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Philosophie der Quantenphysik

Cord Friebe • Meinard Kuhlmann •


Holger Lyre • Paul M. Näger •
Oliver Passon • Manfred Stöckler

Philosophie der
Quantenphysik
Zentrale Begriffe, Probleme, Positionen
2. Auflage
Prof. Dr. Cord Friebe Dr. Paul M. Näger
Philosophisches Seminar Philosophisches Seminar
Universität Siegen Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Deutschland Deutschland

PD Dr. Meinard Kuhlmann Dr. Oliver Passon


Philosophisches Seminar Fakultät für Mathematik und
Johannes Gutenberg-Universität Mainz Naturwissenschaften
Deutschland Bergische Universität Wuppertal
Deutschland

Prof. Dr. Holger Lyre Prof. Dr. Manfred Stöckler


Lehrstuhl für Theoretische Philosophie Institut für Philosophie
Universität Magdeburg Universität Bremen
Deutschland Deutschland

ISBN 978-3-662-54275-0 ISBN 978-3-662-54276-7 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7

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Vorwort

Die Philosophie der Quantenphysik geht auf eine Initiative des Springer-Spektrum
Verlages zurück, wofür unser besonderer Dank Frau Dr. Vera Spillner gilt. Die
Koordinierung der Zusammenarbeit zwischen den Autoren und mit dem Verlag be-
sorgte Cord Friebe – die anderen Autoren danken ihm für diese mühevolle Arbeit
ganz herzlich!
Leitidee war es, eine Lücke auf dem deutschsprachigen Lehrbuchmarkt zu
schließen, die zwischen allgemeinen Einführungen in diesen Themenkreis und
spezialisierten Monografien besteht. Gerade die Vielzahl populärer Darstellungen
dokumentiert das große Interesse auch einer breiten Leserschaft an den erkenntnis-
theoretischen und ontologischen Implikationen der Quantentheorie. Unser Ziel war
es nun, fortgeschrittenen Philosophiestudenten mit einem Interesse für Physik ei-
ne aktuelle und solide Einführung in die Philosophie der Quantentheorie zu geben.
Zugleich konfrontiert das Buch auch Physikerinnen und Physiker mit den philo-
sophischen Fragen ihres Faches. Ebenso können dem Band Anregungen für die
Lehramtsausbildung in den Fächern Philosophie und Physik entnommen werden.
Dass zwischen diesen Disziplinen ein enger Zusammenhang besteht, bedarf
kaum einer besonderen Begründung, und dieses Verhältnis erfährt in Phasen des
wissenschaftlichen Umbruchs stets eine Intensivierung. Neue physikalische Theo-
rien können das bisherige philosophische Wirklichkeitsverständnis herausfordern
oder sogar revidieren. Gleichzeitig kann die Philosophie einen Beitrag zum genaue-
ren Verständnis und zur Interpretation naturwissenschaftlicher Ergebnisse leisten.
Die Umwälzungen in der Physik des frühen 20. Jahrhunderts durch die Entwicklung
von Quantenmechanik und Relativitätstheorie belegen das nachdrücklich.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte eine Entwicklung ein, in
deren Verlauf die Philosophie der Physik zu einem sehr lebendigen und hoch
professionalisierten Zweig der angelsächsisch geprägten Wissenschaftsphilosophie
wurde. Zwar spielen Anregungen durch Physiker weiter eine Rolle, aber die
Hauptströmung der Forschung wird von Philosophinnen und Philosophen getra-
gen, die in der Physik einen guten fachwissenschaftlichen Hintergrund haben,
in ihrer Arbeit sich aber ganz auf Grundlagenfragen und philosophische Pro-
bleme der jeweiligen physikalischen Theorien konzentrieren. Die Ergebnisse dieser
Forschungen werden in spezialisierten Zeitschriften publiziert und diskutiert. Die-
se Professionalisierung hat auch dazu geführt, dass die neueren Debatten und
Ergebnisse dieser Auseinandersetzung in Physikerkreisen wenig bekannt sind.
V
VI Vorwort

Dieses Buch will deshalb an den maßgebenden gegenwärtigen Diskussionsstand


heranführen.
Die Fachdiskussion in den Zeitschriften setzt meistens detaillierte mathema-
tische, physikalische und philosophische Kenntnisse voraus. Unsere Darstellung
möchte auch hier eine Brückenfunktion übernehmen und setzt im Wesentlichen nur
Schulkenntnisse voraus. Alle weiteren (auch mathematischen) Hilfsmittel und Be-
griffe werden grundständig eingeführt; je nach Stand der Vorkenntnisse setzt dies
jedoch ein aktives Durcharbeiten vor allem der ersten beiden Kapitel voraus.
Charakteristisch für die Quantenphysik ist, dass auch ein Jahrhundert nach
ihrer Entwicklung ihre Folgen für unser Wirklichkeitsverständnis noch kontro-
vers diskutiert werden. Während diese Theorie in beeindruckendem Maße die
Beschreibung und Berechnung von Phänomenen erlaubt, ist ihre Beziehung zu
den Dingen und Eigenschaften der Welt weiterhin unklar bzw. konkurrieren zahl-
reiche Ansätze um die Aufklärung dieses zentralen Zusammenhangs. Dieses Buch
bietet eine Einführung in die zahlreichen philosophischen Herausforderungen der
Quantentheorie. Dabei werden Debatten nachgezeichnet und in den Kontext der
aktuellen Forschungsergebnisse eingeordnet. Grundsätzlich folgt das Buch jedoch
einer systematischen Darstellung.
Die folgende Übersicht über die Kapitel soll dem Leser die Orientierung erleich-
tern und die Beziehungen zwischen den Teilen verdeutlichen. Das erste Kapitel
wählt, im Sinne der Gesamtkonzeption des Buches, einen systematischen Ein-
stieg in die zentralen Grundkonzepte der Quantentheorie, darunter insbesondere den
Begriff der „Superposition“, und stellt sukzessive den mathematischen Apparat be-
reit. Auf die Verwendung von Differenzialrechnung und Differenzialgleichungen
wird weitgehend verzichtet. Vorausgesetzt sind lediglich einfache Grundlagen der
Koordinatengeometrie, Vektor- und Matrizenrechnung.
Nach Klärung der Grundlagen führt das zweite Kapitel in die Minimalinter-
pretation und die von vielen Physikern immer noch als Standardinterpretation
angesehene Kopenhagener Deutung ein. Die Kopenhagener Deutung wurde jedoch
weder je streng kodifiziert, noch ist sie ohne Probleme. So sind insbesondere die
Behandlung des Messprozesses und die Rolle des Beobachters innerhalb dieser
Deutung umstritten. Ghirardi, Rimini und Weber haben deshalb 1986 eine Modi-
fikation der Theorie vorgeschlagen. Diese – nach den Anfangsbuchstaben der
Autorennamen GRW genannte Theorie – beschreibt einen spontanen Kollaps und
wird am Ende des zweiten Kapitels vorgestellt.
Während die ersten beiden Kapitel lediglich 1-Teilchen-Zustände betrachten,
werden im dritten Kapitel Mehrteilchen-Systeme eingeführt und ihre Besonder-
heiten diskutiert. Dabei spielt das ebenso erstaunliche wie für die Quantentheorie
charakteristische Faktum der empirischen Ununterscheidbarkeit gleichartiger Quan-
tenobjekte eine entscheidende Rolle. Es findet seinen Niederschlag vor allem in
der Quantenstatistik, die eine bedeutsame Revision der klassischen statistischen
Mechanik darstellt. Die empirische Ununterscheidbarkeit von Quantenobjekten
wirft tiefliegende ontologische Fragen nach Identität und Individualität auf, die sich
vor allem in der in jüngerer Zeit wieder neu belebten Debatte um die Anwendbarkeit
des Leibniz-Prinzips in der Quantentheorie manifestieren.
Vorwort VII

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem Themenkreis „Verschränkte Zustän-
de“ und „Nicht-Lokalität“. Da Verschränkung eine Relation zwischen zwei (oder
mehr) Quantensystemen ist, knüpft das Kapitel inhaltlich an die Konzepte an, die
im dritten Kapitel eingeführt wurden. Die Besonderheit dieser Systeme besteht dar-
in, dass sie sich zu beeinflussen scheinen, auch wenn sie räumlich beliebig weit
voneinander entfernt sind. Diese Nicht-Lokalität der Quantentheorie ist vor allem
deshalb problematisch, weil sich solche Einflüsse schneller als Licht ausbreiten
müssten, was nach üblichem Verständnis der speziellen Relativitätstheorie wider-
spricht. Die Debatte um Verschränkung hat ihre Ursprünge in einer berühmten
Arbeit von Einstein, Podolsky und Rosen aus dem Jahre 1935, in der ein Gedanken-
experiment an verschränkten Systemen dargestellt wird, das bis heute prägend für
die Debatte ist. EPR benutzten das Gedankenexperiment, um ein Argument gegen
die Vollständigkeit der Quantenmechanik zu geben, nahmen dabei aber fälschlicher-
weise an, dass die Quantenwelt lokal ist. Anfang der 60er Jahre demonstrierte Bell
durch sein Theorem, dass das Gedankenexperiment von EPR vielmehr zeigt, dass
die Quantenwelt nicht-lokal ist: auch eine Vervollständigung der Quantenmechanik
durch verborgene Variablen kann die von Einstein geforderte Lokalität nicht retten.
Mittlerweile ist das von EPR ersonnene Experiment vielfach tatsächlich durchge-
führt und die Nicht-Lokalität ist eine bestätigter Grundzug der Quantenwelt. Aus
Bells Argument sind weitreichende Konsequenzen gezogen worden, und das vierte
Kapitel beinhaltet eine ausführliche Diskussion dieser Zusammenhänge und ihrer
Begründungen. Mithilfe kausaler Graphen soll die abstrakte Diskussion um Bells
Theorem anschaulicher zugänglich gemacht werden.
Das Stichwort „verborgene Variablen“ wurde bereits angesprochen, und im
ersten Teil des fünften Kapitels wird mit der de Broglie-Bohm-Theorie der be-
kannteste Vertreter dieser Interpretationsgattung vorgestellt. Hier werden einige der
radikalen erkenntnistheoretischen und ontologischen Implikationen beispielsweise
der Kopenhagener Deutung vermieden: Quantenobjekte bewegen sich gemäß dieser
Deutung tatsächlich auf Bahnen, und in einem formalen Sinne ist diese Theorie
sogar deterministisch. Der Preis, der dafür gezahlt werden muss, liegt in Eigenschaf-
ten, deren Annehmbarkeit kontrovers diskutiert wird. Ähnlich verhält es sich mit
der Viele-Welten-Interpretation der Quantentheorie, die im zweiten Teil des fünften
Kapitels vorgestellt wird. Ihre Lösung des Messproblems ist ebenso elegant, wie
ihre metaphysischen Implikationen extravagant sind. Beide Interpretationen haben
die Gemeinsamkeit, auf den Kollaps der Wellenfunktion zu verzichten, daher ihre
gemeinsame Vorstellung in einem Kapitel.
Im sechsten Kapitel wird der Bogen zu (relativistischen) Quantenfeldtheorien
geschlagen. Teilchenzahlen werden nun variabel (man spricht etwa von „Erzeu-
gung“ und „Vernichtung“ von Teilchen). Quantenfeldtheorien erlauben es, auch
die Wechselwirkung von Strahlung und Materie im Rahmen der Quantentheorie
zu erfassen. So können alte Probleme wie der Dualismus von Welle und Teilchen
und die Nicht-Lokalität der Mikrowelt mit neuen mathematischen Mitteln diskutiert
werden. Allerdings wird hier noch einmal besonders deutlich, was in allen Kapiteln
für Schwierigkeiten gesorgt hat: Die Frage, wie der mathematische Formalismus der
Theorie mit der realen Welt in Zusammenhang gebracht werden kann, ist nicht mehr
VIII Vorwort

einfach beantwortbar, wenn man über die Zuweisung von möglichen Messwerten
für konkrete Messungen hinausgeht, wenn man also mit einer Minimalinterpretation
der Quantentheorie nicht zufrieden ist.
Schließlich rundet das siebte Kapitel das Buch im Rahmen einer kleinen
Chronologie wichtiger Entwicklungsschritte in physikalisch-mathematischer wie
auch interpretatorischer Hinsicht ab. Der im wesentlichen systematische Aufbau
des Buches wird hier durch historische Angaben ergänzt, und die kurzen Erläu-
terungen zu Meilensteinen der Entwicklung können auch wie ein Glossar gelesen
werden. Zudem kommen hier Interpretationsansätze zur Sprache, die im Rahmen
des Buches nicht eingehender behandelt werden konnten.
Die vielen intensiven Diskussionen im Kreis der Autoren haben gezeigt, dass
jeder der sechs Autoren zum gleichen Thema ein anderes Buch geschrieben hätte.
Wir hoffen, dass unsere Kooperation zur besten aller möglichen Versionen geführt
hat.

Juli 2014 Cord Friebe, Meinard Kuhlmann, Holger Lyre,


Paul M. Näger, Oliver Passon, Manfred Stöckler
Vorwort zur 2. Auflage

Das Angebot des Springer-Verlags zu einer zweiten Auflage haben wir gerne als
Gelegenheit genutzt, nicht nur einige Druck- und Schönheitsfehler zu beseitigen,
sondern auch Verbesserungen an der Textgestaltung sowie inhaltliche Ergänzun-
gen vorzunehmen. Viele hilfreiche Hinweise haben wir dazu von Studierenden aus
unseren Seminaren in Wuppertal, Mainz, Saarbrücken und Bonn erhalten. Die Auf-
nahme von Übungsaufgaben am Ende jeden Kapitels soll sowohl Hilfe für das
Selbststudium bieten als auch Anhaltspunkte für Seminardiskussionen liefern. Mus-
terlösungen zu den Aufgaben finden sich am Ende des Buches.

Januar 2018 Cord Friebe, Meinard Kuhlmann, Holger Lyre,


Paul M. Näger, Oliver Passon, Manfred Stöckler

IX
Inhaltsverzeichnis

1 Physikalisch-mathematische Grundlagen .......................................... 1


Cord Friebe
1.1 Spin und Superposition .............................................................. 3
1.1.1 Stern-Gerlach-Experiment ................................................ 4
1.1.2 Aufeinanderfolgende Spinmessungen .................................. 6
1.1.3 Superpositionsprinzip ...................................................... 10
1.2 Mathematischer Formalismus der Quantenmechanik ........................ 15
1.2.1 Vektoren und ihre Darstellung ............................................ 16
1.2.2 Operatoren und ihre Eigenwerte ......................................... 19
1.2.3 Das Problem mehrfacher Eigenwerte ................................... 27
1.2.4 Spezielle Operatoren und Ortsdarstellung ............................. 31
Übungsaufgaben zu Kap. 1 ................................................................ 39
Literatur zu Kap. 1........................................................................... 39
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen ......................... 41
Cord Friebe
2.1 Minimalinterpretation ................................................................ 42
2.2 Ensemble-Interpretation und Kopenhagener Deutung........................ 46
2.2.1 Ensemble-Interpretation ................................................... 49
2.2.2 Kopenhagener Deutung(en) ............................................... 51
2.3 Messproblem und Dekohärenz ..................................................... 57
2.3.1 Quantenmechanisches Messproblem ................................... 59
2.3.2 Dekohärenzprogramm ...................................................... 63
2.4 Realistische Kollaps-Deutung: GRW............................................. 66
2.4.1 Nicht-lineare Dynamik ..................................................... 66
2.4.2 GRW-Ontologien und ihre Kritik ........................................ 70
Übungsaufgaben zu Kap. 2 ................................................................ 73
Literatur zu Kap. 2........................................................................... 73
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit .................................... 75
Holger Lyre
3.1 Quantentheorie gleichartiger Objekte ............................................ 75
3.1.1 Statistische Mechanik ...................................................... 75
3.1.2 Mehr-Teilchen-Tensorprodukt ............................................ 77

XI
XII Inhaltsverzeichnis

3.1.3 Quantenstatistik .............................................................. 79


3.1.4 Symmetrische Gruppe ...................................................... 82
3.2 Ontologie der Quantentheorie ...................................................... 85
3.2.1 Identität und Leibniz-Prinzip ............................................. 85
3.2.2 Leibniz-Prinzip und Quantentheorie .................................... 92
3.2.3 Schwache Unterscheidbarkeit ............................................ 97
3.2.4 Ausblick ....................................................................... 100
Übungsaufgaben zu Kap. 3 ................................................................ 103
Literatur zu Kap. 3........................................................................... 103
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen ............ 107
Paul M. Näger und Manfred Stöckler
4.1 Einführung und Überblick .......................................................... 107
4.2 Das EPR-Argument und seine Folgen............................................ 110
4.2.1 Das EPR-Argument im Überblick ....................................... 110
4.2.2 Analyse des EPR-Arguments ............................................. 112
4.2.3 Die Debatte um den EPR-Aufsatz und Nachwirkungen ........... 118
4.2.4 Analyse des Singulett-Zustandes ........................................ 121
4.3 Der Bellsche Beweis.................................................................. 125
4.3.1 Experimentelle Grundlagen ............................................... 126
4.3.2 Das ursprüngliche Bell-Theorem ........................................ 134
4.3.3 Bells Theorem als Strategie-Spiel ....................................... 136
4.3.4 Bells Theorem präzise ...................................................... 141
4.4 Nicht-Lokalität ......................................................................... 148
4.4.1 Lokalität vs. Hintergrundannahmen ..................................... 148
4.4.2 Konfliktfelder mit der Relativitätstheorie .............................. 149
4.4.3 Signale, Kausalität und Feinabstimmung .............................. 152
4.4.4 Ergebnis-Abhängigkeit vs. Parameter-Abhängigkeit .............. 156
4.4.5 Kausale Nicht-Lokalität vs. Nicht-Separabilität ..................... 158
4.4.6 Holismus ....................................................................... 164
4.4.7 Nicht-Lokalität und Relativitätsprinzip ................................ 166
4.5 Alternative Lösungsvorschläge .................................................... 171
4.5.1 Kausale Markov-Bedingung .............................................. 172
4.5.2 Interventionsannahme ...................................................... 174
4.5.3 Rückwärtsverursachung .................................................... 177
4.5.4 Fazit zu den alternativen Lösungsvorschlägen ....................... 180
4.6 Resümee ................................................................................. 180
Übungsaufgaben zu Kap. 4 ................................................................ 181
Literatur zu Kap. 4........................................................................... 182
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie ........................... 187
Oliver Passon
5.1 Die de Broglie-Bohm-Theorie...................................................... 188
5.1.1 Mathematische Beschreibung ............................................ 189
5.1.2 Die Quantengleichgewichtshypothese .................................. 192
5.1.3 Die Führungsgleichung .................................................... 195
Inhaltsverzeichnis XIII

5.1.4 Anwendungen der de Broglie-Bohm-Theorie ........................ 196


5.1.5 Die Lösung des Messproblems ........................................... 200
5.1.6 Die Schulen der de Broglie-Bohm-Theorie ........................... 203
5.1.7 Kritik an der de Broglie-Bohm-Theorie ................................ 205
5.2 Die Everett-Interpretation ........................................................... 207
5.2.1 Die Grundidee ................................................................ 208
5.2.2 Die Viele-Welten-Interpretation ......................................... 209
5.2.3 Das Problem der bevorzugten Basis .................................... 211
5.2.4 Die Rolle der Dekohärenztheorie ........................................ 214
5.2.5 Wahrscheinlichkeit in der Everett-Interpretation .................... 216
5.2.6 Kritik an der Everett-Interpretation ..................................... 222
5.3 Zusammenhang zwischen den verschiedenen Interpretationen ............ 225
Übungsaufgaben zu Kap. 5 ................................................................ 227
Literatur zu Kap. 5........................................................................... 227
6 Quantenfeldtheorie ........................................................................ 231
Meinard Kuhlmann und Manfred Stöckler
6.1 Charakterisierung der Quantenfeldtheorie ...................................... 231
6.2 Raumzeitliche Beschreibung von Prozessen.................................... 233
6.3 Mathematische Struktur der Quantenfeldtheorie .............................. 235
6.3.1 Quantisierung von Feldern ................................................ 236
6.3.2 Das einfachste Beispiel einer Quantenfeldtheorie ................... 239
6.3.3 Besetzungszahldarstellung ................................................ 244
6.3.4 Quantenfeldtheorie und Experiment .................................... 249
6.3.5 Probleme der konventionellen Quantenfeldtheorie .................. 253
6.4 Interpretationen der Quantenfeldtheorie ......................................... 258
6.4.1 Vorbemerkungen ............................................................. 258
6.4.2 Teilcheninterpretation ...................................................... 259
6.4.3 Feldinterpretation ............................................................ 266
6.5 Neue Wege der Interpretation ...................................................... 268
6.5.1 Ontischer Strukturenrealismus .......................................... 268
6.5.2 Eine tropenontologische Interpretation ................................. 270
6.5.3 Fazit zur Ontologie der Quantenfeldtheorie ........................... 272
Übungsaufgaben zu Kap. 6 ................................................................ 273
Literatur zu Kap. 6........................................................................... 273
7 Chronologie und Ausblick ............................................................... 277
Cord Friebe, Meinard Kuhlmann und Holger Lyre
7.1 Frühphase der Quantenphysik...................................................... 278
7.2 Etablierung der Standard-Quantenmechanik ................................... 280
7.3 Bestätigung und neue Herausforderungen....................................... 282
Musterlösungen der Übungsaufgaben .................................................. 291
Sachverzeichnis ................................................................................ 301
Autoren

Cord Friebe
studierte Philosophie, Physik und Mathematik in Freiburg/Br. und Padua. Pro-
motion 1998 mit einer Arbeit zur Ontologie „ununterscheidbarer“ Objekte in
Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie. Seit 2018 Professor für Theoretische
Philosophie mit einem Schwerpunkt in Analytischer Philosophie an der Universität
Siegen. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Physik, Analytische Ontologie,
Theoretische Philosophie Kants. Forschungsaufenthalte in Trient und Sydney;
Lehrtätigkeit in Freiburg/Br., Bonn, Saarbrücken, Köln, Konstanz und Siegen.
Letzte Buchveröffentlichungen: Zeit–Wirklichkeit–Persistenz. Eine präsentistische
Deutung der Raumzeit (2012); Geld: eine philosophische Orientierung (2015). Ge-
genwärtiges Forschungsprojekt (DFG) zu neueren Entwicklungen bezüglich der
Individualität von Quantenobjekten.

Meinard Kuhlmann
studierte Physik und Philosophie an den Universitäten Bochum, München, St. An-
drews (Schottland) und Köln, 1995 Diplom in Physik in Köln; 2000 Promotion
und 2008 Habilitation in Philosophie in Bremen. Forschungsaufenthalte an den
Universitäten Chicago und Irvine (1998), Oxford (2002/2003), Pittsburgh (2010)
und LSE London (2011). Seit 2012 Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Philosophie
der Physik der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. 2010–2012 Lehrstuhlver-
tretungen an den Universitäten Hannover, Jena und Bielefeld. Seit 2014 vertritt
er die Professur für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Mainz. Haupt-
arbeitsgebiete: Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie und Analytische Ontologie;
dabei speziell die Ontologie physikalischer Theorien, Erklärungstheorien sowie die
Philosophie komplexer Systeme (insb. Econophysics). Monographien: Ontological
Aspects of Quantum Field Theory (hg. mit H. Lyre und A. Wayne 2002); The Ulti-
mate Constituents of the Material World - In Search of an Ontology for Fundamental
Physics (2010).

Holger Lyre
studierte Physik, Philosophie und Neuroinformatik an den Universitäten Marburg,
Dortmund und Bochum. 1993 Diplom in Physik in Dortmund, 1996 Promotion

XV
XVI Autoren

in Philosophie in Bochum und 2003 Habilitation in Bonn. Lehrstuhlvertretungen


in Bielefeld und Augsburg, seit 2009 Professor für Theoretische Philo-
sophie/Philosophie des Geistes an der Universität Magdeburg. Auslandsforschungs-
aufenthalte an den Universitäten Pittsburgh (1998/1999) und San Diego (2014),
2011–2016 Gründungspräsident der Gesellschaft für Wissenschaftsphilosophie
(GWP). Hauptarbeitsgebiete: Wissenschaftsphilosophie (speziell Philosophie der
Physik und Wissenschaftstheorie der kognitiven Neurowissenschaften) sowie Philo-
sophie des Geistes. Monographien: Quantentheorie der Information (1998); Onto-
logical Aspects of Quantum Field Theory (hg. mit M. Kuhlmann und A. Wayne,
2002); Informationstheorie. Eine philosophisch-naturwissenschaftliche Einführung
(2002); Lokale Symmetrien und Wirklichkeit (2004); C. F. v. Weizsäcker: The
Structure of Physics (hg. mit T. Görnitz 2006); Kants „ Prolegomena“: Ein
kooperativer Kommentar (hg. mit O. Schliemann 2012).

Paul M. Näger
studierte Physik und Philosophie in München (2006 Diplom in Physik, LMU Mün-
chen). Nach einem Forschungsaufenthalt in Oxford (2008/2009) war er 2010–2013
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen, wo er mit einer wis-
senschaftsphilosophischen Arbeit zu verschränkten Quantensystemen promoviert
wurde („Quantum Entanglement and Causation“). Seit 2013 forscht und lehrt er
an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (2013–2017 als wissenschaft-
licher Mitarbeiter, seit 2017 als akademischer Rat a. Z.). Seine Arbeitsschwerpunkte
liegen in der Philosophie der Physik (insb. Quantenphysik, Relativitätstheorie), der
Wissenschaftsphilosophie (insb. statistische Methoden und kausales Schließen, Er-
klärungen, Reduktion/Emergenz) und in der Metaphysik (insb. Raum und Zeit,
Kausalität, Mereologie).

Oliver Passon
studierte Physik, Mathematik, Philosophie und Erziehungswissenschaften an der
Universität Wuppertal. Diplom (1998) und Promotion (2002) in der experimentel-
len Elementarteilchenphysik mit einer Datenanalyse für das DELPHI Experiment
am Europäischen Labor für Hochenergiephysik (CERN) in Genf. Wissenschaft-
licher Mitarbeiter am Forschungszentrum Jülich im Zentralinstitut für Angewandte
Mathematik (2004–2007). Referendariat für das Lehramt Physik und Mathematik
(2. Staatsexamen 2008). Lehrer für Physik und Mathematik am Carl-Duisberg Gym-
nasium in Wuppertal (bis 2013). Seit 2013 akademischer Rat in der Arbeitsgruppe
Physik und ihre Didaktik der Bergischen Universität Wuppertal und Mitglied des
Interdisziplinären Zentrums für Wissenschafts- und Technikforschung (IZWT). Zu
den Hauptarbeitsgebieten gehören Phänomenologische Optik, Wissenschaftstheo-
rie und Interpretation der Quantenmechanik. Monographien: Bohmsche Mechanik
(2004, 2. verbesserte Auflage 2010).

Manfred Stöckler
studierte Physik und Philosophie in Heidelberg und Gießen und wurde nach ei-
nem Diplom in Theoretischer Atomphysik mit einer Arbeit über philosophische
Autoren XVII

Probleme der relativistischen Quantenmechanik zum Dr. phil. promoviert (1984).


Thema der Habilitationsschrift war eine philosophische Untersuchung der Ele-
mentarteilchenphysik und der Grundlagen der Quantenfeldtheorie. Akademische
Stationen: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Philosophie und Grund-
lagen der Wissenschaften in Gießen und am Philosophischen Seminar der Uni-
versität Heidelberg. Seit 1991 Professor für Theoretische Philosophie mit dem
Schwerpunkt Naturphilosophie und Philosophie der Naturwissenschaften an der
Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Probleme der gegenwär-
tigen Physik (insbesondere der Quantentheorie und der Kosmologie), Philosophie
der Zeit, methodologische Probleme bei der Erforschung komplexer Systeme.
Physikalisch-mathematische
Grundlagen 1
Cord Friebe

Inhaltsverzeichnis
1.1 Spin und Superposition ................................................................................... 3
1.2 Mathematischer Formalismus der Quantenmechanik ............................................. 15
Übungsaufgaben zu Kap. 1 ...................................................................................... 39
Literatur zu Kap. 1 ................................................................................................. 39

Gegenstand dieses ersten Kapitels zur Philosophie der Quantenphysik1 sind


physikalische Systeme, von deren innerer Struktur abgesehen werden kann. Wir
betrachten also zunächst Einzelsysteme, einzelne Silberatome etwa oder auch ein-
zelne Elektronen, welche letztere nach heutigem Wissensstand tatsächlich keine
innere Struktur besitzen. Damit lassen wir all jene Probleme zunächst beiseite, die
Mehrteilchen- oder zusammengesetzte Systeme dem philosophischen Verständnis
bereiten: den „Individualitätsverlust“ gleichartiger Teilchen ebenso wie das neuarti-
ge Verhältnis zwischen einem Ganzen und seinen Teilen, wie es das berühmte EPR-
Paradoxon zeigt. Beiden Herausforderungen ist je ein eigenes Kapitel gewidmet.
Schon ein Einzelsystem aber, das Gegenstand der Quantenmechanik ist, wirft er-
hebliche philosophische Interpretationsprobleme auf. Dies zu sagen, bedeutet wohl-
gemerkt nicht, dass makroskopische Objekte der Alltagswelt oder der klassischen
Physik keine Gegenstände philosophischer Kontroversen wären. Ganz im Gegen-
teil: Die Theoretische Philosophie (Erkenntnistheorie, Ontologie) nahm bei Platon
und Aristoteles ihren Ausgang gerade bei der Betrachtung gewöhnlicher, sinnlich
wahrnehmbarer Einzelgegenstände. So bezeichnen wir numerisch verschiedene

1 DieQuantenphysik umfasst wie die klassische Physik mehr als nur Mechanik, insbesondere
auch Quantenfeldtheorie. Insofern diese ausdrücklich mitgemeint ist, wird von „Quantenphysik“
gesprochen, in der Regel aber beschäftigt sich dieses Grundlagenkapitel mit der Quantenmechanik.

C. Friebe ()
Philosophisches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland
e-mail: cgf88@hotmail.com
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 1
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_1
2 C. Friebe

Personen etwa gleichermaßen als „tapfer“, wie es bei Sokrates schon in einem Früh-
dialog Platons heißt. Daher stelle sich die Frage, was sie denn gemeinsam haben.
Die Tapferkeit vielleicht, also eine Universalie, die irgendwie Mehrerem zukommen
kann? Nämlich entweder als eine Idee ante rem in Platons Himmel, an der die kon-
kreten, individuellen Personen ‚teilhaben‘, oder aber als etwas in re, das zu einem
und demselben Zeitpunkt sowohl in dieser als auch in jener Person ‚instantiiert‘ ist.
Das hiermit erstmals aufgeworfene Problem des Verhältnisses eines Objekts oder ei-
ner Person zu seinen/ihren Eigenschaften ist bis heute Gegenstand philosophischer
Debatten – ganz unabhängig von den Entwicklungen in der modernen Physik.
Oder nehmen wir als zweites Beispiel den neuzeitlichen britischen Philosophen
David Hume und sein skeptisches Argument gegen bestimmte Auffassungen der
Kausalität: Wenn wir meinen, dass ein Ereignis wie etwa die Bewegung einer
Billardkugel durch den Stoß einer anderen bewegten Billardkugel verursacht oder
hervorgerufen werde, so glauben wir offenbar, dass die stoßende Billardkugel die
gestoßene zu ihrer Bewegung zwinge, dass eine Art Kraft dafür sorge, dass das Er-
eignis der Wirkung nicht ausbleiben kann, sondern stattfinden muss. Was wir aber
tatsächlich beobachten, so Hume, sei lediglich ein zeitliches Nacheinander und ein
räumliches Nebeneinander von zwei Bewegungen; eine bloß faktische Regularität
und keinen Zwang, keine Notwendigkeit. Sind Verursachungsverhältnisse somit gar
nichts anderes als raumzeitliche Regularitäten, oder gibt es über das Beobachtbare
hinaus notwendige Vernüpfungen zwischen Ereignissen in der Welt? Auch die-
se Kontroverse dauert bis heute an – ganz unabhängig von quantenphysikalischen
Phänomenen.
Worauf es in diesem ersten Kapitel vor allem ankommt, ist daher dieses:
Herauszustellen, dass ein quantenmechanisches Einzelsystem jedem theoretischen
Philosophen zusätzliche Schwierigkeiten bereitet. Gleichgültig, ob jemand ein
(moderner) Aristoteliker, Humeaner oder auch Kantianer ist: Es gibt empirische
Phänomene im Bereich des Mikroskopischen und theoretische Konsequenzen der
Quantenmechanik, die unabhängig von der philosophischen Grundeinstellung ei-
ne besondere Herausforderung darstellen – und zwar schon beim Einzelsystem.
Die Diskussion dieser Phänomene und Konsequenzen kann dann grundsätzlich auf
zwei verschiedene Weisen philosophisch fruchtbar sein: entweder als Befruchtung
andauernder philosophischer Kontroversen, indem die Quantenmechanik zur Stüt-
zung einer vorhandenen Position ins Feld geführt wird, oder aber in dem Sinne, dass
sie zur Entwicklung gänzlich neuartiger philosophischer Theorien zwingt.
Auf diese Weisen einzusteigen, könnte man aber als tendenziös empfinden:
Denn danach erscheint die Quantenmechanik ausschließlich als ein Problem für die
Philosophie, nämlich insofern anscheinend nur die Frage gestellt ist, welche die
zur Quantenmechanik passende philosophische Theorie sein möge. PhysikerInnen,
aber auch viele Physik-PhilosophInnen, sehen das vielleicht ganz anders: Wenn
etwa der Physiker Niels Bohr den Begriff „Komplementarität“ zur Deutung der
Quantenmechanik ins Spiel brachte, so habe dies vor allem den folgenden Zweck
gehabt: „Komplementär“ sollen laut Bohr zwei Größen oder zwei Beschreibungen
sein, die einerseits einander ausschließen, anderseits sich aber doch ergänzen; was
ja auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt. Was Bohr aber intendierte, sei
keineswegs widersprüchlich, da sich die beiden von ihm hauptsächlich betrachteten
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 3

Größen – Teilchenbild und Wellenbild – klassisch ausschlössen und quantenme-


chanisch ergänzten. Worum es ihm ging, sei nämlich die Frage gewesen: Wie
passt die Quantenmechanik zum Weltbild der klassischen Physik? Davon hat man
sich zwar anscheinend entfernt – wen interessiert noch das ‚Weltbild der klassi-
schen Physik‘? –, doch in Bohrs Sinne wird immer wieder gefragt: Wie passt eine
realistische Deutung der Quantenphysik zu anderen Teilen der aktuellen Physik,
also etwa zur speziellen Relativitätstheorie? Wie passen die Theorien des Mikro-
skopischen zur anschaulichen, mesokosmischen Welt (Stichwort: Messproblem)?
Und wie passt das Mikroskopische (insbesondere die Quantenfeldtheorie, QFT)
zum Makrokosmos (zur allgemeinen Relativitätstheorie)? Demnach ist die Frage
also nicht, welche philosophische Theorie im Angesicht der modernen Physik die
plausibelste sei, sondern ob und wie die Quantenphysik ein einheitliches Theorien-
gebäude der Physik gewährleisten könne. Dies muss nicht unbedingt ein Gegensatz
sein, doch: Es ist ein Unterschied, ob man ein philosophisches Problem erst dort
erblickt, wo die Physik selbst (noch) inkonsistent ist – wie etwa beim Widerspruch
zwischen QFT und allgemeiner Relativitätstheorie –, oder auch dort schon, wo die
Physik einheitlich und konsistent ist.
Der Schwerpunkt dieses Lehrbuchs zur Philosophie der Quantenphysik liegt
auf diesem letzten Problem: In erster Linie nämlich kommen Phänomene und
theoretische Konsequenzen zur Sprache, die in der Physik als etabliert gelten kön-
nen. Dies gilt sogar noch für das letzte Kapitel zur QFT, solange sie nämlich nicht
mit der allgemeinen Relativitätstheorie konfrontiert wird, vor allem aber gilt es
für das wichtige Phänomen der ‚Ununterscheidbarkeit‘ gleichartiger Teilchen (vgl.
Kap. 3), das ganz ohne das notorische Messproblem eine erhebliche philosophische
Herausforderung darstellt. Selbstverständlich aber spielt auch das Theoriengebäude
der Physik hier eine wichtige Rolle, hauptsächlich in Gestalt eben des Messpro-
blems, also des Zusammenhangs von Mikro- und Makrowelt, das in der Physik
selbst als nicht gelöst anzusehen ist. Zu seiner Lösung oder auch Auflösung kom-
men dann auch Theorien zur Sprache – wie die realistische Kollaps-Deutung nach
Ghirardi, Rimini und Weber (GRW; vgl. Abschn. 2.4) oder die deterministische
De-Broglie-Bohm-Theorie (vgl. Abschn. 5.1) –, die in der Physik gerade nicht als
Standard gelten. In diesem ersten Kapitel sollen aber zunächst die physikalischen
und mathematischen Grundlagen der gewöhnlichen Standard-Quantenmechanik
von Einzelsystemen gelegt werden.

1.1 Spin und Superposition

Die Quantenphysik in erster Linie als Herausforderung für philosophische Theorien


anzusehen,2 hat gleich zu Beginn eine (auch didaktische) Konsequenz: Wenn es

2 Also Probleme zu behandeln wie die Beziehungen eines Einzelgegenstandes zu seinen Eigen-
schaften und eines Ganzen zu seinen Teilen, das Verhältnis von Ursache und Wirkung sowie die
fragliche zeitüberdauernde Identität und zeitliche Veränderung von Quantensystemen.
4 C. Friebe

demnach nicht so sehr um das Theoriengebäude der Physik geht, erscheint ein
Einstieg, welcher die Quantenmechanik aus der klassischen Physik hervorgehen
lässt und ihre ungewöhnlichen Phänomene mit Vorstellungen über klassische Teil-
chen oder Wellen zu veranschaulichen versucht, als unangemessen. Der historische
Entdeckungszusammenhang ist vielleicht systematisch irrelevant, weshalb wir – im
Gegensatz zu vielen populären Darstellungen der Quantenmechanik – weder mit
der Planckschen Strahlungsquantelung (entdeckt schon im Jahr 1900) noch mit
dem Doppelspaltexperiment oder dem Photoeffekt (1905) beginnen, also nicht mit
solchen physikalischen Phänomenen, die laut Bohr die klassisch unverständliche
Doppelnatur des Quantensystems als Teilchen und Welle nahelegen; Bilder, die sich
klassisch ausschließen, quantenmechanisch vorgeblich aber doch ergänzen sollen.
Stattdessen sei das Quantensystem von vornherein als ein Objekt mit eigenem
Recht angesehen, für das wir – nahezu unabhängig von der Frage, ob es eher ein
klassisches Teilchen oder doch eher eine Welle oder vielleicht beides sei – etwa
fragen, ob es in Ursache-Wirkungs-Verhältnissen steht, ob es Zeit überdauert, ob
es intrinsische Eigenschaften hat oder bloß relational individuiert werden kann,
usw. Wir setzen daher eher mit Bohrs zweitem, gänzlich anderem Verständnis von
„Komplementarität“ an, wonach vielmehr zwei Größen – wie etwa der Ort und der
Impuls3 – sich quantenmechanisch ‚ausschließen‘, die klassisch einander noch er-
gänzten. Wie sich zeigen wird, lässt sich dies im mathematischen Formalismus der
Quantenmechanik präzise wiedergeben. Und wir setzen daher mit einem Experi-
ment ein, das erst 1922 – als die Quantenmechanik also bereits über 20 Jahre auf
ihrem Wege war – durchgeführt wurde und eine Eigenschaft quantenphysikalischer
Systeme zutage förderte, für die es klassisch überhaupt kein Analogon gibt, die al-
so paradigmatisch für die Eigenständigkeit des Quantensystems stehen kann: den
Spin.4 Dieser Spin zeigt physikalisch, was quantenmechanisch eigentümlich ist,
und motiviert direkt den anschließend darzustellenden Vektorraum-Formalismus der
Quantenmechanik.
Eine Warnung ist allerdings angebracht: Auf diese Weise wird das Problem der
Einbettung in den (Anschauungs-)Raum heruntergespielt, was für die Standard-
Quantenmechanik durchaus angemessen ist. Im weiteren Verlauf wird sich aber
zeigen, dass dieses Problem weiterhin auf der Agenda der (Philosophie der) Quan-
tenphysik steht. Die raumzeitliche Interpretation der Quantenobjekte steht im
Zentrum von GRW, Bohm und QFT.

1.1.1 Stern-Gerlach-Experiment

Im Februar 1922 führten die Physiker Otto Stern und Walther Gerlach in Frank-
furt/M. ein Experiment durch, das theoretisch einen wichtigen Beitrag zur reifen,
in sich abgerundeten neuen Quantenmechanik lieferte, die seinerzeit noch immer

3 DerImpuls eines Objekts ist die mit seiner Masse multiplizierte Geschwindigkeit.
4 Der Spin ist ein Drehimpuls, der vielleicht als die Rotation des Objekts um sich selbst
veranschaulicht werden kann, was bei punktförmigen Teilchen aber eigentlich unanschaulich ist.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 5

Spin-up

50 %
N
Ag-Strahl

S
Ag-Dampf-
Quelle 50 %

Spin-down

Abb. 1.1 Das Stern-Gerlach-Experiment: Ein Strahl von Silberatomen wird durch ein Magnetfeld
aufgespalten, was durch den Elektronen-Spin erklärt wird

eher ein Theoriengemenge aus klassischen Elementen und neuen Prinzipien


war (Stichwort: Bohrsches Atommodell). Praktisch findet die Entdeckung der
„Raumquantisierung der magnetischen Momente in Atomen“, wie es auf einer
Tafel am Gebäude des Physikalischen Vereins heißt, ihre Anwendung insbeson-
dere bei der Kernspintomographie. 1943 erhielt Stern für die Entdeckung des
(Elektronen-)Spins den Nobelpreis für Physik.
Mit einem Atomstrahlofen erzeugten Stern und Gerlach einen Strahl von Silber-
atomen, der anschließend durch ein inhomogenes Magnetfeld geleitet wurde. Hinter
dem Magnetfeld wurde das Silber mit einem ‚Schirm‘ aufgefangen. Eigentlich
war nichts Besonderes zu erwarten: Sämtliche Atome des Silberdampfstrahls sind
natürlich elektrisch neutral, so dass sie nicht etwa durch das Magnetfeld eine
Lorentz-Kraft erfahren können. Es könnten aber magnetische Momente eine Rolle
spielen, welche durch Bahndrehimpulse der Elektronen in der Atomhülle zustande
kommen. Wie man aber damals schon wusste, gleichen sich die magnetischen Mo-
mente in vollbesetzten ‚Energieschalen‘ aus, so dass hier höchstens das einzige
Valenz-Elektron der Silberatome zum Zuge kommen kann. Dieses aber befindet sich
im rotationssymmetrischen (5-)s-Orbital, so dass sein Bahn-dreh-impuls 0 ist – es
dürfte also eigentlich gar kein magnetisches Moment besitzen. Dennoch beobach-
teten Stern und Gerlach eine Aufspaltung des Silberdampfstrahls, und zwar derart,
dass am Schirm zwei getrennte Silberflecken entstanden, was darauf hindeutet, dass
hier ein magnetisches Moment zwei diskrete Einstellungen hat. Man folgert, dass
das Valenz-Elektron der Silberatome – und damit Elektronen im Allgemeinen –
eine zusätzliche, bis dahin unbekannte Eigenschaft hat, die sich wie ein Eigendreh-
impuls verhält, der das magnetische Moment erzeugt und nur zwei mögliche Werte
hat: Spin-up und Spin-down.5

5 Eine Bemerkung für LeserInnen mit Physik-Hintergrund: Auch mathematisch sollte sich der
Spin wie ein Drehimpuls verhalten, also etwa denselben Vertauschungsrelationen genügen wie
die Operatoren des Bahndrehimpulses. Dass er sich nicht nur analog zu einem Drehimpuls ver-
hält, sondern tatsächlich einer ist, zeigt, dass der Bahndrehimpuls in der Quantenmechanik in der
Regel nur zusammen mit dem Spin eine Erhaltungsgröße bildet.
6 C. Friebe

Inzwischen kennt man auch Teilchen mit mehr als bloß zwei möglichen Einstel-
lungen ihres Spins; ein Strahl solcher Teilchen – elektrisch neutralisiert, um keine
überlagernden Effekte zu erzeugen – führt also zu einer mehrfächrigen Aufspaltung
im inhomogenen Magnetfeld. Darüber hinaus unterteilt man Quantensysteme heut-
zutage in solche mit halbzahligem Spin („Fermionen“, wie beispielsweise Elek-
tronen) und solche mit ganzzahligem („Bosonen“, wie etwa Photonen). Letzteres
wird im Kapitel über ‚ununterscheidbare‘ Quantenteilchen von Bedeutung werden,
und Ersteres sollte man im Hinterkopf behalten und sich an gegebener Stelle
fragen, wie sich die Physik und Mathematik des zweiwertigen Spins auf höhere
Spinsysteme verallgemeinern. An dieser Stelle ist aber nur noch Folgendes zu be-
rücksichtigen: Die Stern-Gerlach-Apparatur hat immer eine bestimmte räumliche
Ausrichtung, welche ihr inhomogenes Magnetfeld bestimmt. Auf diese Weise wird,
genauer gesagt, die Spinprojektion der Teilchen in einer bestimmten Raumrich-
tung gemessen, und diese hat bei Elektronen nur zwei mögliche Werte. Tatsächlich
hat das Elektron (und haben viele andere Teilchen) noch viele weitere mögliche
Spinwerte, nämlich (das Elektron) je zwei in jeder möglichen Raumrichtung. Mit
Hilfe von Stern-Gerlach-Apparaturen kann man aber zu einem bestimmten Zeit-
punkt den Spin eines Quantensystems immer nur in einer Raumrichtung messen,
was die philosophisch wichtigen Fragen aufwirft, ob etwa ein Elektron alle diese
nicht gleichzeitig messbaren Spinwerte ‚dennoch‘ zugleich hat oder nicht und was
bei einer Stern-Gerlach-Messung eigentlich geschieht, wenn nicht.
Die besonderen Charakteristika dieser neuen Eigenschaft(en) kommen entspre-
chend dann besonders klar zum Vorschein, wenn man mehrere Stern-Gerlach-
Experimente in Folge durchführt.6 Zunächst kann man etwa nach einer Messung7 in
einer bestimmten Raumrichtung erneut in dieser Raumrichtung messen, was intui-
tiv der bloßen Wiederholung einer Messung entspricht. Dann lassen sich mehrere
Spinmessungen in unterschiedlichen Raumrichtungen nacheinander miteinander
kombinieren, wobei sich vielleicht Unerwartetes zeigen wird. Von herausragender
Bedeutung wird schließlich sein, was geschieht, wenn man eine anscheinend zu-
nächst durchgeführte Messung anschließend rückgängig macht: Dies führt direkt
zum Prinzip der Superposition von Spin-Zuständen und somit zum Vektorraum-
Formalismus (vgl. zum Folgenden insbesondere Albert 1992, Kap. 1).

1.1.2 Aufeinanderfolgende Spinmessungen

Eines der wichtigsten Interpretationsprobleme der Quantenmechanik werfen Eigen-


schaften auf, die aktual nicht gemessen sind, und von denen wir auch nicht mit
Sicherheit sagen können, ob sie vorliegen oder nicht. Man kann daraus die anti-
realistische Konsequenz ziehen, dass man besser überhaupt nicht mehr von realen

6 Das kann man natürlich nur dann, wenn man die Teilchen gerade nicht mit einem Schirm auffängt.
7 Hier und im Folgenden wird „Messung“ so vorausetzungslos wie möglich verwendet. Weder wird

vorausgesetzt, dass ein makroskopischer Detektor (Schirm) etwas irreversibel registrieren muss,
noch gar, dass das quantenmechanische System irgendwie kollabiert.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 7

Eigenschaften eines einzelnen Quantensystems sprechen sollte, sondern vielleicht


nur von makroskopischen Messgeräten und Messausgängen oder nur von Quanten-
systemen als Ensembles, also nur von einer großen Anzahl von Quantenteilchen.
Lassen wir diese Interpretationslinien aber zunächst beiseite und versuchen wir so
lange wie möglich, die Vorstellung eines Quantensystems als eines Objekts, das
Eigenschaften hat, Zeit überdauert und also Eigenschaften unter Wahrung seiner
Identität auch wechseln kann, aufrechtzuerhalten. Wir wollen sehen, wie weit man
damit kommen kann.
Nehmen wir daher zuerst einmal an, ein Elektron habe zu einem Zeitpunkt
die Eigenschaft Spin-up (in x-Richtung) und zu einem späteren Zeitpunkt die
gegensätzliche Eigenschaft Spin-down (in x-Richtung). Dieser Wechsel der Spin-
Eigenschaft sei hervorgerufen durch ein externes Magnetfeld und mit Sicherheit
vorhersagbar. Der Übergang ist demnach sowohl kausal als auch deterministisch.
Dennoch mag man bereits darin ein philosophisches Problem ausmachen: Ver-
änderung könne es nämlich prinzipiell nur als kontinuierliche geben, so dass eine
solche diskontinuierliche Veränderung nur ein ‚hölzernes Eisen‘ sein kann. Die Na-
tur mache keine Sprünge, denn Aristoteles habe bereits gezeigt (vgl. Aristoteles,
Physik, Buch VI): Bei einer diskontinuierlichen Veränderung könne das Objekt nur
entweder noch im Ausgangszustand sein oder aber schon im Endzustand, was be-
deuten müsste, dass es die Veränderung entweder noch vor sich oder schon hinter
sich hätte, ohne sie je durchgemacht zu haben. Auf diesen Einwand kann man
auf zwei Weisen reagieren: Entweder man zeigt, dass Aristoteles irrt, dass es al-
so sehr wohl sprunghafte Veränderungen geben kann, oder aber man behauptet,
dass quantenmechanische Objekte sich gar nicht verändern, sondern bloß wech-
seln. Denn Veränderung verlangt etwas Beharrendes, so Kant (vgl. Kant 1781/87,
A 187/B 230ff.), etwas zeitüberdauernd Selbiges, an dem Eigenschaften wechseln
(können), was auch heute noch unbestritten ist: „change [Veränderung] needs identi-
ty as well as difference“ (Mellor 1998, S. 89). Identität über die Zeit hinweg ist aber
(vielleicht) für quantentheoretische Systeme nicht anzunehmen. Das alte Teilchen
verschwindet, und das neue mit anderem Spin tritt an seine Stelle, etwa weil sie, wie
es die sogenannte Tropenontologie sagt (vgl. dazu Abschn. 6.5.2), nur Bündel von
(partikularen) Eigenschaften sind. Zu dem einen Zeitpunkt existiert demnach das
Bündel [Elektronenladung, Elektronenmasse, Spin-up in x-Richtung etc.] und zum
späteren Zeitpunkt das davon numerisch verschiedene [Elektronenladung, Elek-
tronenmasse, Spin-down in x-Richtung, etc.], so dass ein diskontinuierlicher Sprung
möglich ist. Wie dem auch sei: Wir nehmen hier an, dass Quantensprünge kein
philosophisches Problem mehr sind.
Wirklich problematisch wird es eben erst, wenn man zusätzlich Spin-
Eigenschaften in abweichenden Raumrichtungen in Betracht zieht. Richtet man das
inhomogene Magnetfeld der Stern-Gerlach-Apparatur beispielsweise in y-Richtung
aus, so ergeben sich ja ebenfalls zwei mögliche Messwerte, die zwei weiteren Eigen-
schaften der Silberatome bzw. der Elektronen entsprechen sollten: Spin-up und
Spin-down in y-Richtung. Zeitlich-nach einer Messung des Spins in der ursprüngli-
chen x-Richtung haben wir nun also zwei Möglichkeiten, fortzufahren: Wir können
zum einen, wie in Abb. 1.2, erneut den Spin in x-Richtung messen. Es stellt sich
heraus, was man wohl auch erwarten sollte, dass nämlich dann sämtliche Teilchen,
8 C. Friebe

N N
Ag-Strahl

50 % 100 %
S S

Spiegel Spin-down

Abb. 1.2 Die Wiederholungsmessung: 100 % aller Teilchen, die zuvor Spin-down in einer
bestimmten Raumrichtung hatten, zeigen erneut Spin-down in derselben Raumrichtung

die zuvor Spin-up (bzw. Spin-down) zeigten, anschließend mit Sicherheit erneut
Spin-up (bzw. Spin-down) zeigen, gleichgültig, wieviel Zeit zwischen den beiden
Messungen verstrichen ist – solange keine äußeren Einflüsse (Magnetfelder) die
Teilchen stören. Man sagt: Spinmessungen seien wiederholbar.8
Messen wir dagegen beim zweiten Mal den Spin in y-Richtung, so stellt sich
heraus, was man vielleicht weniger erwarten sollte, dass sich nämlich nun nicht mit
Sicherheit vorhersagen lässt, welcher Spinwert sich ergeben wird. Sowohl die Spin-
up-Teilchen der ersten Messung als auch deren Spin-down-Teilchen zeigen je zum
Teil Spin-up und Spin-down in y-Richtung. In unserem Beispiel einer von der ur-
sprünglichen Raumrichtung senkrecht abweichenden gilt genauer, dass je 50 % der
Teilchen Spin-up und Spin-down zeigen werden. Bei Vorliegen von beispielsweise
Spin-up in x-Richtung erfolgt anscheinend der Übergang zu beispielsweise Spin-
up in y-Richtung indeterministisch. Dies ist erstaunlich und nicht zu verwechseln
mit einer möglichen Indeterminiertheit der ursprünglichen Messung: Bei jener be-
saßen wir nämlich vorher keinerlei Kenntnis über den genauen Zustand der Teilchen
(abgesehen davon, dass es sich um Silberatome bzw. Elektronen handelt). Sie war
gewissermaßen eine Messung ins Blaue hinein. Dieses Mal hingegen wissen wir
bereits, dass die Teilchen die Eigenschaft Spin-up (bzw. Spin-down) in x-Richtung
haben. Wie sich zeigen wird, ist diese Information gemäß dem Formalismus der
Quantenmechanik und seiner Standard-Deutung(en) sogar bereits maximal – und
also die Indeterminiertheit des Spins in y-Richtung bei gegebenem Spinwert in
x-Richtung unvermeidlich. Einstein sah darin ein erhebliches Problem, wie sein
berühmter Ausspruch, dass Gott nicht würfele, klar zum Ausdruck bringt. Was
denn wäre die Erklärung, wenn die zweite Messung etwa Spin-down in y-Richtung
ergibt? Hatte das Teilchen diese Eigenschaft schon zeitlich-vor dieser Messung,
gewissermaßen ‚schon immer‘? Dann existierte in der Welt mehr, als wir maxi-
mal wissen können, und die Standard-Quantenmechanik wäre unvollständig. Ein

8 Wie aber „zeigen“ die Teilchen bestimmte Spinwerte, wenn kein Detektor (Schirm) registriert,
dass sie nach oben oder unten abgelenkt wurden? – So mag fragen, wer das Problem schon kennt:
Wir aber folgen den Teilchen in Gedanken auf ihren ‚Wegen‘ und zeigen, dass dies unvermeidlich
inkonsistent wird.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 9

angenommener kausaler Einfluss durch den Stern-Gerlach-Apparat auf das Teilchen


jedenfalls liefert offenbar nicht die ausreichende Erklärung. Denn bei vollkommen
gleichem Einfluss des Messgeräts hätte sich genausogut statt Spin-down das ge-
gensätzliche Resultat Spin-up (in y-Richtung) ergeben können. Die Messung in
y-Richtung ‚bewirkt‘ anscheinend höchstens, dass sich überhaupt ein Spinwert in y-
Richtung einstellt: entweder Spin-up oder Spin-down. Oder gibt es probabilistische,
nicht-hinreichende Verursachung, wie viele PhilosophInnen inzwischen annehmen?
Doch lassen wir nicht nur das Problem der Quantensprünge, sondern auch das
des Indeterminismus (vorerst) beiseite. Die Geschichte ist nämlich bei Weitem noch
nicht zu Ende. Wir haben jetzt nacheinander zwei Messungen durchgeführt: Zu-
nächst haben wir den Spinwert in x-Richtung ermittelt (gemessene Größe: Ŝx ),
anschließend den in y-Richtung (gemessene Größe: Ŝy ). Zu einem noch späte-
ren Zeitpunkt können wir nun insbesondere entweder erneut die Messung von Ŝx
durchführen oder aber erneut die von Ŝy . Betrachten wir zunächst die Variante
Ŝx Ŝy Ŝy : Die zweite Ŝy -Messung ist – gleichgültig, wieviel Zeit seit der ersten verstri-
chen ist, und solange keine äußeren Einflüsse (Magnetfelder) vorliegen – offenbar
die Wiederholung der ersten. Beide Ŝy -Messungen folgen unmittelbar aufeinan-
der, d. h. es liegt keine weitere Messung oder Ähnliches dazwischen. Es kann
daher mit Sicherheit vorhergesagt werden, dass Teilchen mit Spin-up (bzw. Spin-
down) in y-Richtung erneut Spin-up (bzw. Spin-down) in eben dieser Richtung
zeigen werden. Was aber geschieht bei Variante Ŝx Ŝy Ŝx (vgl. Abb. 1.3)? Ist nun
die zweite Ŝx -Messung ebenso nur Wiederholung der ersten, so dass sämtliche Teil-
chen, welche die Ŝy -Apparatur verlassen – solche mit Spin-up in y-Richtung ebenso

(analog)

ù
1. S x
upx
N

S downx

50 % ù 50 %
S N Sy

upx upx
N N

downy upy
S S
downx ù ù downx
2. S x 2. S x

50 % 50 %

Abb. 1.3 Zerstörung des Resultats einer Spinmessung, von Ŝx , durch eine weitere in abweichen-
der Raumrichtung, von Ŝy
10 C. Friebe

wie solche mit Spin-down – erneut das Resultat der ersten Ŝx -Messung zeigen:
diejenigen mit Spin-up in x-Richtung mit Sicherheit erneut Spin-up und diejenigen
mit Spin-down in x-Richtung erneut mit Sicherheit Spin-down? Folgen die beiden
Ŝx -Messungen hier wie zuvor die beiden Ŝy -Messungen ebenso unmittelbar aufein-
ander, weil dazwischen ja ‚nur‘ eine von Ŝy liegt, also eine Messung ganz anderer
Art? Die Quantenmechanik (und natürlich die empirischen Belege) sagen: Nein!
Zeitlich-nach der Ŝy -Messung verhalten sich alle Teilchen auf eine Weise, als hätte
die von Ŝx zuvor gar nicht stattgefunden. Sowohl Teilchen, die zunächst Spin-up
in x-Richtung zeigten – und nun (zusätzlich?) entweder Spin-up oder Spin-down
in y-Richtung –, als auch solche, die zunächst Spin-down in x-Richtung zeigten –
und nun (zusätzlich?) entweder Spin-up oder Spin-down in y-Richtung –, liefern bei
der zweiten Ŝx -Messung zum Teil Spin-up und zum Teil Spin-down in x-Richtung,
nämlich zu je 50 % Spin-up und Spin-down. Die Messung von Ŝy zerstört offenbar
das Ergebnis der vorherigen Ŝx -Messung, so dass eine erneute Messung von Ŝx hier
nicht die Wiederholung der ersten ist.
Gleiches gilt im umgekehrten Fall, also bei Variante Ŝy Ŝx Ŝy ; Messungen von Ŝx
und Ŝy zerstören sich wechselseitig. Und all dies gilt unabhängig davon, wieviel Zeit
zwischen den jeweiligen Messungen vergangen ist (andere Einflüsse vernachläs-
sigt); d. h. insbesondere, dass schon zeitlich-unmittelbar nach der zweiten Messung
(im Diagramm: von Ŝy ) die dritte zu je 50 % Spin-up und Spin-down ergibt, gleich-
gültig, was die erste Messung sagte. Weder die zeitliche Reihenfolge (ob also
Ŝx Ŝy Ŝx oder aber Ŝy Ŝx Ŝy ) noch der zeitliche Abstand zwischen den Messungen ha-
ben also einen relevanten Einfluss auf das entscheidende Ergebnis, die Zerstörung
des Resultats einer Spinmessung durch eine andere, in abweichender Raumrich-
tung durchgeführte. Daraus wird gefolgert: Die gleichzeitige Messung des Spins in
unterschiedlichen Raumrichtungen ist prinzipiell unmöglich, wie es ja auch prak-
tisch unmöglich ist, eine Stern-Gerlach-Apparatur zu bauen, deren inhomogenes
Magnetfeld zugleich in zwei verschiedene Raumrichtungen zeigt. An dieser Stelle
nun entspringt, wie bereits erwähnt, eines der Hauptprobleme der Interpretation
der Quantenmechanik: Ist dies nur ein epistemisches Problem oder auch ein onto-
logisches? Ist es also bloß so, dass unser Wissen (notwendig) beschränkt ist, wir
niemals in der Lage sind, Spinwerte in abweichender Raumrichtung festzustellen?
Oder ist es sogar so, dass quantenmechanische Systeme solche Eigenschaften nicht
zugleich haben, sondern immer nur eine – also etwa nur Spin-up (bzw. Spin-down)
in x-Richtung und keinen Spinwert in y-Richtung und auch keinen in irgendeiner
anderen Raumrichtung? Im Moment einer Spinmessung, also etwa während der
von Ŝy , würde dann in der Regel ein realer Wechsel von Eigenschaften (etwa von
Spin-up in x-Richtung zu Spin-up in y-Richtung) erzeugt, indeterministisch zudem!

1.1.3 Superpositionsprinzip

Auch dieses Problem bleibt aber vorerst außer Betracht. Die sich jeweils erge-
benden philosophischen Probleme seien an dieser Stelle bloß angedeutet, geht
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 11

es hier einleitend doch in erster Linie darum, den mathematischen Formalismus


der Quantenmechanik zu motivieren. Diesem Zweck dient nun vor allem ei-
ne weitere Erweiterung unserer Spinmessungen am Einzelsystem. Dazu nehmen
wir aus einer ursprünglichen Spinmessung, von Ŝy , sämtliche Teilchen, die (bei-
spielsweise) Spin-up zeigen, und schicken diese durch eine senkrecht-abweichende
Stern-Gerlach-Apparatur, durch eine Ŝx -Apparatur. Zu erwarten ist, dass die Hä-
lfte der Teilchen die Ŝx -Messvorrichtung durch den Spin-up-Ausgang verlassen
und die andere durch den gegensätzlichen Spin-down-Ausgang. Die auf diese
Weise getrennten Teilchen seien anschließend durch ein System von ‚Spiegeln‘
wieder zusammengeführt und gemischt, so dass sich nicht mehr unterscheiden
lässt, welche Teilchen welchen Weg durchschritten haben (vgl. Albert 1992,
S. 7ff.).
Was würde nun passieren, wenn man danach im Anschluss erneut Ŝx messen
würde? „Erneut“ deshalb, da doch wohl zuvor Ŝx gemessen worden ist.9 Und da
ein System von Spiegeln keine weitere Spinmessung bedeutet, erfolgt die zwei-
te Ŝx -Messung auch unmittelbar nach der ersten. Dann aber handelt es sich bei
der zweiten Ŝx -Messung um eine Wiederholungsmessung, die mit Sicherheit, also
zu 100 %, ein bestimmtes Resultat zeigen sollte. Andererseits wird man behaup-
ten wollen, dass je 50 % der Teilchen Spin-up und Spin-down zeigen müssten, da
sie durch das Spiegelsystem ja gemischt wurden und folglich die erste Ŝx -Messung
rückgängig gemacht worden sei. Und in der Tat verhält es sich so, dass die zwei-
te Ŝx -Messung nicht genau ein bestimmtes Resultat ergibt, sondern je zur Hälfte
Spin-up und Spin-down. Das mag selbstverständlich erscheinen, ist aber nicht ganz
unproblematisch: Es zeigt nämlich, dass „Wiederholbarkeit“ als ein Wesensmerk-
mal von dem, was als Messung gilt, nicht recht angenommen werden kann. Es ist
anscheinend eine nicht leicht zu beantwortende Frage, was zwischen zwei Mes-
sungen desselben Typs stattfinden darf und was nicht, damit die eine als eine bloße
Wiederholung der anderen gelten kann. Manche Physiker- und PhilosophInnen
folgern daraus, dass der besondere quantenmechanische Messvorgang ein grund-
sätzlich problematisches Konzept ist, das man besser vermeiden sollte, wie etwa die
GRW-Theorie (vgl. Abschn. 2.4).
Man könnte aber auch ganz anders reagieren: Zum Wesen einer Messung, so
könnte man sagen, gehöre nicht nur Wiederholbarkeit, sondern eben auch Irre-
versibilität. Eine Messung sei erst dann wirklich eine Messung, wenn sie nicht,
ohne Spuren zu hinterlassen, rückgängig gemacht werden kann. Da in dem dis-
kutierten Fall die vermeintlich erste Ŝx -Messung durch das Spiegelsystem offenbar
rückgängig gemacht werden kann, gebe es sie nie als wirkliche Messung, so dass
die vermeintlich zweite Ŝx -Messung auch (fast trivialerweise) keine Wiederholung
der ersten sein könne. Mit dieser Deutung aber haben viele heutzutage erst recht
ihre Schwierigkeiten, da demnach mit Irreversibilität eine makroskopische Grö-
ße zum Wesensmerkmal einer Messung erhoben wird und mithin ein wesentlicher

9 Indem Sinne jedenfalls, dass wir wieder in Gedanken den Teilchen auf ‚Wegen‘ folgen können,
auf denen sie bestimmte Spinwerte in x-Richtung haben sollten.
12 C. Friebe

Spiegel upx

ù ù
1. S x 50 % 2. S x 50 %
N N
100 %
upy
S S
Misch-Gerӓt
50 % 50 %

Spiegel downx

Abb. 1.4 Das Rückgängigmachen einer (vorgeblichen) Spinmessung, von Ŝx , durch Mischen der
Teilchen

Unterschied zwischen Makrowelt und Quantenwelt vorausgesetzt würde, der, wenn


überhaupt, sich in einer angemessenen Interpretation der Quantenmechanik erst
ergeben sollte.
Unabhängig davon zeigt sich an dieser Stelle aber ein unstrittiges Resultat, das
jede Interpretation der Quantenmechanik berücksichtigen muss und das als das
eigentlich Eigentümliche des Einzelsystems wie auch aller anderen Quantensysteme
gelten kann: die Superposition unterschiedlicher Zustände. Statt nämlich, wie in
Abb. 1.4, zum (vorgeblich) zweiten Male Ŝx zu messen, kann man selbstverständlich
nach dem Durchlaufen des Spiegelsystems und also nach der Zusammenführung der
Teilchen zum tatsächlich zweiten Male vielmehr Ŝy messen. Zur Erinnerung: Eine
erste, ursprüngliche Ŝy -Messung (nicht im Bild!) hatte zuvor für sämtliche Teilchen,
welche durch die (vorgeblich erste) Ŝx -Apparatur und durch das Spiegelsystem lau-
fen, Spin-up in y-Richtung ergeben. Was würde nun eine zweite Ŝy -Messung nach
dem Durchmischen ergeben? Erneut für sämtliche Teilchen mit Sicherheit Spin-up
in y-Richtung?
Dagegen spricht folgende Überlegung: Während des Durchgangs durch das
Spiegelsystem befinden sich die Teilchen auf zwei getrennten Wegen, auf denen
sie Spin-up bzw. Spin-down in x-Richtung haben sollten, da doch wohl die vor-
geblich erste Ŝx -Messung zumindest dieses bewirken sollte und auch tatsächlich
bewirkt. Denn wenn man in einen dieser Wege eine weitere Ŝx -Vorrichtung setzt, so
zeigt diese nun tatsächlich zweite Ŝx -Messung mit Sicherheit bei allen Teilchen ein
bestimmtes Resultat – nämlich entweder nur Spin-up oder nur Spin-down, je nach-
dem, in welchen Weg diese zweite Ŝx -Apparatur eingebaut wird. Teilchen aber, die
Spin-up (bzw.: Spin-down) in x-Richtung haben, zeigen bei einer Spinmessung in
senkrecht-abweichender Richtung zu je 50 % Spin-up und Spin-down. Würde man
also in einen der Wege eine Ŝy -Vorrichtung platzieren, so ergäbe sich zu je 50 %
Spin-up und Spin-down (in y-Richtung). Innerhalb eines jeden Weges verhält sich
demnach alles so wie zuvor bei den Varianten Ŝx Ŝy Ŝy und Ŝx Ŝy Ŝx ; wie es auch zu
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 13

ù 100 %!
2. S x
N
upx
Spiegel
S

ù
1. S x
N
upy upx

S Misch-Gerät
downx
ù
S N Sy
Spiegel
100 %
upy?

Abb. 1.5 Wird durch das Mischen der Teilchen ‚auch‘ der ursprüngliche Ŝy -Wert wieder
hergestellt?

erwarten ist. Das durch die ursprüngliche Ŝy -Messung erzielte Resultat von Spin-up
in y-Richtung wird durch die Ŝx -Messung vor dem Spiegelsystem zugunsten eines
Spinwerts in x-Richtung zerstört. Wenn dem aber so ist, so laufen nach dem Spiegel-
system jeweils 50 % Spin-up und Spin-down in y-Richtung zusammen, so dass eine
Ŝy -Messung nach dem Durchmischen vielmehr zu je 50 % Spin-up und Spin-down
zeigen sollte.
Darüber hinaus: Würde eine Ŝy -Messung nach dem Durchmischen mit Sicher-
heit den einen Spinwert vom Anfang ergeben (Spin-up in y-Richtung), so wäre
diese zweite Ŝy -Messung die bloße Wiederholung der ersten, so dass man sagen
müsste, dass zwischen der ursprünglichen Ŝy -Messung und dieser zweiten am En-
de des gesamten Durchgangs durch unser System gar nichts Relevantes geschieht.
Insbesondere scheint die Ŝx -Messung vor dem Spiegelsystem gar nichts Relevantes
zu bewirken, da man höchst plausibel der Auffassung zu sein hat, dass die ‚Spiegel‘
nichts für den Spinwert der Teilchen Relevantes bewirken. Es kann jedoch nicht
sein, dass auch die Ŝx -Apparatur nichts für den Spinwert der Teilchen Relevantes
bewirkt, wie ja sowohl Ŝy - als auch Ŝx -Messungen innerhalb der Wege bezeugen
könnten! Und dennoch ist es tatsächlich so, dass die zweite Ŝy -Messung mit Sicher-
heit das Resultat der ursprünglichen reproduziert: Sämtliche Teilchen zeigen nach
dem Durchmischen wieder ihren ursprünglichen Wert – Spin-up in y-Richtung.
Daraus kann nur folgen, dass auch dieser Effekt einer Ŝx -Messung – nämlich
die Zerstörung des Spinwerts in y-Richtung – durch das Durchmischen der Teil-
chen rückgängig gemacht wird. Während man aber für das Rückgängigmachen
14 C. Friebe

der Ŝx -Messung im Sinne der Zerstörung des Spinwerts in x-Richtung eine an-
schauliche Erklärung hat (bzw. zu haben glaubt) – nämlich das Mischen von
Teilchen mit Spin-up in x-Richtung mit Teilchen, die Spin-down in x-Richtung
zeigen –, versteht man eigentlich nicht, wie denn das Durchmischen der Teilchen
die Ŝx -Messung auch im Sinne der Wiederherstellung des ursprünglichen Spinwerts
in y-Richtung rückgängig machen kann. Gemischt werden doch Teilchen, die auf
ihren jeweiligen Wegen je zur Hälfte Spin-up und Spin-down in y-Richtung zeigen
(würden)!
Beide Phänomene – also zum einen dasjenige, dass am Ende eine zweite
Ŝx -Messung zu je 50 % Spin-up und Spin-down in x-Richtung ergibt, als hätte
es die erste von Ŝx nicht gegeben, und zum anderen dasjenige, dass eine zweite
Ŝy -Messung das Resultat der ersten reproduziert, indem sie zu 100 % Spin-up in
y-Richtung ergibt, als hätte es eine Ŝx -Messung dazwischen nie gegeben – können
anscheinend nur so erklärt werden, dass jene Ŝx -Messung überhaupt nur einen Effekt
hat. Es ist eben nicht so, dass eine solche Messung zwei verschiedene Wirkungen
hätte, die dann auch voneinander unabhängig rückgängig gemacht werden könn-
ten: zum einen diejenige, dass Teilchen einen bestimmten Spinwert in x-Richtung
annehmen, und zum anderen die Zerstörung jedes Spinwerts in abweichender
Raumrichtung. Dabei handelt es sich vielmehr um eine und dieselbe Wirkung: Das
Annehmen eines Spinwerts in einer Raumrichtung ist zugleich und nichts Zusätz-
liches als die Zerstörung eines Spinwerts in abweichender Raumrichtung. Indem,
in unserem Falle, der Spinwert in x-Richtung später wieder zerstört wird, wird der
Spinwert in y-Richtung wiederhergestellt. Das lässt sich nicht trennen, weil das Das-
selbe ist. Man sagt: Der Zustand eines Teilchens mit einem bestimmten Spinwert
in einer bestimmten Raumrichtung ist zugleich nichts anderes als die Superposi-
tion zweier gegensätzlicher Spinwerte in abweichender Raumrichtung. Damit ist
nicht gemeint, dass etwa ein Teilchen mit Spin-up in y-Richtung darüber hinaus
sowohl Spin-up als auch Spin-down in x-Richtung hätte: Dies wäre vielmehr wider-
sprüchlich, zumal es dann ja auch noch all die anderen Spinwerte in allen anderen
abweichenden Raumrichtungen haben müsste. Was stattdessen gemeint ist, ist un-
klar: ‚Superposition‘ ist an dieser Stelle vielmehr bloß ein Ausdruck für etwas, das
noch nicht verstanden ist, das aufzuklären das Hauptproblem der Interpretation der
gesamten Quantenphysik darstellt.10 Worauf es hier nur ankommt: „Superposition“
motiviert den mathematischen Formalismus der (gewöhnlichen) Quantenmecha-
nik. Sie verhält sich offenbar wie die Linearkombination von Vektoren – jede
solche Linearkombination ergibt einen neuen Vektor desselben Vektorraums, und
jeder Vektor ist auf unendlich viele Weisen als Linearkombination anderer Vekto-
ren darstellbar – und motiviert daher die Mathematik der Quantenmechanik als
Vektorraum-Theorie.

