wenn sie korrekt aufgebaut ist, durch eine entsprechende
makroskopische Vorrichtung (z. B. einen Knopf oder Hebel) gestartet werden kann – und damit
in den Geltungsbereich der Interventionsannahme fällt.
176 P.M. Näger und M. Stöckler
Das grundlegende Modell ist das in Abb. 4.11 gezeigte (vgl. z. B. Suppes und
Zanotti 1981). Hierbei gibt es eine weitere verborgene Variable μ, die gemeinsame
Ursache der verborgenen Variable des Quantenzustandes λ und der Messeinstel-
lungen ist; indirekt (über λ) ist sie auch gemeinsame Ursache der Messergebnisse.
(Im Spiel der Personen würde dies bedeuten, dass z. B. der Versuchsleiter sowohl
den Versuchspersonen eine Strategie mitteilt als auch den Fragestellern die Fragen
vorgibt. Es ist klar, dass man durch eine geschickte Abstimmung von Strategie
und Fragen stärkere Korrelationen erzeugen kann, als wenn Fragen und Strategie
unabhängig voneinander gewählt werden.) Damit der Einfluss von μ auf die
Messeinstellungen lokal ist, muss μ in der gemeinsamen Vergangenheit der Mess-
einstellungen liegen, also zeitlich vor der Emission der Photonen an der Quelle. μ
kann dann keine Eigenschaft der Photonen sein, denn diese existieren zu diesem
Zeitpunkt noch nicht, sondern müsste wohl als verborgene Eigenschaft der Quelle
aufgefasst werden (oder gar als Eigenschaft eines anderen Objekts, falls die Quelle
zu diesem Zeitpunkt noch nicht existiert; im Extremfall ist μ eine Eigenschaft des
Urknalls). Es scheint seltsam anzunehmen, dass von der Quelle vor der Emission
(möglicherweise sogar vor der Präparation der Photonen) ein kausaler Prozess aus-
geht, der die entfernten Messeinstellungen beeinflussen wird, aber wir wollen diesen
Aspekt hier nicht weiter diskutieren. Entscheidender scheint die Frage zu sein, was
es heißen soll, dass μ die Messeinstellungen beeinflusst, gegeben dass der Experi-
mentator die Einstellung festlegt. Es kann nur heißen, dass der Experimentator von
den verborgenen Variablen beeinflusst wird, eine bestimmte Einstellung zu wäh-
len. In der stärksten Version dieses Modells, in dem die verborgene Variable die
Messeinstellungen determiniert („Superdeterminismus“), würden die Experimen-
tatoren keine (libertär) freien Entscheidungen treffen können, welche Einstellung
sie wählen.
Die meisten Autoren bewerten diese Lösung des Problems als überaus un-
plausibel. Zum einen ist es ad hoc und unwahrscheinlich, dass die Handlungen
von Experimentatoren durch verborgene Zustände beispielsweise einer Quelle von
Quantenobjekten wesentlich beeinflusst oder gar festgelegt werden. Der Vorschlag
klingt eher nach einer skurrilen Phantasiewelt denn nach einer seriösen, wissen-
schaftlich fundierten Erklärung. Tatsächlich wurde bemerkt, dass dieser Ansatz
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 177
4.5.3 Rückwärtsverursachung
Schließlich hatten wir bei der Ableitung von Bells Theorem noch eine weitere
implizite Annahme getroffen, nämlich dass kausale Relationen zwischen zeitartig
gelegenen Ereignissen immer vorwärts in der Zeit gerichtet sind („keine Rückwärts-
verursachung“). Nur mit dem Ausschluss von Rückwärtsverursachung und der
Lokalitätsannahme können wir sicher sein, dass keine der Variablen des einen Flü-
gels des Experiments eine Variable des anderen Flügels beeinflusst. Denn wenn
solche Einflüsse möglich wären, könnte man z. B. einen Einfluss von b auf α ha-
ben, der durch eine Variable μ in ihrer gemeinsamen Vergangenheit vermittelt
wird (siehe Abb. 4.12). Zur Ableitung von Bells Theorem mussten wir deshalb
annehmen:
a b
178 P.M. Näger und M. Stöckler
Wenn man erlaubt, dass es Rückwärtsverursachung gibt, kann man die gleichen
kausalen Strukturen generieren, wie wenn man die Lokalitätsannahme aufgibt, nur
dass die kausalen Pfade dann eine andere raumzeitliche Einbettung haben. Mit ande-
ren Worten: Jeder der oben beschriebenen nicht-lokalen kausalen Graphen kann
auch dadurch realisiert sein, dass jede der enthaltenen nicht-lokalen kausalen Rela-
tionen durch eine Wirkung zuerst rückwärts und dann vorwärts in der Zeit ersetzt
wird. Aus diesem Grund wurden solche Vorschläge auch „Zickzack-Kausalität“
genannt.
Im Prinzip kann man also jeden Einfluss zwischen den Flügeln über Rückwärts-
verursachung realisieren, aber natürlich sind nicht alle gleichermaßen plausibel. Die
Struktur in Abb. 4.13 gehört zu den typischen Vorschlägen, um die Korrelationen
durch Rückwärtsverursachung zu erklären. Hier beeinflusst die Messeinstellung die
verborgene Variable λ der Photonen an der Quelle. Damit es sich um Rückwärts-
verursachung handelt (und nicht um eine nicht-lokale Wirkung) kann der Einfluss
erst in dem Moment stattfinden, in dem das Photon das Messgerät erreicht. Price
(1994) hat ein solches Modell vorgeschlagen und entwickelt diesen Ansatz auch
in jüngster Zeit weiter (z. B. Price 2012). Cramer (1980, 1986) hat sogar eine de-
taillierte mathematische Beschreibung einer solchen Theorie entwickelt, gemäß der
das Messgerät bei Ankunft der quantenmechanischen Wellenfunktion eine Bestä-
tigungswelle zurück zur Quelle der eingetroffenen Welle sendet. Auf diese Weise
wird garantiert, dass die Quelle Objekte in einem solchen Zustand aussendet, dass
diese bei Messung die entsprechenden Korrelationen erzeugen. Im Spiel der beiden
Personen (siehe Abschn. 4.3.3) würde dies bedeuten, dass die Personen die Fra-
ge schon erfahren, solange sie noch im gemeinsamen Raum sind, so dass sie
ihre Strategie entsprechend darauf abstimmen können. Unter diesen Umständen
ist es natürlich ein Leichtes, die Korrelationen zu erzeugen. Modelle mit Rück-
wärtsverursachung können die EPR/B-Korrelationen erzeugen. Aber sind sie auch
überzeugend?
Ein großer Vorteil von Modellen mit Rückwärtsverursachung besteht darin,
dass sie nicht mit der Relativitätstheorie in Widerspruch geraten. Die Relativi-
tätstheorie scheint in einem gewissen Konflikt mit nicht-lokalen Relationen zu
stehen, aber nicht zu Wirkungen rückwärts in der Zeit. Unabhängig von ihrer Kom-
patibilität mit der Relativitätstheorie sind Wirkungen rückwärts in der Zeit aber
stark kritisiert worden. Manche Autoren behaupten, dass Kausalität rückwärts in
der Zeit eine begriffliche Unmöglichkeit ist (d. h. ein Widerspruch in sich). Da-
zu gehören zum einen Vertreter einer dynamischen Theorie der Zeit, gemäß denen
der Zustand der Welt jetzt den nächstfolgenden zukünftigen Zustand hervorbringt.
Solche Konzeptionen von Zeit sind inkompatibel mit Rückwärtsverursachung, weil
die Vergangenheit schon nicht mehr existiert, also nicht mehr beeinflusst werden
kann. Nur vor dem Hintergrund einer statischen Theorie der Zeit ist so etwas wie
Rückwärtsverursachung überhaupt denkbar. Kausale Erklärungen sind dann keine
metaphysischen Erklärungen, wie die Korrelationen in der Welt zustande kommen,
sondern epistemische Geschichten.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 179
Aber selbst gegeben eine statische Theorie der Zeit, gibt es ernsthafte Ein-
wände gegen Rückwärtsverursachung. Beispielsweise müssen auch Vertreter einer
kausalen Theorie der Zeit – die annehmen, dass die Richtung der Zeit durch die
Richtung der Kausalität festgelegt ist – Rückwärtskausalität für eine begriffliche
Unmöglichkeit halten. Andere gestehen eine begriffliche Möglichkeit zu, behaupten
aber, dass Rückwärtskausalität in paradoxe kausale Schleifen (A bei t1 verursacht B
bei t2 verursacht Nicht-A bei t1 ) führt und deshalb nicht realisiert sein kann (Mellor
1981). T. Maudlin (2011, Kap. 7) z. B. argumentiert, dass Cramers Modell für die
EPR/B-Korrelationen in letzterem Sinne inkonsistent ist.
All diese Argumente schließen Erklärungen durch Rückwärtsverursachung un-
ter gewissen Umständen aber nicht aus. Wenn es Beschränkungen gibt, was was
beeinflussen kann, dann könnte es durchaus konsistente Theorien mit Rückwärts-
verursachung geben. Der entscheidende Punkt ist aber, dass wir keinerlei Hinweise
dafür haben, dass Rückwärtsverursachung vorliegen könnte. Zum einen liefern die
experimentellen Daten keinerlei Evidenz für Rückwärtsverursachung. Bei normaler
Verursachung gibt es i. d. R. Asymmetrien in der Statistik, die eine Richtung an-
geben, und Rückwärtsverursachung sollte dieselben Asymmetrien produzieren, nur
eben entgegengesetzt der gewöhnlichen Richtung. Doch weder in der Statistik von
EPR/B-Experimenten noch in irgendeiner anderen Statistik sind solche umgekehr-
ten Asymmetrien beobachtet worden. Ein Vertreter von Rückwärtsverursachung im
EPR/B-Fall könnte antworten, dass der Grund darin liegt, dass die behauptete Rück-
wärtsverursachung über die verborgene Variable λ läuft und deshalb auch nicht
die üblichen Spuren in der Statistik hinterlässt. Wie gesagt: möglich, aber nicht
besonders überzeugend.
Noch schwerwiegender für die meisten Autoren ist schließlich die Tatsache, dass
es auch keine theoretischen Hinweise auf Rückwärtsverursachung gibt. Alle be-
kannten Theorien, die die gemessenen Wahrscheinlichkeiten als objektiv betrachten,
also insbesondere die GRW-Theorie (siehe Abschn. 4.2) und die De-Broglie-Bohm-
Theorie, enthalten eine Nicht-Lokalität. So bleibt hauptsächlich der Eindruck
zurück, dass Rückwärtsverursachung als Antwort auf die Verletzung der Bellschen
Ungleichung sehr wahrscheinlich als eine Ad-hoc-Lösung einzustufen ist.
a b
180 P.M. Näger und M. Stöckler
4.6 Resümee
Übungsaufgaben zu Kap. 4
1. In der EPR-Arbeit ist eine Annahme von zentraler Bedeutung, die wir „Loka-
litätsannahme“ genannt haben: „Da . . . die beiden Systeme zum Zeitpunkt der
Messung nicht mehr miteinander in Wechselwirkung stehen, kann nicht wirk-
lich eine Änderung in dem zweiten System als Folge von irgendetwas auftreten,
das dem ersten System zugefügt werden mag.“ Wie verhält sich diese Annahme
zu den verschiedenen Begriffsdifferenzierungen, die in Abschn. 4.4.5 einge-
führt worden sind: Ist damit auch globale und kausale Einstein-Lokalität sowie
raumzeitliche Separabilität gefordert?
2. Angenommen für ein EPR/B-Experiment gelte eine lokale kausale Struktur mit
verborgenen Variablen λ (siehe Abb. 4.5). Überlegen Sie sich, warum dann aus
der Tatsache perfekter Korrelationen folgt, dass die Messungen deterministisch
ablaufen müssen.
3. Nennen Sie die minimale Menge von Annahmen, die man benötigt, um eine
Bellsche Ungleichung herzuleiten und skizzieren Sie, was diese besagen.
4. Wenden Sie die kausale Markov-Bedingung auf die lokale kausale Struktur in
Abb. 4.5 an und notieren Sie die resultierenden statistischen Unabhängigkeiten.
5. Umreißen Sie die vier Konfliktfelder einer Nicht-Lokalität mit der Relativitäts-
theorie.
182 P.M. Näger und M. Stöckler
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Nicht-Kollaps-Interpretationen der
Quantentheorie 5
Oliver Passon
Inhaltsverzeichnis
5.1 Die de Broglie-Bohm-Theorie .......................................................................... 188
5.2 Die Everett-Interpretation ................................................................................ 207
5.3 Zusammenhang zwischen den verschiedenen Interpretationen ................................. 225
Übungsaufgaben zu Kap. 5 ...................................................................................... 227
Literatur zu Kap. 5 ................................................................................................. 227
In Abschn. 2.3.1 wurde das Messproblem in der Form eines Trilemmas formuliert.
Demnach ist entweder (i) die Wellenfunktion keine vollständige Beschreibung, (ii)
die Zeitentwicklung nicht durchgängig unitär oder führen (iii) Messungen nicht zu
definiten Ergebnissen. Die in Abschn. 2.3.1 dargestellte GRW-Theorie wählt (ii) –
ergänzt die Schrödinger-Gleichung also um einen nichtlinearen Term, der einen
physikalischen Mechanismus für den „ tatsächlichen“ Kollaps der Wellenfunktion
modelliert. Auch die Kopenhagener Deutung leugnet die durchgängige Zeitent-
wicklung gemäß der Schrödinger-Gleichung; im Gegensatz zur GRW-Theorie wird
diesem Vorgang jedoch keine realistische Deutung gegeben.
In diesem Kapitel behandeln wir die prominentesten Vertreter der Strategien,
entweder die Vollständigkeit der Wellenfunktion zu leugnen (de Broglie-Bohm-
Theorie) oder die Eindeutigkeit der Messergebnisse in Frage zu stellen (Everett
bzw. Viele-Welten-Interpretation). In diesen Theorien unterliegt der Zustandsvektor
also durchgängig einer unitären Zeitentwicklung. Gemeinsam ist ihnen somit der
Verzicht auf den Kollaps der Wellenfunktion; lediglich der Anschein dieser nicht-
unitären Zustandsänderung muss von ihnen begründet werden. In der englischspra-
chigen Literatur hat sich deshalb die Bezeichnung no-collapse interpretations als
Oberbegriff für diese Deutungen eingebürgert.
O. Passon ()
Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften, Bergische Universität Wuppertal,
Wuppertal, Deutschland
e-mail: passon@uni-wuppertal.de
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 187
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_5
188 O. Passon
Today, pilot-wave theory is often characterised as simply adding particle trajectories to the
Schrödinger equation. An understanding of de Broglie’s thought from 1923 to 1927, and of
the role it played in Schrödinger’s work, shows the gross inaccuracy of this characterisation:
after all, it was actually Schrödinger who removed the trajectories from de Broglie’s theory.
(Bacciagaluppi und Valentini 2009, S. 78)
Eine Debatte um die Priorität bei der Entwicklung der Wellenmechanik kann und
soll an dieser Stelle jedoch nicht geführt werden. Wir zitieren diese provokante
Passage vor allem deshalb, weil sie die Grundidee der de Broglie-Bohm-Theorie
auf so simple und klare Weise ausdrückt. Es handelt sich um eine Theorie, die
die Unvollständigkeit der üblichen Quantenmechanik behauptet und zur Wellen-
funktion Teilchen im wörtlichen Sinne hinzufügt. Wie oben bereits angedeutet, hat
sich die Bezeichnung „verborgene Variablen“ für diese zusätzlichen Bestimmungs-
größen eingebürgert. Diese Bezeichnung ist allerdings irreführend, da auch ihre
1 Bohms Unkenntnis wird verständlich, wenn man weiß, dass de Broglie selbst seine Theorie nicht
weiter entwickelte und vielmehr Anhänger der „konventionellen“ Quantentheorie wurde. Erst unter
dem Eindruck der Veröffentlichung von 1952 belebte sich sein Interesse an diesen Fragen erneut.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 189
größten Kritiker nicht leugnen können, dass gerade Teilchen und ihre Orte direkt
beobachtbar (also in diesem Sinne gar nicht verborgen) sind. Stattdessen entzieht
sich ja gerade die Wellenfunktion einer direkten Beobachtung.2
Aus Gründen, die im Folgenden natürlich genauer erläutert werden müssen,
gelingt es auf diese Weise der de Broglie-Bohm-Theorie, den Messvorgang als
gewöhnliche Wechselwirkung zu beschreiben, die zu einem eindeutig definierten
Endzustand führt. Gleichzeitig handelt es sich um eine (im technischen Sinne)
deterministische Theorie – während gleichzeitig alle Vorhersagen der Quanten-
theorie reproduziert werden können. Allerdings macht diese Theorie keine von der
Quantentheorie abweichenden Vorhersagen, sodass experimentell zwischen diesen
beiden nicht unterschieden werden kann.3
In der Formulierung von 1952 handelt es sich um eine Erweiterung der nicht-
relativistischen Quantentheorie. Auf die Frage der relativistischen Verallgemei-
nerung werden wir in Abschn. 5.1.7 zu sprechen kommen. Die folgende Darstellung
der Theorie verwendet an verschiedenen Stellen den Vergleich mit der „Standard-
Interpretation“ oder „ üblichen Lehrbuchdarstellungen“ der Quantenmechanik.
Diese Begriffe sind natürlich nicht streng definiert, und der Leser kann hier an die
Kopenhagener Deutung oder eine Lehrbuchdarstellung denken, die die in diesem
Buch behandelten Probleme vernachlässigt.
Hier bezeichnet V das Potenzial, das das betreffende System charakterisiert (siehe
auch Gl. (1.39) in Abschn. 1.2.4; dort wird die Schrödinger-Gleichung allerdings
nur in einer Raumdimension eingeführt). Dabei wählen wir nicht zufällig die
Darstellung im Ortsraum, denn dieser ist, wie wir sehen werden, innerhalb der
de Broglie-Bohm-Theorie tatsächlich ausgezeichnet. In der Standard-Interpretation
stellt ψ jedoch die vollständige Beschreibung des Systems dar, und aus dem
Betragsquadrat |ψ|2 kann die Wahrscheinlichkeit dafür berechnet werden, ein Teil-
chen im Falle einer Messung in einem bestimmten Raumbereich anzutreffen. Von
2 Wir werden sehen, dass die Unkenntnis (und Kontrolle) über die exakten Anfangsbedingungen
eine wichtige Rolle in der DBB-Theorie spielt. Dieser Aspekt der zusätzlichen Variablen kann
tatsächlich als „verborgen“ aufgefasst werden. Zudem bedeutet der Begriff „verborgene Variablen“
wohl auch, dass sie in der Standard-Interpretation nicht auftreten.
3 Diese Aussage gilt unter der sog. Quantengleichgewichtshypothese (siehe 5.1.2) streng. Ohne
diese Annahme können sich unterschiedliche Vorhersagen ergeben (vgl. Cushing 1995; Valentini
2004).
190 O. Passon
einer Teilchenbahn, die zum Ort der Messung geführt hat, darf in der üblichen
Deutung jedoch nicht gesprochen werden.
In der de Broglie-Bohm-Theorie wird der Begriff „ Teilchen“ nun so ernst
genommen, dass man ihm zu jedem Zeitpunkt (also auch ohne Messung) einen
definierten Ort zuordnet. Ein quantenmechanisches N-Teilchen- System wird al-
so nicht mehr durch die Wellenfunktion alleine beschrieben, sondern durch das
Paar aus Wellenfunktion und den Ortskoordinaten der Teilchen: (ψ, Q(t)) (mit
Q(t) = (Q1 (t), · · · , QN (t)), wobei Qi :t → R3 die Ortskurve des i-ten Teilchens
ist). Q(t) ∈ R3N bezeichnet man auch als Konfiguration des Systems, und der R3N
ist der sog. Konfigurationsraum.4
Für die Teilchenorte Q(t) muss nun eine Bewegungsgleichung angegeben
werden, das heißt eine (Differenzial-)Gleichung, die die zeitliche und räumliche
Entwicklung der Teilchenorte unter dem Einfluss der jeweiligen äußeren Bedin-
gungen beschreibt. Diese Vorschrift muss im Mittel die statistischen Vorhersagen
der Quantentheorie reproduzieren.
Zur Motivation dieser Bewegungsgleichung existieren verschiedene Vorschläge
(vgl. Passon 2010, S. 32–36). Im Folgenden werden wir die Analogie zwischen
Quantentheorie und Hydrodynamik ausnutzen, auf die Erwin Madelung bereits
1926 hingewiesen hat (vgl. Madelung 1926). Betrachten wir deshalb kurz eine Flü-
ssigkeit (oder ein Gas) mit der Massendichte ρm . Unter der Annahme, dass die
Masse eine Erhaltungsgröße ist, kann sich die Massendichte in einem Raumbe-
reich nur um den Betrag ändern, der aus diesem Bereich heraus oder hinein strömt.
Um das Strömen der Flüssigkeit zu beschreiben, definiert man den „Stromdichte-
vektor“ oder kurz die „Stromdichte“, als Produkt aus der Massendichte und der
Geschwindigkeit der Flüssigkeit: jm = ρm v. Die x-Komponente von jm gibt die
Flüssigkeitsmenge an, die pro Zeiteinheit durch eine Flächeneinheit (senkrecht zur
x-Achse) fließt – und entsprechend für y und z. Damit findet die Massenerhaltung
folgenden mathematischen Ausdruck:
∂ρm
= –∇ · j (5.2)
∂t m
räumliche Änderung
zeitliche Änderung
Hier bezeichnet das Symbol „∇“ die sog. Divergenz, d. h. die Summe der Rich-
tungsableitungen. Diese sog. Kontinuitätsgleichung der Hydrodynamik drückt – wie
erläutert – die Massenerhaltung aus.
Wir kehren nun zur Quantentheorie zurück, in der ebenfalls eine Kontinuitä-
tsgleichung gilt – diesmal jedoch für die „ Wahrscheinlichkeitsdichte“ ρ = |ψ|2 .
Diese Gleichung sieht formal identisch aus:5
4 Der Konfigurationsraum ist bereits in der konventionellen Quantentheorie von zentraler Bedeu-
tung, da die Wellenfunktion ebenfalls auf ihm definiert ist.
5 Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zur hydrodynamischen Kontinuitätsgleichung:
Während die Massendichte ρm auf dem Ortsraum definiert ist, ist die Wahrscheinlichkeitsdichte
ρ = |ψ|2 eine Funktion des Konfigurationsraumes. Eine naive Identifikation von |ψ|2 mit einer
Stoffdichte erscheint also nicht möglich.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 191
∂ρ
+∇ ·j=0 (5.3)
∂t
An dieser Stelle sollen natürlich weniger die mathematischen Details als die struktu-
rellen Zusammenhänge beleuchtet werden. Entscheidend ist, dass diese Gleichung
aus der Schrödinger-Gleichung abgeleitet werden kann und für die Wahrschein-
lichkeitsstromdichte der folgende (etwas unübersichtliche) Ausdruck gefunden
wird:
∗
j= ψ (∇ψ) – (∇ψ)ψ ∗ . (5.4)
2mi
In üblichen Lehrbuchdarstellungen der Quantentheorie wird die Kontinuitätsglei-
chung (5.3) als Ausdruck für die „Wahrscheinlichkeitserhaltung“ gedeutet. Wahr-
scheinlichkeit kann (wie die Masse innerhalb der Hydrodynamik) weder „erzeugt“
noch „vernichtet“ werden.
In der de Broglie-Bohm-Theorie geht man nun noch einen Schritt weiter, denn
man zielt schließlich auf eine Bewegungsgleichung für die „Bohmschen Teilchen“.
Man deutet den Ausdruck ρ in der Quantentheorie als Wahrscheinlichkeitsdichte der
tatsächlichen Teilchenkonfiguration und erinnert sich daran, dass in der Strömungs-
lehre der Zusammenhang j = ρv gilt. Setzt man für ρ und j die entsprechenden
quantentheoretischen Ausdrücke ein (sowie für die Wellenfunktion die „Polardar-
i
stellung“ ψ = Re S ), findet man nach einer einfachen Rechnung schließlich
die von uns gesuchte Bewegungsgleichung für die Teilchenorte Q(t) (für deren
Geschwindigkeit natürlich v = dQdt gilt):
j
v=
ρ
dQ ∇S
= (5.5)
dt m
Die Gl. 5.5 wird als guidance equation oder Führungsgleichung der de Broglie-
Bohm-Theorie bezeichnet. Bildlich gesprochen werden die Teilchenbahnen also
durch die Wellenfunktion (bzw. ihre Phase S) geleitet bzw. geführt. Ein physika-
lisches Problem mit Hilfe der DBB-Theorie zu behandeln, bedeutet also zunächst
(wie in der üblichen Quantenmechanik) die Schrödingergleichung zu lösen. Wir
werden in Absch. 5.1.4 konkrete Anwendungen diskutieren.6
Die Gültigkeit der Kontinuitätsgleichung (5.3) hat für die de Broglie-Bohm-
Theorie noch eine andere bedeutende Konsequenz. Aus ihr folgt nämlich, dass
eine einmal |ψ|2 -verteilte Konfiguration unter der Bohmschen Dynamik diese
Eigenschaft behalten wird. Diese Beobachtung ist der Schlüssel dafür, dass die
de Broglie-Bohm-Theorie sämtliche Vorhersagen der üblichen Quantentheorie re-
produziert, denn natürlich legt eine Differenzialgleichung die Bewegung erst durch
Rand- oder Anfangsbedingungen eindeutig fest. Wählt man nun für ein System,
das durch die Wellenfunktion ψ beschrieben wird, die Anfangskonfiguration Q(t0 )
zufällig gemäß der Verteilung |ψt0 |2 , wird die Konfiguration Q(t) zu jedem spä-
teren Zeitpunkt gemäß |ψt |2 verteilt sein. Mit anderen Worten werden – gemäß
der Bornschen Regel – alle Vorhersagen der üblichen Quantentheorie reproduziert.7
Diese Bedingung wird „Quantengleichgewichtshypothese“ genannt und wird im
Abschn. 5.1.2 genauer untersucht werden.
Die drei Beziehungen, die die de Broglie-Bohm-Theorie mathematisch defi-
nieren, sind also:
1. Die Schrödinger-Gleichung: i ∂ψ
∂t = –
2
2m ∇ 2 ψ + V(r)ψ
∇S
2. Die Führungsgleichung: dQ dt = m
3. Die Quantengleichgewichtshypothese: Die Ortsverteilung ρ von Zuständen mit
der Wellenfunktion ψ ist durch die Wahrscheinlichkeitsdichte ρ = |ψ|2 gegeben.
Die zweite und die dritte Beziehung verdienen eine genauere Betrachtung, da sie
den Unterschied zur herkömmlichen Quantentheorie markieren.
Note that the only use of probability here is, as in classical statistical mechanics, to take
account of uncertainty in initial conditions. (Bell 1980, S. 156)
Aus diesem Umstand folgt, dass die Heisenbergsche Unschärferelation auch in der
de Broglie-Bohm-Theorie nicht verletzt werden kann! Gleichzeitig mag in diesem
7 Die äquivalenz zur Quantenmechanik setzt zusätzlich voraus, dass alle Vorhersagen eindeu-
tig durch Ortskoordinaten beschrieben werden können – etwa durch Zeigerstellungen eines
Messgerätes.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 193
„äußeren Zufall“ erklärt werden können, d. h. durch die Existenz eines größeren
Systems, in welches das betrachtete eingebettet ist. Für die fundamentale Begrün-
dung von Wahrscheinlichkeitsaussagen muss also dieser Standpunkt eingenommen
werden.
Für die Wellenfunktion des Universums scheint aber die Aussage, dass seine
Ortskoordinaten gemäß ρ = ||2 verteilt sind, problematisch. Schließlich gibt es
nur ein Universum,8 und ein Test dieser Wahrscheinlichkeitsaussage durch Messung
einer relativen Häufigkeit ist ausgeschlossen. Für die Wellenfunktion des Univer-
sums kann man dem Ausdruck ||2 also zumindest nicht im operationalen Sinne
die Bedeutung einer Wahrscheinlichkeitsdichte geben. Stattdessen schlagen Dürr
et al. vor, in ihm ein Maß dafür zu sehen, was eine „typische“ Anfangsbedin-
gung (im Sinne Boltzmanns) des Universums ist. Diese Wahl begründen sie mit der
„Äquivarianz“ der Verteilung, d. h. mit der bereits erwähnten Tatsache, dass eine
einmal gemäß |ψ|2 verteilte Konfiguration diese Eigenschaft behält. Die Wahl jeder
anderen (nicht-äquivarianten) Verteilung als Maß für „ typische“ Anfangskonfigu-
rationen würde in unnatürlicher Weise einen Zeitpunkt auszeichnen müssen, zu dem
diese Verteilung vorlag.
Daneben gibt es eine Klasse von Teilsystemen, die mit Hilfe von „effektiven
Wellenfunktionen“ beschrieben werden können. Damit ist gemeint, dass die Teil-
chendynamik dieser Teilsysteme durch diese effektive Wellenfunktion praktisch
vollkommen festgelegt ist.9
Schließlich können Dürr et al. beweisen, dass Teilsysteme mit einer effektiven
Wellenfunktion ψ in einem „typischen“ Universum die Quantengleichgewichts-
hypothese erfüllen. In diesem Sinne kann die deterministische de Broglie-Bohm-
Theorie den Anschein von Zufälligkeit geben, wobei die empirischen Verteilungen
den quantenmechanischen Vorhersagen entsprechen. Folgt man dem „ Boltzmann–
Argument“ wird die Quantengleichgewichtsbedingung somit zu einem Theorem der
de Broglie-Bohm-Theorie.10
8 An dieser Situation ändern auch Spekulationen über „Multiversen“ nichts – denn auch hier ist in
der Regel jeder Kontakt zu anderen „Universen“ verhindert.
9 Die effektive Wellenfunktion ψ(x) eines Teilsystems mit den Variablen x auf dem Konfigu-
rationsraum, das dem Gesamtsystem (x, y) angehört, ist als Teil der folgenden Zerlegung
definiert: (x, y) = ψ(x)(y) + ⊥ (x, y). Dabei haben und ⊥ disjunkte Träger, und die
Konfiguration der Umgebung (Y) liegt im Träger von . Bei dem Gesamtsystem kann man
etwa an Teilsystem+Umgebung bzw. konkret Teilsystem+Messgerät denken. Obige Zerlegung
ensteht nämlich bei einer Messwechselwirkung: Entspricht die Konfiguration des Messgerä-
tes Y (man denke an eine bestimmte „ Zeigerstellung“ des Messgerätes), wird das x-System
durch die Wellenfunktion ψ(x) geleitet. Die anderen Anteile von sind dann für die Teil-
chendynamik irrelevant, und es wird auf diese Weise ein „effektiver Kollaps“ beschrieben (vgl.