10 Inder Physik kennt man Superpositionen auch aus der klassischen Feldtheorie als Überlage-
rungen von Wellen. Historisch wurde das Superpositionsprinzip daher in die Quantenmechanik
eingeführt, um den Wellencharakter der Teilchen zu beschreiben. Hier aber fungiert es als ein sehr
abstraktes Prinzip: Spin-Zustände sind ja keine Wellen.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 15

1.2 Mathematischer Formalismus der Quantenmechanik

Gesucht wird ein mathematischer Formalismus, der geeignet ist, die dargestell-
ten Phänomene und insbesondere das entscheidend Neue der Superposition von
‚Zuständen‘11 wiederzugeben. Als ein solcher erweist sich die Struktur eines
Vektorraums, die hier zunächst rein mathematisch vorgestellt werden soll. Um die
Sache nicht zu abstrakt werden zu lassen, geschieht dies möglichst anschaulich-
geometrisch, und auch die intendierte physikalische Interpretation soll nicht völlig
außer Betracht bleiben. Es ist aber zu beachten, dass zwischen dem Formalismus
und seiner Deutung sorgfältig unterschieden werden muss, um sich klarzumachen,
was strittig ist und was nicht, und wo die Interpretationsprobleme der Quanten-
mechanik genau liegen. Des Weiteren ist zu beachten, dass in diesen einführenden
Abschnitten der Standard-Formalismus der gewöhnlichen Quantenmechanik be-
trachtet wird, wie er 1932 in John von Neumanns Grundlagenwerk (vgl. von
Neumann 1932) geschaffen wurde. Abweichungen davon – wie sie etwa in der
GRW-Variante (vgl. Abschn. 2.4), bei Bohm und bei Everett (vgl. Kap. 5) oder in der
QFT (vgl. Kap. 6) vorgenommen werden – werfen weitere Deutungsprobleme auf.
Man kann gar fragen: Sind solche mathematische Modifikationen wirklich Inter-
pretationen derselben Quantenphysik oder nicht vielmehr schon Alternativen zur
Standard-Quantenmechanik? Schließlich betreffen, wie eingangs bereits angemerkt,
viele Deutungsprobleme „zusammengesetzte Systeme“, die ‚Ununterscheidbarkeit‘
gleichartiger Teilchen ebenso wie das berüchtigte EPR-Paradoxon: Ihre Behandlung
hat mathematische Besonderheiten, die an gegebener Stelle nachgetragen werden.
Wir beschränken uns hier noch immer auf das Einzelsystem.
Die folgende Darstellung gliedert sich in vier Abschnitte. Die ersten beiden –
„Vektoren und ihre Darstellung“ und „Operatoren und ihre Eigenwerte“ – liefern
die für das Verständnis der philosophischen Debatten um die Quantenphysik not-
wendigen Voraussetzungen. Sie knüpfen an Schulmathematik an, erweitert um
die zentralen Begriffe „(hermitescher) Operator“ (vorläufige Deutung: Messvor-
richtung; Messgröße), „Eigenwert“ (Messwert; Eigenschaft) und „Eigenvektor“
(Eigenzustand). Der darauffolgende Abschnitt – „Das Problem mehrfacher Eigen-
werte“ – ist komplexer. Er wird vor allem für ein vertieftes Verständnis von
„Ununterscheidbarkeit“ und „EPR/Bell“ benötigt und kann daher von LeserInnen,
die vor allem an den Interpretationskapiteln (zu ‚Kopenhagen‘, GRW, Bohm, Ever-
ett) interessiert sind, übergangen werden. Der vierte Abschnitt schließlich behandelt
„Spezielle Operatoren“, die je nach Problemstellung relevant werden. Es empfiehlt
sich, die entsprechenden Unterabschnitte zu konsultieren, wenn darauf verwiesen
wird.12

11 Der Ausdruck „Zustand“ wird erst in den verschiedenen Abschnitten zur Interpretation der

Quantenmechanik präzisiert. Intuitiv bildet er irgendwie die Menge der Eigenschaften ab, die ein
Quantensystem gerade hat.
12 Noch eine Anmerkung: Wir wählen den abstrakteren, insbesondere auch auf die QFT ver-

allgemeinerbaren algebraischen Zugang zur Quantenmechanik. Er ist rechentechnisch weniger


16 C. Friebe

1.2.1 Vektoren und ihre Darstellung

Ein Vektorraum V ist eine nicht-leere Menge, für deren Elemente, den Vekto-
ren, eine innere Verknüpfung + und eine äußere Verknüpfung · mit reellen oder
komplexen13 Zahlen definiert ist. Diese etwas abstrakt klingende Formulierung
hat den Zweck, den Begriff des Vektorraums möglichst weit zu fassen, also auch
nicht-anschauliche Räume unter ihn zu subsumieren. Im zweidimensionalen An-
schauungsraum jedenfalls entspricht sie der bekannten Addition und Streckung von
Pfeilen, wie in Abb. 1.6 dargestellt.
Zugleich liefert diese Veranschaulichung eine erste Vorstellung davon, wie
Superposition mathematisch gefasst wird: Korrespondieren mit den Vektoren auf
irgendeine Weise quantenphysikalische Zustände, so repräsentiert der Vektor14
|C eine Superposition derjenigen Zustände, die durch |A und |B repräsentiert
werden.15

Abb. 1.6 Vektor c entsteht →


b
durch Linearkombination der
Vektoren a und b mit den →
c
Streckfaktoren ci : c = c1 a + c2 b


a

aufwendig; so findet sich etwa keine einzige zu lösende Differenzialgleichung. Für den (viel-
leicht anschaulicheren, aber rechentechnisch komplexeren) Analysis-Zugang sei Philosophie-
Studierenden die Arbeit von Nortmann (2008) empfohlen.
13 Komplexe Zahlen bilden eine Erweiterung der reellen. Die Idee ist, dass quadratische Glei-

chungen immer, d. h. auch für negative Zahlen, lösbar sein sollen, indem für x2 = –1 die imaginäre
Größe i als Lösung gesetzt wird (das vereinfacht viele Rechnungen). Mit den reellen Zahlen a und
b haben komplexe dann im Allgemeinen die Form a + ib, also einen Realteil und einen Ima-
ginärteil, und können anschaulich in der Ebene dargestellt werden, wobei die eine Achse des
Koordinatensystems imaginäre Einheit hat.
14 Statt 
c ist es in der Quantenmechanik üblich, für Vektoren |C zu schreiben. Der dazu duale
Vektor schreibt sich C|, so dass, wie wir gleich sehen werden, das Skalarprodukt zweier Vektoren
einfach durch A|B ausgedrückt wird (Bra-Ket-Schreibweise).
15 Durch Addition und Streckung erhält man stets neue Vektoren, die Elemente desselben Raumes

sind wie die addierten und gestreckten ursprünglichen Vektoren. Die Superposition zweier mög-
licher Zustände eines bestimmten physikalischen Einzelsystems ist ebenso stets ein weiterer
möglicher Zustand desselben Systems. Für mehrere, aber gleichartige Teilchen gilt diesbezüglich
eine wichtige Einschränkung (Stichwort: Superauswahlregel; vgl. Kap. 3).
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 17

|B〉

|A〉
〈A|B〉

Abb. 1.7 Das Skalarprodukt A|B zweier Vektoren ist die geometrische Projektion des einen auf
den anderen und bestimmt somit den Winkel zwischen ihnen

Ein Vektorraum heißt euklidisch (im komplexen Fall: unitär), wenn auf ihm ein
Skalarprodukt definiert ist. Damit ist gemeint, dass man zwei Vektoren auch
miteinander multiplizieren kann – Schreibweise: A|B (sprich: A mal B). Man er-
hält auf diese Weise allerdings keinen neuen Vektor, sondern eben einen Skalar,
d. h. eine reelle (bzw. komplexe) Zahl. Anschaulich entspricht dem Skalarprodukt
die geometrische Projektion des einen Vektors auf den anderen (vgl. Abb. 1.7).
√ Ein Skalarprodukt dient dazu, Längen von Vektoren zu messen – Norm: a =
|A|A| – sowie Abstände und Winkel zwischen ihnen. Im Besonderen verschwin-
det das Skalarprodukt zwischen zwei aufeinander senkrecht stehenden Vektoren:
A|B = 0. Dies ermöglicht, den zentralen Begriff der Orthonormalbasis (kurz:
Basis) einzuführen:16 Um eine solche Basis zu erhalten, müssen wir zunächst die
entsprechenden Vektoren auf Länge 1 normieren und dann eine maximale Anzahl
N von Vektoren wählen, die paarweise aufeinander senkrecht stehen, für die also
Ai |Aj  = 0 ist; i, j laufen von 1 bis N, mit i =/ j. Im zweidimensionalen An-
schauungsraum gibt es maximal zwei aufeinander senkrecht stehende Vektoren –
eine Basis spannt dort ein rechtwinkliges, zweiachsiges Koordinatensystem auf –,
und allgemein gilt, dass N genau der Dimension des betrachteten Vektorraums ent-
spricht.17 Sonach lässt sich jeder Vektor in unserem Vektorraum bezüglich einer
Basis desselben wie in Abb. 1.8 darstellen.

|B〉

| A2 〉

| A1 〉

Abb. 1.8 Bezüglich


 der Basis {|A1 , |A2 } hat |B die Komponentendarstellung: |B = 3|A1  +
2|A2  bzw. 32

16 EineMenge von Vektoren ist eine Basis eines Vektorraums, wenn daraus alle anderen Vektoren
dieses Raumes durch Linearkombination erzeugt werden können. Wir betrachten nur Orthonormal-
basen. Wichtig ist, dass ein Vektorraum unendlich viele solcher Basen hat.
17 Im Extremfall kann diese Dimension (abzählbar) unendlich sein.
18 C. Friebe

War ein Vektor bislang ein abstraktes Objekt, für das wir nur |A geschrieben
hatten, wird es nun schon etwas konkreter, bekommt er doch bestimmte Zahlen-
werte als Komponenten, deren Anzahl der Dimension des Vektorraums   entspricht;
so erhält etwa der anschauliche Vektor die Darstellung: |B = 32 . Auch die
Basisvektoren selbst lassensich
 in Komponentendarstellung
 schreiben – im reellen,
zweidimensionalen Raum: 10 und 01 –, und danach lassen sich die Skalarprodukte
konkret ausrechnen, nämlich nach folgender Regel:18
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
ai bi
⎜ . ⎟ ⎜ .. ⎟
Für |A = ⎜ . ⎟ ⎜
⎝ . ⎠ und |B = ⎝

. ⎠ gilt
aN bN

N
A|B = a1 b1 + · · · + aN bN = ai bi . (1.1)
i=1

Nun gibt es allerdings nicht nur eine Basis, sondern vielmehr unendlich viele davon.
Bezüglich jeder solchen Basis haben die Vektoren je eigene Komponenten, so dass
die konkrete Zahlendarstellung davon abhängt, welche Basis man auswählt.
Ein und derselbe Vektor hat also unendlich viele mögliche Komponentendarstel-
lungen, die man mathematisch über sogenannte Basistransformationen berechnen
kann. Dieser Variabilität der Darstellung soll entsprechen, dass ein und derselbe
quantenphysikalische Zustand – also beispielsweise derjenige Zustand, Spin-up in
x-Richtung zu zeigen – nicht nur eine Superposition der Zustände zu Spin-up und
Spin-down in y-Richtung ist, sondern vielmehr zugleich unendlich viele andere
Superpositionen zu Spin-up und Spin-down in beliebiger anderer Raumrichtung.
Man muss allerdings beachten, dass der Wahl einer bestimmten Basis eine erheb-
liche Willkür anhaftet: Streng mathematisch ist sie rein konventionell und von
physikalischer Bedeutung sind daher eher solche Größen, die von der Wahl ei-
ner bestimmten Basis unabhängig, die also invariant unter Basistransformationen
sind – was die Komponenten der Vektoren klarerweise nicht sind. Ihre Längen und
Winkel zueinander sollten dagegen nicht davon abhängen, welche Basis man zu

|B〉

| C2 〉

| C1 〉

Abb. 1.9 Bezüglich einer anderen Basis {|C1 , |C2 } hat derselbe Vektor eine andere Darstellung:
|B = 3, 3|C1  + 1, 2|C2  (numerische Werte so, dass die Norm erhalten bleibt)

18 Man verifiziert leicht, dass die obigen Basisvektoren tatsächlich auf 1 normiert sind und
orthogonal zueinander stehen.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 19

ihrer Darstellung wählt, und in der Tat ist das Skalarprodukt eine unter Basistrans-
formationen unveränderliche Größe. Nicht zuletzt deshalb wird das Skalarprodukt
auch physikalisch von besonderer Bedeutung sein.
Der Unterschied zwischen dem Vektor selbst und seiner Darstellung bzgl. einer
bestimmten Basis gibt ein erstes Gefühl dafür, dass der Vektorraum-Formalismus
zunächst ein sehr abstrakter ist. Worauf eine empirische Theorie wie die Quanten-
mechanik aber letztlich abzielt, ist die Konfrontation der Theorie mit der Erfahrung,
d. h. mit Beobachtungsdaten. Es sind letztlich erfolgreiche Voraussagen für be-
stimmte Messresultate, mit denen sich eine empirische Naturwissenschaft bewährt.
Für Messwerte gibt es allerdings nur eine denkbare mathematische Repräsentation,
nämlich reelle Zahlen, die wir jedoch hier noch nicht einmal dann erreicht haben,
wenn wir eine bestimmte Basis zur konkreten Darstellung von Vektoren ausge-
wählt haben. Vektoren liefern nur Zahlenspalten mit möglicherweise gar (abzählbar)
unendlich vielen Komponenten, die darüber hinaus in der Quantenmechanik in
der Regel komplexwertig sind. Auch deshalb ist das Skalarprodukt von besonde-
rer Bedeutung: Sein Betragsquadrat – |A|B|2 – liefert verwertbare reelle Zahlen,
die, wie sich herausstellt, aber noch nicht die Messwerte, sondern zunächst nur
die Wahrscheinlichkeiten für zu erzielende Messausgänge wiedergeben. Um zu
den Messwerten zu gelangen, müssen wir ein weiteres mathematisches Objekt
einführen: den Operator.

1.2.2 Operatoren und ihre Eigenwerte

Vorweg eine didaktische Anmerkung: Dieser Abschnitt präsentiert die entschei-


dende Erweiterung der einfachen Vektorrechnung in Hinblick auf ihre quantenme-
chanische Anwendung. Die typischerweise intendierte Interpretation ist geeignet,
die Experimente des vorhergehenden Unterkapitels mathematisch zu erfassen,
insbesondere die Wiederholungsmessung (vgl. Abb. 1.2) und die Zerstörung des
Resultats einer Spinmessung (vgl. Abb. 1.3). Intendiert ist also, dass ein Opera-
tor eine Stern-Gerlach-Apparatur bzw. eine Messgröße wie etwa Ŝy repräsentiert
und seine Eigenwerte die Messwerte (bzw. Eigenschaften) wie etwa Spin-up in y-
Richtung. Da aber nicht jeder mathematische Operator dazu geeignet ist, weil etwa
nicht jeder Operator überhaupt Eigenwerte besitzt, müssen wir etwas allgemeiner,
also abstrakter beginnen.
Etwas allgemeiner ist ein Operator Ô eine Abbildung, die jedem Vektor aus
einem (seiner Dimension nach) vorgegebenen Vektorraum genau einen bestimmten,
in der Regel anderen, Vektor dieses Raumes zuordnet. Man schreibt: Ô|A = |A ,
und sagt, dass die „Anwendung“ von Ô auf einen gegebenen Vektor |A zu einem
Vektor |A  aus V führt. Im zweidimensionalen Anschauungsraum ist beispielsweise
eine Drehung mit dem Winkel θ um eine bestimmte Drehachse eine (geometrische)
Operation, wie sie ein solcher Operator ‚bewirken‘ kann. Ein anderes Beispiel wäre
die Streckung jedes Vektors um einen Faktor λ.
Prinzipiell gibt es eine große Anzahl verschiedener solcher Operatoren mit re-
chentechnisch zuweilen sehr ungünstigen Eigenschaften. Eine besonders leicht zu
behandelnde Klasse bilden lineare Operatoren. Linearität bedeutet mathematisch,
20 C. Friebe


|B 〉 O |B 〉


O |A 〉
|A 〉

Abb. 1.10 Der Operator Ô ‚bewirkt‘ eine Drehung aller Vektoren um einen bestimmten Winkel

dass Superpositionen in folgendem Sinne bewahrt werden:



Ô (λ|A + μ|B) = λ Ô|A + μ Ô|B . (1.2)

Geometrisch kann man sagen, dass sie Parallelität erhalten, d. h. ehemals parallele
(durch Vektoren aufgespannte) Geraden bleiben parallel.19 Drehungen, Streckungen
oder Verschiebungen sind daher Beispiele für lineare Operationen.
Mit Blick auf unsere Suche nach den mathematischen Repräsentanten quan-
tenmechanischer Messwerte ist eine weitere mathematische Eigenschaft linearer
Operatoren hilfreich: Lineare Operatoren, die zunächst ebenso wie zunächst auch
die Vektoren mathematisch-abstrakte Objekte sind, haben – bei gegebener Basis –
ebenfalls eine Komponentendarstellung. Hierzu braucht man, mit N als der Dimen-
sion des Vektorraums, N 2 Komponenten – nämlich diese: Ai |Ô|Aj  –, so dass ein
linearer Operator als quadratische Matrix dargestellt werden kann. Die Anwendung
eines Operators auf einen Vektor – also Ô|A = |A  – lässt sich dann als Multiplika-
tion seiner Matrix mit dem Vektor nach folgender Regel berechnen (hier für den
zweidimensionalen Fall):
  
O11 O12 a1 O11 a1 + O12 a2
= . (1.3)
O21 O22 a2 O21 a1 + O22 a2

Der Drehoperator, um wieder das konkrete Beispiel zu nehmen, hat im Zweidimen-


sionalen die folgende Matrix-Darstellung

cos θ – sin θ
, (1.4)
sinθ cos θ

19 Injeder Deutung des Formalismus korrespondieren mit parallelen Vektoren physikalisch unun-
terscheidbare Zustände, so dass durch lineare Operationen kein physikalischer Unterschied ins
Spiel kommt, wo ‚vorher‘ keiner war.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 21


so dass sich für einen Winkel von 90 ◦ in Anwendung auf den einen Basisvektor 10
ergibt:
  
0 –1 1 0
= (1.5)
1 0 0 1

Wie zu erwarten, bildet der Drehoperator in diesem speziellen Fall den einen
Basisvektor genau auf den orthogonalen anderen ab.
Man beachte, dass die Drehachse hier senkrecht zur Ebene liegt, also außer-
halb des zweidimensionalen Vektorraums. Mit Blick auf den nächsten Schritt ist
es jedoch geschickter, eine Drehung um eine Achse innerhalb des zugrunde ge-
legten Vektorraums zu betrachten, also etwa eine Drehung um die z-Achse im
dreidimensionalen Anschauungsraum. Die entsprechende Matrix sieht dann so aus:
⎛ ⎞
cos θ – sin θ 0
⎜ ⎟
⎝ sinθ cos θ 0⎠ (1.6)
0 0 1

Dieser Operator, der also im Dreidimensionalen eine Drehung mit dem Winkel θ um
die z-Achse ‚bewirkt‘, hat eine charakteristische Eigenschaft: Er lässt genau einen
(normierten) Vektor unverändert, denjenigen nämlich, der die Drehachse aufspannt.
Im Allgemeinen heißen Vektoren, deren Richtung beibehalten wird, Eigenvektoren
des entsprechenden Operators, und die dazugehörigen Streckfaktoren heißen dessen
Eigenwerte. Seine Eigenvektoren und Eigenwerte hat ein Operator unabhängig von
der Basis, mit welcher er gerade als Matrix dargestellt wird, so dass sie ihn aus-
sagekräftig charakterisieren. Unsere Drehung im Dreidimensionalen ist natürlich
vor allem durch ihre Drehachse gekennzeichnet; der sie aufspannende Vektor ist
also Eigenvektor des Drehoperators, mit dem Eigenwert 1. Man beachte aber, dass
keineswegs alle Operatoren überhaupt Eigenvektoren (und Eigenwerte) haben, wie
etwa der Drehoperator im Zweidimensionalen in der Regel (d. h. außer für bestimm-
te Winkel) keinen Eigenvektor hat: Er dreht sämtliche Vektoren gleichermaßen,
ändert also die Richtung von allen Vektoren. Des Weiteren sind in komplexen Vek-
torräumen – wie im Fall der Quantenmechanik – Eigenwerte in der Regel komplexe
Zahlen, so dass sie weder geometrisch-anschaulich als Streckfaktoren aufgefasst
werden noch physikalisch als Messwerte dienen können.
Nun gibt es aber schließlich eine besondere Unterklasse linearer Operatoren,
sogenannte selbstadjungierte oder hermitesche Operatoren, deren Matrizen (un-
ter Berücksichtigung komplexer Konjugation20 ) symmetrisch sind. Sie haben, wie
sich mathematisch beweisen ließe, immer maximal viele – nämlich N – und
ausschließlich reelle Eigenwerte. Diese reellen Eigenwerte sind es, welche die
mathematischen Repräsentanten quantenphysikalischer Messwerte sein werden,
und zwar nahezu unabhängig von der jeweils vertretenen, speziellen Interpretation

20 Die zu z = a + ib konjugiert komplexe Zahl ist z∗ = a – ib; es gilt z2 = z∗ z.


22 C. Friebe

des mathematischen Formalismus der Quantenmechanik. Lineare und selbstadjun-


gierte Operatoren stellen daher Messgeräte bzw. Messgrößen (Eigenschaftstypen)
dar21 und deren Eigenwerte die entsprechenden Messwerte, also Zeigerstellungen
bzw. konkrete Eigenschaften; wobei hier jeweils im „beziehungsweise“ bereits ein
Interpretationsspielraum angedeutet sei. (Insbesondere bei der Bohmschen Interpre-
tation wird sich herausstellen, dass Spin-Eigenwerte zwar Messausgänge, aber keine
Eigenschaften des Mikrosystems darstellen.) Zu lösen ist sonach in erster Linie das
Eigenwertproblem, nämlich die Gleichung (mit Ô selbstadjungiert)

Ô|A = λ|A, (1.7)

die also sicher reelle Lösungen für λ hat.


Betrachten wir ein rechentechnisch einfaches Beispiel.22 Zu bestimmen sind
die Eigenwerte des folgenden linearen und selbstadjungierten Operators in einem
abstrakten (weil komplexen), zweidimensionalen Vektorraum:

0 –i
Ŝ = (1.8)
i 0

Nach Einsetzen in Gl. 1.7 ergibt eine erste Umformung:


  
–λ –i a1 0
= (1.9)
i –λ a2 0

Ein solches Gleichungssystem (für a1 und a2 !) ist lösbar, so lehrt halbwegs elemen-
tare Mathematik, wenn die sogenannte Determinante der Matrix 0 ist. Dies führt zu
folgender Gleichung für λ:

λ2 + i2 = 0 (1.10)

Der gegebene Operator hat also die Eigenwerte 1 und –1, was, wie man sich an
dieser Stelle vielleicht schon denken kann, den Messwerten Spin-up und Spin-down
in einer bestimmten Raumrichtung entsprechen soll.23

21 Für Einzelsysteme können wir sagen, dass jeder selbstadjungierte Operator irgendeine quan-
tenmechanische Messgröße wie Spin, Energie etc. darstellt, auch wenn es nicht immer leicht ist,
zu einem gegebenen mathematischen Operator die physikalische Realisierung konkret anzugeben.
Für Mehrteilchen-Systeme jedoch korrespondiert nicht mit jedem selbstadjungierten Operator auch
eine Messgröße (Stichwort: Superauswahlsektoren; vgl. Kap. 3).
22 Die folgende Rechnung soll nur illustrieren: Es gibt ein mathematisches Standardverfahren zur

Berechnung der Eigenwerte und Eigenvektoren selbstadjungierter Matrizen. Ausführlicheres zur


Mathematik der Physik findet der Unerfahrene in Räsch (2011).
23 Für Elektronen sind die Spinprojektionswerte natürlich 1 und – 1 ; aber numerische Details sind
2 2
hier irrelevant.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 23

Die dazugehörigen Eigenvektoren24 erhält man durch Einsetzen der Eigenwerte


in Gl. 1.9, also, normiert auf Länge 1:
 √   √ 
1/ 2 1/ 2
√ und √ (1.11)
i/ 2 –i/ 2

Das Skalarprodukt zwischen diesen Eigenvektoren ist 0 (komplexe Konjugation be-


achten!), d. h. sie bilden eine Orthonormalbasis des zugrunde gelegten Vektorraums;
ein Ergebnis, das sich verallgemeinern lässt: Jeder lineare und selbstadjungierte
Operator eines Vektorraums der Dimension N hat zum einen N (nicht notwen-
dig verschiedene) reelle Eigenwerte und zum anderen (mindestens) eine Basis aus
Eigenvektoren.
Stellt man nun den Operator in einer (hier: der) Basis seiner Eigenvektoren dar –
was in unserem Beispiel bislang nicht der Fall war –, so bekommt seine Matrix
Diagonalgestalt, wobei in der Diagonalen gerade seine Eigenwerte stehen:

1 0
Ŝ = (1.12)
0 –1

Bislang, d. h. bevor wir ihn (bzw. seine Matrix) in Diagonalgestalt gebracht haben,
war unser Operator – und waren ebenso seine Eigenvektoren – also in einer anderen
Basis dargestellt (vgl. Abb. 1.11).
Aus der Perspektive der Vektorraumtheorie mag es trivial erscheinen, dass es
demnach viel mehr Basen gibt als solche, deren Elemente Eigenvektoren eines gege-
benen Operators sind. Mit Blick auf ihre quantenphysikalische Deutung ist dies aber
äußerst bemerkenswert, da es im Kern die Inkommensurabilität zweier Messgrö-
ßen und das Superpositionsprinzip impliziert. Um dafür ein Gespür zu bekommen,
wählen wir nochmals die Basis, in der unser Operator zunächst dargestellt war: Ihre
Elemente sind also keine Eigenvektoren des gegebenen Operators. Es gilt aber, dass
es nun einen anderen linearen und selbstadjungierten Operator geben muss, dessen

|EV1〉
|EV2〉

Abb. 1.11 Darstellung der Eigenvektoren von Ŝ bzgl. der fett gedruckten Basis. Sie wiederum
bilden selbst die Eigenvektor-Basis eines anderen Operators Ŝ

24 Vorsicht: Eigentlich gehört nur zu jedem Eigenvektor genau ein Eigenwert, während umgekehrt

zu einem Eigenwert nur dann genau ein Eigenvektor gehört, wenn er (der Eigenwert) einfach ist,
d. h. nur einmal vorkommt – was hier ja der Fall ist. Zum Problem mehrfacher Eigenwerte vgl. den
folgenden Abschn. 1.2.3.
24 C. Friebe

Eigenvektoren eben diese Basis bilden. Nicht nur hat nämlich jeder solche Opera-
tor (mindestens) eine Basis aus Eigenvektoren, sondern zu jeder Basis gehört auch
ein Operator, dessen Eigenvektor-Basis sie ist.25 Derjenige Operator, der zu unse-
rer Basis „passt“, muss als Diagonalmatrix dargestellt sein, und in ihrer Diagonalen
stehen dessen Eigenwerte. Wie sich zeigt, ist dies eben diese:

1 0
Ŝ = (1.13)
0 –1

Sie ist nicht zu verwechseln mit dem gerade oben (vgl. Matrix 1.12) dargestellten
Operator, dessen (gleiche) Diagonalgestalt ja in einer ganz anderen Basis auftritt.
Dennoch hat sie natürlich etwas Wesentliches mit dem ursprünglich gewählten Ope-
rator gemeinsam: Beide reellen Eigenwerte sind ebenfalls 1 und –1, was ebenfalls
den beiden Messwerten Spin-up und Spin-down in einer bestimmten Raumrich-
tung entsprechen soll. Tatsächlich stellt sich heraus, dass diesen beiden Operatoren
gerade unsere Messungen des Spins in x- und in y-Richtung zugeordnet werden
können.
Betrachten wir nochmals die beiden zweidimensionalen Koordinatensysteme
bzw. die beiden Basen aus den jeweiligen Eigenvektoren: Je ein Operator ist dann
als Diagonalmatrix darstellbar, während der jeweils andere eine andere Gestalt hat.
Auch dieses Ergebnis lässt sich verallgemeinern: Haben zwei (lineare und selbstad-
jungierte) Operatoren keine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren, so können ihre
Matrizen nicht zugleich, d. h. nicht in derselben Basis, in Diagonalgestalt gebracht
werden (und umgekehrt). Diese Formulierung legt nahe, dass es sehr wohl verschie-
dene Operatoren gibt, die gemeinsam in Diagonalgestalt gebracht werden können,
weil sie tatsächlich eine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren haben.26 Für je zwei
Operatoren, die beide nicht bereits als Diagonalmatrizen dargestellt sind, wo also
die Basis ungünstig gewählt ist, stellt sich daher die aufschlussreiche Frage, ob sie
eine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren haben, ob ihre Matrizen also gemeinsam
in Diagonalgestalt gebracht werden können.
Zur Beantwortung dieser Frage braucht man die folgende rein rechentechnische
Regel für die Multiplikation zweier Matrizen (hier wieder für den zweidimen-
sionalen Fall):
  
a11 a12 b11 b12 a11 b11 + a12 b21 a11 b12 + a12 b22
= (1.14)
a21 a22 b21 b22 a21 b11 + a22 b21 a21 b12 + a22 b22

Die Multiplikation zweier Matrizen ergibt also wieder eine Matrix derselben Di-
mension; sie stellt das Hintereinanderschalten zweier Operatoren dar,27 welches

25 Auch dies gilt für Mehrteilchen-Systeme nur mit Einschränkung.


26 Im zweidimensionalen Fall ist diese Aussage nicht sehr gehaltvoll. Wir werden aber sehen, dass
es in höherdimensionalen Vektorräumen hierzu interessante Beispiele gibt.
27 Mit Blick zurück: Aufeinanderfolgende Spinmessungen werden durch das Hintereinanderschal-

ten (selbstadjungierter) Operatoren mathematisch dargestellt.


1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 25

wiederum als ein (weiterer) linearer Operator wirkt: ÂB̂|. Von zentraler Bedeu-
tung ist dann, dass die serielle Anwendung von Operatoren in ihrer Wirkung von
der Reihenfolge abhängen kann.28 Die wie oben definierte Matrizenmultiplikation
ist nämlich im Allgemeinen nicht kommutativ; wie etwa unser Beispiel zeigt:
  
1 0 0 –i 0 –i
= ,
0 –1 i 0 –i 0

jedoch:29
  
0 –i 1 0 0 i
= . (1.15)
i 0 0 –1 i 0

Es stellt sich heraus, dass eben genau dann die Multiplikation zweier Matrizen
kommutativ ist, wenn sie gemeinsam in Diagonalgestalt gebracht werden können,
wenn die dargestellten Operatoren also eine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren
haben. Kommutieren sie hingegen nicht, können sie nicht zugleich in Diagonal-
gestalt gebracht werden, haben die Operatoren sonach keine gemeinsame Basis aus
Eigenvektoren. Da, wie man zeigen kann, der Kommutator zweier Matrizen  und B̂

[Â, B̂] = Â · B̂ – B̂ · Â (1.16)

invariant unter Basistransformationen ist, ist er mathematisch aussagekräftig, d. h.


die Frage, ob zwei Operatoren eine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren haben
und gemeinsam als Diagonalmatrix dargestellt werden können, hat eine eindeutige
Antwort.30 Physikalisch interpretiert, wird der Kommutator zur wohl wichtigsten
Gleichung der Quantenmechanik: Ist er nicht 0 (bzw. nicht die Null-Matrix) – wie
in unserem Beispiel, wo er vielmehr

0 –2i
(1.17)
–2i 0

ist –, so zerstört die Messung der einen Größe das Resultat der Messung der ande-
ren, wie im Eingangsabschnitt vorgeführt, und zwar unabhängig von der zeitlichen
Reihenfolge und unabhängig vom zeitlichen Abstand der jeweiligen Messungen.
Realistisch kann man interpretieren, dass dem quantenphysikalischen System die
den jeweiligen Eigenwerten entsprechenden Eigenschaften nicht zugleich zukom-
men können. Nicht-kommutierende Matrizen (Operatoren) bilden daher das präzise
mathematische Gegenstück zu inkommensurablen (schlechter: komplementären)

28 Man betrachte etwa zwei aufeinanderfolgende Drehungen um verschiedene Achsen.


29 Man beachte, dass die resultierenden Matrizen hier nicht selbstadjungiert sind, also keine
Messgrößen darstellen.
30 Daher kann im Folgenden einfach von (nicht-)kommutierenden Operatoren gesprochen werden,

wenn die sie darstellenden Matrizen (nicht) kommutieren.


26 C. Friebe

Messgrößen. Ist der Kommutator zweier Matrizen hingegen 0, dann ist die se-
rielle Anwendung der durch sie dargestellten Operatoren unabhängig von der
Reihenfolge, zerstören die dadurch repräsentierten physikalischen Messungen sich
nicht wechselseitig ihre Resultate und kommen – realistisch interpretiert – dem
quantenphysikalischen System die den jeweiligen Eigenwerten entsprechenden
Eigenschaften gleichzeitig zu.31
So formuliert, gilt es aber, sich einer gewissen Zweideutigkeit bewusst zu
werden: Unstrittig ist nämlich nur, dass wenn der ‚Zustand‘ des quantenphysika-
lischen Systems durch einen Eigenvektor eines bestimmten Operators dargestellt
wird, eine Messung mit Sicherheit den Wert ergibt, der dem dazugehörigen Eigen-
wert entspricht. Dagegen strittig ist die Umkehrung, dass wenn eine Messung den
Wert eines bestimmten Eigenwerts eines bestimmten Operators ergibt, das Sys-
tem dann zumindest ‚unmittelbar anschließend‘ in dem Zustand ist, der durch
den entsprechenden Eigenvektor repräsentiert wird. Dies zu behaupten, heißt die
(in der Physik häufig als selbstverständlich angenommene) Eigenwert-Eigenvektor-
Verknüpfung anzunehmen – nämlich von Neumanns „ Projektionspostulat“. In
der Philosophie ist diese Verknüpfung aber umstritten (vgl. beispielsweise van
Fraassen 1991). Deshalb sei nur festgehalten, was wirklich unstrittig ist:

1. Jeder Vektor im Hilbertraum32 ist Eigenvektor irgendeines linearen und selbst-


adjungierten („hermiteschen“) Operators. In Bezug auf einen solchen Vektor
|Ai  ist der Erwartungswert dieses Operators identisch mit dem dazugehörigen
Eigenwert:33
Ai |Ô|Ai  = λi (1.18)

Da die Streuung um diesen Mittelwert 0 ist,34 kann man sagen, dass in diesem
Zustand der dem Eigenwert λi entsprechende Messwert mit Sicherheit gemessen
wird bzw. dass die λi entsprechende Eigenschaft mit Sicherheit vorliegt.
2. Jeder Vektor ist zugleich als Superposition von Eigenvektoren eines anderen, mit
Ô nicht kommutierenden Operators Ô darstellbar:35

|A = ai |Bi  (1.19)


i

31 Man beachte, dass die Kommutator-Beziehung nicht transitiv ist: Es kommt vor, dass A zwar mit
B und B mit C kommutiert, nicht aber A mit C.
32 So bezeichnet man in der Quantenmechanik den zugrunde gelegten unitären Vektorraum von

höchstens abzählbar unendlicher Dimension.


33 Der Erwartungswert eines Operators ist mathematisch dem üblichen Mittelwert nachgebildet.

Geometrisch wird dabei der durch Anwendung von Ô auf |A resultierende Vektor auf |A zu-
rückprojiziert. Physikalisch entspricht er (unstrittigerweise) eben dem Mittelwert von zahlreichen
Messungen der Ô zugeordneten Messgröße.
34 Die Streuung (hier: Standard-Abweichung) berechnet sich als: Ô = A|Oˆ2 |A – |A|Ô|A|2 , was

hier 0 ist.
35 Diese Darstellung ist nicht eindeutig: Es gibt davon unendlich viele verschiedene.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 27

In Bezug auf |A ist der Erwartungswert dieses anderen Operators nicht identisch
mit einem seiner Eigenwerte μi (und die Streuung ist auch nicht 0):

A|Ô |A = ( a∗i Bi |)Ô ( ai |Bi ) = μi |ai |2 (1.20)


i i i

Zu jedem Vektor gibt es daher Operatoren, die Messgrößen entsprechen, deren


Messwerte streuen, die also nicht mit Sicherheit, sondern nur mit einer gewis-
sen Wahrscheinlichkeit einen bestimmten Messwert ergeben, der einem seiner
Eigenwerte entspricht. In jedem Zustand gibt es daher Eigenschaften des quan-
tenphysikalischen Systems, von denen es nicht sicher ist, dass sie nach einer
Messung vorliegen. Es gibt dafür nur gewisse Wahrscheinlichkeiten.

Bislang waren die Eigenwerte eines gegebenen Operators nicht nur alle reell, son-
dern auch alle verschieden. Jedem solchen Eigenwert war genau ein Eigenvektor
zugeordnet. Dies muss nicht so sein, und wenn derselbe Eigenwert mehrfach
auftritt, ergeben sich aufschlussreiche Schwierigkeiten. Das Problem mehrfacher
Eigenwerte verdient einen eigenen Abschnitt.

1.2.3 Das Problem mehrfacher Eigenwerte

Mehrfache Eigenwerte führen aufschlussreiche Besonderheiten mit sich, die in


physik-philosophischer Literatur häufig übersehen werden. Dieser entsprechend
komplexe Abschnitt richtet sich in erster Linie an Studierende der Philosophie oder
Physik mit weitergehenden Ambitionen im Bereich der Philosophie der Physik.
Insbesondere kann er übergangen werden, wenn das Interesse bzw. das Seminar
ausschließlich den Interpretationskapiteln gilt.
Betrachten wir in Bezug auf den zweidimensionalen Anschauungsraum die
folgende Matrix:

5 0
(1.21)
0 5

Sie ist in Diagonalgestalt, also in einer Basis aus Eigenvektoren des durch sie dar-
gestellten Operators angegeben, und es stehen folglich N – nämlich 2 – reelle
Eigenwerte in ihrer Diagonalen. Im Gegensatz zum Bisherigen sind diese beiden
Eigenwerte aber nicht verschieden, was in diesem zweidimensionalen Beispiel den
ziemlich uninteressanten Fall widerspiegelt, dass durch diesen Operator, physika-
lisch interpretiert, nichts gemessen wird. Er ist mathematisch ja die Operation, bei
der jeder Vektor einfach um den Faktor 5 gestreckt wird, so dass in diesem speziellen
28 C. Friebe

Fall also jeder Vektor Eigenvektor dieses Operators ist – er differenziert daher in
keiner Weise.36
Treten dagegen in höheren Dimensionen mehrfache, aber nicht sämtlich gleiche
Eigenwerte auf – also etwa ein doppelter im dreidimensionalen Fall –, so hat dies
sehr wichtige und interessante Konsequenzen. Zunächst kann man sagen, dass ein
mehrfacher Eigenwert immer ein Hinweis darauf ist, dass der entsprechende Mess-
wert noch nicht genügend differenziell ist. Mathematisch gehört nämlich zu einem
mehrfachen Eigenwert keineswegs bloß genau ein (normierter) Eigenvektor, son-
dern vielmehr ein ganzer Eigenraum entsprechender Dimension, zu dem doppelten
Eigenwert im Dreidimensionalen also eine zweidimensionale Ebene, innerhalb de-
rer jeder Vektor Eigenvektor zu diesem doppelten Eigenwert ist. Vorausschauend
hatten wir daher zuvor formuliert, dass jeder lineare und selbstadjungierte Opera-
tor mindestens eine Basis aus Eigenvektoren hat, was wir jetzt präzisieren können:
Er hat genau eine Basis aus Eigenvektoren, wenn sämtliche seiner Eigenwerte ver-
schieden sind, und im Falle mehrfacher Eigenwerte zwar nicht beliebige, aber doch
unendlich viele verschiedene. Dieser Spielraum weist darauf hin, dass es im Fal-
le mehrfacher Eigenwerte (mindestens) noch einen weiteren, echt verschiedenen
Operator gibt, der mit dem gegebenen kommutiert, dass es folglich (mindestens)
noch eine weitere informative Messvorrichtung bzw. Messgröße gibt, die zugleich
messbar ist, und dass – in entsprechender Interpretation – das quantenphysikalische
System (mindestens) noch eine weitere Eigenschaft anderen Typs gleichzeitig hat.
Im Zweidimensionalen haben aber – abgesehen von dem Trivialfall einer gleich-
mäßigen Streckung – alle Operatoren verschiedene Eigenwerte und also jeder genau
eine Basis aus Eigenvektoren, weshalb es keinen echt verschiedenen Operator mehr
gibt, der mit einem gegebenen kommutierte, die beide also eine gemeinsame Ba-
sis aus Eigenvektoren hätten, welche ja nur die eine gemeinsame sein könnte. Und
deshalb gibt es für ein einzelnes Elektron keine zwei Spinwerte verschiedenen Typs
(d. h. in unterschiedlichen Raumrichtungen), die es zugleich haben könnte.37
Betrachten wir dagegen den ersten Anregungszustand des Wasserstoffatoms
bzw. das zweite Energieniveau des aus dem Chemieunterricht bekannten Orbital-
Modells. Wie man sich erinnert, unterscheidet man dort im Wesentlichen vier
verschiedene Zustände, nämlich ein kugelsymmetrisches s-Orbital und drei ‚Han-
teln‘, die p-Orbitale. Sie korrespondieren zunächst mit den Eigenwerten des
Bahndrehimpuls-Operators L̂2 , und zwar das s-Orbital mit dem Eigenwert 0 und
die p-Orbitale mit dem Eigenwert 1. Der Eigenwert 1 ist also dreifach; zu ihm ge-
hört also ein dreidimensionaler Eigenraum, der alle drei p-Orbitale (und noch mehr
als diese) umfasst. Es muss daher noch (mindestens) einen weiteren, gehaltvollen
Operator geben, der mit L̂2 kommutiert; uns fehlt noch eine gleichzeitig messbare
Größe, ein weiterer Messwert, der u. a. zwischen den drei p-Orbitalen differenziert.

36 Dies hat zur Konsequenz, dass in jeder physikalischen Interpretation des Formalismus zwei
Vektoren, die sich nur in ihren Längen unterscheiden, physikalisch ununterscheidbare Zustände
korrespondieren.
37 Wie gesagt: Diese letzte Formulierung ist zwar Standard, aber doch interpretationsabhängig.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 29

Ein solcher Operator ist (beispielsweise) L̂z , die Bahndrehimpuls-Komponente in


z-Richtung. Er hat drei verschiedene Eigenwerte, nämlich 1, –1 und 0 (doppelt!).
Da L̂2 und L̂z also kommutieren, können sie gemeinsam auf Diagonalgestalt
gebracht werden, so dass in den jeweiligen Diagonalen ihre Eigenwerte – gemäß
ihrer Vielfachheit – aufgelistet sind:
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
1 0 0 0 1 0 0 0
⎜0 0⎟ ⎜0 0 0 0 ⎟
⎜ 1 0 ⎟ ⎜ ⎟
L̂2 = ⎜ ⎟ und L̂z = ⎜ ⎟ (1.22)
⎝0 0 0 0⎠ ⎝0 0 0 0 ⎠
0 0 0 1 0 0 0 –1

Sie haben eine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren, die, räumlich veranschau-
licht, genau den vier Orbitalen entsprechen. Dem quantenphysikalischen System
kommen so – in realistischer Interpretation – zugleich zwei qualitativ verschiedene
Eigenschaften zu, also etwa das Wertepaar (0, 0) für das s-Orbital oder (1, –1) für ei-
nes der p-Orbitale. Man beachte, dass ihm tatsächlich noch zwei weitere Messwerte
(Eigenschaften) zukommen, nämlich ein Energiewert, der bereits als „erster Anre-
gungszustand“ angesprochen wurde, und ein Spinwert des gebundenen Elektrons in
einer bestimmten Raumrichtung.38
Es stellt sich dann die wichtige Frage, wieviele paarweise miteinander kommu-
tierende Operatoren es bzgl. einer gegebenen Situation maximal gibt, wievie-
le Messwerte (Eigenschaften) einem bestimmten quantenphysikalischen System
sonach maximal zugleich garantiert sind. Und es ist noch wichtiger, sich immer
wieder klarzumachen, dass diese maximale Zahl in der Quantenmechanik nie-
mals alle bedeuten kann, dass es also immer noch andere Operatoren gibt, die
mit (mindestens) einem aus der betrachteten Menge maximal paarweise kommutie-
render Operatoren nicht kommutieren, dass es also immer noch (mindestens) eine
weitere Basis des Vektorraums gibt, die keine Eigenvektor-Basis der gegebenen
Operatoren ist – und dass also (gemäß Standard-Auffassung) das quantenphysi-
kalische System nicht zu jedem Eigenschaftstyp, zu dem es grundsätzlich einen
Eigenschaftswert haben kann, auch immer einen solchen hat. In diesem Beispiel
ist eine solche Größe etwa der Ort: Ein gebundenes Elektron, wie dasjenige des
Wasserstoffatoms, hat keinen bestimmten Ort!
Also: Mehrfache Eigenwerte öffnen den Weg zu gemeinsam messbaren bzw.
vorliegenden qualitativ verschiedenen Eigenschaften. Das Beispiel zeigt aber darü-
ber hinaus, dass man genau aufpassen muss: Wir hatten gesagt, dass kommutierende
Matrizen gemeinsam auf Diagonalgestalt gebracht werden können und dass die
durch sie dargestellten Operatoren folglich (mindestens) eine gemeinsame Basis
aus Eigenvektoren haben. Und ferner galt umgekehrt, dass nicht-kommutierende
Matrizen nicht gemeinsam auf Diagonalgestalt gebracht werden können und also
die durch sie dargestellten Operatoren keine gemeinsame Basis aus Eigenvektoren

38 Wollte man diese Größen noch berücksichtigen, müsste man einen noch höheren als vierdimen-

sionalen Vektorraum zugrunde legen.


30 C. Friebe

haben. Man könnte daher denken, dass einerseits kommutierende Operatoren alle
ihre Eigenvektoren gemeinsam hätten, und dass andererseits nicht-kommutierende
Operatoren überhaupt keine gemeinsamen Eigenvektoren hätten. Dies gilt aber tat-
sächlich nur in dem Falle, in dem alle ihre Eigenwerte einfach sind. Mehrfache
Eigenwerte implizieren hingegen:

1. Kommutierende Operatoren haben zwar eine gemeinsame Basis aus Eigen-


vektoren, keineswegs aber alle ihre Eigenvektoren gemeinsam. Vielmehr hat
ein Operator durchaus viele Eigenvektoren, die keine Eigenvektoren eines be-
stimmten, mit ihm kommutierenden Operators sind, ‚obwohl‘ diese Messgrößen
kommensurabel sind.
So hat beispielsweise L̂2 im dreidimensionalen Eigenraum seines dreifachen
Eigenwerts 1 Elemente (also Eigenvektoren), die statt Eigenvektoren von L̂z
vielmehr solche von dem mit L̂z nicht kommutierenden L̂x , der Bahndrehimpuls-
Komponente in x-Richtung, sind. Man könnte sagen, dass der Messwert 1
des Operators L̂2 je etwas anderes bedeutet, je nachdem, mit welchem ande-
ren, kommutierenden Operator er verbunden wird, dass mithin Eigenschaften
quantenphysikalischer Systeme kontextabhängig sind: Aber das ist Gegenstand
weiterführender philosophischer Interpretation.
2. Nicht-kommutierende Operatoren haben zwar keine gemeinsame Basis aus
Eigenvektoren, sehr wohl zuweilen ‚dennoch‘ gemeinsame Eigenvektoren.
So ist beispielsweise das s-Orbital – aufgrund seiner Kugelsymmetrie – nicht nur
gemeinsamer Eigenvektor (bzw. dessen räumliche Veranschaulichung) der kom-
mutierenden Operatoren L̂2 und L̂z zum Eigenwerte-Paar (0, 0). Der durch das
s-Orbital räumlich dargestellte Eigenvektor ist vielmehr darüber hinaus Eigen-
vektor der weder mit L̂z noch untereinander kommensurablen Größen L̂x und L̂y –
ebenfalls zu deren (ebenso doppelten) Eigenwert 0. Laut Standard-Lesart gibt es
sonach einen speziellen Zustand, in dem das quantenphysikalische System nicht
bloß zwei Werte – wie es der maximalen39 Anzahl paarweise kommutierender
Operatoren entspräche –, sondern vier qualitativ verschiedene Messwerte (Eigen-
schaften) zugleich hat. Die sind zwar numerisch alle gleich – nämlich alle 0 –,
aber qualitativ doch wohl zu unterscheiden.

Diese Tatsachen – dass also kommutierende Operatoren ‚dennoch‘ nicht-


gemeinsame Eigenvektoren und dass inkommensurable Messgrößen ‚sehr wohl‘
gemeinsame Eigenvektoren haben können – sollten insbesondere beim EPR-
Paradoxon beachtet werden (vgl. hier Kap. 4). Das dort in der Regel betrachtete
Zweiteilchen-System hat den Gesamtspin 0. Der dazugehörige, immer wieder her-
angezogene Eigenvektor – nämlich der sogenannte Singulett-Vektor – ist aber ein
ganz spezieller: Er ist zum einen gemeinsamer Eigenvektor der miteinander nicht-
kommutierenden Spinprojektions-Operatoren Ŝx , Ŝy und Ŝz – zu den Eigenwerten
(0, 0, 0). Und er ist zum anderen kein Eigenvektor der mit diesen (entsprechend

39 Energie- und Spinwerte außer Betracht gelassen.


1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 31

der Raumrichtung) aber kommutierenden Einzelspin-Operatoren. Was folgt philo-


sophisch aus dieser mathematischen Besonderheit des Singulett-Zustands?

1.2.4 Spezielle Operatoren und Ortsdarstellung

Damit ist der mathematische Formalismus der gewöhnlichen Quantenmechanik


des Einzelsystems in seinen Grundzügen skizziert. Wie ausblickend bereits an-
gedeutet, kommt die nächste zu bewältigende Schwierigkeit erst beim Übergang
zu Mehrteilchen-Systemen ins Spiel, deren mathematische Grundlagen an gege-
bener Stelle dargelegt werden. In diesem Unterabschnitt sollen nun noch einige
spezielle Operatoren, die eine besondere Rolle spielen, eingeführt werden. Sie
sind (bis auf eine wichtige Ausnahme) alle linear und selbstadjungiert, haben al-
so maximal viele Eigenwerte, die alle reell sind und folglich physikalisch als
Messwerte gedeutet werden können. „ Speziell“ sind sie insbesondere in ihrer
physikalischen Bedeutung, die hier also erst recht nicht außer Betracht bleiben
kann, aber auch mathematisch: Sie haben jeweils über Linearität und Symmetrie40
hinausgehend (mindestens) eine weiterere sie charakterisierende mathematische
Eigenschaft.
Wichtig werden diese speziellen Operatoren im Kontext spezieller Probleme,
wie etwa der Statistische Operator bei der mathematischen Beschreibung des Mess-
problems und von Mehrteilchen-Systemen. Man kann diesen Abschnitt daher
bei einem ersten Durchgang übergehen und die entsprechenden Unterabschnitte
dann studieren, wenn auf sie verwiesen wird. Wem besonders das Problem der
raumzeitlichen Einbettung von Quantenobjekten am Herzen liegt, möge sofort zu
„Zeitentwicklung“ und „Ortsdarstellung“ springen.

Projektionsoperator.
Projektionsoperatoren haben die zusätzliche Eigenschaft der „Idempotenz“, d. h.
ihre nochmalige Anwendung auf einen bereits projizierten Vektor hat keine Wir-
kung:41 P̂P̂ = P̂. Daraus folgt, dass seine einzigen Eigenwerte 1 und 0 sind: Wenn
P̂| = λ|, dann P̂P̂| = P̂(λ|) = λ2 | und also λ2 | = λ|. Diese
Eigenwerte lassen sich als Antworten auf eine Ja-Nein-Frage verstehen: Liegt ein
bestimmter Messwert (eine bestimmte Eigenschaft) vor oder nicht?
Man kann daher mit jedem Eigenwert λi eines beliebigen hermiteschen Ope-
rators Ô einen Projektionsoperator P̂λi assozieren. Ist λi ein einfacher Eigenwert,
so ist dies auch der Eigenwert 1 des entsprechenden Projektionsoperators; er
projiziert folglich auf den Eigenvektor |i  zum Eigenwert λi und schreibt sich
dann: P̂λi = |i i |. Ist das quantenphysikalische System mit diesem Eigenvektor
zu assoziieren, ist der Erwartungswert dieses Projektionsoperators natürlich 1; für

40 Komplexe Konjugation beachten!


41 Diese
Eigenschaft ist nicht zu verwechseln mit der Forderung nach Wiederholbarkeit einer
Messung, die häufig allgemein erhoben wird.
32 C. Friebe


jeden anderen Vektor | = i ci |i  gilt:

|P̂λi | = |i ||2 = |ci |2 (1.23)

Man sagt: Der Erwartungswert des Projektionsoperators zum Eigenwert λi ist


gerade die Wahrscheinlichkeit, bei einer Messung von Ô diesen Eigenwert als
Messwert zu erhalten.42
Sind alle Eigenwerte ai eines gegebenen Operators  einfach, so lässt er sich als
die folgende Summe von Projektionsoperatoren ausdrücken:

 = ai |Ai Ai | (1.24)


i

Zwei Operatoren  und B̂ kommutieren nun genau dann, wenn die ihnen zugrun-
de gelegten Projektionsoperatoren P̂Â und P̂B̂ für alle ihre Eigenwerte paarweise
kommutieren.
Dies lässt sich auf mehrfache Eigenwerte verallgemeinern. In solch einem
Falle ist auch der Eigenwert 1 des jeweiligen Projektionsoperators mehrfach, so
dass er nicht länger auf genau einen Eigenvektor projiziert, sondern vielmehr auf
einen Eigenraum entsprechender Dimension. Nicht-trivial ist dann die Frage, wann
Projektionsoperatoren kommutieren, wenn sie auf solche mehrdimensionale Räume
projizieren. Notwendige Bedingung ist, dass der Schnitt nicht leer ist: So projiziert
der Projektionsoperator zum Eigenwert 0 von Ŝ2 auf den Singulett-Vektor, der in
der Ebene liegt, auf die der Projektionsoperator zum Eigenwert 0 von Ŝz projiziert.
Dies zeigt, dass die Kommutator-Beziehung nicht transitiv ist: Im Gegensatz zu
Ŝ2 kommutiert Ŝz mit den Einzelspin-Operatoren gleicher Raumrichtung; in seinem
Eigenraum zum Eigenwert 0 liegen auch die separierbaren Produkt-Vektoren. Hin-
reichend ist die Bedingung aber nicht: Der Singulett-Vektor liegt auch im Schnitt
der Ebenen zum Eigenwert 0 von Ŝx und Ŝy , ‚obwohl‘ sie miteinander und mit
Ŝz nicht kommutieren. Unterräume, auf die kommutierende Projektionsoperatoren
projizieren, müssen gewissen Orthogonalitätsbedingungen genügen.

Statistischer Operator (Dichte-Matrix).


Projektionsoperatoren haben die mathematische Eigenschaft, dass ihre Eigenwerte
nicht-negativ sind – nämlich 0 und 1. Im Spezialfall eindimensionaler Projektions-
operatoren43 ist darüber hinaus die Summe ihrer Eigenwerte 1. Diese Eigenschaften
lassen sich wie folgt verallgemeinern: Ein linearer und selbstadjungierter Ope-
rator heißt „positiv“, wenn er keine negativen Eigenwerte hat, und er heißt ein

42 Man beachte,dass, wie immer, der Vektor | auf Länge 1 normiert ist, so dass für seine
Komponenten i |ci |2 = 1 ist.
43 „Eindimensional“ heißen Projektionsoperatoren, die auf genau einen (normierten) Vektor

projizieren, deren Eigenwert 1 also einfach ist.


1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 33

Statistischer Operator, wenn zusätzlich die „ Spur“ seiner Matrix44 1 ist. Für dessen
Eigenwerte pi gilt also

0 ≤ pi ≤ 1 und pi = 1, (1.25)
i

was seine Deutung als „statistischen“ Operator rechtfertigt: Seine Eigenwerte


verhalten sich wie Wahrscheinlichkeiten.
Ein Statistischer Operator ρ̂ lässt sich nun als gewichtete Summe von Projek-
tionsoperatoren wie folgt darstellen:

ρ̂ = pi |i i | (1.26)


i

Für den Fall, bei dem alle pi bis auf eines 0 sind, wird der Statistische Operator
zu dem entsprechenden Projektionsoperator, so dass eindimensionale Projektions-
operatoren spezielle Statistische Operatoren sind. Dies legt die Deutung nahe, dass
Statistische Operatoren mit dem ‚Zustand‘ des quantenphysikalischen Systems kor-
reliert sind, im speziellen Fall mit einem „ reinen“ Zustand und allgemein mit einem
„gemischten“. Auch lässt sich der Erwartungswert eines Operators Ô in Bezug auf
einen reinen Zustand (vgl. Gl. 1.20):45

|Ô| = λi |i ||2 = λi |ci |2 = Spur(P̂| Ô) (1.27)


i i

auf einen gemischten verallgemeinern:

Ôρ̂ = Spur(ρ̂ Ô) (1.28)

Die damit nahegelegte Annäherung von reinen und gemischten Zuständen ist aber
problematisch; jedenfalls steht sie in einer Spannung zur Standard-Deutung ei-
nes Operators als einer Messgröße: Demnach nämlich stellt auch der Statistische
Operator eine Messgröße bzw. eine Messvorrichtung dar, mit seinen Eigenwerten
als möglichen resultierenden Messwerten. Vor allem aber ist zu beachten, dass
im Gegensatz zu einem reinen Zustand, der mit dem Eigenvektor des entspre-
chenden Projektionsoperators zu dessen (einfachem) Eigenwert 1 korreliert ist,
einem gemischten Zustand kein Vektor im Hilbertraum entspricht. So ist etwa im
Zweidimensionalen – mit den Eigenvektoren |up und |down eines bestimmten
Spin-Operators – der sogenannte gemischte Zustand

44 Die Spur einer Matrix ist die Summe ihrer Diagonalelemente. Sie ist invariant unter Basistrans-

formationen, so dass bei einer Basis aus Eigenvektoren die Spur gerade die Summe der Eigenwerte
ist.

i λi |i i |
45 Mit Gleichung 1.24 gilt: Ô =
34 C. Friebe

1 1
|upup| + |downdown|
ρ̂ = (1.29)
2 2
nicht zu verwechseln mit der Superposition von Spin-up und Spin-down

1 1
| = √ |up + √ |down, (1.30)
2 2

die vielmehr einem reinen Zustand entspricht.


Man hat vielleicht eher den Eindruck, dass ein ‚gemischter Zustand‘ eigentlich
eine Mischung von (reinen) Zuständen anzeigt und dass also die Wahrschein-
lichkeiten pi bloß unser subjektives Unwissen über den tatsächlich vorliegenden
reinen Zustand angeben. Doch das kann erst recht nicht sein: Diese Ignoranz-
Interpretation der Wahrscheinlichkeiten, die als Eigenwerte des Statistischen Ope-
rators auftreten, ist nämlich vor allem dort unangebracht, wo er in erster Linie
seine Anwendung findet: bei zusammengesetzten Systemen. Wie wir sehen werden,
müssen Teile eines Ganzen – wie beispielsweise beim EPR-Paradoxon oder beim
Messproblem – als gemischte Zustände beschrieben werden, insbesondere auch
dann, wenn das Ganze als in einem reinen Zustand aufgefasst werden kann. Man
sagt dann häufig, dass durch die Vernachlässigung des anderen Teils – also etwa
des Messgerätes – Information verloren gehe. Wie an gegebener Stelle genauer
ausgeführt wird, ist dies vielleicht insofern richtig, als die für Superpositionen
charakteristischen Interferenzterme bei Erwartungswerten und Messwahrschein-
lichkeiten für gemischte Zustände nicht mehr auftreten. Falsch ist es aber zu sagen,
dass nun subjektives Unwissen ins Spiel komme, wo vorher keines war. Denn be-
trachten wir etwa den Statistischen Operator in Gl. 1.29, wie er so ähnlich etwa
bei Vernachlässigung des zweiten Teilchens im EPR-Fall ins Spiel kommt: Er hat
einen doppelten Eigenwert, d. h. die gegebene Darstellung ist nicht eindeutig. Dieser
Statistische Operator hat nicht bloß zwei, sondern unendliche viele Eigenvektoren,
die alle zum Eigenwert 12 gehören, was die Ignoranz-Interpretation ad absurdum
führt.46

Unitäre Operatoren; der Zeitentwicklungs-Operator.


Alles bislang Gesagte war vollkommen zeitlos. Für sämtliche bislang aufgeworfe-
nen Fragen – ob etwa ein Operator reelle Eigenwerte hat oder nicht, welches seine
konkreten Eigenwerte und Eigenvektoren denn sind, und ob Operatoren paarweise
kommutieren oder nicht – spielte die Zeit keine Rolle. Es war dafür ganz gleichgül-
tig, zu welcher Zeit ein quantenphysikalisches System betrachtet wird und wie es
sich durch die Zeit hindurch entwickelt. Allein das ist höchst erstaunlich, bedeutet
dies doch anscheinend, dass der mathematische Formalismus der Quantenmecha-
nik etwas eher am Rande behandelt, das für klassische Theorien bis einschließlich
der Relativitätstheorien von zentraler Bedeutung war und ist: die zeitliche Dynamik
physikalischer Systeme.

46 Zur Diskussion dieser Problematik vgl. insbesondere van Fraassen (1991 S. 157ff. und 206/7).
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 35

Macht man sich nun auf die Suche nach der mathematischen Operation, mittels
derer im Hilbertraum die Dynamik quantenphysikalischer Systeme zu beschreiben
ist, wird man offenbar fordern müssen, dass alle bislang dargelegten Beziehungen –
etwa die zwischen einem hermiteschen Operator und seinen Eigenvektoren – durch
die Zeitentwicklung unberührt bleiben. Man fordert daher insbesondere, dass Ortho-
normalbasen weiterhin Orthonormalbasen seien, dass allgemein das Skalarprodukt
zweier Vektoren invariant bleibe, anschaulich also die Längen von Vektoren und
die Winkel zwischen ihnen. Operatoren, die das Skalarprodukt erhalten, ‚bewirken‘
(imaginäre) Rotationen und heißen „unitär“. Mathematisch ist ein unitärer Operator
Û durch
Û ∗ Û = 1̂ (1.31)

charakterisiert, wobei Û ∗ durch Vertauschung von Zeilen und Spalten sowie


komplexe Konjugation aus Û hervorgeht.47
Man kann nun zeigen, dass mit einem kontinuierlichen Parameter t ein
hermitescher, physikalisch das Quantensystem charakterisierender, Operator Ĥ
existiert, so dass sich der unitäre Zeitentwicklungs-Operator wie folgt ausdrücken
lässt:48
i
Ût = exp( – tĤ) (1.32)

Und damit:
i
|t = e–  tĤ |0 (1.33)

Hieraus ergibt sich für die Zeitentwicklung des quantenphysikalischen Systems


eine Differenzialgleichung erster Ordnung nach der Zeit, nämlich die berühmte
Schrödinger-Gleichung, wenn man den Operator Ĥ geeignet als die Messgröße der
Energie wählt (Ĥ = Êkinetisch + Êpotenziell ):

d
i |(t) = Ĥ|(t) (1.34)
dt
Diese Schrödinger-Gleichung ist bei gegebenem Anfangswert |(0) mathema-
tisch eindeutig lösbar und – bei Berücksichtigung der komplexen Konjugation –
invariant gegen die Umkehr der Zeitrichtung (t → –t). Sie ist daher determinis-
tisch und zeitreversibel, ganz genau so wie die Grundgleichungen der klassischen
Physik, also der Newtonschen Mechanik und der Maxwellschen Elektrodynamik.
Es mag daher erstaunen, dass sie in unserer Darstellung – und im Gegensatz zu
vielen einführenden Physiklehrbüchern – nicht im Zentrum der Theorie bzw. des
mathematischen Formalismus der Quantenmechanik steht. In der Tat ist hier viel-
mehr die Kommutator-Beziehung hermitescher Operatoren – [Â, B̂] = Â · B̂ – B̂ · Â –

47 In der Bra-Ket-Schreibweise ist Ô∗ immer der Operator, der nach links ‚wirkt‘, so dass im
unitären Fall gilt: |Û ∗ Û| = | – wie erwünscht.
48 Die komplexe Exponentialfunktion ist periodisch, so dass Û analog einer Drehmatrix ist.  ist

die quantenmechanische Naturkonstante, das (reduzierte) Plancksche Wirkungsquantum.


36 C. Friebe

ins Zentrum gestellt worden, und dies zu Recht: Denn man muss ja bedenken,
dass der unitäre Zeitentwicklungs-Operator nicht selbstadjungiert ist (nur Ĥ im Ex-
ponenten von Û ist selbstadjungiert). Ebenso wie die angeführte Drehmatrix im
dreidimensionalen Anschauungsraum (vgl. Gl./Matrix 1.6) hat auch diese Drehung
im Komplexen im Allgemeinen nicht maximal viele und zuweilen keine reellen
Eigenwerte. Dem Zeitentwicklungs-Operator entspricht daher keine Messvorrich-
tung bzw. keine Messgröße; man kann die damit beschriebene Zeitentwicklung des
quantenphysikalischen Systems nicht direkt beobachten. Vielleicht findet sie auch
gar nur im abstrakten Hilbertraum statt – was immer das heißen mag, und obwohl
sie Auswirkungen hat auf die Wahrscheinlichkeiten der Messausgänge.
Eine direkt beobachtbare zeitliche Dynamik des quantenmechanischen Systems
findet vielmehr höchstens bei den sogenannten Messungen statt. Eine Messung
aber, die häufig eine „zweite Dynamik“ genannt wird, wird durch den Forma-
lismus der Quantenmechanik (zunächst) nicht beschrieben – was der Grund für
das notorische Messproblem der Quantenphysik ist, das uns im weiteren Verlauf
noch häufig beschäftigen wird. Inzwischen vertreten sogar viele die (umstritte-
ne) Auffassung, dass man besser ohne eine solche zweite, mathematisch letztlich
nicht erfassbare Dynamik auskommen solle, dass es also überhaupt gar keine be-
sondere Messung gebe (z. B. die Physiker Ghirardi, Rimini und Weber, vgl. hier
Abschn. 2.4). An dieser Stelle jedenfalls lässt sich festhalten: Die mathematisch
beschreibbare zeitliche Entwicklung eines quantenmechanischen Systems ist nicht
direkt beobachtbar, und die direkt beobachtbare Dynamik bei einer Messung ist
mathematisch nicht beschreibbar – eine Herausforderung für die Interpretation der
Quantenmechanik!

Orts- und Impulsoperator.


Sowohl in der Philosophie als auch in der klassischen Physik spielen nicht nur die
Zeit und die zeitliche Veränderung sinnlich wahrnehmbarer Objekte eine zentrale
Rolle, sondern auch der Raum, also ihre räumliche Gestalt und ihre Bewegung
durch den Raum. Makroskopische Objekte, wie sie in der klassischen Mechanik
beschrieben werden, nehmen zu jeder Zeit ein bestimmtes Raumgebiet ein oder ha-
ben als punktdünne Teilchen idealisiert einen exakten Ort. Darüber hinaus haben
sie zu jeder Zeit eine bestimmte Geschwindigkeit bzw. einen bestimmten Impuls,
so dass sie sich auf Bahnen – Planetenbahnen etwa – bewegen, mathematisch also
längs stetig differenzierbarer Kurven im dreidimensionalen Anschauungsraum.
In der Quantenmechanik ist dies ganz anders: Zunächst sind Orts- und Im-
pulsoperatoren nur irgendwelche Operatoren unter vielen anderen – gar eigentlich
solche, die mathematisch eher unschön sind – und werden entsprechend hier erst
zuletzt im Abschnitt „ Spezielle Operatoren“ angeführt. Der dreidimensionale An-
schauungsraum spielt offenbar nicht mehr seine ehemals ausgezeichnete Rolle. Vor
allem aber sind Ort und Impuls inkommensurable Größen in dem Sinne, dass je
genauer der Ort eines Teilchens gemessen ist, desto ungenauer sein Impuls (und
umgekehrt): Der Ortsoperator und der Impulsoperator kommutieren nicht! Daraus
folgert man üblicherweise, dass quantenmechanische Objekte sich nicht auf Bahnen
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 37

bewegen; ihre ‚Bewegung‘ im Raum sei unstetig, sprunghaft, wenn sie überhaupt
noch als etwas Bewegtes gelten könnten.49
Mathematisch sind Orts- und Impulsoperatoren noch aus einem anderen Grund
problematisch: Geht man nämlich vor wie bislang, dann müsste doch für den Orts-
operator Q̂ – und Analoges für den Impulsoperator P̂50 – die Eigenwert-Gleichung

Q̂|q = x|q (1.35)

gelten, wobei mit „x“ die möglichen Ortskoordinaten des Teilchens bezeichnet sei-
en. Im Gegensatz zum Bisherigen nehmen hier die Eigenwerte aber alle reellen
Zahlen an. Während die Eigenwerte selbstadjungierter Operatoren bislang bloß end-
lich viele oder höchstens abzählbar viele waren – was der Idee der ‚Quantensprünge‘
entsprach –, sind die Eigenwerte des Ortsoperators kontinuierlich – was dem
anschaulichen Kontinuum des Raumes entspricht.51 Das bedeutet jedoch, dass sei-
ne Basis aus Eigenvektoren ebenso kontinuierlich ist, was allemal unanschaulich
macht, sie als Orthonormalbasis zu verstehen. Doch auch mathematisch-präzise be-
reiten solche Eigenvektoren Probleme: Wie man sich erinnert, hat ein Eigenvektor,
dargestellt in ‚seiner eigenen‘ Eigenvektor-Basis, die Gestalt eines (möglicherwei-
se unendlich langen) Spaltenvektors, bei dem alle Einträge bis auf einen 0 sind
und diese eine Komponente 1. Geht man nun über ins Kontinuierliche, entsteht ei-
ne ‚Funktion‘, deren Wert überall 0 ist, bis auf eine Stelle, an der sie unendlich
wird – was recht eigentlich keine wohlgeformte Funktion mehr ist.52 Und tatsäch-
lich ist der Hilbertraum der Quantenmechanik beschränkt und separabel, was, kurz
gesagt, bedeutet, dass weder solche Operatoren noch solche Eigenvektoren in ihm
vorkommen: Er ist von höchstens abzählbar unendlicher Dimension.
Solche Bedenken außer Betracht, fährt man in der Regel so fort, dass man
die Darstellung eines beliebigen Vektors | bezüglicheiner diskreten Basis von
Eigenvektoren irgendeines Operators – nämlich | = i ci |i  – ins Kontinuier-
liche verallgemeinert, also von der Summe zum Integral und zu kontinuierlichen
Entwicklungskoeffizienten übergeht:

|(x) = ψ(x )δ(x – x )dx (1.36)

49 In Nichtstandard-Interpretationen der Quantenmechanik wird dies allerdings nicht geteilt: So


ist das räumliche Geschehen von ausgezeichneter Bedeutung in der GRW-Variante, und in der
Bohmschen Mechanik bewegen sich (wieder) Teilchen auf Bahnen.
50 Strenggenommen haben die Orts- und Impulsoperatoren des Einzelteilchens natürlich je drei

(untereinander kommutierende) Komponenten. Dies wird hier und im Folgenden vernachlässigt.


51 Seit Cantor unterscheidet man (mindestens) zwei Arten unendlicher Mengen: solche, deren Ele-

mente man zählen kann, die also nicht größer sind als die unendliche Menge der natürlichen
Zahlen, wie noch die Menge der rationalen Zahlen, von solchen, bei denen das nicht mehr mög-
lich sind, die also größer, mächtiger sind, wie etwa die reellen Zahlen. Ein Kontinuum bildet eine
Punktmenge dann, wenn sie überabzählbar unendlich und darüber hinaus noch dicht ist. Näheres
dazu in einschlägigen Lehrbüchern der Analysis.
52 In der Physik nennt man solche Gebilde „δ-Funktionen“.
38 C. Friebe

Dies ist die „Ortsdarstellung“ eines Vektors aus dem Hilbertraum, also seine wohl
konkreteste Darstellung, bezüglich der Eigenvektor-Basis des Ortsoperators.53 Sie
entspricht der Wellenfunktion der Schrödingerschen Wellenmechanik.
In Ortsdarstellung ‚wirkt‘ der Ortsoperator einfach wie die Multiplikation mit
reellen Zahlen, den Ortskoordinaten: Q̂ = x, und der Impulsoperator wie ei-

ne Ableitung nach dem Ort:54 P̂ = –i ∂x . Es gilt dann die ja basisunabhängige
Kommutatorbeziehung 55

[Q̂, P̂] = i1̂, (1.37)

woraus sich die Heisenbergsche Unschärferelation zwischen Ort und Impuls ergibt:

x · px ≥ /2 (1.38)

Sie drückt eine Relation der Streuungen von Messwerten für Ort und Impuls aus,
woraus (nach Standard-Interpretation) wiederum folgt, dass Quantenobjekte sich
nicht im üblichen Sinn auf Bahnen bewegen.
2 ∂ 2
Mit Êkin = –( 2m ) ∂x2 und Êpot = V(x) folgt allgemein für die Zeitentwicklung56

∂ 2 ∂ 2
i ψ(x, t) = –( ) 2 ψ(x, t) + V(x)ψ(x, t), (1.39)
∂t 2m ∂x

die (vielleicht gewohntere) Schrödinger-Gleichung in Ortsdarstellung.