Abschn. 5.1.5).
10 Unsere Darstellung kann den Gedankengang natürlich nur grob skizzieren und unterdrückt viele
mathematischen Details. So mag irrtümlicherweise der Eindruck der Zirkularität entstehen: Man
postuliert die ||2 -Verteilung des Universums und erhält die |ψ|2 -Verteilung von Teilsystemen.
Siehe hierzu Dürr (2001, S. 201).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 195
Bisher haben wir uns auf den 1-Teilchen-Fall beschränkt. Die allgemeine Form der
Führungsgleichung für ein N-Teilchen-System lautet:11
dQi ∇i ψ ∇ i S
= ! = . (5.6)
dt mi ψ mi
Hier bezeichnet mi die Masse des i-ten Teilchens, ! den Imaginärteil und ∇i
den Gradienten in Bezug auf die Raumkoordinaten des i-ten Teilchens. Falls
die Wellenfunktion ein Spinor ist, also ψ:R3N → C2N , verändert sich der
Wahrscheinlichkeitsstrom, sodass man die folgende Führungsgleichung erhält:
dQi ψ ∗ ∇i ψ
= ! , (5.7)
dt mi ψ ∗ ψ
mit ψ ∗ ψ dem Skalarprodukt im C2 . Die letzte Gleichung erwähnen wir nicht nur
der Vollständigkeit halber, sondern werden bei der Behandlung des Messproblems
in Abschn. 5.1.5 auf sie zurückgreifen.
Die Existenz und Eindeutigkeit der Lösung konnte für alle relevanten Po-
tenzialtypen nachgewiesen werden (siehe Teufel und Tumulka 2005). Hervorzu-
heben sind zwei Punkte: Erstens die Ordnung der Führungsgleichung (sowie die
daraus folgenden allgemeinen Eigenschaften ihrer Lösung) und zweitens ihre sog.
„Nicht-Lokalität“.
Nicht-Lokalität
Die Führungsgleichung legt die Bahn des i-ten Teilchens im Wesentlichen durch
Ableiten der Wellenfunktion (genauer: Gradientenbildung) fest. Die Wellenfunk-
tion ist jedoch auf dem Konfigurationsraum definiert – und wird an der Stelle
11 Das Folgende ist für den mathematisch weniger versierten Leser natürlich schwer verständ-
lich. Der entscheidende Punkt lautet, dass Ort (und Geschwindigkeit) der Bohmschen Teilchen
mathematisch durch die Wellenfunktion festgelegt sind.
196 O. Passon
Q(t) ausgewertet. Mit anderen Worten hängt die Ortsänderung jedes Teilchens zum
Zeitpunkt t von der Position aller anderen Teilchen zum selben Zeitpunkt ab. Da
diese Beeinflussung nicht im Sinne einer Nahwirkung durch den Raum propagiert,
spricht man von einer nicht-lokalen Beeinflussung bzw. der Nicht-Lokalität der
de Broglie-Bohm-Theorie. Jedoch ist es gerade diese Nicht-Lokalität, die es der
de Broglie-Bohm-Theorie erlaubt, die Bellschen Ungleichungen (in Übereinstim-
mung mit dem Experiment) zu verletzen (siehe Kap. 4). Gleichzeitig stellt die
Quantengleichgewichtshypothese sicher, dass diese Nicht-Lokalität nicht zur Sig-
nalübertragung verwendet werden kann, da es sich schließlich um stochastische
Ereignisse handelt. Die naheliegende Frage der relativistischen Verallgemeinerung
dieser Theorie werden wir in Abschn. 5.1.7 ansprechen.
Wie wenden uns nun der naheliegenden Frage zu, welche Form die Teilchenbahnen
haben, deren Existenz die de Broglie-Bohm-Theorie von der herkömmlichen Quan-
tentheorie unterscheidet. Die Führungsgleichung ist tatsächlich für zahlreiche Pro-
bleme numerisch gelöst worden. Für die Anhänger der Theorie ist im übrigen die
Existenz dieser Bahnen bedeutender als ihr konkreter Verlauf bzw. ihre numerische
Simulation. Dürr schreibt zu der Frage, ob Bohmsche Bahnen überhaupt berechnet
werden sollten:
Grob gesagt: nein! Manchmal jedoch ist das asymptotische Bild der Bahnen – im wesent-
lichen dasjenige freier Teilchen – recht nützlich. [. . .] Alles was wir aus den Bahnen lernen
können, ist ja nur, daß zu jeder Zeit t Teilchen vorhanden sind, deren Orte nach der
Quantengleichgewichtshypothese mit |ψ|2 (q, t) verteilt sind. (Dürr 2001, S. 142)
Der Tunneleffekt
Eine spektakuläre Vorhersage der Quantentheorie ist der „ Tunneleffekt“. Er be-
steht darin, dass quantenmechanisch beschriebene Teilchen eine Potenzialbarriere
überwinden können, obwohl die Energie dieser Barriere größer ist als die Energie
der Teilchen. Der radioaktive α-Zerfall oder die Kernfusion im Inneren der Son-
ne sind nur mit seiner Hilfe zu erklären.12 Bildlich gesprochen unterqueren sie
12 Im Falle des α-Zerfalls sind dies Heliumkerne, die die Potenzialbarriere des Mutterkerns
überwinden, obwohl ihre Energie in einer klassischen Betrachtung dafür zu gering ist. Bei
der Kernfusion im Inneren der Sonne verschmelzen Wasserstoffatome zu Helium. Auch hier
sind – klassisch betrachtet – Druck und Temperatur zu gering, um die Abstoßung der positiven
Wasserstoffkerne zu überwinden.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 197
0.85
Ort
0.80
0.75
0.70
0.65
0.60
0.55
0.50
0.45
0.40
0.00 2.00 4.00 6.00 8.00 10.00 12.00 14.00 16.00
Zeit/10–4 s
Abb. 5.1 Numerische Simulation einiger Trajektorien beim 1-dim. Tunneleffekt (aus Dewdney
und Hiley 1982, mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags). Die x-Achse entspricht der
Zeitkoordinate und die y-Achse der Ortskoordinate
die Barriere – sie „tunneln“ also unter ihr hindurch.13 In orthodoxer Sprechweise
besteht eine endliche Wahrscheinlichkeit dafür, die Teilchen jenseits der Bar-
riere anzutreffen. Innerhalb der de Broglie-Bohm-Theorie muss natürlich eine
kontinuierliche Teilchenbahn zum Ort jenseits der Potenzialbarriere führen.
Die Abb. 5.1 zeigt den Verlauf dieser Bahnen. Die y-Achse entspricht der Orts-
koordinate und die x-Achse der Zeitkoordinate. Als Anfangsbedingung wird ein
Gauß-förmiges Wellenpaket ψ angenommen, das sich in der Abbildung von unten
der Barriere nähert. Diese Potenzialbarriere liegt bei 0, 72 ≤ y ≤ 0, 78 und beträgt
das Doppelte der mittleren Energie des Wellenpaketes.14 Anschließend wurde die
Schrödinger-Gleichung numerisch gelöst und in die Führungsgleichung eingesetzt.
Auf diese Weise berechnet sich der Verlauf der Bahnen. Man erkennt zunächst,
wie alle Teilchen in der Barriere abgebremst werden (die Steigung der Bahnen
in Abb. 5.1 entspricht der Geschwindigkeit). Der Tunneleffekt tritt bei jenen Teil-
chen auf, die die Barriere als erste erreichen, während die nachfolgenden immer
abweichung von 0,05. Die Dichte der Trajektorien zwischen 0,66 und 0,68 wurde erhöht, um
das Oszillationsverhalten in der Barriere genauer studieren zu können (siehe Dewdney und Hiley
1982).
198 O. Passon
früher reflektiert werden. Wäre dies nicht der Fall, käme es zu überschneidungen
der Teilchenbahnen. Die Überschneidungsfreiheit der Bahnen legt hier also ihren
qualitativen Verlauf bereits fest.
Diese Beschreibung des Tunneleffektes eröffnet im übrigen die Möglichkeit, das
Problem der „Tunnelzeit“ zu behandeln. Die naheliegende Frage nach der Zeit, die
ein Teilchen zur Überwindung der Barriere braucht, kann in der herkömmlichen
Quantentheorie gar nicht sinnvoll gestellt werden, da die Zeit keine Observable ist.
In Cushing (1995) wird die Möglichkeit eines experimentellen Tests der de Broglie-
Bohm-Theorie auf dieser Grundlage erörtert.
Abb. 5.2 Links: Messung der Interferenzstreifen von Elektronen am Mehrfachspalt (aus Möllens-
tedt und Jönsson 1959). Rechts: Numerische Simulation einiger Trajektorien beim Doppelspalt
(aus Philippidis et al. 1979). Abdruck beider Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des
Springer Verlags
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 199
Das Wasserstoffatom
Die diskreten und charakteristischen Spektren angeregter Gase gaben wichtige
Anstöße zur Entwicklung der Quantentheorie. Die erfolgreiche Beschreibung der
diskreten Energieniveaus des Wasserstoffatoms gehörte zu ihren frühen Triumphen.
Die Lösung der Schrödinger-Gleichung für dieses Problem (also für das Poten-
2
zial V = – er ) ist mathematisch recht aufwendig und soll hier nicht dargestellt
werden. Entscheidend ist, dass man auf Eigenzustände der Energie geführt wird,
bei denen die Wellenfunktion das Produkt aus einer reellen Funktion und dem Aus-
druck ei(mφ–Et/) ist. Für den Grundzustand ist m (die „magnetische Quantenzahl“)
jedoch 0, sodass die Phase S = –Et lautet. Setzt man diesen Ausdruck in die Füh-
rungsgleichung (5.5) ein, ergibt sich für das Geschwindigkeitsfeld natürlich überall
null. Schließlich bildet man die räumliche Ableitung eines Ausdrucks, der gar nicht
vom Ort abhängt. Mit anderen Worten ruht das Teilchen im Grundzustand, und
zwar an Orten, die gemäß der Quantengleichgewichtsbedingung für die zugehöri-
ge Wellenfunktion verteilt sind. Man könnte dieses Ergebnis unintuitiv nennen –
allerdings muss man sich wohl eingestehen, gar keine „Intuition“ von Vorgängen
innerhalb des Atoms zu besitzen.16
15 Zum Status der Wellenfunktion siehe jedoch auch Abschn. 5.1.7 und vgl. Dürr et al. (1996).
16 Bei angeregten Zuständen mit m =/ 0 wird der Winkel φ eine Funktion der Zeit und das Teilchen
kreist um eine Achse (siehe Passon 2010, S. 87f). Aber auch diese Bewegung entspricht natürlich
nicht dem aus der Schule bekannten (und widerlegten) Bohrschen Atommodell.
200 O. Passon
Im Kern besteht das Messproblem darin, dass am Ende einer Messung das betreffen-
de Gerät tatsächlich ein Ergebnis anzeigt. Nach der Messung sollte am Messgerät
(quantentheoretisch betrachtet) also ein Eigenzustand des Messgerätes hinsichtlich
des betreffenden Operators vorliegen.
Im allgemeinen wird der mikroskopische Zustand (an dem die Messung durch-
geführt wird) jedoch durch eine Überlagerung verschiedener Komponenten be-
schrieben werden, die jeweils einer anderen „ Zeigerstellung“ entsprechen. Unter
der Dynamik der linearen Schrödinger-Gleichung sollte das Messgerät also eben-
falls einen Überlagerungszustand annehmen – und keinen Eigenzustand. Tasäch-
lich ist eine Überlagerung makroskopisch verschiedener Zustände weder einfach
vorstellbar noch jemals beobachtet worden.17
Die Lösung der de Broglie-Bohm-Theorie für das Messproblem lässt sich voll-
kommen untechnisch und dennoch angemessen darstellen. Sie beruht darauf, dass
erst das Paar aus Wellenfunktion und Konfiguration die vollständige Beschrei-
bung eines Systems ausmacht – und nicht schon die Wellenfunktion alleine. Durch
die zusätzlichen Teilchenorte befindet sich jedes System jederzeit in einem defi-
nierten Zustand. Dies gilt somit auch für Messgeräte nach einer Messung. Die
verschiedenen Zeigerstellungen eines Messgerätes sind schließlich nichts anderes
als verschiedene Konfigurationen Q(t). Mit anderen Worten wird sich auch in der
de Broglie-Bohm-Theorie die „Wellenfunktion des Messgerätes“ im allgemeinen in
einem Überlagerungszustand befinden. Die Konfiguration zeichnet aber den tatsä-
chlich realisierten Ausgang der Messung aus. Der Teil der Wellenfunktion, der das
(oder die) Teilchen „führt“, kann sinnvoll als effektiv bezeichnet werden. Alle ande-
ren Anteile können im Anschluss ignoriert werden, da sie für die Teilchendynamik
irrelevant sind. In Folge von Dekohärenzeffekten (siehe hierzu Abschn. 5.2.4) ist die
Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie mit dem effektiven Wellenfunktionsanteil wieder
zur Interferenz gebracht werden können, verschwindend gering. In diesem Sinne be-
schreibt die de Broglie-Bohm-Theorie einen „effektiven Kollaps“ (siehe dazu auch
Fußnote 9). Mit den Worten von Dürr:
Dieser „Kollaps“ ist kein physikalischer Prozeß, sondern ein Akt der Bequemlichkeit. Er
findet nur durch die Wahl der Beschreibung statt [. . . ] weil der Preis für das Vergessen
der anderen, nicht effektiven Wellenanteile enorm gering ist, da zukünftige Interferenz
praktisch ausgeschlossen ist. (Dürr 2001, S. 160)
17 Formalgesprochen betrachten wir hier die Überlagerung von mehreren Zuständen des Gesamt-
systems, bestehend aus Messobjekt (ψ = ci ψi ) und Messgerät (i ). Falls das Messgerät
0 ist, vollzieht sich während der Messwechselwirkung eine Zeitent-
zunächst in der Stellung
wicklung ψ ⊗0 → ci ψi ⊗i . Hier bezeichnet i den Zustand des Gerätes bei der Messung
der Eigenschaft, der der Zustand ψi zugeordnet ist.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 201
die Position von Tinte auf einem Papier.18 Damit ist jedoch nicht gemeint, dass
nur die Messung von Teilchenorten in der de Broglie-Bohm-Theorie beschrieben
werden kann. Natürlich gilt diese Lösung des Messproblems auch für Spin, Impuls
oder die Messung beliebiger anderer „Observablen“. Deren Status erfährt in der
Theorie jedoch eine drastische Umdeutung, die mit dem Stichwort „Kontextualität“
beschrieben wird.
Kontextualität
Bereits in Abschn. 1.1.1 war der Stern-Gerlach-Versuch zur Messung der Spin-
komponente eines Valenz-Elektrons behandelt worden. Ein Strahl aus Silberatomen
wird durch ein inhomogenes Magnetfeld gelenkt, sodass der Spin des äußeren
Elektrons zu seiner Aufspaltung führt.
Auch hier liegt also eine Messung vor, deren eindeutiger Ausgang durch die
de Broglie-Bohm-Theorie beschrieben wird. Die Diskussion wird dadurch ver-
kompliziert, dass die Schrödinger-Gleichung keine Teilchen mit Spin beschreiben
kann. Stattdessen muss zur sog. „Pauli-Gleichung“ übergegangen werden. Die-
se Modifikation der Schrödinger-Gleichung beschreibt Spin- 12 -Teilchen durch eine
2-komponentige Wellenfunktion. Eine Führungsgleichung für die Teilchen fin-
det man analog wie im Fall der Schrödinger-Gleichung (diese Beziehung war in
Abschn. 5.1.3, Gl. 5.7, bereits erwähnt worden). Dadurch ergibt sich in unserer
Diskussion konzeptionell auch kein Unterschied.
Abbildung 5.3 gibt eine naive Darstellung davon, wie in der de Broglie-
Bohm-Theorie der Ausgang der Messung festgelegt wird. Befindet sich die
Spin-up
N
Ag-Strahl
Spin-down
18 Andieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass die Bezeichnung „verborgene Variablen“ für
die Teilchenorte grob irreführend ist. Gerade ihr Unverborgen-sein qualifiziert sie dafür, den
beobachtbaren Ausgang einer Messung zu beschreiben!
202 O. Passon
19 Dasselbe gilt für alle anderen physikalischen Größen. Die Teilchen der de Broglie-Bohm-Theorie
haben außer dem Ort und der Geschwindigkeit keine Eigenschaft. Selbst Masse, Impuls oder
Ladung können nicht sinnvoll dem Teilchen zugeordnet werden; man denke etwa an quantenme-
chanische Interferenzexperimente, in denen auch der Einfluss von Gravitation oder elektromagneti-
scher Wechselwirkung (prinzipiell) die Wellenfunktion modifizert. Deshalb haben wir bisher auch
vermieden, sie als „Elektron“, „Atom“ o. ä. zu bezeichnen. Allerdings wird bei Holland (1993)
sowie Bohm und Hiley (1993) eine mögliche Spin-Variable diskutiert. Unsere Darstellung folgt
hier Bell (2001, S. 5ff) und Dürr (2001).
20 Während eine kategoriale Eigenschaft einem Objekt ohne jeden Bezug zur Umwelt zu-
kommt („rund sein“), beschreiben Dispositionen solche Eigenschaften, die sich nur in speziellen
Kontexten manifestieren („zerbrechlich sein“).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 203
vgl. Mermin (1990) und die Referenzen darin. Diesen Theoremen liegt nämlich
die Intuition zu Grunde, dass verborgene Variablen den (scheinbar) statistischen
Ausgang der Messungen vollständig kodieren. Diese Beweise zeigen die Unmö-
glichkeit einer Abbildung, die jedem Zustand einen eindeutigen Wert hinsichtlich
jeder möglichen Messung zuordnet – und zwar ohne Berücksichtigung des Kon-
textes. Die de Broglie-Bohm-Theorie behauptet nun überhaupt nicht die Existenz
von tatsächlichen Werten hinsichtlich jeder physikalischen Größe, die gemessen
werden kann, denn lediglich der Ort ist eine kategoriale Eigenschaft dieser Theorie.
Man denke noch einmal an das obige Beispiel der Messung der Spinrichtung: Dem
Teilchen wird unabhängig von einer konkreten „Messung“ keine feste Orientierung
des Spins zugeordnet und bei Veränderung der Magnetfeldorientierung sogar der
entgegengesetzte Wert. Nach Daumer et al. (1996) entlarvt sich in dem Verständnis
von Messung, das zum Beispiel diesen no-go-Theoremen zugrunde liegt, ein „nai-
ver Realismus“ in Bezug auf die Rolle von Operatoren. Darunter verstehen diese
Autoren die übliche Identifikation zwischen Operatoren und Observablen, verbun-
den mit der verbreiteten Sprechweise, dass „Operatoren gemessen“ werden. Diese
Ausdrucksweise ist jedoch grob irreführend, da der oben behandelte Einfluss des
experimentellen Kontexts auf eine Messung nicht berücksichtigt wird.
p = mv und der Wirkung S). Bohm konnte in seiner Arbeit zeigen, dass die gleiche
Beziehung in der Quantentheorie gilt, wenn die Wirkung durch die Phase (S) der
Wellenfunktion ersetzt wird. Das führte ihn dann auf die bekannte Führungsglei-
∇S
chung v = dQdt = m . Tatsächlich erlaubt diese Theorie sogar eine Darstellung, die
sie wie eine Modifikation der Newtonschen Mechanik erscheinen lässt:
d2 Q(t)
m = –∇(V + Uquant ) (5.8)
dt2
2 ∇ 2 |ψ|
Uquant = – . (5.9)
2m|ψ|
Man beachte jedoch, dass, im Gegensatz zur Newtonschen Physik, die Geschwin-
digkeit über die Führungsgleichung bereits festgelegt ist. Eine Darstellung durch
eine Differenzialgleichung zweiter Ordnung ist in dieser Hinsicht also irreführend.
Tatsächlich hat das Quantenpotenzial vollkommen unklassische Eigenschaften,
mit deren Hilfe die Anhänger dieser „kausalen Sichtweise“ die Neuartigkeit der
Quantenphänomene begründen. Es gilt z. B., dass Wellenfunktionen, die sich nur
durch einen komplexen Faktor unterscheiden, auf dasselbe Quantenpotenzial füh-
ren, da in Uquant die Wellenfunktion in Nenner und Zähler eingeht. Hier prägen
Bohm und Hiley (1993, S. 31) den Begriff der „aktiven Information“ und sehen die
Begründung für eine neue Art von „Holismus“ (siehe auch Hiley 1999).
Obwohl diese beiden Lesarten der de Broglie-Bohm-Theorie mathematisch
äquivalent sind und der eigentliche Gegensatz zwischen der üblichen Quantentheo-
rie und diesen Varianten besteht, ist die Rivalität dieser Schulen beträchtlich. Hiley
schreibt:
It should be noted that the views expressed in our book (Bohm und Hiley 1993) differ very
substantially from those of Dürr et al. (1992) who have developed an alternative theory.
It was very unfortunately that they chose the term „Bohmian mechanics“ to describe their
work. When Bohm first saw the term he remarked, „Why do they call it ‚Bohmian mecha-
nics‘? Have they not understood a thing that I have written?“ He was referring [. . . ] to a
footnote in his book Quantum Theory in which he writes, „This means that the term ‚quan-
tum mechanics‘ is a misnomer. It should, perhaps, be better called ‚quantum nonmechanics‘
“. It would have been far better if Dürr et al. had chosen the term „Bell mechanics“. That
would have reflected the actual situation far more accurately. (Hiley 1999, S. 119)
John Bell, der ab den 1960er Jahren in vielen Artikeln zur Popularisierung der
de Broglie-Bohm-Theorie beitrug, schreibt zu dem Thema dieses Abschnitts:
It is easy to find good reasons for disliking the de Broglie-Bohm picture. Neither de Broglie
nor Bohm liked it very much; for both of them it was only a point of departure. Einstein
also did not like it very much. He found it ‘too cheap’ although, as Born remarked, ‚it was
quite in line with his own ideas‘. But like it or lump it, it is perfectly conclusive as a counter
example to the idea that vagueness, subjectivity, or indeterminism, are forced on us by the
experimental facts covered by nonrelativistic quantum mechanics. (Bell 2001, S. 152)
Nach Bell können also alle Gegenargumente den wichtigen prinzipiellen Wert der
Theorie nicht schmälern. Dennoch wollen wir uns im Folgenden mit einigen von
ihnen beschäftigen. Bei Heisenberg findet man das Argument, dass der identische
deskriptive Gehalt der Theorie sie gar nicht als eigenständig qualifiziert. Er schreibt
(Heisenberg 1959, S. 106):
Von einem strengen positivistischen Standpunkt aus könnte man sogar sagen, dass es sich
hier gar nicht um einen Gegenvorschlag zur Kopenhagener Deutung handelt, sondern um
eine exakte Wiederholung in einer verschiedenen Sprache.
ohne dass eine Rückwirkung stattfindet. Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Tat-
sache, dass gemäß der de Broglie-Bohm-Theorie die Welt mit zahllosen „leeren“
Wellenfunktionen bevölkert ist. Auch dies ist zumindest unelegant.
Die Rolle bzw. der Status der Wellenfunktion ist auch Gegenstand einer Dis-
kussion zwischen den Wissenschaftlern, die auf dem Gebiet der DBB-Theorie
arbeiten. Ursprünglich wurde die Wellenfunktion als reales physikalisches Feld auf-
gefasst. Dürr et al. (1996) schlagen im Gegensatz dazu vor, ihr eine „nomologische“
(d. h. „ gesetzesartige“) Rolle zu geben. Die Wellenfunktion entspräche dann eher
der Hamilton-Funktion in der klassischen Mechanik, als einem üblichen physika-
lischen Feld. Sowohl der Einwand der fehlenden Rückwirkung als auch die Kritik
an „leeren“ Wellenfunktionen würden dadurch an Gewicht verlieren. Während der
interessierte Leser bei Passon (2010, 117ff) eine genauere Diskussion der Kritik an
der DBB-Theorie finden kann, wollen wir uns nun dem Haupteinwand gegen diese
Theorie widmen. Er berührt die Frage der relativistischen Verallgemeinerbarkeit.
Die Teilchen-Dynamik der de Broglie-Bohm-Theorie verknüpft Orte in belie-
biger Entfernung. Diese Nicht-Lokalität scheint das Einsteinsche Postulat von der
Lichtgeschwindigkeit als oberster Grenzgeschwindigkeit zu verletzen. Jedoch ist
diese Theorie eine Vervollständigung der nicht-relativistischen Quantenmechanik.
Im Hinweis darauf, dass sie mit den Forderungen der speziellen Relativitätstheorie
nicht verträglich ist, liegt also kein Vorwurf, sondern eine simple Feststellung. Diese
Erwiderung ist jedoch noch zu oberflächlich, denn es ist ja gerade diese nicht-lokale
Dynamik, die es der de Broglie-Bohm Theorie erlaubt, die Verletzung der Bellschen
Ungleichung zu erklären (vgl. Kap. 4 und hier im Besonderen Abschn. 4.4).
Mit der Kritik an der Nicht-Lokalität verbindet sich in der Regel der Zwei-
fel, dass die DBB-Theorie relativistisch verallgemeinert werden kann. Gleichzeitig
existieren relativistische Quantentheorie (Dirac-Theorie) und relativistische Quan-
tenfeldtheorien (siehe Kap. 6), sodass das negative Urteil über die de Broglie-Bohm-
Theorie gefällt zu sein scheint. Dieses Argument wäre jedoch bedeutend triftiger,
wenn besagte Theorien kein Messproblem hätten. Tatsächlich ist aber auch hier die
Frage definiter Ausgänge von Messungen Gegenstand kontroverser Debatten.
Lösungen des Messproblems dieser Theorien durch „de Broglie-Bohm-artige“
Ansätze sind also Teil des aktuellen Forschungsprogramms der Forscher, die
an der de Broglie-Bohm-Theorie arbeiten. Einige der hier diskutierten Ansätze
verwenden im übrigen keine Teilchen- sondern eine Feld-Ontologie. Außerdem
verzichten einige relativistische Verallgemeinerungen auf eine deterministische
Beschreibung.21
Es stellt sich nun heraus, dass nicht nur die Dynamik einer verallgemeiner-
ten Führungsgleichung ein Problem darstellt, sondern auch die (verallgemeinerte)
Quantengleichgewichtsverteilung. Diese Forderung zeichnet nämlich das Bezugs-
system aus, in dem diese Verteilung vorliegt. Die Gleichwertigkeit aller Inertial-
systeme ist es aber, die nach üblichem Verständnis das Herzstück der speziellen
Im Jahr 1957 veröffentlichte der amerikanische Physiker Hugh Everett III (1930–
82) seine „Relative state“ -Formulierung der Quantenmechanik (siehe Everett
1957). Es handelt sich um die Ergebnisse seiner von John A. Wheeler betreuten
Promotion an der Universität Princeton. Ihr Ziel war eine Reformulierung der Theo-
rie, in der die diskontinuierliche Zustandsänderung überflüssig ist und stattdessen
die unitäre Zeitentwicklung der Wellenfunktion durchgängig gilt. Im Gegensatz
zur de Broglie-Bohm-Theorie wird jedoch die Vollständigkeit der quantenmechani-
schen Beschreibung behauptet und somit die dritte Aussage des Maudlin-Trilemmas
(Abschn. 2.3.1) geleugnet: Messungen scheinen bei Everett nur einen definiten
Ausgang zu haben, während tatsächlich die Wellenfunktion (mit ihren Überlage-
rungszuständen) die vollständige Beschreibung darstellt.
Leitidee Everetts war dabei, die Interpretation aus dem mathematischen Forma-
lismus abzuleiten.22 Motiviert wurde Everett explizit durch das Messproblem bzw.
die Auszeichnung eines äußeren Beobachters in der üblichen Formulierung:
22 Everett selbst schreibt zu seiner Methodologie: „The wave function is taken as the basic physical
entity with no apriori interpretation. Interpretation comes only after an investigation of the logical
structure of the theory. Here as always the theory itself sets the framework for its interpretation“
(Everett 1957, S. 455).
208 O. Passon
Aber spätestens bei der Behandlung von kosmologischen Problemen könne der
Standpunkt eines äußeren Beobachters nicht mehr sinnvoll eingenommen werden,
und die Anwendbarkeit der Quantentheorie erscheine dadurch verhindert.
Neben der Begründung, wie angesichts von Überlagerungszuständen der An-
schein von definiten Messergebnissen entsteht, muss Everett ebenfalls erklären,
wie und warum die Statistik dieser Messergebnisse der Bornschen Regel genügt
(also |ci |2 der Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des jeweiligen Ergebnisses ent-
spricht). Dabei ist Everetts Arbeit selbst Gegenstand einer Interpretationsdebatte
geworden. Jeffrey Barrett schreibt dazu:
The fact that most no-collapse theories have at one time or another been attributed to Everett
shows how much the no-collapse tradition owes to him, but it also shows how hard it is to
say what he actually had in mind. (Barrett 2003, S. 90f)
We thus arrive at the following picture: Throughout all of a sequence of observation pro-
cesses there is only one physical system representing the observer, yet there is no single
unique state of the observer (. . . ). Nevertheless, there is a representation in terms of a su-
perposition, each element of which contains a definite observer state and a corresponding
23 Ermodelliert den „Beobachter“ durch ein physikalisches System, konkret eine Maschine, die
über Sensoren und Speichermedien verfügt.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 209
system state. Thus with each succeeding observation (or interaction), the observer state
„branches“ into a number of different states. (. . . ) All branches exist simultaneously in the
superposition after any given sequence of observations. (Everett 1957, S. 459)
In welchem Sinne Everett jedoch immer noch von einem Beobachter („one physical
system representing the observer“) ausgehen kann, der sich gleichzeitig in der be-
schriebenen Vielzahl von Zuständen befindet, erscheint zunächst unklar. Durch die
verschiedenen Antworten auf diese Frage ergeben sich im Wesentlichen die unter-
schiedlichen Varianten der Everett-Interpretation, die im obigen Zitat von Barrett
erwähnt wurden.
Bryce DeWitt und Neil Graham (1973) popularisierten durch ihre Anthologie
The Many-Worlds Interpretation of Quantum Mechanics diese Theorie und präg-
ten durch die Wahl des Titels auch ihren griffigen Namen. Sie deuten die im
Everett-Zitat erwähnte Verzweigung der Wellenfunktion vollkommen realistisch als
tatsächliche Aufspaltung in verschiedene „Welten“ und schreiben:24
The universe is constantly splitting into a stupendous number of branches, all resulting
from the measurement-like interactions between its myriads of components. Moreover, any
quantum transition taking place on every star, in every galaxy, in every remote corner of the
universe is splitting our local world on earth into myriads of copies of itself. (DeWitt und
Graham 1973, S. 161)
Mit „Welt“ ist hier die Gesamtheit (makroskopischer) Objekte gemeint, und der
menschliche Beobachter unterliegt ebenfalls dieser Aufspaltung in eine Vielzahl von
„Kopien“.
David Wallace (Wallace 2010, 4) illustriert diese erstaunliche Idee durch
eine Analogie mit der klassischen Elektrodynamik. Man denke sich eine elektro-
magnetische Feldkonfiguration F1 (r, t), die einen Lichtpuls beschreibt, der sich
von der Erde zum Mond bewegt. Eine zweite Konfiguration F2 (r, t) beschreibe
24 Es ist sehr fraglich, inwieweit dieser Vorschlag Everetts eigenem Verständnis der Theorie ent-
spricht. Da Everett nach der Promotion in der strategischen Planung des Pentagon arbeitete und
insbesondere keine weitere Veröffentlichung zur Quantentheorie mehr vorgelegt hat, kann diese
Frage nur anhand von sporadischer Korrespondenz sowie Unterlagen aus seinem Nachlass unter-
sucht werden. Aus diesen Quellen entsteht der Eindruck, dass Everett gerade keine Aufspaltung in
„Welten“ im Sinn hatte, deren Definition einen Bezug auf klassische Konzepte nötig zu machen
scheint. In mancher Hinsicht hat die aktuelle Version der Viele-Welten-Interpretation, auf die wir
im Folgenden noch näher eingehen werden, größere Ähnlichkeit mit Everetts Originalkonzeption.
Allerdings lehnte er die Sprechweise von DeWitt auch nicht kategorisch ab – zumal er ihm gegen-
über große Dankbarkeit für die Popularisierung seiner Idee empfand. Siehe hierzu Barrett (2011)
sowie den Aufsatz von Peter Byrne in Saunders et al. (2010).
210 O. Passon
einen Lichtpuls zwischen Venus und Mars. Wie, so Wallace, solle man nun die
Konfiguration
1 1
F(r, t) = · F1 (r, t) + · F2 (r, t) (5.10)
2 2
deuten? Wird hier ein Lichtpuls beschrieben, der sich gleichzeitig zwischen Erde
und Mond sowie Venus und Mars bewegt, da er in einer Superposition vorliegt?
Dies sei natürlich Unfug, stattdessen beschreibe Gl. (5.10) nicht einen „seltsamen“
Lichtpuls in einem Überlagerungszustand, sondern zwei „gewöhnliche“ Lichtpulse
an verschiedenen Orten. Wallace führt weiter aus:
And this, in a nutshell, is what the Everett interpretation claims about macroscopic quantum
superpositions: they are just states of the world in which more than one macroscopically de-
finite thing is happening at once. Macroscopic superpositions do not describe indefiniteness,
they describe multiplicity. (Wallace 2010, S. 5)
Es liegt hier aber keine räumliche Trennung vor (wie im Beispiel aus der Elektro-
dynamik), sondern – wie Wallace es ausdrückt – eine dynamische Trennung. Damit
ist gemeint, dass die parallelen Welten ohne gegenseitige Wechselwirkung, d. h.
bildlich ausgedrückt „transparent“ füreinander sind. Die zahllosen „Welten“ liegen
deshalb auch ungestört in derselben Raumzeit. Diese ist erst dann der Aufspal-
tung unterworfen, wenn die Viele-Welten-Idee auf Theorien der Quantengravitation
angewendet wird.
Die Deutung der Everett-Interpretation nach DeWitt und Graham hat Eingang
in populärwissenschaftliche Darstellungen gefunden und befeuert seitdem (nicht
nur) die Fantasie von physikinteressierten Laien und Science-Fiction-Autoren. In
einem naheliegenden Sinne wird auf diese Weise das Messproblem gelöst, denn
in jeder „ Welt“ liegt tatsächlich ein Eigenzustand des Messgerätes vor. Ob die-
se Bedingung für eine vollständige Lösung des Messproblems ausreicht, wird
jedoch von Tim Maudlin (2010) bezweifelt. In Abschn. 5.2.6 werden wir diese
Kritik an der Everett-Interpretation vorstellen. Ähnlich ist die Situation hinsicht-
lich der Frage der Nicht-Lokalität: Während Bacciagaluppi (2002) die Auffassung
vertritt, dass die Verletzung der Bellschen Ungleichung (siehe Kap. 4) hier ohne
Fernwirkungen erklärt werden kann, argumentieren Allori et al. (2011), dass die
Viele-Welten-Interpretation diesen Anschein der Lokalität nur durch ihre ungenaue
Formulierung erweckt. In Allori et al. (2011) wird eine Modifikation der Viele-
Welten-Interpretation vorgeschlagen, die ebenfalls Fernwirkungen enthält (siehe
Abschn. 5.2.6).
In der bisher skizzierten Version erscheint die Theorie jedoch noch nicht voll-
ständig. Leslie Ballentine hat darauf hingewiesen, dass die Bedeutung von Wahr-
scheinlichkeitsaussagen innerhalb der Everett-Interpretation unklar ist. Schließlich
treten alle Ereignisse tatsächlich ein (siehe Ballentine 1971, S. 233–235). Zudem
unterliegt die Verzweigung einer Mehrdeutigkeit bezüglich der Basiswahl. Diesem
Problem der „bevorzugten“ Basis wenden wir uns zunächst zu.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 211
1
| = √ |↑x |M↑x + |↓x |M↓x (5.11)
2
1 1
|↑z = √ (|↑x + |↓x ) |↓z = √ (|↑x – |↓x )
2 2
1 1
|M↑z = √ (|M↑x + |M↓x ) |M↓z = √ (|M↑x – |M↓x ).
2 2
Hinsichtlich dieser Basis hat der Zustand (5.11) nun die folgende Darstellung:
1
| = √ |↑z |M↑z + |↓z |M↓z . (5.12)
2
Verzweigen sich die „Welten“ hinsichtlich dieser Basisvektoren, besitzt der Spin
in x-Richtung jedoch gar keinen definierten Wert und stattdessen seine z-Kom-
ponente.26 Die Wahl einer Basis ist innerhalb der Quantentheorie allerdings rein
konventionell und sollte ohne jede physikalische Bedeutung sein. Ein tatsächlicher
Unterschied zwischen den Darstellungen in (5.11) und (5.12) muss also zusätzlich
begründet werden. Mit anderen Worten: Die Wahl einer „ bevorzugten Basis“ ist
notwendig. Man mag an dieser Stelle einwenden, dass die Wahl einer spezifischen
Messanordnung genau eine solche Auszeichnung der Zeigerbasis (5.11) begründet.
In der anderen Basis (5.12) liegt dagegen in jedem Term eine Überlagerung der
verschiedenen Zustände des x-Messgerätes vor. Das Nichtauftreten (bzw. die Nicht-
beobachtbarkeit) von Superpositionen makroskopisch verschiedener Zustände soll
durch die Everett-Interpretation jedoch gerade erklärt werden – sollte also keine
25 Die Mehrdeutigkeit der Darstellung ist Gegenstand des „Theorems der biorthogonalen Zer-
legung“ (vgl. Bub 1997, S. 151). Die Zerlegung ist nur dann eindeutig, wenn alle Komponenten
unterschiedliche und von null verschiedene Koeffizienten haben.
26 Man beachte, dass es keine gemeinsamen Eigenvektoren von σ und σ gibt.
x z
212 O. Passon
Die Many-minds-Interpretation
Die Viele-Welten-Interpretation bezieht den Akt der Beobachtung in die physika-
lische Beschreibung ein. Damit wird scheinbar vorausgesetzt, dass auch mentale
Zustände Teil der physikalischen Welt sind und den Gesetzen der Quantentheorie
unterliegen.29
27 Das hier behandelte Problem stellt sich also auch in anderen Interpretationen der Quanten-
mechanik und zeigt, dass das Messproblem eigentlich aus zwei Teilproblemen besteht: (i) dem
Problem der bevorzugten Basis und (ii) dem Problem des definiten Ausgangs einer Messung. Inner-
halb z. B. der Kopenhagener Deutung kann (i) jedoch mit dem Hinweis auf die Messanordnung
gelöst werden.
28 Dabei erwähnt Deutsch (S. 2), dass er – auf Grundlage privater Gespräche – eine Idee von
Everett aufgreift.
29 Diese Position wird als Physikalismus bezeichnet. Der Physikalismus behauptet (vereinfacht
ausgedrückt) die metaphysische These, dass alles was existiert, physikalisch ist. Er kann als Weiter-
entwicklung des Materialismus aufgefasst werden. Im Besonderen wird jeder Dualismus zwischen
physischen und geistigen Zuständen abgelehnt. Der Zusammenhang zwischen physischen (bzw.
physikalischen) und mentalen Zuständen muss dabei nicht als Identität aufgefasst werden. In der
Philosophie des Geistes ist die Sichtweise verbreitet, dass diese beiden Eigenschaftsbereiche durch
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 213
In diesem Sinne scheint (die Ausnahme werden wir gleich kennen lernen) eine
Viele-Welten-Deutung immer auch eine Theorie sich verzweigender Bewusstseins-
zustände. Diese naheliegende Bedeutung ist allerdings nicht gemeint, wenn von der
Many-minds-Interpretation gesprochen wird.
Auf Albert und Loewer (1988) geht ein prominenter Vorschlag dieser Varian-
te zurück. Motiviert wurden sie durch das Problem der bevorzugten Basis sowie
die Schwierigkeit, Wahrscheinlichkeitsaussagen in der Viele-Welten-Interpretation
einen Sinn zu geben (auf dieses Problem werden wir in Abschn. 5.2.5 genauer
eingehen).
Ausgangspunkt der Many-minds-Interpretation ist die Feststellung, dass men-
tale Zustände sich gemäß unserer Introspektion niemals in Superposition befinden.
Loewer und Albert folgern daraus, dass mentale Zustände (d. h. Überzeugungen,
Absichten, Erinnerungen etc.) nicht physikalisch sind.30
Sie postulieren nun, dass jeder Beobachter mit einer unendlichen Anzahl
„minds“ ausgestattet ist. Während im Falle einer Messung bzw. Wechselwirkung
die physischen Gehirnzustände einen Überlagerungszustand annehmen, führt ei-
ne probabilistische Zeitentwicklung dazu, dass jeweils ein Anteil dieser minds der
Wahrnehmung eines Versuchsausgangs entspricht. Dieser Vorgang findet innerhalb
einer Welt statt.
Wie steht es jedoch in dieser Interpretation um das Problem der „bevorzug-
ten Basis“? In einem naheliegenden Sinne hat die Basiswahl zur Entwicklung des
Zustandes keine physikalische Bedeutung, da es in der Many-minds-Interpretation
nur eine Welt gibt. Eine Mehrdeutigkeit bezüglich der Aufspaltung in „viele
Welten“ kann es also gar nicht geben. Jedoch hat Barrett (2003, S. 195) darauf
hingewiesen, dass die „Basis“ der Bewusstseinszustände eine vergleichbare Rolle
spielt.31
Sowohl in der Many-minds-Interpretation als auch bei Deutsch (1985) muss
also eine bevorzugte Basis postuliert werden. Diese gemeinsame Strategie bringt
auch eine gemeinsame Schwierigkeit mit sich: Alle Versuche, eine bevorzugte Ba-
sis Ad-hoc einzuführen, müssen Eigenschaften postulieren, die eine fundamentale
Theorie eigentlich erklären sollte (vgl. Wallace 2010, S. 8). Im nächsten Abschnitt
behandeln wir die Dekohärenztheorie. Mit ihr verbindet sich die Hoffnung auf ei-
ne überzeugende Lösung des Problems der bevorzugten Basis, da sie ohne solche
Ad-hoc-Annahmen auskommt.
eine „ Supervenienz-Relation“ verbunden sind. Dabei versteht man unter der Supervenienz von A
über B, dass (in Form eines Slogans) „kein A-Unterschied ohne einen B-Unterschied“ möglich ist.
Dies erlaubt auch Spekulationen über einen nicht-reduktionistischen Physikalismus.
30 Man mag die wache Selbstbeobachtung, auf deren Grundlage dieser Schluss gezogen wird, für
kein besonders starkes Werkzeug halten. In Fragen des Bewusstseins ist es jedoch das einzige
Werkzeug!
31 Wie Barrett dies für eine nicht-physikalistische Konzeption des Geistes meint bleibt jedoch
undeutlich.
214 O. Passon
In der Regel untersucht die Physik „isolierte Systeme“, d. h. betrachtet den Einfluss
der „ Umgebung“ als zu vernachlässigende Störung. Man findet nun, dass in der
Quantentheorie gerade die Einbeziehung der Wechselwirkung mit der Umgebung
zu einem konzeptionellen Fortschritt bei der Beschreibung von Messungen sowie
des klassischen Grenzwertes der Theorie führt. Die Forschungsarbeiten, die seit
den frühen 1970er Jahren auf diesem Gebiet geleistet wurden, sind dabei an kei-
ne spezielle Interpretation der Quantentheorie geknüpft und verwenden lediglich
mathematische Eigenschaften des Standardformalimus. Pioniere auf diesem Gebiet
der „Dekohärenz“32 waren Zeh (1970) und Zurek (1981). Bereits in Abschn. 2.3
war das Dekohärenz-Programm erwähnt worden. Wir greifen die dort eingeführ-
ten Begriffe auf, vertiefen sie und ordnen die Ergebnisse in den Kontext der
Everett-Interpretation ein.
Wir haben in Abschn. 5.2.3 bereits erläutert, dass die Zerlegung eines Zustandes
in Basisvektoren mehrdeutig ist. Die Zerlegungen (5.11) und (5.12) sind mathema-
tisch gleichberechtigt – ihr physikalischer Unterschied muss also begründet werden.
Der erste Schritt zur Auflösung dieses Problems gelingt nun durch eine rein
mathematische Überlegung: Betrachtet man zusätzlich die Verschränkung mit ei-
nem dritten System E (wie environment, in unserem Beispiel ebenfalls durch einen
zweidimensionalen Hilbertraum mit Zuständen |ei dargestellt), wird man auf einen
Zustand der Form
1 1
| = √ |↑x |M↑x |e↑x + √ | ↓x |M↓x |e↓x (5.13)
2 2
geführt. Andrew Elby und Jeffrey Bub konnten zeigen (Elby und Bub 1994),
dass diese Zerlegung in orthogonale Zustände eines dreifachen Produktraums ein-
deutig ist.33 Damit ist in einem formalen Sinne die Mehrdeutigkeit in der Wahl
einer Basis (und der zugehörigen Messgröße) aufgehoben. Natürlich liefert dieses
rein mathematische Argument noch keinen Hinweis darauf, welche Basis ausge-
zeichnet wird – vor allem da sich die detaillierten Zustände der Umgebung einer
Beobachtung entziehen. In dieser Situation müssen physikalische Kriterien für
die Identifikation dieser eindeutigen Basis entwickelt werden, wie Schlosshauer
schreibt:
tenz der Zerlegung ist im übrigen nicht garantiert. Der Beweis dieses Theorems findet sich auch in
Bub (1997, Kap. 5.5).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 215
The decoherence program has attempted to define such a criterion based on the interaction
with the environment and the idea of robustness and preservation of correlations. The envi-
ronment thus plays a double role in suggesting a solution to the preferred-basis problem: it
selects a preferred pointer basis, and it guarantees its uniqueness via the tridecompositional
uniqueness theorem. (Schlosshauer 2005, S. 1279)
Diese Kriterien werden also nicht postuliert, sondern folgen aus der quantentheo-
retischen Untersuchung des dynamischen Einflusses der Umgebung. Zu diesem
Zweck behandelt man anspruchsvolle Modelle der Umgebung. Die Wechselwirkung
zwischen ihr und dem Messgerät verläuft dabei in der Regel über Kraftgesetze, die
Potenzen des räumlichen Abstandes beinhalten (etwa die Coulomb-Kraft ∝ r–2 ).
Daraus folgt, dass die eindeutige Zerlegung i. d. R. die Basis des Ortsraumes aus-
zeichnet und im Falle einer Messung die „Zeigerbasis“ die relevante Basis darstellt.
Schlosshauer fasst diesen environment-induced superselection genannten Ansatz
wie folgt zusammen:
The clear merit of the approach of environment-induced superselection lies in the fact that
the preferred basis is not chosen in an ad hoc manner simply to make our measurement
records determinate or to match our experience of which physical quantities are usually per-
ceived as determinate (for example, position). Instead the selection is motivated on physical,
observer-free grounds, that is, through the system-environment interaction Hamiltonian.
The vast space of possible quantummechanical superpositions is reduced so much because
the laws governing physical interactions depend only on a few physical quantities (position,
momentum, charge, and the like), and the fact that precisely these are the properties that
appear determinate to us is explained by the dependence of the preferred basis on the form
of the interaction. The appearance of classicality is therefore grounded in the structure of
the physical laws – certainly a highly satisfying and reasonable approach. (Schlosshauer
2005, S. 14f)
Dieses Zitat verdeutlicht erneut, dass die Ergebnisse zur Dekohärenz an keine
spezielle Interpretation der Quantentheorie geknüpft sind bzw. innerhalb jeder
Interpretation angewendet werden können.34
Da die Wechselwirkung mit der Umgebung quantenmechanisch beschrie-
ben wird (also durch eine unitäre Zeitentwicklung), bleibt die Kombination aus
Objekt+Messgerät+Umgebung in einem sog. „ reinen“ Zustand. Dieser Gesamt-
zustand wird also im allgemeinen sowohl die Überlagerung verschiedener Zeiger-
stellungen als auch Interferenzterme enthalten. Der genaue Zustand der Umgebung
entzieht sich aber nicht nur der Beeinflussung, sondern in der Regel auch der
Beobachtung. Berechnet man die Vorhersagen für die tatsächlichen Beobach-
tungsgrößen am Teilsystem Objekt+Messgerät, gewinnt man ein Ergebnis, das
praktisch keine Interferenzterme mehr besitzt.35 Dieser Teil des Programms wird
34 für den Anhänger der de Broglie-Bohm-Theorie leisten die Ergebnisse zur Dekohärenz zum
Beispiel eine genauere Begründung des sog. „effektiven Kollaps“ der Wellenfunktion (vgl.
Abschn. 5.1.5).
35 Technisch ausgedrückt bildet man in der Dichtematrix die Spur über die Freiheitsgrade der
Umgebung. Dadurch wird sie (in der bevorzugten Basis) näherungsweise diagonal. Die Neben-
diagonalelemente aber sind es gerade, die für Interferenzeffekte verantwortlich sind.
216 O. Passon
Messung der entsprechenden Observablen am System | den Zustand |ψi zu er-
halten. In der de Broglie-Bohm-Theorie gilt dieselbe Aussage – hier allerdings auf
der Grundlage, dass die Konfiguration der Teilchen diesen Teil der Wellenfunktion
auszeichnet. In der GRW-Theorie schließlich handelt es sich um die Wahrschein-
lichkeit, dass der dynamische Kollaps der Wellenfunktion des Messgerätes zu
diesem Zustand des Systems führt. In all diesen Fällen gibt es zwei Voraussetzungen
für eine sinnvolle Anwendbarkeit des Wahrscheinlichkeitskonzepts: Verschiedene
mögliche Ausgänge sowie Unkenntnis über das tatsächliche Resultat. Innerhalb
der Viele-Welten-Interpretation treten jedoch alle Ergebnisse mit Sicherheit ein. Es
erscheint also zunächst unklar, worauf sich in diesem Zusammenhang Wahrschein-
lichkeitsaussagen überhaupt beziehen können („Inkohärenzproblem“) – geschweige
denn, warum diese Wahrscheinlichkeiten |ci |2 entsprechen sollten („quantitatives
Problem“). Genau diese beiden (jedoch eng zusammenhängenden) Aspekte werden
in der Diskussion des Wahrscheinlichkeitsproblems unterschieden.
Der Status von Wahrscheinlichkeitsaussagen innerhalb der Everett-Interpretation
hat zu einer technisch und konzeptionell hoch komplexen Debatte geführt. Einige
wichtige Beiträge dieser Diskussion wollen wir im Folgenden darstellen. Auch hier
zeigt sich, dass mit dem Aufkommen der Dekohärenztheorie eine Zäsur innerhalb
der Debatte verbunden war.
Das Inkohärenzproblem
Natürlich hat das Amplitudenquadrat |ci |2 in der Everett-Interpretation immer noch
die mathematischen Eigenschaften, die es formal zu einem Wahrscheinlichkeitsmaß
(auf der Menge der Verzweigungen) qualifizieren. Jedoch sind die ci eben „Ver-
zweigungsamplituden“, und jeder Zweig beansprucht in dieser Deutung dieselbe
Realität. Sowohl Everett als auch später DeWitt und Graham scheinen diesen Unter-
schied nicht ausreichend gewürdigt zu haben, denn sie behaupteten, die Bornsche
Regel sogar herleiten zu können:
The conventional probability interpretation of quantum mechanics thus emerges from the
formalism itself. (DeWitt und Graham 1973, S. 163)
Diese Behauptung stützen DeWitt und Graham auf das folgende mathematische
Resultat:37 Betrachtet man eine Serie von N Messungen an einem Überlage-
rungszustand mit Koeffizienten ci , wird im Grenzwert N → ∞ der Zustand des
Gesamtsystems (= N Messapparate + N Systeme) gegen einen Eigenzustand des
sog. „ relativen Häufigkeitsoperators“ für den Messwert i konvergieren. Dieser
Operator misst – wie der Name sagt – gerade die relative Häufigkeit, mit der
das Experiment den Ausgang i genommen hat. Als zugehöriger Eigenwert ergibt
sich nun tatsächlich der Wert |ci |2 . Darin einen Beweis der Bornschen Regel zu
sehen, verkennt jedoch, dass bei realen Experimenten der Wert für N immer end-
lich ist und daher Zweige mit abweichender Statistik vorkommen. Nun wird man
mit Recht erwarten, dass deren Amplitudenquadrat „klein“ ist. Die Behauptung,
dass diese Ereignisse damit auch mit einer geringen Wahrscheinlichkeit auftreten,
37 Dieser
Satz wurde von Neil Graham 1970 im Rahmen seiner von DeWitt betreuten Promotion
gefunden. Bereits 1968 hatte James Hartle ein äquivalentes Resultat bewiesen.
218 O. Passon
gilt jedoch nur, falls das Quadrat der Verzweigungsamplituden tatsächlich mit ei-
ner Wahrscheinlichkeit identifiziert wird. Damit ist das Argument jedoch zirkulär,
denn diese Identifikation soll ja gerade begründet werden (vgl. Barrett 2003, S. 163;
Deutsch 1985, S. 20 oder Ballentine 1971, S. 234).
Eine echte Lösung des Inkohärenzproblems hat David Deutsch in derselben
Arbeit vorgeschlagen, in der er auch die Frage der bevorzugten Basis behandelt hat.
Sie geht auf die Intuition zurück, dass der wahrscheinlichere Ausgang auch der häu-
figere ist. Während bei DeWitt einzelne Welten verzweigen, postuliert Deutsch eine
(überabzählbar) unendliche Anzahl identischer Kopien derselben Welt (siehe Axi-
om 8 in Deutsch 1985, S. 20). Im Falle einer Messung (mit i möglichen Messwerten)
verzweigt nun ein relativer Anteil pi in Welten mit dem entsprechenden Versuchs-
ausgang. Dieser Anteil entspricht dann der Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des
Ereignisses i (in „ meiner“ Welt). Deutsch löst das Inkohärenzproblem also durch
eine Ergänzung der „Ontologie“ der Theorie.
Die Many-minds-Interpretation von Albert und Loewer (1988) verfährt struktu-
rell identisch. Wie wir gesehen haben, werden auch dort jedem Beobachterzustand
unendlich viele minds zugeordnet. Diese sollen im Falle einer Messung (mit i mögli-
chen Messwerten) ebenfalls zu einem Bruchteil pi den Bewusstseinsinhalt „ Ereignis
i ist eingetreten“ annehmen.
Setzt man nun diesen Anteil pi der minds bzw. Welten (bei Deutsch) gleich
dem Amplitudenquadrat |ci |2 , erhält man ebenfalls eine (Ad-hoc) Lösung des
quantitativen Problems.38
Diese beiden Vorschläge basieren natürlich auf speziellen Lösungen des Pro-
blems der bevorzugten Basis (vgl. Abschn. 5.2.3), die mit dem Aufkommen der
dekohärenzbasierten Ansätze als überholt gelten. Es liegt hier also die kuriose Si-
tuation vor, dass gerade die (in den Augen vieler Physiker) überzeugende Lösung
des Problems der bevorzugten Basis dazu führt, dass der Wahrscheinlichkeitsbegriff
erneut wie ein Fremdkörper in der Everett-Interpretation erscheint.
Es existieren nun verschiedene Ansätze, als Ausweg aus diesem Dilemma
zunächst einen Begriff von „Unsicherheit“ bzw. „Unbestimmtheit“ innerhalb der
Everett-Interpretation zu begründen. Dieser erscheint vielen Autoren als not-
wendige Bedingung dafür, dass Wahrscheinlichkeitsaussagen überhaupt sinnvoll
getroffen werden können.
Vaidman (1998) hat einen solchen Versuch unternommen. Er betrachtet eine
Messung, deren mögliche Ausgänge mit A und B bezeichnet werden. Zwar, so Vaid-
man, sei in der Welt A die Wahrscheinlichkeit für den Ausgang A trivialerweise 1,
jedoch könne ein Experimentator in der Welt A über diesen Umstand durchaus in
Unkenntnis sein – etwa solange der Beobachter in Welt A sein Messgerät noch nicht
abgelesen hat.
Ob diese Form der Unkenntnis ausreicht, den Begriffen Wahrscheinlichkeit und
Zufall eine sinnvolle Bedeutung zu geben, ist jedoch unklar. David Albert (siehe
Albert 2010, S. 367f) wendet ein, dass diese Unsicherheit zum einen vermeidbar ist
und zudem erst nach Durchführung des Experiments auftritt.
Simon Saunders hat eine stärkere Version dieser „subjektiven Unbestimmtheit“
entwickelt, die sich dem Anspruch nach auch auf Situationen vor Durchführung
einer Messung anwenden lässt. Er argumentiert, dass die Verzweigung in ver-
schiedene Welten subjektiv indeterministisch verläuft. Auf der Grundlage einer
spezifischen Definition von „personaler Identität“ sieht Saunders in jeder „Kopie“
des Beobachters ein zukünftiges Selbst des ursprünglichen Beobachters. In diesem
Sinne dürfe die Person vor einer Messung Unsicherheit darüber erleben, welche
Person sie nach einer Messung sei (vgl. Saunders 1998). Eine andere Begrün-
dung von subjektiver Unbestimmtheit in der Everett-Interpretation geht auf David
Wallace zurück, der die Semantik von Wahrscheinlichkeitsaussagen zum Ausgangs-
punkt macht (vgl. Wallace 2005). Diese Ergebnisse sind jedoch Gegenstand einer
kontroversen Debatte (vgl. etwa Greaves 2004 für Kritik an diesen Positionen). Am
Ende des nächsten Unterabschnitts werden wir noch einen weiteren Vorschlag zur
Behandlung des Inkohärenzproblems kennen lernen.
werden hier also funktional gedeutet, nämlich als Faktoren, die das Verhalten leiten.
Die Grundbegriffe dieser Theorie sind „Zustände der Welt“ (si ∈ S), „Handlungen“
(A, B, . . .), deren „Konsequenzen“ (C) sowie „Präferenzen“, die ein Akteur den
Handlungen zuordnet. Diese Präferenzen definieren eine Ordnung auf der Menge
der Handlungen: A ≥ B ≥ C · · · (sprich: „Handlung A wird gegenüber B bevorzugt;
diese gegenüber C etc.“).
Formal sind Handlungen Abbildungen zwischen den Zuständen der Welt und
den Konsequenzen (A(s) ∈ C). Der betrachtete Akteur besitzt nur unvollständige
Kenntnis über den tatsächlichen Zustand der Welt – und damit auch über die Konse-
quenzen seiner Handlungen. Die Entscheidungstheorie kann nun das sogenannte „
Darstellungstheorem“ beweisen: Unterliegen die Präferenzen für Handlungen sog.
Rationalitätsbedingungen,39 können diese Präferenzen durch eine eindeutige Nütz-
lichkeitsfunktion U für die Konsequenzen sowie ein Wahrscheinlichkeitsmaß p für
die Zustände ausgedrückt werden:
In diesem Ausdruck steht EU(A) für expected utility (also: „erwartete Nützlichkeit“
der Handlung), und die vom Akteur beschlossene Bevorzugung der Handlung A ge-
genüber der Handlung B übersetzt sich in die Bedingung EU(A) > EU(B). Greaves
fasst diesen Zusammenhang wie folgt zusammen:
This result guarantees an operational role for subjective probability: any rational agent
will (at least) act as if she is maximizing expected utility with respect to some probability
measure. (Greaves 2007, S. 113)
39 Der Begriff „Rationalität“ wird hier in einem sehr schwachen Sinne verwendet. Die Entschei-
dungstheorie untersucht logische Einschränkungen an Präferenzen und hat keinen Anspruch, diese
inhaltlich zu bestimmen. Eine typische Rationalitätsforderung ist die Transitivität von Präferen-
zen: Bevorzuge ich Handlung A vor Handlung B sowie B vor C, so muss auch A der Vorzug vor C
gegeben werden.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 221
We might instead call it the agent’s ‚caring measure‘, since the measure quantifies the extent
to which (for decision-making purposes) the agent cares about what happens on any given
branch. (Greaves 2007, S. 118)
Der rationale Akteur handelt also so, dass die erwartete Nützlichkeit über alle
Zweige der Wellenfunktion hinsichtlich des |ci |2 -Maßes maximiert wird, weil er
weiß, dass tatsächlich alle Ergebnisse realisiert werden.