Die erwähnten Probleme bei Operatoren mit kontinuierlichem Spektrum von
Eigenwerten und kontinuierlicher Basis von Eigenvektoren sind nun in der Tat
nicht bloß mathematischer Natur: Vertritt man nämlich die Eigenwert-Eigenvektor-
Verknüpfung, so müsste das quantenmechanische System nach einer präzisen
Ortsmessung in einem Zustand sein, der durch einen Eigenvektor des Ortsoperators
dargestellt wird, also durch eine δ-Funktion. Wegen der Heisenbergschen Unschär-
ferelation ist in diesem Zustand der Impuls maximal unbestimmt, was zur Folge hat,
dass die δ-Funktion bereits unmittelbar danach ‚zerfließt‘, was durch die Zeitent-
wicklung nach der Schrödinger-Gleichung auch bestätigt wird. Es ist sogar so, dass
schon bei einer sehr kurz danach folgenden zweiten Ortsmessung die Wahrschein-
lichkeit, das Teilchen sehr weit entfernt vom zunächst gemessenen Ort zu finden,
zwar sehr klein ist, aber eben nicht 0. Dies unterläuft erneut und wohl endgültig das

53 Man beachte, dass der ‚Ortsraum‘ nur beim Einzelsystem dem dreidimensionalen Anschauungs-
raum entspricht. Im Mehrteilchen-Fall operieren wir dagegen – entsprechend der Teilchenzahl N –
im 3N-dimensionalen Konfigurationsraum, der so anschaulich nun auch wieder nicht ist. Es bleibt
(vorerst) dabei: Nur die Eigenwerte (hier: des Ortsoperators) entsprechen realen Messwerten bzw.
realen Eigenschaften realer quantenphysikalischer Systeme.
54 In Ortsdarstellung stellen die Eigenvektoren des Impulsoperators demnach, d. h. nach kurzer

Rechnung, ebene Wellen dar, was anschaulich einer räumlich vollständigen Delokalisierung des
Teilchens bei exaktem Impulswert entsprechen könnte.
55 In Ortsdarstellung ergibt sie sich wegen [x, –i d ]f (x) = –i(xf  (x) – d (xf (x)) = if (x).
dx dx
56 Es gilt weiterhin Ĥ = Ê + Ê , wobei hier V(x) ein nur vom Ort abhängiges Potenzial ist – wie
kin pot
etwa das Coulomb-Potenzial beim Wasserstoffatom – und m die Masse des Teilchens.
1 Physikalisch-mathematische Grundlagen 39

Kriterium der Wiederholbarkeit einer Messung. Darüber hinaus macht es aber auch
die philosophisch weit verbreitete Vorstellung der Persistenz, der zeitüberdauernden
Identität, solcher Objekte fraglich: Es scheint, als seien sie nicht wiedererkennbar
und also wohl gar nicht beharrlich, wie Kant sagen würde, nämlich kein zeitlich
Identisches, an dem Ortskoordinaten und andere Eigenschaften wechseln könnten.
Die Zeitentwicklung eines quantenphysikalischen Systems erweist sich erneut als
in hohem Maße interpretationsbedürftig.
Aber damit sind wir nun endgültig in die philosophische Deutungsdebatte ein-
gestiegen, und viele andere Interpretationsprobleme hatten sich im Laufe dieser
mathematischen Einführung ja bereits angedeutet, so dass es nun an der Zeit ist
für ein erstes Kapitel zu den Interpretationen der Quantenmechanik.

Übungsaufgaben zu Kap. 1

1. Niels Bohr führte zur Deutung der Quantenmechanik den Begriff „Komple-
mentarität“ ein. Unterscheiden Sie zwei Lesarten, wie man ihn verstehen
kann.
2. Bei aufeinanderfolgenden Spinmessungen wurden zuletzt vermeintlich zwei Ef-
fekte unterschieden, die durch das Mischen der Teilchen wieder rückgängig
gemacht werden könnten. Beschreiben Sie zunächst diese beiden vorgeblichen
Effekte und erläutern Sie anschließend, warum es sich dabei tatsächlich nur um
einen einzigen handelt. Was kann man daraus folgern?
3. Betrachten Sie die Erwartungswerte von Operatoren in Abhängigkeit davon, ob
das physikalische System durch einen Eigenvektor des gewählten Operators dar-
gestellt wird oder nicht. Berechnen Sie die Erwartungswerte der zuvor gegebenen
Spin-Operatoren bzgl. der (dort dargestellten) verschiedenen Vektoren. Erläu-
tern Sie die Ergebnisse anhand der Abbildungen zur Wiederholungs- und zur
Zerstörungsmessung.
4. Was besagt von Neumanns Projektionspostulat? Erläutern Sie insbesondere, in-
wiefern dieses Postulat über das hinausgeht, was in Bezug auf Erwartungswerte
als unstrittig festgehalten wurde.
5. Im Gegensatz zur Alltagsmeinung, zu vielen philosophischen Denkrich-
tungen, aber auch zu physikalischen Alternativen (z. B. GRW, Bohm) steht der
(Anschauungs-)Raum nicht im Zentrum der Standard-Quantenmechanik. Dis-
kutieren Sie diese These zunächst nicht-formal und anschließend anhand der
mathematischen Besonderheiten des Ortsoperators.

Literatur zu Kap. 1
Albert, David Z. (1992). Quantum Mechanics and Experience. Cambridge MA: Harvard Univer-
sity Press.
Aristoteles. Physik. Bücher V-VIII, hrsg. und übersetzt v. H. G. Zekl, (1988). Hamburg: Meiner.
40 C. Friebe

van Fraassen, Bas C. (1991). Quantum Mechanics. An Empiricist View. Oxford: Clarendon Press.
Kant, Immanuel (1781/87). Kritik der reinen Vernunft. Zit. nach A- und B-Auflage.
Mellor, Hugh D. (1998). Real Time II. London: Routledge.
Nortmann, Ulrich (2008). Unscharfe Welt? Was Philosophen über Quantenmechanik wissen
möchten. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
von Neumann, John (1932). Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik. Berlin: Springer
(Reprint 1968).
Räsch, Thoralf (2011). Mathematik der Physik für Dummies. Weinheim: Wiley-VCH.
Messproblem, Minimal- und
Kollapsinterpretationen 2
Cord Friebe

Inhaltsverzeichnis
2.1 Minimalinterpretation ..................................................................................... 42
2.2 Ensemble-Interpretation und Kopenhagener Deutung ............................................ 46
2.3 Messproblem und Dekohärenz.......................................................................... 57
2.4 Realistische Kollaps-Deutung: GRW.................................................................. 66
Übungsaufgaben zu Kap. 2 ...................................................................................... 73
Literatur zu Kap. 2 ................................................................................................. 73

Nicht erst in der Philosophie, sondern bereits in der Physik wird interpretiert.
Mathematische Formalismen wie jener, der im vorhergehenden Kapitel in seinen
Grundzügen präsentiert wurde, sind als solche selbst bloß abstrakt, sagen also
für sich betrachtet noch nichts über die konkrete Wirklichkeit aus. Es bedarf ei-
ner Interpretation, zunächst in dem Sinne, dass den mathematischen Symbolen und
Operationen Elemente in der Realität zugeordnet werden. Während aber in der klas-
sischen Physik – in der Newtonschen Mechanik ebenso wie in der Maxwellschen
Elektrodynamik – eine solche Interpretation im Grunde auf der Hand lag, tauchen
im Fall der Quantenmechanik von Beginn an erhebliche Schwierigkeiten auf: Der
Hilbertraum ist im Gegensatz etwa zum sogenannten Phasenraum der klassischen
Mechanik ein so abstrakter Vektorraum, dass dessen Vektoren und Operatoren nicht
automatisch etwas in der Welt zugeordnet werden kann. Es gibt in der Quanten-
mechanik einen größeren Interpretationsspielraum als in der klassischen Physik: ein
Spektrum, das weit reicht; von solchen Deutungen, die sich sehr nah am üblichen,
von Neumannschen Formalismus halten, bis zu Interpretationen, deren Eingriffe in
den mathematischen Apparat durchaus gravierend sind.
Geht man systematisch vor, so sollte man mit einer Interpretation begin-
nen, auf die sich noch alle einigen könnten: mit einer instrumentalistischen

C. Friebe ()
Philosophisches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland
e-mail: cgf88@hotmail.com
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 41
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_2
42 C. Friebe

Minimalinterpretation. Ihr zufolge repräsentieren hermitesche Operatoren makro-


skopische Messvorrichtungen, deren Eigenwerte die zu erzielenden Messwerte
(Zeigerstellungen) und Skalarprodukte die Messwahrscheinlichkeiten. So formu-
liert, bleibt sie in ihrem Realitätsbezug beim Makroskopischen stehen und enthält
sich jeglicher ontologischen Aussage über das quantenphysikalische System selbst.
Einen Schritt darüber hinaus geht die Ensemble-Interpretation: Danach beziehen
sich die mathematischen Symbole zwar auf Mikroskopisches, aber bloß auf ei-
ne große Anzahl solcher Systeme. Die Quantenmechanik ist ihr zufolge eine Art
statistische Theorie, deren Gesetz das der großen Zahl ist. Bezüglich des einzelnen
Systems bleibt diese Deutung agnostisch. Nicht so ‚Kopenhagen‘: Mit den Physi-
kern Niels Bohr und Werner Heisenberg begann der Formalismus erstmals über
das individuelle Quantensystem zu sprechen. Damit aber war ein großes Problem
aufgeworfen, weil sich nun die Frage stellte, was denn mit einem solchen Sys-
tem bei einer Messung geschehe. Während Bohr diesbezüglich noch zurückhaltend
blieb, sich auf Details des Messvorgangs lieber nicht einließ, betonte Heisenberg
die Einbettung des Messgerätes in eine Umgebung, zu welcher der messende Be-
obachter wesentlich hinzugehöre. An dieser Stelle kommt der berühmte Kollaps der
Wellenfunktion ins Spiel, der aber gemäß Kopenhagener Deutung entweder bloß
methodologisch oder explizit epistemisch, jedenfalls nicht ontologisch zu verste-
hen ist. Letztlich bleibt die Kopenhagener Deutung also an entscheidender Stelle
agnostisch oder gar anti-realistisch. Inzwischen werden daher, insbesondere in der
Quantenphilosophie, einige realistische Kollaps-Deutungen sehr ernst genommen,
so beispielsweise die 1986 von den Physikern GianCarlo Ghirardi, Alberto Rimini
und Tullio Weber entwickelte. Diese GRW-Theorie ist auch eine erste hier vorge-
stellte Interpretation, die in den mathematischen Apparat eingreift, indem sie die
lineare Schrödinger-Gleichung durch eine nicht-lineare zeitliche Dynamik ersetzt.1
Schritt für Schritt werden wir also ‚realistischer‘, nämlich in dem Sinne, dass
immer mehr mathematischen Symbolen und Operationen reale Vorgänge in der
Welt zugeordnet werden. Die philosophische Interpretation geht meistens noch
weiter, indem sie etwa fragt, ob angesichts des sogenannten Individualitätsverlusts
gleichartiger Quantensysteme der philosophische Substanzbegriff obsolet wird, ob
quantenphysikalische Systeme überhaupt persistieren, also eine zeitüberdauernde
Identität haben, und wie denn das Verhältnis eines Ganzen zu seinen Teilen im
Lichte von „Zustandsverschränkungen“ zu bestimmen ist. Aber diese Probleme sind
den weiteren Kapiteln vorbehalten.

2.1 Minimalinterpretation

Werfen wir zunächst einen Blick zurück auf die klassische Mechanik: Wir ha-
ben N Teilchen mit je 3 scharf bestimmbaren und vorliegenden Komponenten

1 Für Überblicke zur Interpretationslage vgl. Stöckler (2007) und Esfeld (2012).
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 43

von Ort und Impuls. Hierzu liefert die klassische Mechanik den „Zustandsraum“,
nämlich eben den Phasenraum der Dimension 6N; eine Punktmenge, deren Ele-
mente (q, p) direkt als die Orte und Impulse der Teilchen gedeutet werden können.
Zwischen den Teilchen wirken irgendwelche Kräfte, die Beschleunigungen erzeu-
gen, und sie haben Eigenschaften wie beispielsweise eine bestimmte kinetische
Energie oder einen bestimmten Drehimpuls. All dies hat ein naheliegendes mathe-
matisches Korrelat: Funktionen, die den Punkten des Phasenraums – also den Orten
und Impulsen – reelle Zahlen zuordnen, entsprechen den Messgrößen, und den
Funktionswerten – den zugeordneten reellen Zahlen – entsprechen die jeweiligen
Messwerte, die sogleich als Eigenschaften des physikalischen Systems aufgefasst
werden. So gibt etwa für ein einzelnes freies Teilchen die Funktion f (  ) = 2m
q, p 1
|
p|2
dessen kinetische Energie an. Im Allgemeinen gelten zwischen den Funktionen be-
stimmte Beziehungen, so insbesondere die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen,
die der bekannten Newtonschen Bewegungsgleichung F  = ma äquivalent sind.
Wie eingangs ausgeführt, behandelt die Philosophie historisch wie systematisch
selbstverständlich auch klassische Objekte; Probleme der Persistenz, der Kausali-
tät, etc. sind nicht erst solche bezüglich quantenphysikalischer Systeme. Dasjenige
Interpretationsproblem aber, den mathematischen Symbolen überhaupt erst einmal
Realitätsbezug zu verleihen, ist klassisch ganz leicht zu lösen, so dass darüber keine
philosophischen Diskussionen entstanden sind.
Ganz anders in der Quantenmechanik: Ihr Zustandsraum, der Hilbertraum, ist
erheblich abstrakter als der Phasenraum; seinen Vektoren und Operatoren entspre-
chen nicht so einfach Elementen der physikalischen Realität. Zwar könnte man
meinen, dass etwa der Vektor |upx auf ein physikalisches System (Teilchen) ver-
weise, das die Eigenschaft Spin-up in x-Richtung hat. Doch wie wir wissen, lässt
sich jeder solche Vektor auf unendlich viele Weisen als Linearkombination ande-
rer Vektoren darstellen – was aber spiegelt eine solche Darstellung wider? Hat das
Teilchen etwa nicht nur die Eigenschaft Spin-up in x-Richtung, sondern darüber
hinaus irgendwie geartete Überlagerungen zahlreicher anderer Spinwerte? Sollen
wir solche Superpositionen tatsächlich realistisch deuten? Nicht jede mathematische
Operation in diesem Vektorraum hat automatisch auch ein reales Korrelat! Ferner
sollte konsequenterweise ein Teilchen mit der Eigenschaft Spin-up in y-Richtung
durch den Vektor |upy dargestellt werden, und eine Messung des Spins in y-
Richtung – welche ja den Spinwert in x-Richtung zerstört – sollte den Wechsel der
Spinwerte bewirken. Was aber entspricht mathematisch diesem Übergang? Brau-
chen wir etwa einen Operator, der in 50 % der Fälle |upx auf |upy abbildet (und in
den anderen 50 % auf |downy ; Spin-down in y-Richtung)? Einen solchen Operator
gibt es offenbar nicht. Nicht jeder Vorgang in der Wirklichkeit scheint mathematisch
repräsentiert zu sein!
Im einführenden Kapitel ist aber deutlich geworden, worauf sich offenbar al-
le einigen können: Die reellen Eigenwerte hermitescher Operatoren stellen wohl
unstrittigerweise die Messwerte dar, wobei unter „Messwerten“ hier zunächst nur
so etwas wie Zeigerstellungen makroskopischer Messgeräte gemeint sein sollen
und nicht sogleich Eigenschaften quantenmechanischer Mikrosysteme, was bereits
wieder umstritten wäre. Die Operatoren, deren Eigenwerte Messwerte darstellen,
44 C. Friebe

sind entsprechend das mathematische Korrelat der Messgrößen, wobei unter „Mess-
größen“ ebenfalls zunächst bloß makroskopische Messvorrichtungen wie etwa
Stern-Gerlach-Apparaturen verstanden werden sollen und nicht sogleich Eigen-
schaftsarten mikroskopischer Systeme wie etwa deren Spin in bestimmter Raum-
richtung. Mit dieser Deutung ist eine erhebliche Einschränkung verbunden: Im
Hilbertraum gibt es nämlich viel mehr Operatoren als solche, die Messgrößen ent-
sprechen können. Es gibt nicht-selbstadjungierte Operatoren, deren Eigenwerte,
wenn sie überhaupt welche haben, nicht alle reell sind, also keine Messwerte dar-
stellen können. Und es gibt sogar nicht-lineare Operatoren, denen physikalisch
erst recht nichts entspricht. Solche mathematische Objekte kommen im Hilbert-
raum zwar vor, repräsentieren physikalisch aber nichts – nach Meinung wohl
aller PhysikerInnen. Vor diesem Hintergrund ist es bereits eine starke These, dass
nun aber alle hermiteschen Operatoren irgendwelche Messvorrichtungen darstellen;
selbst dann, wenn man konkret gar nicht weiß, wie ein theoretisch vorgegebe-
ner Operator in der Praxis zu realisieren wäre.2 Nehmen wir nun aber einmal
an, ein bestimmter hermitescher Operator repräsentiere eine realisierbare Mess-
vorrichtung, so zeigen alle seine Eigenwerte physikalisch-mögliche Messwerte
(Zeigerstellungen) an.
Eine weitere Einschränkung ergibt sich sogleich im Anschluss: Der Eigenwert-
Gleichung Ô| = λ| entspricht ebenfalls kein physikalischer Vorgang; sie
dient lediglich der Berechnung der Eigenwerte und der Eigenvektoren. Dies ist
bemerkenswert, da man ja denken könnte, sie repräsentiere mathematisch den
Messvorgang, bei dem sich einer dieser Eigenwerte als Messwert einstellt. Das
kann aber nicht sein: Wenn Operatoren auf Vektoren im Hilbertraum ‚angewendet‘
werden – wie eben z. B. in der Eigenwert-Gleichung –, so bedeutet das in aller Regel
(nämlich vielleicht mit Ausnahme der Anwendung des unitären Zeitentwicklungs-
Operators; vgl. Abschn. 1.2.4) nicht, dass damit irgendein realer physikalischer
Vorgang beschrieben würde. Betrachten wir beispielsweise die folgende Operation:
  
0 –i 1 0
=i (2.1)
i 0 0 1

Sie ist in der Eigenvektor-Basis von Ŝy die Darstellung von Ŝx |upy = i|downy .
Der Operator der Messgröße des Spins in x-Richtung wird also angewendet auf den
Eigenvektor zum Eigenwert Spin-up in y-Richtung und bildet diesen auf den Eigen-
vektor zum gegensätzlichen Eigenwert Spin-down in y-Richtung ab. Sollte dies
etwa bedeuten, dass die Stern-Gerlach-Apparatur in x-Richtung bei einem quan-
tenphysikalischen System den Spinflip von Spin-up (in y-Richtung) zu Spin-down
(in y-Richtung) bewirkt? Doch wohl nicht: Sie bewirkt vielmehr, dass das System
entweder Spin-up oder Spin-down in x-Richtung zeigt!
Hermitesche Operatoren entsprechen daher lediglich Messgrößen oder Mess-
vorrichtungen, ihr Operieren im Hilbertraum stellt aber keinen Messvorgang in der

2 In der Tat gilt dies ja bei Mehrteilchen-Systemen nur mit Einschränkung.


2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 45

Welt dar. Zusätzlich zu deren Eigenwerten gibt es gemäß der instrumentalistischen


Minimalinterpretation tatsächlich nur noch eine weitere mathematische Operation
mit Realitätsbezug: das Skalarprodukt, mittels dessen die Messwahrscheinlichkeit
berechnet werden kann. Nehmen wir dazu an, das quantenphysikalische System sei
mit dem Vektor | korreliert, und die Messgröße Ô mit den Eigenvektoren |i 
solle gemessen werden. Dann definiert man, mit3 | = i ci |i :
Bornsche Regel: Im Zustand | ist die Wahrscheinlichkeit, bei einer Messung
von Ô den Messwert λi zu erhalten, gegeben durch

| = |i || = |ci |


ProbÔ 2 2
(2.2)

Dies ist die Verallgemeinerung einer Interpretation, die der Physiker Max Born der
Wellenfunktion, d. h. dem Vektor | in Ortsdarstellung, gegeben hat. Dort sah
man noch, dass es sich hierbei tatsächlich um eine Festlegung handelt und nicht
um etwas, das man dem Formalismus einfach ansehen könnte. Denn die Funk-
tion (x, t) war ursprünglich – beispielsweise von Erwin Schrödinger selbst – als
delokalisierte Masse- oder Ladungsdichte verstanden worden, was sich aber et-
wa für Mehrteilchen-Systeme als problematisch erwies, da die Funktion eigentlich
kein Feld im dreidimensionalen Anschauungsraum beschreibt, sondern eines im
abstrakten, allgemein höherdimensionalen Konfigurationsraum.4 Durchgesetzt hat
sich dann (vorerst) Borns Deutung der Funktion als Wahrscheinlichkeitsdichte mit
|(x, t)|2 als der Wahrscheinlichkeit, bei einer Ortsmessung zur Zeit t das Teil-
chen am Ort x zu messen. Verallgemeinert kann man nun sagen, dass wenn das
quantenphysikalische System zur Zeit t durch den Vektor | dargestellt wird, ei-
ne zeitlich-unmittelbar anschließende Messung von Ô mit der Wahrscheinlichkeit
|ci |2 den Messwert λi ergibt. In dem speziellen Fall, dass das System schon vor
der Messung durch den entsprechenden Eigenvektor |i  repräsentiert ist, wird λi
mit Sicherheit gemessen, und für jeden anderen Eigenvektor von Ô ist die Mess-
wahrscheinlichkeit für dieses λi null – wie zu erwarten. Ist das System hingegen
durch eine Superposition der Eigenvektoren von Ô beschrieben, so ist die Wahr-
scheinlichkeit für jeden Eigenwert von Ô weder 0 noch 1, sondern ein präziser Wert
dazwischen, so dass die Messwerte streuen. Soweit gibt die Bornsche Regel also
Wesentliches des allgemeinen Verständnisses des mathematischen Formalismus der
Quantenmechanik wieder.
Die angegebene Gleichung gestattet aber wohlgemerkt – wie analog zuvor
die Eigenwert-Gleichung – zunächst lediglich die Berechnung der Messwahr-
scheinlichkeit. Sie spiegelt daher keineswegs den realen Vorgang wider, dass das
physikalische System von dem einen (Ausgangs-)Zustand | auf den anderen
(End-)Zustand |i  projiziert würde. Im Gegensatz zur Eigenwert-Gleichung, die

3 Wie in Abschn. 1.2.4 bereits gesagt, ist die Messwahrscheinlichkeit identisch mit dem Er-

wartungswert des entsprechenden Projektionsoperators. Man sah dort ebenfalls, wie dies auf
gemischte Zustände zu verallgemeinern ist.
4 Zur Diskussion vgl. die historischen Artikel, gesammelt in Baumann und Sexl (1984).
46 C. Friebe

in keiner Interpretation einen realen Vorgang wiedergibt, ist man an dieser Stelle
jedoch immer wieder in der Versuchung, die geometrische Projektion des einen Vek-
tors auf den anderen als Kollaps des quantenphysikalischen Systems zu deuten. Man
will – über die Bornsche Regel hinaus – auch noch sagen, dass wenn umgekehrt ein
bestimmter Eigenwert eines bestimmten Operators tatsächlich5 gemessen wurde,
das System zeitlich-anschließend mit dem entsprechenden Eigenvektor korreliert
ist. Die hier vorgestellte Minimalinterpretation ist aber diesbezüglich agnostisch;
für sie haben die Vektoren des Hilbertraums lediglich operationalistische Bedeu-
tung als Rechengrößen. Um die Bornsche Regel anwenden zu können, muss man
ja den adäquaten Vektor, wie er zeitlich-unmittelbar vor der Messung ‚vorliegen‘
soll, kennen, und so rechnet man, der Einfachheit halber, nach einer vorhergehen-
den Messung mit dem ‚zugehörigen‘ Eigenvektor weiter, der sich zwischen den
i
Messungen gemäß der unitären Zeitentwicklung |t = e–  tĤ |0 verhält.
Doch dies sind bloß Rechenvorgänge, die nicht so verstanden werden müssen,
als beschrieben sie reale Prozesse. Real sind (vielleicht: lediglich) makroskopische
Messvorrichtungen und Messwerte sowie Messwahrscheinlichkeiten: eine Auffas-
sung, die der überragenden Mehrheit allzu minimalistisch vorkommt. Insbesondere
sagt eine solche Minimalinterpretation noch gar nichts darüber, welchen Status denn
die Messwahrscheinlichkeiten eigentlich haben: Ist damit lediglich ein subjekti-
ves Unwissen ausgedrückt? Oder sind damit objektive Tatsachen gemeint, relative
Häufigkeiten etwa oder objektive Tendenzen als dispositionale Eigenschaften des
quantenphysikalischen Systems selbst? Sich hierzu festzulegen, heißt, über diese
Minimalinterpretation hinauszugehen.

2.2 Ensemble-Interpretation und Kopenhagener Deutung

Die erste Stufe der Interpretation des mathematischen Formalismus stellt die Ver-
bindung mit der Erfahrung soweit her, wie sie im Alltag der Physik im Labor oder
am Teilchenbeschleuniger benötigt wird. Die Bornsche Regel gestattet dabei die
präzise Vorhersage, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei realen, makroskopischen
Messungen bestimmte Messausgänge zu erwarten sind. Dass sich die Minimalinter-
pretation ausschließlich über makroskopische, der Erfahrung direkt zugängliche
Entitäten wie Messvorrichtungen, sogenannte Teilchenspuren in Nebelkammern,
geschwärzte Photoplatten etc. äußert, mag völlig genügen, wenn man als Aufgabe
einer empirischen Theorie wie der Physik lediglich verlangt, dass sie zu empi-
risch überprüfbaren Vorhersagen in der Lage ist. Der Naturphilosophie reicht dies
alleine nicht, und auch die meisten PhysikerInnen möchten sich darüber hinaus
eine Vorstellung davon machen, was hinter diesen Messausgängen steckt, wie al-
so die Mikrowelt beschaffen ist, die solche Wirkungen erzeugt. Im Gegensatz zur

5 Also wiederholbar und irreversibel?


2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 47

instrumentalistischen Minimalinterpretation ist jede zusätzliche Annahme, die zu


einer weitergehenden Interpretation führt, jedoch umstritten.
Das Hauptproblem erkennt man, wenn man noch einmal genauer die Bornsche
Regel betrachtet (vgl. hierzu Held 2012):

|i ||2 ist die Wahrscheinlichkeit, bei einer Messung von Ô den Messwert λi zu
erhalten, gegeben, das System ist mit dem Vektor | korreliert.

Es stellt sich dann die Frage, ob der Bezug auf eine Messung an dieser Stelle
wirklich wesentlich ist oder nicht. Falls nicht, lautet die Bornsche Regel einfach:

|i ||2 ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ô den Wert λi hat, gegeben, das System
ist mit | korreliert.

Diese Formulierung legt nahe, dass das mikroskopische Quantensystem eine dem
Eigenwert λi korrespondierende Eigenschaft hat – und zwar unabhängig davon, ob
gemessen wird, und insbesondere unabhängig von einem menschlichen Beobachter.
Entsprechend drückt der Wahrscheinlichkeitsbegriff ein subjektives Unwissen aus,
und folglich ist die Quantenmechanik in ihrer bislang dargelegten Gestalt unvoll-
ständig. Denn nur in dem Falle, bei dem das System bereits mit einem Eigenvektor
von Ô korreliert ist, können wir mit Sicherheit sagen, welche Eigenschaft das Quan-
tensystem tatsächlich hat. Nur dann nämlich ist der Erwartungswert des gegebenen
Operators streuungsfrei und i |Ô|i  = λi . In allen anderen Fällen bleibt das
Epistemische unvermeidlich hinter dem Ontologischen zurück.
Betrachten wir dazu erneut unser Beispiel in Abb. 1.11, also die Winkelhalbie-
rende(n) eines zweidimensionalen Koordinatensystems, das durch die Eigenvekto-
ren des Operators Ŝx erzeugt werde. Sie selbst seien dann Eigenvektoren des mit
Ŝx nicht kommutierenden Operators Ŝy , also der Messvorrichtung bzw. des Spins in
y-Richtung. Nehmen wir nun an, das System sei mit einem dieser Eigenvektoren
von Ŝy korreliert – woher auch immer wir das wissen –, so folgt, dass sein Zustand
bezüglich der Eigenvektoren und Eigenwerte von Ŝx superponiert. Das Skalarpro-
dukt (bzw. dessen Betragsquadrat) von einem Eigenvektor |up/downy mit einem
Eigenvektor |up/downx ist jeweils 12 , so dass nach der Bornschen Regel die Wahr-
scheinlichkeit dafür, dass das System die Eigenschaft hat, die einem Eigenwert von
Ŝx entspricht – also Spin-up oder Spin-down in x-Richtung –, jeweils 50 % beträgt.
Da nun im Hilbertraum kein Eigenvektor von Ŝy mit einem Eigenvektor von Ŝx zu-
sammenfällt, ist im Rahmen dieses Formalismus kein solcher Vektor denkbar, der
mit dem System so korreliert wäre, dass wir die Messwerte beider Messgrößen mit
Sicherheit vorhersagen könnten. Mit anderen Worten: Das mikroskopische Quan-
tensystem hätte unter der Annahme, dass in der Bornschen Regel der Ausdruck
„Messung“ nichts Wesentliches hinzufügt, mehr Eigenschaften, als mit den Mitteln
des mathematischen Formalismus mit Sicherheit prognostiziert werden könnten.
Ontologisch – in dem Sinne, dass reale Eigenschaften in der Welt vorliegen – lä-
ge mehr vor, als epistemisch mit Hilfe der Vektoren im Hilbertraum bestimmbar
ist. Die Quantenmechanik wäre unvollständig. Dies ist das Motiv einiger Physiker-
48 C. Friebe

und PhilosophInnen, im Geiste von David Bohm die Standard-Quantenmechanik


abzuändern, so dass sogenannte verborgene Parameter unterstellt werden können.
Die Quantenphysik wäre dann eine Art statistische Mechanik mit bloß epistemi-
schen Wahrscheinlichkeiten über einer ontologisch durchgängig bestimmten und
deterministischen Welt (vgl. zur Bohmschen Mechanik hier Abschn. 5.1).6
Kommt es dagegen in der Bornschen Regel wesentlich auf den Zusatz bei ei-
ner Messung an, so kann dies anscheinend nur heißen, dass das mikroskopische
Quantensystem in der Regel keineswegs schon zeitlich-vor der Messung von Ô die
entsprechende Eigenschaft λi hätte, sondern dass es sie erst während der Messung
bekommt. Im Allgemeinen wird daher das Quantensystem bei der Wechselwir-
kung mit dem Messgerät verändert und dies darüber hinaus in probabilistischer
Weise: Ein Teilchen, das etwa Spin-up in y-Richtung zeigt, also(?) mit |upy be-
schrieben wird, nimmt durch die Wechselwirkung mit Ŝx entweder die Eigenschaft
Spin-up in x-Richtung an oder aber Spin-down – jeweils mit 50 % Wahrscheinlich-
keit. Das Problem ist dann, dass wir eine solche Wechselwirkung in der Physik
eigentlich gar nicht kennen: Elektromagnetische, gravitative und Kernkräfte wir-
ken deterministisch. Ferner gehen solche Wechselwirkungen, wie sie etwa durch
Magnetfelder zustande kommen, ja in die kontinuierliche und deterministische
Schrödinger-Gleichung ein;7 sie werden also längst durch die Zeitentwicklung wie-
dergegeben, der ein Vektor im Hilbertraum unterliegt, wenn auf ihn der unitäre
Zeitentwicklungs-Operator angewendet wird. Auf diese Weise kann der diskontinu-
ierliche und indeterministische Übergang von einem Eigenwert (und Eigenvektor?)
von Ŝy auf einen Eigenwert (und Eigenvektor?) von Ŝx aber nicht dargestellt werden,
da lineare Operatoren Superpositionen im Sinne von Gl. 1.2 erhalten. Von dieser
kontinuierlichen und deterministischen Zeitentwicklung und also von allen sol-
chen Wechselwirkungen, die dort eingehen, müsste sich der Messvorgang daher
unterscheiden. Die Frage ist bloß, wie?
Gibt es physikalische Kriterien, eine Messung von einer beliebigen ande-
ren Wechselwirkung zu unterscheiden? Wir haben schon gesehen, dass etwa
„Wiederholbarkeit“ und „ Irreversibilität“ als Kandidaten für solche Kriterien
hochproblematisch sind: Letzteres setzt einen eigentlich erst zu erklärenden Unter-
schied zwischen Mikro- und Makrowelt als grundlegend voraus, da Irreversibilität
im Quantenbereich nicht vorkommen kann (die Schrödinger-Gleichung ist zeit-
reversibel), und Ersteres erwies sich als vage: Was darf zwischen zwei Messungen
derselben Art passieren und was nicht, so dass die beiden Messungen als unmittel-
bar aufeinanderfolgend gelten können und somit die zweite als Wiederholung der
ersten? Betrachtet man über das bereits Gesagte hinaus den Sonderfall der Orts-
messung, so muss man gar sagen, dass Ortsmessungen keine Messungen wären,
müssten sie wiederholbar sein. Denn, wie ausgeführt, kommutiert nach Heisen-
bergs Unschärferelation der Ortsoperator insbesondere nicht mit dem des Impulses,

6 Man beachte aber, dass in der Bohmschen Mechanik nur die Teilchenorte als zusätzliche Eigen-
schaften eingeführt werden und nicht etwa lokale Spin-Werte der Teilchen, wie man hier noch
denken könnte.
7 nämlich in das Potenzial V(x) in Ĥ = –( 2 ) ∂ 2 + V(x)
2m ∂x2
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 49

woraus eben nicht nur folgt, dass Teilchen wie Elektronen sich nicht längs Bahnen
bewegen, wie klassisch anzunehmen wäre, sondern insbesondere noch, dass nach ei-
ner präzisen Ortsmessung – aufgrund der dann extrem streuenden Impulswerte – die
korrelierte Wellenfunktion (d. h. der entsprechende Eigenvektor in Ortsdarstellung)
extrem schnell zerfließt: Jede unmittelbar, sogar zeitlich-unmittelbar, anschließen-
de Ortsmessung führt dann nicht mit Sicherheit zum selben (oder benachbarten)
Ortswert wie zuvor. Es gibt sogar – wenn auch sehr kleine – Wahrscheinlichkeiten
dafür, das Teilchen anschließend weit entfernt zu detektieren. Die Ortsmessung ist
also prinzipiell nicht wiederholbar.
Dann aber gibt es anscheinend kein Kriterium dafür, was physikalisch eine Mes-
sung auszeichnet. Der Quantenmechanik-Begriff der Messung verlangt offenbar
einen eigentümlichen Bezug auf ein (nicht-physikalisches) beobachtendes Subjekt
(vgl. Held 2012, S. 77). Nur ein solches Subjekt, das Zeigerstellungen und der-
gleichen auch registriert, ermöglicht anscheinend, den Messvorgang von anderen
Wechselwirkungen zuverlässig zu unterscheiden. Die objektivierende Physik käme
somit an eine für sie unüberwindliche Grenze, was viele als äußerst unbefriedigend
ansehen. Wie dem auch sei: Im Hilbertraum jedenfalls kommt ein solcher Messvor-
gang nicht vor, so dass jede Interpretation, die den Bezug auf eine Messung in der
Bornschen Regel für wesentlich ansieht, eine zusätzliche und erstmals indeterminis-
tische Dynamik annehmen muss, die durch die Standard-Quantenmechanik letztlich
nicht beschrieben wird.

2.2.1 Ensemble-Interpretation

Noch harmlos scheint all dies zu sein, wenn man die realistische Interpretation
nicht auf das individuelle System, sondern auf hinreichend viele solcher Sys-
teme bezieht, wie gemäß der Ensemble-Interpretation.8 Auch auf diese Deutung
könnten sich die meisten PhysikerInnen noch einigen. Sie geht über die Mini-
malinterpretation insbesondere in der Hinsicht hinaus, dass auch sie – ebenso
wie die angesprochene Bohmsche Variante – dem Begriff der Wahrscheinlichkeit,
wie er in der Bornschen Regel auftritt, eine bestimmte Deutung gibt. Während
aber nach Bohm die Standard-Quantenmechanik unvollständig ist, in der Welt
also mehr Eigenschaften quantenphysikalischer Systeme vorliegen, als mit den
Mitteln des üblichen Hilbertraum-Formalismus’ determiniert werden können, und
also die unvermeidlichen Wahrscheinlichkeitsaussagen epistemischer Natur sind,
erhalten in der Ensemble-Interpretation die Wahrscheinlichkeiten eine ontologische
Bedeutung. Sie sind nun relative Häufigkeiten.9

8 Laut Ensemble-Interpretation beschreibt der Zustandsvektor | eine große Anzahl gleich-
artig präparierter Systeme. Davon unabhängig und zu unterscheiden ist, ob | Ein- oder
Mehrteilchen-Systeme beschreibt. Die am besten ausgearbeitete Ensemble-Interpretation findet
sich in Ballentine (1998, Kap. 9).
9 Vorsicht: Dieser Gegensatz zu Bohm besteht natürlich nur dann, wenn man die Quantenmechanik

für vollständig hält und sie zugleich nicht auf einzelne Systeme anwenden will. In gewissem Sinn
50 C. Friebe

Blicken wir zurück auf die einleitend diskutierten Spin-Experimente und wäh-
len wir etwa die Variante Ŝx Ŝy Ŝx , also zunächst eine ursprüngliche Spinmessung
in x-Richtung, daran anschließend eine in y-Richtung und schließlich erneut eine
Spinmessung in x-Richtung: Je 50 % aller Teilchen (Elektronen bzw. Silberatome),
die nach dem ersten Ŝx Spin-up (bzw. Spin-down) in x-Richtung zeigen, soll-
ten bei einer anschließenden Ŝy -Messung Spin-up und Spin-down in y-Richtung
zeigen. Schließlich zeigen sie bei erneuter Ŝx -Messung jeweils zur Hälfte Spin-up
und Spin-down in x-Richtung, so dass das Ergebnis des ersten Ŝx zunichte ge-
macht wird. Solange wir uns auf eine große Anzahl von Teilchen beziehen, sollte
dies relativ unproblematisch sein: Von vielleicht 1 Million Elektronen, die bei
dem ursprünglichen Ŝx Spin-up (bzw. Spin-down) zeigen, zeigen etwa die Häl-
fte, also ca. 500.000, beim anschließenden Ŝy Spin-up in y-Richtung usw. Die
Anzahl positiver Resultate dividiert durch die Anzahl aller Teilchen ergibt etwa
1
2 ; das ist die relative Häufigkeit von 50 %, welche die objektive Größe in der
Welt sein soll, die durch den Wahrscheinlichkeitsbegriff in der Bornschen Regel
repräsentiert wird.
Tatsächlich ist diese Deutung aber nur relativ unproblematisch; wie man sieht,
gilt dies nämlich alles nur ungefähr: Es werden nur etwa die Hälfte aller Teil-
chen das gewünschte Resultat zeigen und nicht etwa exakt die Hälfte. Zwar könnte
man meinen, dass sich eine solche mögliche Ungenauigkeit dem Gesetz der großen
Zahl zufolge kontrollieren lasse. Bei einer immer höheren Zahl von Teilchen wer-
de sich der Anteil positiver Resultate immer mehr dem Wert von 50 % annähern,
so dass man in sehr guter Näherung den durch die Quantenmechanik vorhergesag-
ten exakten Wert erhalte. Doch strenggenommen gilt auch dies nur mit sehr hoher
Wahrscheinlichkeit, also niemals mit Sicherheit. Es ist nicht ausgeschlossen, dass
bei einem tatsächlichen Experiment sich ‚zufälligerweise‘ deutlich abweichende
Werte zeigen, im Extremfall kann es vorkommen, dass die ersten 1 Million Teil-
chen alle Spin-up in y-Richtung zeigen. Man wird dann noch etwas länger warten
müssen, bis sich tatsächlich das berechnete Verhältnis einstellt. Worauf es ankommt:
Bei der Deutung von Wahrscheinlichkeiten als objektiv im Sinne von relativen Häu-
figkeiten wird man offenbar den Bezug auf Wahrscheinlichkeiten nicht los – was
man aber sollte, da der Intention nach Wahrscheinlichkeiten hier nichts anderes
sind als eben relative Häufigkeiten. Sie tauchen aber auf einer nächsthöheren Ebe-
ne in Gestalt jenes „hochwahrscheinlich“ immer wieder auf und können sonach
nicht auf bloß tatsächliche Verhältnisse reduziert werden, wie aber erwünscht. In der
Philosophie werden noch weitere Einwände dieser Art gegen die Deutung von ob-
jektiven Wahrscheinlichkeiten als relative Häufigkeiten sehr ernst genommen (vgl.
etwa Rosenthal 2003), so dass wir sagen müssen, dass die Ensemble-Interpretation,
philosophisch gesehen, durchaus unbefriedigend ist.
Aber auch in der Physik empfinden viele diese Deutung als unbefriedigend:
Zunächst stellt man fest, dass man mit dieser Interpretation weder den

ist jede Bohmsche Theorie in ihrem statistischen Teil eine Ensemble-Deutung; diese ist aber nicht
gemeint, wenn hier von „ Ensemble-Interpretation“ gesprochen wird.
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 51

Messvorgang beschreibt, noch erklärt, wieso es eigentlich zu gerade diesen


beobachtbaren relativen Häufigkeiten kommt. Das mag akzeptabel sein, so-
lange die Ensemble-Interpretation als vorläufig betrachtet wird. Demnach
wäre die Quantenmechanik keine Fundamentaltheorie, sondern analog zur
phänomenologischen Thermodynamik, und die Schrödinger-Gleichung also analog
zur idealen Gasgleichung, die nicht für das einzelne Molekül gilt; auf die eigent-
lich fundamentale Theorie, aus welcher die relativen Häufigkeiten erklärt werden
könnten, müsste man demzufolge noch warten. Inakzeptabel droht es hingegen zu
werden, wenn die Ensemble-Interpretation eine Interpretation der Quantenmecha-
nik als fundamentaler Theorie sein soll. Dann muss man es als einen großen Mangel
empfinden, wenn eine solche physikalische Theorie lediglich über eine große An-
zahl gleichartiger Systeme spricht und sich in Bezug auf ein einzelnes System
ganz und gar agnostisch gibt. Entsprechend wäre es nämlich ganz und gar sinn-
los, auch nur die Frage zu stellen, welche Eigenschaft – ob nun Spin-up oder
Spin-down in x- oder in y-Richtung – denn nun ein einzelnes, herausgegriffenes
Elektron (bzw. Silberatom) habe. Die Quantenmechanik stünde, so verstanden,
epistemisch deutlich schlechter da als die übrige Physik, die doch sehr wohl auch
über einzelne Systeme spricht. Zudem müsste dies ja auch dann gelten, wenn et-
wa in einer „Wiederholungsmessung“ – also etwa nach Ŝx Ŝx – mit Sicherheit alle
Teilchen, die zuvor Spin-up in x-Richtung hatten, erneut Spin-up in x-Richtung
zeigen. Man sollte denken, dass man wenigstens in diesem Falle sagen möchte,
dass auch jedes einzelne Teilchen die Eigenschaft Spin-up in x-Richtung habe –
und nicht nur das Ensemble zu 100 %. Ließe sich die Ensemble-Interpretation aber
darauf ein, könnte sie nicht mehr so leicht die Frage als sinnlos zurückweisen, was
denn mit diesem einzelnen Teilchen, das jetzt Spin-up in x-Richtung zeigt, bei ei-
nem anschließenden Durchgang durch eine Stern-Gerlach-Apparatur in y-Richtung
passiere. Konsequenz: Die Ensemble-Interpretation einer vollständigen und funda-
mentalen Quantenmechanik bezieht sich tatsächlich strikt nur auf eine große Anzahl
von Mikrosystemen. Sie vertritt ontologisch geradezu die Position, dass es in der
Welt nur Ensembles gibt und keine einzelnen Systeme, aus denen solche Ensembles
bestehen würden. Und dies ist letztlich keine überzeugende Position.

2.2.2 Kopenhagener Deutung(en)

Gehen wir also über zu einer ersten Deutung, welche das einzelne mikroskopische
Quantensystem in den Blick nimmt und dabei auf Vollständigkeit des Hilbertraum-
Formalismus und also auf dem objektiven Charakter der Wahrscheinlichkeiten in
der Bornschen Regel besteht: zur Kopenhagener Deutung. Diese Deutung geht auf
die Pionierarbeiten der Quantenphysiker Niels Bohr und Werner Heisenberg zurück
und galt lange Zeit als die Standard-Auffassung der PhysikerInnen. Es ist aber nicht
ganz klar, was diese Interpretation genau besagt, so dass unsere Darstellung selbst
schon wieder Interpretation ist.
In der Literatur wird bestritten, dass es sich bei ‚Kopenhagen‘ um einen ein-
heitlichen Standpunkt handelt. Insbesondere wird ein Gegensatz zwischen Bohr
52 C. Friebe

und Heisenberg selbst betont, der darin bestehen soll,10 dass erst Heisenberg,
nicht aber bereits Bohr, eine ‚zweite Dynamik‘ der Messung annahm, welche
den berüchtigten, beobachter-induzierten ‚Kollaps der Wellenfunktion‘ beinhaltet.
Demgegenüber ließ Bohr sich auf Details des Messvorgangs überhaupt nicht ein,
zog die Grenze des Erklärbaren also enger als Heisenberg. Bohr vertrat demzu-
folge eine Art nicht-instrumentalistische Minimalinterpretation, also eine Deutung,
wonach Vektoren und Operatoren sehr wohl reale Eigenschaften einzelner quanten-
mechanischer Systeme zugeordnet werden, aber offen bleibt, wie es zu definiten
Werten kommt. Mit bewusstem Bezug zur von Neumannschen Messtheorie11 eta-
blierte Heisenberg in einem (späteren) Aufsatz von 1959 mit dem namensgebenden
Titel „Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie“ die Auffassung, wonach
kein isolierter Vorgang eine Messung sein kann, sondern nur ein solcher, der in ei-
ne Umgebung eingebettet ist, zu der wesentlich ein Beobachter hinzugehört.12 Es
ist diese Variante, die im weiteren Verlauf – zum didaktischen Zwecke der Ab-
grenzung zu realistischen Kollaps-Deutungen – als die eigentliche Kopenhagener
Deutung behandelt wird.
Zentral für Bohr erscheinen die folgenden drei Thesen:

1. Es gibt eine unaufhebbare Verknüpfung zwischen Mikrosystem und Messgerät.


2. Alle Experimente müssen in der Sprache der klassischen Physik beschrieben
werden.
3. „Komplementarität“ zwischen raumzeitlicher und kausaler Beschreibung bzw.
zwischen Beschreibungen verschiedener Experimentalanordnungen von nicht-
kommutierenden Operatoren.

Im Gegensatz zur instrumentalistischen Minimalinterpretation einerseits und zur


nicht-bohmschen Ensemble-Interpretation andererseits wird damit dem individu-
ellen quantenmechanischen System Realität zugestanden. Bestritten wird jedoch
dessen unabhängige Realität, indem das makroskopische Messgerät an der Er-
zeugung der Quantenphänomene beteiligt ist. Problematisch ist dann, wie es zu
definiten Messausgängen kommen soll, warum also das verknüpfte Gesamtsystem
nicht in einer Superposition verbleibt, wie sich weiter unten noch genauer zeigen
wird. Denn die von Bohr behauptete Abhängigkeit des quantenmechanischen
Mikrosystems vom klassischen Makrosystem (Messgerät) ist ja keineswegs zu ver-
wechseln mit der vorgeblichen Notwendigkeit, klassische Phänomene auf der Basis
von Quantenphänomenen zu erklären. Wer etwa meint (vgl. Esfeld 2012, S. 89),
dass die uns umgebenden makroskopischen Systeme einen definiten Ort hätten und
aus mikroskopischen Quantensystemen zusammengesetzt seien, die in der Regel
keinen definiten Ort haben, dem stellt sich das Problem, wie eine solche klassische

10 Vgl.hierzu beispielsweise Faye (2008).


11 Vgl.zu dieser Theorie weiter unten den Abschnitt „Zum Problem des Messens“.
12 „Denn die Messanordnung verdient diesen Namen ja nur, wenn sie in enger Berührung steht mit

der übrigen Welt, wenn es eine physikalische Wechselwirkung zwischen der Messanordnung und
dem Beobachter gibt.“ (Heisenberg, 1959, S. 41)
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 53

Welt aus einer solchen Quantenwelt hervorgeht – eine scheinbar allgemein ge-
teilte Frage. Laut Bohr aber gibt es gar keine unabhängig von makroskopischen
Systemen existierenden Quantensysteme, aus denen die uns umgebenden Objekte
bestünden: Sie – die Quantensysteme – existieren und haben ihre Eigenschaften
vielmehr umgekehrt nur bezogen auf eine bestimmte Experimentalanordnung und
daher nur bezogen auf etwas Makroskopisches, das vielmehr seinerseits unabhän-
gig von den Quantensystemen schon immer wirklich sein müsste. Der Bezug auf
die Messung, der in der Bornschen Regel nach Bohr wesentlich ist, impliziert
offenbar ontologisch, dass die gemessenen Quantensysteme und ihre Eigenschaf-
ten nicht fundamental sind, sondern ontologisch vom makroskopischen Messgerät
abhängen. Das Messgerät scheint sie zu erzeugen; und nicht etwa umgekehrt die
Quantensysteme das Messgerät, das aus ihnen bestünde.
Schießen wir damit nicht über das Ziel hinaus? Im Sinne Bohrs ist das vielleicht
nicht. Doch betrachten wir hypothetisch ein einzelnes Elektron, an dem der Spin in
y-Richtung gemessen werden soll, und nehmen wir ferner an, die Bornsche Regel
ergebe wieder die Wahrscheinlichkeit von 50 %, dass sich Spin-up in y-Richtung
ergibt. Nach Bohr kann es nun nicht sein, dass dieses einzelne Elektron bereits vor
der Ŝy -Messung die betreffende Eigenschaft hätte, da dann die Information, die der
(von irgendwoher) gegebene Zustandsvektor, der in die Bornsche Regel eingeht,
unvollständig wäre. Er gestattet ja nur die Vorhersage, dass die Spin-up-Eigenschaft
mit der Wahrscheinlichkeit von 50 % vorliegt. Zugleich die Bornsche Regel auf das
einzelne Quantensystem anwenden zu wollen und den Bezug auf die Messung in
ihr für wesentlich zu halten – was beides wohl auch Bohr tut –, führt zwangsläufig
dazu, dass das einzelne Teilchen die betreffende Eigenschaft keineswegs schon hat,
sondern eben vielmehr bei oder gar durch Messung erst bekommt (vgl. Held 2012,
S. 83); und zwar auf indeterministische Weise. So weit, so gut; d. h. so weit, so
ziemlich unstrittig als Interpretation der Kopenhagener Deutung. Aber folgt daraus,
dass unabhängig von der Messung gar kein Quantensystem existiert, wie wir oben
formuliert hatten?
Dagegen kann man nämlich einwenden, dass zwar vom Messgerät abhängt,
welche Eigenschaften ein mikroskopisches Quantensystem bekommt, dass also
das einzelne Quantensystem bei bzw. durch Messung auf charakteristische Weise
verändert wird, dass aber deswegen nicht sogleich die ganze Existenz des Quan-
tensystems vom makroskopischen Messgerät abhängig ist. Und offenbar richtig
scheint doch zu sein, dass die Existenz des einzelnen Elektrons nicht von dieser
hier und jetzt durchzuführenden Ŝy -Messung abhängt, ist es doch zuvor – durch ei-
ne ursprüngliche Ŝx -Messung beispielsweise – bereits als ein solches bestimmt, das
Spin-up (bzw. Spin-down) in x-Richtung als seine Eigenschaft hat. Wie man aber
eben dadurch sieht, wird man den Bezug auf irgendeine vorhergehende Messung
nicht so leicht los, so dass plausibler wird, dass jede Variante der Kopenhagener
Deutung tatsächlich die Behauptung impliziert, dass das mikroskopische Quanten-
system ontologisch – d. h. seinem Wirklichkeitsstatus nach – von Makroskopischem
abhängt.
Was wäre die Alternative? Man könnte sich an dieser Stelle an Aristoteles
erinnern, der zwischen Sokrates’ Mensch-Sein als seiner Wesens-Eigenschaft auf
54 C. Friebe

der einen Seite und seiner Stupsnasigkeit als einer bloß akzidentellen Eigenschaft
andererseits unterschieden hatte. Dann könnte man darauf verweisen, dass auch
die Quantenmechanik zwischen Eigenschaften, die etwa einem Elektron prinzipiell
zukommen, und zeitlich-wechselnden Zustands-Eigenschaften unterscheidet. Seine
Ladung, seine Masse, und dass sein Spin nur zwei Werte annehmen kann, kommen
danach dem Elektron wesentlich zu – ohne sie existiert kein Elektron. Bestimm-
te Impulswerte, bestimmte Spinprojektionswerte oder seine kinetische Energie sind
dagegen Eigenschaften, die bloß akzidentell sind, die also zeitlich wechseln können
und in der Quantenmechanik zuweilen gar gänzlich ausbleiben. Das Elektron, defi-
niert über seine wesentlichen Eigenschaften Ladung, Masse und Spin, sei dann das
immer schon existierende Quantensystem, während bei einer Messung ‚lediglich‘
seine Zustands-Eigenschaften erzeugt würden. Wie aber das Kapitel zur Ununter-
scheidbarkeit gleichartiger Quantenteilchen zeigen wird, sind Elektronen allein
über ihre ‚Wesens-Eigenschaften‘ weder zählbar noch wiedererkennbar, also we-
der Partikularien noch Individuen. Dann aber erfüllt der vermeintliche Träger der
akzidentellen Eigenschaften in keiner Weise seine traditionellen Funktionen. Darü-
ber hinaus ist er, für sich betrachtet, gänzlich unanschaulich, ja nicht-empirisch:
Denn ein bloß durch Ladung, Masse und Spin bestimmtes Elektron ist we-
der räumlich-delokalisiert – wie vielmehr bei scharf bestimmtem Impuls – noch
räumlich-lokalisiert – wie vielmehr bei scharf bestimmtem Ort. Es ist mithin unab-
hängig von seinen akzidentellen Eigenschaften überhaupt nichts Räumliches, was
diese Deutung wenig überzeugend macht.
Worauf es ankommt: Lässt man sich mit Bohr auf die Details des anschei-
nend so wesentlichen Messvorgangs gar nicht ein, bleibt der Wirklichkeitsstatus
des Quantensystems letztlich unklar. Zudem bleiben viele interessante Fragen, die
sich in Bezug auf ein einzelnes quantenmechanisches System stellen, auf das sich
mathematische Symbole doch beziehen lassen sollen, gänzlich ohne Antwort. Im
Sinne also der Kopenhagener Deutung geht Heisenberg über die Bohrsche Erklä-
rungsgrenze hinaus und zieht explizit die Konsequenz, dass die Eigenwerte hermi-
tescher Operatoren reale Eigenschaften einzelner Quantensysteme darstellen. Dies
führt bei gleichzeitiger Annahme der Vollständigkeit der Quantenmechanik und also
mit wesentlichem Bezug auf eine Messung in der Bornschen Regel offenbar dazu,
dass solche Eigenschaften bei bzw. durch Messungen diskontinuierlich und indeter-
ministischerweise wechseln bzw. neu erzeugt werden, bei zusammengesetzten und
‚verschränkten‘ Systemen wie im EPR-Fall gar über räumlich große Entfernungen
hinweg. Über die Bornsche Regel hinausgehend, vertritt Heisenberg zusätzlich von
Neumanns Projektionspostulat, nämlich die Eigenwert-Eigenvektor-Verknüpfung,
so dass zeitlich-unmittelbar nach einer Messung das quantenmechanische Sys-
tem mit dem zum gemessenen Eigenwert ‚gehörigen‘ Eigenvektor13 korreliert ist.
Nach der Heisenbergschen Kopenhagener Deutung gibt es nämlich tatsächlich zwei
zeitliche Dynamiken:

13 Vorsicht
bei mehrfachen Eigenwerten, wo erst noch (eventuell mehrere) andere Messgrößen
gemessen werden müssen.
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 55

1. Eine kontinuierliche, deterministische und zeitlich-reversible unitäre Zeitentwick-


lung des Vektors | gemäß der Schrödinger-Gleichung: i dtd |(t) = Ĥ|(t).
2. Eine diskontinuierliche, indeterministische und zeitlich-irreversible Zeitentwick-
lung von | auf einen Eigenvektor |i  bei einer Messung von Ô mit dem
Messwert λi ; d. h. die Projektion bzw. der Kollaps mit der objektiven Wahrschein-
lichkeit |i ||2 gemäß der Bornschen Regel.

Doch ebenso wie die Schrödinger-Entwicklung nur eine im abstrakten Hilber-


traum sei – da der Zeitentwicklungs-Operator nicht hermitesch ist –, ist die
mathematisch nicht beschriebene Kollaps-Entwicklung laut Heisenberg kein rea-
ler Prozess in der Welt.14 Dagegen spreche nämlich, dass die Ortsdarstellung von
| keine im dreidimensionalen Anschauungsraum, sondern eine im abstrakten 3N-
dimensionalen Konfigurationsraum ist. Zum anderen spricht anscheinend dagegen,
dass ein vorgeblich räumlicher Kollaps der Wellenfunktion ja über weite Entfer-
nungen hinweg instantan sein müsste, was wohl speziell-relativistischen Prinzipien
widerspricht.15
Damit steht die Heisenbergsche Kopenhagener Deutung nun aber ihrerseits vor
einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten, die viele zu einer realistischen Auffassung
des Kollaps neigen lassen, wie er etwa gemäß der vorzustellenden GRW-Theorie
vertreten wird. Das erste Problem betrifft den Status des Wahrscheinlichkeitsbe-
griffs in der Bornschen Regel: Wegen des wesentlichen Bezugs auf Messungen –
und damit16 auf Vollständigkeit des Formalismus – scheidet die Deutung der Wahr-
scheinlichkeiten als subjektive Glaubensgrade eigentlich aus. Die Interpretation als
objektive relative Häufigkeiten – wie laut Ensemble-Interpretation – kommt aber
ebenfalls nicht in Frage, da die Kopenhagener Deutung ausdrücklich die Wahr-
scheinlichkeitsaussagen der Quantenmechanik auf das einzelne System bezogen
wissen will. Demzufolge können sie objektiv wohl nur noch im Sinne von Propen-
sitäten, d. h. objektiven Tendenzen als realen Eigenschaften des Quantensystems
sein; was man jedoch, für sich betrachtet schon, als vielleicht allzu metaphysisch
ansehen kann, da sich modale Eigenschaften, derart realistisch interpretiert, von
nicht-modalen gar nicht mehr unterscheiden. Hier kommt dann noch hinzu, dass
man sich fragen kann, wofür in der Welt diese Propensitäten denn Tendenzen seien,

14 Während das, „was in einem Atomvorgang geschieht“, nämlich der Wechsel von Eigen-

werten als Eigenschaften, etwas Physikalisches sei, gelte bezüglich des Zustandsvektors: „Die
unstetige Änderung der Wahrscheinlichkeitsfunktion findet allerdings statt durch den Akt der
Registrierung; denn hier handelt es sich um die unstetige Änderung unserer Kenntnis im Moment
der Registrierung.“ (Heisenberg, 1959, S. 38) | wird also epistemisch gedeutet.
15 Man beachte aber Maudlins lorentz-invariante realistische Kollaps-Deutung, nach der Wellen-

funktionen von Hyperebenen in der vierdimensionalen Raumzeit abhängig sind; vgl. Maud-
lin (1994, Kap. 7).
16 Mit Vorblick auf die GRW-Theorie sei hier angemerkt, dass dort die Bornsche Regel nicht

gilt: Ihr zufolge ist die (modifizierte) Quantenmechanik vollständig, und es gibt ‚dennoch‘ keine
Messung, was sich mit der Bornschen Regel ausschließt.
56 C. Friebe

wenn doch der zu erzielende Kollaps ohnehin nicht real ist bzw. sein wird, weil er
bloß epistemisch zu verstehen sei.17
Die Hauptschwierigkeit der Heisenbergschen Deutung aber liegt nach allge-
meinem Unbehagen woanders: Im Geiste des Formalismus der Quantenmechanik
müssten nämlich beim (ja wesentlichen) Messvorgang das zu messende Quan-
tensystem und das messende Makrosystem ein zusammengesetztes Ganzes bilden
(vgl. weiter unten, 2.3.1). Wenn dann das Quantensystem durch eine Superposi-
tion | = i ci |i  von Eigenvektoren der zu messenden Größe Ô dargestellt
wird, so ist nach der Wechselwirkung mit dem Messapparat auch das Gesamtsystem
mit einer Superposition verknüpft. Was wir aber messen, ist ein scharf bestimmter
Wert, der einem bestimmten Eigenwert λi des Operators Ô entspricht. Dem kann
die Kopenhagener Deutung anscheinend nur gerecht werden, wenn sie einen so-
genannten Heisenberg-Cut durchführt, einen (objektiven?) Schnitt also zwischen
gemessenem Objekt und dem messenden System. Wie die populären Gedanken-
experimente um Schrödingers Katze und Wigners Freund (vgl. Audretsch 2002;
Baumann und Sexl 1984, und hier Kap. 7) aber zeigen sollen, ist es offenbar willkür-
lich, wo genau der Schnitt liegen soll: zwischen Wigners Freund und der Katze oder
bereits zwischen Katze und dem radioaktiven Stoff? Zwischen Mikro- und Makro-
system, könnte man vielleicht sagen – aber ab wie vielen Teilchen ist ein System ein
Makrosystem? Zirkulär erscheint jedenfalls die Antwort, dass ein System dann ein
Makro(Mikro-)system ist, wenn es den Gesetzen der klassischen(Quanten-)Physik
unterliege. Nein, keine Frage: Es gibt kein physikalisches Kriterium, woran man
bestimmen könnte, wo der Schnitt zwischen Zu-Messendem und dem Messenden
liegt. Die Gesetze der Physik und insbesondere der Standard-Formalismus der
Quantenmechanik geben für einen solchen Unterschied nichts her.18
Nun hatten wir aber ohnehin schon mehrfach ausgeführt, dass es kein physika-
lisches Kriterium wie etwa „ Wiederholbarkeit“ gibt, wodurch sich eine Messung
physikalisch von anderen (kontinuierlichen und deterministischen) Wechselwir-
kungen unterscheidet. Und wir hatten dort schon angemerkt, dass ein zuverlässi-
ges (anscheinend nicht-physikalisches!) Unterscheidungskriterium zwingend einen
wahrnehmenden Beobachter ins Spiel bringt, welcher die Messresultate auch ab-
liest.19 Könnte man daher nicht mit Heisenberg dafür argumentieren, dass an dieser
Stelle (erst) die Physik bzw. die Mathematisierbarkeit der Natur an eine Grenze
stößt, die etwa ein kantisches Subjekt bildet? Könnte man nicht die Kopenhagener

17 Konsistent, weil konsequent epistemisch ist die aktuell vertretene Bayesianische Deutung der
Quantenmechanik; vgl. beispielhaft Fuchs and Peres (2000) und die kritische Bilanz in Friederich
(2011).
18 Man kann mit dem Formalismus der Quantenmechanik sogar mathematisch zeigen, dass unter

der Voraussetzung, dass ein (realer) Kollaps stattfindet, man prinzipiell nicht feststellen kann, wann
er stattfinde, wo also der (objektive) Schnitt liege; vgl. dazu Albert (1992, S. 91).
19 Solche Formulierungen erzeugen oftmals abstruse Missverständnisse: Es ist natürlich nicht

gemeint, dass die ‚subjektunabhängige‘, objektive Welt so lange und soweit (also wohl als ganze)
in einer Superposition ist, bis jenseits davon ein transzendentes Ego auf sie ‚blickt‘.
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 57

Deutung (nämlich Heisenberg und Bohr) mit Kant verteidigen und sagen: Die Natur
hat zwei Seiten: eine Erscheinungs-Seite, wie sie experimentell-empirisch erfassbar
und physikalisch-mathematisch verstehbar ist, und einen Ansich-Aspekt, der nicht
mathematisierbar ist und auf den für die Natur als ganze das Subjekt verweist?
Bislang ist es aber nicht zwingend, eine Grenze des Mathematisierbaren zu
akzeptieren, wie die weitere Entwicklung zeigt. Die Grundlage für jede Lösung
oder Auflösung des Messproblems bildet heute die sogenannte Dekohärenz, wo-
mit ein wichtiger Schritt über Kopenhagen hinaus gegangen wird. Die Frage aber,
wie es letztlich zu definiten Messausgängen kommt, vermag auch dieses Programm
nicht zu beantworten, so dass das Interpretationsproblem im Wesentlichen beste-
hen bleibt. Nach einer kurzen Diskussion des Dekohärenzprogramms gehen wir
dann über zu realistischen Kollaps-Deutungen, am Beispiel der erstmals 1986 vor-
gestellten GRW-Theorie. Nicht-Kollaps-Interpretationen folgen in einem weiteren
Kapitel.

2.3 Messproblem und Dekohärenz

Viele Standardlehrbücher der Physik und wohl alle populärwissenschaftlichen Dar-


stellungen zur Quantenphilosophie bleiben bei der Kopenhagener Deutung stehen.20
Sie ist aber keineswegs mehr Standard in der professionellen Wissenschaftsphilo-
sophie, so dass auch ein in die Philosophie der Quantenphysik einführendes Buch
über die Kopenhagener Deutungen hinausgehen sollte.
Ihre vorgeblichen Mängel seien nochmals in etwas anderen Worten rekapituliert:
Stellt man die (verallgemeinerte) Bornsche Regel – also die Wahrscheinlichkeits-
interpretation der Vektoren im Hilbertraum bzw. die Deutung ihrer Skalarprodukte
als (bedingte) Wahrscheinlichkeiten – ins Zentrum des Interpretationsproblems,
kann man einen Konflikt zwischen Vollständigkeit und Realismus konstatieren.
Kommt es in der Bornschen Regel nicht auf den Zusatz „bei einer Messung“ an,
kann man realistisch interpretieren, dass dem quantenphysikalischen System sä-
mtliche Eigenschaften zu jeder Zeit zukommen und dass es sich deterministisch
entwickelt. Dann aber ist die Standard-Quantenmechanik unvollständig, da ontolo-
gisch offenbar mehr vorliegt, als epistemisch bestimmt werden kann, so dass sie
durch verborgene Parameter ergänzt werden muss. Dies jedoch ist nicht so ein-
fach möglich, da seit von Neumann (1932) über Bell (1964) und Kochen-Specker
(1967) immer wieder sogenannte No-go-Theoreme aufgestellt wurden: Wir werden
sehen, inwiefern die De-Broglie-Bohm-Theorie diesen Theoremen widersteht (vgl.
Unterkapitel 5.1).

20 Populär ist allerdings noch Everetts Viele-Welten-Interpretation, die mathematisch sehr nah
am Standard-Formalismus liegt und im Gegensatz zur (Heisenbergschen) Kopenhagener Deutung
‚realistisch‘ ist. Zu Everett vgl. hier Unterkapitel 5.2.
58 C. Friebe

Kommt es dagegen in der Bornschen Regel wesentlich auf den Zusatz „bei
einer Messung“ an, kann man hingegen an der Vollständigkeit der Standard-
Quantenmechanik festhalten. Wenn aber ontologisch nicht mehr Eigenschaften vor-
liegen, als epistemisch mit Sicherheit vorausgesagt werden können, ist offenbar eine
zweite Dynamik vonnöten, die im Gegensatz zur ersten, der Schrödinger-Dynamik,
diskontinuierlich, indeterministisch, zeitlich-irreversibel und mathematisch nicht
beschreibbar ist: der Vorgang der Messung. Demnach kauft man sich mit von Neu-
manns Projektionspostulat einen Kollaps des Zustandsvektors ein, der jedoch nach
Heisenberg und Nachfolgern nicht in der Welt, sondern nur im Abstrakten bzw.
epistemisch stattfinden soll. Den Vektoren im Hilbertraum wird keine ontologische
Deutung gegeben.
Man sollte allerdings betonen, dass auch die Heisenbergsche Kopenhagener
Deutung immerhin soweit realistisch ist, als sie einzelnen mikroskopischen Syste-
men sehr wohl objektive Eigenschaften zuschreibt, die sie freilich in der Regel
erst während einer Messung annehmen. Ist ein quantenmechanisches System mit
einem Eigenwert eines bestimmten hermiteschen Operators korreliert, so erhält
dieser Eigenwert sehr wohl eine realistische Deutung als objektive Eigenschaft
eines einzelnen Objekts. Mehr ist nicht erforderlich, um die Quantenmechanik
als vollständig zu bewerten – und damit als epistemisch gleichwertig mit anderen
physikalischen Theorien.21 Einen unerwünschten Anti-Realismus der Heisenberg-
schen Kopenhagener Deutung sieht man vielmehr darin, dass die Abhängigkeit vom
Messprozess letztlich eine Abhängigkeit vom messenden Beobachter oder Subjekt
ist. Da eine (diskontinuierliche, indeterministische und irreversible) Messung mit
mathematisch-physikalischen Mitteln als die besondere Wechselwirkung, die sie
sein müsste, nicht ausgezeichnet werden kann, ist man letztlich auf den Messenden
angewiesen, der die Messresultate schließlich abliest. In dieser Abhängigkeit vom
Subjekt erblickt man jenen unerwünschten Anti-Realismus deshalb, da real anschei-
nend nur sein könne, was subjektunabhängig ist. Auch das ist aber nicht automatisch
so bzw. nicht automatisch ein Mangel, da abhängig von einem Subjekt zu sein,
nicht sogleich bedeuten muss, subjektiv zu sein, so dass Heisenberg und andere
keineswegs einen Subjektivismus vertreten.22 Das Hauptproblem ist daher offen-
bar, dass sich diese Subjektabhängigkeit der Beschreibung durch mathematische
Physik entzieht.23 Sie loszuwerden, aber an der Vollständigkeit der Quanten-
mechanik festzuhalten, verlangt, eine einheitliche zeitliche Dynamik zu entwerfen;
also eine Alternative zur Schrödinger-Gleichung aufzustellen, mit welcher der

21 Dass den Eigenvektoren – im Unterschied zu den Eigenwerten – kein Realitätstatus verliehen


wird, ist auch deshalb kein wirklicher Mangel dieser Kopenhagener Deutung, da in mathema-
tischen Theorien wie insbesondere im Hilbertraum-Formalismus sehr viel mehr Symbole und
Operationen vorkommen, die, ohne dass sich jemand beklagen würde, höchstens instrumentell
interpretiert werden.
22 Zumal ja nicht etwa vom messenden Beobachter abhängt, welchen Eigenschaftswert das

quantenphysikalische System konkret annimmt.


23 Was wiederum eine Gemeinsamkeit mit der Bohrschen Kopenhagener Deutung insofern ist, als

Bohr den (physikalischen) Messprozess der Beschreibung durch mathematische Physik entzieht.
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 59

(makroskopische) Messprozess als zweite Dynamik obsolet wird. Dies war das Ziel
von GianCarlo Ghirardi, Alberto Rimini und Tullio Weber, die mit ihrer inzwi-
schen als GRW-Theorie bekannten Alternative zur Standard-Quantenmechanik das
notorische Messproblem aufzulösen beanspruchten.

2.3.1 Quantenmechanisches Messproblem

Blicken wir zuvor noch einmal etwas genauer auf das (aufzulösende) Problem des
Messens: Nach Maudlin (1995) besteht es sinngemäß in dem folgenden Trilemma:

1. Die Quantenmechanik ist vollständig, d. h. der Vektor |, mit dem das quanten-
mechanische System korreliert ist, bestimmt sämtliche objektiven Eigenschaften
des betreffenden Systems.
2. Vektoren im Hilbertraum unterliegen immer einer linearen zeitlichen Dynamik,
nämlich (etwa) gemäß der Schrödinger-Gleichung.
3. Messungen haben bestimmte, definite Resultate. Nach einer Messung zeigt also
das Gerät genau einen der möglichen Werte an, die durch die Eigenwerte des
entsprechenden Operators gegeben sind.