Ein weiterer Einwand gegen die entscheidungstheoretische Begründung von
Wahrscheinlichkeit bezieht sich darauf, dass dieses Programm voraussetzt, dass der
rationale Akteur die Gültigkeit der Everett-Interpretation annimmt. Welche Argu-
mente gibt es jedoch dafür? Diese Frage berührt das sog. Evidenzproblem der
Everett-Interpretation, also die Frage, wie durch Messergebnisse eine Bestätigung
40 Damit trifft die Everett-Variante des Darstellungstheorems sogar eine stärkere Aussage als ihr
I have left undiscussed the often-unspoken, often-felt objection to the Everett interpretation:
that it is simply unbelievable. This is because there is little to discuss: that a scientifc theory
is wildly unintuitive is no argument at all against it, as twentieth century physics proved
time and again. (Wallace 2010, S. 23)
Gegen diese lapidare Bemerkung lässt sich einwenden, dass die Everett-Inter-
pretation in ihrer Anwendung des „ wissenschaftlichen Realismus“ weiter geht als
andere Theorien der modernen Physik. Der wissenschaftliche Realist vertritt die
Auffassung, dass der Erfolg einer wissenschaftlichen Theorie am besten dadurch
zu erklären ist, dass man die Existenz der von ihr postulierten Objekte und Eigen-
schaften annimmt (vgl. Bartels 2007). Diese These bezieht sich also ausdrücklich
auf nicht direkt beobachtbare Objekte wie Quarks, schwarze Löcher etc.42 Die
Anhängerin der Everett-Interpretation folgert in genau diesem Sinne, dass die Ver-
zweigung der Wellenfunktion die Existenz paralleler Welten impliziert. Besonders
treffend beschreibt Ballentine diesen Sachverhalt:
Rather than deny that a state vector can be a complete model of the real world, Everett and
DeWitt choose to redefine „the real world“ so that a state vector [. . .] can be a model of it.
(Ballentine 1971, S. 232)
von David Deutsch oder der Many-minds-Interpretation nach Albert und Loewer
wird hier immerhin überflüssig.
Die Lösung des Messproblems der Viele-Welten-Interpretation beruht auf ei-
ner weiteren starken metaphysischen Annahme: Um auf „externe Beobachter“ zu
verzichten, bezieht sie die Messung und Beobachtung in die sich verzweigenden
Welten ein. Dies setzt voraus, das die mentalen Zustände des Beobachters ebenfalls
quantentheoretisch beschrieben werden können.43 Dieser Physikalismus ist zwar
eine verbreitete Position, jedoch wird in der Philosophie des Geistes kontrovers
diskutiert, ob auf dieser Grundlage das Qualia-Problem oder die typische Intentio-
nalität mentaler Zustände erklärt werden können. Die Lösung des Messproblems an
diese Voraussetzung zu knüpfen, erscheint zumindest ungeschickt.
Eine noch viel grundsätzlichere Kritik übt Tim Maudlin (vgl. Maudlin 2010).
Er bezweifelt, dass die Everett-Interpretation tatsächlich eine Lösung des Mess-
problems darstellt. Nach üblicher Auffassung (etwa auch gemäß Maudlin 1995!)
besteht das Messproblem im Wesentlichen darin, die Superposition makroskopisch
verschiedener Zustände (also verschiedener Zeigerstellungen, toter und lebendiger
Katzen etc.) zu interpretieren. Nach dieser Lesart ist dann die Messung an ei-
nem Eigenzustand unproblematisch. Sei |M0 der Zustand eines Messgerätes vor
der Messung und |ψ1 der Eigenzustand eines Systems hinsichtlich der Größe,
die von M gemessen wird. Dann liegt liegt nach seiner Messung der Gesamtzu-
stand |M1 |ψ1 vor. Maudlin bezweifelt nun die vorgebliche Einfachheit dieses
Spezialfalles und stellt die Frage, in welchem Sinne ein Zustand (etwa |M1 ) in
einem hochdimensionalen Vektorraum überhaupt den definierten räumlichen Zu-
stand eines Messgerätes („ Zeiger auf Stellung 1“) repräsentieren kann. Er kritisiert
die übliche Sprechweise, nach der die Wellenfunktion auf dem Konfigurations-
raum definiert ist, denn die „räumliche Konfiguration“ aller Teile, die durch einen
Punkt dieses Konfigurationsraumes dargestellt wird, ist gar nicht Bestandteil aller
Interpretationen der Quantentheorie. Während in der de Broglie-Bohm-Theorie die
räumliche Konfiguration aller Teile auf dem R3 expliziter Bestandteil der Beschrei-
bung ist, kann sich in einer „ wellenmonistischen“ Theorie auf dieses Konzept gar
nicht bezogen werden (siehe Maudlin 2010, S. 126f). Dem Vertreter der Everett-
Interpretation (und dasselbe trifft auf einige Varianten der GRW-Theorie zu) fehlen
nach Maudlin somit die Ressourcen, um eine Verbindung zu den lokalisierten
Objekten unserer niedrigdimensionalen Raumzeit herzustellen:
For if the result of a measurement consists in, say, a pointer pointing a certain way, and if
a pointer is made of particles, then if there are no particles there is no pointer and hence no
outcome. All of this talk of a wavepacket „representing“ an outcome is unfortunate: what
the wavefunction monist has to defend is that the outcome just is the wavefunction taking a
certain form (in some high-dimensional space). (Maudlin 2010, S. 130)
N
m(x, t) = mi d3 x1 · · · d3 xN δ(x – xi )|ψ(x1 , · · · , xN )|2 (5.15)
i=1
Die Massendichte an einem Punkt x wird also dadurch gewonnen, dass die
Wahrscheinlichkeitsdichte |ψ|2 über den gesamten restlichen Konfigurationsraum
integriert wird (dies ist genau analog zur Vorschrift in Schrödinger 1926). Der Viele-
Welten-Charakter dieser Theorie ist nun offensichtlich: Verzweigt sich zum Beispiel
die Wellenfunktion von Schrödingers Katze in die disjunkten Anteile ψlebendig und
ψtot , wird (5.15) auf wechselwirkungsfreie Massendichten mlebendig und mtot führen.
Die durch diese Massendichten beschriebenen Objekte können bildlich gesprochen
als „ reciprocally transparent“ (Allori et al. 2011, S. 7) betrachtet werden.
44 Damit besteht eine konzeptionelle Ähnlichkeit zur de Broglie-Bohm-Theorie, die bei einem
Blick auf die Autorenliste auch nicht verwundert: Mit Valia Allori, Sheldon Goldstein, Roderich
Tumulka und Nino Zanghì finden wir hier profilierte Vertreter der Bohmschen Mechanik.
45 Auf diese Schwierigkeit wurde Schrödinger von Hendrik Antoon Lorentz brieflich im März 1926
Wir wollen dieses Kapitel mit einer knappen Zusammenfassung schließen, die vor
allem einige Zusammenhänge zwischen Bohm, Everett und den im zweiten Kapitel
vorgestellten Deutungen (Ensemble- und Kopenhagener-Interpretation) herstellt.
Sowohl die de Broglie-Bohm-Theorie als auch die Everett-Interpretation der
Quantenmechanik verzichten auf eine unstetige Zustandsänderung der Wellen-
funktion („Kollaps“). Beide Interpretationen beinhalten also tatsächlich sämtliche
Zweige der sich bei jeder Wechselwirkung aufspaltenden Wellenfunktion. Die
Nichtbeobachtbarkeit von Überlagerungen makroskopisch verschiedener Zustände
(etwa beim Akt der Messung – aber die Messung ist natürlich nur ein typisches Bei-
spiel für die Wechselwirkung mit einem makroskopischen Objekt) muss in beiden
Deutungen also begründet werden. Für die Lösung dieses Problems wählen sie
unterschiedliche Strategien.
Die Bohmsche Lösung des Messproblems besteht darin, dass die zusätzlich
eingeführte räumliche Konfiguration der „ Bohmschen Teilchen“ jenen Teil der
Wellenfunktion auszeichnet, der der Anzeige des Messgerätes entspricht.48 Zu
einer Mehrdeutigkeit der Zeigerstellung kann es ja schon deswegen nicht kom-
men, da auch jeder Zustand eines Messgerätes durch die eindeutige Konfiguration
dieser Bohmschen Teilchen charakterisiert ist. Durch geeignete Anfangsbedin-
gungen können auf diese Weise alle statistischen Vorhersagen der Quantenmechanik
reproduziert werden. In diesem Sinne ergänzt die de Broglie-Bohm-Theorie die
Ensemble-Interpretation der Quantenmechanik um einen Mechanismus, der das
Verhalten der Ensemble-Mitglieder beschreibt.
nicht-lokal ist. Das Problem der bevorzugten Basis und die Rolle von Wahrscheinlichkeitsaussagen
können in dieser Theorie ebenfalls anders behandelt werden.
48 Die Beschreibung des „effektiven Kollaps“ der Wellenfunktion profitiert zudem von den
Bis auf Ortsmessungen wird hier jedoch keine Eigenschaft der Quantenobjekte
festgestellt, die vor der Messung bereits vorlag. Originellerweise kann diese Form
der Kontextualität als Präzisierung eines Hinweises von Bohr gedeutet werden, der
etwa in folgendem Zitat anklingt: „The procedure of measurement has an essential
influence on the conditions on which the very definition of the physical quantities in
question rests“ (Bohr 1935, S. 1025).49 Die „Erzeugung“ oder „ Hervorbringung“
des Resultats durch und im Akt der Messung ist ebenfalls ein Teil der Kopenhagener
Deutung. Im Gegensatz zur Kopenhagener Deutung bietet die de Broglie-Bohm-
Theorie jedoch einen physikalischen Mechanismus, der diesen Vorgang realistisch
deutet. Über die Plausibilität dieses Mechanismus ist damit natürlich noch keine
Aussage getroffen.
Noch auf einem anderen Niveau kann eine Parallele zwischen der de Broglie-
Bohm-Theorie und der Kopenhagener Deutung hergestellt werden: Charakteristisch
für die de Broglie-Bohm-Theorie ist die Beschreibung der physikalischen Realität
durch das Paar aus Wellenfunktion und Konfiguration (formal: (ψ, Q)). Wie in
Abschn. 2.2.2 erwähnt, behauptet die Kopenhagener Deutung eine „unaufhebbare
Verknüpfung“ zwischen Mikrosystem und Messgerät (bzw. Makrowelt). In diesem
Sinne beschreibt die Kopenhagener Deutung die physikalische Welt also ebenfalls
durch ein Paar – formal etwa durch (ψ, „ Makrowelt“) auszudrücken.50 In der
de Broglie-Bohm-Theorie wird das zweite Element dieses Paares also durch die Ob-
jekte ersetzt, die dieser Theorie zufolge die Konstituenten der Makrowelt darstellen.
Im Falle der Everett-Interpretation sind alle möglichen Ausgänge einer Mes-
sung tatsächlich realisiert. Dies entzieht sich jedoch der Beobachtung, da jeder
Beobachter dieser Aufspaltung ebenfalls unterliegt. Die Integration eines plausi-
blen Wahrscheinlichkeitsbegriffs und die Begründung der Bornschen Regel (also
der beobachtbaren relativen Häufigkeiten) sind, wie wir in Abschn. 5.2.5 diskutiert
haben, problematisch. Jedoch haben die Arbeiten auf dem Gebiet der Dekohärenz
plausibel gemacht, wie die Zeigerbasis eines Messgerätes tatsächlich ausgezeichnet
wird. Diese „dekohärenzbasierte“ Version der Viele-Welten-Interpretation verzich-
tet somit auf einigen ontologischen Ballast, der älteren Formulierungen vorgeworfen
wurde.
Die Aufspaltung in unendlich viele Welten erscheint natürlich immer noch ra-
dikal und exzentrisch. Vor diesem Hintergund mag man zumindest hinsichtlich der
Lösung des Messproblems die de Broglie-Bohm-Theorie bevorzugen. Zahlreiche
Autoren haben jedoch darauf hingewiesen, dass diese natürlich ebenfalls sämtliche
Zweige der sich bei jeder Wechselwirkung aufspaltenden Wellenfunktion enthält.
49 Bohr sah darin jedoch keinen kausalen Zusammenhang, sondern verglich den Einfluss der Mes-
sung auf das Messergebnis mit dem Zusammenhang zwischen Bezugssystem und Beobachtung in
der speziellen Relativitätstheorie.
50 Diese Paarbildung soll ausdrücken, dass auch innerhalb der Kopenhagener Deutung eine voll-
ständige Beschreibung der physikalischen Welt mit Bezug auf die Wellenfunktion allein nicht
gelingt. Das klassische Lehrbuch von Landau und Lifschitz formuliert diesen Zusammenhang
besonders pointiert: „Die Quantenmechanik nimmt also eine sehr eigenartige Stellung unter
den physikalischen Theorien ein: Sie enthält die klassische Mechanik als Grenzfall und bedarf
gleichzeitig dieses Grenzfalles zu ihrer eigenen Begründung.“ (Landau und Lifschitz 2012, S. 3).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 227
Übungsaufgaben zu Kap. 5
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Quantenfeldtheorie
6
Meinard Kuhlmann und Manfred Stöckler
Inhaltsverzeichnis
6.1 Charakterisierung der Quantenfeldtheorie ........................................................... 231
6.2 Raumzeitliche Beschreibung von Prozessen......................................................... 233
6.3 Mathematische Struktur der Quantenfeldtheorie ................................................... 235
6.4 Interpretationen der Quantenfeldtheorie .............................................................. 258
6.5 Neue Wege der Interpretation ........................................................................... 268
Übungsaufgaben zu Kap. 6 ...................................................................................... 273
Literatur zu Kap. 6 ................................................................................................. 273
Viele ihrer philosophischen Probleme teilt die Quantenfeldtheorie (QFT) mit der
Quantenmechanik. Dazu gehören der Messprozess und die damit zusammenhän-
genden Interpretationsprobleme, zu denen die QFT nichts Neues beiträgt. Auch
die Frage, wie die Objekte, die die Theorie beschreibt, in den Raum eingebettet
sind, wird schon in der Quantenmechanik diskutiert. Die neuen mathematischen
Strukturen der QFT lassen allerdings auch neue Antworten erwarten, so dass die
raumzeitliche Interpretation der Theorie ein wichtiges Thema wird. Die QFT scheint
auch eine Sicht auf die Unterscheidbarkeit und die Identität der Quantenobjekte
und auf die Geltung des Leibniz-Prinzips (vgl. Kap. 3) zu eröffnen, die über die
der Quantenmechanik hinaus geht. Die Frage, über welche Art von Gegenständen
M. Kuhlmann ()
Philosophisches Seminar, Universität Mainz, Deutschland
e-mail: mkuhlmann@uni-mainz.de
M. Stöckler
Institut für Philosophie, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
e-mail: stoeckl@uni-bremen.de
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 231
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_6
232 M. Kuhlmann und M. Stöckler
und Eigenschaften die QFT spricht, hat für klassische Themen der Naturphilo-
sophie eine besondere Bedeutung, weil sie als fundamentale Theorie der Materie
für die Ontologie besonders relevant ist. Für die Wissenschaftstheorie ist die QFT
reizvoll, weil es sich um eine Theorie handelt, deren Entwicklung noch nicht ab-
geschlossen ist und deren provisorischer Charakter dafür, wie Physiker wirklich
arbeiten, viel typischer ist als die vereinfachten Lehrbuchdarstellungen, auf die sich
philosophische Analysen häufig beziehen.
Die QFT ist der mathematische und begriffliche Rahmen, in dem die Physik der
Elementarteilchen formuliert ist. Hier wird man beginnen, wenn man untersucht,
welches Bild von der Materie die gegenwärtige Physik nahe legt. Allerdings kann
man die Antwort auf diese Fragen nicht einfach aus dem mathematischen Forma-
lismus ablesen. Weder in der Physik noch in der Philosophie herrscht Einigkeit
darüber, von welchen Typen von Gegenständen die Theorie handelt. Diese Frage
steht im Mittelpunkt der gegenwärtigen philosophischen Debatten über die QFT
und bildet auch den Schwerpunkt dieses Kapitels.
In mathematischer Hinsicht kommt man zur QFT, wenn man die heuristischen
Verfahren, die von der klassischen Punktteilchen-Mechanik z. B. zur Schrödinger-
Gleichung führen, auf klassische Feldtheorien anwendet. In dieser Sichtweise ist
die QFT eine Quantentheorie von Systemen mit unendlich vielen Freiheitsgraden.
Unter Freiheitsgraden versteht man allgemein voneinander unabhängige Bewe-
gungsmöglichkeiten. So sind z. B. den drei Freiheitsgraden eines Punktteilchens
drei unabhängige Ortskoordinaten zugeordnet. Die Anzahl der Freiheitsgrade be-
stimmt die Anzahl der Angaben, die man braucht, um den Zustand eines Systems
zu charakterisieren. Bei einem einzelnen klassischen Teilchen reicht die Angabe
der drei Komponenten seines Orts und der drei Komponenten seines Impulses. Zur
Charakterisierung eines Feldes müssen für jeden Ort die Feldamplitude und ein zu-
geordneter Feldimpuls angegeben werden. In mathematischer Hinsicht ähnelt ein
Feld also einem System aus unendlich vielen Teilchen, die durch die räumlichen
Koordinaten unterschieden werden. Für viele Zwecke kann man das Verhältnis von
Quantenmechanik und QFT in diesem Sinn als Übergang von endlich vielen zu
unendlich vielen Freiheitsgraden ansehen.
Dieser Übergang ist eigentlich schon notwendig, wenn man die Schrödinger-
Gleichung benutzt, um Atomspektren zu berechnen. Die Quantenmechanik ist
hier nämlich in einer charakteristischen Weise unvollständig, weil die Wechselwir-
kung von elektromagnetischer Strahlung und Materie (die ja den Test der Theorie
überhaupt erst ermöglicht) dabei ganz ausgeklammert oder nur halbklassisch be-
rücksichtigt wird. Schon in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts arbeiteten
M. Born, W. Heisenberg und P. Jordan sowie P. Dirac an Ansätzen zu einer Quanten-
theorie des elektromagnetischen Feldes und seiner Wechselwirkung mit der Materie
(„Feldquantisierung“). Dabei zeigte sich, dass in der QFT Materie (wie Elektronen)
und Strahlung (wie Licht) in mathematischer Hinsicht auf ganz ähnliche Weise
beschrieben werden können. Im Rahmen der QFT ist es gelungen, frühere eher
heuristische Vorstellungen über den Teilchencharakter, den z. B. Licht unter be-
stimmten Umständen zeigt, und den Wellencharakter, den Materie unter bestimmten
Umständen zeigt, in einem einheitlichen mathematischen Formalismus zu erfas-
sen. Zugleich wurde dabei deutlich, dass die alte Einteilung, nach der Materie aus
6 Quantenfeldtheorie 233
Bevor wir die raumzeitliche Einbettung von Prozessen in der QFT analysieren, soll
zusammenfassend dargestellt werden, wie die klassische Physik die Vorgänge in
der Natur in dem Rahmen von Raum und Zeit anordnet. Dabei wollen wir uns
zunächst auf die räumliche Einordnung konzentrieren. Man kann zwei Arten von
räumlicher Einbettung unterscheiden, die zugleich zu verschiedenen Gegenstands-
konzeptionen, d. h. zu verschiedenen Ontologien führen: die Teilchenontologie und
die Feldontologie (bzw. die Teilchenvorstellung und die Feldvorstellung).
Die Annahme der Teilchenstruktur der Materie liegt in der Tradition des me-
chanistischen Denkens, und diese Annahme hat sich sowohl im Großen (bei der
Erklärung der Planetenbahnen) als auch im Kleinen (in der kinetischen Wärme-
theorie) bestens bewährt. Auch bei der Untersuchung der neu entdeckten Elektronen
stellte man fest, dass sie offenbar einer Bahn folgen und ihre Masse und Ladung im-
mer in Vielfachen einer Elementarmasse und einer Elementarladung auftreten, und
klassifizierte so die Elektronen als Teilchen.
In der klassischen Mechanik sind die fundamentalen Objekte Teilchen, de-
ren Ausdehnung im Idealfall verschwindend klein ist. Der Zustand eines solchen
Punktteilchens ist festgelegt, wenn man seine drei Ortskoordinaten und die drei
Komponenten des Impulses angegeben hat. Die Teilchen (Korpuskel) sind zu je-
der Zeit lokalisiert, und ihre Aufenthaltsorte ergeben im zeitlichen Verlauf eine
kontinuierliche Bahn. Eine solche Bahn (Trajektorie) kann durch eine Funktion
x(t) beschrieben werden, die für jeden Zeitpunkt t den Ort x angibt, an dem sich
das Teilchen befindet. Diese Bahn erlaubt es auch, dasselbe Teilchen zu einem
späteren Zeitpunkt wiederzuentdecken. So wird es möglich, Teilchen zu identifi-
zieren und als „Individuen“ in ihrer Bewegung zu verfolgen. Sofern es sich um
nicht zusammengesetzte Teilchen handelt, sind sie unzerstörbar. Im mathema-
tischen Formalismus der klassischen Mechanik ist das Entstehen oder Vergehen
eines Teilchens nicht beschreibbar.
234 M. Kuhlmann und M. Stöckler
Im 19. Jh. hatte sich herausgestellt, dass nicht alle Erscheinungen im korpusku-
laren Weltbild erfassbar sind. So trat neben das Teilchenmodell noch eine zweite,
grundlegend verschiedene Weise, Prozesse zu beschreiben: die Feldphysik. In der
Feldphysik wird der Zustand eines physikalischen Systems durch die Angabe der
Feldstärke (genauer: der geeignet definierten Feldgröße und des zugeordneten Feld-
impulses) in jedem Raumzeit-Punkt festgelegt. Hier gibt es keine Individuen, wie
z. B. Punktteilchen in der Mechanik, die Träger des Geschehens sind. In einem ge-
wissen Sinn wird der Raum selbst Träger von Eigenschaften. Während man etwa
in der Hydrodynamik trotz der Feldbeschreibung eine diskontinuierliche Teilchen-
Substruktur annimmt, ist das elektromagnetische Feld ein Standardbeispiel für
ein fundamentales Feld. In der Theorie der elektrischen Felder wird z. B. jedem
Raumzeit-Punkt (x, t) eine Feldstärke E(x, t) zugeordnet, die angibt, welche Kraft an
der Stelle (x, t) auf eine Probeladung ausgeübt wird. In der Auseinandersetzung um
die Natur des Lichtes hatte sich die Wellen- bzw. Feldauffassung durchgesetzt, weil
mit ihr Interferenz- und Beugungsphänomene gut erklärt werden können. Während
nach der klassischen Vorstellung zwei Teilchen nicht den gleichen Raumzeit-Punkt
einnehmen können und die Energie des Teilchens immer am Aufenthaltsort konzen-
triert ist, können sich Felder gegebenenfalls überlagern, in bestimmten Bereichen
durch Interferenz sogar auslöschen, und die kontinuierlich verteilte Energie kann
sich im Raum verdünnen.
Die Teilchen- und die Feldontologie sind in einem gewissen Sinn Nachfolger
von älteren naturphilosophischen Ideen, nämlich einerseits atomistischen Konzep-
tionen und andererseits Plenumsauffassungen. Gegen Ende des 19. Jh. schien die
Auseinandersetzung zwischen beiden durch eine Aufteilung der Welt geschlichtet
zu sein: Die Teilchenontologie beschreibt die Materie und die Feldontologie die
Kräfte, z. B. das elektromagnetische Feld. Obwohl Teilchen und Felder auf den
ersten Blick ganz unterschiedliche Wesenheiten zu sein scheinen, so gibt es doch
Gemeinsamkeiten in der mathematischen Beschreibung. In diesem Rahmen kann
man das klassische Feld als Grenzfall eines mechanischen Systems mit unendlich
vielen Freiheitsgraden auffassen, wobei die Ortsfunktion x in der Feldgröße (x, t)
formal die Rolle der Teilchenindizes i bei den Koordinaten qi (t) übernimmt.
Mit dem Übergang von der klassischen Mechanik zur Quantenmechanik be-
gannen die Schwierigkeiten mit der räumlichen Einbettung der von der Physik be-
schriebenen Objekte. Die räumlichen Aspekte der Interpretation der Quantentheorie
wurden zunächst vor allem unter dem Stichwort des Teilchen-Welle-Dualismus dis-
kutiert. Erfahrungsnaher Ausgangspunkt waren dabei die Probleme, die die Wech-
selwirkung von Strahlung und Materie aufwarfen. So zeigte A. Einstein (1905), dass
sich Strahlung (Licht) von geringer Intensität in thermodynamischer Hinsicht so ver-
hält, als ob sie aus unabhängigen Energiequanten hν bestünde, und dass mit dieser
Vorstellung auch eine elegante Erklärung des Photoeffekts möglich wird. So kam es
zu einer gängigen Vorstellung, nach der sowohl Materie als auch das elektromagne-
tische Feld sich manchmal so verhalten, als seien sie aus Teilchen zusammengesetzt,
und manchmal so, als seien sie Felder. Sehr früh wurde von den Physikern auch
die Frage gestellt, ob die raumzeitliche Beschreibung von Prozessen in der Mikro-
physik generell an ihre Grenzen gestoßen ist (vgl. Jammer 1966, S. 326). Für Niels
6 Quantenfeldtheorie 235
Bohr schlossen sich die Anwendbarkeit von kausaler und raumzeitlicher Beschrei-
bung aus. Prozesse können demnach nicht gleichzeitig dynamische Erhaltungssätze
befolgen und raumzeitlich eingeordnet werden.1
Im Rahmen der „klassischen“ Quantenmechanik konnten weder der Teilchen-
Welle-Dualismus noch die räumliche Einbettung der Quantenobjekte wirklich ge-
klärt werden. Solche Fragen spielten jedoch bei der Entwicklung der QFT eine
wichtige heuristische Rolle. In dieser Lage folgten die Physiker überwiegend einer
instrumentalistischen Auffassung von physikalischen Theorien, die Hans Reichen-
bach sehr schön formuliert hat: „. . . und fragt man ihn [den Physiker], ob es wirklich
materielle Teilchen seien, so antwortet er, das sei ein heikle Frage, die er lieber nicht
beantworten wolle. Das bedeutet, dass zu dieser Antwort mehr Philosophie gehört,
als der Physiker bei seiner technischen Untersuchung braucht“ (Reichenbach 1955,
S. 84).
Aus philosophischer Sicht bleiben also die Fragen, ob die QFT überhaupt noch
über Objekte in Raum und Zeit spricht, ob ihr mathematischer Apparat (auch wenn
sie dem Namen nach eine Feldtheorie ist) eher eine Teilchen- oder eine Feld-
ontologie nahe legt, oder ob evtl. ganz andere ontologische Modelle herangezogen
werden müssen. Wie kann man auf solche Fragen eine Antwort finden? Der nahe
liegende Weg ist, nachzusehen, ob die mathematischen Strukturen der QFT (bzw.
einer ihrer Formulierungen) noch die einer Teilchentheorie oder die einer Feldtheo-
rie sind. Die Durchführung dieses Projekts zeigt, dass man in der QFT sowohl
Eigenschaften findet, die Teilaspekten der klassischen Merkmale von Teilchen zu-
geordnet werden können, als auch solche, die zu Merkmalen von Feldern gehören.
Um einen Einblick in die gegenwärtigen Diskussionen um die raumzeitliche Inter-
pretation der QFT zu gewinnen, müssen wir uns also den mathematischen Apparat
der QFT zunächst etwas genauer anschauen.
In diesem Abschnitt soll das heuristische Programm näher dargestellt werden, nach
dem es analog zum Übergang von der klassischen Mechanik zur Quantenmechanik
auch einen Übergang von klassischen Feldern zu quantenphysikalischen Feldern
gibt. Von dieser Warte aus gesehen ist der entscheidende Unterschied, dass sich die
Quantenmechanik sowie die klassische Mechanik der Punktteilchen auf Systeme
mit endlich vielen Freiheitsgraden (auf die Eigenschaften endlich vieler Teilchen)
beziehen, während QFT und klassische Feldtheorien Systeme mit unendlich vielen
Freiheitsgraden behandeln. In beiden Fällen hat, wie schon angedeutet, der Über-
gang von der klassischen Theorie zur entsprechenden Quantentheorie die Folge,
dass die grundlegenden physikalischen Größen nicht mehr durch „normale“ Zahlen
repräsentiert werden, sondern durch Operatoren, also durch ungesättigte mathema-
tische Ausdrücke, die noch auf etwas wirken müssen, um zu bestimmten Werten zu
führen (vgl. Abschn. 1.2.2).
6 Quantenfeldtheorie 237
Der formale Übergang von der klassischen Theorie der Punktteilchen zur Quan-
tenmechanik lässt sich so beschreiben, dass den klassischen Größen Ort und Impuls
bestimmte Vertauschungsrelationen auferlegt werden. Das heißt genauer, dass an-
genommen wird, dass z. B. für die Operatoren, die Ort und Impuls repräsentieren,
Vertauschungsrelationen gelten, nämlich
q ,p ≡ qm pn – pn qm = iδm,n
m n (6.1)
qm , qn = pm , pn = 0
(vgl. Gl. 1.16, Abschn. 1.2.2). Die unteren Gleichungen besagen, dass der Kommu-
tator der Ortsoperatoren und der Kommutator der Impulsoperatoren verschiedener
Teilchen immer gleich null sind (die jeweiligen Messungen also gleichzeitig zu
scharfen Werten führen können), und die oberen Gleichungen, dass der Kommutator
zwischen Orts- und Impulsoperator bei dem gleichen Teilchen (m = n) gleich 1 und
bei verschiedenen Teilchen (m =/ n) gleich 0 ist. Bei diesem Verfahren der Quanti-
sierung einer klassischen Theorie werden Elemente der klassischen Theorie (z. B.
mathematische Ausdrücke für die Repräsentanten von Ort, Impuls und Energie) in
die Quantenphysik übernommen, spielen darin aber eine neue Rolle. Der Name
Quantisierung rührt daher, dass die quantenphysikalischen Operatoren häufig nicht
beliebige Eigenwerte haben, dass z. B. Wasserstoffatome nach der Quantenmecha-
nik nur diskrete Eigenwerte des Energie- oder des Drehimpulsoperators annehmen
können. Das ist neu gegenüber der klassischen Mechanik, in der alle dynamischen
Größen im Prinzip kontinuierliche Werte annehmen können.