Man erkennt, dass die Konjunktion der drei Behauptungen inkonsistent ist, so
dass eine Lösung dieses Messproblems nur darin bestehen kann, (mindestens)
eine der drei Aussagen zu bestreiten. Die erste Behauptung zu bestreiten, legt,
wie angedeutet, nahe, verborgene Parameter einzuführen, wie in der Bohmschen
Mechanik.24 Die dritte Behauptung kann man eigentlich nur negieren, wenn man
eine plausible Geschichte erzählt, warum es uns so scheint, als hätten Messungen
definite Resultate. In diesem Sinne lässt sich die Viele-Welten-Interpretation des
US-amerikanischen Physikers Hugh Everett III. (1957) verstehen, wonach sich bei
einer Messung nicht nur das bestimmte Messresultat ergibt, das wir anscheinend
wahrnehmen, sondern auch sämtliche anderen möglichen Messresultate noch – und
zwar in anderen ‚Welten‘, die auch uns bzw. ‚Kopien‘ von uns enthalten, die dann
eben je andere Resultate registrieren; eine Deutung, die inzwischen durchaus ernst-
haft vertreten wird. Die zweite Behauptung schließlich wird auf die zwei möglichen
Weisen bestritten: zum einen durch die Heisenbergsche Kopenhagener Deutung,
indem der linearen Schrödinger-Entwicklung eine zusätzliche zweite Dynamik der
Messung hinzugefügt wird, und zum anderen durch GRW, indem die Schrödinger-
Gleichung durch eine nicht-lineare Zeitentwicklung ersetzt wird. Diese beiden
Deutungen implizieren einen Kollaps des Zustandsvektors – ‚Kopenhagen‘ einen

24 Es gibt noch eine weitere Interpretation, die ebenfalls Behauptung 1 bestreitet, aber ohne ver-

borgene Variablen auskommen will: die Modal-Interpretation der Quantenmechanik (vgl. van
Fraassen 1991, Kap. 9). Ihr Hauptproblem – nämlich zu erklären, wieso Wiederholungsmessungen
(z. B. beim Spin) mit Sicherheit wieder zum selben Resultat führen, obwohl weder ein Kollaps
stattgefunden habe noch verborgene Variablen dies sicherstellten – ist aber nicht überzeugend
gelöst.
60 C. Friebe

methodologischen, erfordert durch den Messprozess, und GRW einen realistischen,


spontanen. Maudlins Trilemma zeigt somit das Spektrum aller noch heutzutage dis-
kutierten Interpretationsvarianten der Quantenmechanik, die auch alle in diesem
Buch ihren Platz haben: Bohm, Kopenhagener Deutung, GRW und Everett.25
GRW ist also ‚auch‘ eine Kollaps-Deutung, im Gegensatz zur Heisenbergs-
chen Kopenhagener Deutung aber eine realistische. Um zu verstehen, was nötig
ist, um dies zu erreichen, müssen wir schauen, woran genau es liegt, dass man
nach (Bohr und) Heisenberg keine einheitliche Zeitentwicklung annehmen kann.
Dazu versuchen wir, den Messprozess nun doch noch etwas formaler zu beschrei-
ben: Wir nehmen also an, das Messgerät, wie etwa eine Stern-Gerlach-Apparatur,
sei mit den Mitteln der Quantenmechanik beschreibbar.26 Im Ausgangszustand,
d. h. zeitlich-vor der Wechselwirkung mit dem zu messenden Quantenobjekt, zei-
ge das Gerät auf „neutral“, was durch einen Vektor in irgendeinem Hilbertraum
einfach mit |M0  angezeigt werde. Des Weiteren gehen wir davon aus, dass die
zu messende Größe des quantenmechanischen Objekts genau zwei mögliche Werte
hat, wie unser beliebtes Beispiel des Spins eines Elektrons. Nun muss gelten, dass
wenn das Quantenobjekt zuvor bereits mit einem Eigenvektor des entsprechenden
Operators korreliert ist – also entweder mit |up oder mit |down –, das Messgerät
dann zeitlich-nach der Wechselwirkung mit dem Quantenobjekt mit Sicherheit den
Wert 1 (bzw. –1) anzeigt.27 Wir können sagen, es sei dann in einem Zustand, der
durch |M1  (bzw. |M–1 ) angezeigt ist. Insgesamt lässt sich der Vorgang schematisch
wie folgt darstellen:
|M0 |up –→ |M1 |up

beziehungsweise
|M0 |down –→ |M–1 |down (2.3)

Während im Ausgangszustand das Messgerät noch neutral ist, passt es sich an-
scheinend durch die Wechselwirkung dem quantenmechanischen Objekt an: Seine
Zeigerstellung entspricht im Endzustand der bereits vorliegenden Eigenschaft des
Quantenobjekts, wie es sich für eine gute Messung auch gehört.28 Zu messen

25 Man beachte, dass in dieser Darstellung des Messproblems kein Bezug mehr auf die Bornsche
Regel genommen wird. In der Tat gilt diese Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Zustandsvekto-
ren weder in der GRW-Theorie noch bei Everett.
26 Dies anzunehmen, heißt, nicht bereits hier zu blocken und mit Bohr dogmatisch zu behaupten,

makroskopische Messgeräte seien ohnehin nur klassisch beschreibbar.


27 Abgesehen davon, dass reale Messgeräte auch Fehler machen.
28 Vorsicht: Unter der Hand haben wir hier mathematisch ein Produkt zwischen Vektoren verschie-

dener Hilberträume eingeführt, das wir bislang noch nicht hatten. In der Tat bilden Messgerät
und Quantenobjekt ein zusammengesetztes System, das eigentlich erst Thema im anschließenden
Kapitel ist. Ein solches (reines) Produkt wie |M–1 |down jedenfalls spiegelt noch ganz klassisch
ein Ganzes wider, dessen Eigenschaften durch seine Teile vollständig bestimmt sind. Man sagt, der
Zustand des Ganzen sei separierbar, indem etwa hier das Teilchen und das Messgerät je für sich +1
zeigen (dass sie am Ende stets in dieselbe Richtung zeigen, erklärt sich durch die Wechselwirkung).
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 61

bedeutet in diesem Falle, makroskopische, mithin für uns wahrnehmbare, Be-


stimmtheit herzustellen, ohne dabei das Quantenobjekt zu verändern,29 d. h. nur
eine solche makroskopische, die mit einer zeitlich-unmittelbar vorhergehenden
mikroskopischen Bestimmtheit im Einklang ist.
In der Regel ist das zu messende Objekt aber gerade nicht mit einem der
Eigenvektoren des gewählten Operators korreliert, sondern vielmehr mit einer
Superposition derselben, so dass der Ausgangszustand des zusammengesetzten
Systems vielmehr dieser ist:

|M0 (c1 |up + c2 |down) (2.4)

Und nun stellt sich die Frage, welchen Endzustand man für diesen Regelfall mit den
Mitteln des Standard-Formalismus zu erwarten hat. Konsequenterweise müsste man
diesen Ausgangszustand der Zeitentwicklung durch den unitären Zeitentwicklungs-
i
Operator Ût = e–  tĤ unterwerfen. Dies erscheint zwar zunächst als technisch
aussichtslos, da der dort eingehende hermitesche Hamilton-Operator Ĥ ja nun der
Gesamtenergie des zusammengesetzten Systems entspricht und also hoffnungslos
komplex ist, da das Messgerät, soll es überhaupt durch die Quantenmechanik be-
schreibbar sein, aus sehr vielen Teilchen zusammengesetzt ist, die alle berücksich-
tigt werden müssten. Macht man sich aber klar, dass eben diese Zeitentwicklung
den (vorherigen) Ausgangszustand |M0 |up in |M1 |up überführt30 – und ebenso
|M0 |down in |M–1 |down –, so vereinfacht sich die Sache erheblich: Denn in
der Standard-Quantenmechanik ist doch alles linear, so dass zunächst für den
Ausgangszustand die Umformung gilt:

c1 |M0 |up + c2 |M0 |down (2.5)

und schließlich – aufgrund der Linearität des unitären Zeitentwicklungs-Operators –


für den Endzustand:

|end  = c1 |M1 |up + c2 |M–1 |down (2.6)

Ein fatales Resultat: Denn nun ist der Endzustand des aus Messgerät und Quan-
tenobjekt zusammengesetzten Systems in einer Superposition aus makroskopisch-
wahrnehmbar verschiedenen Zuständen. Was immer das Summenzeichen in Glei-
chung 2.6 auch bedeuten mag,31 makroskopische Bestimmtheit hinsichtlich der
gewählten Größe ist jedenfalls noch gar nicht hergestellt. |end  ist nämlich als

29 Im Idealfall: Es gibt natürlich Messungen, die das Quantenobjekt, auch wenn es bereits im

Eigenzustand der betreffenden Messgröße ist, zwangsläufig zerstören.


30 Andernfalls leistet das Messgerät von vornherein nicht, was zu leisten es soll.
31 Keineswegs ist das Gesamtsystem in einem Zustand, in dem das Messgerät sowohl 1 als auch –1

anzeigt, was widersprüchlich wäre.


62 C. Friebe

Summe zweier reiner Produktzustände von diesen messbar unterschieden.32 Tatsä-


chlich jedoch erzielen wir entweder den Messwert 1, mit der Wahrscheinlichkeit
|c1 |2 , oder aber den Wert –1, mit der Wahrscheinlichkeit |c2 |2 ; Messungen haben
definite Ausgänge!33 Der Standard-Formalismus der Quantenmechanik führt somit
zu einem Widerspruch mit der Erfahrung, da er für Makroskopisches Superposi-
tionen behauptet, die wir klarerweise nicht wahrnehmen.
An dieser Stelle überredet man sich nicht selten zu folgender Strategie: Nach
der Wechselwirkung ist das Gesamtsystem in einem reinen Zustand, der durch den
Projektionsoperator P̂ = |end end | und damit mit der unerwünschten Superpo-
sition angegeben wird; daran sei nicht zu rütteln. Für zusammengesetzte Systeme
gelte aber,34 dass, auch wenn sie in einem reinen Zustand sind, ihre Teilsysteme
in der Regel allenfalls in gemischten Zuständen vorliegen. Wenn man daher die
Teilsysteme für sich betrachtet – und d. h. mathematisch, den jeweils vernachläs-
sigten Teil ‚auszuspuren‘ –, gewinnt man für das quantenmechanische Objekt den
Statistischen Operator:

ρ̂quant = |c1 |2 |upup| + |c2 |2 |downdown| (2.7)

sowie für das Messgerät:

ρ̂mess = |c1 |2 |M1 M1 | + |c2 |2 |M–1 M–1 | (2.8)

Durch die Wechselwirkung mit dem Messgerät hat sich demnach das Quantenobjekt
verändert, wie es für diesen Regelfall auch anzunehmen sei. Denn vor der Wech-
selwirkung war das Quantenobjekt mit einem Projektionsoperator korreliert und
zeitlich-nach ihr mit dem (diagonalen) Statistischen Operator, was ein physikali-
scher Unterschied ist.35 Das Messgerät wiederum ist nun auch in einem gemischten
Zustand, so dass dessen Komponenten, die nun solche eines Statistischen Opera-
tors sind, direkt als Wahrscheinlichkeiten gedeutet werden könnten. Man will dann
sagen: Das Quantensystem selbst ist tatsächlich entweder im Zustand |up oder
im Zustand |down und entsprechend das Messgerät selbst tatsächlich entweder im
Zustand |M1  oder im Zustand |M–1  – denn die Wahrscheinlichkeiten, die im Statis-
tischen Operator auftreten, seien bloß subjektive Glaubensgrade, reflektierten nur
unsere Unkenntnis über den tatsächlichen Zustand des Quantenobjekts.

32 Die Superposition ist selbst vielmehr Eigenvektor eines anderen, inkommensurablen Ope-
rators, den Verhältnissen im zweidimensionalen Spinraum analog, auch wenn es hier – im
Makroskopischen – nicht so einfach ist, den Operator konkret anzugeben.
33 Ein Umstand, den zu erklären Bohr von vornherein blockierte.
34 Näheres dazu in den folgenden Kapiteln.

end = (c1 |up +


35 Der entsprechende Projektionsoperator wäre nicht in Diagonalgestalt: P̂

c2 |down)(c2 down| + c1 up|) = |c1 |2 |upup| + |c2 |2 |downdown| + c1 c2 ∗ |updown| +


c1 ∗ c2 |downup|. Dies führt dazu, dass die Erwartungswerte von Operatoren, end |Ô|end  =
Spur(P̂end Ô), im Allgemeinen Interferenzterme enthalten (die anschaulich den Wellencharakter
von Teilchen zeigen, wie etwa beim Doppelspalt-Experiment), welche in Ôρ̂ = Spur(ρ̂quant Ô)
fehlen.
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 63

Doch wie in Abschn. 1.2.4 zum Statistischen Operator bereits angedeutet, ist
die Ignoranzinterpretation von dessen Eigenwerten gerade an dieser Stelle nicht
haltbar; man sagt auch, dass der Statistische Operator hier nur ein „ uneigentli-
ches“ Gemisch beschreibe. Nehmen wir nämlich an (vgl. hierzu van Fraassen 1991,
S. 207), der tatsächliche Zustand des Quantenobjekts sei durch |up gegeben; was
schließt dann, auf der Basis der Ignoranzinterpretation, aus – was ja auszuschlie-
ßen ist –, dass im Gemisch des Gerätes |M–1  den tatsächlichen Zustand anzeigt?
Und: Wo kommen, auf der Basis der Ignoranzinterpretation, die Interferenzterme
für das Gesamtsystem eigentlich her; wieso also ist das Ganze dann nicht auch durch
einen Statistischen Operator zu beschreiben? Ohne die Ignoranzinterpretation ist der
ganze Messprozess aber eher ein Rückschritt: Die zu erzielende Bestimmtheit ist
durch die Veränderung des Quantenobjekts – also durch den Übergang vom reinen
(Superpositions-)Zustand zum gemischten – noch gar nicht hergestellt, stattdessen
nur die zuvor vorhandene zerstört!36

2.3.2 Dekohärenzprogramm

Demgegenüber einen Fortschritt stellt das Programm der Dekohärenz dar.37 Mit
ihm war sogar ursprünglich die Hoffnung verbunden, das Interpretationsproblem
der Quantenphysik zu lösen, und tatsächlich liefert es (zumindest lokal) eine
physikalische Erklärung für die Überwindung von Superpositionen makroskopisch
unterscheidbarer Zustände.38 Wirklich gelöst ist das Messproblem dennoch nicht.
Das Dekohärenzprogramm stellt aber eine wichtige Ergänzung für alle noch vertre-
tenen Deutungsoptionen dar. Im Detail ist es mathematisch recht aufwändig, so dass
hier nur angedeutet werden kann, worin der Fortschritt besteht und wo die Grenzen
liegen.
Die Grundidee besteht darin, dass das aus Quantenobjekt und Messgerät zusam-
mengesetzte System nicht länger, wie bislang angenommen, als ein abgeschlossenes
System aufgefasst wird. Berücksichtigt wird nun, dass dieses System auf vielfältige
Weise physikalisch mit der Umgebung wechselwirkt – etwa dadurch, das das Mess-
gerät ständig Licht reflektiert. Der eigentliche Endzustand ist demzufolge ein viel

36 Der ursprüngliche (Superpositions-)Vektor war ja, wie jeder Vektor eines reinen Zustands,

Eigenvektor eines anderen (inkommensurablen) Operators. Bezüglich des nun erzielten Statis-
tischen Operators ist der Erwartungswert jenes Operators aber nicht mehr der (ehemalige)
Eigenwert und nicht mehr streuungsfrei.
37 „Kohärent“, ‚zusammenhängend‘, bezeichnet klassisch die Bedingung, die Wellen erfüllen müs-

sen, um interferieren zu können. Daher kann man quantenmechanische Superpositionen auch


als „kohärente Zustände“ bezeichnen. Der Dekohärenzansatz will dann die Voraussetzungen klä-
ren, unter denen auf Basis der Quantenmechanik eine klassische Welt entsteht, in der eben keine
Superpositionen mehr vorkommen.
38 Pionierarbeiten sind Zeh (1970) und Zurek (1981); für den aktuellen Stand vgl. Schlosshauer

(2007).
64 C. Friebe

größerer, die gesamte Umgebung U mitumfassender, nämlich (etwa) dieser:

|end  = c1 |U1 |M1 |up + c2 |U–1 |M–1 |down (2.9)

Gelänge es dann zu zeigen, dass nicht mehr bloße Vernachlässigung, sondern


eben der ständige Einfluss der Umgebung zur Reduktion führt, würde das offene,
aus Quantenobjekt und Messgerät zusammengesetzte System aus physikalischen
Gründen sich aus der Verschränkung mit der Umgebung lösen und real in einen
gemischten Zustand übergehen:

ρ̂ = |c1 |2 |up, M1 M1 , up| + |c2 |2 |down, M–1 M–1 , down| (2.10)

Die makroskopisch-wahrnehmbar verschiedenen Zustände interferierten dann nicht


mehr. Der Unterschied zum Vorherigen könnte sein, dass an dieser Stelle die
Ignoranzinterpretation der Wahrscheinlichkeiten des Statistischen Operators sehr
wohl angebracht ist, dass also durch Dekohärenz tatsächlich ein „eigentliches“ Ge-
misch erreicht wird. Anscheinend ziehen nämlich van Fraassens Argumente nicht
mehr: Die Umgebung umfasst hier alles Mögliche, so dass es nicht wirklich darauf
ankommt, dass orthogonale Umgebungsvektoren |U1  und |U–1  mit dem Quanten-
Messgerät-System exakt korreliert sind. Es ist ohnehin kein messbarer Unterschied,
ob |end  nun wie in Gleichung 2.9 als reiner Zustand beschrieben wird oder selbst
schon als Gemisch, weil er auf ein viel zu großes System referiert. Überzeugt dies,
kann man jetzt sagen, dass zeitlich-nach der Wechselwirkung zwischen Quanten-
objekt und Messerät tatsächlich entweder der makroskopische Zustand vorliegt, der
durch |up, M1  angezeigt wird, oder aber der davon wahrnehmbar unterschiedene,
der mathematisch durch |down, M–1  repräsentiert ist – wie erwünscht. Es wäre da-
mit physikalisch erklärt, dass wir keine makroskopischen Systeme wahrnehmen,
deren Zustände Superpositionen wären („environment-induced decoherence“).
Wie selbstkritische Physiker jedoch einräumen (vgl. Schlosshauer 2007, S. 49,
69), ist die Ignoranzinterpretation des Statistischen Operators auch an dieser Stelle
nicht angemessen. Global besteht die Kohärenz mit der Umgebung nämlich weiter,
verstärkt sich gar, so dass auch in diesem Fall die Interferenzen nur dadurch ver-
schwinden, dass man bewusst von Umgebungsanteilen absieht. Immerhin zeigt sich
aber, dass die Interferenzterme lokal, und zwar tatsächlich aus physikalischen Grü-
nden, signifikant kleiner werden, wie Abb. 2.1 zeigt. Daher kann zumindest erklärt
werden, warum uns als lokalen Beobachtern keine Superpositionen erscheinen.
Des Weiteren ist ein Problem gelöst, das wir bislang eher beiläufig mitbehan-
delt hatten. Denn das Messproblem hat recht eigentlich zwei Teile, entsprechend
etwa der Beobachter in Heisenbergs Kopenhagener Deutung zwei Rollen: Bevor er
nämlich ein Messresultat registrieren kann, muss er zunächst eine Messanordnung
auswählen. Mathematisch ließe sich ja der vorherige Zustandsvektor auf unend-
lich viele Weisen als Superposition darstellen – jede Basisdarstellung ist mathe-
matisch gleichberechtigt. Bei der (mathematischen) Behandlung des Messproblems
wurde aber der Ausgangszustand von vornherein in der Eigenvektor-Basis der zu
messenden Größe dargestellt. Was rechtfertigt, physikalisch, diese Auszeichnung
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 65

x’

Abb. 2.1 Zeitentwicklung des Zustands (in Ortsdarstellung) durch Einfluss der Umgebung: Lo-
kal verschwinden die Interferenzterme (Abbildungsvorlage entnommen aus Schlosshauer 2007,
S. 149)

der sogenannten Zeiger-Basis? Kopenhagen ‚löst‘ auch dieses Problem auf die
für viele unakzeptable Weise der Beobachterabhängigkeit: Eine Basis wird aus-
gezeichnet durch die Wahl der Messanordnung. Ohne eine physikalische Lösung
des Problems der bevorzugten Basis wäre etwa Everetts Interpretation der Vielen
Welten zum Scheitern verurteilt. Insofern ist es ein bedeutsames Resultat, dass
der Dekohärenzansatz diesen Teil des Messproblems tatsächlich gelöst hat: Nach
dem „triorthogonal uniqueness theorem“ (vgl. Elby und Bub 1994) ist die Zer-
legung in orthogonale Zustände eines dreifachen Produktraums, wie dessen, der
Quantensystem, Messgerät und Umgebung umfasst, eindeutig.
Die dynamische Auszeichnung einer Basis und die physikalische Erklärung,
warum wir keine Superpositionen wahrnehmen, sind also die beide Fortschrit-
te, die das Dekohärenzprogramm erreicht hat. Doch ist damit zum einen nur der
Eigenschaftstyp objektiv festgelegt und zum anderen nur geklärt, dass wir keine
Superpositionen wahrnehmen. Es kommt aber offenbar darauf an, dass keine mehr
vorliegt, sondern vielmehr ein neuer reiner Zustand. Denn zu erklären ist doch
des Weiteren, dass wir bei einer Messung einen ganz bestimmten Eigenschaftswert
messen. Da man also ontologisch die Superposition nicht überwunden hat, ist man
womöglich noch immer auf von Neumanns Projektionspostulat angewiesen. Im üb-
rigen: Selbst wenn die Interferenzterme physikalisch alle verschwänden und (daher)
die Ignoranzinterpretation des Statistischen Operators angemessen wäre, hätte man
nur ein (zwar klassisch verständliches) Entweder-Oder erreicht und damit immer
noch einen Fall von Unbestimmtheit. Selbst ein „ eigentliches“ Gemisch, zu dem
das Dekohärenzprogramm hypothetisch hätte führen können, löst das Messproblem
nicht. Es gäbe dann nämlich subjektive Wahrscheinlichkeiten auf fundamenta-
ler Theorieebene. Ignoranzinterpretation heißt ja, dass ontologisch ein definiter
(neuer) reiner Zustand vorliegt, man aber epistemisch nicht weiß, welcher. Die
mathematische Beschreibung endete beim Gemisch, objektiv läge aber ein reiner
Zustand (bzw. der dazugehörige Eigenwert) vor: Entweder wäre die Standard-
Quantenmechanik dann unvollständig, oder man wäre auf Everetts Viele Welten
angewiesen, müsste also Behauptung 3 von Maudlins Trilemma bestreiten.39

39 Die Bedeutung der Dekohärenztheorie für die Everett-Interpretation klärt Abschn. 5.2.4.
66 C. Friebe

Worauf es hier ankommt: Interpretiert man Superpositionen nicht im Sinne


Everetts und verweist man nicht mit Heisenberg et al. auf eine Subjektabhängigkeit
des Wirklichen, führt offenbar kein Weg zum definiten Messwert, der mit den Mit-
teln des Standard-Formalismus’ der Quantenmechanik beschreibbar wäre. Was die
Versuche, den Messprozess mathematisch in den Griff zu bekommen, dann zeigen
sollten: Es war plausibel zu machen, dass ursächlich für dieses Scheitern die Li-
nearität der Quantenmechanik sein könnte. Und dass man diese nur überwinden
kann, wenn man die mathematisch beschriebene Zeitentwicklung explizit nicht-
linear gestaltet. Dies jedenfalls ist die Grundidee der GRW-Theorie: die lineare
Schrödinger-Dynamik durch eine nicht-lineare zu ersetzen.

2.4 Realistische Kollaps-Deutung: GRW

Das Ziel der von Ghirardi, Rimini und Weber 1986 entwickelten Theorie war eine
einheitliche Dynamik für Mikro- und Makrowelt und damit die Überwindung der
Kopenhagener Spaltung, die Auflösung des Messproblems. Sie ist mathematisch
recht komplex und kommt bis dato in Physiklehrbüchern nicht vor. Unmittelbar
nach Erscheinen ist sie aber von Bell (1987) enthusiastisch begrüßt worden. In der
Philosophie der Physik ist sie seit ihrer Rezeption in Albert (1992) recht populär,
die Debatte um die adäquate GRW-Ontologie hält bis heute an.

2.4.1 Nicht-lineare Dynamik

Bereits einleitend hatten wir festgestellt, dass lineare Abbildungen Superpositionen


im folgenden Sinne erhalten:

Ô (a|A + b|B) = a Ô|A + b Ô|B (2.11)

Nun können wir sagen, dass ein nahezu instantaner, diskontinuierlicher Übergang
von einer Superposition der Eigenvektoren eines bestimmten Operators auf einen
speziellen dieser Eigenvektoren – wie ihn von Neumanns Projektionspostulat ver-
langt – nur möglich ist, wenn die Linearität der Quantenmechanik an relevanter
Stelle durchbrochen ist. Dies in einer einheitlichen, also durchgängig mathematisch
beschreibbaren Weise zu realisieren, verlangt, die unitäre Schrödinger-Entwicklung
durch eine neue nicht-lineare Gleichung zu ersetzen.
Das wird nicht ohne weitere Auswirkungen möglich sein: In Abschn. 1.2.2
hatten wir nämlich des Weiteren gesagt, dass lineare Abbildungen mathematisch im-
plizieren, dass parallele Geraden (Vektoren) parallel bleiben. Da parallele Vektoren
im Hilbertraum mit identischem physikalischen Zustand korreliert sind, implizie-
ren lineare Abbildungen physikalisch, dass kein physikalischer Unterschied ins
Spiel kommen kann, wo ‚vorher‘ keiner war. Angewendet auf die Zeitentwicklung,
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 67

kann man daraus folgern, dass sie deterministisch ist, wenn sie linear ist. Eine
nicht-lineare zeitliche Dynamik, wie sie die ersetzende GRW-Gleichung ausdrücken
wird, öffnet daher zumindest die Möglichkeit für einen objektiven, naturgesetz-
lichen Indeterminismus: Es kann nun, im Laufe der Zeit, ein physikalischer
Unterschied ins Spiel kommen, wo zeitlich-vorher keiner war. Ein physikalischer
Zustand ‚splittet‘ auf, indem er sich nicht-linear auf solch eine Weise entwi-
ckelt, dass er zu einer späteren Zeit entweder schon kollabiert ist oder eben
noch nicht.40 Die nicht-lineare Dynamik ist dann nicht nur diskontinuierlich, son-
dern auch indeterministisch. Schließlich spricht alles dafür, dass dieser Vorgang
nicht umkehrbar ist, es also erheblich unwahrscheinlicher ist, dass sich zwei Aus-
gangszustände, die den bisherigen zwei (möglichen) Endzuständen entsprechen,
in den einen Endzustand (den bisherigen Ausgangszustand) entwickeln. In der
Tat: Die GRW-Dynamik ist (zuweilen) diskontinuierlich, indeterministisch und
zeitlich-irreversibel.
Dies ist natürlich das Erwünschte! Die Nicht-Linearität hat aber noch weitere
Folgen: Viele Charakteristika der Standard-Quantenmechanik beruhen auf der Li-
nearität der Theorie, so etwa die Tatsache, dass die Wahl einer Basis konventionell
ist, dass also ein Vektor im Hilbertraum auf (unendlich) viele Weisen als Superposi-
tion (Linearkombination) anderer Vektoren darstellbar ist. GRW dagegen zeichnet
eine Basis als bevorzugt aus: die Ortsdarstellung.41 Des Weiteren hatten wir festge-
stellt, dass etwa die Frage, welche Eigenwerte (physikalisch-mögliche Messwerte)
ein gegebener hermitescher Operator habe und welches seine Eigenvektor-Basis
sei, zeitunabhängig bestimmt ist. Daraus hatten wir gefolgert, dass die (mess-
unabhängige) Zeitentwicklung unitär, also allemal linear sein müsse. Wenn nun
die Zeitentwicklung aber nicht-linear sein soll, hat dies also Auswirkungen auf das
Konzept einer quantenmechanischen Messgröße; keine Frage: Die GRW-Theorie
ist eine andere Theorie als die Standard-Quantenmechanik.42 Jedenfalls steht bei
GRW die Zeitentwicklung wieder im Zentrum, nämlich am Anfang, wovon etwa
das Konzept von Messgrößen abhängt – während in der Standard-Quantenmechanik
vielmehr umgekehrt die Zeitentwicklung eine Konsequenz aus grundlegenden zeit-
unabhängigen Verhältnissen von Operatoren, Eigenwerten und Eigenvektoren ist.
Die Zeitentwicklung der Wellenfunktion, eines Vektors in Ortsdarstellung, ist also
das Grundlegende der GRW-Theorie.43

40 Dem Ausgangszustand folgen danach zwei mögliche Endzustände: In eine Zeit-Richtung, die

Zukunft(?), splittet der Zustand auf.


41 Wie passt die Auszeichnung dieser bestimmten Basis zum Dekohärenzprogramm, dessen ei-

ner Fortschritt ja darin besteht, dass tatsächlich eine Basis dynamisch ausgezeichnet wird? Es
gibt zumindest eine Spannung zwischen ‚Dekohärenz‘ und GRW, wenn sich zeigt, dass die aus-
gezeichnete Basis in bestimmten Situationen nicht die Ortsbasis ist. Vgl. zu diesem Problem
Schlosshauer (2007, S. 349f.).
42 Es ist vielleicht sogar so, dass sie empirisch-abweichende Vorhersagen macht, so dass zukünftige

Experimente GRW auch empirisch als realistischer ‚erweisen‘ könnten – oder aber falsifizieren!
43 Dies ist eine Gemeinsamkeit zur aber deterministischen Bohmschen Mechanik.
68 C. Friebe

Wie sieht diese Gleichung nun konkret aus? Die Idee ist (vgl. Bell 1987), dass
die Ortswellenfunktion von N Teilchen, also

| = ψ(t, x1 , x2 , . . . , xN ), (2.12)

die sich ansonsten weiterhin gemäß der üblichen Schrödinger-Gleichung entwickelt,


von Zeit zu Zeit kollabiert, und zwar:

1. spontan, d. h. nicht hervorgerufen durch irgendeine externe Wechselwirkung wie


insbesondere durch keine Messung, die einen messenden Beobachter benötigte;
2. stochastisch, und zwar sowohl hinsichtlich wann ein Kollaps erfolgt, als auch wo
er stattfindet;
3. und dies schließlich auf eine solche Weise, dass bei sehr wenigen Teilchen ein
Kollaps sehr, sehr selten ist, während es bei sehr, sehr vielen Teilchen nahezu
sofort zu einem Kollaps kommt. Dies gewährleistet, dass einerseits ein isolier-
tes, einzelnes Quantensystem sich sehr lange gemäß Schrödinger entwickelt,
während makroskopisch so gut wie keine Superpositionen vorkommen.

Um beides zu erreichen, müssen zwei neue Naturkonstanten eingeführt werden,


nämlich zum einen eine mit Zeiteinheit:

N
; mit Teilchenzahl N und τ = 1015 s (2.13)
τ

Dieser Bruch gibt die Wahrscheinlichkeit pro Zeit eines Quantensprungs an, die
offensichtlich für kleine Teilchenzahlen N sehr klein ist, für makroskopische Zahlen
der Größe 1023 aber sehr groß wird – wie erwünscht.
Man sieht bereits hier einen entscheidenden Unterschied zur gewöhnlichen
Quantenmechanik: Während dort nach Bornscher Regel die Wellenfunktion bzw.
ihr Betragsquadrat als (Mess-)Wahrscheinlichkeit gedeutet wird, trägt hier ein neu
eingeführter Parameter die Wahrscheinlichkeitsinterpretation. Auf diese Weise ist
die Wahrscheinlichkeit keine bedingte mehr, insbesondere keine, die durch „bei
einer Messung“ bedingt wäre. Des Weiteren lässt sie sich problemlos auf Einzel-
ereignisse anwenden, also auf einen einzelnen Kollaps beziehen. Daher besteht
in der Literatur Einigkeit darüber, dass die GRW-Wahrscheinlichkeiten keine sub-
jektiven Glaubensgrade, sondern objektive chances repräsentieren (vgl. Frigg und
Hoefer 2007, S. 376).
Bezüglich der Fragen, wie und wo ein Kollaps stattfinde, wird ein Lokalisations-
operator eingeführt:
α 3 α
L̂ = ( ) 4 exp[ – (q̂k – x)2 ] (2.14)
π 2
Er hat die Gestalt einer Gaußschen Kurve mit einem zufällig ausgewählten Zentrum
um den Ort(soperator) des k-ten Teilchens. Den Lokalisationsgrad, also die Schärfe
der Gaußschen Kurve, bestimmt die zweite neue Naturkonstante mit Längeneinheit:

α = 10–5 cm (2.15)
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 69

Im Wesentlichen, strukturell,44 besteht die GRW-Gleichung dann darin, der


Schrödinger-Gleichung einen Term hinzuzufügen, bei dem dieser Gaußsche Lokali-
sationsoperator auf die Ortswellenfunktion angewendet wird. Er bewirkt dann einen
sogenannten hit, d. h. eine spontane Lokalisierung um ein zufällig ‚gewähltes‘
Zentrum, und zwar von Zeit zu Zeit mit der Wahrscheinlichkeit Nτ .
Betrachten wir nun wieder unser Messproblem oder auch Schrödingers lebende
und/oder tote Katze: Das Problem bestand darin, dass mit den Mitteln des Standard-
Formalismus zwei makroskopisch-wahrnehmbar verschiedene Zustände in einer
Superposition überlagert sein müssten, was dem empirischen Resultat widerspricht,
wonach wir keine solchen Superpositionen wahrnehmen:

|end  = c1 |M1 |up + c2 |M–1 |down (2.16)

Wenn man nun aber die Zustandsbestandteile des Messgerätes (bzw. des makro-
skopischen Anteils beim Katzen-Beispiel) genauer betrachtet, also davon ausgeht,
dass das Messgerät (die Katze) aus Milliarden von Teilchen zusammengesetzt ist,
die jeweils – Zeigerstellung +1 verglichen mit Zeigerstellung –1 (lebendig vs. tot) –
an signifikant verschiedenen Orten sind, dann lässt sich der Zustand wie folgt
schreiben:

|end  = c1 (|x1 1 |x1 2 . . . )|up + c2 (|x–1 1 |x–1 2 . . . )|down (2.17)

Die jeweiligen Summanden bestehen nun im Wesentlichen aus gekoppelten Orts-


wellenfunktionen, welche Teilchenorte darstellen, die zur makroskopischen Zeiger-
stellung +1 (bzw. –1) passen. Wendet man darauf den GRW-Mechanismus an, so
könnte etwa – per Zufallsfunktion ‚ausgewählt‘ – das 2-te Teilchen auf den Zustand
|x–1 2 kollabieren. Aufgrund der Kopplung kollabiert dann der Gesamtzustand – mit
der Wahrscheinlichkeit |c2 |2 – auf den makroskopisch-wahrnehmbaren Zustand:

|end  = |M–1 |down (2.18)

Die sehr große Zahl N von Teilchen garantiert – zusammen mit den Werten der neu-
en Naturkonstanten –, dass es nahezu sofort zu einem solchen Kollaps kommt, so
dass makroskopisch nahezu immer einer der beiden Produktzustände vorliegt und
nahezu niemals der Superpositionszustand, wie es unserer Erfahrung entspricht. Es
sei betont, dass diese Beschreibung, wenn überzeugend, tatsächlich die Auflösung
des Messproblems ist: Denn mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit kommt es zum
Kollaps eines Einteilchen-Zustandes – und damit zum Kollaps des Gesamtzustan-
des –, so dass makroskopische Bestimmtheit tatsächlich hergestellt wird (und nicht
etwa nur ein Entweder-oder wie beim Dekohärenz-Ansatz), und zwar unabhängig
davon, ob ein messender Beobachter das Resultat schließlich abliest.
Wissenschaftstheoretisch ist gegen diesen GRW-Ansatz aber einzuwenden,
dass die Einführung der neuen Naturkonstanten ad hoc ist: Die Werte dieser

44 Besser stellt man die GRW-Grundgleichung bzgl. der Dichte-Matrix dar, vgl. Frigg und Hoefer

(2007 S. 374).
70 C. Friebe

Naturkonstanten sind ja gerade so gewählt, dass – für ein Einteilchen-System wie


für das makroskopische Ganze – die richtigen Wahrscheinlichkeiten herauskom-
men. Es gibt kein unabhängiges Verfahren, die Werte von α und τ empirisch
zu bestimmen. Mit ihrer Hilfe lassen sich bislang auch keine neuartigen Vor-
hersagen machen; sie dienen nur dazu, die Messausgänge zu erklären, die wir
im Kontext der Quantenphysik kennen. Zum Vergleich betrachte man etwa die
Naturkonstante der Lichtgeschwindigkeit, die in den Relativitätstheorien eine ent-
scheidende Rolle spielt: Ganz unabhängig von Einsteins Theorien gibt es – sogar
mehrere – empirische Verfahren zur Ermittlung ihres quantitativen Werts. Darü-
ber hinaus spielt sie auch eine Rolle in anderen physikalischen Theorien. Nicht
so α und τ : Deren Werte sind festgesetzt, zu keinem anderen Zwecke, als das
Messproblem der Quantenmechanik aufzulösen. Genau dies bezeichnet man in der
Wissenschaftstheorie als ein Ad-hoc-Manöver.
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass der GRW-Mechanismus darauf angewie-
sen ist, dass makroskopisch-wahrnehmbar verschiedene Zustände stets einhergehen
mit verschiedenen räumlichen Positionen. Nur wenn die zu den makroskopisch ver-
schiedenen Zuständen passenden Teilchenorte signifikant verschieden sind, funk-
tioniert das Argument, dass aufgrund der Kopplung der Teilchenorte der sehr
wahrscheinliche Kollaps von sehr wenigen Teilchenzuständen unmittelbar zu ei-
nem wahrnehmbar-bestimmten Makrozustand führt. Es lassen sich aber vielleicht
Experimente denken, bei denen wahrnehmbare Messausgänge nicht mit makrosko-
pisch verschiedenen Orten einhergehen (vgl. Albert 1992, S. 103). Solche Bedenken
außer Acht gelassen, interessieren wir uns philosophisch aber vor allem für die
ontologischen Konsequenzen der GRW-Theorie.

2.4.2 GRW-Ontologien und ihre Kritik

Die Auszeichnung der Ortsbasis und der fundamentale Charakter der Zeitentwick-
lung machen GRW prima facie philosophisch-ontologisch sympathischer als die
Standard-Quantenmechanik: Bestimmt man als ein Ziel von moderner Naturphilo-
sophie, den offenkundigen Konflikt zwischen unserem (durchaus aufgeklärten)
Alltagsbild und demjenigen Bild, das aktuellste wissenschaftliche Theorien wie die
Quantenphysik von der Welt zeichnen, zu behandeln und idealerweise zu lösen, so
ist die Auszeichnung von Ort und Zeit anscheinend zu begrüßen. Keineswegs bloß
naive Intuitionen sagen offenbar, dass Verhältnisse im Raum und Entwicklungen
in der Zeit zu den grundlegenden Phänomenen der uns umgebenden Welt gehö-
ren, so dass eine wissenschaftliche Theorie, welche diese ins Zentrum stellt, den
besagten Konflikt verkleinert. Die Standard-Quantenmechanik hingegen mit ihrem
abstrakten Hilbertraum, in dem einerseits der Ortsoperator nur einer unter vielen ist,
und zudem ein mathematisch unschöner, und andererseits die Zeitentwicklung keine
Messgröße, ist offenbar weiter weg von unseren Intuitionen, die Naturphilosophie
eben immer auch im Blick haben sollte.
Allerdings ist zu betonen, dass GRW ja eine einheitliche Dynamik für
mikro- wie makrophysikalische Phänomene zu geben beansprucht, so dass die
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 71

grundlegende Ortswellenfunktion in aller Regel keine eines einzelnen Quanten-


systems ist, sondern eine von sehr, sehr vielen Teilchen. Der Ortsraum, der hier
ontologisch ausgezeichnet zu sein scheint, ist daher gerade nicht der 3-dimensionale
Anschauungsraum, sondern vielmehr der 3N-dimensionale „Konfigurationsraum“,
wobei N die Teilchenzahl ist. Dieser Raum hat also eine extrem hohe Dimension und
ist entsprechend unanschaulich. Dennoch wird ernsthaft vertreten (vgl. Albert 1992,
S. 92f., und die Kritiken in Maudlin 2010; Monton 2006), dass die physikalische
Realität tatsächlich in diesem Raum bestehe, dass also die Wellenfunktion und
insbesondere deren Kollaps reale Ereignisse im Konfigurationsraum darstellten –
und dass folglich unsere Anschauung eines bloß 3-dimensionalen Raumes trüge.
Demgegenüber wird zwar immer wieder behauptet (vgl. schon Bell 1987, S. 204f.),
dass der Konfigurationsraum ein bloß abstrakter, mathematischer Raum sei, von
dem der physikalisch-reale Raum zu unterscheiden sei. Doch man kann sehr wohl
fragen: Warum eigentlich? Muss sich physikalische Realität von mathematischer
überhaupt unterscheiden? Und wenn ja, worin besteht dann begründeterweise der
Unterschied? Man sollte ja nicht vergessen, dass dieser hier verfochtene Realis-
mus gegen ‚Kopenhagen‘ antritt und damit insbesondere gegen die Vorstellung,
physikalische Realität könnte vom Subjekt als einem messenden Beobachter ab-
hängen. Jeder Verweis auf unsere Erfahrung, die konstitutiv dafür wäre, Physik von
Mathematik zu unterscheiden, ist demzufolge unangebracht. Daher erscheint dieser
als „wave function ontology“ bezeichnete Realismus des Konfigurationsraumes als
erste vollgültige Variante der GRW-Ontologie.
Jede andere antwortet auf die Frage, wie man die direkte, wörtliche Interpreta-
tion der GRW-Gleichung als Bewegungsgleichung eines Feldes im Konfigurations-
raum überwinden kann, um aus dem mathematischen Raum hinaus in den einzig
physikalisch-realen Anschauungsraum hinein zu gelangen. So insbesondere Bells
klassische Deutung der local beables (vgl. Bell 1987, S. 205): Bell ist der Auf-
fassung, dass zwar die Wellenfunktion selbst nur in diesem mathematischen Raum
‚lebe‘, also kein reales physikalisches Feld sei, dass aber ein GRW-Sprung um einen
gewöhnlichen Raumzeit-Punkt (x, t) zentriert sei. Immer dann, wenn ein Kollaps
stattfindet, ereigne sich also etwas in unserem Anschauungsraum bzw. in der Raum-
zeit. Ein makroskopischer Körper sei dann „a galaxy of such events“ (Bell 1987,
S. 205). Diese Ontologie der galaxies of flashes ist bis heute die aussichtsreichs-
te (vgl. Maudlin 2010, S. 139), insbesondere deshalb, da sie, im Gegensatz zur
konkurrierenden dritten Variante – der density-of-stuff ontology45 –, relativistisch
verallgemeinerbar zu sein scheint.46 Das Hauptproblem der Bellschen Ontologie

45 Nach dieser Auffassung korrespondiert mit der Wellenfunktion des Konfigurationsraumes ein

kontinuierliches „materielles“ Feld in der konkreten Raumzeit. Sie wird u. a. von Ghirardi selbst
vertreten.
46 Physikalische Schwierigkeiten von GRW betreffen die ‚Ununterscheidbarkeit‘ gleichartiger

Teilchen, die Behandlung kontrafaktischer Abhängigkeiten im EPR-Fall und insbesondere die


Vereinbarkeit mit der (speziellen) Relativitätstheorie. Letzteres ist auch problematisch bei der
Bohmschen Mechanik.
72 C. Friebe

besteht anscheinend darin,47 dass die flashes nicht fundamental sein können. Sie
hängen ja von der Wellenfunktion im Konfigurationsraum ab, so dass in unserer rea-
len, physikalischen Welt derartige Ereignisse zeitlich diskontinuierlich auftreten –
und im Grunde unerklärterweise, jedenfalls nicht erklärt durch etwas in unserer
Welt Existierendes. Solange und immer dann, wenn die Wellenfunktion unkollabiert
sich in einer Superposition befindet, existiert physikalisch schlicht nichts, sondern
bloß mathematisch etwas im 3N-dimensionalen Konfigurationsraum. Insofern erbt
Bell einen anti-realistischen Zug von ‚Kopenhagen‘, zum Unbehagen der mit GRW
verbundenen Hoffnung eines durchgängigen Realismus.
Entsprechend ist kürzlich vorgeschlagen worden (vgl. Dorato und Esfeld 2010),
den Bellschen stochastischen Ereignissen ein reales, raumzeitliches Fundament
zu geben. Die ‚räumlichen‘ Superpositionen im Konfigurationsraum repräsentie-
ren demnach dispositionale Eigenschaften in der physikalisch-realen Raumzeit, die
spontan Bellsche flashes kausal hervorrufen. Nach Dorato/Esfeld kommt man al-
so dadurch aus dem Mathematisch-Abstrakten in das Physikalisch-Konkrete, indem
man Superpositionen einen modalen Charakter verleiht, sie als metaphysische Krä-
fte auffasst. Die Grundidee entstammt einer inzwischen etablierten Position aus
der philosophischen Debatte um den Status von Naturgesetzen: Der Humeschen
Auffassung, wonach Naturgesetze auf bestimmten Regularitäten kategorialer (rein
qualitativer) Eigenschaften ohne modale Fähigkeiten supervenieren, steht die Po-
sition entgegen, dass fundamentale Eigenschaften der Physik (Ladung, Masse)
dispositionale (modal-kausale) Eigenschaften seien.48 Diese allzu stark metaphy-
sisch anmutende Position kann man dadurch verteidigen, indem man sagt, dass man
ohne die Deutung von Eigenschaften als modalen oder dispositionalen physika-
lische von mathematischen Strukturen nicht unterscheiden könne. So jedenfalls
argumentieren Dorato/Esfeld in Bezug auf die GRW-Theorie. Wenn überzeugend,
liefern sie damit ein real-raumzeitliches, kausales Fundament der Bellschen flashes,
was sicher wünschenswert erscheint. Das Problem aber ist, dass Dispositionen –
wie etwa die Wasserlöslichkeit des Zuckers – zu ihrer Manifestation normalerweise
einen externen Trigger benötigen, einen Auslöser von außen. GRW-Lokalisationen
sind jedoch spontan, der GRW-Kollaps benötigt ja gerade keine externe Wechsel-
wirkung (insbesondere keine Messung). Daraus folgt für ihre realistische Deutung,
dass die Superpositionen raumzeitliche, dispositionale Eigenschaften repräsentie-
ren, die „manifest themselves spontaneously“ (Dorato und Esfeld 2010, S. 44),
die sich also spontan selbstverwirklichen. In Zwischenphasen hätten reale Eigen-
schaften raumzeitlicher Quantensysteme keine definiten Werte, jedoch seien sie
„mind-independently and probabilistically disposed to become definite“ (Dorato
und Esfeld 2010, S. 45): Im Kollaps geben sie sich selbstätig ihre eigenen Werte,
wenn auch bloß probabilistisch. Man hat den Eindruck: Das Subjekt als den mes-
senden Beobachter wird man mit GRW nur animistisch los, indem nun die Welt als

47 Inder Literatur wurde des Weiteren eine sogenannte counting anomaly diskutiert, die hier aber
außer Betracht bleiben kann.
48 Eine Humesche Interpretation von GRW verteidigen Frigg und Hoefer (2007).
2 Messproblem, Minimal- und Kollapsinterpretationen 73

ganze wie ein Subjekt sich selbstätig verwirklicht („manifestiert“). Die Alternative
dazu ist die wave function ontology und damit die Identifizierung des Physischen
mit einem Ausschnitt des Mathematischen.
Damit sind wir am Ende des ersten Kapitels zu den Interpretationen der
Quantenphysik angelangt. Es behandelte unstrittige, aber auch zu kurz greifende
Deutungen (Minimalinterpretation und Ensemble-Deutung) sowie die umstrittenen
Kollaps-Deutungen (Kopenhagen, GRW). Bevor in einem weiteren Interpretations-
Kapitel die no-collapse-Varianten (Bohm, Everett) diskutiert werden, kommen
wir nun zunächst zu den zwei wichtigsten Spezialproblemen der Quantenmecha-
nik: zu gleichartigen Teilchen und deren ‚Ununterscheidbarkeit‘ sowie zum EPR-
Paradoxon. Individuation von Objekten und das Verhältnis eines Ganzen zu seinen
Teilen gehören zu den herausragenden Themen der Ontologie, die diesbezüglich –
schon durch die Standard-Quantenmechanik – vor ganz neuartige Herausforde-
rungen gestellt wird.

Übungsaufgaben zu Kap. 2

1. Unterscheiden Sie zwei Lesarten der Bornschen Regel, abhängig davon, ob der
Bezug auf eine Messung in ihr wesentlich ist oder nicht.
2. Nach der (Heisenbergschen) Kopenhagener Deutung gibt es zwei zeitliche Dy-
namiken des Zustandsvektors. Beschreiben Sie diese in eigenen Worten. Wie
verhält sich die zweite Dynamik zur Bornschen Regel und zu von Neumanns
Projektionspostulat? Was ist an ihr problematisch?
3. Das Interpretationsproblem der Quantenmechanik kann auch als ein Trilemma
dargestellt werden. Erläutern Sie die drei Aussagen und zeigen Sie, dass
sie zusammen genommen inkonsistent sind. Worin besteht der Vorteil dieser
Darstellung gegenüber der bisherigen, an der Bornschen Regel orientierten?
4. Das Dekohärenzprogramm stellt einen wichtigen Fortschritt dar. Stellen Sie her-
aus, wodurch alle Interpretationsvarianten profitieren können. Warum aber löst
das Programm das Messproblem letztlich nicht?
5. Formulieren Sie in eigenen Worten, was die GRW-Theorie in den Augen ih-
rer VertreterInnen leistet. Verteidigen Sie demgegenüber die Standardsicht der
PhysikerInnen.

Literatur zu Kap. 2
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74 C. Friebe

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Quanten-Identität und
Ununterscheidbarkeit 3
Holger Lyre

Inhaltsverzeichnis
3.1 Quantentheorie gleichartiger Objekte ................................................................. 75
3.2 Ontologie der Quantentheorie........................................................................... 85
Übungsaufgaben zu Kap. 3 ...................................................................................... 103
Literatur zu Kap. 3 ................................................................................................. 103

Kapitel 3 steht technisch und sachlich zwischen Kap. 1 und 6. In Kap. 1 wurde die 1-
Teilchen-Quantenmechanik im Hilbertraum H eingeführt, das vorliegende Kapitel
behandelt n Teilchen im Vielteilchen-Hilbertraum Hn und Kap. 6 variable Teil-
chenzahlen mit Aufsteige- und Absteigeoperatoren im Fockraum HF = ⊕Hn . Das
Kapitel zerfällt in zwei Teile, wobei 3.1 physikalisch, 3.2 aber stärker philosophisch
orientiert ist.

3.1 Quantentheorie gleichartiger Objekte

3.1.1 Statistische Mechanik

Die Quantentheorie hat ihren historischen Ursprung zu einem wesentlichen Teil


in der Thermodynamik. Das Problem der Schwarzkörperstrahlung veranlass-
te Max Planck 1900 dazu, eine neue Ad-hoc-Regel über die Energieverteilung
des Strahlungsfeldes eines schwarzen Körpers in Abhängigkeit von der Fre-
quenz zu formulieren und dabei das Plancksche Wirkungsquantum als neue
Naturkonstante einzuführen. Dieser Schritt wird allgemein als Geburtsstunde
der Quantentheorie angesehen, und man kann sagen, dass das Problem der

H. Lyre ()
Lehrstuhl für Theoretische Philosophie, Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
e-mail: lyre@ovgu.de
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 75
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_3
76 H. Lyre

Schwarzkörperstrahlung eine Anomalie für die klassische Physik darstellt (inso-


fern das klassische Rayleigh-Jeans-Strahlungsgesetz bei steigender Frequenz zu
einer unendlichen Energiedichte führt, bekannt als Ultraviolett-Katastrophe). Ei-
ne weitere Anomalie findet sich im Fall der Mischungsentropie gleicher Gase –
und dies führt auf das Thema des Kapitels: Sind physikalische Objekte Individuen,
d. h., besitzen sie eine sowohl zeitüberbrückende (diachrone) Identität als auch eine
(synchrone) Identität im Sinne ihrer Unterscheidbarkeit von anderen Objekten?
Man betrachte hierzu zwei mit Gas gefüllte Kammern, die durch eine Trenn-
wand separiert sind. Druck und Temperatur seien auf beiden Seiten gleich. Nach
Herausnehmen der Trennwand mischen sich die Gase, die innere Energie des
Gesamtsystems bleibt unverändert. Handelt es sich um verschiedene Gase, so ist
der Prozess irreversibel, und die Entropie, eine Maßgröße für die Anzahl der
Mikrozustände in einem gegebenen Makrozustand, steigt.1 Eine Mischung glei-
cher Gase sollte jedoch zu keinerlei Entropieanstieg führen, denn die Trennwand
kann reversibel wieder eingefügt werden. Dieses Resultat steht in Einklang mit
der makroskopischen Sichtweise der phänomenologischen Thermodynamik. Vom
mikroskopischen Standpunkt der kinetischen Gastheorie bzw. statistischen Thermo-
dynamik besteht das Gas jedoch aus Molekülen, die Entropie leitet sich nun aus
der Maxwell-Bolzmann-Statistik ab und hängt von der Anzahl der Mikrozustände
in einem Makrozustand ab. Werden zwei Gase gemischt, so ist es mikroskopisch
scheinbar irrelevant, ob es sich um Moleküle einer oder verschiedener Gassorten
handelt, denn in jedem Fall mischen sich die Moleküle ja individuell. Nach
dieser Betrachtungsweise erhält man eine Erhöhung der Mischungsentropie auch
für den Fall gleichartiger Gase auf beiden Seiten des Behälters – im Widerspruch
zum Ergebnis der phänomenologischen Thermodynamik. Hierauf hatte Josiah Wil-
lard Gibbs Ende des 19. Jahrhunderts erstmals hingewiesen, das Problem ist als
Gibbs-Paradox bekannt.
Formal lässt sich der Widerspruch zum Verschwinden bringen, wenn bei der
1
Zählung der Mikrozustände der Gibbssche Korrekturfaktor N! verwendet wird
(wobei N die Teilchenzahl bezeichnet). Offensichtlich besagt dieser Faktor, dass
die Zahl der Mikrozustände durch die Zahl ihrer Permutationen geteilt werden
muss, was bedeutet, dass aus der Zählung der Mikrozustände die Möglichkeit der
individuellen Erfassung eines Zustandes herausgerechnet wird.
Dies lässt sich anschaulich illustrieren. Betrachten wir die kombinatorisch mög-
lichen Verteilungen zweier Teilchen a und b auf zwei Zustände, etwa Zustände
verschiedener Energien, hier als Boxen dargestellt:

(1) ab
(2) ab
(3.1)
(3) a b
(4) b a

1 Diemakroskopische Charakterisierung des Zustands eines Gases ist durch die Größen Druck,
Volumen und Temperatur gegeben, eine mikroskopische Beschreibung erfordert im Prinzip die
Erfassung der Orte und Impulse aller einzelnen (individuellen) Moleküle.
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 77

Im ersten und zweiten Fall befinden sich beide Teilchen jeweils im gleichen Ener-
giezustand, im dritten und vierten Fall in unterschiedlichen Energien. Die Zählung
der Besetzungszahlmöglichkeiten hängt nun davon ab, wie man die Fälle (3) und
(4) gewichtet. Falls sich nämlich, wie durch den Gibbsschen Korrekturfaktor indi-
ziert, die Objekte a und b nur bis auf Permutation bestimmen lassen, lassen sich die
1
Fälle (3) und (4) nicht unterscheiden. Mit 2! gewichtet wird hieraus in der Zählung
nur ein Zustand. Insgesamt ergeben sich daher gegenüber den vier Möglichkeiten in
(3.1) nur noch drei mögliche Besetzungen:

(1) ••
(2) •• (3.2)
(3) • •

Die Notation • deutet an, dass die durch a und b vormals suggerierte eindeutige
Erfassung der beiden Objekte aufgegeben wurde. De facto bedeutet dies, dass
die beiden Objekte empirisch ununterscheidbar sind (jedenfalls hinsichtlich der
Zählung physikalischer Besetzungsmöglichkeiten).
Die Verwendung des Gibbsschen Korrekturfaktors erwies sich in der Folge in
allen Bereichen der statistischen Mechanik als unvermeidlich, um mit dem Expe-
riment in Einklang stehende Resultate zu erzielen. Insbesondere erwies es sich als
unerlässlich, bei der Konstruktion einer Quantenmechanik mehrerer Teilchen in den
20er Jahren des 20. Jahrhunderts ein Ununterscheidbarkeits-Postulat der folgenden
Form zugrundezulegen:
Die Anwendung einer Teilchenpermutationen auf einen Viel-Teilchen-Zustand
führt formal auf einen Zustand, der vom ursprünglichen Zustand physikalisch
ununterscheidbar ist.
Die mathematische Umsetzung dieses Postulats liegt in der Forderung der
Permutationssymmetrie quantenmechanischer Zustände, die wir in den beiden
kommenden Abschnitten betrachten.

3.1.2 Mehr-Teilchen-Tensorprodukt

In Kap. 1 wurde die Quantenmechanik eines Teilchens, oder allgemeiner: eines Ob-
jekts, betrachtet, nun fragen wir nach der Verallgemeinerung für Systeme aus belie-
big vielen Objekten. Dabei werden wir uns auf gleichartige Teilchen kaprizieren, al-
so solche, die von derselben Sorte sind wie beispielsweise mehrere Elektronen oder
Photonen oder dergleichen. Allgemein besitzt ein quantenmechanisches Objekt mit
n Eigenzuständen Zustände, die als Vektoren eines n-dimensionalen Hilbertraums
darstellbar sind. Setzt man ein n- und ein m-dimensionales Objekt zu einem größe-
ren Objekt, einem Compound-System, zusammen, so besitzt das Gesamtobjekt im
78 H. Lyre

Allgemeinen Zustände, die in einem n·m-dimensionalen Hilbertraum definiert sind.


Die Besonderheiten dieser Zusammensetzung gilt es zu verstehen.2
Betrachten wir zunächst die Zusammensetzung von Objekten in der klassi-
schen Physik. Hier ist der Zustandsraum eines Objekts durch den 6-dimensionalen
Phasenraum gegeben. Er ist isomorph zu R6 und wird von den je drei Orts- und
Impulskoordinaten aufgespannt. Der Phasenraum eines Systems bestehend aus
zwei Objekten ist entsprechend 12-dimensional und durch das direkte Produkt
R6 × R6 = R12 gegeben. Das direkte Produkt entspricht mengentheoretisch dem
kartesischen Produkt, also der Menge aller geordneten Paare: A × B = {(a, b) | a ∈
A ∧ b ∈ B}. Für endlich viele Vektorräume stimmt das direkte Produkt mit der
direkten Summe der Vektorräume überein: Rn ⊕ Rm = Rn+m . Hieraus ist ersicht-
lich, dass die Vektoren aus den einzelnen Teilräumen des Produktraums einfach
„nebeneinandergestellt“ werden, ohne dass irgendwelche Beziehungen zwischen
diesen Vektoren bestünden. Physikalisch bedeutet dies, dass die Teilsysteme ei-
nes zusammengesetzten Systems in der klassischen Physik unabhängig sind und
in keiner Weise korrelieren. Genau dies ändert sich bei der quantenmechanischen
Zusammensetzung.
In der Quantenmechanik wird die Zusammensetzung von Systemen durch das
Tensorprodukt ihrer Hilberträume beschrieben. Seien {ei } und {hj } Basissysteme
zweier n- und m-dimensionaler Hilberträume Hn und Hm , dann bezeichnet der Aus-
druck Hn ⊗ Hm das Tensorprodukt beider Vektorräume. Der Produktraum Hn·m
besitzt, anders als in der klassischen Physik, die Dimension n · m und wird von
den Basisvektoren ei ⊗ hj aufgespannt. Der springende Punkt ist, dass sich ein

allgemeiner Vektor ψ = ei ⊗ hj eines Tensorproduktraums nicht als Pro-
i,j αij 
dukt der Basisvektoren ei und hj , sondern nur als lineare Superposition schreiben
lässt. Bei der Zusammensetzung von Teilsystemen zu Gesamtsystemen via Tensor-
produkt bestehen daher Beziehungen zwischen den Zuständen der Teilsysteme, so
genannte Korrelationen, die durch die Superposition der Produktzustände der Teile
im Gesamtsystem zustande kommen. Diese besondere Eigentümlichkeit der Quan-
tenmechanik heißt Verschränkung und führt zu zahlreichen Besonderheiten, denen
sich insbesondere Kap. 4 widmen wird. Der Fokus des jetzigen Kapitels liegt auf
der Konstruktion von Viel-Teilchen-Zuständen.
Aus dem vorher Gesagten ergibt sich unmittelbar, dass sich ein n-dimensionaler
Hilbertraum als Tensorprodukt eindimensionaler Hilberträume schreiben lässt. Der
Zustandsraum von n Teilchen in der Quantenmechanik ist also das Tensorprodukt
von n Einteilchen-Hilberträumen H:


n
Hn = H1 ⊗ H2 ⊗ . . . ⊗ Hn = Hi . (3.3)
i=1

2 Die Darstellung der beiden folgenden Absätze wird in Abschn. 6.3.3 aufgegriffen und fortge-
führt. Für die Zwecke dieses Kapitels ist vor allem die Einführung des Permutationsoperators (3.4)
relevant.
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 79

Die einfachsten Basiszustände ψ ∈ Hn eines n-Teilchen-Hilbertraums lassen sich


schreiben als

ψ = ψ(1, 2, 3 . . . n) = ψ1 ⊗ ψ2 ⊗ . . . ⊗ ψn , ψi ∈ Hi .

Aufgrund des in Abschn. 3.1.1 eingeführten und heuristisch begründeten


Ununterscheidbarkeits-Postulats gilt nun, dass jede Permutation gleichartiger Teil-
chen in einem Vielteilchenzustand zu einem physikalisch ununterscheidbaren Zu-
stand führt. Bezeichnet P̂ij eine Vertauschung der Teilchen i und j, so ist der
Zustand
P̂ij ψ(1, 2, . . . i, . . . j, . . . n) = ψ(1, 2, . . . j, . . . i, . . . n) (3.4)

vom Zustand ψ(1, 2, . . . i, . . . j, . . . n) physikalisch nicht zu unterscheiden.3 Wegen


der Nicht-Kommutativität des Tensorprodukts muss der Zustand eines Vielteilchen-
systems die allgemeine Form

C(n)
(1, 2, . . . n) = √ ψ(1, 2, . . . n)
P n!

haben, wobei auf der rechten Seite die Summe über n! Permutationen zu bilden ist
(mit einem hier nicht näher zu bestimmenden und ggf. komplexen Faktor C(n), der
von der Teilchensorte abhängt).
Die Menge aller Permutationen einer geordneten Menge aus n Elementen mit
der Dimension n! wird Symmetrische Gruppe Sn oder auch Permutationsgruppe ge-
nannt. Die Invarianz eines Zustands unter der Permutationsgruppe besagt, dass jede
physikalische Observable Ô mit jedem Permutationsoperator P̂ kommutiert; keine
physikalische Messobservable kann daher zwischen einem permutierten und einem
unpermutierten Zustand unterscheiden. Formal bedeutet dies

ψ|Ô|ψ = P̂ψ|Ô|P̂ψ = ψ|P̂–1 ÔP̂|ψ bzw. [Ô, P̂] = 0. (3.5)

3.1.3 Quantenstatistik

Wie in 3.1.1 angedeutet, muss die Maxwell-Boltzmann-Statistik der klassischen


statistischen Mechanik im Übergang zur Quantenstatistik durch eine neue Statistik
ersetzt werden, die das Ununterscheidbarkeits-Postulat berücksichtigt. Es zeigt sich,
dass die Natur diese Forderung auf dem Level der Elementarteilchen auf zwei-
erlei Weisen realisiert – und zwar abhängig davon, ob die Teilchen halb- oder
ganzzahligen Spin besitzen.
Dem indischen Physiker Satyendranath Bose gelang es 1924, Plancks Formel
für die Energiedichte der Schwarzkörperstrahlung ohne Rückgriff auf die klassische

3 DerPermutationsoperator P̂ij ist selbstadjungiert und hat die spezielle Eigenheit, dass seine
Eigenwerte 1 und –1 sind (vgl., analog, Abschn. 1.2.4).
80 H. Lyre

Elektrodynamik, wie vormals Planck, sondern allein gestützt auf die Annahme
von Lichquanten mit Phasenraumvolumina h3 abzuleiten (vgl. Darrigol 1991). In
die Besetzungszahlen der Zustände ging dabei der Gibbsche Korrekturfaktor ein.
Bose bat Einstein, der die Lichtquantenhypothese 1905 aufgebracht hatte, um
Hilfestellung bei der Publikation. Einstein erkannte die Bedeutung der Arbeiten
Boses und fügte eigene Ergänzungen hinzu. Nach Schrödingers Wellenmechanik
von 1926 wurde die Allgemeinheit der Bose-Einstein-Statistik für Vielteilchen-
Wellenfunktionen erkannt, die Teilchen mit ganzzahligem Spin beschreiben. Formal
liegt der Bose-Einstein-Statistik das Ununterscheidbarkeits-Postulat zugrunde, was
auf die Permutationsinvarianz bosonischer Zustände unter der Transformation (3.4)
führt.
Da nicht ψ, sondern |ψ|2 mit observablen Größen verknüpft ist, liegt die
Wellenfunktion nur bis auf einen Phasenfaktor fest. Ferner gilt für den Permuta-
tionsoperator P̂2ij = 1, er besitzt also die Eigenwerte ±1 (siehe Fußnote 3). Neben
(3.4) lässt dies daher auch die Möglichkeit zu, dass eine Permutation im Gegensatz
zu (3.4) auf einen Vorzeichenwechsel führt und antisymmetrisch ist:

P̂ij ψ(1, 2, . . . i, . . . j, . . . n) = –ψ(1, 2, . . . j, . . . i, . . . n). (3.6)

Wiederum zeigt sich empirisch, dass antisymmetrische Wellenfunktionen mit einer


bestimmten Sorte von Teilchen verknüpft sind, nämlich solchen, die halbzahligen
Spin besitzen. Wolfgang Pauli hatte 1925 zur quantentheoretischen Erklärung des
Aufbaus der Atome bereits die Forderung aufgestellt, dass keine zwei Elektronen
in einem Atom in allen vier Quantenzahlen, die der Zustandsbeschreibung eines
Elektrons im Orbital dienen, übereinstimmen dürfen. Dieses so genannte Paulische
Ausschließungsprinzip führt im Zusammenspiel mit dem Ununterscheidbarkeits-
Postulat zu der Forderung, dass die Mehrelektronen-Wellenfunktion gemäß (3.6)
antisymmetrisch unter der Vertauschung zweier Elektronen ist.
Die Verallgemeinerung dieser Forderung für beliebige Teilchen mit halbzah-
ligem Spin, also Fermionen, führt zur Fermi-Dirac-Statistik. Anschaulich besagt
die Fermi-Dirac-Statistik, dass etwa im Falle eines Systems zweier gleicharti-
ger Teilchen nur die dritte Zustandsmöglichkeit in (3.2) erlaubt ist, wobei die
Wellenfunktion antisymmetrisch zu schreiben ist:

1
A = √ ψa ψb – ψb ψa . (3.7)
2
Demgegenüber gestattet Bose-Einstein alle drei Möglichkeiten in Form symmetri-
sierter Wellenfunktionen
(1)
S = ψa ψa , (3.8)
(2) 1
S = √ ψa ψb + ψb ψa , (3.9)
2
(3)
S = ψb ψb . (3.10)
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 81

Bose-Einstein- und Fermi-Dirac-Statistik stellen die beiden gesuchten neu-


en Quantenstatistiken zur Berechnung der Besetzungszahlen quantenmechanischer
Systeme dar, die die klassische Maxwell-Boltzmann-Statistik ablösen. Hierzu zwei
ergänzende Anmerkungen. Erstens, die Forderung, dass die Vertauschung zweier
Teilchen in einer Mehrteilchen-Wellenfunktion entweder symmetrisch (3.4) oder
antisymmetrisch (3.6) zu erfolgen hat, besagt nicht, dass sämtliche möglichen
Zwei-Teilchen-Transpositionen in einem Mehrteilchen-Zustand entweder nur sym-
metrisch oder nur antisymmetrisch zu erfolgen haben. Rein formal lassen sich auch
gemischt-symmetrische Permutationen betrachten, also solche, die einige Teilchen
symmetrisch, andere antisymmetrisch transformieren. Dies führt auf so genann-
te Para-Statistiken (vgl. Messiah und Greenberg 1964). Bislang zeigt sich jedoch
empirisch, dass solcherart gemischt-symmetrische Darstellungen der Permuta-
tionsgruppe in der Natur nicht realisiert sind. Die Möglichkeit para-statistischer
Zustände soll hier daher nicht weiter verfolgt werden, eine Mehrteilchen-
Wellenfunktion ist entweder total symmetrisiert oder total antisymmetrisiert zu
schreiben.
Zweitens zeigt sich – ebenfalls rein empirisch –, dass nach (3.4) symmetrisierte
Zustandsfunktionen Teilchen mit ganzzahligem Spin, also Bosonen, und nach (3.6)
antisymmetrisierte Funktionen Teilchen mit halbzahligem Spin, also Fermionen,
beschreiben. Eine tieferliegende, theoretische Begründung für den Zusammenhang
zwischen Spinzahl und Statistik wurde erst Ende der 30er Jahre durch Fierz und
Pauli in Form des Spin-Statistik-Theorems gegeben (und seither in unterschiedli-
chen Formen von verschiedenen Autoren). Die Beweise beruhen typischerweise auf
sehr allgemeinen Annahmen der relativistischen Quantenfeldtheorie wie Lokalität
und positiver Definitheit der Energie, die den gegebenen Kontext übersteigen (siehe
Kap. 6).
Die empirische Relevanz der Fermi- und der Bose-Statistik zeigt sich hand-
fest in Teilchen-Streuexperimenten, wie Feynman in seinen berühmten Lectures
sehr anschaulich ausführt (Feynman et al. 1964, Kap. 4). Zunächst zwei empirisch
unterscheidbare Teilchen a und b. Teilchen a streut in Richtung 1 mit Amplitu-
de a1 = a|1 und Teilchen b in Richtung 2 mit Amplitude b2 = b|2. Die
Wahrscheinlichkeit für die gemeinsame Doppelstreuung ist das Produkt der Einzel-
wahrscheinlichkeiten |a1 |2 |b2 |2 . Falls umgekehrt a in Richtung 2 und b in Richtung
1 streut, erhält man |a2 |2 |b1 |2 , und für die Gesamtwahrscheinlichkeit

P = |a1 |2 |b2 |2 + |a2 |2 |b1 |2 .

Nun sei angenommen, die Richtungen 1 und 2 näherten sich einander an, dann
reduziert sich der obige Ausdruck mit a = a1 = a2 und b = b1 = b2 auf

P = 2|a|2 |b|2 .

Falls a und b nun ununterscheidbare Bosonen sind, lässt sich zwischen dem Doppel-
streuprozess a in Richtung 1 und b in Richtung 2 sowie dem Austauschprozess a
82 H. Lyre

in Richtung 2 und b in Richtung 1 empirisch nicht unterscheiden, und man erhält


(gemäß der Regel „sum before you square“)

Pb = |a1 b2 + a2 b1 |2 = 4|a|2 |b|2 ,

also eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit wie im Falle unterscheidbarer Teil-


chen. Für Fermionen muss andererseits die totale Übergangsamplitude als antisym-
metrisiert angesetzt werden,
a1 b2 – a2 b1 ,
so dass im Falle angeglichener Richtungen 1 und 2

Pf = 0

folgt. Es ist unmöglich, zwei ununterscheidbare Fermionen im gleichen Streu-


Endzustand zu erhalten.
Eine weitere bemerkenswerte Konsequenz der Fermi-Dirac-Statistik ist, dass
man aus dem Ausschließungsprinzip für ein Fermionen-Gas bei hoher Dichte den
sogenannten Fermi- oder Entartungsdruck ableiten kann. In einem Weißen Zwerg
wirkt dieser Fermi-Druck einer weiteren Kompression durch die Gravitation ent-
gegen und stabilisiert auf diese Weise den Stern. Mindestens zwei interessante
physik-philosophische Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang, die hier aber
nur genannt und nicht beantwortet werden können. Nämlich erstens: In welcher
Weise ist der Fermi-Druck wirklich ein Druck? Schließlich hat er seine Grundlage
in einer Symmetrie-Forderung, nicht in der Existenz einer expliziten Wechselwir-
kung (wie beispielsweise der Gravitationsdruck). Und zweitens: Inwieweit könnte
dies bereits auf einen ontologischen Unterschied von Fermionen und Bosonen
hindeuten?

3.1.4 Symmetrische Gruppe

Der jetzige Abschnitt richtet sich an mathematisch Interessierte und kann beim
ersten Lesen übersprungen werden. Es geht vornehmlich darum, die bisherigen
Überlegungen gruppentheoretisch zu charakterisieren.
Das Ununterscheidbarkeits-Postulat wirkt als Superauswahlregel auf dem Raum
(3.3) der Zustände gleichartiger Objekte. Es besagt, dass Hn in Teilräume oder
Sektoren zerfällt, die den Darstellungen der Permutationsgruppe entsprechen. Im
Zusammenspiel mit den beiden vorgängigen, empirischen Bemerkungen führt
das Ununterscheidbarkeits-Postulat auf folgendes Symmetrisierungspostulat (vgl.
Messiah 1979, Kap. 14):

Der Zustandsraum (3.3) der Quantentheorie n gleichartiger Objekte zerfällt in den


Unterraum aller vollständig symmetrischen, bosonischen und den aller vollständig anti-
symmetrischen, fermionischen Zustandsfunktionen.
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 83

Kompakte Erläuterungen zu Gruppendarstellungen und Auswahlregeln finden sich


in der grauen Box auf Seite, hier sei ein einfaches Beispiel betrachtet: Da
ein Quantenobjekt mit nur zwei Zuständen einer irreduziblen Darstellung der
SU(2) entspricht, spannen die Zustände (3.7) und (3.8)–(3.10) die Unterräume des
Tensorprodukts zweier irreduzibler SU(2)-Darstellungen auf. Man sieht daran, dass
der Tensorproduktraum in einen eindimensionalen und einen dreidimensionalen,
irreduziblen Unterraum zerfällt. Oder anders gesagt: Das Tensorprodukt zweier fun-
damentaler SU(2)-Darstellungen wird zerlegt in die direkte Summe eines Singuletts
und eines Tripletts, schematisch notierbar als

(2) ⊗ (2) = (1) ⊕ (3).

Nun interessieren wir uns hier für die Darstellungen der Sn , diese hängen jedoch
mit der SU(n) zusammen. Während (3.7) eine eindimensionale (antisymmetrische)
Darstellung der S2 bildet, spannen (3.8)–(3.10) einen dreidimensionalen (symme-
trischen) Darstellungsraum auf. Letzterer ist reduzibel, denn jeder der Zustände
(3.8)–(3.10) entspricht einer irreduziblen eindimensionalen Darstellung. Allgemein
gilt, dass sämtliche total symmetrischen und total antisymmetrischen irreduziblen
Darstellungen der Sn eindimensional sind (in unserem Beispiel führt die Anwen-
dung des Permutationsoperators auf jeden der Zustände (3.7)–(3.10) nicht aus dem
eindimensionalen Strahl cψ, wobei ψ einer der Zustände (3.7)–(3.10) ist, heraus).
Demgegenüber sind die irreduziblen gemischt-symmetrischen Darstellungen, die
ab S3 auftreten, höherdimensional. So zerlegt die S3 den Zustandsraum H 3 dreier
Teilchen irreduzibel in je eine total symmetrische und eine total antisymmetrische
sowie zwei zweidimensionale gemischt-symmetrische Darstellungen, also Dubletts
(die wir hier nicht betrachten).4
Was sich hier am Beispiel des Zusammenhangs von S2 und SU(2) andeutet,
gilt allgemein: Die Multiplizität einer irreduziblen Darstellung der Sn ist gleich
der Dimension der irreduziblen Darstellung der SU(n) und umgekehrt.5 Die Dar-
stellungen von Sn und SU(n) lassen sich graphisch elegant durch die so genannten
Young-Schemata (auch Young-Tableaux) illustrieren, was hier leider nicht ausge-
führt werden kann (siehe hierzu Messiah 1979, Anhang D.4, sowie bereits Weyl
1928, Kap. V, § 13).

4 Vergleiche Übungsaufgabe 1.
5 Einige zusätzliche Beispiele ohne weiteren Kommentar: Das Tensorprodukt dreier fundamen-
taler SU(2)-Dubletts zerfällt in ein Dublett und ein Quartett: (2) ⊗ (2) ⊗ (2) = (2) ⊕ (4).
Das Tensorprodukt zweier fundamentaler SU(3)-Tripletts zerfällt in ein Triplett und ein Sextett:
(3) ⊗ (3) = (3) ⊕ (6). Und für das Tensorprodukt dreier fundamentaler SU(3)-Tripletts erhält
man: (3) ⊗ (3) ⊗ (3) = (1) ⊕ (8) ⊕ (8) ⊕ (10). Entsprechend besitzt die S3 1 eindimensionale anti-
symmetrische, 8 zweidimensionale gemischt-symmetrische und 10 eindimensionale symmetrische
irreduzible Darstellungen.
84 H. Lyre

Gruppendarstellungen und Auswahlregeln


Unter der Vektorraum-Darstellung einer Gruppe G versteht man eine
homomorphe Abbildung von G in eine Automorphismengruppe nicht-
singulärer Operatoren auf einem Vektorraum V. Unter der Gruppenwirkung
zerfällt V in invariante Unterräume (Sektoren), was anschaulich bedeutet, dass
die Anwendung der Gruppenoperatoren auf Zustände, die den Darstellungs-
raum aufspannen, nicht aus diesem Raum herausführt, dass also die Zustände
nur unter sich selbst transformieren. Es sind daher keine Zustandsübergän-
ge von einem Sektor in einen anderen möglich. Die Darstellung bzw. der
Darstellungsraum heißt irreduzibel, falls keine weiteren, unter der Gruppen-
wirkung invarianten Unterräume existieren (mit Ausnahme des Nullvektors
und V selbst als trivialen Unterräumen).
Ist der Darstellungsraum entartet, spricht man von einem Multiplett. Ein
Zustand heißt entartet, falls zu einem Eigenwert des Hamilton-Operators
mehrere Eigenfunktionen gehören. Ein Multiplett ist also ein Satz von ent-
arteten Zuständen mit dem gleichen Energieeigenwert, der Entartungsgrad
entspricht der Dimension der Darstellung. Der Hamilton-Operator ist da-
bei invariant unter der Gruppe, kommutiert also mit allen Gruppenopera-
toren. Für die Permutationsgruppe haben wir dies schon am Ende von 3.1.2
gesehen.
Auswahlregeln geben Auskunft darüber, ob bestimmte Übergänge zwi-
schen den Zuständen erlaubt sind oder nicht. Verbotene Übergänge entspre-
chen verschwindenden Übergangswahrscheinlichkeiten für die entsprechen-
den Störoperatoren Â:

ψ|Â|φ = φ|Â|ψ = 0.

Eine Einschränkung der Zustandsübergänge kann dadurch entstehen, dass


der Zustandsraum gewissen Symmetrien genügt und damit Erhaltungsgrö-
ßen kennzeichnet. So induzieren Drehimpuls- und Spinerhaltung der Atome
die verschiedenen Auswahlregeln zur Berechnung der Spektrallinien in der
Atomphysik. Auswahlregeln charakterisieren somit auch die Zerlegung des
Hilbertraums in inkohärente Sektoren, deren Zustände nicht superponierbar
sind. Falls die Regeln sich nicht nur auf bestimmte Operatoren, sondern
auf alle Messobservablen  beziehen, spricht man von Superauswahlregeln.
Superauswahlregeln kennzeichnen streng erhaltene Quantenzahlen – im Falle
der Permutationssymmetrie die Bosonen- und die Fermionenzahl. Im Rahmen
der Supersymmetrie werden diese Quantenzahlen aufgegeben und stattdessen
Übergänge zwischen Bosonen und Fermionen postuliert. Hierbei handelt es
sich bislang jedoch nur um eine hypothetische Symmetrie.
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 85

3.2 Ontologie der Quantentheorie

In 3.1 wurde auf die Konsequenzen des empirischen Faktums der physikalischen
Ununterscheidbarkeit von Teilchen oder Objekten im formalen Apparat der Quan-
tentheorie eingegangen. Nun sollen die Implikationen dieses Faktums in Hinblick
auf Ontologie (oder auch zeitgenössische Metaphysik) diskutiert werden. Als
Ontologie bezeichnet man diejenige Teildisziplin der Philosophie, die nach dem
Sein und den Seinsformen fragt, also danach, was existiert, und den Arten und
Weisen, wie es existiert.6

3.2.1 Identität und Leibniz-Prinzip

Identität und Individualität


Im Zentrum der Ontologie stehen Fragen nach Identität und Individualität7 , nicht
wenige Philosophen koppeln die Möglichkeit einer Ontologie sogar vollständig an
die Frage der Identität bzw. daran, wie sich Entitäten individuieren lassen. Notorisch
ist in diesem Zusammenhang Willard van Orman Quines bekanntes Diktum „No
entity without identity“ (Quine 1969, S. 23).
Vorab ein paar Bemerkungen zur Terminologie: Als Entität bezeichnet man in
der Philosophie jedwede Seinsform, ob konkret oder abstrakt.8 Physikern geht es
häufig darum, physikalische Systeme zu beschreiben. Der Ausdruck System wird
dabei meist so verwendet, dass ein System auch aus Teilsystemen bestehen kann.
Elementare, nicht weiter zerlegbare Systeme sind zum Beispiel Elementarteilchen.
Will man sich nicht von vornherein auf eine Teilchenontologie festlegen, lässt sich
allgemeiner von physikalischen Objekten sprechen. Die Frage dieses Kapitels lau-
tet in voller Allgemeinheit, was die numerische Distinktheit von Quantenobjekten
ausmacht und wie sie sich individuieren lassen.
Zu beachten ist auch der Gebrauch des Begriffs Identität. In Physikbüchern ist
gelegentlich von identischen Teilchen anstelle von ununterscheidbaren Teilchen die
Rede. Eine solche Redeweise ist verwirrend, denn wenn mehrere Teilchen identisch
sind, sind es ja eben nicht mehrere, sondern ein Teilchen. David Lewis bringt dies
in unnachahmlicher Weise auf den Punkt:

6 Siehe Loux (1998) als empfehlenswerte Einführung in die moderne Ontologie, Castellani
(1998) als nützliche Textsammlung und insbesondere French und Krause (2006) als umfassende
Darstellung der nachfolgend behandelten Fragen der Quanten-Ontologie).
7 Beide Begriffe werden hier weitestgehend synonym gebraucht (Vorsicht ist allerdings geboten bei

den Zitaten in Abschn. 3.2.2).


8 Als Konkreta oder Partikularia bezeichnet man Entitäten mit raumzeitlicher Lokalisierung,

worunter insbesondere sämtliche Alltagsgegenstände und sonstige physikalische Dinge fallen.


Abstrakta existieren demgegenüber nicht in Raum und Zeit und sind typischerweise kausal in-
ert. Zu den Standardbeispielen gehören Mengen, Zahlen, Propositionen, mögliche Welten oder
abstrakte Konzepte wie Liebe, Gott oder das Gute. Aber auch Eigenschaften, soweit sie als Uni-
versalia konzipiert sind, sind abstrakt. Ihnen kommt aber die Möglichkeit zu, an Raumzeit-Stellen
realisiert (oder „ instantiiert“) zu sein.
86 H. Lyre

Identity is utterly simple and unproblematic. Everything is identical to itself; nothing is


ever identical to anything else except itself. There is never any problem about what makes
something identical to itself; nothing can ever fail to be. And there is never any problem
about what makes two things identical; two things never can be identical. (Lewis 1986,
S. 192–193)

Uns geht es in diesem Sinne um die Frage empirisch ununterscheidbarer Objekte


und der damit zusammenhängenden Konzeption der Objekt-Identität – die Re-
de von gleichartigen Objekten ist daher zutreffender, wenn auch leider weniger
gebräuchlich.
Es bieten sich drei Arten der Individuation physikalischer Objekte an, nämlich
durch

1. Mengen von Eigenschaften,


2. raumzeitliche Lokalisation bzw. Raumzeit-Trajektorien,
3. primitive (irreduzible) metaphysische Identität.

Betrachten wir zwei Teilchen a und b mit Raumzeit-Trajektorien γa und γb in einem


gegebenen Raumvolumen. Falls die Teilchen von unterschiedlichen Sorten, also
ungleichartig sind, gibt es wenigstens eine Eigenschaft, hinsichtlich derer sie sich
unterscheiden.9 Um Schwierigkeiten mit zusammengesetzten und aus elementare-
ren Eigenschaften abgeleiteten Eigenschaften zu vermeiden, können wir uns hier
auf die fundamentalen Eigenschaften von Elementarteilchen, also Ruhemasse,
Ladung und Spin, kaprizieren. Die Unterscheidung eines, sagen wir, Elektrons
von einem Photon bereitet aufgrund verschiedener Fundamentaleigenschaften keine
Schwierigkeiten, dies wäre ein Beispiel für Individuation im Sinne von (1).
Was aber, wenn a und b gleichartig, also zum Beispiel zwei Elektronen, sind?
In dem Fall könnten wir versuchen, die raumzeitliche Lokalisation zur synchronen
Unterscheidung heranzuziehen. Die Individuation im Sinne von (2) besagt, dass die
Raumzeit-Trajektorie der diachronen Identitätsstiftung dient. Schopenhauer sprach
im Anschluss an Kant vom Raum als principium individuationis. Doch schon Kant
bemerkte, dass die raumzeitliche Individuation einer weiteren Annahme bedarf,
nämlich der Undurchdringbarkeit der betrachteten Objekte.10

9 Eigenschaften seien hier zunächst als im Prinzip empirisch erfassbar verstanden (wenn auch nicht
unbedingt direkt beobachtbar). In einer empirischen Wissenschaft wie der Physik scheint es vorder-
gründig immer um derartige Eigenschaften zu gehen, in der Metaphysik lassen sich Eigenschaften
jedoch auch jenseits ihrer Empirizität noch grundlegender unterscheiden, wie etwa die Unterschei-
dung zwischen Eigenschaften als Universalien und als Tropen andeutet – hierauf wird weiter unten
eingegangen. Zunächst seien Eigenschaften im Sinne der Physik aber als an Raumzeitpunkten in-
stantiierte Universalia, also in re verstanden. Zur Erläuterung: Da Universalia, wie in Fußnote 8
hervorgehoben, Abstrakta sind, lassen sich im Prinzip auch nicht-instantiierte Eigenschaften, so
genannte Universalia ante rem, betrachten. Die Eigenschaft, ein Einhorn zu sein, wäre ein Beispiel
dafür. Strenge Universalienrealisten nehmen derartige Eigenschaften (aus Gründen, die wir hier
nicht diskutieren können), in ihre Ontologie auf. Von diesen Möglichkeiten sei hier abgesehen.
10 In den Vorlesungen über die Metaphysik (herausgegeben von Pölitz 1821) schreibt Kant über den

Raum als Individuationsprinzip: „Die Gegenstände im Raum sind darum schon plura, weil sie im
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 87

Nehmen wir an, die Objekte a und b könnten einander vollständig durchdringen,
so dass sie fortan dieselbe Raumzeitstelle oder, bei ausgedehnten Objekten, Raum-
zeitregion einnehmen (vgl. auch Della Rocca 2005). Nennen wir die an dieser Stelle
oder Region befindliche Entität X. Welche Berechtigung hätten wir dann, von X zu
sagen, es handele sich um zwei Objekte im Gegensatz zu einem – oder auch tau-
send – Objekten? Falls wir ausschließlich im Sinne von (2) individuieren, müssten
wir strenggenommen sagen, a und b verlieren ab dem Moment der vollständigen
Durchdringung ihre Identität, statt dessen entsteht das neue Objekt X. Wir könn-
ten dem nur entgehen, falls wir zusätzlich zu (2) die Impenetrabilität der Objekte
fordern. Dass ferner auch die Topologie der Raumzeit oder konventionalistische
Elemente bezüglich der Begründung der physikalischen Topologie und Geometrie
eine Rolle spielen, wird am Ende des nächsten Abschnitts ausgeführt.

Das Leibniz-Prinzip
Man könnte einwenden, dass Orte und Abstände, also Lokalisation im Raum,
zu den Eigenschaften der Objekte hinzuzählen. Individuation im Sinne von (2)
reduziert sich dann auf Individuation im Sinne von (1). Wir wollen daher die
Idee, Identität durch Eigenschaftsgleichheit festzulegen, näher verfolgen. Diese
Idee liegt Gottfried Wilhelm Leibniz’ bekanntem Prinzip der Identität des Un-
unterscheidbaren zugrunde (gängigerweise abgekürzt als PII: Principium identitatis
indiscernibilium)11 :

Raume sind“ (PM 66). Die dann folgende Betrachtung zweier Wassertropfen findet sich auch im
Anhang zur „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ der Kritik der reinen Vernunft (A 1781/B 1787):

. . . ist doch die Verschiedenheit der Örter [. . .] zu gleicher Zeit ein genugsamer Grund der
numerischen Verschiedenheit des Gegenstandes (der Sinne) selbst. So kann man bei zwei
Tropfen Wasser von aller innern Verschiedenheit (der Qualität und Quantität) völlig abstra-
hiren, und es ist genug, daß sie in verschiedenen Örtern zugleich angeschaut werden, um
sie für numerisch verschieden zu halten. (A263/B319)

Kants Position lässt sich im Detail nur vor dem Hintergrund seiner Transzendentalphilosophie
verstehen, auf die hier nicht eingegangen werden kann und nach der sich die Physik nicht auf
die Dinge an sich bezieht, sondern nur darauf, wie die Dinge uns unter Maßgabe der Anschau-
ungsformen von Raum und Zeit und der Verstandeskategorien erscheinen. Zur Impenetrabilität
findet sich in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786 der Lehrsatz
3 im zweiten Teil zur Dynamik: „Die Materie kann ins Unendliche zusammengedrückt, aber nie-
mals von einer Materie, wie groß auch die drückende Kraft derselben sei, durchdrungen werden“
(AA IV:501).
11 In den Primae veritates schreibt Leibniz: „ Sequitur etiam hinc non dari posse duas res singulares

solo numero differentes“ (es folgt sogar, dass es keine zwei Einzeldinge geben kann, die sich
lediglich numerisch unterscheiden). Die Fortführung des Zitats zeigt zugleich, dass Leibniz das PII
als Folge eines von ihm als noch grundlegender angesehenen Prinzips angesehen hat, des Prinzips
vom zureichenden Grunde: „utique enim oportet rationem reddi posse cur sint diversae, quae ex
aliqua in ipsis differentia petenda est“ (denn es muss möglich sein, einen Grund anzugeben, warum
sie verschieden sind, was in irgendeinem Unterschiede in ihnen aufgesucht werden muss). Die
Bedeutung des PII illustrierte Leibniz nach eigenem Bekunden ganz anschaulich den Damen am
Schloss Herrenhausen, indem er sie aufforderte, zwei gleiche Blätter zu finden, was ihnen nicht
88 H. Lyre

Für alle Objekte x, y gilt: Wenn, für alle Eigenschaften F, x F dann und nur dann hat, wenn
y F hat, dann ist x mit y identisch.

In formaler Notation lautet das PII:

∀x, y: (∀F: Fx ↔ Fy) ⇒ (x = y). (3.11)

Leibniz hatte sein Prinzip so verstanden, dass es sich bei den Eigenschaften, über
die quantifiziert wird, um monadische und intrinsische Eigenschaften handelt. Eine
Eigenschaft ist intrinsisch, falls sie einem Objekt unabhängig von der Existenz ande-
rer Objekte und Eigenschaften zukommt, andernfalls ist sie extrinsisch. Generische
Kandidaten, wenn auch keineswegs unkontrovers, für intrinsische Eigenschaften
sind Masse, Ladung und Spin bei Elementarteilchen. Extrinsische oder relationale
Eigenschaften, kurz: Relationen, hängen von mehreren Entitäten ab und sind
insofern mehrstellig. Die Relationen „ größer als“ oder „Bruder von“ sind para-
digmatische Beispiele für zweistellige Relationen, „ liegt zwischen“ ist dreistellig.
Monadische Eigenschaften sind demgegenüber einstellig.
Im Lichte des obigen Lewis-Zitats besitzt unsere Formulierung des PII den
Klang des Paradoxen, da zunächst von zwei Objekten x und y ausgegangen wird,
die dann als identisch behauptet werden. Um dies zu vermeiden, sollte das PII eher
in Form der logisch äquivalenten, kontrapositiven Formulierung der Ungleichheit
des Verschiedenen ausgedrückt werden:

Die Objekte x und y sind verschieden, falls x wenigstens eine Eigenschaft besitzt, die y
nicht besitzt oder umgekehrt.

Oder einfacher: Keine zwei Objekte teilen alle Eigenschaften, formal:

∃/x, y: (x =/ y) ∧ (∀F: Fx ↔ Fy), (3.12)

was mit (3.11) äquivalent ist.12


Die Frage stellt sich, inwieweit das PII eine unmittelbar evidente und gegebe-
nenfalls a priori einsichtige metaphysische Forderung darstellt. Es ist hierzu instruk-
tiv, sich die logische Umkehrung des PII, das Prinzip der Ununterscheidbarkeit des
Identischen, vor Augen zu führen: ∀x, y: (x = y) ⇒ (∀F: Fx ↔ Fy) bzw.

∀x, y: (∀F: Fx↔Fy)


/ ⇒ (x =/ y). (3.13)

gelang (vgl. C. I. Gerhardt (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften. 7 Bände,
Berlin 1875–1890. Nachdruck: Olms, Hildesheim, 1960, 214).
12 Dies zeigt man wie folgt:

¬∃x, y: ¬(x = y) ∧ (∀F: Fx ↔ Fy)


 
⇐⇒ ∀x, y: ¬ ¬(x = y) ∧ (∀F: Fx ↔ Fy)
⇐⇒ ∀x, y: (x = y) ∨ ¬(∀F: Fx ↔ Fy)
⇐⇒ ∀x, y: (∀F: Fx ↔ Fy) ⇒ (x = y)
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 89

In Worten: Unterscheidbare Dinge können nie identisch sein. Diese Forderung


scheint in der Tat evident. Man kann sich schwerlich mögliche Welten vorstellen
oder konstruieren, die dieses Prinzip verletzen.13 Es handelt sich um einen guten
Kandidaten für ein in allen metaphysisch möglischen Welten gültiges Prinzip.
Für das PII scheint dies jedoch nicht zu gelten, denn es ist ohne Weiteres mög-
lich, Welten anzugeben, in denen das PII verletzt ist. Eine solche Welt, also ein
Gegenbeispiel zu PII, hat Max Black anhand eines bekannten Szenarios diskutiert
(das der Sache nach eine erweiterte Neuauflage von Kants Wassertropfen in Fußnote
10 darstellt). In Blacks eigenen Worten:

Isn’t it logically possible that the universe should have contained nothing but two exactly
similar spheres? We might suppose that each was made of chemically pure iron, had a
diameter of one mile, that they had the same temperature, color, and so on, and that nothing
else existed. Then every quality and relational characteristic of the one would also be a
property of the other. (Black 1952, S. 156)

Blacks Szenario geht von der Voraussetzung aus, dass die Raumzeitstelle nicht zur
Individuation der beiden Kugeln herangezogen werden kann. Eine solche Voraus-
setzung ist beispielsweise in einer Welt erfüllt, in der der Raum relational ist. Ein
Relationalismus des Raumes besagt, dass der Raum nichts als die Menge möglicher
Körperrelationen ist, und dass daher ein leerer Raum unmöglich ist. Dem steht eine
substantialistische Raum-Ontologie gegenüber, die den Raum oder dessen Konsti-
tuenten als Entitäten sui generis ansieht. Während in einem relationalen Raum Orte
und Abstände lediglich relationale Eigenschaften der in ihm befindlichen Objekte
darstellen, besitzt ein Raumpunkt in einem substantialistisch verstandenen Raum
seinen Ort intrinsisch; im Prinzip existiert daher auch ein absolutes Bezugssystem
im Raum.14
Wie am Ende des vorigen Abschnitts schon angedeutet, berührt sich noch ein
weiteres Themenfeld der Philosophie der Raumzeit-Theorien mit unserer Thema-
tik: der Raumzeit-Konventionalismus. Hierunter wird die These verstanden, dass
die Geometrie (und gegebenenfalls auch die Topologie) der physikalischen Welt
für sich genommen kein empirisches Faktum ist, sondern lediglich die Konjunktion
aus Raumzeit-Geometrie und der Gesamtheit der physikalischen Gesetze. Um die
Geometrie der Raumzeit empirisch zu bestimmen, benötigt man vorgängig konven-
tionelle Annahmen über das Verhalten von Maßstäben und Uhren bei Transport.
Dabei kann eine gegebene Konvention (etwa die Annahme, dass Maßstäbe bei

13 David Lewis vertritt in seinem modalen Realismus bezüglich möglicher Welten die Auffassung,

dass es in anderen möglichen Welten Gegenstücke (counterparts) zu in der aktualen Welt befind-
lichen Entitäten gibt (etwa auch zu jedem Leser dieser Zeilen), nicht aber, wie beispielsweise
Plantinga, dass Transwelt-Identität möglich ist, dass also eine Person in dieser Welt identisch ist
mit Personen in anderen möglichen Welten (von denen wir reden, wenn wir Dinge sagen wie: „ich
wäre beinahe getroffen worden, konnte aber rechtzeitig zur Seite springen“). Counterparts hängen
über die Beziehung der Ähnlichkeit miteinander zusammen, sie können einander beliebig ähnlich,
nicht aber identisch sein. Vertreter der Transwelt-Identität verletzen demgegenüber, so Lewis, das
Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen (vgl. Lewis 1986, 198ff; Loux 1998, 166ff).
14 Zur Einführung in die Philosophie der Raumzeit-Theorien vgl. Lyre (2007).
90 H. Lyre

Transport starr und von invarianter Länge sind) im Prinzip durch jede andere er-
setzt werden, solange entsprechende Adjustierungen an anderer Stelle (etwa in der
Optik und Elektrodynamik bezüglich des Gangs von Lichtstrahlen) vorgenommen
werden. Insofern ist die Raumzeit-Geometrie für sich genommen empirisch unter-
bestimmt und nur die Summe aus Geometrie und Naturgesetzen Gegenstand der
empirischen Prüfung.
Hacking (1975) weist nun darauf hin, dass sich durch geeignete Wahl der
raumzeitlichen Struktur das PII gegen Kants Wassertropfen und Blacks Kugeln
verteidigen lässt. Blacks Welt lässt eigentlich nur folgende Beschreibung zu: Ge-
geben ist eine Kugel mit intrinsischen Eigenschaften Q, von der aus eine Kugel mit
Eigenschaften Q nach z Kugeldurchmessern entlang einer geraden Linie erreich-
bar ist. Dies Szenario lässt sich nun entweder beschreiben durch eine Welt, die zwei
Kugeln im euklidischen Raum enthält, oder aber eine Welt, die eine Kugel enthält in
einem zylindrischen Raum mit Zylinderumfang z (vgl. Adams 1979, S. 15). Blacks
Szenario zweier Kugeln lässt sich also konventionalistisch umdeuten in ein Szenario
mit nur einer einzigen, leibniz-individuierten Kugel. Hacking behauptet, dass sich
jeder Einwand gegen das PII konventionalistisch umdeuten lässt, so dass das PII
erfüllt ist.
Für das Folgende sei von konventionalistischen Vorbehaltsklauseln abgesehen
(siehe French 1975 für eine explizite Kritik an Hacking). Blacks Gedankenexperi-
ment unterminiert dann das PII als metaphysisches Grundprinzip zur Definition von
Identität. Man mag einräumen, dass es sich hierbei nur um eine denkbare, nicht
aber um die aktuale Welt handelt. Doch selbst wenn es wahr wäre, dass sich in un-
ser aktualen Welt keine Dinge finden lassen, die alle intrinsischen Eigenschaften
teilen (was gerade der springende Punkt des Ununterscheidbarkeits-Postulats der
Quantentheorie ist, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden), so bedroht be-
reits die bloße Vorstellbarkeit eines solchen Szenarios den Anspruch auf das PII als
metaphysisches Grundprinzip. Eine Welt, in der ein metaphysisches Grundprinzip
verletzt ist, sollte gar nicht widerspruchsfrei denkbar sein, sollte also keine logisch
mögliche Welt sein. Blacks Kugeln sind aber sehr wohl denkbar und konstituieren
somit einwandfrei eine logisch mögliche Welt.

Bündelontologie, Tropenontologie und Haecceitismus


Doch nicht nur das Leibnizsche PII, sondern mit ihm ein ganzer, prominenter Ent-
wurf einer Objektontologie steht auf dem Spiel die Bündelontologie scheint auf das
PII festgelegt zu sein zufolge sind Objekte nichts als Bündel von Eigenschaften.
Zur Individuation eines Objekts als Eigenschaftsbündel steht dem Vertreter dieser
Position lediglich ein Rückgriff auf eben diese Eigenschaften zur Verfügung. Dabei
sollte ausgeschlossen werden, dass der Bündelontologe über Eigenschafen wie „a ist
mit sich selbst identisch“ quantifiziert, denn hier ist das Beweisziel der Individuation
via PII schon in die Eigenschaftsdefinition eingeflossen.
Nun sind wir bisher von Eigenschaften als Universalien ausgegangen. Wie in
Fußnote 9 vermerkt, ist dies aber nicht zwingend. Eine prominente Gegenposition
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 91

entwirft Eigenschaften als partikularisiert und individuiert, in der Ontologie hat


sich hierfür die Bezeichnung Tropen etabliert (im Singular: die Trope). Die Ver-
treter einer Tropenontologie versuchen mit ihrer Position einem Charakteristikum
von Eigenschafts-Universalien zu entgehen, das insbesondere von Nominalisten als
obskur angesehen wird: nämlich deren Abstraktheit bzw., im Falle instantiierter
Universalien, deren multipler Lokalisiertheit. Doch Tropen sind nicht nur partikular,
sondern auch numerisch distinkt, also im ontologisch primitiven Sinne bereits indi-
viduiert. Tropen sind Eigenschaftsindividuen. Demnach hat kein Elektron dieselbe
Ladungstrope wie ein anderes Elektron, sondern lediglich exakt die gleiche. Da
Vertreter der Tropenontologie typischerweise zugleich eine Bündeltheorie vertreten,
konzipieren sie Dinge als Bündel von Tropen. Das Leibniz-Prinzip ist dabei trivia-
lerweise erfüllt: da Tropen Eigenschaftsindividuen sind, besitzen keine zwei Dinge
diesselben Tropen (vgl. auch Abschn. 6.5.2 zur tropenontologischen Interpretation
der QFT).
Einige manifeste Vor- und Nachteile von Tropen- und Universalienontologie
stehen einander direkt gegenüber. Im Rahmen der Tropenontologie ist von Nach-
teil, dass beispielsweise die Tatsache, dass jedes Elektron im Universum exakt
die gleiche Ladung trägt wie jedes andere, als nicht weiter erklärbar, also als
ontologisches factum brutum angesehen werden muss. Der Vorteil der Universa-
lienontologie liegt im Gegenzug darin, eine scheinbar natürliche Erklärung für eben
dieses Faktum durch Teilhabe jedes Elektrons an derselben Ladungsuniversalie zu
bieten. Den Kaufpreis hierfür zahlt die Universalientheorie durch die Annahme
abstrakter Entitäten mit ominösen Teilhabe- oder Instantiierungsbedingungen.
Wie wir gesehen haben, lassen sich beide Eigenschaftskonzeptionen mit einer
Bündelauffassung verknüpfen. Ein konkretes physikalisches Ding, ein Partikular,
ist dann einfach das Bündel seiner Eigenschaften. Für Vertreter der Tropentheorie
ist diese Option geradezu zwingend, da jede einzelne Trope bereits als ein Parti-
kular ansehbar ist. Grundsätzlich muss die Bündelauffassung dann die Tatsache,
dass an einem Raumzeitpunkt (oder in einer sehr kleinen, kompakten Raumzeit-
region) zahlreiche Eigenschaften offenbar immer ko-präsent und ko-lokalisiert sind,
um ein Objektbündel zu konstituieren, als factum brutum ansehen (etwa, im Falle
der Tropenbündeltheorie, das Vorhandensein der Elementarladungstrope, der Spin-
1
2 -Trope und der Elektronenmassen-Trope am Ort jedes Elektrons). Dies ist einer
der Gründe, weshalb in der Ontologie die Partikularität – und mit ihr zugleich die
Identität wenigstens im Sinne numerischer Distinktheit – von der Gegenposition
der Bündeltheorie, der Substanz- oder Substrattheorie, auf das Vorhandensein eines
eigenschaftslosen Trägers zurückgeführt wird (der die Eigenschaften eines kon-
kreten Objekts „trägt“ und zusammenhält). In der philosophischen Tradition sind
zahlreiche Begriffe geprägt worden, um diese Position zu adressieren. Sie wird ge-
legentlich als Haecceitismus bezeichnet. Der Ausdruck haecceitas (lat. haec: dies)
lässt sich mit „ Diesheit“ übersetzen und geht auf Duns Scotus zurück. Andere
Ausdrücke lauten: Lockesche Substanz (vgl. French 1989), primitive Diesheit oder
primitive Identität (Adams 1979) transzendentale Individualität (Post 1963) oder
einfach nacktes Partikular.
92 H. Lyre

Anhand der Blackschen Kugeln lässt sich die Idee illustrieren. Da die Kugeln
keinerlei intrinsische Unterschiede aufweisen, aber dennoch zwei anstelle
einer Kugel sind, scheinen sie ihre Identität solo numero zu besitzen: wir
können eine Vielheit bzw. Kardinalität zuweisen, auch wenn die Kugeln
nicht individuell zählbar sind, ihnen also keine Ordinalität zukommt. Ein
weiteres, gängiges Beispiel sind die Punkte einer Raumzeit-Mannigfaltigkeit.
Als Mannigfaltigkeits-Substantialismus bezeichnet man diejenige Variante des
Raumzeit-Substantialismus, nach der die ontologischen Konstituenten der Raum-
zeit die Punkte der Raumzeit-Mannigfaltigkeit sind. Als Punkte kommen ihnen
keinerlei Eigenschaften zu, sie sind völlig homogen. Zu Ihrer Individuation bieten
Mannigfaltigkeits-Substantialisten daher an, Raumzeit-Punkte als haecceistische
Entitäten anzusehen.15
Der Haecceitismus stellt die dritte Option im Rahmen der obigen Dreierliste
(Seite 86) dar. Individuation im Sinne von (1) und (2) war ja, wie wir gesehen haben,
mit Problemen behaftet. In beiden Fällen wird versucht, einen reduktiven Zugang
anzugeben und Identität auf andere Größen zurückzuführen wie etwa Mengen von
Eigenschaften oder Raumzeit-Verhalten. Individuation im Sinne von (3) sieht Iden-
tität als ontologisch irreduzibel und primitiv an. Für den Haecceitisten macht es
durchaus Sinn zu fragen, ob ein bestimmtes Individuum in einer anderen möglichen
Welt existiert, ohne dabei Bezug zu nehmen auf Eigenschaften oder raumzeitliches
Verhalten, ohne also Individualität auf (1) oder (2) zu reduzieren. Haecceistische
Unterschiede zwischen möglichen Welten sind folglich Unterschiede, die nicht auf
Unterschieden von Eigenschaften oder Verhalten beruhen. Aber genau dies lässt
den Haecceitismus für jede empirisch orientierte Metaphysik obskur erscheinen.
Das Konzept der Identität hat, wie es scheint, so oder so seinen Preis.16

3.2.2 Leibniz-Prinzip und Quantentheorie

Betrachten wir noch einmal das obige Beispiel der Individuation zweier Teilchen a
und b mit Raumzeit-Trajektorien γa und γb . Wir wollen nun zusätzlich annehmen,
dass das Raumzeitverhalten der Teilchen chaotisch ist, dass die Trajektorien γa und
γb also praktisch unvorhersagbar sind. Falls die Teilchenorte einem Beobachter
nur in diskreten Zeitintervallen zugänglich sind, besteht offenbar keine Chance

15 Gerade hiergegen hatte sich Leibniz in seiner bekannten Debatte mit Clarke (respektive Newton)

unter Berufung auf das PII und, vorgängig, den Satz vom zureichenden Grunde gewandt (vgl.
nochmals Lyre 2007).
16 Im Lichte der Tropenontologie zeigt sich, dass neben Eigenschaftsindividuation im Sinne von

(1), wobei Eigenschaften als Universalien zu verstehen sind, und haecceistischer Individuation
im Sinne von (3) noch die Individuation mittels Tropen als weitere Option hinzutritt. Offenbar
stellt sie eine Art Kombination aus (1) und (3) dar, insofern Tropen einerseits Eigenschaften sind,
andererseits aber irreduzibel und primitiv. Erstaunlicherweise wird diese Option in der Debatte um
Quantenidentität und Leibniz-Prinzip nirgends explizit in der Literatur betrachtet. Der Grund ist
wohl, dass Unterschiede gleichartiger Tropen (also beispielsweise die Elementarladungs-Tropen
zweier Elektronen) keine empirischen, sondern lediglich metaphysische Unterschiede darstellen,
ähnlich wie Haecceitäten.
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 93

einer Wiedererkennung von a und b. Zahlreiche prominente Interpretationen der


Quantentheorie, allen voran die Kopenhagener Interpretation, lehnen die Existenz
definiter Raumzeit-Trajektorien ab.17 Für Quantenobjekte scheint daher weder die
Möglichkeit einer Individuation im Sinne von (1) noch von (2) zu bestehen.
Ein derartiges Argumentationsschema findet sich bis heute in zahlreichen
Quantenmechanik-Lehrbüchern, beispielsweise schreiben so einflussreiche Autoren
wie Landau und Lifschitz:

In der klassischen Mechanik verlieren gleichartige Teilchen (sagen wir Elektronen) trotz
der Identität ihrer physikalischen Eigenschaften ihre „Individualität“ nicht. [. . .]
In der Quantenmechanik ist die Sachlage ganz anders. Wir haben bereits mehrfach darauf
hingewiesen, dass der Begriff der Bahnkurve eines Elektrons wegen des Unbestimmt-
heitsprinzips seinen Sinn vollkommen verliert. [. . . ] Lokalisieren wir die Elektronen und
nummerieren sie in einem gewissen Zeitpunkt durch, so haben wir dadurch nichts für ihre
Identifizierung in späteren Zeitpunkten gewonnen. Wenn wir eines der Elektronen in einem
anderen Zeitpunkt an einer Stelle des Raumes lokalisieren, dann können wir nicht angeben,
welches der Elektronen an diesen Punkt gelangt ist.
In der Quantenmechanik gibt es also prinzipiell keine Möglichkeit, ein einzelnes von
gleichartigen Teilchen gesondert zu verfolgen und damit die Teilchen zu unterscheiden.
Man kann sagen, dass gleichartige Teilchen ihre „ Individualität“ in der Quantenmechanik
vollkommen verlieren. (Landau und Lifschitz 1979, S. 218)

Entscheidend ist, dass der argumentative Fokus hier nicht auf der Frage der
gleichzeitigen Unterscheidbarkeit gleichartiger Teilchen liegt, sondern auf deren
Wiedererkennbarkeit in der Zeit. Man kann in systematischer Hinsicht zwischen
synchroner Identität (zu einem bestimmten Zeitpunkt) und diachroner Identität, al-
so der Persistenz eines Objekts in der Zeit, unterscheiden. Diese Unterscheidung
liegt auch tentativ der Alternative einer Individuation im Sinne von (1) gegenüber
(2) zugrunde. Die Problematik der Wiedererkennbarkeit wurde von den Gründer-
vätern der Quantentheorie frühzeitig erkannt, einen expliziten Zusammenhang zum
Leibniz-Prinzip stellte insbesondere Hermann Weyl her. Seine Ausführungen ge-
ben vordergründig Rätsel auf, hierüber stolpern auch Muller und Saunders (2008).
Spürt man dem nach, so zeigt sich, wie sich die Sichtweise auf das Leibniz-
Prinzip im Zusammenhang mit der Quantenmechanik historisch verändert hat. In
„ Gruppentheorie und Quantenmechanik“ von 1928 schreibt Weyl:

. . . die Möglichkeit, dass eines der beiden Individuen Hans und Karl im Quantenzustand E1 ,
das andere im Quantenzustand E2 sich befindet, vereinigt nicht zwei unterscheidbare Fälle,
die durch die Vertauschung von Hans und Karl auseinander hervorgehen; es ist unmöglich,
die wesensgleichen Individuen Hans und Karl, jedes für sich, in seiner dauernden Identität
mit sich selbst festzuhalten. Von Elektronen kann man prinzipiell nicht den Nachweis ihres

17 In der Bohmschen Theorie liegen die Dinge anders, wie Brown et al. (1999) zeigen. Aller-
dings muss hier die Möglichkeit der Beibehaltung der Individuation im Sinne von (2) dadurch
erkauft werden, dass die Topologie einander nicht überschneidender Raumzeit-Trajektorien direkt
in die Struktur des Konfigurationsraums und die Bohmsche Führungsgleichung eingebaut wird. In
gewisser Weise ist dabei die Forderung der Impenetrabilität ontologisch primitiv.
94 H. Lyre

Alibi verlangen. So setzt sich in der modernen Quantentheorie das Leibnizsche Princip von
der coincidentia indiscernibilium durch. (Weyl 1928, S. 214)

Die Schlussfolgerung im letzten Satz erscheint zunächst unverständlich: Wenn doch


Hans und Karl ununterscheidbar sind und in ihrer dauernden Identität nicht festge-
halten werden können, es sich aber dennoch um zwei Individuen handelt, ist dann
nicht das Leibnizsche Prinzip verletzt? Schaut man auf spätere Schriften, so scheint
die Verwirrung sogar noch zuzunehmen, denn 1949 schreibt Weyl:

Das Ende von alledem ist, dass die Elektronen Leibnizens principium identitatis in-
discernibilium befriedigen, oder dass das Elektronengas ein „monomisches Aggregat“ ist
(Dirac-Fermi-Statistik). In einem tiefen und präzisen Sinn bestätigt die Physik die Mu-
takallimūn: weder dem Photon, noch dem (positiven und negativen) Elektron kann man
Individualität zuschreiben. Es hat sich herausgestellt, dass das Leibniz-Pauli-Verbot für
Elektronen, doch nicht für Photonen gilt. (Weyl 1966, S. 316–317)

Wiederum ist von einer Bestätigung des Leibniz-Prinzips die Rede, diesmal aller-
dings mit Hinweis darauf, dass das Elektronengas (und aufgrund der vorhergehen-
den Passagen im gleichen Sinne wohl auch das Photonengas) ein „monomisches
Aggregat“, also ein Ganzes, bildet. Bemerkenswert ist ferner Weyls Redeweise vom
„ Leibniz-Pauli-Verbot“ (hierauf soll weiter unten eingegangen werden).
Den Passagen kann aber sehr wohl eine stimmige Lesart abgewonnen werden.
Weyl hat offenbar nicht das Blacksche Szenario (als Gegenbeispiel des PII) vor
Augen, er betrachtet vielmehr, ähnlich wie später Landau und Lifschitz, die Frage
der Wiedererkennbarkeit in der Zeit, diskutiert also die diachrone im Gegensatz zur
synchronen Identität. Nun sind die zwei Szenarien von Hans und Karl vor und nach
der Vertauschung empirisch ununterscheidbar, sie müssen daher physikalisch als ein
einziges Szenario gezählt werden – im Sinne des PII.
Die numerische Distinktheit der Elektronen zu einem Zeitpunkt, also deren syn-
chrone Identität, stellt Weyl erst gar nicht in Frage. Vielleicht hat er stillschweigend
eine haecceistische Position vertreten, dies bleibt in den genannten Passagen offen.
In seinem späteren Buch „Symmetry“ von 1952 schreibt er:

I told you that Leibniz had given the geometric notion of similarity this philosophical twist:
Similar, he said, are two things which are indiscernible when each is considered by itself.
Thus two squares in the same plane may show many differences when one regards their
relation to each other; for instance, the sides of the one may be inclined by 34 ◦ against the
sides of the other. But if each is taken by itself, any objective statement made about one
will hold for the other; in this sense they are indiscernible and hence similar. (Weyl 1952,
S. 127–128)

Abermals: Die zwei Quadrate können zwar relational in ihrer Zweiheit unter-
schieden werden, im Sinne des „Quadratseins“ sind sie aber gleichartig, al-
so ununterscheidbar. Wäre Weyl der Frage der relationalen Unterscheidung der
Quadrate weiter nachgegangen, hätte er den Fokus also auf synchrone Identität ver-
schoben, so wäre er womöglich bei Überlegungen ausgekommen, die den späteren
Debatten wie in Abschn. 3.2.3 beschrieben nahe kommen. Statt dessen findet sich
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 95

in der frühen Debatte um Quantenidentität die Betonung eines holistischen Aspekts,


der darin besteht, dass Vielheiten gleichartiger Quantenojekte „monomische“ Gan-
ze bilden in dem Sinne, dass zwischen dem Zustand |Hans + |Karl und dessen
Permutation |Karl + |Hans physikalisch nicht unterschieden werden kann, und sie
daher nach Leibniz ein Ganzes bilden. Entsprechend verbietet sich die physikalisch
sinnvolle Rede über die (individuellen) Teile eines derartigen Ganzen. Max Born
schreibt 1927, dass Teilchen „in vielen Fällen gar nicht als Individuen zu identifi-
zieren [sind], z. B. dann, wenn sie zu einem Atomverband zusammentreten“ (Born
1927, S. 240). Ernst Cassirer greift dies 1937 auf und schreibt

Die Unmöglichkeit, verschiedene Elektronen gegeneinander abzugrenzen und ihnen je eine


selbstständige „ Individualität“ zuzuschreiben, ist in der Entwicklung der neueren Quan-
tentheorie vor allem durch die Erwägungen, die sich an das „Pauli-Verbot“ angeknüpft
haben, in helles Licht gerückt worden. Betrachtet man das Paulische Äquivalenzprinzip
lediglich nach der methodischen Bedeutung . . . , so tritt eine eigentümliche Analogie zwi-
schen ihm und [dem Leibniz-Prinzip. . .] hervor [. . .] Das Pauli-Prinzip ist gewissermaßen
das „Principium identitatis indiscernibilium“ der Quantentheorie. Es charakterisiert jedes
Elektron innerhalb des Atoms durch einen bestimmten Inbegriff von Bedingungen: durch
die vier „Quantenzahlen“ . . . – und es spricht weiterhin die Folgerung aus, dass Elektronen,
die im Hinblick auf diese Charakteristik keine Unterschiede aufweisen, als ein einziges
physikalisches Sein anzusehen sind. (Cassirer 1937, S. 341, Fußnote 47)

Ebenso wie Weyl analogisiert Cassirer die Prinzipien von Leibniz und Pauli. Nach
dem Pauli-Prinzip besitzen keine zwei Fermionen die gleichen Quantenzahlen, also
Eigenschaften. Dies sieht nach einer Analogie zum PII aus – und zwar auch im
Sinne synchroner Identität. Da ein derartiges Verbot für Bosonen aber nicht besteht,
sollte hier eine Unterscheidung erfolgen. Die Passagen sowohl von Weyl als auch
von Cassierer sind in dieser Hinsicht unbefriedigend. Dies hat nicht nur mit der
Unterscheidung von Fermionen und Bosonen zu tun, sondern eben damit, ob man
das Leibniz-Prinzip zur diachronen oder zur synchronen Individuation heranzieht.
Letzteres kommt im weiteren Verlauf der Debatte immer mehr in den Fokus mit der
Folge, dass nun zum Teil gegenteilige Konsequenzen gezogen werden (zumindest
dem Wortlaut nach).
Henry Margenau spricht 1944 explizit von einem Widerspruch zwischen Pauli-
Prinzip und Leibniz-Prinzip und einer Verletzung des letzteren. Er sagt zunächst:

This conclusion recalls Leibnitz’ principle of the identity of indiscernibles; indeed physi-
cists have occasionally thought that the E.P. [exclusion principle] implies this principle with
regard to elementary particles of the same species.

Leider lässt Margenau offen, welche Physiker es waren, die dies zunächst behauptet
haben (aber es liegt natürlich nahe, dass er hierbei auch an Weyl dachte). Dann fährt
er fort:

. . . the E.P., so far as it goes, contradicts Leibnitz [. . .] two particles, as we have seen,
differ in no observable respect. Nevertheless quantum mechanics would lead to entirely
erroneous results if they were treated as a single entity. The particles, though they can not
96 H. Lyre

be labelled individually, can be counted. If and only if identity were understood as not
implying numerical identity, then two electrons in an atom could be said to be identical.
(Margenau 1944, S. 202)

Hier ist nun in klarer Weise die synchrone Fragestellung adressiert und damit die
Frage, wie es denn sein kann, dass zwei Teilchen, obwohl sie „in no observable
respect“ differieren, also empirisch ununterscheidbar sind, dennoch zwei Teilchen
sind. Dies lässt scheinbar nur einen Schluss zu: in synchroner Hinsicht ist das PII
verletzt.
Genau diese Ansicht findet, vor allem vonseiten der Wissenschaftsphilosophie,
in der Folge zunehmend Anhänger (siehe z. B. Post 1963; Cortes 1976; Teller 1983;
French und Redhead 1988; Butterfield 1993). Castellani und Mittelstaedt schreiben:
„[I]t is also commonly held that a form of the principle of the identity of indiscerni-
bles is valid in the domain of classical physics, while the principle is inapplicable in
the quantum case“ und sie setzen in Fußnote hinzu: „This is undoubtly the prevai-
ling position in the literature“ (Castellani und Mittelstaedt 2000, S. 1589). Insofern
ist Steven French durchaus zuzustimmen, wenn er die Verletzung des Leibniz-
Prinzips in der Quantentheorie in seinem Enzyklopädieartikel über „Identity and
Individuality in Quantum Theory“ (French 2011) als „received view“, als die herr-
schende Schulmeinung, bezeichnet (zur Fortführung dieser Problematik in der QFT
siehe 6.4.2).
Wenn aber das PII in der Quantentheorie verletzt ist, was folgt dann daraus?
Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass hier eine Reihe von Fragen
auseinandergehalten werden müssen, unter anderem:

1. In welchem Sinne könnten Quantenobjekte (keine) Individuen sein?


2. Verletzen Quantenobjekte das Leibniz-Prinzip?
3. Gibt es einen ontologischen Unterschied zwischen Fermionen und Bosonen?
4. In welchem Sinne besteht ein Vielteilchenzustand de facto aus vielen Teilchen
(oder muss er nicht vielmehr als ein Ganzes angesehen werden)?

Die Motive für diese Fragen tauchten im Verwirrspiel der obigen Zitate bereits ver-
schiedentlich auf. Sie sind im Folgenden noch genauer zu behandeln. Im der dritten
Frage kehren wir im nächsten Abschn. 3.2.3 nur vorläufig bejaht wird. Die vierte
Frage wird in Abschn. 3.2.4 aufgegriffen enden wir uns zunächst der ersten Frage
zu.
Haben wir es bei Quantenobjekten mit Nicht-Individuen zu tun? Was sollte
das bedeuten? In der Tat scheint die Quantentheorie das Blacksche Szenario Wirk-
lichkeit werden zu lassen: gleichartige Quantenobjekte besitzen eine Kardinalität,
keine Ordinalität. Dies ist eine direkte Konsequenz des Ununterscheidbarkeits-
Postulats – gleichartige Quantenobjekte befinden sich in Zuständen, für die es
möglich ist, eine Objekt-Gesamtzahl anzugeben, obwohl die Objekte für sich
empirisch ununterscheidbar sind. Man hat versucht, dies in didaktische Bilder zu
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 97

kleiden: Die Geldmenge in meinem Portemonaie ist durch die einzelnen Mün-
zen leibniz-individuiert, derselbe Geldbetrag auf meinem Konto ist es nicht.18 Es
bleibt zunächst unklar, ob dies eine zulässige Analogie ist, ob wir mathematische
Verhältnisse auf die Welt abbilden dürfen (siehe hierzu 3.2.4) und ob wir dadurch
das Wesen von Kardinalität erfasst haben. Quantenobjekte scheinen eine Art Ver-
schiedenheit solo numero zu besitzen – im Widerspruch zum Leibniz-Prinzip. Folgt
daraus dann nicht, dass die Quantentheorie den Haecceitismus bestätigt? Besitzen
Quantenobjekte also eine primitive Identität, die sich weder an der raumzeitlichen
Historie noch an Eigenschaften festmachen lässt? Interessanterweise haben nur
wenige Autoren diese Konsequenz explizit gezogen, und dies, obwohl die Überzeu-
gung, dass die Quantenmechanik das PII verletzt, sich als vorherrschend durchsetzte
(vgl. French und Redhead 1988). In jüngerer Zeit probieren einige Autoren sogar
eine Revision der Logik oder Mengenlehre (siehe 3.2.4).

3.2.3 Schwache Unterscheidbarkeit

Sowohl Weyl als auch Cassirer haben die Prinzipien von Leibniz und Pauli analogi-
siert. Pauli selbst war hiermit keineswegs einverstanden, 1949 schreibt er an Fierz
sinngemäß, dass das Leibniz-Prinzip als metaphysisches Prinzip doch eigentlich
keine empirischen Konsequenzen haben kann, und dann wörtlich:

Das wäre doch ein merkwürdiges Prinzip in der Philosophie von Leibniz, das nicht für
alle Objekte gilt (z. B. nicht für Photonen, was Weyl ausdrücklich betont), sondern nur für
manche.19

Auch Weyl wird von Pauli mit einem Brief bedacht. Zwar zeigen die Briefe, dass
Pauli über das PII nicht genau informiert war, aber er berührt die oben bereits an-
gesprochene, wichtige Frage, ob zwischen Bosonen und Fermionen hinsichtlich
PII und Ontologie ein Unterschied besteht. Dieser Punkt verdient eine genauere
Betrachtung.
Das Pauli-Prinzip besagt ja, dass sich keine zwei Fermionen im gleichen Zu-
stand befinden können, dass sie sich also in wenigstens einer Quantenzahl (also
einer Eigenschaft) unterscheiden müssen. Insofern entsteht in der Tat der Eindruck,

18 Schrödinger benutzt diese Illustration 1949: „ . . . the shillings and pennies in your bank account

are not individuals.“ (zitiert nach French und Krause 2006, S. 122), und Mary Hesse schreibt:

With pounds, shillings, and pence in a bank balance, however, it is not merely the case
that we cannot in practice re-identify a given pound appearing in the credit column, but
that there is no sense in speaking of the self-identity of this pound, and of asking where
it reappears in another column or whether it is the pound paid over the counter yesterday.
(Hesse 1966, S. 49–50)

19 Zitiert
nach von Meyenn 1987; siehe dort speziell den zweiten Abschnitt zum Ausschließungs-
prinzip und zur Teilchenunterscheidbarkeit.
98 H. Lyre

dass das Leibniz-Prinzip von Fermionen erfüllt wird. Wieso kommen dann aber
Margenau und der „received view“ zur gegenteiligen Ansicht? Die Anwendung
eines Permutationsoperators auf einen Fermionenzustand (3.6) führt ja lediglich
auf einen Vorzeichenwechsel, darüber hinaus entspricht seine Wirkung derjenigen
auf einen Bosonenzustand (3.4). Da ferner jede physikalische Observable Ô mit
jedem Permutationsoperator P̂ kommutiert (3.5), sind die Erwartungswerte aller
Operatoren für ein einzelnes Fermion in einem Viel-Fermionen-Zustand diesel-
ben. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen Fermionen und Bosonen:
Durch keine physikalische Messung kann eine Unterscheidung zwischen einzelnen
Fermionen oder Bosonen vorgenommen werden.
Trotz dieser zunächst überzeugenden Argumentation des „ received view“ hat
die Debatte um den Status des Leibniz-Prinzips in der Quantentheorie in der ersten
Hälfte der 2000er Jahre völlig unerwartet neuen Schub bekommen. Einen entschei-
denden Anstoß hierzu lieferten die Arbeiten von Simon Saunders (2003, 2006).
Saunders greift dabei auf frühere Arbeiten von Quine über schwache Unterscheid-
barkeit zurück – und deckt eine Ungenauigkeit in unserer bisherigen Argumentation
auf. Wir waren bislang davon ausgegangen, dass im PII über monadische, intrinsi-
sche Eigenschaften quantifiziert wird. Dies ist aber unter Umständen eine unnötig
starke Forderung. Gibt man diese Forderung auf, so lassen sich Leibniz-Prinzipien
unterschiedlicher Stärkegrade formulieren, je nachdem, über welche Arten von
Eigenschaften quantifiziert wird. Neben intrinsischen Eigenschaften lassen sich
auch relationale Eigenschaften betrachten, wobei insbesondere Ordungsrelatio-
nen und irreflexive Relationen zu interessanten Erweiterungen des Konzepts der
Unterscheidbarkeit führen.
Nach Quine (1976) lassen sich drei Arten von Unterscheidbarkeit differenzieren:
absolute, relative und schwache Unterscheidbarkeit. Sie sind wie folgt definiert:

• Absolut unterscheidbare Objekte sind in wenigstens einer monadischen


Eigenschaft verschieden.
• Relativ unterscheidbare Objekte sind hinsichtlich wenigstens einer Ordnungsrela-
tion verschieden.
• Schwach unterscheidbare Objekte sind hinsichtlich wenigstens einer irreflexiven
Relation verschieden.

Einige paradigmatische Beispiele: Natürliche Zahlen sind absolut unterscheidbar.


Demgegenüber sind die Zeitpunkte des Zeitpfeils zwar intrinsisch gleich, insofern
nicht absolut unterscheidbar, jedoch relativ unterscheidbar hinsichtlich der Früher-
später-Relation. Schwach unterscheidbare Objekte bedürfen irreflexiver Relationen,
deren Definition hier zunächst angegeben werden soll:

Eine Relation R ist reflexiv, wenn für alle x in der betrachteten Domäne R(x, x) gilt. Falls
¬R(x, x) gilt, ist R irreflexiv.

Blacksche Kugeln im Abstand d statuieren eine irreflexive Abstandsrelation: jede


Blacksche Kugel ist von der anderen um d entfernt, aber nicht von sich selbst.
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 99

Die verschiedenen Formen von Unterscheidbarkeit lassen sich auch anhand von
Graphen illustrieren: Im einfachen Fall eines benannten Graphen („labelled graph“)
mit zwei Knoten und einer Kante

a •·······• b (3.14)

sind die beiden Knoten absolut unterscheidbar. Hierbei kann „ ······“ sowohl eine
gerichtete als auch ungerichtete Verbindung sein. Der unbenannte und gerichtete
Graph
•–→––• (3.15)
stellt ein Beispiel für relative Unterscheidbarkeit der Knoten dar, der unbenannte
und ungerichtete Graph
•––––• (3.16)
ein Beispiel für schwach unterscheidbare Knoten. Demgegenüber sind die beiden
Knoten des kantenlosen Graphen

• • (3.17)

nicht einmal schwach individuierbar.


Mit den drei obigen Varianten von Unterscheidbarkeit ergeben sich nun drei
Varianten des Leibniz-Prinzips (in unterschiedlichen Stärkegraden; jeweils formu-
liert in der bereits oben favorisierten, kontrapositiven Form):
Starkes PII: Es existieren keine zwei Individuen, die nicht absolut unterscheidbar
sind.
Moderates PII: Es existieren keine zwei Individuen, die nicht relativ unterscheidbar
sind.
Schwaches PII: Es existieren keine zwei Individuen, die nicht schwach unter-
scheidbar sind.
In den vorhergehenden Abschnitten wurde das Leibniz-Prinzip im Sinne des
starken PII diskutiert. Saunders (2006) und Muller und Saunders (2008) zeigen
nun, dass Fermionen zwar das starke, nicht aber das schwache PII verletzen.
Man betrachte etwa die antisymmetrisierte Zustandsfunktion (3.6) zweier Fer-
mionen, im konkreten Beispiel etwa das Spin-Singulett zweier ansonsten in allen
Quantenzahlen übereinstimmender Elektronen20 mit den Spineinstellungen |↑
und |↓ 

20 Einderartiger Zustand stellt eine didaktische Vereinfachung dar, die zwar gang und gäbe ist,
die aber zu falschen Schlussfolgerungen führen kann. Insbesondere fallen Antisymmetrie und
EPR-Verschränkung nicht zusammen. Denn die vollständige Zustandsbeschreibung eines Elek-
trons muss ja neben den Spinfreiheitsgraden noch die Freiheitsgrade im Raum mit umfassen, der
Zustand (3.18) könnte sonst so missverstanden werden, dass sich beide Spins am selben Raumzeit-
punkt befinden, was im Falle zweier Elektronenspins offensichtlich unmöglich ist. Für Teilchen ist
der vollständige Zustand eine Wellenfunktion im Spin-Orts-Raum. Dort sind aber Zustände, die
durch direkte Antisymmetrisierung von Produktzuständen entstehen, noch nicht EPR-verschränkt
100 H. Lyre

1
| = √ |↑|↓ – |↓|↑ . (3.18)
2
Beide Elektronen genügen der irreflexiven Relation R = „ haben entgegengesetzten
Spin zueinander, jedoch nicht zu sich selbst“. Die Elektronen oder allgemeiner Fer-
mionen sind daher nach Saunders schwach unterscheidbar, ihre Identität lässt sich
mit Hilfe des schwachen PII in R fundieren.
Folgt man dieser Argumentation, so sind Fermionen in derselben Weise schwach
unterscheidbar wie Blacksche Kugeln, nicht aber Bosonen. Saunders hält dies
für unproblematisch, denn es sind die elementaren Fermionen – Leptonen und
Quarks –, die den Aufbau der Materie bestimmen, während elementare Bosonen nur
als Eichteilchen und Higgs-Boson auftauchen. Als solche sind sie nach Saunders
nicht als Objekte, sondern als Anregungsmoden von Quantenfeldern anzusehen:
„We went wrong in thinking the excitation numbers of the mode, because differing
by integers, represented a count of things; the real things are the modes“ (Saun-
ders 2006, S. 60). Es ist fraglich, inwieweit eine solche Trennung von Fermionen
und Bosonen ontologisch plausibel ist, mindestens ebenso fraglich ist, inwieweit
Eichbosonen (in sowohl masseloser als auch massiver Form) und Higgs-Bosonen
ontologisch gleichrangig zu behandeln sind, denn schließlich kommt dem Higgs
nicht die Rolle eines Wechselwirkungsfeldes zu.
Doch man muss diese Fragen nicht weiter vertiefen, folgt man der Argumenta-
tion von Muller und Seevinck (2009), die zeigen, dass sich Saunders’ Resultat auf
Bosonen bzw. sämtliche Quantenobjekte erweitern lässt. Ihre Grundidee ist, dass
Quantenobjekte in einem Mehrobjekt-Zustand aufgrund der nicht-kommutativen
Algebrastruktur der Quantentheorie zwangsläufig bestimmten Heisenbergschen
Kommutatorrelationen genügen müssen, etwa der irreflexiven Relation „haben kom-
plementären Ort und Impuls zueinander“ oder allgemeiner „genügen kanonisch
konjugierten Variablen“. Nach dieser Argumentation spielt es keine Rolle, ob
wir Fermionen oder Bosonen betrachten, sämtliche Quantenobjekte genügen dem
schwachen PII (siehe auch Huggett und Norton 2014 für eine Verfeinerung der
Argumente).
Die Arbeiten von Saunders und Muller zur schwachen Unterscheidbarkeit haben
die Diskussion um den Status des PII und allgemein die Ontologie der Quantentheo-
rie neu belebt, sind aber nicht unkontrovers geblieben. Dies leitet über zum letzten
Abschnitt.

3.2.4 Ausblick

Rekapitulieren wir kurz den Stand der Dinge: Unstrittig in der Debatte um
die Ontologie der Quantentheorie sind der empirische Befund der physika-
lischen Ununterscheidbarkeit der Anwendung einer Teilchenpermutation auf einen

(im Sinne von Kap. 4). Antisymmetrie und EPR-Verschränkung sind konzeptionell voneinander zu
trennen, wie Ghirardi et al. (2002) ausführlich zeigen; siehe ebenso Friebe (2014).
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 101

Vielteilchenzustand im Sinne des Ununterscheidbarkeits-Postulats sowie die for-


malen Konsequenzen im mathematischen Apparat in Form des Symmetrisierungs-
Postulats und der Permutationsinvarianz. In der Diskussion um das Leibniz-Prinzip
sahen Weyl und Cassirer es zunächst in diachroner Hinsicht bestätigt, während sich
im Anschluss an Margenau durchsetzte, dass in synchroner Hinsicht das (starke)
PII in der Quantentheorie verletzt ist. Die Arbeiten von Saunders und Muller
rehabilitieren das Leibniz-Prinzip auch in synchroner Hinsicht, jedoch nicht in sei-
ner starken Form, sondern nur als schwaches PII. Doch auch diese Schlussfolgerung
bleibt nicht unwidersprochen, dies sei hier ausblickhaft dargestellt.
Der Ansatz, eine Fundierung („grounding“) von Identität oder Individualität
mittels Leibniz-Prinzipien über Eigenschaften zu gewährleisten, kann als Reduktio-
nismus angesehen werden. Identität superveniert über Eigenschaften und ist in-
sofern eine abgeleitetes Konzept. Der Haecceitismus stellt demgegenüber einen
Antireduktionismus bzw. Primitivismus von Identität dar. Im Falle schwach un-
terscheidbarer Objekte reduziert sich Identität auf rein relationale Eigenschaften.
Da jedoch der Begriff der Relation auch denjenigen der Relata voraussetzt, droht
hier nach Ansicht einiger Autoren ein Zirkel. Katherine Hawley (2009) argumen-
tiert, dass schwache Unterscheidbarkeit in der Tatsache ihre Fundierung findet, dass
die betreffenden Objekte bereits distinkt, also verschieden sind, und dass man da-
her nicht umgekehrt die Unterscheidbarkeit als Grundlage ihres Verschiedenseins
ansehen könne – kurz: keine Relationen ohne Relata. Wie es scheint, droht ein
unauflösliches Patt in der Debatte zwischen Reduktionismus und Antireduktio-
nismus von Identität. Dorato und Morganti (2013) schlagen sogar eine pluralistische
Strategie vor.
Eine andersartige Kritik an der Rehabilitation des schwachen PII in der Quan-
tentheorie durch Saunders und Muller haben Dieks und Versteegh (2008) vorgelegt.
Die Autoren verweisen auf die manifesten Unterschiede zwischen klassischer und
Quantenwelt. Sie stimmen zu, dass Blacksche Kugeln schwach unterscheidbar sind,
lehnen aber die Übertragbarkeit dieses Szenarios auf den Quantenfall ab. Nach
ihrer Auffassung darf ein „ Vielteilchenzustand“ in der Quantentheorie nicht so
angesehen werden, als würde er faktisch bereits aus Einzelobjekten bestehen – son-
dern allenfalls potenziell zufolge möglicher, dann aber faktisch durchzuführender
Messungen. In den Worten der Autoren:

There is no sign within the standard interpretation of quantum mechanics that „identical
fermions“ are things at all; there is no ground for the supposition that the quantum relations
„between fermions“ connect any actual physical objects. The irreflexivity of these relations
does not help us here. Quantum relations have a standard interpretation not in terms of what
is actual, but rather via what could happen in case of a measurement. (Dieks und Versteegh
2008, 934)

Der Verteidiger des schwachen Quanten-PII könnte im Gegenzug darauf verwei-


sen, dass die Frage bestehen bleibt, wieso es quantentheoretisch möglich ist, einem
Vielteilchenzustand eine Teilchenzahl zuzuweisen, wenn doch die Teile nicht ak-
tual bestehen (siehe auch Ladyman und Bigaj 2010 für eine Reaktion auf Dieks).
Andererseits scheint es umgekehrt merkwürdig, dass der Unterschied zwischen
102 H. Lyre

klassischer und Quantenphysik bei Fragen der Individuation keine Rolle spielen
soll.
Ferner berührt sich die Debatte um die Quantenontologie an wenigstens vier
Stellen in bemerkenswerter Weise mit der jüngere Debatte um den Strukturenrealis-
mus, einer moderaten Variante eines wissenschaftlichen Realismus mit vorrangigem
Bezug auf die moderne Physik (vgl. auch Abschn. 6.5.1 zur strukturenrealistischen
Interpretation der QFT). Strukturenrealisten, vor allem in der weit verbreiteten
ontischen Spielart dieser Position, vertreten die Ansicht, dass die fundamentalen
Entitäten der Welt strukturell individuiert sind. Wie dies genau zu verstehen ist,
ist Gegenstand eigener Diskussionen und kann im Folgenden nur implizit deutlich
gemacht werden (vgl. Lyre 2012 und French 2014 als umfassende Darstellung).
Steven French (1989) argumentiert, dass die Quantentheorie sowohl mit der An-
nahme verträglich ist, Quantenobjekte seien keine Individuen (im Leibnizschen
Sinne aufgrund der Verletzung des starken PII), als auch mit der gegenteiligen An-
nahme, sie seien Individuen (im haecceistischen Sinne). Wir haben es also mit
einer Unterbestimmtheit in Bezug auf die Metaphysik selbst zu tun. Diese meta-
physische Unterbestimmtheit ist nach French und Ladyman (2003) ein Beleg dafür,
dass eine an objekt-artigen Entitäten orientierte Ontologie fehl geht und durch eine
strukturelle Metaphysik zu ersetzen ist.
French und Krause (2006) gehen noch weiter und versuchen, eine revidierte
Mengenlehre für Quasi-Objekte zu entwickeln. Hierin besteht eine zweite Berühr-
stelle zwischen Quantenontologie und Strukturenrealismus. Eine dritte Berührstelle
hängt mit der Beobachtung zusammen, dass die Permutations-Invarianz der Quan-
tentheorie eine Entsprechung in der Allgemeinen Relativitätstheorie in Form der
Diffeomorphismen-Invarianz hat, genauer: Nach John Stachel (2002) zielen beide
Invarianzen auf die abstrakte Eigenschaft bestimmter Theorien, allgemein permu-
tierbar zu sein. Eine Theorie T ist allgemein permutierbar, falls Modelle von T
als äquivalent angesehen werden, die sich nur darin unterscheiden, welche Objekte
welche Stellen oder Rollen in einem Netz von Relationen einnehmen. In der All-
gemeinen Relativitätstheorie bezieht sich die Diffeomorphismen-Invarianz auf die
allgemeine Permutierbarkeit von Raumzeit-Punkten, für die Quantentheorie argu-
mentieren Caulton und Butterfield (2012), dass sie allgemein permutierbar ist, wenn
man die volle Symmetrische Gruppe, also auch die gemischt-symmetrischen Dar-
stellungen bzw. Parastatistik mit betrachtet. Ob derartige Objekte in der Natur fak-
tisch realisiert sind, ist sekundär; entscheidend ist, dass Ununterscheidbarkeits- und
Symmetrisierungspostulat der Quantentheorie die Möglichkeit hierzu beinhalten.
Viertens ist das schwache PII vordergründig durchaus verträglich mit einem
Strukturenrealismus: Objekte oder Relata werden lediglich bis auf irreflexive Rela-
tionen individuiert. Die weiter oben schon artikulierte Kritik an nicht in Relata
fundierten Relationen in Zusammenhang mit dem schwachen PII kann von struk-
turalistischer Seite auch so gewendet werden, dass entweder Relationen und ihre
Relata ontologisch auf derselben Stufe stehen, oder aber die Relata bloße Knoten-
punkte in einem Netz aus Relationen sind. Strukturalismus (sowohl in Physik als
auch Mathematik) ist in allgemeinster Hinsicht gerade definierbar als diejenige Po-
sition, die die Individualität oder Kardinalität (numerische Verschiedenheit) von
3 Quanten-Identität und Ununterscheidbarkeit 103

Objekten in deren Verortung oder Rolle in einem Gefüge oder Netzwerk relationaler
Eigenschaften fundiert. Somit treffen sich die Projekte des Strukturenrealismus und
der Verteidigung des schwachen PII genau bei dem Versuch, eine Fundierung von
Relationen zu erreichen, die weder in einen starken Objektbegriff nach Maßgabe des
starken PII mündet noch in einen Haecceitismus oder gar einen Eliminativismus (im
Sinne von Relationen ohne Relata), sondern mit einer schlanken Konzeption von
Objekten bzw. Relata im Sinne primitiver numerischer Verschiedenheit auskommt
(„thin objects“; vgl. French und Ladyman 2011).21
Die Debatte um die Ontologie der Quantentheorie zeigt exemplarisch, wie sich
Fortschritt in der Philosophie sehr häufig gestaltet: Neue Einsichten werden gewon-
nen und die Diskussion auf ein höheres und abstrakteres Niveau gehoben. Doch es
ergeben sich nicht minder vertrackte Anschlussfragen, und die Debatten bleiben of-
fen. Wie offen die Debatte im Falle der Quantenontologie ist, haben diese letzten
Ausblicke gezeigt.

Übungsaufgaben zu Kap. 3

1. Konstruieren Sie die total-symmetrisierten Basisfunktionen im Zustandsraum


dreier gleichartiger Objekte a, b, c (Hinweis: wie in 3.1.4 ausgeführt, sind dies
die eindimensionalen irreduziblen Darstellungen der S3 ).
2. Wie lautet das Leibnizsche PII in kontrapositiver Formulierung?
3. Inwieweit ist die Bündelontologie auf das PII festgelegt?
4. Worauf beziehen sich die Konzepte synchroner und diachroner Identität?
5. Definieren Sie die drei Arten von Unterscheidbarkeit nach Quine.
6. Diskutieren Sie, inwieweit schwaches PII und Strukturenrealismus zu ver-
wandten Objektkonzeptionen führen.