Die folgenden Überlegungen wenden sich vor allem an Leserinnen und Leser,
die schon ein wenig besser mit der Physik vertraut sind. Sie führen in eine spezielle
Formulierung der Mechanik ein, die man Lagrange-Formulierung nennt und in der
die Feldquantisierung besonders gut verständlich gemacht werden kann. Die Gl. 6.1,
die sogenannten „kanonischen Vertauschungsrelationen“, gehören bereits zu einer
Formulierung der Mechanik, die sich auf die generalisierten Koordinaten q und die
entsprechenden „konjugierten“ Impulse p bezieht. Der generalisierte Begriff eines
„konjugierten“ oder „kanonischen“ Impulses ist dabei durch p = ∂L∂ q̇ definiert, wobei
L die Langrange-Funktion L = T – V ist, mit der kinetischen Energie T und dem
Potenzial V; der Punkt über dem q bedeutet die Ableitung nach der Zeit. Wieso der
Impuls gerade so definiert ist, lässt sich verstehen, wenn man den speziellen Fall
einer Langrange-Funktion betrachtet, bei der das Potenzial V nur vom Ort abhängt,
so dass (in kartesischen Koordinaten)
∂L ∂ 1 2
= mẋ = mẋ = px .
∂ ẋ ∂ ẋ 2
In diesem Fall ist der generalisierte Impuls also identisch mit dem gewöhnlichen
Impuls der Newtonschen Mechanik. Die Lagrange-Funktion L charakterisiert dabei
das jeweilige System, so dass z. B. ein Drehpendel und ein Fadenpendel verschie-
dene Lagrange-Funktionen haben. Wenn man die Lagrange-Funktion kennt, kann
man in der klassischen Physik bei gegebenen Randbedingungen alle Größen und
238 M. Kuhlmann und M. Stöckler
∂L
π= (6.2)
∂ φ̇
zugeordnet, das als eine partielle Ableitung der Lagrange-Dichte L bestimmt ist.
Diese Lagrange-Formulierung erlaubt es nun, ganz analog zur Quantisierung der
klassischen Mechanik durch (6.1) auch klassische Felder dadurch zu quantisieren,
dass das Erfüllen kanonischer Vertauschungsrelationen
φ(x, t), π (y, t) = iδ 3 (x – y)
(6.3)
φ(x, t), φ(y, t) = π (x, t), π (y, t) = 0.
gefordert wird, und zwar nun für das Feld φ und das entsprechende konjugierte
Feld π . Die Delta-Funktion δ bedeutet, dass φ und π an verschiedenen Orten x und
y vertauschen (ihr Kommutator also 0 ist). Die Vertauschungsrelationen beziehen
sich jeweils auf feste Zeiten t. Dazu möchten wir nochmals in Erinnerung rufen,
dass es sich hierbei um ein heuristisches Verfahren handelt, dessen Ergebnisse sich
im Einzelfall immer auch bewähren müssen. Das Wesen von Quantenfeldern kann
schon deshalb nicht in der Quantisierung von klassischen Feldern bestehen, weil es
für viele Quantenfelder gar kein klassisches Analogon gibt.2
In der QFT sind die den Raumzeit-Punkten (x, t) zugeordneten „Feldwerte“
φ(x, t) Operatoren. Das bedeutet also, dass die „Feldwerte“ keine definiten messba-
ren Eigenschaften mehr sein können, wie etwa die elektromagnetische Feldstärke.
Um zu bestimmten Größen zu gelangen, die konkret gemessen werden können,
müssen die operatorwertigen Quantenfelder auf Zustände wirken. In gleicher Wei-
se braucht man auch in der Quantenmechanik Operatoren und Zustände, um zu
Messwerten und zu der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens zu kommen. In den
Abschn. 6.3.2 und 6.3.3 werden wir mehr über die Natur der Feldzustände er-
fahren und in 6.3.4 ihre Verknüpfung mit dem Experiment kennenlernen. Die
klassische Feldkonzeption verliert in der QFT aufgrund der Operatorwertigkeit der
2 Für Experten: Eine manifest relativistisch invariante Schreibweise ist ebenfalls möglich. Schließ-
lich ist noch zu erwähnen, dass die Vertauschungsrelationen 6.3 nur für bosonische Felder gelten,
wie insbesondere das elektromagnetische Feld. Im Rahmen der QFT werden aber ebenso wie
diese Wechselwirkungsfelder auch materielle „Teilchen“, mit halbzahligem Spin, durch Felder be-
schrieben. Für solche fermionischen Felder, wie etwa das Dirac-Feld für Elektronen, benötigt man
Anti-Vertauschungs-Relationen, die etwas von den Gl. 6.3 abweichen. Wir benutzen im Folgenden
zudem auch das sogenannte Heisenberg-Bild, d. h. wir arbeiten mit zeitabhängigen Operatoren.
6 Quantenfeldtheorie 239
Quantisierung
∧ ∧
(x, p → x , p )
Klassische
Quantenmechanik
Punktmechanik
N→∞
N→∞
Nichtrelativistische Nichtrelativistische
Klassische Feldtheorie Quantenfeldtheorie
Quantisierung
& SRT ∧ ∧ & SRT
(φ, π → φ , π)
Relativistische Relativistische
Klassische Feldtheorie Quantenfeldtheorie
Abb. 6.1 Durch die Forderungen Quantisierung, Übergang auf unendlich viele Freiheitsgrade
und relativistische Invarianz lassen sich strukturelle Zusammenhänge zwischen verschiedenen
Theorien charakterisieren (SRT = Spezielle Relativitätstheorie)
E2 = p2 c2 + m2 c4 (6.4)
für ein Teilchen mit der Masse m als Operatorgleichung zu lesen, die auf die Wellen-
funktion φ(x, t) wirkt. Fasst man dazu Energie und Impuls nach den in der Quanten-
∂
mechanik gängigen Ersetzungsregeln Ê = i ∂t und p̂ = –i∇ (s. Abschn. 1.2.4) als
∂ ∂ ∂
Operatoren auf, mit dem vektoriellen Nabla-Operator ∇ ≡ ( ∂x , ∂y , ∂z ), so gelangt
man unmittelbar zu der relativistischen Wellengleichung
1 ∂2 m2 c2
– ∇ 2
+ φ(x, t) = 0, (6.5)
c2 ∂t2 2
der berühmten Klein-Gordon-Gleichung (für den wechselwirkungsfreien Fall, da
jegliche Wechselwirkung mit anderen Objekten bzw. Feldern ausgeblendet wird).4
Man sieht die relativistische Invarianz dieser Gleichung noch unmittelbarer, wenn
∂2
man sie mit dem Wellenoperator ≡ ∂ μ ∂μ = c12 ∂t 2 – ∇ („D’Alembert-Operator“),
2
( + m2 )φ(x) = 0. (6.6)
Bezugssystem eines inertialen Beobachters zu dem eines anderen übergeht. Die Maxwell-
Gleichungen etwa erfüllen diese Forderung; insbesondere hat Licht im Vakuum für alle diese
Beobachter die gleiche Geschwindigkeit c.
4 Wie in der QFT üblich, werden wir dies im Folgenden kurz als „freie Theorie“ bezeichnen.
6 Quantenfeldtheorie 241
Teilchen“ beschreiben und zwar massive Bosonen mit Spin 0, wie etwa Pionen.
Damit ist aber auch klar, dass sie für Fermionen, insbesondere Elektronen, un-
geeignet ist. Diese werden durch die Dirac-Gleichung beschrieben, dem zweiten
berühmten Ergebnis der Suche nach einer relativistischen Verallgemeinerung der
Schrödinger-Gleichung.
Diese heuristische Herleitung der Klein-Gordon-Gleichung wurde ursprüng-
lich als „erste Quantisierung“ bezeichnet. Hintergrund dieser Bezeichnung ist der
Umstand, dass die Klein-Gordon-Gleichung nicht wie erhofft als relativistische
(quantenmechanische) Wellengleichung für ein Teilchen interpretiert werden konn-
te.5 Als Ausweg wurde die Gl. (6.5) nicht mehr als Bewegungsgleichung für eine
Wellenfunktion, sondern für ein klassisches skalares Feld aufgefasst (und m entspre-
chend zunächst auch nicht als Teilchenmasse), für die eine „zweite Quantisierung“
nach dem in Abschn. 6.3.1 beschriebenen Verfahren durchzuführen ist, in welchem
φ(x) durch Forderung der kanonischen Vertauschungsrelationen für Felder zu einem
Operator wird. Diese Vorgehensweise stellte sich schließlich als erfolgreich heraus,
mit einem physikalisch sinnvollen und tatsächlich realisierten Ergebnis.
Der Begriff einer „zweiten Quantisierung“ ist jedoch insofern sehr irreführend,
als er nahelegt, dass für den Übergang zur QFT zwei Quantisierungen nötig seien.6
Historisch bzw. heuristisch ist das zwar im speziellen Fall des Klein-Gordon-Feldes
in einem gewissen Sinn zutreffend, sachlich jedoch nicht. Die „erste Quanti-
sierung“ war im intendierten Sinne ein Misserfolg, liefert aber ex post betrachtet
das einfachste Beispiel eines klassischen Feldes, das nach dem oben beschriebenen
Verfahren quantisiert werden kann. In modernen Darstellungen startet man daher
oft direkt mit der Lagrangedichte
1 1
LKG = ∂ μ φ∂μ φ – m2 φ 2 (6.7)
2 2
für das klassische Klein-Gordon-Feld, aus der man durch Einsetzen in die
Euler-Lagrange-Gleichung unmittelbar die Feldgleichung, d. h. hier die Klein-
Gordon-Gl. (6.5) erhält.7 Ohne die obige heuristische Herleitung der Klein-Gordon-
Gleichung fällt die Lagrange-Dichte (6.7) natürlich vom Himmel, sie lässt sich
5 Es gibt insbesondere Lösungen mit negativer Energie, die zu unendlichen Kaskaden von ener-
getisch günstigeren Zuständen mit niedrigerer Energie führen würden. Rückblickend kann man
argumentieren, dass es auch nicht zu erwarten ist, dass relativistische Prozesse mit einer Ein-
teilchentheorie beschrieben werden können, da die Energie-Masse-Äquivalenz E = mc2 der
Speziellen Relativitätstheorie die Entstehung von Teilchen-Anti-Teilchen-Paaren erlaubt (Peskin
und Schroeder 1995, Kap. 2). Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Normierung der durch
die Klein-Gordon-Gleichung bestimmten Zustände nicht mehr zeitunabhängig ist, was ihre Inter-
pretation als Antreffwahrscheinlichkeitsdichte unterminiert. Die Klein-Gordon-Gleichung erfüllt
also zwar die Forderungen der Speziellen Relativitätstheorie, nicht aber die der Quantenmechanik
(Srednicki 2007, Kap. 1).
6 Peskin und Schroeder (1995), Fußnote auf S. 19, und Redhead (1988).
7 Im Lagrange-Formalismus lässt sich die jeweilige Bewegungsgleichung, bei Feldern also die
Feldgleichung, dadurch herleiten, dass man die Lagrange-Dichte einem Variationsprinzip unter-
wirft, welches durch die Euler-Lagrange-Gleichung ausgedrückt wird (bzw. genauer: zu dieser
Gleichung führt). So können z. B. durch Einsetzen der Lagrange-Dichte der Elektrodynamik in die
Euler-Lagrange-Gleichung die Maxwell-Gleichungen hergeleitet werden.
242 M. Kuhlmann und M. Stöckler
jedoch auch unabhängig vom gewünschten Ergebnis zumindest motivieren und ist
Vorbild zur Konstruktion weiterer Quantenfeldtheorien.
Eine spezielle Lösung der Klein-Gordon-Gl. (6.5) sind ebene Wellen eip·x ,
die sich in Richtung des Impulses p bewegen, wobei p beliebig wählbar ist. Die
allgemeine (reelle) Lösung der Klein-Gordon-Gleichung lautet
d3 p
φ(x, t) = a(p)eip·x–iωt + a† (p)e–ip·x+iωt (6.8)
f (ωp )
mit den jeweiligen Wellenamplituden a(p) und a† (p) und einem mit der Normierung
zusammenhängenden Faktor f (ωp ), auf den wir hier nicht im Detail eingehen wollen
(Peskin und Schroeder 1995, S. 20–22).8 Die Lösung (6.8) ist eine Zerlegung von
φ(x, t) nach ebenen Wellen bzw. physikalisch gesprochen eine Überlagerung ebe-
ner Wellen mit einem Kontinuum von verschiedenen Frequenzen (eine sogenannte
„Fourier-Zerlegung“).
Führen wir nun das Quantisierungsverfahren für das Feld durch, das von der
Klein-Gordon-Gl. (6.5), bzw. (6.6), beschrieben wird. Wir nehmen also an, dass
es sich um ein klassisches Feld handelt, wobei der Ausdruck m an dieser Stelle
noch ein uninterpretierter Parameter ist. Zur Quantisierung werden φ und das
entsprechende konjugierte Feld π als Operatoren aufgefasst, die die Vertauschungs-
relationen (6.3) erfüllen. Eine wichtige Konsequenz ist, dass die für die allgemeine
Lösung eingeführten Faktoren a(p) und a† (p) ebenfalls zu Operatoren werden, die
folgende Vertauschungsrelationen erfüllen:
mit dem hier wieder nicht explizit angegebenen Faktor f (ωp ) von oben.
Die Operatoren in (6.9) und ihre Vertauschungsrelationen sind entscheidend für
die Charakterisierung des Zustandsraums der Feldzustände. Die Struktur dieser Ver-
tauschungsrelationen ist aus der quantenmechanischen Theorie des harmonischen
Oszillators bekannt. Man kann zeigen, dass der Operator
N(p) = a† (p)a(p)
als Eigenwerte diskrete ganze Zahlen n(p) = 0, 1, 2, . . . hat. Außerdem kann man
zeigen, dass es einen Zustand |0 („Vakuumzustand“) geben muss, für den
a(p)|0 = 0
8 DieFrequenz ω = 2π ν ist über ωp = |p|2 c2 + m2 c4 mit dem Impuls verbunden. In vielen
QFT-Lehrbüchern werden die Lösungen der Klein-Gordon-Gleichung nicht mit den Impulsen p,
sondern mit den Wellenvektoren k formuliert, welche über p = k zusammenhängen und mit der
oben eingeführten Setzung = 1 sogar identisch sind.
6 Quantenfeldtheorie 243
gilt9 (damit die Norm der Eigenzustände |n(p) nicht negativ werden kann). Die
diskreten Eigenwerte des Operators N(p) = a† (p)a(p) gehören zu Eigenzuständen,
die man erhält, wenn man den Operator a† (p) so oft auf den Vakuumzustand |0
wirken lässt, wie der zum jeweiligen Eigenzustand gehörige Eigenwert lautet, d. h.
wobei wir die Normierung hier außer Acht lassen.10 So ist beispielsweise
a† (p)|0 = |1
und
a† (p)|1 = [a† (p)]2 |0 = |2.
Die wiederholte Anwendung des Operators a† (p) auf den Vakuumzustand erzeugt
also in ganzzahligen Schritten weitere Zustände, die Eigenzustände des Operators
N(p) zu den Eigenwerten 0, 1, 2, . . . sind. Deswegen nennt man diese Operatoren
auch Erzeugungsoperatoren. Wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, bil-
den die so „erzeugten“ Zustände eine Basis im Zustandsraum, d. h. dass man zu
allen Zustandsvektoren durch mehrfache Anwendung verschiedener Erzeugungs-
operatoren und passende Linearkombination kommen kann. Umgekehrt führt die
Anwendung des Operators a(p) zu einer Verminderung des jeweiligen ganzzahligen
Eigenwertes um 1, also z. B.
a(p)|4 = |3.
Deshalb nennt man sie Vernichtungsoperatoren. Mit Hilfe der Erzeugungs- und der
Vernichtungsoperatoren kann man die Erzeugung und Vernichtung von Teilchen
in Prozessen der Elementarteilchenphysik beschreiben. Den Operator N(p) nennt
man wegen seiner ganzzahligen Eigenwerte und aus Gründen, die weiter unten
dargestellt werden, Teilchenzahloperator. 11
Zur näheren Charakterisierung der Feldzustände betrachten wir zunächst den
Vakuumzustand |0, der physikalisch und philosophisch interessant und wichtig ist.
In Brown und Harré (1988) werden einige dieser Aspekte diskutiert. Klassisch ist
das Vakuum einfach der leere Raum, in dem weder Energie noch Materie vorhanden
sind. In der Quantenmechanik hat der harmonische Oszillator einen Energiegrund-
zustand (= Zustand mit der niedrigst möglichen Energie), dessen Energieeigenwert
nicht gleich 0 ist und aus verwandten Gründen ist auch das Vakuum der QFT nicht
einfach ein Zustand, in dem nichts vorhanden ist. Dennoch ist er wegen des oben
eingeführten Teilchenzahloperators ein Zustand mit der Teilchenzahl 0. Eine wei-
tere bemerkenswerte Eigenschaft des Vakuums der QFT besteht darin, dass es vom
9 Die „0“ auf der rechten Seite bezeichnet den Nullvektor, der nicht mit dem Vakuumzustand |0
verwechselt werden darf.
10 Wir arbeiten an dieser Stelle bereits faktisch mit der sogenannten Fockraum-Darstellung der
Hierin kann man wegen der schon erwähnten Analogie der Vertauschungsrela-
tionen zu entsprechenden Operatoren, die in der quantenmechanischen Theorie des
harmonischen Oszillators eine zentrale Rolle spielen, eine Überlagerung von un-
endlich vielen harmonischen Oszillatoren mit je verschiedenen Frequenzen sehen,
die ihrerseits schon aus der Quantenmechanik bekannt sind (s. auch Fußnote 11).
Der Erzeugungsoperator a† (p) fügt dem jeweiligen Oszillator in ganzzahligen
Schritten Energiequanten ωp hinzu. Es ist nun sehr gängig zu sagen, diese
Ergebnisse vervollständigten „the justification for interpreting N(k) as the num-
ber operator, and hence for the particle interpretation of the quantized theory“
(Ryder 1996, S. 131). Danach ist a† (p) ein Erzeugungsoperator für „Teilchen“ (und
zwar Bosonen mit Spin 0, s.u.), die den Impuls p = k und die Energie ωk ha-
ben. Dies kann man daran sehen, dass die Einteilchen-Zustände a† (p)|0 sowie die
Mehrteilchen-Zustände [a† (p)]n(p) |0 Eigenzustände des (die Energie repräsentie-
renden) Hamilton-Operators sind, wobei die zugeordneten Eingenwerte gerade die
relativistischen Energien für ein bzw. mehrere nicht wechselwirkende Teilchen sind
(s.a. Fraser 2008, S. 845f).
In Abschn. 6.4.2 werden wir die Zulässigkeit dieser standardmäßigen Interpre-
tation ausführlich diskutieren. Bevor wir dies tun, werden wir sie im Folgenden
vorläufig selbst verwenden, um die Darstellung möglichst einfach zu halten und
an gängige Sprechweisen anzuschließen. Wann immer der Ausdruck „Teilchen“
auftaucht, sollte dies also als vorläufige Sprechweise verstanden werden.
Des Weiteren würde die Klein-Gordon-Gleichung damit natürlich kein einzel-
nes Teilchen beschreiben, wie dies ganz am Anfang beabsichtigt war. Gleichung
(6.10) würde bedeuten, dass wir für jede Frequenz einen Zustand mit n(p) Spin-0-
Bosonen erhalten, die einen Impuls k und eine Energie ωk haben, wenn wir n(p)
Mal den Erzeugungsoperator a† (p) auf den Vakuumzustand |0 wirken lassen. Ent-
sprechend könnte man N(p) nun im wörtlichen Sinn als Operator der Teilchenzahl
interpretieren, n(p) als Besetzungszahl für Bosonen mit Impuls p, und analog a(p)
als Vernichtungsoperator.
6.3.3 Besetzungszahldarstellung
wobei |0, 0, . . . , 1i , . . . bedeutet, dass an der i-ten Stelle eine 1 steht und sonst
nur Nullen (mit der schon vorher faktisch benutzen Abkürzung |0 ≡ |0, 0, . . .).
Physikalisch wird dies gängiger Weise als ein Zustand interpretiert, in dem es
genau ein Teilchen (ein Boson) gibt, das den i-ten Impulswert pi hat – oder
12 Die Möglichkeit, variable Teilchenzahlen zu beschreiben, bedeutet nicht gleichzeitig, dass die zu
Grunde liegenden Wechselwirkungen selbst beschrieben werden. Wir arbeiten weiter mit der so-
genannten freien Theorie aus dem vorigen Abschnitt. Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren
beschreiben in ihr keine dynamischen Prozesse. Tatsächlich besagt das sogenannte Haagsche
Theorem sogar, dass die Beschreibung von Wechselwirkungen in dem Rahmen dieser Theorie
ausgeschlossen ist. Diese Einschränkung auf die freie Theorie hat wichtige Konsequenzen für die
Interpretation (s. Abschn. 6.4.2). Für die konkrete Behandlung von Streuprozessen ist sie aber zu-
nächst nicht so erheblich, wie es erscheinen mag, da wir es hier zumindest mit asymptotisch,
d. h. auf lange Sicht, freien Zuständen zu tun haben und diese „lange Sicht“ fast sofort nach der
Wechselwirkung erreicht wird.
246 M. Kuhlmann und M. Stöckler
alternativ als ein Feld, das in der i-ten Mode angeregt ist.13 Die Basis der
Zweiteilchen-Zustände wird dadurch erzeugt, dass zweimal hintereinander ein
Erzeugungsoperator auf den 0-Teilchen-Zustand |0 wirkt, wobei sowohl Erzeu-
gungsoperatoren für zwei verschiedene Impulswerte vorkommen als auch die
zweifache Anwendung für denselben Impulswert. Hierdurch entstehen Basisvekto-
ren des Typs |0, 0, . . . , 1, . . . , 1, . . . oder |0, 2, . . . , 0, . . ., bei denen die Summe der
Besetzungszahlen 2 ist. Allgemein lauten die Basisvektoren in dieser „Besetzungs-
zahldarstellung“ (auch „Fockraum-Darstellung“)
|n1 , n2 , . . . ni , . . .,
wobei der erste Index anzeigt, dass es sich bei diesem Fockraum um den Zustands-
raum eines bosonischen Feldes handelt. Anders als in einem n-Teilchen-Hilbertraum
können im Fockraum also Zustände mit verschiedenen Teilchenzahlen beschrieben
werden. Des Weiteren umfasst die direkte Summe der n-Teilchen-Zustandsräume
lineare Superpositionen verschiedener n-Teilchen-Zustände, so dass man auch
Zustände mit nicht definierter Teilchenzahl hat.
Wie hängt diese Beschreibung von Mehrteilchen-Systemen im Fockraum nun
mit der Darstellung zusammen, die wir in Kap. 3 und 4 kennengelernt und be-
nutzt haben? Dort wurden Teilchen zunächst stets durch einen Index (engl. oft
„label“) bezeichnet, und die Ununterscheidbarkeit von Teilchen desselben Typs
wurde durch die Symmetrisierungsforderung für die erlaubten Zustände umgesetzt
(s. Abschn. 3.1.3). In der Besetzungszahldarstellung, die wir in diesem Abschnitt
eingeführt haben, kommen Indizes für Teilchen dagegen gar nicht mehr vor. Der
einzige Index, den wir hier verwenden, bezieht sich auf die diskrete Abfolge der
Impulseigenzustände, die jeweils ni -fach besetzt sind. Diese indexfreie (engl. oft
„unlabelled“) Darstellung trägt der Symmetrisierungsforderung automatisch Rech-
nung, da es nicht einmal mehr ausdrückbar ist, dass Teilchen a den Impulswert pi
13 Diese Alternative bedeutet, dass die ontologische Bedeutung der erzeugten Zustände hier (noch)
nicht festgelegt ist.
6 Quantenfeldtheorie 247
1
√ |φia ⊗ |φjb + |φib ⊗ |φja (6.14)
2
|0, 0, . . . , 1i , . . . , 1j , . . . (6.15)
ausgedrückt, bei dem ein Teilchen im Zustand φi ist und ein Teilchen im Zustand φj .
Die Ununterscheidbarkeit quantenmechanischer Teilchen desselben Typs – samt der
jeweiligen Symmetrisierungsforderung – ist also in der durch die Feldquantisierung
natürlich resultierenden Besetzungszahldarstellung automatisch verankert. Wie wir
in Abschn. 6.4.2 sehen werden, ist diese Beobachtung eine wesentliche Grundlage
für die sogenannte Quanta-Interpretation. Wir werden in der Diskussion dieser In-
terpretation jedoch auch sehen, dass die Fockraum-Darstellung zwar eine für viele
Zwecke nützliche Wahl der Basis im Raum der Feldzustände ist, daraus aber kein
gutes Argument für eine bestimmte Interpretation der QFT abgeleitet werden kann.
Für eine angemessene Diskussion der Quanta-Interpretation benötigen wir
noch eine weitere Untersuchung zum Verhältnis der gerade eingeführten Fock-
raum-Darstellung mit der Darstellung im indizierten Tensorprodukt-Mehrteilchen-
Formalismus, den wir in Abschn. 3.1.2 kennengelernt haben. In der letzteren
Darstellung können wir den Zustandsraum eines n-Teilchen-Systems durch das
n-fache Tensorprodukt von Einteilchen-Hilberträumen H erzeugen, also
n
Hn = H1 ⊗ H2 ⊗ . . . ⊗ Hn = Hi , (6.16)
i=1
14 Da a† (p) und a† (p ) laut Gl. 6.9 kommutieren, ist der Zweiteilchen-Zustand a† (p )a† (p )|0
identisch mit dem Zustand a† (p )a† (p)|0 mit vertauschten Erzeugungsoperatoren. Mehrteilchen-
Zustände sind also symmetrisch unter Permutationen der Erzeugungsoperatoren. Des Weiteren
können beliebig viele Klein-Gordon-„Teilchen“ mit demselben Impuls bzw. in derselben Feldmode
p erzeugt werden. Wie wir in Kap. 3 gesehen haben, bedeutet dies, dass Klein-Gordon-„Teilchen“
Bosonen sind.
248 M. Kuhlmann und M. Stöckler
n
Hsym
n
= H1 ⊗s H2 ⊗s . . . = S Hi (6.17)
i=0
15 Es gibt natürlich auch in der Quantenphysik Systeme mit unterscheidbaren Teilchen, näm-
lich Mehrteilchen-Systeme mit verschiedenen Teilchensorten. Auch diese werden mit dem
Hilbertraum-Formalismus beschrieben und lassen daher die typischen Superpositionen zu.
16 Es gilt h ⊗ h ≡ h ⊗ h + h ⊗ h .
1 s 2 1 2 2 1
6 Quantenfeldtheorie 249
∞
n
!
HF,bos. = S Hi . (6.19)
n=0 i=0
Dabei wird entsprechend zu (6.12) die direkte Summe aller symmetrisierten n-Teil-
chen-Hilberträume gebildet. In Abschn. 6.4.2 wird die Äquivalenz der Fockraum-
Darstellung mit der entsprechenden symmetrisierten Darstellung im indizierten
Tensorprodukt-Mehrteilchen-Formalismus eine wichtige Rolle bei der Bewertung
der Quanta-Interpretation spielen.
Die bisherige Darstellung der mathematischen Struktur der QFT hat noch nicht
eindeutig gezeigt, wie diese Theorie raumzeitlich zu interpretieren ist. In der all-
gemeinen Betrachtung bleibt vieles zunächst unbestimmt, z. B. die Frage, wie
die Zustände aussehen, auf die die Feldoperatoren wirken. Für die Anwendung
der Theorie muss die Verknüpfung der mathematischen Ausdrücke mit Mess-
ergebnissen geklärt sein, die in Geräten gewonnen werden, die Ereignisse an
einem bestimmten Ort und z. B. in eine bestimmte Richtung verlaufende „Teilchen-
spuren“ aufzeichnen. Spätestens für die experimentelle Anwendung muss also die
QFT raumzeitlich interpretierbar sein, jedenfalls so weit, dass die Ergebnisse der
Experimente mit Vorhersagen der Theorie verglichen werden können.
Dazu werden wir im Folgenden eine typische Anwendung skizzieren, nämlich
die Analyse eines Streuprozesses. Wenn die QFT in der Elementarteilchenphysik
zum Einsatz kommt, geht es fast immer um Berechnungen von Streuprozessen und
ihre experimentelle Überprüfung. In einem typischen Streuexperiment werden in
einem Beschleuniger Quantenobjekte einer bestimmten Art so präpariert, dass sie
alle den gleichen Impuls haben. In einer anschaulichen und populären Sprechweise,
die auch in der Experimentalphysik verwendet wird, würde man sagen, dass Teil-
chen beschleunigt werden, die alle mit gleicher Energie in die gleiche Richtung
fliegen. Dieser „Teilchenstrahl“ wird z. B. auf ein Ziel (Streuzentrum) gelenkt, das
aus anderen Quantenobjekten besteht, oder zwei solcher Teilchenstrahlen werden
zur Kollision gebracht. Die Vorgänge in der unmittelbaren Wechselwirkungszone
wird man in der Regel nicht beobachten können. Mit Hilfe von Nachweisgeräten
(„Detektoren“) kann man aber registrieren, wie die Quantenobjekte ihren Impuls
geändert haben und welche neuen „Teilchen“ beim Zusammenstoß entstanden sind.
Durch Auswertung der von den verschiedenen Detektoren gelieferten Daten kann
man Eigenschaften wie Masse, Ladung oder Energie (bzw. Impuls) der aus dem
Wechselwirkungsbereich auslaufenden Quantenobjekte bestimmen. Diese Größen
kann man dann mit den Rechnungen der Theorie vergleichen, die z. B. voraussagen,
wie viele Teilchen mit einer bestimmten Energie in den verschiedenen Richtungen
nachgewiesen werden können.
Die üblichen Rechnungen gehen der experimentellen Situation entsprechend da-
von aus, dass zu Beginn und am Ende des Streuprozesses nur weit voneinander
entfernte, nicht wechselwirkende („freie“) Quantenobjekte auftreten (vgl. Abb. 6.2).
250 M. Kuhlmann und M. Stöckler
Wechsel-
wirkung
im Detektor
ursprünglicher nachgewiesener
Zustand: |a〉 Zustand: |b〉
Es wird ein Streuoperator S eingeführt, der beschreibt, in welchen Zustand der An-
fangszustand übergeht, d. h. welcher Feldzustand sich am Ende des Streuprozesses
aus dem präparierten Anfangszustand (der z. B. den Impuls und die Energie der
Teilchen beschreibt, die zur Kollision gebracht werden) entwickelt.
Ziel der Berechnung ist die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit
dass ein bestimmter Anfangszustand |a in einen bestimmten Endzustand |b über-
geht. Dieser Ausdruck spielt bei Streuprozessen eine änliche Rolle wie die Bornsche
Regel in der Quantenmechanik. Dabei sind die Sab die Elemente der sog. Streumatrix
Grundlage der Berechnung der Elemente der Streumatrix ist eine Gleichung für die
zeitliche Veränderung der Zustände, die nur die Entwicklung aufgrund der Wechsel-
wirkungen berücksichtigt und für die eine Art Schrödinger-Gleichung gilt, in der im
Hamilton-Operator Hww (t) nur die Elemente des Lagrange-Operators auftauchen,
die die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Quantenfeldern beschreiben:
∂
i |ψ(t) = Hww (t) |ψ(t). (6.22)
∂t
Der Operator Hww (t) ist also systemspezifisch und enthält die Beschreibungen der
jeweiligen Wechselwirkungstypen (z. B. der Wechselwirkung eines Photons mit ei-
nem Elektron) durch Feldoperatoren. Neu entdeckte Teilchentypen (Quantenfelder)
würden also zu Zusatztermen in Hww (t) führen. Für die Berechnung des Streu-
operators S gibt es einen Lösungsweg, der durch den Operator Hww (t) bestimmt
ist. S kann dann schrittweise in immer weiter verbesserten Näherungen berechnet
werden. Dabei erhält man den Wert eines Elements der Streumatrix als Summe von
immer kleiner werdenden Beiträgen (d. h. als Reihenentwicklung im Sinne einer
Störungstheorie).
6 Quantenfeldtheorie 251
e– e–
oder Integrale zuordnen, aus denen sich in der Summe dann der Wert des Streu-
matrixelements ergibt. Ein wichtiges und außerordentlich hilfreiches Hilfsmittel
sind dabei die sogenannten Feynman-Graphen. Den einzelnen Komponenten ei-
nes Diagramms (vgl. z. B. Abb. 6.4) sind mathematische Ausdrücke zugeordnet,
so dass die anschaulichen Diagramme helfen, beim Rechnen nicht die Übersicht zu
verlieren.
Obwohl diese Feynman-Diagramme häufig zur Veranschaulichung elementarer
Prozesse benutzt werden, haben sie innerhalb der Theorie nicht die Aufgabe, raum-
zeitliche Prozesse abzubilden. Diese Rolle können sie aus prinzipiellen Gründen
nicht übernehmen. Sie sind ein graphisches Hilfsmittel zur störungstheoretischen
Auswertung der Streumatrix.17 In der Abb. 6.4 haben die Linien für die Elektronen
offene Enden. Sie stehen für mathematische Ausdrücke, die ein- bzw. auslaufen-
den Teilchen zugeordnet werden können. Die Wellenlinie dazwischen, die von
Operatoren für das elektromagnetische Feld herrührt, hat dagegen im Diagramm
einen Anfangs- und Endpunkt. Anschaulich wird oft gesagt, dass sie ein Photon be-
schreibt, das an einem Punkt erzeugt und an dem anderen vernichtet wird. Solche
Teilchen hat Feynman schon 1949 „virtuell“ genannt, weil sie nicht im Anfangs-
oder Endzustand vorkommen. Tatsächlich ist diese Sprechweise irreführend. Da
die Diagramme, wie gesagt, nur Illustrationen für mathematische Ausdrücke sind,
beschreiben solche inneren Linien keine Bahnen von irgendwelchen Teilchen, ob
virtuell oder nicht. Es gibt also keinen eigenen Typ von „virtuellen“ Teilchen, über
deren besondere Existenzweise man sich Gedanken machen müsste.
Abbildungen wie 6.4 haben zu einem weiteren populären Missverständnis ge-
führt, weil es so aussieht, als ob ein Photon die beiden Elektronen auseinander
treiben würde. So wird gesagt, dass durch den Austausch von Photonen die elektro-
magnetische Wechselwirkung zwischen geladenen Teilchen vermittelt werde. Ein
genauerer Blick auf die mathematische Formulierung der QFT zeigt aber, dass Elek-
tronen, Protonen und Photonen in gleicher Weise durch Quantenfelder repräsentiert
werden. Wechselwirkungen zwischen solchen Feldern werden dadurch beschrieben,
17 Zur
Diskussion um die Bedeutung der Feynman-Diagramme vgl. Wüthrich (2012) und Kuhl-
mann (2010), Abschn. 10.3 und 10.4.
6 Quantenfeldtheorie 253
Dieser Abschnitt stellt einige Probleme des (von uns eingeführten) gängigen Forma-
lismus der QFT dar. Diese Probleme sind der Hintergrund verschiedener Versuche,
die QFT axiomatisch zu reformulieren. Die generelle Annahme ist hierbei, dass die
Unzulänglichkeiten der konventionellen QFT an ihrer gewachsenen Theoriestruktur
liegen und durch eine konzeptionell klarere und mathematisch präzisere Neuformu-
lierung beseitigt werden können. Den für die Interpretation der QFT fruchtbarsten
Ansatz, die „Algebraische QFT“ (AQFT), werden wir am Ende kurz vorstellen.
Wie eingangs im Abschn. 1.2 sowie im Abschn. 1.2.4 bereits kurz angedeu-
tet, besteht für die Quantenmechanik eine gewisse Freiheit bei der Wahl des
Formalismus, speziell bei der Art, wie Observable (und Zustände) mathematisch
repräsentiert werden. Wie wir gesehen haben, können die für die Quantenmecha-
nik grundlegenden kanonischen Vertauschungsrelationen, etwa für Ort und Impuls,
nur durch Operatoren erfüllt werden. Allgemein werden Observable durch lineare
254 M. Kuhlmann und M. Stöckler
mert auftauchen, entweder damit die betreffenden Aussagen nicht falsch werden und/oder um dem
Leser mit weitergehenden Interessen den Zugang zu vertiefender Literatur zu erleichtern. Bei der
ersten Lektüre können die jeweiligen Begriffe jedoch ignoriert werden.
20 Siehe Abschn. 3.1.4.
6 Quantenfeldtheorie 255
gewisse Rechtfertigung findet diese pragmatische Einstellung darin, dass die al-
lermeisten der ignorierten inäquivalenten Darstellungen physikalisch keinen Sinn
ergeben (weil physikalische Grundforderungen verletzt werden). Dennoch blei-
ben immer noch verschiedene physikalisch sinnvolle inäquivalente Darstellungen
übrig.21 Insbesondere für die Interpretation der QFT muss daher unterstrichen
werden, dass – anders als in der Quantenmechanik – die Wahl der Darstellung keine
harmlose pragmatische Angelegenheit ist.22
Aus dem Vorhandensein verschiedener physikalisch sinnvoller inäquivalenter
Darstellungen der Vertauschungsrelationen ergeben sich zwei Fragen. (i) Gibt es ei-
ne Möglichkeit, die Wahl einer bestimmten Darstellung zu vermeiden oder ggf. zu
rechtfertigen? (ii) Hat dies Auswirkungen auf die Interpretation der QFT, insbeson-
dere bei ontologischen Fragen? Die Frage (ii) werden wir im nächsten Abschn. 6.4
behandeln. Eine Antwort auf die Frage (i) wird im Rahmen einer Neuformulierung
der QFT versucht, der wir uns jetzt zuwenden.
Die QFT ist, wie wir gesehen haben, zunächst mit Hilfe von Analogien
zur klassischen Feldphysik und zur Einteilchen-Quantenmechanik entwickelt wor-
den, wobei aufgrund der unendlich vielen Freiheitsgrade immer wieder spezielle
mathematische Schwierigkeiten auftreten. Seit den 1950er Jahren gibt es deshalb
Versuche, die QFT in einer systematischen, vorzugsweise axiomatischen Wei-
se so zu reformulieren, dass diese Defizite schon im Ansatz vermieden werden.
Als besonders erfolgreich hat sich dabei die sogenannte Algebraische Quanten-
feldtheorie herausgestellt.23 Die zentrale Idee der AQFT besteht darin, anders als
die konventionelle QFT nicht eine spezielle Darstellung der kanonischen Vertau-
schungsrelationen durch bestimmte Operatoren auf einem Hilbertraum zu wählen,
sondern die Ebene der in den Vertauschungsrelationen zum Ausdruck gebrachten al-
gebraischen Beziehungen zum Ausgangspunkt der Theoriebildung zu machen. Kurz
gesagt stehen abstrakte Observablen-Algebren, wie z. B. durch Vertauschungsrela-
tionen festgelegt, im Zentrum der Theorie. Auf dieser Ebene werden dann – so das
ursprüngliche Ideal – in axiomatischer Weise verschiedene physikalische Forde-
rungen erhoben, die etwa die relativistische Natur der Theorie betreffen. So wird
21 Auf der Existenz inäquivalenter Darstellungen beruht z. B. der sogenannte Unruh-Effekt, wo-
nach das, was für einen Beobachter wie ein Vakuum aussieht, für einen beschleunigt bewegten
Beobachter als thermisches Bad von Teilchen erscheint. Der tiefere Grund für dieses anschei-
nende Paradoxon ist, dass mit den beiden Beobachtern verschiedene inäquivalente Darstellungen
verbunden sind, was u.a. bedeutet, dass sie verschiedene Vakuumzustände haben. Tatsächlich
hängen verschiedene inäquivalente Darstellungen sogar systematisch mit verschiedenen Vakuum-
zuständen zusammen. Dies ist Grundlage der sogenannten „GNS-Konstruktion“, die für den
Zusammenhang von AQFT und konventioneller QFT eine wichtige Rolle spielt, da hierbei
ausgehend von Observablen-Algebren verschiedene Operatordarstellungen mit je verschiedenen
Vakuumzuständen konstruiert werden.
22 Ruetsche (2003) diskutiert ausführlich die philosophischen Konsequenzen.
23 Haag (1996) bietet eine umfassende Darstellung der AQFT. Buchholz (2000) betont die Grund-
züge der AQFT. Halvorson und Müger (2007) bietet eine mittellange Einführung, die sich
insbesondere an Philosophen der Physik richtet.
256 M. Kuhlmann und M. Stöckler
z. B. gefordert, dass Observablen, die sich auf raumartig zueinander liegende Ge-
biete beziehen, miteinander kommutieren müssen, da sich Messungen, die nach
der speziellen Relativitätstheorie in kausal getrennten Raumzeitgebieten stattfinden,
nicht beeinflussen dürfen.24
Leider hat es sich als unerwartet schwierig herausgestellt, realistische Modelle
für die AQFT zu finden, d. h. insbesondere für interaktive Quantenfeldtheorien.
Das heißt, man kann die AQFT nicht in der Hochenergiephysik zur Berechnung
von Wirkungsquerschnitten einsetzen, da man mit ihr (noch?) keine befriedigende
Verbindung zum Experiment herstellen kann. Trotz dieser zweifellos erheblichen
Einschränkung ist es im Rahmen der AQFT jedoch möglich, einige grundlegende
Resultate zu erzielen, die für die Interpretation der QFT von großer Bedeutung
sind. Vor diesem Hintergrund ist es nachzuvollziehen, dass dieser Ansatz seit den
1990er Jahren in vielen, evtl. sogar den meisten philosophischen Untersuchungen
zur QFT zugrunde gelegt wird.25 Dies bezieht sich etwa auf Einsichten zur Nicht-
Lokalisierbarbeit von Quantenobjekten, die ein entscheidendes Argument gegen die
Teilcheninterpretation darstellen (s. Abschn. 6.4.2). Darüber hinaus bildet die AQFT
eine wichtige Grundlage gerade für einige der jüngsten Interpretationsansätze
(s. Abschn. 6.5).
Die konventionelle QFT hat ein weiteres Problem, das den Wunsch verständ-
lich macht, sie mathematisch präziser neu zu formulieren. Im Abschn. 6.3.4 haben
wir skizziert, wie in der konventionellen QFT die Verknüpfung mit dem Experi-
ment durch schrittweise Berechnung der Elemente der Streumatrix Sab hergestellt
wird. Bei der Durchführung dieser Näherungsrechnungen zeigen sich mathema-
tische Probleme, die daran zweifeln lassen, dass die konventionelle QFT eine in
einem strengen mathematischen Sinn konsistente Theorie ist. Fast alle Beiträge, die
sich in der Summe eigentlich immer mehr einem bestimmten Wert nähern sollten,
sind unendlich, d. h. die Berechnung der zugehörigen Elemente der Streumatrix
führt zu keinem endlichen Wert (die entsprechenden Integrale divergieren). Be-
rechnungen von Übergangswahrscheinlichkeiten im Rahmen der Störungstheorie
ergeben also Reihenentwicklungen, die in den ersten Ordnungen zu hervorragenden
Übereinstimmungen mit dem Experiment führen, aber in höheren Ordnungen (d. h.
bei Hinzunahme weiterer Korrekturelemente) wieder divergieren.
Man hat zur Umgehung dieser Schwierigkeiten verschiedene pragmatische
Methoden entwickelt. Eine Möglichkeit ist, in den Lagrange-Operator weitere Ter-
me einzufügen, so dass die Elemente der Streumatrix wieder endlich werden. Bei
bestimmten Quantenfeldtheorien (d. h. bei Lagrange-Operatoren, die zu den soge-
nannten renormierbaren Theorien führen) gelingt es, durch die Einführung einer
endlichen Zahl von Zusatztermen allen relevanten Elementen der Streumatrix einen
endlichen Wert zu geben. Diese pragmatischen Verfahren kann man in einem gewis-
sen Sinn rechtfertigen, in dem man die Parameter wie Masse und Ladung, die im
6.4.1 Vorbemerkungen
oder über die Verbreitung der Darwin-Finken scheint die Sache noch einfach zu
sein, weil man unabhängig von der Theorie schon viel über ihre Gegenstände weiß.
Bei der Suche nach einer Ontologie, die für die QFT passt, werden u.a. folgende
Hilfsmittel eingesetzt: Man beruft sich auf ein anschauliches Verständnis der Phäno-
mene, die in einschlägigen Experimenten sichtbar werden (also in einem gewissen
Sinn auf vortheoretisches Wissen). Man stützt sich weiter auf Analogien zu klassi-
schen Theorien und zur Interpretation der Quantentheorie für „Einteilchensysteme“
und wertet damit die Heuristik aus, die zur neuen Theorie geführt hat. Vor allem
analysiert man im Detail die verschiedenen Möglichkeiten, dem mathematischen
Formalismus der QFT eine physikalische Bedeutung zu verleihen. Philosophische
Theorien legen vielleicht die Idee nahe, die bedeutungstragenden Elemente der
Theorie und damit die Entitäten, über die sie spricht, dadurch zu finden, dass man
nachsieht, über welche Größen in axiomatisierten Formulierungen quantisiert wird,
d. h. konkret, für welche Größen in den Axiomen Forderungen formuliert sind.
Dieser Weg erweist sich aber, jedenfalls in der gegenwärtigen Situation, wegen der
komplizierten mathematischen Struktur der QFT als nicht gangbar.
Die Diskussionen im Umfeld verschiedener Interpretationen der Quanten-
mechanik legen eigentlich nahe, dass Quantenobjekte weder klassische Teilchen
noch klassische Felder sein können. Dennoch beginnen die neueren Beiträge
zur Interpretation der QFT wieder mit einer Auseinandersetzung mit klassischen
Teilchen- und Feldkonzepten. Das mag daran liegen, dass viele Physiker glauben,
man könne mit der QFT wieder zu einer, vielleicht leicht revidierten, Teilchenvor-
stellung zurückkehren. Vielleicht sucht man im Rahmen der QFT auch nach neuen
Möglichkeiten, die klassischen Konzepte in irgendeiner Weise zu verbinden, da
alternative Modelle zu einer räumlichen Einbettung der Quantenobjekte nicht zur
Verfügung stehen. Wir werden deshalb ebenfalls untersuchen, ob die QFT von Teil-
chen (Abschn. 6.4.2) oder von Feldern (Abschn. 6.4.3) handelt, und dann alternative
Vorschläge für eine Ontologie der QFT analysieren.27
6.4.2 Teilcheninterpretation
Betrachten wir zunächst etwas genauer die Vorzüge und Schwierigkeiten einer Teil-
cheninterpretation der QFT. Die experimentelle Elementarteilchenphysik scheint
eine Teilchenontologie zu favorisieren. Es werden Teilchenbeschleuniger gebaut,
Detektoren zeichnen Teilchenspuren auf oder erlauben es, Teilchenbahnen in kom-
plizierten Zählern zu rekonstruieren, und am Ende gibt es Nobelpreise für die
Entdeckung von Elementarteilchen. Man muss jedoch genauer hinsehen, was in sol-
chen Formulierungen jeweils unter „Teilchen“ verstanden wird. Offenbar sind keine
Objekte gemeint, die sich in jeder Beziehung wie klassische Teilchen verhalten.
Die Probleme einer Teilcheninterpretation der QFT werden deutlich, wenn man
27 Ein
Überblick über die verschiedenen Interpretationen der QFT findet sich in Kuhlmann 2012,
Abschn. 5.1.2.
260 M. Kuhlmann und M. Stöckler
Klassischer Teilchenbegriff
Es gibt keine kanonische Definition dafür, was ein klassisches Teilchen ist.28 Um die
folgende Darstellung transparenter zu machen, werden wir daher mit dem Vorschlag
arbeiten, klassische Teilchen als diskrete, scharf lokalisierte, massebehaftete29 Ob-
jekte mit synchroner und diachroner Identität zu definieren. Diskretheit bedeutet,
dass man eine Anzahl angeben kann. Das ist z. B. bei der Angabe der Quantität ei-
ner kontinuierlichen Größe wie der Feldstärke eines klassischen elektrischen Feldes
nicht der Fall. Lokalisiertheit unterscheidet Teilchen von Feldern, die im gesam-
ten Raum ausgebreitet sind. Synchrone Identität bedeutet, dass Teilchen zu jedem
gegebenen Zeitpunkt Individuen sind. Dies unterscheidet sie etwa von 100 Euro
auf einem Bankkonto. Diskrete Entitäten, die synchrone Identität besitzen, sind in
diesem Sinn nicht nur kardinal, sondern auch ordinal abzählbar.30 Man kann also
sagen, dies ist das erste und das ist das zweite Teilchen, wobei diese Aussage eine
ontologische Bedeutung hat, sich also auf einen realen Unterschied in der Welt be-
zieht. Diachrone Identität schließlich bedeutet, dass Teilchen als Individuen in ihrer
zeitlichen Entwicklung verfolgt werden können. In der klassischen Mechanik ist
die diachrone Identität von Teilchen durch das Vorhandensein von Trajektorien ga-
rantiert, also durch raumzeitliche Bahnen, die sich nie kreuzen können. Damit sind
klassische Teilchen auch undurchdringlich. Nicht gegeben ist dies etwa bei zwei
Wellenbergen, die aufeinander zulaufen, sich treffen, überlagern und schließlich
wieder voneinander entfernen.
Wie wir im Folgenden sehen werden, gehen alle der oben genannten Charakte-
ristika von Teilchen in der QFT je nach Kontext verloren. Zum Teil ist dies schon
in der Quantenmechanik der Fall, jedoch liefert die QFT zusätzliche Gründe für die
Nichtanwendbarkeit des klassischen Teilchenbegriffs.
Diskretheit
Wie wir im Abschn. 6.3.2 gesehen haben, gibt es im Formalismus der QFT einige
Züge, die die Behauptung stützen, die QFT handle von Teilchen. Die Anwen-
dung des Erzeugungsoperators a† (p) auf den Vakuumvektor erzeugt Zustände, die
einige Eigenschaften haben, die auch Teilchen zeigen würden, z. B. ganzzahlige
Eigenwerte des „Teilchenzahloperators“: Wir haben es mit etwas zu tun, das in dis-
kreten Portionen vorkommt, wobei die aufsummierten Energie- und Impulswerte in
31 Fraser (2008) drückt dies so aus, dass Abzählbarkeits- und Energiebedingung erfüllt sind.
Da Abzählbarkeit aber oft – wie z. B. von Teller – im ordinalen Sinne verstanden wird, es
im gegenwärtigen Zusammenhang aber gerade um den kardinalen Sinn geht, sprechen wir von
Diskretheit.
32 Baker (2013, S. 267) hält dagegen, dass die Situation ähnlich der von Atomen in Superpositions-
zuständen sei, ohne dass wir daher die Existenz von Atomen bezweifeln würden.
33 Teller (1995) argumentiert dagegen, dass probabilistische Aussagen ein generischer Zug der
Synchrone Identität
Wie wir im Kap. 3 über Mehrteilchen-Quantenmechanik gesehen haben, können
Quantenobjekte nach der Standardsicht das Leibniz-Prinzip verletzen: Es gibt
Mehrteilchen-Systeme mit Quantenobjekten derselben Sorte (nämlich verschie-
dene Typen von Bosonen oder Fermionen), die sich in keiner ihrer permanenten
Eigenschaften und obendrein auch in keiner ihrer zeitabhängigen Eigenschaften
unterscheiden, und die aber trotzdem nicht numerisch identisch sind, wie das
Leibniz-Prinzip es fordert. Wenn man dieser Standardsicht folgt, dass also Quan-
tenobjekte keine Individuen (im Sinne des Leibniz-Prinzips) sind, kann man – wie
Teller (1995) dies tut – argumentieren, dass es unglücklich ist, mit einem Forma-
lismus zu arbeiten, der (anscheinend) Teilchen nummeriert und damit den Eindruck
erweckt, als habe man es mit verschiedenen Individuen zu tun.34 Genau dies ist aber
beim indizierten Tensorprodukt-Mehrteilchen-Formalismus der Quantenmechanik
der Fall, wie wir ihn in Kap. 3 kennengelernt haben. Teller (1995) argumentiert, dass
dieser Formalismus sogenannte „Überschuss-Struktur“ („surplus structure“) besitze
und es ein Fortschritt wäre, einen Formalismus zu haben, in dem Zustände wie in
Gl. (6.13), denen in der Natur nichts entspricht, gar nicht mehr auftauchen. Genau
ein solcher Formalismus ohne Überschuss-Struktur sei der in der QFT gebräuch-
liche Fockraum-Formalismus in symmetrisierter Form (s. Abschn. 6.3.3), da dieser
mit seiner Zustandsbeschreibung in Besetzungszahldarstellung, wie z. B. in (6.15),
auf ganz natürliche Weise der Tatsache Rechnung trage, dass das, was Teilchen in
der Quantenwelt am nächsten kommt – Teller nennt sie „Quanta“ –, zwar aggre-
giert, aber nicht wie die individuellen Teilchen der klassischen Physik nummeriert
werden kann.
Des Weiteren scheint die Existenz der Fockraum-Darstellung zu zeigen, dass
es möglich ist (tatsächlich ist es sogar die einzige Möglichkeit), in einem ge-
meinsamen Rahmen unendlich viele Freiheitsgrade und abzählbare Entitäten zu
beschreiben – wobei es außerdem einen relativistisch invarianten Zustand gibt, der
genau null dieser Entitäten enthält, d. h. ein Vakuum. Eine Feldtheorie (unend-
lich viele Freiheitsgrade) scheint also mit der Existenz von abzählbaren Teilchen
vereinbar zu sein. Und in der Tat ist ein wesentlicher Zug des Formalismus, den
S. 31–33 bzgl. des ersten und S. 110–112 bzgl. des zweiten Problems. Eine sehr zugängli-
che Darstellung und kritische Diskussion von Tellers Argumenten bieten Huggett und Weingard
(1996).
34 Hierbei setzt Teller allerdings voraus, dass es nicht sinnvoll ist anzunehmen, Quantenobjekte
seien primitiv individuiert. Wie wir in der Diskussion über die Möglichkeit schwacher Unter-
scheidbarkeit in Abschn. 3.2.3 gesehen haben, ist diese Voraussetzung allerdings insbesondere in
den letzten Jahren vielfach kritisiert worden.
6 Quantenfeldtheorie 263
wir in Abschn. 6.3.1 kennengelernt haben, die Äquivalenz von Mehrteilchen- und
Feldbeschreibung.
Teller ist für seine Sichtweise vielfach kritisiert worden. So argumentieren
Huggett und Weingard (1996), dass der Fockraum-Formalismus äquivalent zum
indizierten Tensorprodukt-Mehrteilchen-Formalismus ist. Insbesondere aus diesem
Grunde haben wir die Äquivalenz der Fockraum-Darstellung der Vertauschungs-
relationen des Klein-Gordon-Feldes mit der entsprechenden symmetrisierten Dar-
stellung im indizierten Tensorprodukt-Mehrteilchen-Formalismus in Abschn. 6.3.3
so ausführlich beschrieben. Wenn diese Formalismen aber äquivalent sind, sei nicht
einzusehen, wieso der eine Formalismus für ontologische Fragen relevanter sein
soll als der andere. Es gibt aber noch zwei „härtere“ Argumente gegen Tellers Wahl
der Fockraum-Darstellung als Grundlage seiner ontologischen Untersuchungen zur
QFT. Wie wir in Abschn. 6.3.5 gesehen haben, gibt es in der Quantenfeldtheorie
wegen der unendlichen Anzahl von Freiheitsgraden unendlich viele verschie-
dene inäquivalente Darstellungen, von denen die Fockraum-Darstellung nur eine
bestimmte ist.35 Huggett und Weingard (1996) resümieren daher:
. . . the quantum field is richer than any single Fock space description, but this point is obscu-
red by presenting the field in terms of a particular Fock space. [S. 306] [. . .] Thus Teller’s
attempt to establish the quanta representation as the appropriate way to view QFT obscures
some of the most crucial and startling aspects of that theory. [S. 307]
Nun ließe sich einwenden, dass es fraglich ist, ob diese unendlich vielen verschie-
denen inäquivalenten Darstellungen überhaupt eine physikalische Bedeutung haben.
Und tatsächlich ist dies bei den allermeisten auch nicht der Fall. In jedem Fall gilt
die Fockraum-Darstellung jedoch nach dem Haagschen Theorem (s. Fraser 2008)
nur für die freie Theorie. Er kann also nicht der korrekte Zustandsraum für Theorien
sein, die Wechselwirkungen beschreiben.36 Es gibt also keinen unitären Operator,
der von der freien zur wechselwirkenden Darstellung führt. Da die freie Theorie
aber eine Idealisierung ist, ist es hochproblematisch, ontologische Konsequenzen
aus einer speziellen Darstellung zu ziehen, die nur für die freie Theorie existiert (s.
Fraser 2008).37
Aus den vorhergehenden Überlegungen lassen sich zwei Konsequenzen ab-
leiten. Erstens ist eine Teilcheninterpretation selbst im Sinne der schwachen – weil
auf synchrone Identität verzichtenden – Quanta-Version nicht haltbar, da die Ab-
zählbarkeit diskreter Entitäten an der Fockraum-Darstellung hängt, die – wie wir
gerade gesehen haben – eine sehr begrenzte Gültigkeit hat. Eine zweite darauf
aufbauende Konsequenz könnte für unsere Debatte zum Leibniz-Prinzip gezogen
35 Ein einfaches Beispiel findet sich in Huggett und Weingard (1996, S. 306). Obendrein gibt es
in der QFT auf gekrümmten Raumzeiten auch noch unendlich viele verschiedene inäquivalente
Fockraum-Darstellungen (Baker 2013).
36 Das gilt, obwohl in der Störungstheorie der konventionellen Quantenmechanik mit dem
werden. Wenn die QFT weder eine Teilchen- noch eine Quanta-Interpretation zu-
lässt, würden sich die Symmetrisierungsforderungen der Quantenphysik gar nicht
auf Permutationen von Objekten welcher Art auch immer beziehen, sondern z. B.
auf die Reihenfolge, in der Erzeugungsoperatoren auf Feldzustände angewendet
werden.38 Mit dieser Überlegung werden wir uns gleich noch etwas ausführlicher
befassen.
Wie in Abschn. 3.1.2 (Mehr-Teilchen-Tensorprodukt) gezeigt wurde, wird das
Ununterscheidbarkeits-Postulat erfüllt, wenn das Vertauschen zweier Indizes, mit
der die n Faktoren des Tensorprodukts von n Einteilchen-Hilberträumen durchnum-
meriert werden, zu Zuständen führt, die sich physikalisch nicht unterscheiden; s. Gl.
(3.3) und (3.4). Diese Symmetrieforderung ist für bosonische und fermionische
Felder aufgrund der Vertauschungsrelationen der jeweiligen Feldoperatoren erfüllt.
Schwieriger ist die Frage, ob und in welchem Sinn die QFT von ununter-
scheidbaren Quantenobjekten handelt und ob in ihr das Leibniz-Prinzip erfüllt ist.
Das grundlegende Problem ist dabei, diejenigen mathematischen Elemente in der
Theorie zu identifizieren, die gegebenenfalls Quantenobjekte repräsentieren. Bei
Zweiteilchen-Systemen wie wir sie z. B. im Kap. 4 (EPR) kennengelernt haben,
gibt es Gründe, von zwei Photonen oder zwei Protonen als Objekten zu sprechen.
Diese Gründe haben unter anderem mit den jeweiligen experimentellen Anord-
nungen zur Herstellung und zum Nachweis solcher Systeme zu tun. Auch in der
experimentellen Elementarteilchenphysik kann man davon sprechen, dass in einem
Detektor ein bestimmtes Teilchen nachgewiesen wurde, weil man einen aus der
Wechselwirkungszone ausgehenden Zustand mit einem bestimmten Impuls und ei-
ner bestimmten Ladung gemessen hat. Auch hier macht man zunächst nur Aussagen
über Ergebnisse eines Messprozesses.
Es bleibt also offen, ob und wie Quantenobjekte, für die man ein Leibniz-Prinzip
formulieren könnte, im Formalismus der QFT vorkommen. Bei genauerem Hin-
sehen stellt sich sogar die Frage, ob die sogenannten Quanta selbst, deren Existenz
durch die Besetzungszahldarstellung nahe gelegt wird, tatsächlich als Kandidaten
für Quantenobjekte angesehen werden können. Die Redeweise, dass ein bestimmter
Zustand n-fach besetzt ist, sagt etwas über die Eigenwerte von Eigenzuständen des
sogenannten Teilchenzahloperators aus, klärt aber nicht, was diesen Zustand mehr-
fach „besetzt“ und ob die Suche danach überhaupt sinnvoll ist. Die Vorstellung, dass
Erzeugungsoperatoren die Erzeugung von Teilchen bzw. Quanta beschreibe, ist sug-
gestiv, kann aber in die Irre führen. Eine konkurrierende Vorstellung ist, dass sie
Übergänge zwischen verschiedenen Anregungszuständen eines Feldes beschreiben,
Anregungszuständen, denen man normalerweise keinen Objektcharakter zuspricht.