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21 Nach Leitgeb und Ladyman (2008) könnte die Welt einem kantenlosen Graphen entsprechen,
ohne dass dies in einen Haecceitismus mündet, sondern immer noch in Einklang mit dem
Strukturalismus stünde. Graphentheoretisch genügt der kantenlose Graph (3.17) ebenso wie sein
Gegenstück mit Kanten (3.16) denselben nicht-trivialen Automorphismen, beide sind strukturel-
le Invarianten unter Knotenpermutation. Dennoch wird die Verschiedenheit der Knoten in (3.17)
durch keinerlei Relationen, nicht einmal durch schwach unterscheidende, irreflexive Relationen
fundiert.
104 H. Lyre

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Verschränkung und Nicht-Lokalität:
EPR, Bell und die Folgen 4
Paul M. Näger und Manfred Stöckler

Inhaltsverzeichnis
4.1 Einführung und Überblick ............................................................................... 107
4.2 Das EPR-Argument und seine Folgen ................................................................ 110
4.3 Der Bellsche Beweis ...................................................................................... 125
4.4 Nicht-Lokalität.............................................................................................. 148
4.5 Alternative Lösungsvorschläge ......................................................................... 171
4.6 Resümee ...................................................................................................... 180
Übungsaufgaben zu Kap. 4 ...................................................................................... 181
Literatur zu Kap. 4 ................................................................................................. 182

4.1 Einführung und Überblick

Die Probleme, die wir in diesem Kapitel diskutieren, haben ihren formalen Ur-
sprung in der Art und Weise, wie in der Quantentheorie zusammengesetzte Systeme
beschrieben werden (vgl. Abschn. 3.1.2). Bei solchen Beschreibungen gibt es
einerseits Produktzustände, wie z. B.

|φ = |↑z 1 |↓z 2 . (4.1)

Dieser Zustand soll ein aus zwei Objekten zusammengesetztes System beschrei-
ben, die verschiedenartig sind. Die Indizes „1“ bzw. „2“ außerhalb der Klammern
kennzeichnen, welchem Teilsystem der Zustand in der Klammer zukommt. „|↑z 1 “

P.M. Näger ()


Philosophisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster, Deutschland
e-mail: paul.naeger@wwu.de

M. Stöckler
Institut für Philosophie, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
e-mail: stoeckl@uni-bremen.de

c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 107
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_4
108 P.M. Näger und M. Stöckler

bedeute z. B., dass das Teilsystem 1 den Zustand Spin-up bzgl. der räumlichen Rich-
tung z hat, „|↓z 1 “ entsprechend, dass es Spin-down in dieser Richtung besitzt. Ganz
analog zur klassischen Physik und unseren Intuitionen kann also in Produktzustän-
den jedem der Teilsysteme ein eindeutiger Zustand zugeschrieben werden.
In der Quantenphysik kann man jedoch im allgemeinen Fall zusammengesetzte
Systeme nicht durch Produktzustände charakterisieren, sondern nur durch Super-
positionen von Produktzuständen, d. h. durch sog. verschränkte Zustände, wie
z. B.
1  
|ψ –  = √ |↑z 1 |↓z 2 – |↓z 1 |↑z 2 . (4.2)
2
Im folgenden Abschnitt werden wir solche Zustandsvektoren auch formal genauer
analysieren, in dieser Einleitung geben wir zunächst nur einen anschaulichen Über-
blick. Ein Zustand wie (4.2) beschreibt ein Gesamtsystem, das man sich aus zwei
Teilsystemen zusammengesetzt denken kann (wie es die Indizes nahe legen). Im
Gegensatz zu einem Produktzustand kann er jedoch nicht in Produktform gebracht
werden. Dies bedeutet, dass beim Vorliegen des Zustands |ψ –  weder dem Sys-
tem 1 noch dem System 2 ein eindeutiger Spinzustand zugeordnet werden kann.
D. h. den einzelnen Teilsystemen 1 und 2 kann weder der Zustand Spin-up noch der
Zustand Spin-down noch ein Überlagerungszustand beider zugeordnet werden. Der
Gesamtzustand (4.2) legt die Zustände der Teilsysteme nicht fest.
Wenn man jedoch an den Systemen 1 und 2 Spin-Messungen durchführt, findet
man an den Teilsystemen zufällig verteilte, aber eindeutige Ergebnisse Spin-up bzw.
Spin-down, und insbesondere Korrelationen zwischen diesen Messergebnissen:
Wenn man für System 1 den Zustand |↑z 1 misst, liegt nach der Messung am System
2 mit Sicherheit der Zustand |↓z 2 vor (und umgekehrt), ebenso sind |↓z 1 und |↑z 2
korreliert. Diese Korrelationen liegen nach Auskunft der Quantenmechanik auch
dann vor, wenn die Orte der Messungen sehr weit voneinander entfernt sind, und
selbst dann, wenn der zeitliche Ablauf der Messungen so ist, dass nicht einmal ein
Signal mit Lichtgeschwindigkeit diese Korrelationen herstellen könnte. Verschrä-
nkung etabliert einen besonderen Zusammenhang zwischen den Teilsystemen, der
alle üblichen raumzeitlichen Beschränkungen ignoriert.
Solche verschränkten Systeme sind der Grund für fast alle zentralen Probleme
der Interpretation der Quantentheorie. Wir sind ihnen bei der Diskussion des Mess-
prozesses (Abschn. 2.3.1) und der quantenmechanischen Beschreibung gleicher
Teilchen (Kap. 3) begegnet. Erwin Schrödinger hat die Möglichkeit verschränkter
Systeme als den charakteristischen Zug der Quantentheorie bezeichnet, der eine
entscheidende Abweichung von der klassischen Denkweise erzwingt (Schrödinger
1935b, S. 555).
In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf diese Korrelationen und damit
auf eine besondere Konsequenz der Existenz verschränkter Systeme, die zum
ersten Mal in einem berühmten Gedankenexperiment von Albert Einstein, Boris
Podolsky und Nathan Rosen (1935) hervorgehoben wurde. (Das Akronym ihrer
Nachnamen, „EPR“, wurde zum Namensgeber für das gesamte damit zusammen-
hängende Themenfeld.) Der Aufsatz, in dem sie diese wegen der klassisch ganz
unerwarteten Korrelationen oft „EPR-Paradoxon“ genannte Situation darstellen und
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 109

daraus ein Argument entwickeln, hat unübersehbar viele weitere Veröffentlichun-


gen hervorgerufen.1 Einstein und seine Mitautoren hatten vor allem die Absicht,
gegen Niels Bohr zu zeigen, dass die Quantenmechanik noch unvollständig ist,
d. h. dass sie nicht alle in der physikalischen Realität vorliegenden Eigenschaf-
ten beschreibt. In der weiteren Diskussion konzentrierten sich die philosophischen
Analysen, insbesondere nach einer richtungsweisenden Arbeit von John Stewart
Bell aus dem Jahre 1964, auf die besondere Art der Nicht-Lokalität, die die
Quantenmechanik kennzeichnet. Aus den heute in der Nachfolge der EPR-Arbeit
diskutierten verschränkten Systemen scheint zu folgen, dass sich physikalische Sys-
teme auch dann noch beeinflussen, wenn sie so zueinander gelegen sind, dass sie nur
mit Überlichtgeschwindigkeit verbunden werden könnten. Dies widerspricht einem
Grundgedanken der speziellen Relativitätstheorie.
Wir werden zunächst einen Blick auf das EPR-Argument und die Anfänge
der Debatte um verschränkte Zustände werfen (Abschn. 4.2). In den folgenden
Abschnitten werden wir dann die aktuelle Debatte um Verschränkung und Nicht-
Lokalität darstellen, die vor allem auf Bells Beweis und einschlägigen Experimenten
beruht. Bells Argument zeigt, dass mindestens eines der ontologischen und me-
thodischen Prinzipien, die der klassischen Physik zugrunde liegen, aufgegeben
werden muss (Abschn. 4.3). Zwar sagt die Quantenmechanik die durch die Ver-
schränkung hervorgerufenen Korrelationen voraus, ihr Zustandekommen kann aber
nicht im üblichen Sinn kausal erklärt werden. Wir werden untersuchen, welches der
klassischen Prinzipien, die solchen Erklärungen zugrunde liegen, plausiblerweise
als verletzt angesehen werden kann. Vor allem werden wir uns damit beschäfti-
gen, was es heißen könnte, die zentrale Lokalitätsannahme aufzugeben und ob eine
Nicht-Lokalität mit der Relativitätstheorie vereinbar ist (Abschn. 4.4). Schließlich
diskutieren wir, welche Folgen eine Verletzung der anderen Prinzipien mit sich
bringen würde (Abschn. 4.5).
Der eilige Leser sei auf folgende Abkürzungsmöglichkeiten in diesem nicht
ganz kurzen Kapitel hingewiesen. Das EPR-Argument war historisch gesehen der
Ursprung der Debatte um verschränkte Zustände, wird heute aber kaum mehr
als überzeugendes Argument angesehen. Wer weniger an der historischen Genese
als an der gegenwärtigen systematischen Diskussion interessiert ist, kann deshalb
Abschn. 4.2 über das EPR-Argument auslassen. (Wer sich diesem Abschnitt wid-
met, sei noch darauf hingewiesen, dass 4.2.4 eher etwas für Freunde formaler
Überlegungen ist und zunächst übersprungen werden kann.) Den systematischen
Kern des Kapitels bilden die Abschn. 4.3 zu Bells Theorem und 4.4 zu Nicht-
Lokalität. (Leser ohne formalen Hintergrund können Bells ursprünglichen Beweis
in 4.3.2 auslassen und sich auf die etwas intuitivere Veranschaulichung als Strategie-
spiel in 4.3.3 konzentrieren; Leser mit solchem Vorwissen mögen dies umgekehrt
handhaben.) Die alternativen Lösungsvorschläge in Abschn. 4.5 vervollständigen
die systematischen Überlegungen, haben aber eher ergänzenden Charakter.

1 Fürdie Auseinandersetzungen der ersten 50 Jahre vgl. Stöckler (1984), für gegenwärtige
Diskussionen Fine (2013).
110 P.M. Näger und M. Stöckler

4.2 Das EPR-Argument und seine Folgen

4.2.1 Das EPR-Argument im Überblick

Die ursprüngliche Formulierung des EPR-Arguments gehört zu der Auseinander-


setzung, die Bohr und Einstein über den Status der Quantenmechanik geführt haben
(Bohr-Einstein-Debatte). Einstein, Podolsky und Rosen wollen mit ihrer Arbeit aus
dem Jahre 1935 zeigen, dass die Quantenmechanik unvollständig ist, d. h. dass
in der physikalischen Realität Eigenschaften vorliegen, die in der Theorie keine
Entsprechung haben. EPR wollen hier weniger ganz neue Eigenschaften einfüh-
ren als vielmehr behaupten, dass Eigenschaften wie Ort und Impuls, die wegen
der Heisenbergschen Unschärfe gemäß der Quantenphysik nicht zugleich scharf de-
finiert sein können, tatsächlich gleichzeitig vorliegen. Insbesondere Einstein war
mit der neuen Quantenmechanik unzufrieden, weil diese mit zentralen Annahmen
der klassischen Physik brach. Nur unter der Annahme, dass die gemäß der Quan-
tenmechanik unbestimmten Eigenschaften tatsächlich klar definierte Werte haben,
können die scheinbar indeterministischen quantenmechanischen Prozesse als tatsä-
chlich deterministisch gedacht werden (vgl. Bohms Theorie, siehe Abschn. 5.1) und
die scheinbar nicht-lokalen Vorgänge beim Kollaps der Wellenfunktion als bloße
Erkenntnisprozesse (statt als physikalische Prozesse) aufgefasst werden.
Für die Position, dass es solche zusätzlichen Eigenschaften bzw. genauere Fest-
legung von Eigenschaften („verborgene Variablen“) gibt, die die Quantenmechanik
nicht beschreibt, wird im Kontext der EPR-Debatte häufig – aber irreführend – der
Begriff „Realismus“ verwendet (und in Kombination mit der Lokalitätsannahme die
Bezeichnung „lokaler Realismus“). Da „Realismus“ viele Bedeutungen haben kann,
muss hier festgehalten werden, dass EPR das meinen, was Philosophen einen „meta-
physischen Realismus“ nennen würden: Physikalische Objekte existieren und ihre
Eigenschaften sind klar festgelegt, unabhängig davon, was menschliche Beobachter
über sie wissen oder denken. Während verschiedene Varianten eines metaphysi-
schen Realismus vorstellbar sind, wird unter „Realismus“ in der EPR-Debatte
die Position verstanden, dass – anders als die Quantenmechanik es nahelegt –
Eigenschaften, die sich in einer Superposition befinden, nicht unbestimmt sind,
sondern durch die verborgenen Variablen tatsächlich immer einen bestimmten, ein-
deutig definierten Wert haben. „Metaphysisch“ heißt hier übrigens nicht, dass die
Eigenschaften nicht durch physikalische Messungen zugänglich wären: Die Idee
ist gerade, dass Messungen die schon vorher festgelegten Werte von Eigenschaf-
ten offenbaren. Vielmehr wird „metaphysisch“ hier im Gegensatz zu „epistemisch“
gebraucht: „Epistemischer Realismus“ bezeichnet die These, dass wir die Welt
(ungefähr) so erkennen, wie sie beschaffen ist.
Die Behauptung, dass unsere besten wissenschaftlichen Theorien die Welt an-
nähernd korrekt beschreiben, heißt „wissenschaftlicher Realismus“ und erfordert
sowohl metaphysischen Realismus als auch epistemischen Realismus bzgl. dieser
besten Theorien. Insbesondere erfordert der wissenschaftliche Realismus, dass
den zentralen Begriffen der Theorie etwas in der (denkunabhängigen) Wirklichkeit
entspricht. Eine realistische Interpretation der Quantentheorie wäre demzufolge ei-
ne Interpretation, bei der die Wellenfunktion ein existierendes physikalisches Objekt
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 111

repräsentiert (vgl. GRW-Theorie, Kap. 2.4), im Gegensatz zu anti-realistischen oder


instrumentalistischen Interpretationen, bei denen die Wellenfunktion lediglich ein
nützliches Recheninstrument darstellt, dem aber nichts in der physikalischen Wirk-
lichkeit entspricht (vgl. epistemische Interpretationen und Quanten-Bayesianismus,
Kap. 7.3). Im ersteren Fall beschreiben Änderungen in der Wellenfunktion physika-
lische Prozesse, im zweiten Fall lediglich Änderungen unseres Kenntnisstandes.
EPR zielen also auf einen metaphysischen Realismus (weil sie Existenz und
insbesondere Eigenschaften fundamentaler Objekte zu jedem Zeitpunkt für klar de-
finierte Tatsachen halten, unabhängig von unserem Wissen darüber), aber auf einen
epistemischen/wissenschaftlichen Anti-Realismus bzgl. der Quantentheorie (weil
sie die Wellenfunktion nicht als Beschreibung eines realen, physikalischen Objekts
verstanden wissen wollen).
EPRs Argument beruht auf einem Gedankenexperiment, in dem sie ein Gesamt-
system aus zwei verschränkten Objekten betrachten. Im Unterschied zu späteren
Darstellungen verwenden sie keine Zustandsvektoren, die zum Spin gehören,
speziell nicht den Zustand (4.2), sondern eine Beschreibung durch verschränkte
Zustandsvektoren im Ortsraum:


ψ(x1 , x2 ) = ei(x1 –x2 +x0 )p/ dp. (4.3)

Eine solche Situation entsteht, wenn zwei Systeme einige Zeit in Wechselwirkung
standen, dann aber getrennt werden und keine Wirkung mehr aufeinander ausüben.
Es wird nun überlegt, was geschieht, wenn man in großer Entfernung voneinander
den Ort bzw. den Impuls des jeweiligen Teilchens misst. Wohl in Anlehnung an die
Theorie der Beschreibung zusammengesetzter Systeme, die von Neumann für seine
Analyse des Messprozesses vorgelegt hat (vgl. Abschn. 2.3), gehen Einstein, Podol-
sky und Rosen davon aus, dass man aufgrund der Verschränkung der Wellenfunktion
durch Orts- oder Impulsmessungen am Teilchen 1 den entsprechenden Zustand des
Teilchens 2 bestimmen kann. Wenn man am Teilchen 1 einen bestimmten Impuls
misst, kann man sofort auch für das Teilchen 2 dessen Impuls mit Sicherheit vorher-
sagen. Wenn man für das Teilchen 1 einen bestimmten Ort misst, kann man sofort
auch den Ort des Teilchens 2 mit Sicherheit vorhersagen.
Da, so das Argument, die Messung am Teilchen 1 den Zustand am Teilchen 2
wegen der fehlenden physikalischen Wechselwirkung nicht ändern kann, muss dem
Teilchen 2 sowohl ein definierter Impuls als auch ein definierter Ort zugeschrieben
werden. Das wird aber in der Zustandsbeschreibung der Quantenmechanik nicht
abgebildet, woraus folgt, dass die Quantenmechanik unvollständig ist. Die Mes-
sung wird epistemisch verstanden, als eine Änderung unseres Kenntnisstandes des
Systems:

Wir sehen daher, dass als Folge zweier verschiedener Messungen, die an dem ersten Sys-
tem ausgeführt werden, dem zweiten System zwei verschiedene Zustände zugesprochen
werden. Da andererseits die beiden Systeme zum Zeitpunkt der Messung nicht mehr mit-
einander in Wechselwirkung stehen, kann nicht wirklich eine Änderung in dem zweiten
112 P.M. Näger und M. Stöckler

System als Folge von irgendetwas auftreten, das dem ersten System zugefügt werden mag.
(Einstein et al. 1935, dt. Übers. in Baumann und Sexl 1987, S. 84)

Einstein und seine Ko-Autoren setzen also voraus, dass die getrennten Teilsys-
teme keine physikalischen Wirkungen mehr aufeinander ausüben können (was man
als eine Art von Lokalitätsannahme ansehen kann). Das wird auch in einem Brief
Einsteins an Karl Popper vom 11.9.1935 deutlich:

Da es aber ungereimt ist, anzunehmen, dass der physikalische Zustand von B davon abhän-
gig sei, was für eine Messung ich an dem von ihm getrennten System A vornehme, so heißt
dies, dass zu demselben physikalischen Zustande von B zwei verschiedene ψ-Funktionen
gehören. Da eine vollständige Beschreibung eines physikalischen Zustandes notwendig ei-
ne eindeutige Beschreibung sein muss . . . , so kann die ψ-Funktion nicht als die vollständige
Beschreibung eines Zustandes aufgefasst werden . . .
Man kann also nicht wohl um die Auffassung herumkommen, dass das System B tatsächlich
einen bestimmten Impuls und eine bestimmte Koordinate hat. Denn was ich nach freier
Wahl prophezeien kann, das muss auch in der Wirklichkeit existieren. (Einstein, Brief an
Popper 1935, abgedr. in Popper 1971, S. 412–418)

Das Ergebnis lässt die Zustandsbeschreibung der Quantenmechanik als unvoll-


ständig erscheinen, da die Quantenmechanik einem System nur entweder einen
scharfen Impuls oder einen scharfen Ort zuschreiben kann. Die Unvollständigkeit
legt die Möglichkeit nahe, dass die Korrelationen durch die Einführung verborge-
ner Variablen erklärt werden können, wozu die Autoren aber nicht explizit Stellung
nehmen:

Während wir somit gezeigt haben, dass die Wellenfunktion keine vollständige Beschreibung
der physikalischen Realität liefert, lassen wir die Frage offen, ob eine solche Beschreibung
existiert oder nicht. Wir glauben jedoch, dass eine solche Theorie möglich ist. (Einstein
et al. 1935, dt. Übers. in Baumann und Sexl 1987, S. 86)

4.2.2 Analyse des EPR-Arguments

Der kurze EPR-Aufsatz (vier Seiten in der Zeitschrift Physical Review von 1935),
insbesondere die Verwendung einer verschränkten Wellenfunktion, die besonde-
re Messanordnung sowie einzelne Definitionen und Beweisschritte, haben eine
Fülle von Reaktionen und Diskussionen ausgelöst, die bis heute anhalten. Er ge-
hört zu den wirkungsmächtigsten Arbeiten zur Philosophie der Quantentheorie.
Im Folgenden soll der Aufbau dieses Aufsatzes genauer betrachtet werden, auch
weil man dabei studieren kann, wie mathematischer Formalismus, physikalische
Interpretation und philosophische Prinzipien ineinander greifen.2
Aus heutiger Sicht ist das Argument aufgrund mindestens einer falschen Prämis-
se, der Lokalitätsannahme, fehlerhaft. Die Argumentationsstrategie ist zudem nicht
leicht durchschaubar. Die Prämissen, die unterschiedlicher Art sind (Bedeutungs-
festlegungen, Elemente des mathematischen Formalismus der Quantenmechanik,

2 Eine wertvolle Hilfe sind dabei das Material und die sorgfältigen Analysen von Kiefer (2015).
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 113

philosophische Annahmen), werden nicht immer übersichtlich dargestellt. Die for-


male Struktur des Arguments ist nicht ganz klar und scheint unnötige Umwege zu
enthalten.
Die Konklusion des Arguments ist die Behauptung, dass die Quantenmechanik
unvollständig sei. Diese These wird in den beiden aufeinander aufbauenden Teilen
der Arbeit verteidigt. Die Autoren machen gleich zu Beginn des ersten Teils deut-
lich, dass nur eine vollständige physikalische Theorie als befriedigend bezeichnet
werden kann. Sie lassen die genaue Bedeutung von „vollständig“ offen, und legen
nur fest, dass eine vollständigen Theorie zumindest folgende Bedingung erfüllen
muss:

(V) Bedingung der Vollständigkeit: „[J]edes Element der physikalischen Realität


muss seine Entsprechung in der physikalischen Theorie haben.“ (S. 81)3

Um diese Bedingung operationalisierbar zu machen, muss es ein Kriterium dafür


geben, wann man von einem Element der physikalischen Realität sprechen kann,
das dann seine Entsprechung in der physikalischen Theorie finden muss. Sie formu-
lieren eine hinreichende Bedingung dafür, dass es ein solches Element der Realität
gibt:

(R) Realitätskriterium:4 „Wenn wir, ohne auf irgendeine Weise ein System zu
stören, den Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit (d. h. mit der Wahr-
scheinlichkeit gleich eins) vorhersagen können, dann gibt es ein Element der
physikalischen Realität, das dieser physikalischen Größe entspricht.“ (S. 81)

Offensichtlich wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass es eine objektive


(von unserer Erkenntnis unabhängige) Realität gibt („metaphysischer Realismus“)
und dass physikalische Theorien diese Realität möglichst vollständig abbilden
sollen. (V) und (R) sind Aussagen, die das Verhältnis zwischen Theorie und Wirk-
lichkeit betreffen („semantische Annahmen“). Sie sind nur vor dem Hintergrund
bestimmter philosophischer Annahmen sinnvoll und zeigen Einsteins Verständ-
nis von „Realismus“. Weitere explizite Annahmen zu „Realismus“ werden nicht
getroffen.
Zur Erläuterung betrachten Einstein, Podolsky und Rosen die Quantentheo-
rie und erinnern daran, dass im Fall von physikalischen Größen, bei denen wie
bei Ort und Impuls die zugehörigen Operatoren nicht vertauschen, die Kenntnis
des genauen Werts der einen Größe (z. B. des präzisen Orts eines Teilchens) die
Kenntnis des genauen Werts der anderen ausschließt. Die übliche Auffassung sei,
dass die Quantentheorie dennoch vollständig ist, weil man bei genauer Kenntnis
des Orts eines Teilchens keinem Impulswert eine physikalische Realität zuordnen

3 Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Übersetzung der EPR-Arbeit in Baumann und Sexl 1987.
Diese Seitenzahlen sind auch im Abdruck der Arbeit im Buch von Kiefer (2015) zu finden.
4 Diese etwas missverständliche Bezeichnung geht zurück auf Bohr (1935).
114 P.M. Näger und M. Stöckler

könne. Dieser Auffassung, der von Niels Bohr seit seinem Solvay-Vortrag 1927 ge-
prägten Mehrheitsmeinung, wollen die Autoren widersprechen, indem sie zeigen,
dass einem Teilchen zumindest unter bestimmten Bedingungen doch gleichzeitig
ein definierter Ort und ein definierter Impuls zugeordnet werden kann.
Die formale Struktur des Arguments nimmt dieses Ziel in einer zunächst nicht
ganz offensichtlichen Weise auf. Einstein, Podolsky und Rosen stellen in einem
Zwischenschritt nämlich fest, dass aus der Quantenmechanik und ihren seman-
tischen Annahmen (V) und (R) für Größen mit nichtvertauschbaren Operatoren
folgende aus den Teilaussagen (1) und (2) zusammengesetzte Aussage folgt (vgl.
EPR, S. 83):

(A1): Entweder ist (1) die quantenmechanische Beschreibung der Realität, wie
sie durch die Wellenfunktion gegeben ist, nicht vollständig oder (2) den beiden
physikalischen Größen kommt nicht gleichzeitig Realität zu.

Käme den beiden Größen nämlich gleichzeitig Realität zu, müssten sie in einer
vollständigen Theorie eine Entsprechung haben. In die Herleitung von (A1) gehen
Elemente der Quantentheorie sowie semantische Festlegungen wie (V) und (R) ein,
aber keine Annahmen über die Lokalität oder Nicht-Lokalität der Quantentheorie.
Im zweiten Teil des Aufsatzes wird die verschränkte Wellenfunktion (4.3) für
zwei Teilchen benutzt, um die Unvollständigkeit der Quantenmechanik zu zeigen.
Die Autoren geben dafür (im drittletzten Abschnitt ihrer Arbeit, S. 86) folgende
aussagenlogische Struktur an. Die oben genannte Aussage (A1) (entweder (1) oder
(2)) ist die erste Prämisse. Die zweite Prämisse ist die Aussage (A2), die in einer
längeren Überlegung und mit weiteren Voraussetzungen mit Hilfe der verschränkten
Wellenfunktion hergeleitet wird ((1) und (2) stehen für die gleichen Aussagen wie
in (A1)):

(A2): Aus der Negation von (1) folgt die Negation von (2).

(A2) besagt also, dass aus der Vollständigkeit der quantenmechanischen Be-
schreibung folgt, dass den beiden physikalischen Größen gleichzeitig Realität
zukommt.
Aus (A1) und (A2) folgt dann aussagenlogisch korrekt5 die Konklusion (K),
dass die Aussage (1) wahr ist, d. h.:

(K): Die Quantentheorie ist nicht vollständig.

Allerdings wird nicht richtig deutlich, warum die Autoren meinen, sie hätten
die Implikation (A2) hergeleitet. Es ist nämlich nicht klar, an welcher Stelle der

5 Prämisse A1: Entweder (1) ist wahr oder (2) ist wahr. Prämisse A2 durch Kontraposition um-
geformt: (2) impliziert (1). Der Nachweis der Gültigkeit dieses Schlusses ist eine Variante des
klassischen Dilemmas: Entweder (1) (und damit K) ist wahr. Oder (2) ist wahr, aber auch in diesem
Fall ergibt die Prämisse A2, dass (1) wahr ist.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 115

Überlegungen im zweiten Teil des Aufsatzes die Annahme der Vollständigkeit der
Theorie eine Rolle spielt (vgl. Fine, 2013, Abschn. 1.2). Leicht nachvollziehbar wä-
re dagegen die Behauptung, dass unter Benutzung von (R) gezeigt wurde, dass (2)
falsch ist (vgl. das im Überblick 4.2.1 skizzierte Kern-Argument von EPR) und
wegen (A1) die Aussage (1) wahr sein muss (vgl. Kiefer 2015, S. 40) – aber das
schreiben EPR nicht. Eine Erklärung für die Undurchsichtigkeit der Argumentation
könnten Differenzen zwischen Einsteins eigentlichem Anliegen und den Formulie-
rungen Podolskys sein, der nach vielen Diskussionen zwischen den Autoren den
Artikel dann (wie es heißt, aus sprachlichen Gründen) aufgeschrieben hat (vgl.
Kiefer 2015, S. 44–45, und Fine 2013, Abschn. 1).
Soweit zur groben formalen Struktur. Schauen wir uns nun das bereits im voran-
gehenden Abschn. (4.2.1) skizzierte Kern-Argument von EPR, das angeblich durch
(A2) formalisiert wird, noch einmal genauer an. Wir haben schon skizziert, dass
mit Hilfe der Zustandsfunktion (4.3) für ein System aus zwei Teilchen gezeigt wird,
wie es durch Messungen am Teilchen 1 möglich ist, für das Teilchen 2 einen be-
stimmten Wert für eine Ortsmessung bzw. für eine Impulsmessung vorherzusagen.6
Mit Hilfe der Quantentheorie unter Einschluss der Annahme, dass sich bei einer
Messung der Zustandsvektor unstetig ändert („Kollaps“, von EPR auch „Reduk-
tion des Wellenpakets“ genannt, S. 84)7 wird abgeleitet, dass nach der Messung
für das Gesamtsystem ein Produktzustand vorliegt und damit in jedem Teilsystem
ein definierter Zustand vorliegt. Aufgrund der Verschränkung des ursprünglichen
Zustandsvektors (4.3) folgt, dass je nachdem welche Messung man am ersten
Teilchen durchführt, dem zweiten Teilchen je unterschiedliche Zustandsvektoren
zugeordnet werden können (S. 84), gegebenenfalls sogar solche, die Eigenzustände
nicht-kommutierender Operatoren sind (S. 85).
Bis dahin haben EPR nur Voraussetzungen gemacht, die im Einklang mit der
Quantentheorie stehen.8 Auf S. 84 wird dann allerdings – beinahe beiläufig – ei-
ne weitere Prämisse eingeführt: „Da . . . die beiden Systeme zum Zeitpunkt der
Messung nicht mehr miteinander in Wechselwirkung stehen, kann nicht wirklich
eine Änderung in dem zweiten System als Folge von irgendetwas auftreten, das
dem ersten System zugefügt werden mag.“ Das ist eine Lokalitätsannahme, die
physikalische und philosophische Gründe hat, die wir im weiteren Verlauf dieses
Kapitels noch diskutieren werden. Wir werden sehen, dass aus heutiger Sicht die-
se Lokalitätsannahme falsch und das EPR-Argument deswegen zu beanstanden ist.
Die Annahme wird benötigt um zu argumentieren, dass die Messung an dem einen
Objekt den Zustand des anderen Objekts nicht stört. Nur unter dieser Voraussetzung
kann man EPRs Konklusion ableiten.

6 Für Details vgl. Kiefer 2015, S. 37–39.


7 Dadurch wird von Neumanns Theorie der Messung für EPR wichtig (vgl. Kiefer 2015, S. 23, 38).
8 Vielleicht wird diese Anwendung der quantentheoretischen Zustandsbeschreibung auf ein einzel-

nes System von EPR schon als Vollständigkeitsannahme im Sinne der Negation von (1) gedeutet.
Einstein stellte nämlich z. B. auf dem Solvay-Kongress 1927 seine eigene statistische Ensemble-
Interpretation einer Interpretation gegenüber (die offenbar Bohr zugeschrieben wird), nach der die
Wellenfunktion eine „vollständige Theorie einzelner Prozesse“ ist (s. Howard 1990, S. 92).
116 P.M. Näger und M. Stöckler

In einer realistischen Lesart widerspricht die Zustandszuschreibung der Quan-


tentheorie aber offensichtlich dieser Lokalitätsannahme, insbesondere wenn man
den Kollaps des Zustandsvektors, der in dieser Lesart als physikalischer Prozess
zu verstehen ist, bei der Messung eines Systems mit verschränktem Gesamtzu-
stand betrachtet. Einerseits folgen die Autoren der Quantentheorie, wenn sie den
Zustandsvektor für die Teilsysteme nach der Messung berechnen, andererseits argu-
mentieren sie, dass sich der tatsächliche Zustand der Teilsysteme (z. B. des zweiten
Teilchens) durch die Messung nicht ändert. Man muss dies wohl so verstehen,
dass sie voraussetzen, die Quantenmechanik liefere empirisch korrekte Resultate,
aber nicht annehmen, dass die quantenmechanische Beschreibung von Zuständen
realistisch zu verstehen sei. Da man mehrere Systeme im gleichen verschränkten
Gesamtzustand präparieren und am ersten Teilchen unterschiedliche Messungen
durchführen kann, ohne dass sich unter den gegebenen Prämissen der wirkliche
Zustand des zweiten Teilchen ändert, kommt man mit den EPR-Voraussetzungen
zu der Konklusion, dass die Quantentheorie der gleichen Wirklichkeit (dem
wirklichen Zustand des zweiten Teilchens) verschiedene Wellenfunktionen
zuordnet (S. 84).9
Mehrere Autoren sind aufgrund ausführlicher Studien zur Vorgeschichte und zur
Rezeption des EPR-Arguments zu der Auffassung gekommen, dass in der Arbeit
von 1935 Einsteins Anliegen nicht richtig deutlich wird und dass er dieses Anliegen
später besser zum Ausdruck gebracht hat.10 So verteidigt Don Howard (1990) die
These, dass für Einstein schon vor 1935 die Nicht-Lokalität der Quantenmechanik
der Hauptgrund für seine Unzufriedenheit mit dieser Theorie war. In späteren Äuße-
rungen Einsteins werden die Vollständigkeitsbedingung und das Realitätskriterium
des EPR Aufsatzes nicht mehr bemüht. Einstein betont vielmehr die zentrale Be-
deutung der Annahme, dass die beiden Teilsysteme einen eigenen Zustand haben
müssen (weil sie voneinander entfernt sind) und dass der Zustand des einen nicht
durch Messung am zweiten System verändert werden kann, wenn diese so weit von-
einander entfernt sind, dass keine physikalische Wechselwirkung mehr möglich ist
(jedenfalls nicht innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls). Einsteins Hauptpunkt
war, dass die Vollständigkeit der quantenmechanischen Zustandsbeschreibung und
die Lokalitätsforderung nicht vereinbar sind. Lokalität ist für Einstein hier vor al-
lem die Annahme der Unabhängigkeit räumlich getrennter Objekte (insbesondere
auch im Lichte der Relativitätstheorie als Feldtheorie). Was hier vorläufig und kurz
Lokalität genannt wurde, werden wir in den folgenden Abschnitten (insbesondere
4.3.1 und 4.4.5) noch präziser formulieren.
Für Einstein ging es um einen Konflikt zwischen einer grundlegenden
Lokalitätsannahme, die für ihn auf keinen Fall zur Disposition stand, und ei-
ner bestimmten Interpretation der Quantentheorie (was im Argumentationsgang
und im Wortlaut der EPR-Arbeit nicht wirklich deutlich wird). Die folgende Ent-
wicklung sollte zeigen, dass eine präzisierte Lokalitätsannahme schon mit den
experimentellen Vorhersagen der Quantentheorie nicht vereinbar ist.

9 EPR müssen also nicht kontrafaktisch argumentieren. Sie schließen explizit aus, dass Ort und
Impuls der Objekte gleichzeitig vorhergesagt oder gemessen werden können (S. 86).
10 Siehe Fine 2013, Abschn. 1.3; vgl. auch Held 2002 und Kiefer 2015, S. 50.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 117

Rationale Rekonstruktionen des EPR-Arguments

Wie im Haupttext dargestellt, ist EPRs Argument komplex, stellenweise un-


klar und abgesehen von einer falschen Prämisse vermutlich auch nicht ganz
fehlerfrei. Im Detail wird nicht deutlich, wie genau ihr Argument verstanden
werden soll. Allerdings kann man mit ihren Annahmen und Überlegungen
sehr wohl ein klares Argument konstruieren (vgl. Redhead 1987, S. 71–81):

(P1) Eine Störung an einem Objekt A kann ein anderes entferntes Objekt B
nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit beeinflussen. (Lokalität)
(P2) Wenn man, ohne auf irgendeine Weise ein System zu beeinflussen, den
Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit vorhersagen kann, dann
gibt es ein Element der physikalischen Realität (eine Eigenschaft), das
dieser Größe entspricht. (Realitätskriterium)
(P3) In einer vollständigen physikalischen Theorie muss jedes Element der
physikalischen Realität seine Entsprechung in der Theorie haben. (Be-
dingung der Vollständigkeit)
(P4) Quantenmechanischer Formalismus
(C1) Eine Messung an Objekt A eines verschränkten Zustandes erlaubt,
das Ergebnis einer Messung am entfernten Objekt B mit Sicherheit
vorherzusagen. (aus P4)
(C2) Eine Messung an Objekt A eines verschränkten Zustandes beeinflusst
das entfernte Objekt B nicht (oder zumindest nicht bevor die Messung
an B abgeschlossen ist). (aus P1)
(C3) Dem Wert der bei B gemessenen Größe entspricht ein Element der
Realität. (aus P2, C1 & C2)
(C4) Das Element der Realität bei B muss bereits vor der Messung an A
vorgelegen haben. (aus P1 & C3)
(C5) Gemäß der Quantentheorie liegt vor der Messung an A die Eigenschaft
von B nicht fest. (aus P4)
(C6) Also kann die Quantenmechanik nicht vollständig sein.

Dieses Argument ist gültig (d. h. logisch korrekt). Es ist wohl auch einfa-
cher als das Argument, das EPR im Sinn hatten, weil nur die Messung einer
Größe (jeweils an A und B) statt zweier Größen nötig ist. Da durch Bells Argu-
ment (s. Abschn. 4.3) heute mit hoher Sicherheit davon ausgegangen werden
kann, dass die Quantenwelt nicht-lokal ist, ist jedoch mindestens eine Prä-
misse des Arguments, nämlich (P1), nicht wahr. Dem Argument gelingt es
also nicht, seine Konklusion als wahr zu erweisen. Aus dem Scheitern des
Arguments folgt natürlich nicht, dass die Quantenmechanik vollständig ist.
Ob dies der Fall ist, ist nach wie vor eine offene Frage (siehe die Debatte um
Interpretationen der Quantentheorie in Kap. 2 und 5).
118 P.M. Näger und M. Stöckler

Kehren wir zum Abschluss noch einmal zur EPR-Arbeit zurück. Im viertletz-
ten Absatz wird dort eine stringente Argumentation angedeutet. In ihr wird an
einem Beispiel gezeigt, dass es Elemente der Realität gibt (nämlich das gleich-
zeitige Vorliegen eines definierten Ortes und eines definierten Impulses an einem
der Teilchen des Systems), die nach der Quantentheorie nicht gleichzeitig vorliegen
dürften (veranschaulicht in der Heisenbergschen Unschärferelation). Das gleichzei-
tige Vorliegen wird dabei dadurch bewiesen, dass Ort und Impuls mit Sicherheit
vorhergesagt werden können, ohne dass das System gestört wird. Aus (V) und
(R) folgt damit die Unvollständigkeit der Quantentheorie. Diese Argumentations-
weise ist etwas irreführend, denn auf die Nichtvertauschbarkeit der Größen (und
damit auf die Verletzung der Heisenbergschen Unschärferelation) kommt es gar
nicht so sehr an. Auf gleiche Weise könnte man nämlich argumentieren, dass man
dem zweiten Teilchen verschiedene Impulswerte gleichzeitig zuordnen kann, wenn
man am ersten Teilchen passende Messungen macht. Mit Hilfe der Struktur des
EPR-Arguments könnte man dann die absurde Konklusion ableiten, dass das zweite
System in Wirklichkeit beliebige Impulswerte hat. Diese Konsequenz zeigt, dass
mindestens eine Prämisse falsch oder die Prämissenmenge inkonsistent ist. Man
kann dann aber aus dem Argument nicht mehr einen Hinweis darauf ableiten, dass
Quantenobjekte gleichzeitig einen Ort und einen Impuls haben.

4.2.3 Die Debatte um den EPR-Aufsatz und Nachwirkungen

EPRs Aufsatz ist ein klarer Angriff auf die noch junge Quantentheorie. Ent-
sprechend sahen sich die Urheber der Theorie genötigt, schnell zu reagieren: Bohr
schreibt noch im selben Jahr (1935) eine Antwort auf das EPR-Argument. Sein
Artikel greift – unter dem selben Titel („Can quantum mechanical description of
physical reality be considered complete?“) – die Frage von EPR auf und versucht die
Theorie auf Grundlage seiner eigenen, speziellen Deutung zu verteidigen. Er geht
dabei nicht auf den mathematischen Teil und auf die Verschränkung ein, sondern
konzentriert sich auf das richtige Verständnis der quantenmechanischen Zustands-
beschreibung. Er bestreitet, dass zwei Größen wie Ort und Impuls gleichzeitig
Realität zugeordnet werden kann. Dennoch sei deswegen die quantenmechanische
Beschreibung nicht unvollständig, weil nicht willkürlich auf weitere Informationen
verzichtet wird, sondern eine weitergehende Kenntnis im Prinzip ausgeschlossen ist.
Nach Bohrs Interpretation der Quantentheorie muss eine eindeutige Beschreibung
von Quantenphänomenen grundsätzlich die Angabe über die verwendete Messappa-
ratur einschließen („Kontextualismus“). Unter diesen Voraussetzungen greift das
EPR-Argument nicht mehr in seiner ursprünglichen Fassung. In dieser Hinsicht ist
Bohrs Entgegnung erfolgreich.
Bohrs Antwort birgt jedoch auch große Schwierigkeiten. Erstens kommt ein
vereinfachtes EPR-Argument mit der Messung nur einer Größe aus (siehe grau-
en Kasten „Rationale Rekonstruktion des EPR-Arguments“ in Abschn. 4.2.2) und
gegen dieses Argument wäre Bohrs Antwort nicht erhellend. Zweitens behauptet
Bohr, der Kollaps sei kein physikalischer Prozess („no question of a mechanical
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 119

disturbance“; Bohr 1935, S. 700), was wohl zeigt, dass er den Kern von EPRs Argu-
ment nicht verstanden hat. Denn wenn der Kollaps nicht physikalisch ist, dann folgt
mit dem Gedankenexperiment von EPR unmittelbar, dass die QM unvollständig
ist (was Bohr aber bestreiten wollte). Drittens setzen spätere Diskussionen um die
EPR-Korrelationen bei Messungen und Wahrscheinlichkeiten von Messergebnissen
an. Bohr hat jedoch keine plausible Erklärung für die strengen Korrelationen. Sein
Hinweis, dass die Beschreibungsmöglichkeiten der Quantenmechanik gegenüber
der klassischen Mechanik eingeschränkt sind, weil es unkontrollierbare quanten-
hafte Wechselwirkungen zwischen atomarem System und Messgerät gibt, hilft
im Falle der EPR-Situation nicht recht weiter, weil ja zum Zustandekommen der
Messergebnisse keine physikalischen Wechselwirkungen zwischen den entfernten
Messgeräten in Frage kommen (vgl. Hooker 1972, S. 194ff., S. 222ff.).
Auch Erwin Schrödinger (1935b) nimmt sehr schnell zu dem EPR-Aufsatz Stel-
lung und hebt hervor, dass in dem dort verwendeten verschränkten Zustandsvektor
den getrennten Systemen nicht einzeln ein Zustandsvektor (bei Schrödinger: eine
Wellenfunktion) zugeordnet werden kann. Dazu müsste der Zustand des Gesamtsys-
tems als Produkt der Zustände der einzelnen Systeme darstellbar sein. Schrödinger
spricht hier erstmals von der Verschränkung („entanglement“) der Systeme, die
durch eine Messung wieder aufgelöst werden kann, wobei dann die typischen
Korrelationen auftreten. Er folgt Einstein nicht in der Annahme der Unvollstän-
digkeit der Quantenmechanik, findet aber, offenbar anders als Bohr, Verschränkung
als Folge der Beschreibung von Vielteilchensystemen in der Quantenmechanik un-
befriedigend. Insgesamt geht er mit den Problemen verschränkter Systeme zunächst
eher als Mathematiker und instrumentalistisch um.
In einer anderen Arbeit aus dem gleichen Jahr (Schrödinger 1935a) benutzt er
verschränkte Zustände, um – diesmal ganz anschaulich – zu zeigen, dass Super-
positionen eines mikroskopischen Objekts durchaus makroskopische Folgen haben
können. Dazu konstruiert er den „burlesken Fall“ einer radioaktiven Substanz, die
sich nach einiger Zeit in einem Zustand der Überlagerung von „noch kein Atom zer-
fallen“, |↑1 , und „ein Atom zerfallen“, |↓1 , befindet. In dem Gedankenexperiment
nimmt Schrödinger an, dass der Zerfall eines Atoms über eine „Höllenmaschine“,
d. h. über einen Geigerzähler, der bei Nachweis Gift freisetzt, zum Tod der Katze
führt. Das Gesamtsystem wird dann durch den Zustandsvektor

1
|ψ = √ |↑1 |↑2 + |↓1 |↓2 (4.4)
2

beschrieben, in dem die Katze weder in dem Zustand „tot“, |↓2 , noch in dem
Zustand „lebendig“, |↑2 , ist. Die Katze hat, wie alle Systeme, die Teil eines ver-
schränkten Gesamtsystems sind, für sich betrachtet keinen definierten Zustand. Nur
der Zustand des Gesamtsystems aus Katze und radioaktiver Substanz ist wohldefi-
niert. Schrödinger stellt fest, dass die durch (4.4) gegebene maximale Kenntnis des
Gesamtsystems nicht die maximale Kenntnis der Teilsysteme einschließt. Am Bei-
spiel der Katze will Schrödinger vor allem zeigen, dass dies auch dann gilt, wenn
ein Teilsystem makroskopisch ist. In Schrödingers Gedankenexperiment wird der
120 P.M. Näger und M. Stöckler

Konflikt mit klassischen Intuitionen besonders deutlich, weil man sich ja offenbar
während des gesamten Versuchsablaufs ein Bild vom Gesundheitszustand der Katze
machen kann.
Das EPR-Argument hat zunächst nicht dazu geführt, dass man von der ge-
wohnten quantenphysikalischen Beschreibung abrückte. Es war unklar, wie eine
„vollständige“ lokale Theorie mit verborgenen Variablen aussehen könnte, und
trotz der rätselhaften Korrelationen waren die Erfolge und Erklärungsleistungen der
Quantentheorie zu groß, als dass ein Gedankenexperiment den Glauben an sie hät-
te erschüttern können. Die Physiker fuhren zunächst einfach fort, die bestehende
Quantentheorie weiter zu entwickeln. Erst in den 50er Jahren gab es ein neues
Interesse an Theorien mit verborgenen Variablen (aufgrund von Bohms Theorie,
s. Kap. 5), und in den Diskussionen darüber bekam das EPR-Argument eine neue
Bedeutung.
Seit den 50er Jahren wird das EPR-Argument nicht mehr mit der Wellenfunk-
tion von Einstein, Podolsky und Rosen, sondern mit einem verschränkten Zustand
diskutiert, den David Bohm in seinem Lehrbuch zur Quantentheorie angegeben
hat (1951, S. 616) und den wir in Gl. (4.2) schon kennengelernt haben. Mes-
sungen mit einem raumzeitlichen Aufbau wie bei EPR aber an diesem einfacheren
verschränkten Quantenzustand heißen „EPR/B-Experimente“. In der Debatte um
das EPR-Argument werden seit Bohms Einführung fast immer diese im Vergleich
zu EPRs ursprünglichem verschränkten Zustand (4.3) mathematisch wesentlich
einfacheren Zustände diskutiert. Bei Bohm beschreibt dieser Zustandsvektor den
Spinzustand eines Systems aus zwei Atomen (mit je Spin 1/2), die zunächst in ei-
nem Molekül vereint waren und nach dem Zerfall des Moleküls diesen speziellen
Spinzustand angenommen haben. Während solche Zerfälle in Experimenten relativ
schwierig zu vermessen sind, hat sich gezeigt, dass es in der Natur eine Vielzahl an
Realisierungen dieser mathematischen Struktur gibt. Zum Beispiel sind verschränk-
te Polarisationszustände von Photonen experimentell relativ einfach zugänglich
und werden deshalb heute überwiegend für die Vermessung verschränkter Systeme
benutzt. Wir werden solche Zustände im Abschn. 4.2.4 noch genauer analysieren.
Der verschränkte Zustand (4.2) ist auch Ausgangspunkt des nordirischen Physi-
kers John Stewart Bell, der dem Argument von Einstein, Podolsky und Rosen eine
ganz neue Wendung gegeben hat. In einer bahnbrechenden Arbeit von 1964 argu-
mentierte er gegen EPR, dass die Korrelationen aus Experimenten mit verschränkten
Zuständen selbst dann nicht durch lokale Prozesse erklärt werden können, wenn
man verborgene Variablen annimmt: Die Annahme von verborgenen Variablen
reicht nicht aus, um die starken Korrelationen auf lokale Weise zu erklären. Im
nächsten Abschnitt werden wir Details dazu kennenlernen.
Aus dem Beweis von Bell folgt, dass jede korrekte Theorie der Mikrowelt
eine gewisse Nicht-Lokalität beinhalten muss. Dies kann Bell zeigen, ohne auf
Formulierungen spezieller Theorien über die Quantenwelt einzugehen. Zu seinem
Beweis bedarf es lediglich der Feststellung von Korrelationen zwischen Messergeb-
nissen, wie sie in der EPR-Situationen vorliegen, einiger allgemeiner, plausibler
Hilfsannahmen und etwas Wahrscheinlichkeitstheorie.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 121

Wenn Bells Theorem tatsächlich zeigt, dass die Quantenwelt nicht-lokal ist (und
nicht dass eine der Hilfsannahmen falsch ist), dann ist die Lokalitätsannahme in
EPRs Argument eine falsche Prämisse und die Wahrheit von EPRs Konklusion
kann nicht gefolgert werden: Verschränkte Zustände sprechen nicht zwingend für
die Unvollständigkeit der Quantenmechanik (einen Realismus bzgl. grundlegender
Eigenschaften), weil die Quantenwelt nicht-lokal ist. Das beste, was man aus EPRs
Argument rein inhaltlich dann noch machen kann, ist, Lokalität nicht vorauszu-
setzen und das Argument auf eine disjunktive Konklusion umzuformulieren: Die
Quantenmechanik ist unvollständig oder es gilt Nicht-Lokalität. Durch Bells Argu-
ment wissen wir heute ziemlich sicher, dass Nicht-Lokalität gilt. Ob zusätzlich die
Quantenmechanik vollständig ist (das „Realismus“-Thema), ist nach wie vor eine
offene Frage (vgl. die verschiedenen Interpretationen der Quantenmechanik).
Weil es eine falsche Prämisse enthält, muss man das EPR-Argument inhalt-
lich als gescheitert betrachten. Konzeptuell hingegen, wenn man die Einführung
verschränkter Zustände, den Messaufbau, die Klarheit ihrer Prinzipien und den Ge-
dankengang betrachtet, hat es, wie hier dargestellt, eine enorme Wirkung entfaltet
und ist einer der Meilensteine der Wissenschaftsgeschichte. Es zeigt, wie fruchtbar
falsche Argumente sein können, wenn sie gut durchdacht sind. Schließlich muss es
wohl als eine Ironie der Geschichte betrachtet werden, dass Einstein durch seine
Überlegungen zu verschränkten Zuständen – die darauf zielten nach einer lokalen
Theorie der Gravitation auch eine lokale Theorie der Mikrowelt zu schaffen – eine
Debatte initiiert hat, die – durch Bells Nachweis einer Nicht-Lokalität – genau diese
Intuitionen widerlegte.
Entsprechend wird in der neueren Diskussion die EPR-Situation nicht mehr als
Evidenz für die Unvollständigkeit der Quantenmechanik gewertet, sondern als Be-
leg dafür, dass eine große Klasse von Theorien mit verborgenen Variablen – nämlich
die Klasse lokaler Theorien – ausgeschlossen wird. Der Schwerpunkt der Diskus-
sion hat sich von der Frage, ob die Wellenfunktion alle Züge der Realität wiedergibt,
zu der Bedeutung der spezifischen Nicht-Lokalität verschoben, die sich in den
von der Quantenmechanik vorhergesagten EPR-Korrelationen zeigen. Die Nicht-
Lokalität ist eine Eigenschaft der Quantenmechanik geworden, mit der man sich
auseinanderzusetzen hat.

4.2.4 Analyse des Singulett-Zustandes

In diesem Abschnitt wollen wir den paradigmatischen, verschränkten Spin-Zustand


(4.2), der „Singulett-Zustand“ genannt wird, formal etwas näher untersuchen und
seine Charakteristika herausarbeiten. Wer kein Freund von formalen Überlegungen
ist, kann diesen Abschnitt zunächst überspringen.
Der Spinzustand des Gesamtsystems wird durch einen Zustandsvektor im Hil-
bertraum des Tensorprodukts H1 ⊗ H2 dargestellt, der aus den Spin-Hilberträumen
der Teilsysteme gebildet wird. |↑z 1 ist im Spinraum des Teilchens 1 der
Eigenvektor des Operators Ŝz1 zum Eigenwert +/2 und |↓z 1 der Eigenvektor
122 P.M. Näger und M. Stöckler

zum Eigenwert –/2. Ŝz1 ist der Operator zur Observablen „Spinprojektion in
z-Richtung“. Ebenso ist für das zweite Teilchen |↑z 2 der Eigenvektor des Ope-
rators Ŝz2 zum Eigenwert +/2 und |↓z 2 der Eigenvektor zum Eigenwert –/2. Die
Eigenvektoren bilden jeweils ein vollständiges System von Basisvektoren in den
Spinräumen der einzelnen Teilchen.
Die Vektoren |↑z 1 |↑z 2 , |↑z 1 |↓z 2 , |↓z 1 |↑z 2 und |↓z 1 |↓z 2 bilden
eine vollständige Basis im Hilbertraum des Tensorprodukts. Kehren wir zu dem
Zustand (4.2), dem vielzitierten Singulett-Zustand zurück. Dieser Zustandsvektor
ist gemeinsamer Eigenvektor zu den Spinprojektionsoperatoren Ŝx , Ŝy und Ŝz des
Gesamtsystems.11 Man kann ihn auch wie folgt aufschreiben:

1
|ψ –  = √ |↑x 1 |↓x 2 – |↓x 1 |↑x 2 . (4.5)
2
Anschaulich kann man sagen, dass der Singulett-Zustand rotationssymmetrisch zur
Achse ist, in der sich die Teilchen voneinander entfernen.
Der Zustand (4.2) ist zugleich Eigenvektor des Gesamtspins

Ŝ2 = (Ŝx1 + Ŝx2 )2 + (Ŝy1 + Ŝy2 )2 + (Ŝz1 + Ŝz2 )2 . (4.6)

Ŝz und Ŝ2 bilden ein maximales System von kommutierenden Operatoren (vgl.
Abschn. 1.2.3) für diesen Zustand, d. h. man kann dem System in diesem Zustand
maximal den Wert (die Eigenschaft) des Gesamtspins (hier 0) und gleichzeitig den
Wert (die Eigenschaft) der Spinprojektion in z-Richtung (hier auch 0) zuordnen.
Der Zustand (4.2) ist allerdings kein Eigenzustand zu dem Operator Ŝz1 ⊗ I, der
auf dem gesamten Spinraum dadurch definiert ist, dass Ŝz wie Ŝz1 auf den ersten
Faktor der Basisvektoren im Produktraum wirkt und der zweite Faktor unverändert
bleibt. Den einzelnen Teilchen kann also kein Eigenwert des Operators Ŝz1 und da-
mit keine definierte Größe der Spinprojektion zugeordnet werden. Dem entspricht
anschaulich, dass der Zustandsvektor der einzelnen Teilchen nicht durch einen rei-
nen Zustand charakterisiert werden kann. Mit diesem mathematischen Befund kann
man unterschiedlich umgehen. Wenn man auch im Singulett-Zustand an der Vor-
stellung festhalten will, dass die zwei Teilchen jeweils durch einen eigenen Zustand
charakterisiert werden sollen, kommt dafür nur der Statistische Operator

1 1
ρ̂ = |↑↑| + |↓↓| (4.7)
2 2
in Frage, der anzeigt, dass die Teilsysteme in einem sog. „gemischten Zustand“
vorliegen (vgl. Abschn. 1.2.4 und 2.3.1). Aus diesen „reduzierten“ Zuständen kann
man die Korrelationen zwischen den Messungen nicht bestimmen, deshalb wird
dann gesagt, dass der Gesamtzustand durch die Zustände der Teilsysteme nicht
festgelegt wird. Die Dichte-Operatoren für die beiden Teilchen sind in diesem Fall

11 Obwohl diese Operatoren nicht kommutieren, vgl. Abschn. 1.2.3.


4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 123

sogar gleich, so dass deswegen einige Autoren zu der Auffassung gekommen sind,
das Leibniz-Prinzip (vgl. Abschn. 3.2.3) sei hier verletzt. Näher an dem, was der
mathematische Apparat nahe legt, scheint aber die Interpretation zu sein, dass in
einem verschränkten Zustand wie (4.2), im Unterschied zu Zuständen, die als Pro-
dukt geschrieben werden können, gar nicht von „Zuständen“ oder „Eigenschaften
der Komponenten“ gesprochen werden sollte.
In der vereinfachten Bohmschen Variante des EPR-Gedankenexperiments wird
angenommen, dass an weit auseinander liegenden Raumpunkten jeweils eine Mes-
sung der Spinprojektion eines Teilchens in einer Richtung a durchgeführt wird. Die
Quantenmechanik sagt vorher, dass Ergebnisse von Spinmessungen an den Mess-
geräten 1 und 2, jeweils in a-Richtung, eine perfekte Korrelation zeigen. Wenn
man am Messgerät 1 Spin-up misst, misst man am Messgerät 2 Spin-down (und
umgekehrt). Auf der Ebene der Zustandsvektoren erhält man nach einer Messung
entweder |↑a 1 |↓a 2 oder |↓a 1 |↑a 2 .
Diese Korrelation kann man im Singulett-Zustand aufgrund der Rotationssym-
metrie bei Messungen in beliebigen Richtungen finden. Die Wahrscheinlichkeit,
dass am Messgerät 1 Spin-up gemessen wird, ist z. B. 1/2, die Wahrscheinlichkeit,
dass man am Messgerät 2 Spin-down findet, ist auch 1/2. Die Wahrscheinlichkeit,
am Gerät 1 Spin-up und am Gerät 2 Spin-down zu finden, ist aber auch 1/2. Die
bedingte Wahrscheinlichkeit, am Gerät 2 Spin-down zu messen, wenn am Gerät 1
Spin-up gemessen wurde, ist 1. Diese Korrelationen konnten dann später auch in
Experimenten bestätigt werden.
In den Zuständen, die nach der Messung vorliegen, kann man den Einzelteil-
chen, deren Spinprojektion in einer bestimmten Richtung gemessen wurden, wieder
einen bestimmten Spinzustand zuordnen. Die Zustände nach einer Messung in z-
Richtung am Gerät 1 sind Eigenvektoren des Operators Ŝz1 ⊗ I (zu den Eigenwerten
+/2 oder –/2) und zugleich Eigenvektoren des Operators Ŝz (zum Eigenwert 0).
Die Zustände nach der Messung sind nicht mehr verschränkt. Dafür gibt es verschie-
dene äquivalente Kriterien (vgl. dazu die sorgfältige Untersuchung in Ghirardi et al.
2002, insbes. Abschn. 4.1). Für uns wichtig ist, dass in nicht-verschränkten Syste-
men (typischerweise repräsentiert durch Produktzustände im Tensorproduktraum)
den Teilsystemen ein reiner Zustand zugeordnet werden kann und sie keine der
nicht-klassischen Korrelationen zeigen, die wir am Beispiel des Singulettzustands
kennengelernt haben. In nicht-verschränkten Zuständen kann man wieder von zwei
Teilchen mit individuellen Eigenschaften sprechen (auf die Komplikationen im Fal-
le ununterscheidbarer Teilchen kommen wir gleich noch zurück). Manchmal nennt
man Zustände, die nicht-verschränkt sind, „separabel“.
Das Kriterium, dass Zustände genau dann nicht verschränkt sind, wenn sie
als Produkt geschrieben werden können, führt bei ununterscheidbaren (genauer:
gleichartigen) Teilchen zu Schwierigkeiten, da bei ihnen schon die einschlägigen
Symmetrieforderungen zu Superpositionen von Produktzuständen führen. Als wir
die möglichen Zustände nach der Messung notiert haben, sind wir stillschweigend
davon ausgegangen, dass am Messgerät 1 immer der Zustand vorliegt, der zu H1
gehört, also den Index 1 hat. Wenn die beiden Teilchen ununterscheidbar sind, müss-
te aber auch der Zustand nach der Messung symmetrisch gegenüber Vertauschung
124 P.M. Näger und M. Stöckler

der Indizes 1 und 2 sein. Der Zustand nach der Symmetrisierung ist aber in der
gegebenen Basis nicht mehr als Produkt darstellbar. Tatsächlich ist es ja auch so,
dass man bei den Spinmessungen am Gerät 1 nicht feststellen kann, ob z. B. das
Ergebnis Spin-up dem Teilchen 1 oder dem Teilchen 2 zugeordnet werden kann.
Für dieses Problem gibt es verschiedene technische Auswege (vgl. Ghirardi et al.
2002; Ladyman et al. 2013), auf die wir hier nicht im Detail eingehen können,
zumal sie für unsere grundsätzlichen Überlegungen auch keine wesentlichen neu-
en Einsichten bringen. Einer der Vorschläge bedeutet anschaulich, dass Zustände,
die eine Superposition von Produktzuständen sind, dann trotzdem nicht verschränkt
sind, wenn sie durch eine Symmetrisierung der Indizes aus einem Produktzustand
hervorgehen. Ein anderer Weg ist in Audretsch (2005, S. 139) für die Verschrän-
kung der Polarisation von Photonen dargestellt. Hier werden als Basiszustände für
die Messergebnisse gleich Zustandsvektoren angegeben, in denen keine Teilchenin-
dizes mehr vorkommen, sondern nur die Angaben, ob am linken oder am rechten
Messgerät gemessen wird und welchen Polarisationszustand man dort gefunden hat.
Die bisherige Analyse der Bohmschen Variante der EPR-Situation war auch
noch in einer anderen Hinsicht vereinfacht. Wir haben uns nur auf den Spin-
raum beschränkt und die Ausbreitung der Teilchen im Raum nicht beachtet. Diese
Vereinfachung hat eine gewisse Berechtigung, weil die Korrelationen durch den
Zustandsvektor im Spinraum festgelegt sind und nach Auskunft der Quantentheo-
rie auch für beliebig große Entfernungen der Messgeräte beobachtbar sein müssten.
Andererseits ist es so, dass bei einer Messung Spin-up an einer bestimmten Raum-
stelle gemessen wird und Spin-down an einer anderen, was in der Formulierung
des Zustands nach der Messung berücksichtigt werden müsste. Außerdem muss
bei ununterscheidbaren Teilchen bei der Symmetrisierung auch der Anteil der Zu-
standsvektoren im Ortsraum berücksichtigt werden. Details dazu kann man in der
umfassenden und genauen Studie von Ghirardi et al. (2002) finden. Auch in diesem
Fall kann man einen ersten Eindruck von den grundlegenden philosophischen
Konsequenzen bekommen, ohne sich in die technischen Details zu vertiefen.
Die wichtigste physikalische Konsequenz der bisherigen Überlegungen ist die
Existenz nicht-klassischer Korrelationen zwischen den Messergebnissen. In Ana-
logie zum ursprünglichen EPR-Argument kann man davon ausgehen, dass durch
die Messung der Spinprojektion in Richtung a bzw. in Richtung b am System 1
der Spinzustand am System 2 in einen der Zustände |↑a 2 oder |↓a 2 bzw. in
einen der Zustände |↑b 2 oder |↓b 2 „hineingesteuert“ werden kann, ohne dass eine
klassische Wechselwirkung zwischen den Systemen vorliegt. In den folgenden Ab-
schnitten werden wir in einem allgemeineren Rahmen untersuchen, ob und wie das
verständlich gemacht werden kann.
Zum Abschluss der Betrachtung der verschränkten Systeme im EPR-Kontext
wollen wir noch einen kurzen Blick auf mögliche Folgerungen für die Ontologie
der Quantentheorie werfen. Im verschränkten Zustand vor der Messung ist es, wie
wir gesehen haben, nicht möglich, Teilsystemen bestimmte Eigenwerte und Eigen-
vektoren, und damit Eigenschaften, zuzuschreiben. Das ist erst wieder bei den
Zuständen nach der Messung möglich. So ist eigentlich nicht klar, in welchem Sinn
man überhaupt von Teilsystemen sprechen kann. Möglicherweise gibt es Gründe für
die Annahme von Teilobjekten, die aus Hintergrundannahmen kommen, z. B. die
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 125

Vorstellung, dass man es mit voneinander verschiedenen Objekten zu tun hat, die
aus einer Quelle in entgegengesetzter Richtung auseinanderlaufen. Es gibt die Vor-
stellung, dass in (4.2) die Teilsysteme ihre Zustände nur in Relation zu dem anderen
System haben. Wenn man nur auf die Art der Zustandsbeschreibung schaut, liegt die
Annahme näher, dass in einem Zustand wie (4.2) gar keine Teile existieren. Diese
Teile entstehen danach erst bei einer Messung, die das Gesamtsystem, das durch
einen Zustand im Tensorraum beschrieben wird, teilt, so dass man Komponenten
bekommt, denen man Zustandsvektoren wie |↑a 1 oder |↓b 2 in den Teilräumen zu-
ordnen kann (vgl. Friebe 2004, für die Verteidigung dieser Sichtweise). Allerdings
gibt die Quantenmechanik keinerlei Hinweise, was bei einer Messung im Detail ge-
schieht und warum danach wieder von zwei individuellen Systemen gesprochen
werden kann. Die Quantenmechanik liefert nur die Zustände vor und nach der
Messung und die Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten bestimmter Messwerte.
All das macht es schwierig, ontologische Folgerungen aus den EPR-Situationen
zu ziehen. Im Abschn. 4.3 werden wir zunächst einen Zugang wählen, der sich
ganz auf die Messausgänge und ihre statistischen Relationen zurückzieht, und
im Abschn. 4.4 noch einmal mögliche Folgerungen für ein holistisches Weltbild
diskutieren.

4.3 Der Bellsche Beweis

In diesem Abschnitt wollen wir uns nun Bells berühmtes Theorem aus einer
systematischen Perspektive genauer ansehen. Wir werden versuchen, seine Ar-
gumentation nachzuvollziehen, seine impliziten Voraussetzungen herauszuarbeiten
und die Konsequenzen des Theorems zu diskutieren. Bells Theorem ist auch 50
Jahre nach seiner Entdeckung eines der meistdiskutierten Themen in der Philo-
sophie der Quantenphysik. Trotz seiner mathematischen Einfachheit und Klarheit
wird über seine korrekte Interpretation bis heute gestritten. Es betrifft auf eine un-
mittelbare Weise, nämlich weitgehend theorieunabhängig, ein zentrales Problem der
Quantenwelt, nämlich die Einbettung von Quantenobjekten in Raum und Zeit.
Das Theorem zeigt, dass es einen Widerspruch zwischen den Phänomenen
der Quantenwelt und den Annahmen einer lokalen, klassischen Weltsicht gibt.
Lokal heißt hier, dass physikalische Prozesse mit einer Geschwindigkeit langsa-
mer als der des Lichts ablaufen, wie es die Relativitätstheorie offenbar impliziert.
Der Widerspruch zeigt sich darin, dass man aus der lokalen klassischen Weltsicht
eine obere Grenze für die Stärke von Korrelationen ableiten kann („Bellsche Un-
gleichung“), die aber durch Messergebnisse aus Experimenten mit verschränkten
Quantenobjekten überschritten wird („Verletzung der Bellschen Ungleichung“).
Zur Zeit der Formulierung des Theorems (1964) war zunächst nicht klar, welche
Seite des Widerspruchs als die falsche zu betrachten ist, weil der Ausgang der
Experimente, in denen die genannten Quantenphänomene auftreten, nur durch die
quantenmechanischen Vorhersagen erschlossen wurde (Gedankenexperimente auf
Grundlage der Quantentheorie). In den folgenden Jahrzenten jedoch wurden ver-
schiedene Varianten der Experimente tatsächlich durchgeführt, und es zeigte sich,
126 P.M. Näger und M. Stöckler

dass die Vorhersagen der Quantenphysik richtig waren. Damit war entschieden, dass
es die lokale, klassische Weltsicht sein muss, die mindestens eine nicht haltbare
Annahme enthält. Die meisten Autoren argumentieren dafür, dass es die Lokali-
tätsannahme ist, die in der Quantenwelt verletzt ist. Da Lokalität anscheinend ein
Grundzug unserer akzeptierten relativistischen Raum-Zeit-Theorien ist, rüttelt Bells
Theorem somit an den Grundfesten unseres Verständnisses von Raum und Zeit
und den darin ablaufenden kausalen Prozessen. Als erstes wollen wir uns nun den
Experimenten zuwenden, die die empirische Grundlage des Theorems darstellen.

4.3.1 Experimentelle Grundlagen

Die Experimente, die Bells Theorem zugrunde liegen, sind Realisierungen des von
Einstein et al. (1935) vorgeschlagenen und von Bohm (1951) vereinfachten Ge-
dankenexperiments und werden entsprechend als EPR/B-Experimente bezeichnet.
In ihrer modernsten Variante werden diese Experimente mit Photonen (Licht-
quanten) durchgeführt. Das Experiment läuft typischerweise wie folgt ab: Eine
geeignete Quelle C wird dazu angeregt, ein Photonenpaar zu emittieren, dessen
Polarisationszustände verschränkt sind. Der verschränkte Polarisationszustand, der
strukturell dem im vorigen Abschnitt diskutierten Singulett-Zustand ähnlich ist (für
den Zusammenhang siehe grauen Kasten „Bell-Zustände“), lautet z. B.

1
|φ +  = √ |+z 1 |+z 2 + |–z 1 |–z 2 . (4.8)
2
Hierbei steht |+z  für eine Polarisation in Richtung z, während |–z  eine Polarisation
senkrecht zu z repräsentiert. Analog zu den verschränkten Zuständen, die wir bisher
kennengelernt haben, haben auch die einzelnen Photonen in diesem Zustand keine
eindeutige Polarisation. Diese Beschreibung des Quantenzustands dient hier aber
nur der Erläuterung, welche Art von Zuständen in dem Experiment benötigt wird;
nichts in Bells Argument hängt von dieser theoretischen Beschreibung ab, es kommt
allein auf den Messaufbau und die Messergebnisse in den Experimenten an, die wir
nun näher charakterisieren werden.

Bell-Zustände

Der Polarisationszustand zweier Quantenobjekte kann allgemein geschrieben


werden als

|ψ = c1 |+z 1 |+z 2 + c2 |+z 1 |–z 2 + c3 |–z 1 |+z 2 + c4 |–z 1 |–z 2 , (4.9)

wobei die ci komplexe Koeffizienten sind mit i |ci |2 = 1. M. a. W. bil-
den die Produktzustände |+z 1 |+z 2 , |+z 1 |–z 2 , |–z 1 |+z 2 und |–z 1 |–z 2 eine
Orthonormalbasis des entsprechenden Hilbertraums.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 127

Die vier Spezialfälle


1
|φ ±  = √ |+z 1 |+z 2 ± |–z 1 |–z 2 , (4.10)
2
1
|ψ ±  = √ |+z 1 |–z 2 ± |–z 1 |+z 2 (4.11)
2

heißen „Bell-Zustände“ und sind ebenfalls eine Orthonormalbasis des


Hilbert-Raumes. Sie verletzen (bei entsprechenden Messungen) eine Bell-
Ungleichung auf größtmögliche Weise (und werden „maximal verschränkt“
genannt); deshalb werden in typischen EPR/B-Experimenten zur Überprüfung
des Bell-Theorems solche Bell-Zustände präpariert. (Alle anderen verschränk-
ten Zustände werden als „partiell verschränkt“ bezeichnet und können nur
geringere Verletzungen einer Bellschen Ungleichung generieren.)
Unter den Bell-Zuständen sind nur |φ +  und |ψ –  rotationssymmetrisch.
Dies zeigt sich auch an den Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Mess-
ergebnisse α und β (gegeben bestimmte Messeinstellungen a und b und
die Präparation eines der Bell-Zustände), die nur für die beiden genannten
rotationssymmetrischen Zustände vom relativen Winkel abhängen:
 2
P(αβ|abφ ± ) = αa , βb |φ ±  = 12 cos2 (a ∓ b), (4.12)
 
P(αβ|abψ ± ) = αa , βb |ψ ±  = 12 sin2 (a ± b).
2
(4.13)

(„|αa , βb “ bezeichnet hierbei den Zustand, dass das Photon 1 die Polarisation
α in Richtung a und das Photon 2 die Polarisation β in Richtung b hat.)
Während die Zustände |φ +  und |ψ +  symmetrisch unter Indexvertauschung
sind, sind |φ –  und |ψ –  antisymmetrisch. Photonen sind Bosonen (Spin = 1)
und müssen eine symmetrische Gesamtwellenfunktion haben. Dennoch kön-
nen sie sich auch in antisymmetrischen Bell-Polarisationszuständen befinden,
weil sich durch einen antisymmetrischen Orts- bzw. Impulsteil (der in den
obigen Gleichungen nicht notiert ist) insgesamt wieder eine symmetrische
Gesamtwellenfunktion ergibt.
Analoges gilt für die Spin-Zustände von Quantenobjekten mit der No-
tation |↑z  und |↓z  statt |+z  und |–z , allerdings mit einem wichtigen
Unterschied. Da die Winkel in Spinraum und physikalischem Raum unter-
schiedlich skaliert sind, ergeben sich andere Winkelabhängigkeiten bei den
Wahrscheinlichkeiten:
 
P(αβ|abφ ± ) = 12 cos2 12 (a ∓ b) ,
 
P(αβ|abψ ± ) = 12 sin2 12 (a ± b) .
128 P.M. Näger und M. Stöckler

A B
a C
–+ +–

Abb. 4.1 Schematischer Aufbau eines EPR/B-Experiments

Nach Emission durch die Quelle bewegen sich die Photonen in entgegengesetz-
ten Richtungen auf zwei Polarisations-Messgeräte zu (siehe Abb. 4.1). Jedes der
beiden Messgeräte A bzw. B besitzt einen Zeiger, mit dem man die Richtung a bzw.
b einstellen kann, in der die Polarisation gemessen wird.12 Diese Messrichtung wird
für jedes der Geräte zufällig aus einem von drei möglichen Winkeln ausgewählt,
z. B. wird der Zeiger mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf einen Winkel von 0 ◦ , 30 ◦
oder 60 ◦ eingestellt. In den stärksten Versionen der Experimente werden Auswahl
und Einstellung der Richtung vorgenommen, während die Photonen schon unter-
wegs sind. Dies soll sicherstellen, dass die Wahl der Einstellung keinen Einfluss
auf den Zustand der Photonen an der Quelle haben kann (wir werden unten sehen,
warum dies wichtig ist).
Wenn ein Photon auf das Messgerät trifft, detektiert dieses, ob das Photon ent-
weder in der eingestellten Richtung polarisiert ist (+) oder senkrecht dazu (–). An
jedem Messgerät gibt es also zwei mögliche Messergebnisse α = ± bzw. β = ±.
Ein kompletter Durchgang des Experiments wird demnach durch fünf Variablen
charakterisiert: die Präparation der Quelle (die den Zustand der Photonen an der
Quelle festlegt), die beiden Messeinstellungen und die beiden Messergebnisse. Ein
typisches Laborprotokoll für ein Experiment (mit einer festen Präparationsproze-
dur der Photonen, die deshalb nicht notiert wird) sieht dementsprechend wie das in
Tab. 4.1 dargestellte aus.
Diese harmlos aussehende Zahlenreihe nun hat es in sich: Alle weitreichenden
Konsequenzen, die mithilfe von Bells Theorem gezogen werden – Nicht-Lokalität,
Nicht-Separabilität, Holismus etc. – basieren auf solchen einfachen Daten, die aus
EPR/B-Experimenten gewonnen wurden. Einen ersten Hinweis auf die Besonder-
heit der Daten erhält man, wenn man eine statistische Auswertung vornimmt. Es
ergeben sich drei Typen von Korrelationen:

1. (Ungefähr) Perfekte Korrelation: Wenn die Winkel der Messgeräte gleich sind
(vgl. Durchgang 1, 3, 8, 10, . . . in Tab. 4.1) stimmen die Messergebnisse in
annähernd, aber nicht exakt 100 % der Fälle überein. Es ist allerdings plausi-
bel anzunehmen, dass es sich tatsächlich um eine perfekte Korrelation handelt

12 Nach einer üblichen Konvention werden die Winkel relativ zur z-Achse angegeben. Im Prinzip
kann auch jede andere Richtung als Bezugspunkt gewählt werden, weil der Zustand |ψ in (4.8)
rotationssymmetrisch ist.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 129

Tab. 4.1 Typisches a α b β


Laborprotokoll mit Messwerten
aus EPR/B-Experimenten 1 30 ◦ + 30 ◦ +
2 0◦ + 30 ◦ +
3 60 ◦ – 60 ◦ –
4 60 ◦ – 0◦ +
5 60 ◦ + 0◦ +
6 30 ◦ + 0◦ –
7 60 ◦ – 0◦ +
8 0◦ – 0◦ –
9 30 ◦ + 60 ◦ +
10 30 ◦ – 30 ◦ –
... ... ... ... ...
1000 0◦ – 30 ◦ +

(wie die Quantentheorie es vorhersagt), weil man die Abweichungen darauf zu-
rückführen kann, dass die Detektoren keine idealen Messgeräte sind, sondern
Ineffizienzen aufweisen.13
2. Nicht-perfekte Korrelation 1: Wenn die Winkel der Messgeräte um 30 ◦ differie-
ren (vgl. Durchgang 2, 6, 9, . . . , 1000 in Tab. 4.1), stimmen die Messergebnisse
in 75 % der Fälle überein.
3. Nicht-perfekte Korrelation 2: Wenn die Winkel der Messgeräte um 60 ◦ differie-
ren (vgl. Durchgang 4, 5, 7, . . . in Tab. 4.1), stimmen die Messergebnisse in 25 %
der Fälle überein.