Die Zustandsbeschreibung der QFT ordnet nicht in einfacher Weise Objekten in
der Welt Zustände zu. „Instead states simply characterize propensities for what will
be manifested with what probability under various activating conditions.“ So Teller
(1995, S. 105), der dann fortfährt: „Among the items for which there can be propen-
sities for manifestations is the occurrence of various numbers of quanta exhibiting
38 Nach Baker (2013) beziehen sich die Permutationen auf die Reihenfolge, in der Ladungen
(zu „algebraischen Zuständen“) hinzugefügt werden.
6 Quantenfeldtheorie 265
various properties.“ Man kann Teller sicher insoweit folgen, dass es experimentelle
Situationen gibt, in denen Zustände auftreten, aus denen folgt, dass eine bestimmte
Anzahl von auslaufenden Teilchen mit einem bestimmten Impuls gemessen werden
kann. Wenn man die mathematische Struktur der QFT jedoch allgemein betrachtet,
gibt es dort einfach keine Elemente, die man in einem vernünftigen Sinn als Ob-
jekte betrachten könnte. Und deshalb kann man auch nicht sinnvoll fragen, ob sie
das Leibniz-Prinzip erfüllen.
In ähnlicher Weise zieht Baker (2013) daher den Schluss
39 Etwas vorsichtiger als viele andere Lehrbücher formulieren dann auch Peskin und Schroeder
(1995, S. 22): „It is quite natural to call these excitations particles, since they are discrete enti-
ties that have the proper relativistic energy-momentum relation. (By a particle we do not mean
something that must be localized in space; a†p creates particles in momentum eigenstates.)“
266 M. Kuhlmann und M. Stöckler
die einige wenig einschränkende und plausible Bedingungen erfüllen, zu dem Er-
gebnis führen, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen in irgend einem endlichen
Raumbereich zu finden, gleich null ist. Das ist aber ein absurdes Ergebnis, so dass
eine reductio ad absurdum zu der Konklusion führt, dass Quantenobjekte keine
Teilchen sein können, wenn man ihre Lokalisierbarkeit als unverzichtbar betrach-
tet.40 Dementsprechend kann in der QFT auch kein sinnvoller Ortsoperator definiert
werden.
6.4.3 Feldinterpretation
Wenn die Gegenstände der QFT keine Teilchen sind, dann bleibt aus der Sicht der
klassischen Physik nur die Option, anzunehmen, dass die QFT über Felder spricht.
Dazu scheint zu passen, dass die Quantenfelder (x, t) die Raumzeitmannigfaltig-
keit als Argument haben, dass also jedem Raumzeit-Punkt eine Größe zugeordnet
wird, wodurch die zentrale Kennzeichnung eines Feldes erfüllt ist.41 Allerdings
ist (x, t) ein Operator, so dass den Raumzeit-Punkten, anders als etwa beim
elektromagnetischen Feld, zunächst keine definiten physikalischen Eigenschaften
zugeordnet sind. Die Feldoperatoren sind für die Dynamik der Zustände wichtig,
aber nur mit den Zuständen kann man eine experimentell zugängliche raumzeitliche
Interpretation verbinden.
Erst wenn man zu den Feldoperatoren (x, t) die Systemzustände |ψ hinzu-
nimmt, auf die Feldoperatoren bzw. Zusammensetzungen f ((x, t)) wirken, kann
man Raumzeit-Punkten über die Erwartungswerte der Form
40 Vgl. dazu und zu anderen Beweisen Halvorson und Clifton (2002), Kuhlmann (2010), Kap. 8,
und Kuhlmann (2012), Abschn. 5.3.
41 In der mathematisch saubereren algebraischen Formulierung der QFT (s. Abschn. 6.3.5) wird
erstens nicht Punkten, sondern endlichen Regionen der Raumzeit etwas zugeordnet, und zwei-
tens sind es keine einzelnen Operatoren, die diesen zugeordnet werden, sondern Algebren von
Operatoren. Für die folgenden Argumente bedeutet dies aber keinen wesentlichen Unterschied.
6 Quantenfeldtheorie 267
konkrete Werte physikalischer Größen zuordnen. Dieser Ansatz hat aber eine Reihe
von Schwierigkeiten. Die erste ist, dass überhaupt nicht klar ist, was man eigent-
lich weiß, wenn man die Erwartungswerte ψ|f ((x, t))|tψ kennt. Wenn man die
Rolle der Feldoperatoren in der Anwendung analysiert, dann werden durch sie Ty-
pen von Wechselwirkungen und mögliche Beobachtungen charakterisiert, nicht aber
bestimmte Systeme. Die Feldoperatoren scheinen, wenn man sie für Erklärungen
einsetzt, also eher auf der Ebene der Gesetze zu stehen und nicht zu der Ebene der
Randbedingungen zu gehören, die wechselnde Eigenschaften des Systems erfassen.
In der praktischen Anwendung spielen die oben angegebenen Erwartungswerte nur
eine indirekte Rolle. Die Feldoperatoren sind wichtig, wenn man fragt, wie groß die
Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Feldzustand |ta in einen anderen Feldzustand |tb
übergeht. Diese Funktion der Feldoperatoren hat aber keinen feldartigen Charakter
und ist kein Argument für eine Feldinterpretation der QFT.
Eine ähnliche Schwierigkeit mit der Anwendungspraxis der QFT ergibt sich
für eine Interpretation, nach der die Feldoperatoren zu Wahrscheinlichkeiten füh-
ren, klassische Feldkonfigurationen vorzufinden. Huggett (2000) nennt dies die
„Wellenfunktional-Interpretation“: Analog dazu, wie man die Wellenfunktion der
Quantenmechanik so verstehen kann, dass sie Orten Antreffwahrscheinlichkeiten
zuordnet, werden in der QFT Feldkonfigurationen (die selbst Funktionen sind)
Wahrscheinlichkeiten dafür zugeordnet, die betreffenden Feldkonfigurationen zu
beobachten (während Funktionen Zahlen auf Zahlen abbilden, bilden Funktionale
Funktionen auf Zahlen ab).
Eine Feldinterpretation müsste aber auch klar machen, wie es kommt, dass
z. B. die gesamte Ladung und Energie eines ausgebreiteten Elektronenfeldes in
einem Detektor „an einem Punkt“ lokalisiert werden. Die Feldoperatoren („Quan-
tenfelder“) scheinen also nicht als physikalische Felder interpretierbar zu sein, aber
auch die Zustandsvektoren |tψ sind keine Felder im klassischen Sinn und kom-
men auch nicht ohne die Operatoren aus. Es drängen sich auch keine anderen
mathematischen Strukturen auf, die problemlos als Felder interpretiert werden kön-
nen. Baker (2009) analysiert weitere Schwierigkeiten einer Feldinterpretation. So
scheinen auch die bisherigen Vorschläge, die QFT im Rahmen einer Feldontologie
zu interpretieren, nicht zum Erfolg zu führen.
werden, auf welche Weise es sich in einem physikalischen Sinne um eine Feldtheo-
rie handelt und nicht bloß um die Zuordnung bestimmter mathematischer Ausdrücke
zu Raumzeit-Punkten. Des Weiteren ist noch zu wenig untersucht, in wieweit die
Argumente gegen eine Teilcheninterpretation auch eine Feldinterpretation treffen.
Insgesamt kann man sagen, dass die erdrückende Beweislast gegen eine Teilchen-
interpretation und die nur schwer zu beantwortende Frage, in welchem Sinne die
QFT wirklich physikalische Felder beschreibt, es nahe legen, nach ganz anderen In-
terpretationsvorschlägen Ausschau zu halten, die besser zur QFT passen. Beispiele
dafür werden im nächsten Abschnitt diskutiert.
Es gibt in der Philosophie eine Konzeption, nach der nicht Dinge wie Elek-
tronen, sondern Strukturen bzw. Relationen die Grundelemente der Welt sind. Dies
ist der ontische Strukturenrealismus in seiner stärksten Variante: der sogenannte
„eliminative“ Strukturenrealismus (Ladyman 1998). In der heute gängigeren nicht-
eliminativen Variante des ontischen Strukturenrealismus stehen Strukturen bzw.
Relationen ontologisch mindestens auf derselben Stufe wie Dinge, in dem Sinne,
dass nicht nur Dinge existieren müssen, damit die Relationen realisiert sein kön-
nen, in denen diese Dinge zueinander stehen, sondern die betreffenden Dinge selbst
erst durch bestimmte Strukturen bestimmt sind. Die Behauptung ist also, dass es
Strukturen bzw. Relationen gibt, die nicht erst durch Anordnung der vorher be-
reits existierenden Dinge in die Welt kommen, sondern die konstitutiv für diese
Dinge sind. Im Rahmen der Physik dreht es sich bei diesen ontologisch grundlegen-
den Strukturen vornehmlich um Symmetriestrukturen (Lyre 2012). Bezüglich der
QFT geht es dabei an erster Stelle um solche Symmetrien, die für die Klassifikation
von elementaren Systemen (also insbesondere von Elementarteilchen) entscheidend
sind. In Abschn. 3.1.4 hatten wir z. B. gesehen, dass Elementarteilchen bezüglich
des Symmetrieverhaltens ihrer Zustände unter Permutationen in zwei Hauptgruppen
zerfallen: Bosonen (symmetrisch) und Fermionen (antisymmetrisch).
In der QFT erhält der ontische Strukturenrealismus wenigstens eine gewisse
Anfangsplausibilität durch die Tatsche, dass am Beginn der Theoriebildung oft
Symmetrieüberlegungen standen und die fundamentalen Symmetriestrukturen mit-
unter eher feststanden als die Elementarteilchen, die diese Symmetrien erfüllen (Cao
2010, bes. Kap. 1 und 9). In jedem Fall spielen Symmetrieüberlegungen in der mo-
dernen Physik eine so fundamentale Rolle, dass die Frage berechtigt erscheint, ob
sich dies nicht auch in der Ontologie niederschlagen muss.
Physikalische Theorien heißen invariant unter einer bestimmten (Symme-
trie-)Transformation, wenn ihre Gesetze sich von der Form her nicht ändern, falls
man die betreffende Transformation durchführt. Dabei kann es sich sowohl um
6 Quantenfeldtheorie 269
von Systemen mit unendlich vielen Freiheitsgraden, wie die QFT sie behandelt
(s. Abschn. 6.3.5). Das Problem der Wahl einer dieser inäquivalenten Darstellungen
würde sich aber gar nicht ergeben, wenn wir eine Berechtigung hätten, bereits
die Ebene der algebraischen Struktur der Vertauschungsrelationen als ontologisch
fundamental einzustufen. Genau dafür könnte der ontische Strukturenrealismus die
allgemeine Grundlage liefern.
Es gibt allerdings auch viele Einwände gegen den ontischen Strukturenrea-
lismus. Das Hauptargument gegen die starke eliminative Variante des ontischen
Strukturenrealismus besteht darin, dass die Annahme von Relationen ohne Rela-
ta in sich widersprüchlich sei. Bei der schwächeren nicht-eliminativen Variante des
ontischen Strukturenrealismus, die wir gerade dargestellt haben, besteht das Haupt-
problem darin, was genau darunter zu verstehen sein soll, dass Objekte strukturell
charakterisiert sind. Traditionellere Ontologen leugnen ja weder, dass es Relationen
bzw. Strukturen gibt, noch dass diese bei der Theoriebildung eine entscheidende
Rolle spielen, insbesondere in der QFT. Die Frage ist aber, ob es sinnvoll ist zu sa-
gen, dass Strukturen ontologisch primär sind oder wenigstens auf der gleichen Stufe
stehen wie Objekte. Behauptet der Vertreter des ontischen Strukturenrealismus nur,
dass es Strukturen gibt und diese wichtig sind, so wird damit keine neue Ontologie
etabliert.
die an die empirische Welt anschließen, eine tragende Rolle in der dispositionalen
Tropenontologie.47 Ein weiterer wichtiger Punkt besteht darin, dass in der AQFT
nicht einzelne Observablen an der Basis der Formulierung stehen, sondern Netze
von Observablen-Algebren. Mit anderen Worten sind das Zentrale weder einzel-
ne Observablen noch einzelne Observablen-Algebren, sondern die Art und Weise,
wie Observablen-Algebren bezüglich jeweils verschiedener Raumzeit-Regionen zu-
einander stehen. Nach der dispositionalen Tropenontologie wird dieser Aspekt am
besten von einer Bündeltheorie von Eigenschaften erfasst.
Es gibt eine Reihe weiterer Gründe, weswegen es vorteilhaft ist, weder (Quan-
ten-)Felder noch Elementarteilchen als fundamental anzusehen, sondern disposi-
tionale Tropen, die in Bündeln zu den Objekten korrespondieren, die wir etwa
als Elektronen kennen. Wir möchten exemplarisch zwei Punkte herausgreifen: Es
gibt Erhaltungssätze für diverse physikalische Größen, insbesondere für Ladun-
gen verschiedenster Art. Es gibt jedoch keinen Erhaltungssatz für die Teilchenzahl.
Solch ein Erhaltungssatz stünde auch im Widerspruch zur Empirie der Hochener-
giephysik, in der in Streuexperimenten ja millionenfach Teilchen vernichtet werden
und dafür andere Typen von Teilchen entstehen. Die Tropenbündeltheorie kann die-
se Tatsache ganz natürlich abbilden, da Teilchen hier keinen fundamentalen Status
haben, sondern durch neue Bündelung ständig entstehen und vergehen können. Ein
weiteres Thema, bei dem sich die dispositionale Tropenontologie als vorteilhaft
erweist, ist das Vakuum der QFT. In einer Teilchen-Interpretation ist es unver-
ständlich, dass Detektoren auch im Vakuum ansprechen, obwohl das Vakuum der
„0-Teilchen“-Zustand ist. Ganz anders die dispositionale Tropenontologie: Dis-
positionale Tropen liegen auch im Vakuum vor und können zu teilchenhaften
Detektionsergebnissen führen. Schließlich stellen sich auch die Nichtlokalisier-
barkeitprobleme der Teilchen-Interpretation nicht mehr, da Elementarteilchen in
der dispositionalen Tropenontologie keine fundamentalen Objekte sind und es
daher auch keine Erklärungsprobleme bereitet, dass sich nur unter bestimmten
Bedingungen einzelne teilchenhafte Aspekte beobachten lassen.
Die Diskussionen zur Ontologie der QFT sind noch vergleichsweise jung, und
entsprechend sind insbesondere die neueren Ansätze noch nicht hinreichend ausge-
arbeitet. Eine besondere Herausforderung für jegliche Interpretation, die versucht,
die QFT ontologisch ernst zu nehmen, besteht darin, die Existenz verschiede-
ner inäquivalenter Darstellungen richtig einzuordnen. Wie soll ontologisch damit
umgegangen werden, dass freie und wechselwirkende Theorie, ruhende und be-
schleunigte Beobachter, Beobachter in flacher und in gekrümmter Raumzeit zum
47 Rossanese (2013) argumentiert, dass die Überlegung, nach der der Unruh-Effekt die Teilchen-
interpretation unterminiert, nicht nur auf die Feldinterpretation übertragbar ist (wie Baker 2009
behauptet), sondern auch eine tropenontologische Interpretation treffen könnte.
6 Quantenfeldtheorie 273
Übungsaufgaben zu Kap. 6
1. Informieren Sie sich über Theorien des Lichts aus der Geschichte der Physik!
Warum war man mit Newtons Theorie des Lichts nicht zufrieden? Vergleichen
Sie die mathematische Beschreibung von Teilchen und Wellen! Was ist Ihrer
Auffassung nach der Hauptunterschied?
2. Gibt es in der klassischen Physik etwas, das weder Teilchen noch Feld ist?
3. Nennen Sie zwei Argumente, die nach Ihrer Auffassung am meisten dafür spre-
chen, die Quantenfeldtheorie als Theorie über Teilchen zu verstehen. Was kann
man gegen diese Argumente ins Feld führen?
4. Würde es Ihrer Meinung nach helfen, die Begriffe „Teilchen“ und „Feld“
auszuweiten, d. h. nicht nur solche Entitäten Teilchen bzw. Felder zu nennen,
die alle Charakteristika klassischer Teilchen bzw. klassischer Felder erfüllen?
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Chronologie und Ausblick
7
Cord Friebe, Meinard Kuhlmann und Holger Lyre
Inhaltsverzeichnis
7.1 Frühphase der Quantenphysik........................................................................... 278
7.2 Etablierung der Standard-Quantenmechanik ........................................................ 280
7.3 Bestätigung und neue Herausforderungen ........................................................... 282
Die folgende Chronologie legt den Fokus auf die Grundlagen und Deutungen
der Quantenphysik, sie ist keine Geschichte der Quantenphysik im Ganzen, ins-
besondere finden die speziellen Entwicklungen der Quantenfeldtheorie und der sich
daraus entwickelnden Teilchenphysik keine Berücksichtigung. Dafür kommen ne-
ben den im Buch vorrangig behandelten Deutungen (Kopenhagen, GRW, Everett,
Bohm) auch viele weitere Interpretationsansätze kurz zur Sprache, die im Rahmen
des Buches nicht eingehender behandelt werden konnten, wie etwa
C. Friebe ()
Philosophisches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland
e-mail: cgf88@hotmail.com
M. Kuhlmann
Philosophisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland
e-mail: mkuhlmann@uni-mainz.de
H. Lyre
Lehrstuhl für Theoretische Philosophie, Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
e-mail: lyre@ovgu.de
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 277
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_7
278 C. Friebe et al.
Insgesamt lässt sich die Entwicklung der Quantenphysik grob in drei Phasen ein-
teilen: In der Frühphase hielt man noch keine geschlossene Theorie in Händen,
vielmehr herrschte ein Gemisch von Modellen vor, das neuartige Elemente mit
klassischen verband. Die Frühphase begann 1900 mit Plancks Quantenhypothese
und endete etwa 1925. Daran schloss sich eine Phase des Durchbruchs und der
Etablierung der neuen Theorie, der Quantenmechanik, und eines entsprechenden
mathematischen Formalismus an. Sie endete etwa 1935 mit Bohrs Antwort auf
die Herausforderung durch das EPR-Gedankenexperiment, womit auch die seit
Mitte der 1920er Jahre geführte philosophische Deutungsdebatte um die neu ent-
wickelte Theorie ihren vorläufigen Abschluss fand, da die nunmehr durch Bohr,
Heisenberg und andere führende Quantenphysiker propagierte Kopenhagener Deu-
tung von der großen Mehrheit der Physiker – zumindest vorläufig, gewisserweise
aber bis zum heutigen Tage – als Standard-Deutung akzeptiert wurde. Seit Ende
der 1930er, spätestens im Verlaufe der 1940er Jahre ging die Entwicklung in ei-
ne dritte Phase über. Sie ist zum einen durch theoretische Weiterentwicklungen
wie relativistische Quantenmechanik, Quantenfeldtheorie und Quantengravitation
gekennzeichnet, aber auch durch wichtige experimentelle Bestätigungen der quan-
tenmechanischen Grundlagen, durch die Entwicklung innovativer moderner Gebiete
wie etwa der Quanteninformationstheorie sowie schließlich durch die Etablierung
abweichender alternativer Deutungsansätze.
1924: Bose-Einstein-Statistik.
Satyendranath Bose und Albert Einstein entwickeln eine von der klassischen Sta-
tistik abweichende Wahrscheinlichkeitsverteilung der Quantenstatistik von Boso-
nen. [Vgl. Abschn. 3.1.3]
280 C. Friebe et al.
1927: Solvay-Konferenz.
1927 gilt als das Schlüsseljahr für die Etablierung der Kopenhagener Deutung der
Quantenmechanik. In Kenntnis der Äquivalenz von Wellen- und Matrizenmecha-
nik – und also die von Inkonsistenzen befreite Theorie vor Augen – kommt es auf
der 5. Solvay-Konferenz zur Auseinandersetzung zwischen Einstein und Bohr, die
nach Mehrheitsmeinung Bohr für sich entscheidet.
in der Quantenmechanik zwei zeitliche Prozesse für die Wellenfunktion gibt, näm-
lich einerseits eine kontinuierliche und deterministische Entwicklung gemäß der
Schrödinger-Dynamik, andererseits einen diskontinuierlichen Kollaps. Auch leitet
von Neumann ein No-go-Theorem ab, das die Quantenmechanik als vollständig
ausweisen soll und somit die Möglichkeit einer Theorie mit ‚verborgenen Varia-
blen‘ bestreitet. Vor allem Bell kann später zeigen, dass die Voraussetzungen des
Theorems zu speziell sind, um diesen Schluss zu rechtfertigen.
1935: EPR-Argument.
Auch Einstein bleibt Gegner der Quantenmechanik. Gemeinsam mit Boris Podolsky
und Nathan Rosen veröffentlicht er ein Gedankenexperiment, das den Blick auf
zusammengesetzte Systeme richtet und die Vollständigkeit der Quantenmechanik in
Zweifel ziehen soll. [Vgl. Abschn. 4.2]
ab 1936: Quantenlogik.
Garrett Birkhoff und Johann von Neumann zeigen, dass die logische Struktur
der Quantenmechanik nicht derjenigen der klassischen Logik entspricht. Wäh-
rend die Aussagenmenge der klassischen, zweiwertigen Logik einen (distributiven)
Booleschen Verband bildet, bildet die Menge der Projektoren bzw. Unterräume
des Hilbertraums einen nicht-distributiven Verband, der sich insbesondere dadurch
auszeichnet, dass in ihm das Tertium non datur nicht gilt. Die Birkhoff/von-
Neumann-Arbeit gilt als Geburtsstunde der Quantenlogik.
ab 1939: Bewusstseins-Interpretationen.
In von Neumanns Theorie des Messprozesses (vgl. Eintrag 1932) wird auch der
Messapparat quantenmechanisch beschrieben. Dabei entsteht das Problem, dass
für das Zustandekommen eines eindeutigen Messergebnisses eine diskontinuierli-
che Zustandsänderung (‚Kollaps‘) gefordert werden muss. Von Neumann lässt die
Möglichkeit offen, dass diese Zustandsänderung erst bei der Wahrnehmung, also
durch das Bewusstsein des Beobachters, eintritt. Fritz London und Edmund Bau-
er entwickeln diese Vorstellung zu einer Messtheorie weiter, nach der der Kollaps
durch die Wechselwirkung des physikalischen Systems mit dem bewusstseinsbe-
gabten Beobachter eintritt, weil dieser die besondere Fähigkeit hat, seinen eigenen
Zustand eindeutig zu bestimmen. Ihre Position ist von philosophischen Lehren be-
einflusst, die von einem substanziellen Dualismus von Geist und Materie ausgehen.
In ähnlicher Weise weist auch Eugene Wigner dem Bewusstsein eine besondere Rol-
le beim Kollaps des Zustands bei der Messung zu (vgl. Eintrag 1961). In neuerer
Zeit hat Henry Stapp zusätzlich Gehirnzustände ins Spiel gebracht. Diese Ansät-
ze haben insgesamt in der Fachwelt wenig Resonanz gefunden, u.a. weil die dabei
zugrunde gelegten Annahmen über das Verhältnis von Materie und Bewusstsein
philosophisch problematisch sind und die darauf beruhenden Erklärungen für den
Messprozess wenig Erklärungswert haben und ad hoc erscheinen.
1949: Feynman-Diagramme.
Feynman führt im Rahmen seines Pfadintegral-Zugangs (vgl. Eintrag 1948) ei-
ne höchst effektive Methode ein, um die Wahrscheinlichkeiten zu erfassen, mit
denen bei Streuprozessen Anfangszustände in bestimmte Endzustände übergehen:
Feynman-Diagramme sind eine Art graphische Stenographie, die einzelnen Ele-
menten in der Störungsrechnung berechenbare Ausdrücke zuordnet. Sie sind ein
graphisches Hilfsmittel, um alle relevanten störungstheoretischen Beiträge zu finden
und zu berechnen. Ihre Funktion ist es dagegen nicht, wie ein weit verbreite-
tes Missverständnis besagt, fundamentale Prozesse zu veranschaulichen. Obwohl
Feynman-Diagramme im Zusammenhang mit dem Pfadintegral-Zugang eingeführt
worden sind, sind sie nicht an diese Herkunft gebunden. Sie werden in der glei-
chen Funktion auch in der Streutheorie der Standard-Formulierung der QFT benutzt.
[Vgl. Abschn. 6.3.4]
1954: Yang-Mills-Theorien.
Chen Ning Yang und Robert L. Mills weiten das Konzept der Eichtheorien (vgl.
Eintrag 1929) auf nicht-Abelsche unitäre Symmetriegruppen aus. Die spätere elek-
troschwache Vereinheitlichung und die QCD fallen darunter (vgl. Einträge 1964;
1967).
1959: Aharonov-Bohm-Effekt.
Yakir Aharonov und David Bohm entdecken einen nicht-lokalen Effekt, der nahe
legt, dass elektromagnetische Vektorpotenziale mehr als nur mathematische Hilfs-
konstruktionen sind. Genauer: das Kreisintegral über dem Potenzial liefert die im
Experiment beobachtbare Interferenzmuster-Verschiebung.
1967: Wheeler-DeWitt-Gleichung.
Ein Meilenstein in dem Versuch, die Allgemeine Relativitätstheorie kanonisch zu
quantisieren (vgl. Eintrag 1949–1957), ist die Wheeler-DeWitt-Gleichung, die zu-
nächst „Einstein-Schrödinger-Gleichung“ hieß. Sie drückt eine Bedingung aus,
die alle Wellenfunktionen erfüllen müssen, nämlich die Gleichberechtigung der
verschiedenen möglichen Koordinatensysteme.
1967: Kochen-Specker-Theorem.
Simon Kochen und Ernst Specker päsentieren ein Argument zugunsten der Vollstä-
ndigkeit der Standard-Quantenmechanik – also ein No-go-Theorem für verborgene
Variablen. Demnach besitzen Quantensysteme bestimmte Eigenschaften wie den
Spin nicht unabhängig vom Kontext, also nicht unabhängig davon, wie eine
Messung konkret ausgeführt wird.
1970: Dekohärenz.
H. Dieter Zeh gibt den Anstoß zu einem Projekt, das dann aber erst seit den
1990er Jahren reüssiert. Die Idee der Dekohärenz ist, dass unter Berücksichtigung
7 Chronologie und Ausblick 287
der Umgebung der Zustand des aus Messgerät und Mikroobjekt zusammenge-
setzten Systems auf natürliche Weise von der unerwünschten Superposition in
einen gemischten Zustand übergeht, der keine Interferenzen mehr enthält (daher
„dekohäriert“). [Vgl. Abschn. 2.3.2]
ab 1972: Modal-Interpretationen.
Bas van Fraassen schlägt eine Interpretation der Quantenmechanik vor, die er
bis 1991 fortentwickelt. Hauptziel dieses Ansatzes ist es, die Probleme zu lösen,
die insbesondere im Zusammenhang mit dem quantenmechanischen Messprozess
auftreten. Modal-Interpretationen nehmen, wie auch die Bohmsche Quantenmecha-
nik und die Viele-Welten-Interpretation, keinen Kollaps der Wellenfunktion an.
Das Projektionspostulat, nach dem der Zustand des Messobjekts bei der Messung
schlagartig in den (Eigen-) Zustand übergeht, der dem gemessenen Wert entspricht,
wird also zurückgewiesen. Grundlegend in van Fraassens modalem Ansatz ist die
Unterscheidung von „dynamischem Zustand“ und „Wertezustand“. Während der
dynamische Zustand beschreibt, was gemessen werden könnte, gibt der Wertezu-
stand an, was tatsächlich der Fall ist, sprich: welche physikalischen Eigenschaften
scharf vorliegen. Der dynamische Zustand ist dabei der gewöhnliche Hilbertraum-
Zustand der Quantenmechanik, der sich immer gemäß der Schrödinger-Gleichung
entwickelt. Eine entscheidende Idee dieser Modal-Interpretation ist nun, dass die
physikalischen Eigenschaften eines Systems scharfe Werte haben können, ohne
dass der dynamische Zustand Eigenzustand der entsprechenden Observablen ist. In
den folgenden Jahrzehnten wurden eine Reihe alternativer Modal-Interpretationen
formuliert, insbesondere von Simon Kochen, Dennis Dieks und Richard Healey.
1977: Quanten-Zenon-Effekt.
Baidyanaith Misra und George Sudarshan sagen einen Effekt voraus, dem zufolge
die Zerfallsrate eines Quantensystems durch kontinuierliche Messung drastisch ge-
senkt, das System also nahezu eingefroren werden kann (nach Art der Zenonischen
Bewegungsparadoxien).
288 C. Friebe et al.
1978: Delayed-choice-Experiment.
John A. Wheeler verschärft das Doppelspalt-Paradoxon durch verzögerte Wahl,
wonach Experimentatoren erst dann, wenn ein Teilchen den Doppelspalt (nach
klassischer Vorstellung) passiert hat, entscheiden, ob und was sie messen wollen.
1984 wird ein entsprechendes Experiment realisiert, das die quantenmechanischen
Vorhersagen bestätigt.
ab 1980: Quantencomputer.
Angetrieben durch erste theoretische Arbeiten von Yuri Manin, Richard Feynman,
Charles H. Bennett, Paul A. Benioff und David Deutsch reifen in den 1980er Jahren
die Konzepte der Quanteninformation und des Quantencomputers heran sowie die
daraus erwachsenden Möglichkeiten spezieller Quanten-Berechenbarkeit. Ab den
1990er Jahren entwickeln sich Quanteninformationstheorie und Quanteninformatik
zunehmend auch in experimenteller Hinsicht.
1982: Aspect-Experiment.
Alain Aspect et al. zeigen erstmals experimentell die Verletzung der Bellschen
Ungleichung (vgl. Eintrag 1964).
1982: No-cloning-Theorem.
William K. Wootters und Wojciech H. Zurek sowie Dennis Dieks zeigen, dass
Quantenzustände nicht klonierbar bzw. kopierbar sind.
ab 1984: Konsistente-Historien-Interpretation.
Eine oft in der Nähe der Kopenhagener Deutung eingeordnete Interpretation der
Quantenmechanik ist die Konsistente-Historien-Interpretation. Sie wurde 1984
durch Robert Griffiths eingeführt und in den Folgejahren durch ihn wie auch
durch Roland Omnés, Murray Gell-Mann und Jim Hartle fortentwickelt. Grund-
idee ist, etwas ähnlich wie bei Feynmans „Sum over histories“-Ansatz (vgl. Eintrag
1948), die Dynamik physikalischer Systeme auf „konsistente Historien“ zurück-
zuführen. Historien sind dabei zeitlich geordnete Reihen von Ereignissen, denen
in konsistenter Weise bestimmte Wahrscheinlichkeiten zugeschrieben werden, d. h.
insbesondere ohne mit der Schrödinger-Gleichung in Konflikt zu geraten. Die
Forderung (weitgehend) interferenzfreier Historien führte zu den sogenannten „de-
kohärenten Historien“. Die Konsistente-Historien-Interpretation verzichtet sowohl
auf einen Zustandskollaps als auch auf jegliche Beschreibung des quantenme-
chanischen Messprozesses. Heute spielt diese Interpretation besonders für die
Quantenkosmologie eine Rolle.
1984: Quantenkryptographie.
Charles H. Bennett und Gilles Brassard stellen erstmals ein Protokoll zum
Austausch von Quantenschlüsseln vor. Die Quantentheorie führt demnach auf
Verschlüsselungstechniken, die aus prinzipiellen Gründen abhörsicher sind.
1986: Transaktions-Interpretation.
Nach John Cramer ist die quantenmechanische Wellenfunktion eine reale physika-
lische Welle, die der relativistischen Quantenmechanik gehorcht und sich sowohl
in Form auslaufender, „retardierter“ Wellen in die Zukunftsrichtung als auch in
Form einlaufender, „avancierter“ Wellen in die Vergangenheitsrichtung ausbrei-
tet. Dabei kommt es zu Transaktionen („handshakes“), die dann Quantenereig-
nisse ausmachen. Cramers Interpretation lehnt sich an die Wheeler/Feynmannsche
Absorber-Theorie der elektromagnetischen Strahlung (1945) an.
ab 1986: Quantenschleifen-Gravitation.
Die Quantenschleifen-Gravitation wird zum wichtigsten kanonischen Ansatz einer
Quantengravitationstheorie (vgl. Eintrag 1949–1957) und stellt heute den Haupt-
konkurrenten zur Stringtheorie dar (vgl. Eintrag 1987). Der indische Physiker Ab-
hay Ashtekar leistet 1986 durch eine neue Variablenwahl einen wesentlichen Beitrag
zur Etablierung der Quantenschleifen-Gravitation. Mit dieser Methode finden Lee
Smolin u.a. bald darauf sogenannte Wilson-Loops („Schleifen“) als exakte Lösun-
gen der Wheeler-DeWitt-Gleichung (vgl. Eintrag 1967). Eine wesentliche Annahme
der Quantenschleifen-Gravitation ist die sogenannte Hintergrundunabhängigkeit,
wonach die Raumzeit kein bloßer Hintergrund, sondern auf mikroskopischer Ebene
selbst etwas Dynamisches ist. Raumzeit wird also nicht vorausgesetzt, sondern ent-
steht in gewisser Weise erst. Im Gegensatz dazu ist die Stringtheorie nicht (manifest)
hintergrundunabhängig, da sie mit einer gegebenen Raumzeit arbeitet.
ab 1987: Stringtheorie.
Die bereits in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit der QCD vorgeschlagene
Stringtheorie erlebt ein stark auflebendes Interesse als Kandidat einer vereinheit-
lichten Theorie von QFT und Gravitation. Die Stringtheorie wird zum wichtigste
kovarianten Ansatz einer Quantengravitationstheorie (vgl. Eintrag 1949–1957),
wobei u.a. störungstheoretische Berechnungen von bestimmten Streuamplituden
zu ihrem Durchbruch führen. Die Grundidee der Stringtheorie ist es, nicht Teil-
chen, sondern kleine vibrierende eindimensional ausgedehnte Saiten oder Fäden
(„Strings“) als die fundamentalsten Objekte anzunehmen. Ein entscheidender Vor-
teil besteht darin, dass Strings nicht punktförmig miteinander wechselwirken, so
dass bestimmte unendliche Größen vermieden werden können, die bereits in der
290 C. Friebe et al.
konventionellen QFT, aber erst recht bei der gesuchten Vereinheitlichung mit der
Gravitation große Probleme verursachen. 1995 schlägt Edward Witten eine um-
fassendere Theorie, die sogenannte M-Theorie, vor, zu welcher die bisherigen
Stringtheorien Approximationen sind.
1993: Quantenteleportation.
Charles H. Bennett et al. zeigen 1993, dass Quantenzustände ferntransportierbar
sind, wobei neben einem Quantenkanal, der auf einem Verschränkungssystem (z. B.
einem EPR-Paar) beruht, auch ein klassischer Kanal benötigt wird. Zeilinger et al.
realisieren 1997 erstmals entsprechende Experimente mit Photonen.
1994: Shor-Algorithmus.
Peter Shor findet einen Quanten-Algorithmus zur Primfaktorzerlegung in polyno-
mialer Zeit (vgl. Eintrag 1980). Die Arbeit wirkt enorm befruchtend für die weitere,
insbesondere experimentelle Fortentwicklung einer neu entstehenden Quanteninfor-
matik ab den 2000er Jahren.
Kapitel 1
1. Niels Bohr führte zur Deutung der Quantenmechanik den Begriff „Komple-
mentarität“ ein. Unterscheiden Sie zwei Lesarten, wie man ihn verstehen
kann.
Klassisch sich ausschließende Konzepte ergänzen sich quantenmechanisch
(Welle/Teilchen-Dualismus) versus klassisch sich ergänzende Größen schlie-
ßen sich quantenmechanisch in präzisierbarem Sinne aus (nicht-kommutierende
Observablen wie etwa Ort/Impuls oder Spin in verschiedenen Richtungen).
2. Bei aufeinanderfolgenden Spinmessungen wurden zuletzt vermeintlich zwei Ef-
fekte unterschieden, die durch das Mischen der Teilchen wieder rückgängig
gemacht werden könnten. Beschreiben Sie zunächst diese beiden vorgeblichen
Effekte und erläutern Sie anschließend, warum es sich dabei tatsächlich nur um
einen einzigen handelt. Was kann man daraus folgern?
In Abb. 1.5 laufen Teilchen mit definitem Spinwert in y-Richtung in die Ge-
samtapparatur hinein. Beim Durchgang durch das (erste) Ŝx -Gerät wird anschei-
nend einerseits ein definiter Spinwert in x-Richtung hergestellt, andererseits der
definite Spinwert in y-Richtung zerstört. Beides würden Spinmessungen ent-
lang der Wege bezeugen, wenn man sie durchführte. Die vermeintlichen zwei
Effekte können aber nicht separat rückgängig gemacht werden: Überraschender-
weise haben alle Teilchen, die die Gesamtapparatur verlassen, wieder ihren
ursprünglichen Wert. Daraus folgert man das Prinzip, wonach (auf das Beispiel
bezogen) der Zustand eines Teilchens mit bestimmtem Spinwert in bestimmter
Richtung nichts anderes ist als ‚Superpositionen‘ gegensätzlicher Spinwerte in
abweichenden Richtungen.
3. Betrachten Sie die Erwartungswerte von Operatoren in Abhängigkeit davon, ob
das physikalische System durch einen Eigenvektor des gewählten Operators dar-
gestellt wird oder nicht. Berechnen Sie die Erwartungswerte der zuvor gegebenen
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 291
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7
292 Musterlösungen der Übungsaufgaben
Nun werde der Zustand durch einen der Basisvektoren aus Abb. 1.11 dargestellt.
Der Erwartungswert ist nun nicht mehr identisch mit einem der Eigenwerte, und
die Streuung ist auch nicht mehr 0. Der Vorgang/die Messung, aus der dieser neue
Zustand hervorging, hat den zuvor definiten Spinwert zerstört (vgl. Abb. 1.3).
Rechnung (analog mit dem anderen Basisvektor):
0 –i 1 0
1 0 = 1 0 =0
i 0 0 i
Ŝ = 1 – 0 = 1
4. Was besagt von Neumanns Projektionspostulat? Erläutern Sie insbesondere, in-
wiefern dieses Postulat über das hinausgeht, was in Bezug auf Erwartungswerte
als unstrittig festgehalten wurde.
Unstrittig ist: Wenn das quantenmechanische System in einem Zustand ist, der
durch einen bestimmten Eigenvektor dargestellt wird, dann wird der dazuge-
hörige Eigenwert mit Sicherheit gemessen. Strittig ist die Umkehrung: Wenn
ein bestimmter Eigenwert gemessen wird, ist das quantenmechanische Sys-
tem (unmittelbar anschließend) in einem Zustand, der durch den (bzw. einen)
entsprechenden Eigenvektor dargestellt wird. Diese Eigenwert-Eigenvektor-
Verknüpfung fordert von Neumanns Projektionspostulat; es impliziert das Pro-
blem des Kollapses.
5. Im Gegensatz zur Alltagsmeinung, zu vielen philosophischen Denkrichtungen,
aber auch zu physikalischen Alternativen (z. B. GRW, Bohm) steht der
(Anschauungs-)Raum nicht im Zentrum der Standard-Quantenmechanik. Dis-
kutieren Sie diese These zunächst nicht-formal und anschließend anhand der
mathematischen Besonderheiten des Ortsoperators.
Offene Frage zu Abschn. 1.2.4.
Musterlösungen der Übungsaufgaben 293
Kapitel 2
1. Unterscheiden Sie zwei Lesarten der Bornschen Regel abhängig davon, ob der
Bezug auf eine Messung in ihr wesentlich ist oder nicht.
Ist der Bezug auf eine Messung relevant, liegen die Eigenschaften, die den Mess-
werten entsprechen, zeitlich-vor der Messung nicht bereits vor. Die Standard-
Quantenmechanik wäre dann vollständig, und es entsteht das Problem, zu klären,
was bei einer solchen Messung eigentlich geschieht. Ist der Bezug auf eine Mes-
sung jedoch irrelevant, wäre der Standard-Formalismus unvollständig, da dann
Eigenschaften objektiv vorlägen, die nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden
können. Es ist aber zu beachten, dass aufgrund von EPR/Bell (vgl. Kap. 4)
solche lokalen Eigenschaften in keinem Falle vorliegen und dass die Bohmsche
Mechanik (vgl. Kap. 5) nur Ortseigenschaften hinzufügt.
2. Nach der (Heisenbergschen) Kopenhagener Deutung gibt es zwei zeitliche Dy-
namiken des Zustandsvektors. Beschreiben Sie diese in eigenen Worten. Wie
verhält sich die zweite Dynamik zur Bornschen Regel und zu von Neumanns
Projektionspostulat? Was ist an ihr problematisch?
Die erste Dynamik folgt der linearen Schrödinger-Gleichung und ist kontinu-
ierlich, deterministisch und reversibel. Sie findet zwischen Messungen statt.
Während einer Messung kommt es, dieser Deutung zufolge, zu einer zweiten
Dynamik, die diskontinuierlich, indeterministisch und irreversibel ist. Entspre-
chend kommt es in der Bornschen Regel wesentlich auf den Bezug auf eine
Messung an; die zweite Dynamik ist durch von Neumanns Projektionspostu-
lat gefordert. Problematisch daran ist vor allem, dass es kein physikalisches
Kriterium dafür gibt, wo der Schnitt zwischen dem Messenden und dem
Zu-Messendem liegt.
3. Das Interpretationsproblem der Quantenmechanik kann auch als ein Trilemma
dargestellt werden. Erläutern Sie die drei Aussagen und zeigen Sie, dass
sie zusammen genommen inkonsistent sind. Worin besteht der Vorteil dieser
Darstellung gegenüber der bisherigen, an der Bornschen Regel orientierten?
Die drei Behauptungen sind:
a) Sämtliche objektiv vorliegende Eigenschaften werden durch den Zustands-
vektor bestimmt (Vollständigkeit des Standard-Formalismus).
b) Der Zustandsvektor folgt in seiner zeitlichen Entwicklung immer der linearen
Dynamik (Schrödinger-Gleichung).
c) Messungen ergeben stets definite Messwerte.
Die Konjunktion dieser drei Behauptungen ist inkonsistent, was bereits die
Spinmessungen vom Eingangskapitel zeigen. Der Vorteil dieser Darstellung des
Interpretationsproblems besteht darin, dass auf diese Weise alle noch vertretenen
Optionen (plus Varianten davon) auf dem Tisch liegen: Die Bohmsche Mechanik
als Negation der ersten Behauptung, „Kopenhagen“ und GRW als Negation der
zweiten sowie Everett als Negation der dritten.
4. Das Dekohärenzprogramm stellt einen wichtigen Fortschritt dar. Stellen Sie he-
raus, wodurch alle Interpretationsvarianten profitieren können. Warum aber löst
das Programm das Messproblem letztlich nicht?
294 Musterlösungen der Übungsaufgaben
Der entscheidende Fortschritt besteht darin, dass eine Basis – die Zeiger-Basis (in
der Regel der Ortsraum) – physikalisch-dynamisch ausgezeichnet wird; dies löst
den einen Teil des Interpretationsproblems, wovon alle Optionen profitieren. Des
Weiteren konnte gezeigt werden, dass lokal die Interferenzterme verschwinden,
was unserer Wahrnehmung entspricht. Global aber verstärken sich die Inter-
ferenzen sogar noch. Selbst wenn man dies akzeptieren wollte, erreicht man
durch Dekohärenz nur ein (zwar klassisch zu verstehendes) Entweder-Oder, al-
so weiterhin eine Form von Unbestimmtheit und noch immer keinen definiten
Messwert.
5. Formulieren Sie in eigenen Worten, was die GRW-Theorie in den Augen ih-
rer VertreterInnen leistet. Verteidigen Sie demgegenüber die Standardsicht der
Physik.
Die GRW-Theorie vertritt eine einheitliche (nicht-lineare) Dynamik ohne ge-
heimnisvolle Messung. Sie zeichnet das raumzeitliche Geschehen aus, was
unserer Erfahrung entspricht. (Ihr objektiver Indeterminismus könnte auch wei-
tere Vorteile bieten, etwa bei der Diskussion um den Zeitpfeil.) Die neuen
Naturkonstanten aber sind extrem willkürlich gewählt, gerade so, dass die Mess-
ergebnisse reproduziert werden, ohne eigenständige empirische Bestätigung. Die
gewöhnliche Quantenmechanik kann darüber hinaus auf etablierte Weise so mo-
difiziert werden, dass sie mit der (speziellen) Relativitätstheorie vereinbar ist
(vgl. Kap. 6) – eine (allgemein akzeptierte) lorentzinvariante GRW-Theorie liegt
demgenüber (noch) nicht vor.
Kapitel 3
1
S = √ ψa ψb ψc + ψb ψa ψc + ψc ψb ψa + ψa ψc ψb + ψc ψa ψb + ψb ψc ψa .
6
der Antisymmetrisierer Â2 = 1 – P̂12 die Funktion (3.7). Zur Konstruktion der
total-antisymmetrischen Basisfunktion der S3 benötigt man analog einen Anti-
symmetrisierer Â3 , der aus Ŝ3 durch Vorzeichenumkehr aller P̂ij hervorgeht, und
schließlich auf die total-antisymmetrische Basisfunktion
1
A = √ ψa ψb ψc – ψb ψa ψc – ψc ψb ψa – ψa ψc ψb + ψc ψa ψb + ψb ψc ψa
6
führt.
2. Wie lautet das Leibnizsche PII in kontrapositiver Formulierung?
Keine zwei Objekte teilen alle Eigenschaften.
3. Inwieweit ist die Bündelontologie auf das PII festgelegt?
Leibniz-Individuation ist Individuation über Eigenschaften. Falls Objekte Bün-
del von Eigenschaften sind, stehen zur Objekt-Individuation nichts anderes als
Eigenschaften zur Verfügung, daher ist die Bündelontologie auf das Leibnizsche
PII festgelegt.
4. Worauf beziehen sich die Konzepte synchroner und diachroner Identität?
Synchrone Identität bezieht sich auf die Identität (oder Unterscheidbarkeit) von
Objekten zu einem gegebenen Zeitpunkt, während diachrone Identität sich auf
zeitüberbrückende Persistenz bezieht.
5. Definieren Sie die drei Arten von Unterscheidbarkeit nach Quine.
Verschiedenheit hinsichtlich wenigstens einer
– monadischen Eigenschaft = absolute Unterscheidbarkeit,
– Ordnungsrelation = relative Unterscheidbarkeit,
– irreflexiven Relation = schwache Unterscheidbarkeit.
6. Diskutieren Sie, inwieweit schwaches PII und Strukturenrealismus zu verwandten
Objektkonzeptionen führen.
Offene Frage zu Abschn. 3.2.4.
Kapitel 4
1. In der EPR-Arbeit ist eine Annahme von zentraler Bedeutung, die wir „Loka-
litätsannahme“ genannt haben: „Da . . . die beiden Systeme zum Zeitpunkt
der Messung nicht mehr miteinander in Wechselwirkung stehen, kann nicht
wirklich eine Änderung in dem zweiten System als Folge von irgendetwas auf-
treten, das dem ersten System zugefügt werden mag.“ Wie verhält sich diese
Annahme zu den verschiedenen Begriffsdifferenzierungen, die in Abschn. 4.4.5
eingeführt worden sind: Ist damit auch globale und kausale Einstein-Lokalität
sowie raumzeitliche Separabilität gefordert?
Die Unterscheidung von erstem und zweitem System zeigt, dass Einstein Se-
parabilität fordert. Der Ausschluss von Wechselwirkungen bedeutet kausale
Einstein-Lokalität. Aus Separabilität und kausaler Einstein-Lokalität folgt dann
globale Einstein-Lokalität.
296 Musterlösungen der Übungsaufgaben
2. Angenommen für ein EPR/B-Experiment gelte eine lokale kausale Struktur mit
verborgenen Variablen λ (siehe Abb. 4.5). Überlegen Sie sich, warum dann aus
der Tatsache perfekter Korrelationen folgt, dass die Messungen deterministisch
ablaufen müssen.
Perfekte Korrelationen bestehen darin, dass bei gleicher Messrichtung an beiden
Flügeln die Messergebnisse mit Sicherheit übereinstimmen (zu 50 % α = +,
β = + und zu 50 % α = –, β = –). Eine lokale Struktur läuft darauf hi-
naus, dass das Messergebnis an einem Flügel nur vom Zustand des lokalen
Photons und der lokalen Messeinstellung abhängt. Angenommen eine Mes-
sung am Photon bei A habe für die Messeinstellung a = 0 ◦ das Resultat
α = + ergeben und bei B liege ebenfalls die Einstellung b = 0 ◦ vor. Dann
muss das Photon bei B auch β = + ergeben. Da das Messergebnis bei B
laut angenommener kausaler Struktur nur von der lokalen Messeinstellung und
dem Zustand des Photons bei B abhängt, müssen diese beiden das Ergebnis
determinieren. Das gilt dann auch, wenn bei A eigentlich eine andere Mess-
einstellung (d. h. nicht parallel zu der bei B) oder ein anderes Messergebnis
vorliegt. Ein analoges Argument gilt umgekehrt für das Photon bei A, wenn
das Ergebnis bei B festliegt. Deshalb müssen für jedes Photon der jeweilige
Zustand zusammen mit der vorliegenden Messrichtung determinieren, welches
Ergebnis eine Messung liefert, und diese Ergebnisse müssen für gleiche Mess-
richtungen übereinstimmen. (Vgl. auch Tab. 4.2, wo mögliche Determinierungs-
schemata angegeben sind, die jeweils unterschiedlichen Photonen-Zuständen
entsprechen.)
3. Nennen Sie die minimale Menge von Annahmen, die man benötigt, um eine
Bellsche Ungleichung herzuleiten und skizzieren Sie, was diese besagen.
Überblick über die benötigten Annahmen in Abschn. 4.3.4:
– Globale Einstein Lokalität: Es gibt keine kausalen Prozesse schneller als
Licht (s. Abschn. 4.3.1).
– Keine Rückwärtsverursachung: Wirkungen können nicht früher als ihre
(zeitartig gelegenen) Ursachen geschehen (s. Abschn. 4.5.3).
– Interventionsannahme: Der Experimentator (oder eine Maschine, die durch
den Experimentator aufgebaut wird) kann eine Einstellung eines makroskopi-
schen Apparats durch eine Intervention kontrollieren (s. Abschn. 4.5.2).
– Kausale Markov-Bedingung: Gegeben ihre direkten Ursachen Z wird eine
Variable X statistisch unabhängig von allen Variablen Y, die keine Wirkungen
von X sind: P(X|YZ) = P(X|Z) (s. Abschn. 4.3.4).
4. Wenden Sie die kausale Markov-Bedingung auf die lokale kausale Struktur in
Abb. 4.5 an und notieren Sie die resultierenden statistischen Unabhängigkeiten.
Die Markov Bedingung besagt, dass gegeben ihre direkten Ursachen eine
Variable unabhängig von ihren Nicht-Wirkungen wird. D. h. wenn X die betrach-
tete Variable ist, gilt P(X | direkte Ursachen von X, Nicht-Wirkungen von X) =
P(X | direkte Ursachen von X). Wendet man diese Regel auf jede Variable im
Musterlösungen der Übungsaufgaben 297
5. Umreißen Sie die vier Konfliktfelder einer Nicht-Lokalität mit der Relativitäts-
theorie.
Siehe Abschn. 4.4.2. (und zur Präzisierung die darauffolgenden Abschnitte): In
einer relativistischen Raumzeit
– ist Materie- oder Energietransport schneller als Licht nicht möglich.
– können Signale mit Überlichtgeschwindigkeit in paradoxe Schleifen führen.
– widersprechen fundamentale raumartige kausale Verbindungen der zeitlichen
Asymmetrie der Kausalität.
– zeichnen nicht-lokale Verbindungen Bezugssysteme aus und verletzen so das
Relativitätsprinzip.
6. Diskutieren Sie verschiedene Möglichkeiten einer Nicht-Lokalität, die im Ein-
klang mit dem Relativitätsprinzip stehen. Berücksichtigen Sie dabei physikalische
und ontologische Konsequenzen.
Siehe Abschn. 4.4.7:
Hyperplane-Dependence:
– vollständig Lorentz-invariante Theorie (auch mit Wechselwirkungen)
– Zustände sind nur relativ zu Hyperebenen definiert, d. h. an jedem Raumzeit-
punkt gibt es für ein Quantensystem unendlich viele Zustände, nämlich einen
zu jeder Hyperebene.
– ontologisch verschwenderisch
– hochgradig kontraintuitiv
– Was soll es heißen, dass ein Ding an einem Raumzeitpunkt verschiedene
Zustände haben kann?
GRW-Flash:
– Im Augenblick ist nur für Teilchen ohne Wechselwirkung eine lorentzinvari-
ante Theorie bekannt.
– Möglicherweise kann eine Theorie mit Wechselwirkung nicht lorentzinva-
riant sein; dann wäre dies keine angemessene Lösung.
– Objekte sind in der Raumzeit nicht kontinuierlich anwesend sondern eine
schnelle Abfolge von Flashes.
– ebenfalls kontraintuitiv
– Objekte in der Raumzeit sind Epiphänomene: Flash zur Zeit 1 verur-
sacht nicht den Flash zur Zeit 2. (Der Quantenzustand im Hilbertraum zu
Zeit 1 verursacht sowohl den Flash in der Raumzeit zu Zeit 1 als auch den
Quantenzustand zu Zeit 2; letzterer verursacht den Flash zu Zeit 2.)
– Der grundlegende Raum ist nicht die vierdimensionale Raumzeit, sondern
der (möglicherweise) unendlich-dimensionale Hilbert-Raum des Quantensys-
tems.
298 Musterlösungen der Übungsaufgaben
– Wie verhalten sich Raumzeit und Hilbert-Raum? Wie kann es sein, dass
Objekte aus letzterem in ersterem wirken? (aber nicht umgekehrt?)
– Superveniert die Raumzeit über dem Hilbertraum? Wenn ja: wie genau?
Kapitel 5
Kapitel 6
1. Informieren Sie sich über Theorien des Lichts aus der Geschichte der Physik!
Warum war man mit Newtons Theorie des Lichts nicht zufrieden? Vergleichen
Sie die mathematische Beschreibung von Teilchen und Wellen! Was ist Ihrer
Auffassung nach der Hauptunterschied?
Z. B. vertrat Newton eine Theorie, nach der Licht aus Korpuskeln besteht. Feld-
theorien konnten jedoch verschiedene Beugungs- und Brechungseffekte durch
die Interferenz von Wellen besser erklären als die Teilchentheorie. Der Zu-
stand eines Teilchens ist durch Ort und Impuls gekennzeichnet, es durchläuft
abhängig von der Zeit eine Bahn. Wellen kommen in Feldern vor. Zur Charakte-
risierung eines Feldes muss man für jeden Raumzeitpunkt z. B. die Feldstärke
angeben.
2. Gibt es in der klassischen Physik etwas, das weder Teilchen noch Feld ist?
In der klassischen Physik wurden mechanische Prozesse durch Teilchen und
elektromagnetische Prozesse durch Felder beschrieben. In der klassischen Physik
gibt es also keine Objekte, die weder Teilchen noch Felder sind. Allerdings kom-
men in der klassischen Physik Zahlen vor, die weder Teilchen noch Wellen sind
und überhaupt keine Objekte, die in den Raum eingebettet sind.
3. Nennen Sie zwei Argumente, die nach Ihrer Auffassung am meisten dafür spre-
chen, die Quantenfeldtheorie als Theorie über Teilchen zu verstehen. Was kann
man gegen diese Argumente ins Feld führen?
In den Experimenten werden vor allem Teilcheneigenschaften nachgewiesen, das
zeigt sich auch in der Sprechweise der „Teilchenphysik“ (vgl. 6.3.4). Allerdings
werden zur Berechnung der Streuquerschnitte auch die Feldaspekte der Quan-
tenfeldtheorie gebraucht. Für eine Teilcheninterpretation scheint vor allem auch
die Besetzungsdarstellung zu sprechen (6.3.2). Allerdings ist zu beachten, dass
das, was durch Erzeugungsoperatoren erzeugt wird (bzw. dessen Erzeugung be-
schrieben wird), nicht die Eigenschaften klassischer Teilchen hat. Z. B. gibt es in
der Quantenfeldtheorie Zustände mit nicht definierter Teilchenzahl, was in einer
reinen Teilchentheorie nicht vorkommen kann.
300 Musterlösungen der Übungsaufgaben
4. Würde es Ihrer Meinung nach helfen, die Begriffe „Teilchen“ und „Feld“ auszu-
weiten, d. h. nicht nur solche Entitäten Teilchen bzw. Felder zu nennen, die alle
Charakteristika klassischer Teilchen bzw. klassischer Felder erfüllen?
Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Gegenstände, die die Quantenfeldtheo-
rie beschreibt, im Laboralltag Teilchen oder Feld genannt werden, insbesondere
wenn sie in der jeweiligen Situation auch Eigenschaften von Feldern oder Teil-
chen haben. Für die Fragen, was die Natur der fundamentalen Objekte der Welt
ist und wie sie in den Raum eingebettet sind, muss man sich jedoch darüber klar
sein, dass die Quantenfeldtheorie nicht über klassische Teilchen und auch nicht
über klassische Felder spricht. Was man z. B. als Teilchen bezeichnen will, ist
eine Frage der sprachlichen Konvention. Dadurch wird aber noch nicht geklärt,
wie Quantenobjekte in den Raum eingebettet sind.
Sachverzeichnis
E F
Earman, John, 256 Faktorisierbarkeit, 144
ebene Welle, 242 Falkenburg, Brigitte, 266
effektive Wellenfunktion, 194, 200 Feinabstimmung, 155
Eichboson, 100 Feld
Eichprinzip, 281 klassisches, 236
Eichtransformation, 269 konjugiertes, 238
Eigen quantenmechanisches, 236
-raum, 28 Feld-Ontologie, 206, 233, 266–268
-vektoren, 21 Feldgrößen, 236
-zustand, 61 Feldimpuls, 238
Eigenschaften, 47, 53, 87, 270, 286 Feldinterpretation, 266–268
dispositionale, 202 Feldoperator, 257, 266
inkompatible, 236 Feldquantisierung, 237
kategoriale, 72, 202 Feldtheorie, 235
monadische, 269 Feldzustand, 250, 267
permanente, 235 Fermi-Dirac-Statistik, 80
relationale, 269 Fermi-Druck, 82
zeitabhängige, 235 Fermion, 80–82, 84, 95, 97, 100, 248, 268
Eigenwert, 19, 21, 31 Fernwirkung, 151, 154
-gleichung, 44 Feynman, Richard, 81, 283, 284
-problem, 22 Feynman-Diagramme, 251–253, 284
mehrfacher, 27, 122 Fine-Tuning, siehe Feinabstimmung
Einstein, Albert, 80, 108–118, 126, 159–160, Fockraum, 75, 243–251, 261–263
282 Fraser, Doreen, 244, 261, 263
Einstein-Lokalität, siehe Lokalität Freiheitsgrad, 232, 234, 236, 239, 245, 254,
Elementarität, 260 255, 262–263, 270, 285
Elementarteilchenphysik, 264 French, Steven, 96
Energiebedingung, 260 Führungsfeld, siehe Führungsgleichung
Energiequanten, 234, 244 Führungsgleichung, 191
Ensemble-Interpretation, 42, 46, 49, 225, 281 für N-Teilchen, 195
Entropie, 76 für Spin 12 -Teilchen, 195
Entscheidungstheorie, 219
Environment-induced-decoherence, 64, 216
Environment-induced-superselection, 215 G
Epistemische Interpretationen, 290 gemeinsame Ursache
EPR-Argument, 110–118, 282 nicht-abschirmende, 172–173
EPR-Gedankenexperiment, 111 verborgene, 149
EPR-Korrelationen, 108, 122–124, 128–129 Geometrische Phase, 288
EPR-Paradoxon, siehe EPR-Argument Ghirardi, Rimini, Weber, 59
EPR/B-Experiment, 120–123, 126–134 Gibbs-Paradoxon, 76
Ereignis, 131 Gibbsscher Korrekturfaktor, 76
Ergebnis-Abhängigkeit, 149, 156–158 Glashow-Salam-Weinberg-Theorie, 286
Erklärungen, kausale, siehe kausale Goudsmith, Samuel, 279
Erklärungen Gruppe
Erwartungswert, 26 Permutations-, 79
Erzeugungsoperatoren, 242–265 symmetrische, 79
Esfeld, Michael, 166, 269 GRW-Theorie, 42, 59, 60
Everett, Hugh III, 207 mit Flash-Ontologie, 170–171
Sachverzeichnis 303