Diese Korrelationen der Messergebnisse für die jeweils gegebenen Messeinstel-


lungen müssen erklärt werden. Eine erste Beobachtung ist, dass sie unerwartet
stark sind und dass ihre Stärke nur vom relativen Winkel zwischen den Messrich-
tungen abhängt. Das ist überraschend, weil der Aufbau des Experiments eigentlich
so gewählt ist, dass mögliche Korrelationen minimiert werden: Erstens werden die
Messeinstellungen zufällig und unabhängig voneinander gewählt. Zweitens werden
die Geräte räumlich so angeordnet und der zeitliche Ablauf so arrangiert, dass sich
viele der Ereignisse in den Experimenten nach normalen Standards nicht beeinflus-
sen können. Die zugrundeliegende Idee ist, dass es gemäß der Relativitätstheorie
keine Beeinflussung zwischen Ereignissen geben kann, die raumzeitlich so zu-
einander liegen, dass sie nur mit Wirkungen schneller als Lichtgeschwindigkeit
verbunden werden könnten. Im gegebenen Aufbau sollte es demnach keinen Ein-
fluss zwischen dem Zustand der Photonen an der Quelle und den Messeinstellungen
geben, weil letztere erst nach der Emission (aber vor Ankunft der Photonen) gewählt
werden. Zum anderen sollte es aus dem gleichen Grund keine Wechselwirkung zwi-
schen den Messereignissen (Einstellung und Ergebnis) am einen Flügel (a, α) und
denen am anderen Flügel (b, β) geben.

13 Eine weitere Konsequenz der Detektorineffizienzen ist das Detektions-Schlupfloch (siehe Ende

dieses Abschnitts).
130 P.M. Näger und M. Stöckler

Da diese raumzeitlichen Überlegungen zentral für die Interpretation des Bell-


schen Theorems sind, wollen wir diese noch etwas genauer betrachten. Im Rahmen
der Relativitätstheorie werden solche raumzeitlichen Beziehungen in Raum-Zeit-
Diagrammen veranschaulicht, bei denen man typischerweise auf der horizontalen
Achse eine der drei Raumdimensionen und auf der vertikalen Achse die Zeitdimen-
sion aufträgt. Zu jedem Raumzeit-Punkt P teilt der sogenannte Lichtkegel, der Weg,
den Licht zu P hin bzw. von P aus nimmt, die Raumzeit in drei Bereiche (siehe
Abb. 4.2a):

• Inneres des Lichtkegels (zeitartig): Punkte in dieser Region können mit P durch
Prozesse verbunden sein, die sich langsamer als Licht ausbreiten.
• Rand des Lichtkegels (lichtartig): Punkte in dieser Region können mit P durch
Prozesse verbunden sein, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten.
• Äußeres des Lichtkegels (raumartig): Punkte in dieser Region können mit P nur
durch Prozesse verbunden sein, die sich schneller als Licht ausbreiten.

Man sagt, dass Ereignisse, die sich auf dem oder innerhalb des Lichtkegels von P
befinden, lokal zu P liegen. Raumartig getrennte Ereignisse hingegen liegen nicht-
lokal zu P.
Der entscheidende Punkt für die Überlegungen hier ist nun, dass gemäß der
Standard-Interpretation der Relativitätstheorie folgendes Prinzip gilt:

Globale Einstein-Lokalität: Es gibt keine kausalen Prozesse schneller als Licht.

Zukunftslichtkegel kausale Zukunft


Q1
tig
lic

Q2
ht

ar
ar

ht
tig

lic

zeitartig

Q3

raumartig P raumartig P

Q6

zeitartig Q5
t t Q4
x x

Vergangenheitslichtkegel kausale Vergangenheit

(a) Raumzeitliche Relationen (b) Mögliche kausale Relationen

Abb. 4.2 Raum-Zeit-Diagramme


4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 131

Ein kausaler Prozess ist eine Ursache-Wirkungs-Kette, d. h. eine Abfolge von Ereig-
nissen, bei der jedes Ereignis in der Kette Wirkung des vorangehenden Ereignisses
und Ursache des darauffolgenden ist (beispielsweise eine umfallende Reihe von
Domino-Steinen). Äquivalent zu diesem Prinzip sagt man auch, dass es gemäß
der Relativitätstheorie nur lokale Prozesse gebe oder dass die Relativitätstheorie
eine lokale Theorie sei. Wenn dieses Prinzip gilt, ist es unmöglich, dass raum-
artig getrennte Ereignisse einander beeinflussen (siehe Abb. 4.2b). Der Bereich der
Raumzeit, in dem Ereignisse liegen, die Ereignisse bei P beeinflussen können, ist
dann gegeben durch die eine Hälfte des Lichtkegels von P, den „Vergangenheits-
lichtkegel“ oder die „kausale Vergangenheit“, und der Bereich, den Ereignisse bei P
beeinflussen können, ist gegeben durch die andere Hälfte, den „Zukunftslichtkegel“
oder die „kausale Zukunft“.
Wenden wir diese Überlegungen nun auf die oben geschilderten EPR/B-Experi-
mente an. In Abb. 4.3 haben wir das Raum-Zeit-Diagramm der Experimente
gezeichnet (vgl. Bell 1975). Der Rand des Zukunftslichtkegels des verschränkten
Zustands an der Quelle ψ (schwarze Linie) beschreibt den Weg der Photonen von
der Quelle zu den Messgeräten. Damit ist klar, dass der Zustand an der Quelle nur
die Messergebnisse α und β, aber nicht die Messeinstellungen a und b, die au-
ßerhalb dieses Lichtkegels liegen, beeinflussen kann (und auch nicht von diesen
beeinflusst werden kann). Die Vergangenheitslichtkegel der Messereignisse sind als
graue Bereiche eingezeichnet, wobei jede hellgraue Fläche die je eingeschlossene
dunkelgraue Fläche beinhaltet (aber nicht umgekehrt). So sollte z. B. das Mess-
ergebnis α nur von Ereignissen innerhalb der hellgrauen Fläche beeinflusst werden
können, die auf es zuläuft, also von der Messeinstellung am gleichen Flügel a und
dem Zustand der Photonen an der Quelle ψ. Insbesondere sollte es nicht beeinflusst
werden können von der Messeinstellung b und dem Messereignis β am anderen Flü-
gel! Entsprechend dürfte es gemäß der Relativitätstheorie keinerlei Einfluss von der
einen Messung auf die andere geben, weil ein solcher Einfluss schneller als Licht
laufen müsste.

a b

Abb. 4.3 Raum-Zeit-Diagramm von EPR/B-Experimenten


132 P.M. Näger und M. Stöckler

a b

Abb. 4.4 Lokale kausale Relationen in EPR/B-Experimenten

Die verbleibenden möglichen Einflüsse zeigen wir in Abb. 4.4. In dem Dia-
gramm sind kausale Einflüsse durch Pfeile zwischen Variablen dargestellt. Solche
Diagramme, die eine bestimmte kausale Struktur repräsentieren, heißen „kausale
Graphen“.14 Die hier gezeigte kausale Struktur ergibt sich aus der Tatsache, dass
nur Einflüsse zwischen lokal zueinander gelegenen Ereignissen zugelassen sind.
Insbesondere sieht man, dass es keine direkten Verbindungen zwischen den beiden
raumzeitlich getrennten Messungen geben darf. Durch die spezielle raumzeitliche
Anordnung ist die einzige Verbindung zwischen der linken und der rechten Mes-
sung der Zustand der Photonen an der Quelle, der als gemeinsame Ursache fungiert.
In diesem Sinne hatten wir oben geschrieben, dass die raumzeitliche Anordnung
des Experiments darauf ausgelegt ist, Korrelationen zwischen den Messungen zu
minimieren.
Trotz all dieser Beschränkungen gibt es die starken gemessenen Korrelationen,
und im nächsten Abschnitt werden wir sehen, dass sie zu stark sind, um auf ge-
wöhnliche Weise durch lokale kausale Prozesse erklärt zu werden. Entgegen den
üblicherweise angenommenen Beschränkungen der Relativitätstheorie scheint es so
zu sein, als ob es doch Einflüsse zwischen den beiden Messflügeln gibt, also Ein-
flüsse, die die relativistische Beschränkung auf kleiner-gleich Lichtgeschwindigkeit
nicht beachten.
Bevor wir uns möglichen Erklärungen zuwenden, wollen wir kurz noch erwäh-
nen, dass es die Arbeitsgruppe um Alain Aspect war, der es als erster gelang, diese
Experimente in einer überzeugenden Form durchzuführen (Aspect et al. 1982). Da
die Photonen schnell sind, ist es technisch äußerst aufwändig, die Messrichtung
in der kurzen Zeitspanne einzustellen, die die Photonen von der Quelle zum Gerät

14 Während für die Überlegungen hier zunächst ein intuitiver Begriff von kausalem Einfluss genügt,

werden wir den Begriff in Abschn. 4.3.4 auf formale Weise präzisieren (siehe dort insbesondere die
Kausale Markov-Bedingung).
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 133

benötigen, und Aspect und seine Mitarbeiter hatten dafür als erste eine Lösung ent-
wickelt. Weihs et al. (1998) gelang es dann zusätzlich, die Auswahl der Richtungen
durch einen Zufallsgenerator in dieser kurzen Zeitspanne durchzuführen. Diese aus-
gefeilten Aufbauten, in denen die Messeinstellungen so spät gewählt werden, dass
sie raumartig zur entfernten Messung und zur Emission an der Quelle liegen, sollen
sowohl ausschließen, dass eine Messeinstellung lokal auf die entfernte Messung
Einfluss nehmen kann (was das sog. „Lokalitäts-Schlupfloch“, „locality loophole“,
schließt) als auch dass eine Messeinstellung auf den Zustand der Photonen an der
Quelle wirkt (was das sog. „Unabhängigkeits-Schlupfloch“, „freedom-of-choice
loophole“, versperrt).15
In den letzten 15 Jahren wurden immer neue Variationen des Experiments aufge-
baut. Insbesondere die Gruppe um Anton Zeilinger hat sich hier verdient gemacht
(Walther et al. 2006; Gröblacher et al. 2007; Paterek et al. 2007). Zum Beispiel
konnten die Messungen mit immer größeren Distanzen zwischen den Messgeräten
durchgeführt werden, und inzwischen sind Entfernungen von über 100 km möglich
(Ursin et al. 2007). Bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich die Korrelationen
mit zunehmender Entfernung abschwächen. Die Quantentheorie sagt das auch gar
nicht voraus, und entsprechend geht man davon aus, dass verschränkte Systeme die
oben genannten Korrelationen über beliebig große Distanzen erzeugen.
Es gibt ein weiteres Schlupfloch bei solchen Experimenten, das wir bislang nicht
erwähnt haben. Es geht um die Tatsache, dass Detektoren, auch wenn sie sehr gut
gebaut sind, nicht alle Objekte registrieren, d. h. jeder Detektor hat eine begrenz-
te Effizienz. Diese Tatsache führt nun dazu, dass in realen EPR/B-Experimenten
Durchgänge vorkommen, in denen nur einer der Detektoren ein Photon regis-
triert, und diese Durchgänge werden in der Regel bei der statistischen Analyse der
Messergebnisse beiseite gelassen. Wenn die Nicht-Registrierung eines Photons rein
zufällig geschieht, wird durch dieses Vorgehen die Gesamtstatistik nicht verfälscht.
Wenn es jedoch so wäre, dass die Nicht-Registrierung eines Photons auch davon
abhängt, welche Messeinstellung vorliegt, kann man zeigen, dass auch in einer voll-
kommen lokalen Welt eine Bellsche Ungleichung scheinbar verletzt werden kann,
indem auf passende Weise, d. h. bei bestimmten Messeinstellungen, der Detektor
nicht registriert (Clauser und Horne 1974; Fine 1982). Diese Tatsache wird als
„Detektions-Schlupfloch“ („detection loophole“) oder „Repräsentative-Stichprobe-
Schlupfloch“ („fair-sampling loophole“) bezeichnet. Um dennoch von einer echten
Verletzung der Bell-Ungleichung ausgehen zu können, braucht man deshalb die zu-
sätzliche Annahme („fair-sampling assumption“), dass die Durchgänge, bei denen
zwei Photonen registriert werden, eine repräsentative Stichprobe aller Durchgä-
nge sind (also inkl. der Durchgänge, in denen ein oder gar zwei Photonen nicht
registriert wurden).

15 Der inzwischen leider weit verbreiteten und irreführenden Sprechweise, dass es hier um Wahl-

freiheit der Experimentatoren ginge, schließen wir uns nicht an. Es geht lediglich darum, dass
die Messeinstellungen statistisch unabhängig vom Zustand der Photonen an der Quelle gewählt
werden können – Freiheit ist nicht nötig.
134 P.M. Näger und M. Stöckler

Je höher die Effizienz des Detektors, desto schwieriger wird es allerdings,


eine Verletzung vorzutäuschen, und es gibt einen Schwellenwert für die Detektor-
effizienz (81,8 %, s. Maudlin 2011, Kap. 6), oberhalb dessen dies unmöglich wird.
Um die Annahme des „fair sampling“ nicht treffen zu müssen, hat man versucht,
die Detektor-Effizienzen über den Schwellenwert zu steigern. In Experimenten,
in denen dies gelungen ist (als erstem Rowe et al. 2001), wurden ebenfalls Bell-
sche Ungleichungen verletzt. Damit war das Detektions-Schlupfloch ebenso wie das
Lokalitäts-Schlupfloch geschlossen – allerdings in separaten Experimenten. Kürz-
lich ist einer Forschergruppe der große Erfolg gelungen, in einem Experiment beide
Schlupflöcher zugleich zu schließen (Hensen 2015). Die experimentelle Verletzung
Bellscher Ungleichungen ist eine hervorragend bestätigte empirische Tatsache.

4.3.2 Das ursprüngliche Bell-Theorem

Bell legte in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1964 die geschilderte experimentelle
Situation zugrunde. Ihm ging es dabei um die Frage, ob die Quantenmechanik
durch die Einführung verborgener Variablen wieder zu einer lokalen und deter-
ministischen Theorie gemacht werden kann. Das Ergebnis seiner Überlegungen
war, dass dies nicht möglich ist. Im Folgenden wurde schnell klar, dass der Grund
dafür nicht die Annahme des Determinismus ist (diese Annahme kann man in stär-
keren Beweisen fallen lassen), sondern die Annahme der Lokalität. Also kann
keine Theorie mit verborgenen Variablen, wenn sie die Vorhersagen der Quan-
tenmechanik wiedergibt, lokal in dem Sinne sein, dass die Messung an einem
System nicht von der Messeinstellung an dem anderen entfernten System beeinflusst
wird.
Wir geben die Grundidee des Bellschen Beweises hier wieder, weil sie mit we-
nig Mathematik den physikalischen Kern von Bells Strategie zeigt. In den folgenden
Abschnitten werden Bells Überlegungen dann systematischer und mit Hilfe sta-
tistischer Überlegungen noch genauer analysiert. Alle, die sich mit mathematischen
Formeln nicht so gern anfreunden wollen, finden im folgenden Abschnitt (4.3.3)
einen Zugang, der fast ganz ohne formale Hilfsmittel auskommt, und können den
aktuellen Abschnitt (4.3.2) zunächst überspringen.
Bell betrachtet einen Messaufbau ähnlich zu Abb. 4.1, bei dem die Quelle nicht
Photonen sondern Spin- 12 -Teilchen, beispielsweise Elektronen, emittiert und die
Messgeräte die aus Kap. 1 bekannten Stern-Gerlach-Apparaturen sind. Seien a und
b die Messeinstellungen am linken bzw. rechten Apparat.16 Das Ergebnis der Mes-
sung A(a) am linken Messgerät kann Spin-up in Richtung a sein (mit dem Messwert

16 Indiesem Abschnitt schreiben wir die Variablen a und b für die Messeinstellungen fett, weil wir
sie wie Bell als vektorielle Größen verstanden wissen wollen. Im Rest dieses Kapitels genügt es, a
und b als skalare Variablen anzusehen, die die Winkel der Messeinstellungen beschreiben (deshalb
sind sie dort nicht fett gesetzt).
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 135

+1) oder Spin-down in Richtung a (mit dem Messwert –1). Das Ergebnis der Mes-
sung B(b) am linken Messgerät kann Spin-up in Richtung b sein (mit dem Messwert
+1) oder Spin-down in Richtung b (mit dem Messwert –1).
Bell nimmt an, dass der Erwartungswert der Messung am linken und rechten
Messgerät nur durch die Messrichtungen a und b und eine verborgene Variable λ
bestimmt ist, d. h. A(a, λ) = ±1 bzw. B(b, λ) = ±1. Die verborgene Variable λ
wird von Bell nicht weiter spezifiziert, für seinen Beweis benötigt er auch keine
konkrete Theorie über einen Mechanismus, die beschreibt, wie λ den Messausgang
beeinflusst. Vorausgesetzt wird nur eine Verteilungsfunktion ρ(λ), die angibt, mit
welcher Wahrscheinlichkeit die verschiedenen Werte
 von λ auftreten, und die – wie
für Wahrscheinlichkeiten üblich – normiert ist, dλρ(λ) = 1.
Entscheidend ist, hier zu bemerken, dass Bells Annahme, jedes Messergebnis
sei eine Funktion nur der lokalen Messeinstellung und der verborgenen Variable,
bereits eine Lokalitätsannahme enthält, weil die Messergebnisse damit eine Funk-
tion rein lokaler Größen sind. (Insbesondere hängt ein Messergebnis weder vom
entfernten Messergebnis noch von der entfernten Messeinstellung ab.) Diese Be-
schränkung auf lokale Abhängigkeiten ist durch die in Abschn. 4.3.1 angedeuteten
relativistischen Überlegungen motiviert, dass sich nur lokal zueinander liegende Er-
eignisse beeinflussen können. Die Annahme läuft darauf hinaus, dass jedes einzelne
Teilchen lokal die gesamte für den Messausgang benötigte „Information“ trägt.
Aufbauend auf diesen einfachen Annahmen definiert Bell die zentrale Grö-
ße für seinen folgenden Beweis, den Erwartungswert des Produkts der beiden
Messergebnisse: 
E(a, b) = dλρ(λ)A(a, λ)B(b, λ). (4.14)

Zur Berechnung wird also über alle mit dem jeweiligen Gewicht ρ(λ) versehenen
Produkte summiert. Aus dem Erwartungswert E(a, b) kann man ablesen, ob und wie
die beiden Messungen korreliert sind.
Mit diesen Voraussetzungen kann Bell nun seinen Beweis führen. Wenn man
mit Bell drei Richtungen u, v, w unterscheidet, in denen an beiden Messgeräten die
jeweilige Spinkomponente gemessen werden kann, lässt sich folgende Ungleichung
herleiten, die ursprüngliche Bellsche Ungleichung:

|E(u, v) – E(u, w)| ≤ 1 + E(v, w). (4.15)

Für die Ableitung dieser Beziehung braucht Bell nur einfache geometrische Über-
legungen und Betragsabschätzungen für die Messergebnisse und ihre Erwartungs-
werte.
Im nächsten Schritt zeigt Bell, dass der aus der Quantenmechanik für den
typischen EPR-verschränkten Zustand folgende Erwartungswert diese Bellsche Un-
gleichung verletzt. Für den Erwartungswert des Produkts zweier Spinmessungen
in Richtung a am linken Messgerät und in Richtung b am rechten Messgerät gilt
nämlich nach der Quantenmechanik

EQM (a, b) = –ab. (4.16)


136 P.M. Näger und M. Stöckler

Dabei ist ab das Skalarprodukt der Messrichtungen, das durch cos (φ), also
durch den Winkel φ zwischen den beiden Richtungen bestimmt wird. Wird z. B.
an beiden Messgeräten in der gleichen Richtung gemessen, ist der Erwartungswert
EQM (a, a) gleich –1, d. h. auf einer Seite findet man Spin-down und auf der anderen
Seite Spin-up.
Durch eine spezielle Wahl der Richtungen17 u, v, w,

u = (v – w)/|v – w| und v senkrecht auf w (d. h. vw = 0), (4.17)

kann man erreichen, dass die entsprechenden Erwartungswerte nach ihrer Einset-
zung in die Bellsche Ungleichung einen Widerspruch ergeben, nämlich


2 ≤ 1. (4.18)

Daraus folgt: Keine Theorie, die für die Erwartungswerte die in (4.14) enthaltene
Lokalitätsbedingung und damit die Bellsche Ungleichung (4.15) erfüllt, kann die
Erwartungswerte (und damit die Korrelationen zwischen den Messungen) vorher-
sagen, die aus der Quantenmechanik folgen. Wenn nun, wie die Messungen zeigen,
die Erwartungswerte der Quantenmechanik empirisch zutreffend sind, muss jede
Theorie, die die Annahme (4.14) erfüllt, in Konflikt mit der Erfahrung kommen.
Die Darstellung in diesem Abschnitt kommt den Erwartungen entgegen, die
man aus der Physik heraus hat. In den nächsten Abschnitten wird das Theorem
noch einmal vor allem auf der Grundlage von bedingten Wahrscheinlichkeiten von
Messergebnissen und statistischen Überlegungen analysiert. In dieser Darstellung
wird das Bellsche Theorem zugleich verallgemeinert und aus schwächeren Voraus-
setzungen hergeleitet, insbesondere kann die Annahme aufgegeben werden, dass
die verborgenen Variablen den Messausgang deterministisch festlegen. Man kann
eine Bellsche Ungleichung auch dann ableiten, wenn die verborgene Variable λ
zusammen mit der Ausrichtung des Messgeräts nur Wahrscheinlichkeiten für den
jeweiligen Messausgang bestimmt.

4.3.3 Bells Theorem als Strategie-Spiel

Mit den einfachen statistischen Beziehungen für entfernte Messungen, die wir in
Abschn. 4.3.1 dargestellt haben, kann man zeigen, dass die Welt, in der diese Be-
ziehungen gemessen werden, nicht-lokal sein muss. Man sieht der Statistik auf den
ersten Blick nicht an, dass sie so bedeutsam ist, und der Bellsche Beweis, der die-
se weitreichenden Konsequenzen aus den Daten ableitet, ist ein Musterbeispiel für
Schlichtheit und Eleganz in wissenschaftlicher Argumentationsführung.

17 Vgl. Jammers Darstellung des Bellschen Beweises (1974, S. 307)


4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 137

Die Hauptaussage von Bells Beweis ist, dass die gemessene Statistik nicht
erklärt werden kann, wenn es nur lokale Einflüsse gibt (und normale Hintergrund-
annahmen gelten). Mit anderen Worten, wenn man aufgrund der Relativitätstheorie
annimmt, dass globale kausale Einstein-Lokalität gilt, d. h. Einflüsse mit Überlicht-
geschwindigkeit ausgeschlossen sind, ergibt sich ein Widerspruch zu den empi-
rischen Daten. Rein lokale Theorien können die Korrelationen nicht reproduzieren.
Wenn man an den üblichen Hintergrundannahmen festhält (siehe Abschn. 4.5), muss
es also in irgendeinem Sinne nicht-lokale Einflüsse geben. In Abb. 4.4 hatten wir die
maximale Menge von kausalen Relationen gezeigt, die in der EPR/B-Situation unter
der Annahme von globaler Einstein-Lokalität auftreten können. Es ist das Ergebnis
von Bells Theorem, dass solche Strukturen nicht die Korrelationen erklären können
und also die Situation nicht adäquat repräsentieren.
Ein entscheidendes Charakteristikum von Bells Theorem ist, dass man da-
für keine spezielle Theorie mit bestimmten Zustandsbeschreibungen oder einer
bestimmten Dynamik annehmen muss. Insbesondere nimmt es keinen Bezug auf die
Quantenmechanik, die quantenmechanische Wellenfunktion oder eine ihrer Inter-
pretationen. Es beruht auf den (weitgehend) theorieunabhängigen Messergebnissen
aus EPR/B Experimenten und argumentiert auf einer abstrakten allgemeinen Ebe-
ne. Deshalb ist sein Resultat so stark: Alle Theorien, die sich auf lokale Wirkungen
beschränken, können nicht richtig sein. Dieses Ergebnis gilt selbst dann, wenn man
zulässt, dass ein Photon an der Quelle beliebig viel Information über das jeweils
andere Photon tragen kann. Diese Annahme erlaubt es, über die quantenmecha-
nische Zustandsbeschreibung hinauszugehen und den Zustand der Photonen durch
eine sogenannte verborgene Variable genauer zu spezifizieren. Von Kritikern der
Quantenmechanik wurde immer wieder die Hoffnung geäußert, dass es verborge-
ne Variablen geben könnte, die die Beschreibung der Quantenobjekte durch den
quantenmechanischen Zustand präzisieren und die Quantenwelt schließlich doch als
deterministisch und lokal erweisen. Bell wollte dieser Möglichkeit Raum geben und
nahm an, dass der Zustand der Photonen an der Quelle neben dem Quantenzustand
auch durch eine weitere empirisch nicht zugängliche Variable λ beschrieben wird.
Wie der quantenmechanische Zustand an der Quelle, ψ, kann sie aufgrund der glo-
balen Einstein-Lokalität in der kausalen Struktur nur die Rolle einer gemeinsamen
Ursache der Messergebnisse spielen. Das erweiterte kausale Diagramm mit der la-
tenten gemeinsamen Ursache λ haben wir in Abb. 4.5 abgedruckt (wir verzichten
hier und im Folgenden auf die Einzeichnung der Lichtkegel). Auch diese stärke-
re lokale Struktur (mit zwei gemeinsamen Ursachen) kann nach Bells Theorem die
Korrelationen nicht erklären.
Bevor wir eine wissenschaftsphilosophisch klare Analyse von Bells Beweis-
gang präsentieren, wollen wir in diesem Abschnitt zunächst das Argument in einer
intuitiven Form darlegen. Tim Maudlin (2011, Kap. 1) hat eine tiefgehende und
erhellende Analogie für das Bellsche Argument gefunden. Er vergleicht die Situa-
tion der Photonen in EPR/B-Experimenten, die nach Verlassen der gemeinsamen
Quelle nicht mehr interagieren können (weil sie ab da raumartig getrennt sind),
mit der Situation, dass zwei Personen sich zunächst in einem Raum befinden und
138 P.M. Näger und M. Stöckler

Abb. 4.5 Lokale kausale


Struktur mit verborgener
Variable λ

a b

dann in verschiedene Räume getrennt werden. Solange sie sich gemeinsam in ei-
nem Raum befinden, dürfen sie nach Belieben Absprachen treffen. (Dies entspricht
der Tatsache, dass die Photonen durch ihre gemeinsame Anwesenheit an der Quelle
beliebige Informationen über einander besitzen können.) Nach ihrer Trennung in
verschiedene Räume können die Personen nicht mehr miteinander kommunizieren.
(Das reflektiert den Aufbau, bei dem die Photonen sich mit Lichtgeschwindigkeit
voneinander wegbewegen und deshalb nicht mehr miteinander interagieren kön-
nen.) In den einzelnen Räumen wird jeder der Personen dann zufällig eine von
drei Fragen gestellt, die sie mit „ja“ oder „nein“ beantworten muss. (Die Fragen
entsprechen den Messrichtungen der Messapparate, auf die die Photonen treffen,
die Antworten dem Verhalten der Photonen, das eines von zwei möglichen Mess-
ergebnissen erzeugt.) Zum Beispiel erhält eine der Personen die Frage „30 ◦ ?“ und
antwortet mit „nein“, während die andere die Frage „0 ◦ ?“ gestellt bekommt und mit
„ja“ antwortet. Diese Prozedur und Befragung wird viele Male mit jeweils anderen
Personenpaaren wiederholt. Es ergibt sich eine Ergebnistabelle von einer Form, die
analog zum Laborprotokoll aus EPR/B-Experimenten ist (vgl. Tab. 4.1; einziger for-
maler Unterschied: „ja“ statt „+“ und „nein“ statt „–“). Das Ziel der Personen soll
es sein, auf die Fragen so zu antworten, dass die Befragungsergebnisse auch die
gleiche Statistik wie die Messungen an Photonen in EPR/B-Experimenten haben.
Das heißt, immer wenn die Personen die gleiche Frage erhalten, müssen ihre Ant-
worten übereinstimmen, und wenn sich die Fragen um 30 ◦ unterscheiden, müssen
die Antworten in 75 % der Fälle übereinstimmen, und bei einer Differenz um 60 ◦
in 25 % der Fälle. Kann diese Aufgabe gelingen?
Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Personen, während sie antworten, we-
der die Frage kennen, die der anderen Person gestellt wird, noch deren Antwort. Das
heißt, wenn sie überhaupt irgendeine Chance haben wollen, die Statistik zu repro-
duzieren, müssen sie, bevor sie den gemeinsamen Raum verlassen, eine Strategie
vereinbaren, gemäß der sie später, wenn sie getrennt sind, die Fragen beantwor-
ten (bei den Photonen entspricht das verborgenen Variablen). Welche Strategie ist
erfolgversprechend? Um die erste statistische Forderung zu erfüllen, bei gleichen
Fragen mit Sicherheit gleiche Antworten zu geben, müssen sie auf jeden Fall vorher
vereinbaren, mit welcher Antwort beide auf jede der drei möglichen Fragen reagie-
ren (deterministische Strategie). Für jedes Paar von Probanden gibt es demnach acht
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 139

mögliche Strategien, von denen jede eine eindeutige Antwort auf jede Frage festlegt
(Tab. 4.2).
Wenn jedes Paar von Personen eine dieser Strategien wählt, ist gesichert, dass
sich bei gleichen Fragen perfekte Korrelationen ergeben. Da die Antworten auf
gleiche Fragen zwischen verschiedenen Durchgängen in der Statistik variieren, ist
außerdem klar, dass Paare in verschiedenen Durchgängen verschiedene Strategien
wählen müssen. Dies müsste so geschickt geschehen, dass sich die beiden anderen
Korrelationen für verschiedene Fragen ergeben. In welchem Verhältnis müssen die
Personen die Strategien mischen, damit sich die Statistik ergibt?
Wir werden nun zeigen, dass es keine Mischung geben kann, der dies ge-
lingt. Dazu betrachten wir die möglichen Mischungen ganz allgemein, d. h. ohne
besondere Annahmen, und bezeichnen den Anteil der Fälle, in denen die Perso-
nen Strategie 1 wählen, mit f1 , den Anteil der Fälle, in denen sie Strategie 2
wählen, mit f2 usw. Aus diesen Gewichten kann man dann aus der Tab. 4.2 die
resultierende Statistik ableiten. Zum Beispiel ist die Wahrscheinlichkeit, dass Per-
son A mit „ja“ und Person B mit „nein“ antwortet, wenn A die Frage „0 ◦ ?“ und
B die Frage „60 ◦ ?“ gestellt wird, gleich f2 + f5 . Hierzu haben wir einfach die
Gewichte aller Strategien summiert, die diese Antworten für die entsprechenden
Fragen ergeben. Wir notieren diese Tatsache in der üblichen Kurzschreibweise als
P(α = +, β = – | a = 0 ◦ , b = 60 ◦ ) = f2 + f5 . Die Wahrscheinlichkeit für die glei-
chen Antworten bei den Fragen „0 ◦ ?“ und „30 ◦ ?“ bzw. bei den Fragen „30 ◦ ?“ und
„60 ◦ ?“ ergibt sich aus Tab. 4.2 als P(α = +, β = – | a = 0 ◦ , b = 30 ◦ ) = f3 + f5
bzw. als P(α = +, β = – | a = 30 ◦ , b = 60 ◦ ) = f2 + f6 . Da die Gewichte alle po-
sitiv oder 0 sind, ist es einfach, zu sehen, dass diese drei Wahrscheinlichkeiten einer
Ungleichung gehorchen müssen:

f2 + f 5 ≤ f 3 + f 5 + f 2 + f 6 , (4.19)

P(α = +, β = – | a = 0 ◦ , b = 60 ◦ ) ≤ P(α = +, β = – | a = 0 ◦ , b = 30 ◦ ) +
+ P(α = +, β = – | a = 30 ◦ , b = 60 ◦ ). (4.20)

Tab. 4.2 Mögliche Strategien für perfekte Korrelationen

Strategie Antwort auf „0 ◦ ?“ Antwort auf „30 ◦ ?“ Antwort auf „60 ◦ ?“


1 ja ja ja
2 ja ja nein
3 ja nein ja
4 nein ja ja
5 ja nein nein
6 nein ja nein
7 nein nein ja
8 nein nein nein
140 P.M. Näger und M. Stöckler

Diese letztere Ungleichung ist eine der sogenannten Wigner-Bell-Ungleichungen,


ein Typ in der Klasse der Bellschen Ungleichungen. Der entscheidende Punkt des
Arguments ist nun, dass diese Ungleichung, die aus der Annahme der Strategien und
ihrer Gewichtungen folgte, der gemessenen Statistik widerspricht. Die Wahrschein-
lichkeit auf der linken Seite hat nach der gemessenen Statistik den Wert 37,5 % (sie
entspricht der Hälfte des 75 %-Anteils der Messergebnisse, die bei einer Winkel-
differenz von 60 ◦ nicht übereinstimmen; die andere Hälfte kommt den Fällen zu,
in denen A mit „nein“ antwortet und B mit „ja“); die Wahrscheinlichkeiten auf
der rechten Seite haben je 12,5 % (je die Hälfte des Nicht-Übereinstimmungsanteils
von 25 %). Das ergibt 37, 5 % ≤ 12, 5 % + 12, 5 %, und das ist ein offensichtlicher
Widerspruch: Die empirische Statistik verletzt die Bellsche Ungleichung.
Da wir keine speziellen Annahmen über die Gewichte gemacht haben, bedeu-
tet der Widerspruch, dass keine irgendwie geartete Verteilung der Gewichte eine
Strategie ergibt, die die gemessene Statistik reproduzieren kann. Die Idee, dass
Personen durch vorherige Absprache eine Antwort-Strategie festlegen können, die
die Statistik erzeugt, ist als unmöglich erwiesen worden. Wenn die beiden Perso-
nen wie beschrieben bei Absprache der Strategie die Frage noch nicht kennen und
nach Kenntnis der Frage nicht mehr kommunizieren können, ist es für sie un-
möglich, die Antworten auf die speziell korrelierte Weise zu geben, wie sie in
EPR/B-Experimenten stattfindet.
Dieses Ergebnis kann man nun fast unverändert auf die Situation der Photonen
übertragen: Wenn die Photonen die Messeinstellung nicht schon an der Quelle „ken-
nen“ und nach Verlassen der Quelle nicht mehr „kommunizieren“ können, dann ist
es unmöglich, dass sie die genannte Statistik erzeugen. Wir können aber messen,
dass sie die Statistik erzeugen! Also muss eine der getroffenen Annahmen falsch
sein. Höchstwahrscheinlich ist es so, dass sie nach Verlassen der Quelle doch noch
miteinander „kommunizieren“, obwohl sie so zueinander gelegen sind, dass eine
solche Beeinflussung nur schneller als mit Lichtgeschwindigkeit stattfinden könnte.
Beeinflussungen, die schneller als mit Lichtgeschwindigkeit geschehen, heißen im
Kontext der Relativitätstheorie „nicht-lokal“ und sind nach der üblichen Interpreta-
tion der Theorie verboten. Inwiefern dieser nicht-lokale Zusammenhang zwischen
verschränkten Objekten mit der Relativitätstheorie vereinbar ist, d. h. ob man sich
verschränkte Objekte in eine relativistische Raumzeit eingebettet vorstellen kann,
ist das zentrale Problem verschränkter Systeme. Wir werden es in Abschn. 4.4
diskutieren.
Zuvor wollen wir im nächsten Abschnitt die hier präsentierte intuitive Darstel-
lung von Bells Theorem in eine wissenschaftsphilosophisch saubere Form bringen.
Dies bedeutet zum einen, die anthropomorphe Sprechweise über „Strategien“,
„Kommunikation“ und „Wissen“ zu eliminieren – alles Beschreibungsweisen, die
auf Photonen nicht zutreffen. Stattdessen werden wir Begriffe wie „probabilistische
Abhängigkeit“, „kausale Beeinflussung“ und „verborgene gemeinsame Ursachen“
einführen. Zum anderen wollen wir die impliziten Annahmen der beschriebenen Si-
tuation transparent machen, um einen Überblick zu erhalten, was genau auf dem
Spiel steht und welche Reaktionsmöglichkeiten auf Bells Theorem es eigentlich
gibt.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 141

4.3.4 Bells Theorem präzise

Die präzise Darstellung von Bells Theorem, die wir in diesem Abschnitt entwickeln
wollen, entspricht in zweierlei Hinsicht nicht Bells ursprünglicher Arbeit (1964).
Erstens wurde durch die Diskussion im Laufe der Jahre deutlich, dass das Theorem
auch aus einem schwächeren Satz von Annahmen abgeleitet werden kann. Durch die
Erkenntnis, dass einige der ursprünglichen Annahmen fallengelassen werden kön-
nen, wurden die möglichen Reaktionen auf das Theorem eingeschränkt und seine
Bedeutung immer klarer. Wir legen hier die Standardversion von Bell (1975) zu-
grunde, die ohne die ursprünglichen Annahmen „perfekte Korrelationen“ (Clauser
et al. 1969) und „Determinismus“ (Bell 1971) auskommt. Weitere Verstärkungen
aus jüngster Vergangenheit werden wir unten diskutieren.
Zweitens handelt es sich hier nicht um eine bloße Wiedergabe von Bells Argu-
mentation, sondern um eine wissenschaftsphilosophische Rekonstruktion. Letztere
unterscheidet sich vor allem darin von Bells Darstellung, dass versucht wird, al-
le impliziten inhaltlichen und methodischen Annahmen explizit zu machen. Nur
so kann man eine verlässliche Interpretation dieses Theorems mit weitreichenden
Folgen sicherstellen. Bells Beweis ist im Kern ein mathematisches Argument, das
in seinen stärksten Versionen in der Sprache bedingter Wahrscheinlichkeiten for-
muliert ist. In seiner mathematischen Präzision liegt einerseits seine Stärke (wenn
die Prämissen richtig sind, folgt zwingend die Konklusion), andererseits bedürfen
die mathematischen Ausdrücke natürlich einer Interpretation, wenn man inhaltlich
gehaltvolle Schlüsse aus ihnen ziehen möchte – und diese Übergänge von forma-
len Ausdrücken zu physikalischen oder metaphysischen Tatsachen haben sich als
die „Problemzonen“ des Arguments erwiesen. Während die formalen Tatsachen
allgemein akzeptiert sind, besteht ein nicht unerheblicher Dissens in der ange-
messenen Interpretation und Bewertung der Prämissen und auch der Konklusion.
In der folgenden Darstellung wollen wir ein besonderes Augenmerk auf diese
Interpretationsübergänge haben.
Die Aufgabe des oben skizzierten Spiels, die gemessene Photonen-Statistik
zu reproduzieren, hat einen tieferen Hintergrund. Es handelt sich um eines der
zentralen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens, nämlich dass Korrelationen er-
klärungsbedürftig sind. Wenn wir finden, dass zwei Variablen korreliert sind, z. B.
dass Schnupfen in, sagen wir, 70 % der Fälle mit Halsweh einhergeht, versuchen
wir, den statistischen Zusammenhang zu erklären. In der Regel tun wir dies, indem
wir einen kausalen Zusammenhang herstellen, also annehmen, dass entweder eine
der Variablen Ursache der anderen ist oder die beiden eine gemeinsame Ursache
haben. Die Erklärung für die Korrelation von Schnupfen und Halsweh ist natürlich,
dass Erkältungsviren eine gemeinsame Ursache sind.
Im Fall der EPR/B-Experimente hatten wir ebenfalls Korrelationen gefun-
den, die erklärungsbedürftig sind (bei gleichen Messeinstellungen eine perfekte
Korrelation für Übereinstimmung der Messergebnisse und bei verdrehten Messein-
stellungen entsprechend schwächere). Wir hatten oben gesehen, dass die Relati-
vitätstheorie durch das Prinzip der globalen Einstein-Lokalität nahelegt, dass die
142 P.M. Näger und M. Stöckler

Korrelationen auf lokale Weise erklärt werden. Wenn man typische Hintergrundan-
nahmen trifft, dann ist die stärkste Struktur, die man zur Erklärung der Korrelationen
annehmen kann und die konsistent mit globaler Einstein-Lokalität ist, die lokale
Gemeinsame-Ursache-Struktur in Abb. 4.5.
Zu den Hintergrundannahmen gehören erstens die Voraussetzungen, dass
kausale Relationen immer vorwärts in der Zeit gerichtet sind („keine Rück-
wärtsverursachung“), und zweitens, dass die Variablen des Experiments, die
vom Experimentator kontrolliert werden, nämlich die Messeinstellungen und der
Quantenzustand, keine Wirkungen anderer Variablen im Aufbau sind („Interven-
tionsannahme“). Wir weisen außerdem darauf hin, dass die verborgene Variable λ
so verstanden wird, dass sie alle möglicherweise vorhandenen verborgenen gemein-
samen Ursachen der Messergebnisse beschreibt, d. h. dass es über λ hinaus keine
weiteren versteckten gemeinsamen Ursachen gibt (dies ist allerdings Teil der De-
finition von λ, keine Annahme). Jede der beiden Annahmen ist sehr plausibel und
natürlich, aber wir werden sehen, dass die Diskussion um Bells Theorem so kniff-
lig ist, dass selbst solche natürlich erscheinenden Annahmen angezweifelt werden
(siehe Abschn. 4.5).
Man kann Bells Theorem als ein Argument verstehen, das die ganze Klasse lo-
kaler kausaler Erklärungen für die EPR/B-Korrelationen ausschließt. Es geht dabei
indirekt vor: Man nimmt die stärkste lokale Struktur an, leitet daraus statistische
Konsequenzen ab (nämlich eine Bellsche Ungleichung, die eine obere Schranke für
die Stärke von Korrelationen aus solchen Strukturen darstellt) und zeigt dann, dass
diese im Widerspruch zur gemessenen Statistik stehen (die gemessenen Korrela-
tionen sind stärker, als die Bellsche Ungleichung erlaubt). Um aus der kausalen
Struktur statistische Konsequenzen abzuleiten, braucht man noch ein Übersetzungs-
prinzip zwischen kausalen Strukturen und statistischen Tatsachen. Das zentrale
Übersetzungsprinzip zwischen diesen beiden Bereichen, das wir als dritte Voraus-
setzung zu den Hintergrundannahmen des Theorems zählen, lautet (Spirtes et al.
1993; vgl. auch Pearl 2000):

Kausale Markov-Bedingung: Sei X eine Variable in einem kausalen Graph, Z be-


zeichne die direkten Ursachen von X, und Y alle Variablen, die keine Wirkungen
von X sind. Dann gilt, dass X statistisch unabhängig ist von Y gegeben Z: P(X|YZ)
= P(X|Z).

Diese Bedingung müssen wir etwas erläutern: Direkte Ursachen einer Variable X
in einem gegebenen kausalen Graph sind alle Variablen, von denen ein Pfeil nach
X führt. (Zum Beispiel sind in Abb. 4.5 a, ψ und λ direkte Ursachen von α.) Die
Menge der Variablen, die keine Wirkungen einer Variable X sind, besteht aus allen
Ursachen von X (direkten und indirekten) und allen Variablen, die weder Ursachen
noch Wirkungen sind, d. h. Variablen, die mit X kausal nur über gemeinsame Wir-
kungen oder gar nicht verbunden sind. (Beispielsweise sind in Abb. 4.5 a, b und λ
keine Wirkungen von ψ.)
P(X|YZ) ist die bedingte Wahrscheinlichkeit von X gegeben Y und Z und
P(X|YZ) = P(X|Z) ist die Definition der statistischen Unabhängigkeit von X und Y
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 143

gegeben Z. Hierbei muss die Gleichung für alle Werte der Variablen X, Y und Z
gelten. Statistische Unabhängigkeit von X und Y gegeben Z besagt, dass wenn In-
formation über den Wert von Z vorliegt, Y keine zusätzliche Information darüber
liefert, welchen Wert X hat (denn Information über Y ändert die Wahrscheinlichkeit
von X nicht). Mit diesen Erläuterungen können wir die Aussage der Markov-
Bedingung nun auch so formulieren: Wenn man weiß, ob die direkten Ursachen
Z einer Variable X aufgetreten sind, dann liefert Wissen über die indirekten Ursa-
chen (ein Teil von Y) und die mit X nur über gemeinsame Wirkungen oder gar nicht
verbundenen Variablen (der andere Teil von Y) keine weitere Information darüber,
ob X eingetreten ist oder nicht.
Offensichtlich ist die kausale Markov-Bedingung ein Übersetzungsprinzip, das
kausale Gegebenheiten in Bezug zu statistischen Unabhängigkeiten setzt. Als
solches ist sie das zentrale Brückenprinzip zwischen kausalen und statistischen
Tatsachen. Die kausalen Strukturen sind in der Regel gegeben als kausale Gra-
phen, bei denen die Knotenpunkte Variablen sind. Paare von Knoten können durch
Pfeile verbunden sein, die kausale Relationen symbolisieren. Des Weiteren müssen
solche Graphen azyklisch in dem Sinne sein, dass Pfeile in ihnen keinen Kreis bil-
den dürfen. Solche Graphen haben wir oben schon intuitiv verwendet (siehe z. B.
Abb. 4.5).
Die kausale Markov-Bedingung kann in beliebig komplexen kausalen Graphen
eingesetzt werden, aber es ist instruktiv sich klar zu machen, dass sie statistische
Unabhängigkeiten in folgenden drei paradigmatischen Grundstrukturen impliziert:
(i) Variablen A und B, die kausal nur über eine gemeinsame Wirkung C verbun-
den sind, A → C ← B, sind unabhängig, P(A|B) = P(A); (ii) Variablen A und B in
einer kausalen Kette, A → C → B, sind unabhängig gegeben die mittlere Varia-
ble C, P(A|BC) = P(A|C); (iii) Variablen A und B, die nur über eine gemeinsame
Ursache C verbunden sind, A ← C → B, sind unabhängig gegeben C, P(A|BC) =
P(A|C).
Der letzte Fall, (iii), verdeutlicht, dass die kausale Markov-Bedingung das
Reichenbachsche Prinzip der Gemeinsamen Ursache (Reichenbach 1956) als Spe-
zialfall enthält: Wenn zwei statistisch korrelierte Variablen X und Y nicht direkt
kausal verbunden sind, dann gibt es eine gemeinsame Ursache Z, die X und Y
statistisch voneinander abschirmt, d. h. X und Y werden statistisch unabhängig
gegeben Z: P(X|YZ) = P(X|Z). Während die Reichenbach-Bedingung nur die
statistischen Unabhängigkeiten in einfachen Fällen mit gemeinsamen Ursachen
erschließen lässt, geht die kausale Markov-Bedingung über die Reichenbach-
Bedingung hinaus, insofern sie die Unabhängigkeiten für beliebige Strukturen
impliziert (solange diese azyklisch sind).
Bevor wir die kausale Markov-Bedingung als Übersetzungsprinzip auf die
lokale kausale Struktur anwenden, wollen wir erwähnen, dass die Markov-
Bedingung auch ein weitreichendes methodisches Prinzip darstellt. Sie besagt, dass
alle Korrelationen verursacht sind, d. h. es kann keine unverursachten Korrelationen
geben. Damit ist die Markov-Bedingung das methodische Prinzip, das wissen-
schaftlichem Forschen nach Ursachen und unseren Überlegungen in diesem Kapitel
zugrunde liegt. Diese methodische Aussage ist in der obigen Formulierung der
144 P.M. Näger und M. Stöckler

Markov-Bedingung nicht offensichtlich, man kann aber zeigen, dass die Bedin-
gung äquivalent damit ist. In ihren beiden Funktionen als methodische Forderung
und als Brückenprinzip zwischen kausalen und statistischen Tatsachen ist die
Markov-Bedingung das zentrale Prinzip kausaler Erklärungen.
Die zentrale Rolle der Markov-Bedingung für den Bellschen Beweis ergibt sich
daraus, dass man sie benötigt, um die Forderungen nach einer lokalen gemeinsame-
Ursache-Struktur (Abb. 4.5) zu übersetzen in bedingte Wahrscheinlichkeiten. Diese
Struktur scheint die natürliche Erklärung der EPR/B-Korrelationen zu sein, wenn
man dem Weltbild der klassischen Physik anhängt, in dem alle Prozesse lokal sind
und die normalen methodischen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens gelten. Die
geniale Einsicht von Bell war nun, dass eine solche Struktur unmöglich die ge-
messenen Korrelationen erklären kann. Dies kann man nachvollziehen, wenn man
mithilfe der Markov-Bedingung folgende statistischen Tatsachen aus dem Graphen
ableitet:18

Lokale Faktorisierbarkeit (LF): P(αβ|abψλ) = P(α|aψλ)P(β|bψλ)


Messunabhängigkeit (MU): P(λ|abψ) = P(λ)

Die Faktorisierbarkeitsbedingung formalisiert die Tatsache, dass in der gegebenen


Struktur jedes der Messergebnisse direkt nur von seiner je lokalen Messeinstellung,
vom Quantenzustand und den verborgenen Variablen beeinflusst wird, nicht aber
vom anderen Messergebnis oder der entfernten Messeinstellung. Die Bedingung
der Messunabhängigkeit („ measurement independence“)19 hingegen resultiert aus
der Tatsache, dass es keine Einflüsse zwischen der Variablen λ einerseits und den
Messeinstellungen und dem Quantenzustand ψ andererseits gibt.
Diese beiden probabilistischen Bedingungen sind das mathematische Funda-
ment von Bells Beweis, aus denen er seine Ungleichung ableitet. Diese Ableitung
kommt ohne die Annahme perfekter Korrelationen aus, wie wir sie für die Ableitung
der Bell-Wigner-Ungleichung (4.20) oben verwenden mussten. Das ist ein wichtiger
Punkt, weil er die Annahmenmenge schwächer macht. Für die explizite Herleitung
sei der mathematisch-formal interessierte Leser auf den grauen Kasten verwiesen.
Die resultierende Ungleichung ist dort in (4.26) notiert. Es gehört schon eher zu den
technischen Details, dass diese Bellsche Ungleichung eine etwas andere Form als
die Bell-Wigner-Ungleichung hat: Der Hauptunterschied ist, dass erstere in Begrif-
fen von Erwartungswerten (statt bedingten Wahrscheinlichkeiten) formuliert ist.

18 DieBedingung der Messunabhängigkeit folgt direkt mit der Markov-Bedingung. Für die lokale
Faktorisierbarkeitsbedingung ist zusätzlich ein Zwischenschritt nötig:

P(αβ|abψλ) = P(α|βabψλ)P(β|abψλ) = P(α|aψλ)P(β|bψλ) (4.21)

Der erste Schritt folgt mit der Produktregel der Wahrscheinlichkeitstheorie, der zweite mit der
Markov-Bedingung aus dem kausalen Graphen.
19 Manchmal wird die Bedingung auch „autonomy“, „no conspiracy“ oder „freedom of choice“ ge-

nannt. Insbesondere die beiden letzteren Bezeichnungen legen aber bereits bestimmte Deutungen
nahe, die zusätzliche Annahmen erfordern würden; dies möchten wir um der Allgemeinheit unserer
Betrachtung willen hier vermeiden.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 145

Ableitung einer Bellschen Ungleichung

Die vielleicht eleganteste Ableitung einer Bellschen Ungleichung aus den


Annahmen lokale Faktorisierbarkeit und Messunabhängigkeit hat Abner Shi-
mony (1990) geliefert. Man startet mit folgendem Lemma: Wenn x, y, x , y
Zahlen im Intervall [ – 1, 1] sind, gilt die Ungleichung

– 2 ≤ xy + xy + x y – x y ≤ 2. (4.22)
  
Man wählt x = α αP(α|aψλ), y = β βP(β|bψλ), x = α αP(α|a ψλ)

und y = β βP(β|b ψλ) und verwendet das Distributivgesetz:

–2≤ αβP(α|aψλ)P(β|bψλ) + αβP(α|aψλ)P(β|b ψλ) +


α,β α,β

+ αβP(α|a ψλ)P(β|bψλ) – αβP(α|a ψλ)P(β|b ψλ) ≤ 2. (4.23)


α,β α,β

Jetzt kann man in jedem Summanden die lokale Faktorisierbarkeitsbedingung


anwenden:

–2≤ αβP(αβ|abψλ) + αβP(αβ|ab ψλ) +


α,β α,β

+ αβP(αβ|a bψλ) – αβP(αβ|a b ψλ) ≤ 2. (4.24)


α,β α,β

Dies ist eine Ungleichung für die gemeinsamen Erwartungswerte auf der ver-
borgenen Ebene. Um eine empirisch testbare Ungleichung zu erhalten, muss
man noch λ eliminieren. Man multipliziert die Ungleichung mit P(λ), inte-
griert über λ und wendet die Messunabhängigkeitsbedingung in passender
Weise an, so dass λ sich herausmarginalisiert. Wir demonstrieren dies für den
ersten Summanden:



αβP(αβ|abψλ)P(λ)dλ = αβ P(αβ|abψλ)P(λ|abψ)dλ =
α,β α,β



= αβ P(αβλ|abψ)dλ = αβP(αβ|abψ) = : E (αβ|abψ). (4.25)


α,β α,β

Im letzten Schritt haben wir eine Notation für den gemeinsamen Erwartungs-
wert der Messergebnisse eingeführt (gegeben die Messeinstellungen und den
146 P.M. Näger und M. Stöckler

Quantenzustand). In dieser Notation lautet die resultierende Ungleichung:

– 2 ≤ E(αβ|abψ) + E(αβ|ab ψ) + E(αβ|a bψ) – E(αβ|a b ψ) ≤ 2. (4.26)

Dies ist eine Bellsche Ungleichung. Die vorliegende prominente Form wurde
zuerst (aber in anderer Weise als hier demonstriert) von Clauser, Horne, Shi-
mony und Holt (1969) abgeleitet und wird „CHSH-Ungleichung“ genannt.

Entscheidend für das Argument ist aber, dass auch diese neue Ungleichung für
manche Messeinstellungen durch die empirische Statistik aus den Experimenten
verletzt wird. Es gibt somit einen Widerspruch zwischen der empirischen Statistik
und den theoretischen Annahmen, die wir plausiblerweise zu ihrer Erklärung ange-
führt hatten. Bei den Annahmen können wir zwei Ebenen unterscheiden. Erstens
muss mindestens eine der probabilistischen Annahmen lokale Faktorisierbarkeit
oder Messunabhängigkeit falsch sein. Zweitens muss mindestens eine der An-
nahmen falsch sein, aus denen wir die probabilistischen Annahmen hergeleitet
haben, nämlich globale Einstein-Lokalität oder eine der Hintergrundannahmen.
Hier ist die Struktur des Arguments noch einmal im Überblick:

(P1) Globale Einstein-Lokalität (GEL) und eine Menge von klassischen Hinter-
grundannahmen (HA) implizieren lokale Faktorisierbarkeit (LF) und Messun-
abhängigkeit (MU): (GEL) ∧ (HA) → (LF) ∧ (MU)
(P2) Messunabhängigkeit und lokale Faktorisierbarkeit implizieren Bellsche Un-
gleichungen (BU): (MU) ∧ (LF) → (BU)
(P3) Bellsche Ungleichungen sind verletzt: ¬(BU)

(C1) Messunabhängigkeit oder lokale Faktorisierbarkeit gilt nicht: ¬(MU) ∨ ¬(LF)


(aus P2 & P3, Modus tollens)
(C2) Globale Einstein-Lokalität oder mindestens eine der Hintergrundannahmen
gilt nicht: ¬(GEL) ∨ ¬(HA) (aus P1 & C1, Modus tollens)

Bells Argument hat also ein negatives Ergebnis: Es ist ein typisches No-go-Theorem.
Es beweist, dass die EPR/B-Korrelationen nicht unter den Annahmen erklärt werden
können, von denen wir normalerweise ausgehen. In diesem Sinne zeigt es, dass die
Quantenwelt unvereinbar ist mit einem klassischen Weltbild. Mindestens eine der
prima facie plausiblen Annahmen, die wir getroffen haben, muss falsch sein.
Die explizite Struktur des Arguments verdeutlicht auch noch einmal, dass es
einen mathematischen Kern des Arguments gibt, nämlich den Schluss von (P2)
und (P3) auf (C1). (P1), das den Schluss auf (C2) ermöglicht, hat dann eher den
Status einer interpretierenden Prämisse, die dem formalen Argument eine kausale
Deutung verleiht. Entgegen manchem Eindruck, den man aus physikalischen Fach-
artikeln zu dem Thema bekommen kann, ist es erst dieser Interpretationsrahmen, der
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 147

dem formalen Argument seine weitreichende Bedeutung gibt. Der mathematische


Kern ist weitgehend unstrittig, aber über den Interpretationsrahmen wird kontrovers
diskutiert: Was genau sind die Konsequenzen aus Bells Theorem?
Bevor wir ernsthafte Konsequenzen diskutieren, sollten wir eine oft ange-
führte Konsequenz als Missverständnis beiseite legen. Immer wieder wurde und
wird von Autoren behauptet, dass Bells Theorem einen Anti-Realismus impli-
ziere. So war 1979 im Scientific American zu lesen, dass die Lehre, nach der die
Welt aus unabhängig vom menschlichen Bewusstsein bestehenden Gegenständen
aufgebaut ist, nicht mit der Quantenmechanik und mit experimentell bestätigten
Fakten vereinbar sei (d’Espagnat 1979, S. 128). D. h. ähnlich wie im Kontext des
EPR-Arguments (siehe den entsprechenden Abschn. 4.2.1 für verschiedene Bedeu-
tungen von „Realismus“) wird „Anti-Realismus“ hier verstanden als die These,
dass physikalische Eigenschaften in der Welt nicht unabhängig vom Wissen oder
Denken der beteiligten Beobachter – d. h. der physikalischen Experimentatoren –
sind („metaphysischer Anti-Realismus bzgl. fundamentaler Eigenschaften“). Erst
durch Messungen erhalten die Eigenschaften von Quantensystemen klar definierte
Werte.
Aus der expliziten Rekonstruktion von Bells Theorem, die wir hier präsentiert
haben, wird allerdings klar, dass entgegen dieser weit verbreiteten Meinung Anti-
Realismus keine mögliche Konsequenz von Bells Theorem ist. Denn die Konklusion
von Bells Theorem (in einer starken Fassung, wie wir es hier präsentiert haben) ist
entweder Nicht-Lokalität oder Verletzung einer der Hintergrundannahmen – d. h.
Anti-Realismus kommt als mögliche Konklusion gar nicht vor. Der Grund dafür
ist, dass Realismus (bzgl. der fundamentalen Eigenschaften von Quantensystemen)
nicht als Annahme zur Ableitung einer Bellschen Ungleichung benötigt wird. Die
einzige realistische Annahme, die man braucht, ist, dass man von der unabhängi-
gen Existenz der Messgeräte und ihrer Eigenschaften überzeugt ist, weil nur so die
EPR/Korrelationen und damit die Verletzung der Bellschen Ungleichung (P3) den
Status objektiver Tatsachen erlangen – aber diese Annahme hat bislang niemand
ernsthaft bestritten.
Es ist nicht ganz klar, wie es zu diesem weitreichenden Missverständnis
kommen konnte. Eine mögliche Erklärung ist die folgende: Eine ursprüngliche Mo-
tivation für Gegner der Quantentheorie war es, gegen die Quantentheorie mit ihren
seltsamen Charakteristiken die Möglichkeit lokaler, realistischer Theorien aufzu-
weisen. Die Diskussion um EPR und Bell war in ihren Ursprüngen getragen von
der Frage, ob lokal realistische Theorien möglich sind, doch Bells Theorem gibt
darauf eine verneinende Antwort. Es liegt dann nahe zu denken, dass eine der An-
nahmen, Lokalität oder Realismus falsch sein muss.20 Dieser Schluss vergisst aber,
dass man die Annahme des Realismus zur Ableitung der Bellschen Ungleichung
nicht braucht. Man kann eine Bellsche Ungleichung allein durch Lokalität (plus
Hilfsannahmen) ableiten, d. h. die Verletzung der BU schließt alle lokalen Theorien

20 So suggeriert es auch der Artikel zur Bellschen Ungleichung auf der deutschen Wikipedia-Seite,

https://de.wikipedia.org/wiki/Bellsche_Ungleichung (abgerufen am 5.10.2016, 9:34 Uhr).


148 P.M. Näger und M. Stöckler

aus, die realistischen ebenso wie die anti-realistischen. Es sind dann nur nicht-lokale
Theorien möglich, darunter realistische als auch anti-realistische, aber Bells Theo-
rem sagt nichts darüber aus, ob die einen oder die anderen zu bevorzugen sind. Bells
Theorem ist neutral gegenüber der Realismus-Frage.

4.4 Nicht-Lokalität

4.4.1 Lokalität vs. Hintergrundannahmen

Welche der Annahmen aus der Herleitung der Bellschen Ungleichung gilt nicht?
Wir hatten zwei Ebenen in der Herleitung unterschieden, eine probabilistische und
eine kausale, und auf jeder Ebene muss mindestens eine Annahme falsch sein. Es
scheint fast unmöglich zu sein, auf rein probabilistischer Ebene ein Argument da-
für zu finden, welche Annahme plausiblerweise verletzt ist. Praktisch alle Autoren,
selbst wenn es explizit anders behauptet wird, beziehen sich mindestens implizit
auf die kausale Ebene, weil nur dort Kriterien zu finden sind, die Stoff für mögliche
Gründe liefern.
Das wird auch unser Weg hier sein: In diesem Abschnitt werden wir zunächst
die Lokalitätsannahme und im folgenden dann die Hintergrundannahmen auf der ge-
haltvolleren kausalen Ebene überprüfen. Zum einen müssen wir bei jedem Prinzip
untersuchen, ob eine Verletzung des Prinzips tatsächlich die Verletzung der Bell-
schen Ungleichung erklären kann. Die Verletzung mindestens eines Prinzips ist ja
nur eine notwendige Bedingung für die Verletzung der Ungleichung. Zum anderen
müssen wir bei den Prinzipien, für die das der Fall ist, diskutieren, ob ihre Auf-
gabe plausibel ist und welche Konsequenzen dies hätte. Hierbei dürfen wir nicht
erwarten, dass wir eine eindeutige und nicht mehr anzweifelbare Lösung erhalten.
Gerd Graßhoff hat das Vorgehen in der Debatte um die Bellsche Ungleichung in ei-
nem Vortrag einmal mit einer Detektivgeschichte verglichen: Es gibt verschiedene
Personen, die unter Verdacht stehen, und es gilt herauszufinden, wer der Mörder ist.
In den seltensten Fällen kann der Detektiv in einem strengen Sinne beweisen, wer
die Tat begangen hat, aber oft lassen wir uns auch von guten Indizien überzeugen.
Die weitaus meisten Autoren interpretieren die Verletzung der Bellschen Un-
gleichung als Zeichen einer Nicht-Lokalität: Es muss eine irgendwie geartete
Verbindung zwischen den beiden Flügeln des Experiments geben, die mit Über-
lichtgeschwindigkeit wirkt. Diese These folgt aus dem Bell-Argument, wenn man
voraussetzt, dass diejenigen Annahmen gelten, die wir als „Hintergrundannah-
men“ bezeichnet haben. Was sind die Gründe, die Lokalitätsannahme und nicht
eine der Hintergrundannahmen aufzugeben? Bei der Entwicklung dieser Positi-
on spielt es sicherlich eine große Rolle, dass zwei Hauptpositionen zur Lösung
des quantenmechanischen Messproblems (siehe Abschn. 2.3.1) – die GRW-Theorie
(siehe Abschn. 2.4) und die De-Broglie-Bohm-Theorie (siehe Abschn. 5.1) – ex-
plizit nicht-lokal sind. So theoriefrei das Bellsche Projekt von seinen Annahmen
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 149

her aufgezogen ist: Bei der Bewertung, welche der Annahmen fehlgeht, schei-
nen die Autoren doch auf die existierenden Theorien zu schielen. Dies verhindert
andererseits aber auch, dass der Lösungsvorschlag als ad hoc abgetan werden
kann.
Im folgenden Abschnitt werden wir dann diskutieren, was es heißen würde,
statt der Lokalitätsannahme eine der Hintergrundannahmen aufzugeben. Solche
Vorschläge spielen in der Diskussion aber eher die Rolle von alternativen Lösungs-
vorschlägen. Ihr hartnäckiges Fortbestehen jedoch zeigt, dass der Vorschlag einer
Nicht-Lokalität nicht ohne problematische Konsequenzen ist. Insbesondere die Ver-
einbarkeit mit der Relativitätstheorie ist, wie wir sehen werden, nach wie vor ein
großes Thema. Dennoch ist die Annahme einer Nicht-Lokalität die weitgehend
akzeptierte Konsequenz aus Bells Theorem. Die Tatsache, dass sich herausstellen
wird, dass alle alternativen Lösungsvorschläge ebenfalls große (wenn nicht größe-
re) Probleme aufweisen, ist ein weiterer Grund, die Lösung in einer Nicht-Lokalität
zu suchen.

4.4.2 Konfliktfelder mit der Relativitätstheorie

Wie genau ist es zu verstehen, dass die Lokalitätsannahme in der Quantenwelt ver-
letzt ist? Wir haben schon erwähnt, dass Nicht-Lokalität heißt, dass es einen Einfluss
zwischen Variablen gibt, die raumartig zueinander gelegen sind, so dass der Ein-
fluss zwischen ihnen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit propagieren müsste
(s. Abschn. 4.3.1). In EPR/B-Experimenten ordnet man die Messgeräte absichtlich
so an, dass die eine Messung raumartig zu der anderen liegt, um Beeinflussungen
zwischen den beiden Messungen auszuschließen. Unsere Argumentation scheint
uns jetzt aber an einen Punkt gebracht zu haben, an dem wir diese Annahme auf-
geben müssen. Es scheint, dass es auf eine zu bestimmende Weise einen Einfluss
zwischen den beiden Flügeln geben muss. Hierbei gibt es drei Prototypen (siehe
Abb. 4.6): Entweder gibt es (a) einen Einfluss von einem Messergebnis auf das
andere (was in der Debatte mit dem Schlagwort „Ergebnis-Abhängigkeit“, „outco-
me dependence“, assoziiert wurde) oder es gibt (b) einen direkten Einfluss zwischen
einer Messeinstellung und dem entfernten Ergebnis („Parameter-Abhängigkeit“,
„parameter dependence“) oder es gibt (c) einen indirekten Einfluss von einer Mess-
einstellung auf das entfernte Messergebnis, und zwar vermittelt über die verborgene
gemeinsame Ursache λ. (Im Spiel der Personen würde dies bedeuten, dass eine der
Personen bei Beantwortung der Frage Informationen darüber hat, (a) welche Ant-
wort die andere Person gegeben hat, oder (b) welche Frage ihr gestellt wurde, oder
dass (c) bei Auswahl der Strategie eine der Fragen bereits bekannt war.)
Zu letztgenanntem Fall sollten wir anmerken, dass λ durch die Aufgabe der
Lokalitätsannahme nicht mehr unbedingt einen Zustand an der Quelle beschreiben
muss und auch nicht mehr unbedingt verborgene Variablen der Photonen bedeutet.
Aus abstrakt-kausaler Sicht war λ von Anfang an einfach eine verborgene gemein-
same Ursache der Messergebnisse und ist ansonsten eine Art „Joker-Variable“ im
Diagramm. In einer lokalen Welt muss eine gemeinsame Ursache der Messergeb-
nisse natürlich im Schnitt der Vergangenheitslichtkegel der Messergebnisse liegen,
150 P.M. Näger und M. Stöckler

a b a b

(a) Direkte Struktur (b) Nicht-lokale gemeinsame Ursache

a b

(c) Indirekte Struktur

Abb. 4.6 Prototypen nicht-lokaler kausaler Strukturen (Wichtige Kausalrelationen sind hier und
in vielen folgenden Abbildungen der übersichtlicheren Darstellung halber fett gedruckt.)

und das plausibelste Szenario ist, dass λ an der Quelle positioniert ist und verborge-
ne Variablen der Photonen beschreibt. In einer nicht-lokalen Welt hingegen müssen
die Zustände, die λ beschreibt, nicht im Vergangenheitslichtkegel der Messergeb-
nisse liegen; vielmehr können sie nun überall in der Raumzeit-Region zwischen den
Messflügeln21 liegen (also auch raumartig zu den Messergebnissen) und dennoch
gemeinsame Ursache der Messergebnisse sein.
Das Hauptproblem für solche nicht-lokalen Modelle ist, dass sie in einem ernst-
haften Konflikt mit der Vorstellung von Raum und Zeit zu stehen scheinen, die die
Relativitätstheorie nahelegt. Wir hatten oben die Standard-Interpretation der Relati-
vitätstheorie zugrunde gelegt, in der das Prinzip der globalen Einstein-Lokalität gilt
(siehe Abschn. 4.3.1). Wenn es, wie diese Interpretation behauptet, richtig ist, dass
die Relativitätstheorie das Prinzip der globalen Einstein-Lokalität impliziert, dann

21 Genau genommen müsste λ, auch wenn dies am plausibelsten erscheint, nicht unbedingt zwi-
schen den Flügeln liegen, sondern lediglich an irgendeinem Ort außerhalb der Zukunftslichtkegel,
die von α und β ausgehen.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 151

gibt es eine echte Inkonsistenz der Relativitätstheorie mit solchen nicht-lokalen


Modellen. Ein nicht-lokales Modell für EPR/B-Experimente zu vertreten, würde
dann bedeuten, die Relativitätstheorie in einem gewissen Sinne aufzugeben. Diese
radikale Konsequenz wollen die meisten Autoren aber vermeiden. Ihre Idee ist, eine
Lösung zu finden, die einerseits eine Nicht-Lokalität beinhaltet, um die EPR/B-
Korrelationen zu erklären, andererseits aber nicht die Relativitätstheorie verletzt.
Solche Vorschläge müssen annehmen, dass die Relativitätstheorie das Prinzip der
globalen Einstein-Lokalität nicht strikt impliziert. In einem gewissen, beschränk-
ten Sinne muss die Relativitätstheorie kompatibel damit sein, dass es Einflüsse
mit Überlichtgeschwindigkeit gibt. Im Folgenden wollen wir nun prüfen, ob nicht-
lokale Modelle mit einer relativistischen Vorstellung von Raum und Zeit in Einklang
zu bringen sind. Dazu müssen wir etwas näher betrachten, inwiefern das Prinzip der
globalen Einstein-Lokalität, das durch eine Nicht-Lokalität verletzt wird, durch die
Relativitätstheorie begründet ist.
Zunächst einmal sollten wir sagen, dass es in klassischen, vor-relativistischen
Vorstellungen von Raum und Zeit (vgl. Newtons Konzeption) kein Problem dar-
stellt, wenn Dinge sich mit Überlichtgeschwindigkeit beeinflussen. Solange die
Beeinflussungsgeschwindigkeit endlich ist, kann es immer einen kontinuierlichen
Prozess von der Ursache zur Wirkung geben. Beeinflussungen zwischen entfernten
Ereignissen, die simultan geschehen, schließen hingegen solche kontinuierlichen
Prozesse aus; es handelt sich dann um klassische Fernwirkungen (häufig werden
auch klassische Fernwirkungen als „nicht-lokal“ bezeichnet, aber wir wollen unse-
ren Begriff von Nicht-Lokalität hier nicht verwässern). Ob Fernwirkungen in der
klassischen Physik zulässig sind, ist lange debattiert worden.
Dieser Debatte wurde durch die Formulierung der Relativitätstheorie ein Ende
gesetzt. Erstens wird in der Relativitätstheorie jede Wirkung, die mit Überlichtge-
schwindigkeit propagiert, eine nicht-lokale Wirkung, und zweitens scheinen alle
solche Wirkungen gemäß der Theorie verboten zu sein. Das Ergebnis ist, dass die
Relativitätstheorie eine durch und durch lokale Theorie ist. Diese beiden Punkte
müssen wir etwas erläutern. Wie kommt es, dass alle Einflüsse, die schneller als
Licht propagieren, gemäß der Relativitätstheorie als nicht-lokal gelten? Wir hat-
ten definiert, dass solche Einflüsse raumartig getrennte Ereignisse verbinden. Der
entscheidende Punkt ist nun, dass die zeitliche Ordnung raumartig getrennter Er-
eignisse in der Relativitätstheorie keine objektive Tatsache mehr ist. Simultaneität
wird ein bezugssystemabhängiger (oder beobachterabhängiger) Begriff, und für je-
des Paar von raumartig getrennten Ereignissen A und B gibt es Bezugssysteme, in
denen A früher geschieht als B, wie auch Bezugsysteme, in denen B früher geschieht
als A, und genau ein Bezugssystem, in dem beide simultan sind. Deshalb gibt es für
jede Wirkung, die mit Überlichtgeschwindigkeit vonstatten geht, genau ein Sys-
tem, in dem die Wirkung simultan ist. Das erklärt auch, warum solche Einflüsse im
Rahmen der Relativitätstheorie als „nicht-lokal“ bezeichnet werden.
Zum zweiten Punkt, dass die Relativitätstheorie alle kausalen Einflüsse mit
Überlichtgeschwindigkeit verbietet (globale Einstein-Lokalität), sollten wir uns
etwas näher die Gründe ansehen, warum dies der Fall ist:
152 P.M. Näger und M. Stöckler

1. Gemäß der Relativitätstheorie ist die Lichtgeschwindigkeit eine obere Grenz-


geschwindigkeit für die Bewegung von Materie und Energie. Es ist ausgeschlos-
sen, dass Materie- oder Energietransport schneller als mit Lichtgeschwindigkeit
stattfindet. Wenn also kausale Prozesse an Materie- oder Energietransport gebun-
den sind, kann es keine kausalen Wirkungen schneller als mit Lichtgeschwindig-
keit geben.
2. Es ist eine Konsequenz der relativistischen Raumzeit-Struktur, dass man mit
Signalen, die mit Überlichtgeschwindigkeit gesendet werden, eine Signalschleife
erzeugen könnte, und dass solche Schleifen Paradoxien ergeben. Wenn deshalb
eine kausale Verbindung zur Signalübertragung genutzt werden kann, kann sie
nicht zwischen raumartig getrennten Ereignissen bestehen.
3. Nach der Relativitätstheorie gibt es für raumartig getrennte Ereignisse A und B
sowohl Bezugssysteme, in denen A früher ist als B, wie auch Bezugssysteme
mit B früher als A. Deshalb kann es, wenn eine kausale Verbindung in allen
Bezugssystemen vorwärts in der Zeit sein muss, keine kausalen Verbindungen
zwischen raumartig getrennten Ereignissen geben.
4. Das Relativitätsprinzip gebietet, dass alle Bezugssysteme gleichberechtigt sind.
Nicht-lokale Verbindungen zeichnen aber das Bezugssystem aus, in dem sie
simultan sind. Deshalb kann es keine nicht-lokalen Verbindungen geben.

Dies sind die Gründe, die gegen nicht-lokale kausale Verbindungen in einer
relativistischen Raumzeit sprechen. Wenn man die Verletzung der Bellschen Un-
gleichung durch eine solche Nicht-Lokalität erklären will, muss man zu diesen
Argumenten Stellung beziehen. Entweder muss man zeigen, dass sie nicht gelten,
oder man muss zeigen, dass die Verbindung, die man als Lösung vorschlägt, die
problematische Eigenschaft nicht besitzt.
Es ist klar, dass Argument 1 nicht schlagend ist: Es könnte kausale Verbin-
dungen geben, die einfach nicht auf Materie- oder Energiefluss beruhen. Auch
wenn die typischen kausalen Verbindungen, die wir kennen, nicht von dieser Art
sind, scheinen viele Autoren diese Möglichkeit zuzugestehen. So spielt das Ar-
gument kaum eine Rolle in der Debatte, wahrscheinlich auch weil gemäß den
theoretischen Beschreibungen, die wir in der Quantentheorie und in der De-Broglie-
Bohm-Theorie haben, der Zusammenhang zwischen den Messflügeln nicht mit
Materie- oder Energiefluss verbunden ist.

4.4.3 Signale, Kausalität und Feinabstimmung

Weitaus einflussreicher in der Debatte ist aber das Argument 2. Es verbietet nicht-
lokale Verbindungen, mit denen man Signale senden kann. Die Überzeugung, dass
die Relativitätstheorie superluminale Signale verbietet, ist Common Sense, aber
nicht alle Autoren machen deutlich, warum dies so ist. Der stärkste Grund, wie
Arntzenius (1994) betont, ist, dass superluminale Signale in einer relativistischen
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 153

Raum-Zeit es ermöglichen würden, widersprüchliche Signal-Schleifen aufzubau-


en – also können solche Signale nicht möglich sein. Dies kann man wie folgt
einsehen (Abb. 4.7): Zwei Beobachter A und B (dicke graue Linien) bewegten sich
voneinander weg und jeder der beiden habe ein Gerät, mit dem er superluminale Si-
gnale in seinem Ruhesystem senden kann (a bzw. b), und einen Detektor, mit dem
er solche Signale empfangen kann (α bzw. β). Mit den Regeln „A sendet ein Signal,
genau dann wenn er von B eines erhält“ und „B sendet ein Signal, genau dann wenn
er von A keines erhält“ ergibt sich ein Widerspruch: Angenommen A habe von B
ein Signal erhalten, dann sendet A auch eines an B und dann sendet B keines an A –
was der Annahme widerspricht.
Um nicht in Widersprüche zu geraten, müssen superluminale Signale in relati-
vistischen Raumzeiten also verboten sein. Da gemäß gewisser Kausalitätstheorien
kausale Verbindungen die Möglichkeit von Signalübertragung implizieren (z. B.
Salmons Theorie der Markierungsübertragung, 1984) oder gar damit identifi-
ziert werden, kann, so das Argument, die nicht-lokale Verbindung in EPR/B-
Experimenten nicht kausal sein. Übrigens sind superluminale Signale (also Signale
schneller als Licht) nicht nur durch die Relativitätstheorie verboten, es ist auch
eine empirische Tatsache, dass man in EPR/B-Experimenten keine Signale mit
Überlichtgeschwindigkeit senden kann.22
Aber wenn es keine kausale Verbindung ist, was ist es dann? Die Charakte-
risierungen vieler Autoren bezüglich dieser Frage müssen als tastende Versuche
verstanden werden, etwas Ungewöhnliches in Worte zu fassen, das uns aus unserer
alltäglichen Erfahrung nicht bekannt ist. Irgendwie soll die Verbindung die Korre-
lationen erklären (also quasi kausal sein), aber ohne für Signalübertragung nutzbar
zu sein, und symmetrisch soll sie am besten auch noch sein. Shimony beispiels-
weise schreibt, dass die Verbindung zwischen den Flügeln des EPR/B-Experiments,

Abb. 4.7 Signal-Schleifen


durch superluminale Signale

22 Um superluminale Signale senden zu können, müsste es eine Korrelation zwischen einer kon-

trollierbaren Variable an einem und einer detektierbaren Variable am anderen Flügel geben. Dies
ist aber nicht der Fall: Einerseits sind die Messergebnisse korreliert, aber keines der beiden ist
kontrollierbar (jedes Ergebnis variiert zufällig von Durchgang zu Durchgang). Andererseits kann
man die Messeinstellungen zwar kontrollieren, aber es gibt keine Korrelation zwischen einer
Einstellung und einer Variable am anderen Flügel. Insbesondere ist eine Einstellung (marginal)
unabhängig vom entfernten Messergebnis. (Gegeben das lokale Messergebnis gibt es zwar eine
Korrelation zwischen Einstellung und entferntem Ergebnis, aber das lokale Ergebnis kann man
nicht kontrollieren, und so kann man auch diese bedingte Abhängigkeit nicht nutzen, um Signale
zu senden.)
154 P.M. Näger und M. Stöckler

mit der man keine Signale senden kann, keine Fernwirkung („action at-a-distance“)
sei, sondern eine „Fernleidung“ („passion at-a-distance“, Shimony 1984, S. 224).
Deshalb könne diese Art von Nicht-Lokalität in EPR/B-Experimenten mit der Rela-
tivitätstheorie „friedlich koexistieren“. Andere Autoren vertreten ähnliche Thesen,
z. B. Jarrett (1984) oder Redhead (1983, 1987).
Es bleibt allerdings zu einem gewissen Grade rätselhaft, wie eine solche beson-
dere Verbindung die Phänomene in EPR/B-Experimenten erklären soll. Zum einen
bräuchte es für eine überzeugende Erklärung klare, allgemeingültige Prinzipien, die
sagen, unter welchen Umständen eine solche Verbindung welche statistischen Tat-
sachen impliziert, also ganz analog dazu, was die kausale Markov-Bedingung für
kausale Verbindungen leistet. Da die Verbindung jedoch einzigartig für verschränk-
te Zustände zu sein scheint, ist es schwierig, Prinzipien aufzustellen, die nicht sofort
als ad hoc gelten müssen.
Zum anderen besteht wie für kausale Verbindungen auch für eine nicht-kausale
Verbindung das zentrale Problem, dass sie einerseits korrelationserzeugend sein
muss, um die starken EPR/B-Korrelationen (zwischen den Messergebnissen) zu
erklären; anderseits sollte sie aber gerade nicht korrelationserzeugend sein, um
zu verhindern, dass man superluminal Signale senden kann. Dieses Dilemma be-
steht also nicht nur für kausale Verbindungen sondern für jede Art von Verbindung,
die beansprucht, die statistischen Tatsachen zu erklären. Sich auf nicht-kausale
Verbindungen zu berufen beseitigt dieses fundamentale Problem nicht.
Da die statistischen Unabhängigkeiten, die garantieren, dass man keine su-
perluminalen Signale senden kann, eine empirische Tatsache sind, besteht das
letztere Problem auch dann, wenn man raumzeitliche Beschränkungen, die aus
der Relativitätstheorie folgen, unberücksichtigt lässt. Unabhängig von raumzeitli-
chen Beziehungen handelt es sich erst einmal um die Frage, ob man eine Struktur
aus kausalen (oder nicht-kausalen) Verbindungen angeben kann, die zusammen mit
nicht-willkürlichen Prinzipien die schwierige Statistik erklärt. Dieses fundamentale
Problem wurde erst kürzlich formuliert (Näger 2016; vgl. auch Wood und Spek-
kens 2015) und wird als „das kausale Problem der Verschränkung“ bezeichnet (im
Gegensatz zum klassischen raumzeitlichen Problem der Verschränkung, bei dem es
darum geht, wie man die Nicht-Lokalität im Einklang mit der Relativitätstheorie
verstehen kann).
Das kausale Problem der Verschränkung kann man mit Hilfe der Theorie kau-
saler Graphen sehr klar fassen. Die Theorie kausaler Graphen beinhaltet drei
Axiome: (i) Kausale Graphen enthalten keine Schleifen (Axiom der Azyklizität),
(ii) kausal unverbundene Variablen23 sind statistisch unabhängig (kausale Markov-
Bedingung) und (iii) kausal verbundene Variablen sind statistisch abhängig (kausale
Faithfulness-Bedingung). Wenn diese drei Axiome gelten, kann man zeigen, dass
sich ein Widerspruch zur Statistik von EPR/B-Experimenten ergibt: Entweder kann
man nicht die starken EPR/B-Korrelationen erklären oder nicht die statistischen

23 Zwei Variablen A und B in einem kausalen Diagramm sind genau dann verbunden, wenn A

Ursache von B ist oder B von A oder wenn beide eine gemeinsame Ursache haben. Insbesondere
sind A und B nicht kausal verbunden, wenn sie nur eine gemeinsame Wirkung haben.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 155

Unabhängigkeiten, die superluminale Signale unmöglich machen. Mindestens eine


der drei Annahmen kann nicht richtig sein. (Zur Erinnerung: Ein ähnliches Pro-
blem ergibt sich auch für nicht-kausale Verbindungen, wenn man versucht, klare
Prinzipien darüber zu formulieren, unter welchen Umständen sie Korrelationen oder
Unabhängigkeiten implizieren.)
In diesem Trilemma scheint es am plausibelsten zu sein, die kausale
Faithfulness-Bedingung aufzugeben (Näger 2016), denn mögliche Verletzungen der
Bedingung sind wohlbekannt.24 Beispielsweise gibt es den Fall, dass zwei kausale
Pfade von der Ursache zur Wirkung bestehen, die sich aber gerade gegenseitig kom-
pensieren (ähnlich wie sich Kräfte beim Tauziehen kompensieren können). Dies
erfordert eine ganz bestimmte Balance zwischen den beiden Pfaden, eine Feinab-
stimmung der sogenannten kausalen Parameter.25 In solchen Fällen liegen kausale
Verbindungen vor, aber keine statistische Abhängigkeit zwischen Ursache und Wir-
kung. Dann verändern Manipulationen der Ursache die Wirkung nicht, so dass
man in solchen Fällen keine Signale senden kann, obwohl eine kausale Verbin-
dung vorliegt. Solche Verletzungen der Faithfulness-Bedingung haben genau die
Eigenschaften, die erforderlich sind, um EPR/B-Experimente erklären zu können.
Tatsächlich kann man zeigen, dass auch der quantenmechanische Formalismus eine
Verletzung der Faithfulness-Bedingung beinhaltet.26
Aus dieser Sicht muss man keine neue, mysteriöse, nicht-kausale Relation ein-
führen, um EPR/B-Phänomene zu erklären. Die klaren Begriffe und Prinzipien
einer etablierten Kausaltheorie genügen, wenn eine bestimmte Feinabstimmung der
kausalen Pfade gegeben ist. Die Berufung auf eine Feinabstimmung macht die Er-
klärung der EPR/B-Phänomene speziell, aber nicht unverständlich, auch wenn eine
Erklärung der Feinabstimmung selbst noch aussteht. Zusammenfassend kann man
sagen, da Kausalität nicht notwendigerweise die Möglichkeit von Signalübertra-
gung impliziert, spricht Konfliktpunkt 2 nicht dagegen, eine kausale Verbindung
zwischen den Flügeln anzunehmen.

24 Auch Verletzungen der kausalen Markov-Bedingung sind behauptet worden (z. B. van Fraas-

sen 1982; Cartwright 1988), aber sie sind umstritten (z. B. Hausman 1999). Vor allem aber kann
man zeigen, dass diese nicht ausreichen würden, um die starken EPR/B Korrelationen zu erklären
(Näger 2013, siehe unten Abschn. 4.5.1).
25 In einem typischen kausalen System ist jedem Pfeil in einem kausalen Diagramm ein kau-

saler Parameter zugeordnet. Er beschreibt, grob gesagt, wie stark die Ursachenvariable die
Wirkungsvariable beeinflusst.
26 Normalerweise sind solche Feinabstimmungen instabil gegenüber äußeren Störungen, weil ei-

ne Störung in der Regel nur einen der beiden Pfade beeinflusst und somit die Balance zwischen
ihnen aufhebt. Dann werden Ursache und Wirkung abhängig und man kann Signale senden. Der
quantenmechanische Formalismus demonstriert jedoch, wie es möglich ist, dass eine solche Fein-
abstimmung stabil gegen äußere Störungen ist: In der quantenmechanischen Nicht-Faithfulness
sind die Pfade so eng miteinander verwoben, dass äußere Störungen immer auf beide Pfade wir-
ken, und die Gesetze für solche Störungen sind so, dass beide Pfade immer so gestört werden, dass
sie in Balance bleiben.
156 P.M. Näger und M. Stöckler

4.4.4 Ergebnis-Abhängigkeit vs. Parameter-Abhängigkeit

Die Debatte um eine mögliche Signalübertragung und die Frage nach dem Wesen
der nicht-lokalen Relation ist in den meisten Fällen verbunden mit einer verwandten
Diskussion, bei der es darum geht, herauszufinden, welche der Variablen genau mit-
einander nicht-lokal verbunden sind. Die Debatte wird geführt auf Grundlage des
probabilistischen Kerns des Bell-Arguments, für die J. Jarrett (1984) eine ebenso
berühmt gewordene wie irreführende Analyse einführt. Jarrett folgert aus Bells
Theorem, dass auf probabilistischer Ebene die lokale Faktorisierbarkeitsbedingung
verletzt sein muss, und zeigt, dass deren Verletzung mathematisch äquivalent ist
mit der Disjunktion aus der Annahme einer Korrelation zwischen den beiden Mess-
ergebnissen („ Ergebnis-Abhängigkeit “, „outcome dependence“) und der Annahme
einer Korrelation zwischen der Messeinstellung auf der einen und dem Messergeb-
nis auf der anderen Seite („Parameter-Abhängigkeit“, „parameter dependence“).
Diese beiden Korrelationen werden nun zu den beiden großen Alternativen stili-
siert: „Ergebnis-Abhängigkeit oder Parameter-Abhängigkeit?“ scheint die wichtige
Frage zu sein, und es entspinnt sich eine bis heute andauernde Debatte, welche der
Abhängigkeiten nun tatsächlich bestehe.

Definition von Ergebnis-Abhängigkeit und Parameter-Abhängigkeit

Jarrett (1984) zeigt, dass die lokale Faktorisierbarkeitsbedingung, die ei-


ne komplexe statistische Unabhängigkeitsbedingung ist, äquivalent mit der
Konjunktion aus den folgenden paarweisen statistischen Unabhängigkeiten
ist:

Ergebnis-Unabhängigkeit:

∀α, β, a, b, ψ, λ: P(α|βabψλ) = P(α|abψλ)

Parameter-Unabhängigkeit:

∀α, a, b, ψ, λ: P(α|abψλ) = P(α|aψλ) und


∀β, a, b, ψ, λ: P(β|abψλ) = P(β|bψλ)

(Die Namen für die mathematischen Bedingungen stammen von Shimony


(1984). Jarretts ursprüngliche Bezeichnungen „completeness“ bzw. „locality“
wurden früh kritisiert und haben sich nicht durchgesetzt.) Da Bells Argu-
ment die Verletzung der lokalen Faktorisierbarkeitsbedingung folgert, muss
die Verneinung mindestes einer dieser Unabhängigkeiten gelten (d. h. es muss
mindestens einen Satz von Werten geben, für die mindestens eine der drei
Gleichungen nicht gilt). Diese heißen entsprechend „Ergebnis-Abhängigkeit“
bzw. „Parameter-Abhängigkeit“.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 157

Fast einstimmig plädieren die Autoren für Ergebnis-Abhängigkeit und gegen


Parameter-Abhängigkeit, wofür es zwei Hauptargumente gibt. Erstens würde eine
Verletzung der Parameter-Unabhängigkeit einen Konflikt mit der Relativitätstheo-
rie ergeben, weil Parameter-Abhängigkeit im Prinzip eine Signalübertragung mit
Überlichtgeschwindigkeit ermögliche. Ergebnis-Abhängigkeit hingegen sei kom-
patibel mit der Relativitätstheorie, weil sie keine Signalübertragung mit Über-
lichtgeschwindigkeit ermögliche. Zweitens spreche die Standard-Interpretation der
Quantenmechanik für eine Verletzung der Ergebnis-Unabhängigkeit, weil gemäß
dieser die Photonen nur gemeinsam einen reinen Zustand haben, und erst die
Messung zum Kollaps des Zustandes führt (Butterfield 1989).
Wir können an dieser Stelle nicht tiefer in diese sehr technische Debatte einstei-
gen, aber wir sollten die folgenden wichtigen Punkte festhalten: Erstens ist es nicht
wahr, dass man mit Parameter-Abhängigkeit in jedem Fall Signale senden kann. Die
Korrelation hängt von der verborgenen Variable λ ab, und wenn man diese nicht
kontrollieren kann, wie z. B. in der De-Broglie-Bohm-Theorie, kann man auch mit
Parameter-Abhängigkeit keine Signale senden, nicht einmal „im Prinzip“ (Maudlin
2011, S. 88).
Zweitens argumentieren Jones und Clifton (1993), dass es falsch ist, an-
hand des Kriteriums möglicher Signalübertragung für Ergebnis-Abhängigkeit und
gegen Parameter-Abhängigkeit zu votieren. Wenn man die Schwierigkeiten mit
der Kontrolle der verborgenen Variable λ beiseite lässt und davon ausgeht, dass
Parameter-Abhängigkeit es erlaubt, Signale zu senden, dann müsste auch Ergebnis-
Abhängigkeit es ermöglichen, Signale zu senden, wenn zusätzlich eines der
Messergebnisse von seiner lokalen Messeinstellung abhängt (was für partiell ver-
schränkte Zustände der Fall ist27 ). Denn dann kann man das an sich unkontrollier-
bare Messergebnis über die lokale Messeinstellung beeinflussen (seine Wahrschein-
lichkeit verändern) und somit auch mit Ergebnis-Abhängigkeit Signale senden. Mit
anderen Worten: Wenn man mit der Struktur in Abb. 4.6b Signale senden kann,
dann auch mit der in Abb. 4.6a (vgl. auch Glymour 2006). Im letzteren Fall geht das
Signal nicht direkt von b nach α sondern indirekt über β.
Maudlin (2011, Kap. 6) und Näger (im Erscheinen a) kritisieren den noch fun-
damentaleren Punkt, dass die Optionen, die der Debatte zugrundeliegen, Ergebnis-
Abhängigkeit oder Parameter-Abhängigkeit, irreführend sind, weil man eine ge-
wisse Abhängigkeit von der entfernten Messeinstellung in keinem Fall vermeiden
kann. Eine Abhängigkeit zwischen den Messergebnissen alleine ist zu schwach, um
die Verletzung einer Bellschen Ungleichung erklären zu können. Mindestens eines
der Messergebnisse muss auch von der entfernten Messeinstellung abhängen. Ins-
besondere werden durch dieses Argument Theorien ausgeschlossen, deren einzige
nicht-lokale Abhängigkeit Ergebnis-Abhängigkeit ist. Mit der kausalen Markov-
Bedingung als Brückenprinzip übertragen sich diese Ergebnisse auf die kausale

27 Während bei Experimenten mit den vollkommen verschränkten Bell-Zuständen (siehe Kasten
in Abschn. 4.3.1) die Messergebnisse unabhängig von der jeweils lokalen Messeinstellung sind,
verschwindet diese aus einer Symmetrie resultierende Schein-Unabhängigkeit für partiell ver-
schränkte Zustände.
158 P.M. Näger und M. Stöckler

Ebene (Näger 2013): Direkte kausale Strukturen (wie in Abb. 4.6a), die als ein-
zige Verbindung zwischen den Flügeln einen Einfluss von einem Messergebnis zum
anderen annehmen, sind ausgeschlossen. Was jahrelang als die Standardlösung des
Problems galt, eine statistische Abhängigkeit und eine quasi-kausale Verbindung
zwischen den Messergebnissen anzunehmen, hat sich als unhaltbar erwiesen. Um
eine Bellsche Ungleichung verletzen zu können, muss mindestens eines der Mess-
ergebnisse Wirkung beider Messeinstellungen sein, d. h. es muss mindestens eine
der Messeinstellungen auf das entfernte Ergebnis wirken. Dies kann entweder direkt
geschehen (wie in Abb. 4.6b), oder indirekt über die verborgene Variable λ (wie in
Abb. 4.6c), aber nicht indirekt über das lokale Messergebnis (wie in Abb. 4.6a).
Schließlich folgt aus dem Gesagten: Da die Quantenmechanik Bellsche Un-
gleichungen verletzt, kann sie gar nicht, wie oft behauptet wurde, die Struktur in
Abb. 4.6a haben. Tatsächlich zeigt eine Analyse des quantenmechanischen Forma-
lismus, dass sie eine Variante der indirekten Struktur aus Abb. 4.6c besitzt (für die
exakte Struktur s. u. Abb. 4.8c).

4.4.5 Kausale Nicht-Lokalität vs. Nicht-Separabilität

Bisher hatten wir argumentiert, dass die Verletzung der Bellschen Ungleichung ei-
ne Nicht-Lokalität in dem allgemeinen Sinne erfordert, dass es mindestens einen
kausalen Prozess zwischen den raumartig getrennten Flügeln geben muss. Wir
hatten kausale Prozesse in den Diagrammen repräsentiert durch Pfeile und insbeson-
dere wurden nicht-lokale Prozesse repräsentiert durch Pfeile zwischen Variablen,
die raumartig zueinander gelegene Zuständen beschreiben. Wir wollen nun noch
etwas genauer betrachten, wofür die Pfeile stehen und welche Varianten es im
Verständnis der Nicht-Lokalität gibt.
Kausale Graphen sind eine vereinfachende Repräsentation der tatsächlichen
Vorgänge. Jeder Pfeil steht für einen kausalen Prozess, aber der Graph sagt uns
nichts weiter darüber. Tatsächlich ist ein kausaler Prozess von A nach B i. A. eine
Abfolge von Zuständen, die in kausalen Relationen stehen (A → C1 → C2 →
. . . → Cn → B), und der Graph repräsentiert die mittleren Zustände Ci nur im-
plizit durch den Pfeil zwischen A und B. Beispielsweise ist in einer Kette von 100
Dominosteinen das Umfallen des ersten Steines (A) eine Ursache für das Umfallen
des letzten Steines (B) und kann als A → B im Diagramm repräsentiert werden.
Aber natürlich kann man den kausalen Prozess zwischen A und B durch das Um-
fallen der dazwischenliegenden Steine noch genauer beschreiben. Das Auslassen
von Zwischenzuständen in kausalen Prozessen ist zulässig, weil die Schlüsse, die
man aus dem Graphen auf die Statistik zieht, auch unter solchen Auslassungen kor-
rekt bleiben;28 und dies ist wichtig, weil die Komplexität realer Prozessen es oft
schwierig macht, die Prozesse im Detail zu kennen oder unverkürzt darzustellen.
Im Falle der nicht-lokalen Pfeile in kausalen Graphen lohnt es sich, genauer hin-
zusehen, wie die zugrundeliegenden kausalen Prozesse realisiert sein könnten. Dazu

28 Man darf nur keinen Zustand auslassen, der eine gemeinsame Ursache ist („causal sufficiency“).
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 159

müssen wir etwas weiter ausholen und einige Begriffe einführen. Wir hatten oben
definiert, dass eine lokale Weltsicht erfordert, dass alle kausalen Prozesse langsamer
als oder gleich schnell wie Licht ablaufen (Prinzip der globalen Einstein-Lokalität).
Dieses Prinzip ist grundlegend für eine lokale Weltsicht, wie sie in der Relativitäts-
theorie und den relativistischen Feldtheorien zum Ausdruck kommt. Einstein (1948)
zeigt, dass das Prinzip genau dann erfüllt ist, wenn die – gleich genauer explizier-
ten – Bedingungen (kausale) Lokalität und Separabilität gelten. Die Idee ist hier,
dass beide Bestandteile kausaler Prozesse – Zustände und die zwischen ihnen be-
stehende kausale Relationen – lokal sein müssen; nur wenn dies der Fall ist, gilt
globale Einstein-Lokalität. Sehen wir uns dies etwas näher an.
Mit der Bedingung der (kausalen) Lokalität ist folgendes gemeint:

Kausale Einstein-Lokalität: Es gibt keine fundamentalen kausalen Relationen


zwischen raumartig getrennten Ereignissen.

Der Unterschied zur früher definierten globalen Einstein-Lokalität ist nicht ganz
einfach zu sehen. Er wird markiert durch das Wort „fundamental“: A und B stehen
in einer fundamentalen kausalen Relation, wenn es zwischen A und B keine Kette
von weiteren Zustände gibt, die den kausalen Einfluss von A nach B transmittieren,
d. h. wenn A unmittelbar auf B wirkt.29 Das Prinzip der kausalen Einstein-Lokalität
garantiert also, dass die grundlegende Dynamik physikalischer Systeme lokal ist –
während globale Einstein-Lokalität garantiert, dass physikalische Prozesse als
Ganzes lokal sind. Terminologisch ist es etwas unglücklich, dass sich der Begriff
„Lokalität“ sowohl für die Beschränkung fundamentaler kausaler Relationen als
auch für die Beschränkung kausaler Prozesse als Ganzes durchgesetzt hat. Des-
halb qualifizieren wir diese verschiedenen Lokalitäts-Aussagen durchgehend mit
den Zusätzen „kausal“ bzw. „global“. Der Leser sei darauf hingewiesen, dass dies
nicht in allen Texten der Debatte der Fall ist: „Lokalität“ bzw. „Einstein-Lokalität“
kann manchmal für die eine, manchmal für die andere Bedingung stehen.
Einstein macht deutlich, dass kausale Einstein-Lokalität nicht genügt, damit
eine Welt als lokal gelten kann. Man muss auch fordern, dass die Zustände in
folgendem Sinne lokalisiert sind (vgl. Howard 1989):

(Raumzeitliche) Separabilität: Für jedes Paar nicht-überlappender Raum-Zeit-


Regionen A und B gilt:

1. Jede der Regionen hat ihren eigenen, getrennten Zustand,


und
2. der gemeinsame Zustand, d. h. der Zustand der Gesamtregion A ∪ B, ist durch
den Zustand von A und den Zustand von B und den raumzeitlichen Relationen
dazwischen festgelegt.

29 „Fundamental“ soll hier nicht heißen, dass die kausalen Relationen nicht durch nicht-kausale
Begriffe analysiert werden könnten.
160 P.M. Näger und M. Stöckler

Da dies für jedes Paar von Raumzeit-Regionen gelten soll, bedeutet das Prin-
zip letztlich, dass jeder Raumzeit-Punkt seinen eigenen Zustand mit intrinsischen
Eigenschaften (im Gegensatz zu relationalen Eigenschaften) hat und dass die
Zustände ausgedehnter Raumzeit-Regionen durch die ihrer punktförmigen Bestand-
teile und den raumzeitlichen Relationen dazwischen festgelegt sind. Man sagt auch,
dass der Zustand ausgedehnter Raumzeit-Regionen über denen der Punkte und Rela-
tionen „superveniert“ (was ungefähr heißt, dass letztere Zustände erstere festlegen,
aber nicht umgekehrt).30 Dieses Prinzip ist in der klassischen Feldtheorie verwirk-
licht, gemäß der z. B. das elektrische und das magnetische Feld an jedem Punkt
einen definierten Wert haben und das Gesamtfeld durch die Werte an den ein-
zelnen Punkten festgelegt ist. Einstein misst dem Prinzip eine tiefe methodische
Bedeutung zu:

Ohne die Annahme einer solchen Unabhängigkeit der Existenz (des „So-Seins“) der räum-
lich distanten Dinge voneinander, die zunächst dem Alltags-Denken entstammt, wäre
physikalisches Denken in dem uns geläufigen Sinne nicht möglich. Man sieht ohne solche
saubere Sonderung auch nicht, wie physikalische Gesetze formuliert und geprüft werden
könnten. (Einstein 1948, S. 321)

Auch aus philosophischer Sicht ist das Prinzip eine attraktive Forderung, weil seine
Gültigkeit implizieren würde, dass man ontologisch alle physikalischen Zustände
von ausgedehnten Regionen auf die intrinsischen Eigenschaften an den Raumzeit-
Punkten reduzieren kann. Dies würde bedeuten, dass man ontologisch besonders
sparsam sein kann – was generell als attraktive Eigenschaft betrachtet wird. David
Lewis hat ein ähnliches Prinzip unter dem Label „Humesche Supervenienz“ in die
philosophische Literatur eingeführt:31

Humean supervenience is named in honour of the great denier of necessary connections. It


is the doctrine that all there is to the world is a vast mosaic of local matter of particular facts,
just one little thing and then another. [. . .] We have geometry: a system of external relations

30 Der recht technische Begriff der Supervenienz hat seinen Ursprung in der Philosophie des Geis-
tes und in der Metaethik. Cleland (1984) hat eine Variante des ursprünglichen Begriffs in die
Debatte um Raum und Zeit eingeführt, und es ist diese Variante, die in der Debatte um verschränk-
te Quantensysteme angewandt wird (vgl. z. B. French 1989; Esfeld 2004). Die Definition lautet:
Eine dyadische Relation R ist supervenient über einer determinablen, nicht-relationalen Eigen-
schaft P genau dann, wenn (i) jedes der Relata von R die Eigenschaft P auf determinierte Weise
instanziiert und (ii) die Instanziierungen der Eigenschaft P die Relation R festlegen. Ein einfaches
Beispiel: Die Massiver-als-Relation superveniert über den Massen physikalischer Objekte.
31 Obwohl ähnlich, decken sich die beiden Prinzipien nicht. Humesche Supervenienz ist einerseits

stärker als das Prinzip der Nicht-Separabilität, weil sie fordert, dass alles über den Zuständen
von Raumzeit-Punkten superveniert, also nicht nur die Zustände von ausgedehnten Raumzeit-
Regionen, sondern auch Entitäten, die nicht unbedingt in Raum und Zeit verortet sein müssen, wie
z. B. mentale Zustände oder Zahlen. Humesche Supervenienz ist andererseits aber auch schwächer
als Nicht-Separabilität, weil sie im Gegensatz zu letzterem nicht fordert, dass die Supervenienz
lokal ist. Die Frage, ob z. B. ein Ereignis in Region A ein anderes Ereignis in Region B verursacht,
wird bei Lewis nicht durch den Zustand der betreffenden Raumzeit-Regionen festgelegt, sondern
durch die gesamten Raumzeiten aller möglichen Welten.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 161

of spatio-temporal distance between points. Maybe points of spacetime itself, maybe point-
sized bits of matter or aether or fields, maybe both. And at those points we have local
qualities: perfect natural intrinsic properties which need nothing bigger than a point at which
to be instantiated. For short: we have an arrangement of qualities. And that is all. There is
no difference without difference in the arrangement of qualities. All else supervenes on that.
(Lewis 1986, S. ix–x)

Soweit zur Bedeutung des Separabilitätsprinzips.


Wenn man nun durch das Bell-Argument einsieht, dass es eine Nicht-Lokalität
auf fundamentaler Ebene geben muss, ist es eine interessante und wichtige Frage, ob
diese Nicht-Lokalität durch eine fundamentale nicht-lokale kausale Relation (Ver-
letzung des kausalen Lokalitätsprinzips) oder durch einen nicht-lokalen Zustand
(Verletzung des Separabilitätsprinzips) realisiert ist. Ersteres entspricht dem Fall,
den wir bisher still vorausgesetzt hatten, dass die Zustände, d. h. die Variablen in
den kausalen Diagrammen, tatsächlich lokalisiert sind, d. h. ganz bestimmten be-
schränkten Raumzeit-Regionen zukommen. (Sofern sie makroskopische Variablen
sind, die sich über eine endliche Raumzeit-Region erstrecken, muss man davon aus-
gehen, dass sie über den Zuständen ihrer Subregionen supervenieren.) In einem
solchen Fall wäre Separabilität erfüllt, und es wären vielmehr manche kausalen
Relationen, die sich nicht-lokal erstrecken. Zum Beispiel könnte man die durch fett
gedruckte Pfeile in Abb. 4.6 repräsentierten kausalen Relationen als fundamentale,
nicht-lokale Relationen auffassen.
Der zweite Vorschlag hingegen liefe auf den bisher nicht diskutierten Fall hin-
aus, dass alle kausalen Relationen rein lokal sind, aber manche der Variablen in
der kausalen Struktur nicht lokalisiert sind. Dies würde bedeuten, dass es Zustän-
de gibt, die sich über eine ausgedehnte Raumzeit-Region erstrecken, aber nicht
durch die Zustände der Subregionen beschreibbar sind. Solche Zustände heißen
„(raumzeitlich) nicht-separabel“. Wir haben die Prototypen nicht-lokaler kausaler
Erklärungen, die eine Nicht-Separabilität involvieren, in Abb. 4.8 dargestellt. In
den Abb. 4.8a und 4.8b haben wir eine Zwischenvariable μ eingeführt, die sich
nicht-lokal erstreckt. Wie wir oben gesehen hatten ist es nach den formalen Regeln
kausaler Graphen immer möglich, eine weitere Variable in einem kausalen Pfad
einzufügen, weil kausale Graphen nicht alle Zwischenvariablen für einen kausa-
len Pfad auflisten müssen (und dies in der Regel auch nicht tun). Dennoch bleibt
aus physikalischer Sicht die Frage, welcher physikalische Zustand durch μ eigent-
lich repräsentiert sein soll. Des Weiteren ist die Struktur in Abb. 4.8a, wie wir in
Abschn. 4.4.4 erläutert haben, gar nicht möglich, weil sie zu schwach ist, Bellsche
Ungleichungen zu verletzen. Am plausibelsten unter diesen Strukturen erscheint
deshalb die indirekte Struktur in Abb. 4.8c. Die verborgene gemeinsame Ursache λ
spielt hier nicht mehr die Rolle einer verborgenen Variablen an der Quelle, sondern
die eines nicht-lokalen Zustandes, der sich aus dem Zustand ψ an der Quelle entwi-
ckelt (entsprechend haben wir leichte Modifikationen zur prototypischen indirekten
Struktur in Abb. 4.6c eingeführt: ψ beeinflusst die Ergebnisse nicht mehr direkt,
sondern vermittelt durch λ und beide Einstellungen beeinflussen die Messergebnisse
ausschließlich indirekt über λ).
Sollten wir die Nicht-Lokalität der Quantenwelt nun eher durch nicht-lokale
kausale Relationen oder durch eine Nicht-Separabilität verstehen? Tatsächlich
162 P.M. Näger und M. Stöckler

a b a b

(a) Direkte Struktur (b) Nicht-lokale gemeinsame Ursache

a b

(c) Indirekte Struktur

Abb. 4.8 Prototypen nicht-separabler kausaler Strukturen

nehmen die meisten Autoren in der Debatte an, dass es sich um eine Nicht-
Separabilität handelt, und meinen oft auch, dieses aus dem Bell-Argument ableiten
zu können. Es ist jedoch schwierig, dieses Ergebnis in einer überzeugenden Weise
aus dem Resultat des Bell-Arguments zu begründen. Das Bell-Argument ist, wie
wir gezeigt haben, ein Argument darüber, welche Variablen von welchen abhängen,
letztlich also ein kausales Argument. Dass es eine Abhängigkeit zwischen raumartig
getrennt Variablen geben muss, sagt uns aber nichts darüber, ob diese Abhängigkeit
nun durch eine Verletzung der Lokalität oder durch eine Verletzung der Separabilität
zustande kommt. Im Bell-Argument selbst kann man demnach keine Begründung
für diese Sicht finden.
Manche Autoren haben versucht zu argumentieren, dass es sich um eine Nicht-
Separabilität handeln muss, weil es eine empirische Tatsache ist, dass man mit der
Verbindung keine Signale senden kann. Dies ist aber ein Missverständnis, denn die
Frage, ob man Signale senden kann oder nicht, hängt (wie wir in Abschn. 4.4.3 ar-
gumentiert haben) daran, ob die (kausalen) Parameter feinabgestimmt sind; sie hat
hingegen nichts mit der vorliegenden Frage zu tun, welcher Art die nicht-lokalen
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 163

Relationen auf diesen Pfaden sind. Zum Beispiel kann man mit der nicht-separablen
kausalen Struktur in Abb. 4.8b ebenso gut Signale senden, wenn keine Feinabstim-
mung der kausalen Parameter vorliegt, wie mit der entsprechenden nicht-lokalen
Struktur in Abb. 4.8c. Insbesondere erweist sich auch eine Überlegung als zweifel-
haft, die oft im Hintergrund solcher Argumente steht, nämlich dass eine Erklärung
der EPR/B Korrelationen, die eine Nicht-Separabilität (und keine kausale Nicht-
Lokalität) beinhaltet, eine nicht-kausale Erklärung darstellt. Die Frage, ob eine
kausale Nicht-Lokalität oder eine Separabilität vorliegt, betrifft nur die raum-
zeitliche Realisierung der betrachteten Prozesse; ob ein solcher Prozess kausal
ist, ist völlig unabhängig von dieser Frage. Vielmehr ist es so, dass ein nicht-
separabler Zustand, der als Variable Teil eines ansonsten kausalen Prozesses ist,
nichts an der Tatsache ändert, dass es sich auch insgesamt um einen kausalen Pro-
zess handelt (allerdings einen kausalen Prozess mit ungewöhnlichen raumzeitlichen
Eigenschaften).
Auf abstrakter Ebene scheint schließlich nur ein Argument zu bleiben, das
für eine Nicht-Separabilität spricht, nämlich der genannte Konfliktpunkt 3 mit
der Relativitätstheorie, dass eine nicht-lokale kausale Verbindung in manchen
Bezugssystemen vorwärts, in manchen aber rückwärts in der Zeit laufen würde.
Dieser Konflikt mit der Asymmetrie der Kausalität scheint nahezulegen, dass die
nicht-lokale Relation eine symmetrische und damit keine kausale sein sollte. Ei-
ne Nicht-Separabilität hingegen kann eine perfekt symmetrische Relation sein und
umgeht diesen Konfliktpunkt.
Dieses einleuchtende, aber nicht ganz schlagende Argument bekommt schließ-
lich Unterstützung aus einem anderen Gedankengang, der sich auf die Quantentheo-
rie beruft. Hiermit verlassen wir die Ebene von Bells theorieunabhängigem, abstrak-
tem Beweis und beziehen uns explizit auf eine Theorie. Tatsächlich scheint es so zu
sein, dass manche der Autoren, die behauptet haben, eine Nicht-Separabilität aus
Bells Argument abzuleiten, immer schon die Quantentheorie im Blick gehabt haben
und sich bei den Folgerungen aus den abstrakten Tatsachen des Bell-Arguments
davon haben leiten lassen.
Gemäß der Quantentheorie erstreckt sich der verschränkte Quantenzustand aus
Gl. (4.8) zwischen den Flügeln des Experiments (und bis ins Unendliche). Man
kann dies daran sehen kann, dass der Zustand durch Messungen sowohl an einem
als auch am anderen Flügel verändert werden kann (er kollabiert dann auf einen
der Terme in der Superposition), d. h. der Quantenzustand als ganzer kann von
jedem Punkt seiner Ausdehnung lokal beeinflusst werden. Wenn wir die Raumzeit-
Region um die linke Messung mit „A“ bezeichnen und die Raumzeit-Region um
die rechte Messung mit „B“, dann verletzt die Quantentheorie klarerweise die erste
Bedingung des Separabilitätsprinzips: Es ist nicht der Fall, dass A und B eigene, ge-
trennte Zustände haben, weil es einen Zustand gibt, nämlich den des verschränkten
Photonenpaares, der sich über beide Regionen erstreckt. (Eine Verletzung der ersten
Bedingung zieht übrigens aus logischen Gründen auch eine Verletzung der zweiten
Bedingung nach sich: Wenn die Regionen keine getrennten, unabhängigen Zustän-
de haben, kann man auch nicht davon sprechen, dass der Gesamtzustand auf den
getrennten Zuständen superveniert.) Kurz gesagt: Nicht-lokale Zustände verletzen
164 P.M. Näger und M. Stöckler

Separabilität, also stellt der nicht-lokale Quantenzustand eine Nicht-Separabilität


dar. Man kann zeigen, dass der quantenmechanische Formalismus eine kausale
Struktur wie die in Abb. 4.8c gezeigte hat. Alle kausalen Relationen sind lokal,
und es ist der nicht-lokale Quantenzustand, der die Wirkung vom einen Flügel zum
anderen vermittelt.
Manchmal wurde behauptet, dass eine Erklärung der EPR/B-Korrelationen mit-
hilfe einer solchen Nicht-Separabilität einen Bruch mit einer kausalen Erklärung
bedeutet. Unsere Überlegungen zeigen aber, dass dies nicht der Fall ist: Die nicht-
separable Variable ist wie jede andere Variable auf eine klare Weise in eine kausale
Struktur eingebettet, d. h. auf Ebene der abstrakten kausalen Struktur gibt es kei-
nen Unterschied zu üblichen Variablen. Ihre Besonderheit ergibt sich erst aus ihrer
speziellen und ungewöhnlichen raumzeitlichen Einbettung – diese ist aber kein
kausales Charakteristikum. Insofern ist eine Nicht-Separabilität kein Bruch mit
kausalen Prinzipien, sondern ein Bruch mit raumzeitlichen Annahmen, nämlich
dass Variablen oder Zustände immer lokalisiert sein müssen.
Wenn die Quantenmechanik also die korrekte Theorie unserer Welt ist, gibt
es eine Nicht-Separabilität. Für diese Erkenntnis hätte man aber nicht unbedingt
Bells Theorem gebraucht – hier hätte eine solide Interpretation des quantenmecha-
nischen Formalismus genügt. Wenn man sich rein auf Bells Argument stützt und
sich auf keine bestimmte Theorie verpflichtet, kann man hingegen nicht verlässlich
sagen, welcher Art die resultierende Nicht-Lokalität ist: Eine andere Theorie der
Mikrowelt als die Quantentheorie könnte möglicherweise die unvermeidbare Nicht-
Lokalität über nicht-lokale kausale Relationen realisieren. Dies ist z. B. in manchen
Interpretationen der De-Broglie-Bohm-Theorie der Fall (wenn man nämlich dem
nicht-separablen Quantenpotenzial keine Realität zuschreibt).

4.4.6 Holismus

Die raumzeitliche Nicht-Separabilität der Quantentheorie wird oft in einem Atem-


zug mit einem anderen Charakteristikum genannt, das als „Holismus“ bezeichnet
wird. Auch der Holismus kann nur schwer aus den Konsequenzen des Bell-
Arguments abgeleitet werden, sondern beruht ebenfalls auf einer Analyse des
quantenmechanischen Formalismus. Grob gesprochen ist Holismus die These, dass
ein Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile. Manchmal wird der Begriff „Ho-
lismus“ einfach synonym mit „Nicht-Separabilität“ verwendet. Das liegt insofern
nahe, als ein nicht-separabler Zustand eine Art raumzeitlichen Holismus induziert:
Ein nicht-lokalisierter Zustand kommt der gesamten Raumzeit-Region zu, über
die er sich erstreckt, so dass die Zustände aller Unterregionen vom Zustand der
Gesamtregion abhängen.
Öfter aber meint man mit Holismus eine verwandte, aber nicht identische These,
die sich nicht auf Raumzeit-Regionen, sondern auf physikalische Systeme bezieht.
Analog zu Separabilität kann man das Gegenteil von Holismus wie folgt definieren
(vgl. Teller 1989):
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 165

Partikularismus: Für jedes Paar verschiedener physikalischer Objekte S und T gilt:

1. Jedes hat seinen eigenen, getrennten Zustand,


und
2. der Zustand des Gesamtsystems ist durch den Zustand von S und den Zustand
von T und deren raumzeitliche Relationen festgelegt.

Diese Definition von Partikularismus ist ganz analog zu der Definition von Sepa-
rabilität, nur dass die Dinge, um die es geht, hier nicht Raumzeit-Regionen, sondern
physikalische Systeme sind. Insofern könnte man statt „Partikularismus“ auch
„System-Separabilität“ (im Unterscheid zu raumzeitlicher Separabilität) sagen. Die
beiden Begriffe unterscheiden sich insofern, als sich verschiedene Systeme nicht
in verschiedenen Raumzeit-Regionen aufhalten müssen. Partikularismus läuft dar-
auf hinaus, dass die Welt aus Individuen mit intrinsischen Eigenschaften besteht
und alle Relationen zwischen Individuen (außer den raumzeitlichen) auf diesen in-
trinsischen Eigenschaften supervenieren. Insbesondere besagt Partikularismus auch,
dass Individuen in ihren Eigenschaften nicht voneinander und (sofern sie Teile eines
Systems sind) auch nicht von ihrem Gesamtsystem abhängen.
Holismus wäre dann die Verletzung einer dieser Bedingungen, die Partikula-
rismus ausmachen, und gemäß der Quantentheorie sind sogar beide Bedingungen
verletzt. Man sieht dies am besten, wenn man sich einen der verschränkten Zustän-
de vor Augen führt, z. B. den Singulett-Zustand (4.2), den wir hier noch einmal
notieren:
1
|ψ –  = √ |↑z 1 |↓z 2 – |↓z 1 |↑z 2 . (4.27)
2
Gemäß diesem Zustand hat keines der Objekte einen eigenen, intrinsischen Spin-
Zustand. Vielmehr ist es allein der verschränkte Zustand des Gesamtsystems, der
das zu erwartende Verhalten unter Spin-Messungen beschreibt.
Man kann solche verschränkten Zustände ontologisch auf zwei verschiedene
Weisen interpretieren. Eine erste Möglichkeit ist anzunehmen, dass es die Teil-
systeme gar nicht gibt, wenn der verschränkte Zustand besteht. Ein verschränkter
Zustand wäre dann ein Ganzes ohne Teile, das die Disposition besitzt, bei einer
Messung in mehrere Systeme zu zerfallen. Diese Dispositionen werden durch den
spezifischen Aufbau aus Zustandsvektoren für Untersysteme angegeben, aber dieser
Aufbau aus Teilsystemen dürfte nach diesem Vorschlag nicht als eine Aussage über
die momentan realisierten Eigenschaften des Systems verstanden werden, sondern
müsste als Beschreibung potentieller Eigenschaften angesehen werden, die dann
manifestiert werden, wenn bestimmte Bedingungen eintreffen.
Die Standardsicht hingegen ist es, zweitens, diesen Aufbau aus Untersystemen
auch ontologisch ernst zu nehmen, also anzunehmen, dass das verschränkte System
tatsächlich Teile hat. Da diese Teilsysteme gemäß der Zustandsbeschreibung in
(4.27) keinen eigenen Spinzustand haben, impliziert dies die bemerkenswerte Si-
tuation, dass das Gesamtsystem einen wohldefinierten Zustand hat, die Teilsysteme
aber nicht. Die Einzelsysteme sind nur über den Zustand des Gesamtsystems be-
schrieben, und in diesem Sinne gibt es eine ontologische Abhängigkeit der Teile
166 P.M. Näger und M. Stöckler

vom Ganzen. Dies ist eine klare Verletzung der ersten Bedingung des Partikularis-
mus und macht die Besonderheit des Quantenholismus in der Standardinterpretation
aus (Esfeld 2004).
Des Weiteren impliziert eine Verletzung der ersten natürlich auch eine Ver-
letzung der zweiten Bedingung des Partikularismus: Wo es keine unabhängigen
Zustände der Einzelsysteme gibt, kann auch der Zustand des Gesamtsystems nicht
über ihnen supervenieren. Viele Autoren fassen den verschränkten Zustand als Re-
lation zwischen den Teilsystemen auf. Teller (1986, 1989) spricht in diesem Sinne
von einem „relationalen Holismus“, Esfeld (2004) von einer „Metaphysik der Rela-
tionen“. Andere betrachten den Zustand hingegen als intrinsische Eigenschaft des
Gesamtsystems (Healey 1991). So oder so handelt es sich klarerweise um eine nicht-
superveniente Eigenschaft. In der Quantenwelt haben Systeme auf höherer Ebene
Eigenschaften, die nicht aus ihren Teilsystemen abgeleitet werden können, d. h. ei-
ne Reduktion des Gesamtsystems auf seine Teile zu einem gegebenen Zeitpunkt
(synchrone Mikroreduktion) gelingt i. A. nicht (Hüttemann 2005).
Da Verschränkung ein allgegenwärtiges Phänomen in der Quantenwelt ist, muss
man davon ausgehen, dass unsere Welt auf fundamentaler Ebene durch und durch
holistisch strukturiert ist. Das alte, lange Zeit sehr erfolgreiche Bild der Welt als
aufgebaut aus kleinen Teilchen, die unabhängig voneinander existieren und nur
dadurch zusammenhängen, dass sie miteinander wechselwirken, ist mit hoher Wahr-
scheinlichkeit nicht richtig. In der Quantenwelt sind die Objekte zu einem Ganzen
verwoben, das sich nicht auf seine Bestandteile reduzieren lässt. Es ist wichtig
zu betonen, dass der Holismus der Quantenwelt keine Irgendwie-hängt-alles-mit-
allem-zusammen-Behauptung ist, sondern – wie gezeigt – begrifflich gut zu fassen
ist und klaren mathematischen Regeln folgt. Aus dieser neuen Sicht bleibt es ei-
ne große Frage, warum wir den Eindruck haben, dass die mesoskopischen Objekte
unserer Sinneserfahrung so relativ unabhängig voneinander existieren.

4.4.7 Nicht-Lokalität und Relativitätsprinzip

Bis hierher hatte sich alles schön ergeben. Wir konnten zeigen, dass drei von
vier Konfliktpunkten mit der Relativitätstheorie vermieden werden können, wenn
man annimmt, dass (1.) die Nicht-Lokalität keinen Materie- oder Energietransport
beinhaltet, (2.) mit ihr keine Signale schneller als Licht gesendet werden können,
weil die kausalen Parameter entsprechend feinabgestimmt sind, und (3.) die Nicht-
Lokalität durch eine symmetrische Nicht-Separabilität (statt einer asymmetrischen
Kausalrelation) realisiert ist. Außerdem wird eine solche Nicht-Separabilität durch
die Quantentheorie (in einer realistischen Interpretation wie z. B. der GRW-Theorie)
nahegelegt.
Nun müssen wir uns aber dem vierten Konfliktpunkt mit der Relativitätstheorie
zuwenden, bei dem es darum geht, dass eine Nicht-Lokalität einerseits die Tendenz
hat, das Bezugssystem auszuzeichnen, in dem sie simultan ist, andererseits das Re-
lativitätsprinzip fordert, dass alle Bezugssysteme gleichwertig sein müssen. Für die
Entstehung des Konflikts ist es gleichgültig, ob es sich um eine nicht-lokale kausale
Relation oder um eine Nicht-Separabilität handelt; er besteht für beide Arten von
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 167

Nicht-Lokalität. Der Konflikt ist die größte Herausforderung für den Vertreter ei-
ner Nicht-Lokalität. Bis heute existiert keine allgemein akzeptierte Lösung, und es
ist nicht klar, ob der Konflikt auf eine überzeugende Weise gelöst werden kann.
Wir werden sehen, dass er so tief ist, dass ernsthaft vorgeschlagen wurde, das
Relativitätsprinzip auf fundamentaler Ebene wieder aufzugeben.
Bevor wir diesen Sachverhalt näher erläutern, müssen wir zwei Dinge erwäh-
nen. Erstens besteht ein Konflikt bereits zwischen einer Nicht-Lokalität und der
speziellen Relativitätstheorie, so dass wir uns im Folgenden auf diese konzentrieren
können (und die allgemeine Relativitätstheorie beiseite lassen).32 Zweitens liegt der
Spannung zwischen Nicht-Lokalität und (speziellem) Relativitätsprinzip ein tieferer
Konflikt zugrunde: Eine Nicht-Lokalität verletzt die fundamentale Symmetrie der
speziellen Relativitätstheorie, die Lorentz-Invarianz der Gesetze. Lorentz-Invarianz
ist eine stärkere Forderung als das Relativitätsprinzip, und Lorentz-Invarianz ist
auch die eigentliche Forderung der (speziellen) Relativitätstheorie, ihr Kern. (Denn
eine Theorie ist dann voll relativistisch, wenn die Gesetze, die sie involviert,
Lorentz-invariant sind.) Nun ist Lorentz-Invarianz aber eine sehr mathematische
Forderung, und wir können auf solche technischen Fragen hier nicht eingehen.
Glücklicherweise kann die zentrale Idee des Konflikts auch mit der schwächeren
(und nur notwendigen, nicht hinreichenden) Forderung des Relativitätsprinzips ver-
anschaulicht werden. Hin und wieder, wo dies nötig ist, werden wir allerdings auf
die stärkere Forderung der Lorentz-Invarianz verweisen.
Kehren wir zurück zum Konflikt zwischen Nicht-Lokalität und Relativitätsprin-
zip. Die Tatsache, dass eine Nicht-Lokalität ein Bezugssystem auszeichnet, kann
man an Raumzeit-Diagrammen veranschaulichen. Nehmen wir zur Illustration an,
die quantenmechanische Beschreibung wäre richtig und die Nicht-Lokalität bestün-
de in einem raumzeitlich nicht-separablen Quantenzustand λ. In Abb. 4.9 bilden
wir drei (von unendlich vielen) Möglichkeiten ab , wie ein solcher nicht-separabler
Zustand in der Raumzeit liegen kann. Der Zustand ist nicht-lokal ausgedehnt, und
man sagt, dass er entlang einer raumartigen Hyperebene liegt („raumartig“, weil
alle Punkte auf der Ebene raumartig zueinander liegen, und „Hyper-“, weil es sich
um eine Ebene in einem 4-dimensionalen Raum handelt). Zu jedem nicht-lokalen
Zustand λ gibt es jeweils genau ein Bezugssystem, dessen Simultaneitätsebenen33
parallel zu λ liegen, d. h. in diesem Bezugssystem breiten sich Veränderungen
am nicht-lokalen Zustand instantan aus. Es ist dieses System, das der betreffen-
de Zustand auszeichnet. Eine solche Auszeichnung nun widerspricht einem der
beiden Axiome der Relativitätstheorie, dem Relativitätsprinzip, das besagt, dass alle

32 Während in der allgemeinen Relativitätstheorie alle Bezugssysteme als gleichwertig gelten, ist

dies in der speziellen Relativitätstheorie nur für inertiale, d. h. nicht beschleunigte, Bezugssysteme
der Fall (spezielles Relativitätsprinzip).
33 Eine Simultaneitätsebene eines Bezugssystems durch einen Punkt P ist die Menge aller

Raumzeit-Punkte, die in diesem Bezugssystem gleichzeitig mit P sind. Gleichzeitigkeit ist in


der Relativitätstheorie anders als in klassischen Theorien keine absolute, objektive Tatsache,
sondern bezugssystemabhängig. Jedes inertiale Bezugssystem ist durch Angabe einer seiner
Simultaneitätsebenen eindeutig festgelegt.
168 P.M. Näger und M. Stöckler

a b

x
(a) λ simultan im Laborsystem S

a b

t t’
x’
x
(b) λ simultan im Bezugssystem S′ (das sich relativ zu S in
x-Richtung bewegt)

a b

t”t
x
x”
(c) λ simultan im Bezugssystem S″ (das sich relativ zu S
entgegen x-Richtung bewegt)

Abb. 4.9 Verschiedene Ausrichtungen eines nicht-lokalen Zustandes


4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 169

Bezugssysteme gleichberechtigt sind. Dies bedeutet, dass man physikalische Vorgä-


nge aus allen Bezugssystemen durch die selben Gesetze beschreiben kann. Demge-
mäß darf es keine Tatsachen geben, die diese Gleichwertigkeit der Bezugssysteme
aufheben – und nicht-lokale Zustände scheinen solche Tatsachen zu sein.
Eine Lösung dieses zentralen Konfliktpunkts zwischen Quantentheorie und Re-
lativitätstheorie bestünde nun darin zu sagen, entlang welcher Hyperebene die nicht-
lokalen Quantenzustände liegen, ohne dass sie das Relativitätsprinzip verletzen.
T. Maudlin (2011) diskutiert dieses Thema ausführlich, und wir geben hier eine
kurze Zusammenfassung seines Gedankengangs. Wenn man sagte, dass alle nicht-
lokalen Zustände entlang einer Familie von parallelen Hyperebenen liegen, würde
man das entsprechende Bezugssystem auszeichnen – diese Möglichkeit scheidet al-
so aus. Ein natürlicher Vorschlag wäre, dass die Hyperebene zufällig ausgewählt
wird. Wenn jede Hyperebene bei jedem entstehenden verschränkten System die
gleiche Chance hätte, gewählt zu werden, wäre die Demokratie der Bezugssysteme
gesichert. Unglücklicherweise ist es aber so, wie Maudlin beweist, dass es kei-
ne Lorentz-invariante Möglichkeit gibt, Hyperebenen ein Wahrscheinlichkeitsmaß
zuzuweisen – auch diese Möglichkeit scheidet aus.
Es bleibt schließlich nur noch die Möglichkeit, die Hyperebene durch die
Materieverteilung festzumachen. Die spezielle Materieverteilung in einer Raumzeit-
Region ist keine gesetzartige, sondern eine kontingente Tatsache, und da sich das
Relativitätsprinzip nur auf Gesetze bezieht, wird es nicht bedroht, wenn man die
Materieverteilung dazu heranzieht, um eine Hyperebene auszuwählen. Ein Vor-
schlag wäre, die Hyperebene durch die Materieverteilung des gesamten Universums
festzulegen. Zum Beispiel könnte das Schwerpunktsystem der gesamten Materie
des Universums eine Hyperebene festlegen. Das Problem mit diesem Vorschlag
besteht darin, dass der Schwerpunkt in einer Mittelung der Massenverteilung zu
einer gegebenen Zeit besteht. Um den Schwerpunkt zu bestimmen, bräuchte man
also einen objektiven Simultaneitätsbegriff – aber genau diesen gibt es gemäß der
Relativitätstheorie nicht. Und aus demselben Grund scheitert die Festlegung eines
Bezugsystems durch jede andere Durchschnittsgröße des gesamten Universums.
Von den verschiedenen Möglichkeiten, die Maudlin diskutiert, und die alle
scheitern, wollen wir hier noch eine herausgreifen, die auf den ersten Blick natürlich
erscheint: Man könnte sich denken, dass die Hyperebene durch den Bewegungs-
zustand der Quelle des verschränkten Systems festgelegt ist: Sie entspricht der
Simultaneitätsebene im Ruhesystem der Quelle. Das Problem dieses Vorschlags
ist, dass es empirische Evidenz gibt, dass auch Photonen, die aus verschiedenen
Quellen stammen, Bellsche Ungleichungen verletzen können. Wenn sich diese
Quellen relativ zueinander bewegen, ist es aber gemäß dem aktuellen Vorschlag
völlig unklar, entlang welcher Hyperebene sich der verschränkte Photonenzustand
erstreckt. Maudlin schließt, dass es keine denkbare Möglichkeit gibt, für jedes ver-
schränkte System genau eine Hyperebene auszuwählen, ohne das Relativitätsprinzip
zu verletzen.
Wenn man Konsistenz mit der Relativitätstheorie wahren möchte, bleiben
nach Maudlin letztlich nur zwei Möglichkeiten, die aber beide einen hohen Preis
170 P.M. Näger und M. Stöckler

fordern: Hyperebenen-Abhängigkeit oder eine GRW-Theorie mit Flash-Ontologie.


Hyperebenen-Abhängigkeit ist ein Vorschlag, den G. Fleming (1986, 1989 mit Ben-
nett) ausgearbeitet hat, um eine voll Lorentz-invariante Quantentheorie zu erhalten.
Hintergrund der Ausarbeitung war die Beobachtung, dass die Quantenfeldtheorie
(vgl. Kap. 6), die oft als relativistische Verallgemeinerung der Quantenmechanik
präsentiert wird, keine Lorentz-invariante Theorie aller Mikrovorgänge ist. Die
Lorentz-Invarianz der Quantenfeldtheorie beschränkt sich auf Prozesse zwischen
Messungen, aber der Kollaps der Wellenfunktion bei Messungen, und damit
die Nicht-Lokalität der Mikro-Welt, bleibt ausgeklammert. Fleming wollte eine
Lorentz-invariante Theorie inklusive der Messvorgänge. Nach unseren Überlegun-
gen ist klar, dass es schwierig wird, ein Kriterium zu finden, entlang welcher einen
Hyperebene ein Quantenzustand liegt. Fleming geht deshalb einen anderen Weg.
Auf die Frage, entlang welcher Hyperebene ein verschränkter Quantenzustand liegt,
ist seine Antwort: entlang aller! Ein Quantenzustand wird ein Objekt, das nur rela-
tiv zu Hyperebenen (deshalb: „hyperebenen-abhängig“), definiert ist. Ein gegebenes
verschränktes Quantensystem hat dann relativ zu jeder Hyperebene einen Quan-
tenzustand. Je nachdem, entlang welcher Hyperebene man ein System betrachtet,
kommt ihm an einem gegebenen Raumzeit-Punkt ein je anderer Quantenzustand zu.
Während Flemings Theorie technisch eine saubere Lösung des Problems dar-
stellt (die Theorie ist voll Lorentz-invariant und liefert korrekte Vorhersagen), ist es
klar, dass die Theorie hochgradig kontraintuitiv ist. Aus philosophischer Perspek-
tive muss man sagen, dass die Zahl der Entitäten ins Unermessliche steigt (unendlich
viele Quantenzustände für jedes Quantensystem). Es handelt sich nicht gerade um
eine ontologisch sparsame Position. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass
die Explosion der Entitäten nicht ohne Grund geschieht: Es geht um die Lösung
eines tiefen Konflikts. Ist der Preis dieser Theorie zu hoch? Viele würden dies wohl
bejahen.
Seit einigen wenigen Jahren ist die Theorie der Hyperebenen-Abhängigkeit
nicht mehr alternativlos. Es gibt eine weitere Theorie, die alle Quantenprozesse
auf eine voll Lorentz-invariante Weise beschreibt, insbesondere also kein Bezugs-
system auszeichnet: die GRW-Theorie mit einer Flash-Ontologie (kurz: GRWf;
Tumulka 2006a, 2006b). Wir hatten diese Theorie in Abschn. 2.3.3 eingeführt und
dort auch bereits notiert, dass sie zwei entscheidende Nachteile hat: Erstens ist sie
im Moment nur für nicht-wechselwirkende Teilchen formuliert, und es ist nicht
sicher, ob es jemals eine erweiterte Version mit Wechselwirkungen geben wird.
Insofern kann man – im Gegensatz zur Hyperebenen-Abhängigkeit – bisher nur
von einem ersten Schritt zu einer Lorentz-invarianten Theorie sprechen. Zweitens
erkauft auch diese Theorie die Lorentz-Invarianz zu einem hohen ontologischen
Preis: Die vorgeschlagene Ontologie besteht darin, dass sich der Quantenzustand im
hochdimensionalen Konfigurationsraum entwickelt, und nur hin und wieder, wenn
nach der stochastischen GRW-Dynamik ein Kollaps stattfindet, manifestieren sich
Ereignisse, sogenannte Flashes, in unserer normalen 4-dimensionalen Raumzeit.
Zwischen den Flashes existiert in der Raumzeit – nichts. Normale Dinge wie Tische
und Kaninchen sind dann keine raumzeitlich kontinuierlichen Objekte, sondern in
Wahrheit nur eine Galaxie von Flashes, die allerdings so schnell hintereinander
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 171

stattfinden, dass wir meinen, kontinuierliche Objekte zu sehen. Die zeitliche Auf-
lösung unserer Wahrnehmung ist einfach zu gering. Wenn man bereit ist, diesen
ontologischen Preis zu zahlen, ist man auf einer nicht ganz aussichtslosen Spur.
Viele Autoren halten aber auch diesen Preis für zu hoch.
Wenn man die kontraintuitiven Ontologien, die aus Hyperebenen-Abhängigkeit
oder der GRW-Flash-Theorie folgen, nicht in Kauf nehmen möchte, dann bleibt
einem aus heutiger Sicht nur die Möglichkeit, die Maudlin sogar als den vielleicht
plausibelsten Ausweg beschreibt, nämlich anzunehmen, dass es tatsächlich doch ein
bevorzugtes Bezugssystem in der Struktur der Raumzeit gibt. Dies würde bedeu-
ten anzunehmen, dass es zusätzlich zur relativistischen Struktur der Raumzeit eben
noch die Struktur einer ausgezeichneten Foliation gibt, die globale Simultaneitäts-
ebenen festlegt. Dieser Vorschlag müsste übrigens nicht bedeuten, relativistische
Effekte durch einen Lorentzschen Ätherwind oder dergleichen zu erklären. Die
relativistischen Effekte könnten wie üblich erklärt werden. Es wäre lediglich der
Fall, dass die Raumzeit zusätzliche Struktur beinhalten würde, die es den Quanten-
systemen ermöglicht, mit einer nicht zu extravaganten Ontologie die empirischen
Resultate in EPR/B-Experimenten zu erzeugen, wie wir sie messen. Nachteil
dieses Vorschlags wäre, dass die elegante relativistische Symmetrie und Struktur
durch die Zusatzstruktur gebrochen würde. Außerdem ist die Annahme einer Zu-
satzstruktur eine durchaus starke Annahme. Sie hätte auch den Charakter einer
Ad-hoc-Annahme, wenn sie nicht zur Lösung weiterer Probleme beiträgt.
Letztlich bleibt festzuhalten, dass alle drei Vorschläge – Hyperebenen-Ab-
hängigkeit, GRW-Flash und bevorzugtes Bezugssystem – große Kosten bedingen.
Gegeben, dass es nicht die eindeutig plausibelste Lösung gibt, ist es wohl vertretbar,
für jede der drei Positionen zu argumentieren. Es ist jedoch auch nicht verwun-
derlich, dass keine der drei Lösungen bisher allgemein akzeptiert ist. Nur eines
ist sicher: Die Diskussion um die Vereinbarkeit zwischen Relativitätstheorie und
Quanten-Nicht-Lokalität wird weitergehen.

4.5 Alternative Lösungsvorschläge

Da keine der Lösungen für die Kompatibilität der Relativitätstheorie mit einer
Nicht-Lokalität allgemein akzeptiert ist, haben manche Autoren einen ganz anderen
Weg eingeschlagen: Sie plädieren dafür, dass statt der Lokalitätsannahme eine der
anderen Annahmen, die man zur Herleitung von Bells Theorem braucht und die wir
Hintergrundannahmen genannt hatten, verletzt ist. Hierbei wurde fast jede denk-
bare Position vertreten, was die Debatte komplex und unübersichtlich macht. Im
Folgenden wollen wir kurz anreißen, was es heißen würde, die jeweilige Annahme
aufzugeben, ob die Aufgabe eine Verletzung der Bellschen Ungleichung erklären
kann und ob die Aufgabe plausibel ist.
172 P.M. Näger und M. Stöckler

4.5.1 Kausale Markov-Bedingung

Die kausale Markov-Bedingung hatte in der Herleitung des Bellschen Theorems


eine zentrale Rolle gespielt. Zum einen war sie Übersetzungsprinzip, das kausale
Strukturen in statistische Tatsachen übersetzt, zum anderen war sie methodisches
Prinzip, das fordert, dass alle Korrelationen kausal erklärt sind.
Kann die Markov-Bedingung verletzt sein? Es gibt eine beachtliche Diskus-
sion um die Geltung des Reichenbachschen Prinzips der gemeinsamen Ursache,
in der mögliche Gegenbeispiele vorgebracht und diskutiert werden. Da das Prin-
zip, wie wir oben bereits gesagt haben, einen Spezialfall der Markov-Bedingung
darstellt, ist klar, dass Gegenbeispiele gegen das Reichenbach-Prinzip auch Argu-
mente gegen die Markov-Bedingung wären. Wir können hier nicht alle behaupteten
Gegenbeispiele gegen das Reichenbach-Prinzip diskutieren (für eine umfassende-
re Diskussion siehe z. B. Arntzenius 2010), aber der entscheidende Punkt ist, dass
eines der Gegenbeispiele gute Aussichten hat, erfolgreich zu sein (wobei auch das
umstritten ist, siehe Hausman und Woodward 1999). Es handelt sich dabei um den
Fall, dass es in indeterministischen Welten gemeinsame Ursachen geben kann, die
ihre Wirkungen nicht abschirmen (van Fraassen 1982; Cartwright 1988), also nicht
statistisch unabhängig machen.
Das Beispiel von Cartwright ist ein Molekül, das in zwei gleich große Teile
zerfällt (kleinere Moleküle oder Atome), die sich aufgrund des Impulserhaltungs-
satzes in entgegengesetzte Richtungen bewegen. In einem solchen Fall schirmt
der Zustand des Moleküls vor dem indeterministischen Zerfall die Bewegung der
Teile danach nicht statistisch ab, obwohl er die gemeinsame Ursache dafür ist
(und gemäß der Markov-Bedingung gemeinsame Ursachen ihre Wirkungen sta-
tistisch abschirmen müssen). Wenn es keine verborgenen Variablen gibt, dann
ist auch der verschränkte quantenmechanische Zustand (4.8) der Photonen an der
Quelle eine solche gemeinsame Ursache, die nicht abschirmt („interaktive gemein-
same Ursache“ im Gegensatz zu einer gewöhnlichen „konjunktiven gemeinsamen
Ursache“, siehe grauer Kasten). Mit anderen Worten, wenn die Quantenmechanik
vollständig ist, dann sind Reichenbach-Prinzip und Markov-Bedingung verletzt. In
Abb. 4.10 haben wir die lokale Struktur abgebildet, die den Quantenzustand als
nicht-abschirmende gemeinsame Ursache enthält (symbolisiert durch den Bogen
zwischen den beiden ausgehenden Pfeilen). Aber kann eine solche Struktur mit
einem nicht-abschirmenden Quantenzustand die EPR/B-Korrelationen erklären?

Gemeinsame Ursachen und Statistik

Abschirmung: Eine Variable Z schirmt zwei Variablen X und Y voneinan-


der statistisch ab, wenn letztere marginal statistisch abhängig sind (∃ X, Y:
P(X|Y) =/ P(X)), aber unabhängig gegeben Z (∀ X, Y, Z: P(X|YZ) = P(X|Z)).
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 173

Konjunktive gemeinsame Ursache: Eine gemeinsame Ursache Z von X


und Y, X ← Z → Y, ist konjunktiv, wenn das statistische Muster der Ab-
schirmung besteht. Das ist der typische Fall einer gemeinsamen Ursache, für
die die kausale Markov-Bedingung gilt.

Interaktive gemeinsame Ursache: Eine gemeinsame Ursache Z von X und Y


ist interaktiv, wenn sie ihre Wirkungen nicht abschirmt. Solche Fälle verletzen
die kausale Markov Bedingung.

Zerfallendes Molekül: Sei S der Zustand des Moleküls vor dem Zerfall, und
das Molekül zerfalle mit gleicher Wahrscheinlichkeit
1
P( p, –p|S ) = = P( p , –p |S ) (4.28)
2
entlang einer von zwei Richtungen, wobei p, –p bzw. p , –p die Zustände (hier:
Impulse) der Teile nach dem Zerfall sind. D. h. die Zustände der Teile nach
dem Zerfall sind perfekt anti-korreliert, aber der Zustand des Moleküls schirmt
die Korrelation nicht ab:
1 1 1 1
P( p, –p|S ) = =/ P( p|S ) · P( – p|S ) = · = . (4.29)
2 2 2 4
S ist also eine interaktive gemeinsame Ursache.
Verschränkter Quantenzustand: Ähnlich zum zerfallenden Molekül sind
verschränkte Quantenzustände interaktive Ursachen ihrer Messergebnisse.
Zum Beispiel zerfällt der verschränkte Zustand |φ +  aus Gl. (4.8) bei Messung
entlang gleicher Messrichtungen z mit der Wahrscheinlichkeit 12 entweder in
den Zustand |+z 1 |+z 2 oder in den Zustand |–z 1 |–z 2 . Dann gilt eine zu (4.29)
strukturell gleiche Formel (man ersetze p durch |+z 1 , –p durch |+z 2 , p durch
|–z 1 , –p durch |–z 2 und S durch |φ + ).

Abb. 4.10 Lokale Struktur mit


einer nicht-abschirmenden
gemeinsamen Ursache

a b
174 P.M. Näger und M. Stöckler

Die Antwort ist nein. Interaktive gemeinsame Ursachen allein können Bellsche
Ungleichungen nicht verletzen. Man kann zeigen, dass die Korrelationen, die eine
interaktive gemeinsame Ursache liefert, nur von der gleichen Stärke sind wie zwei
gemeinsame Ursachen, die zusammen abschirmen (Näger 2013). Da in letzteren
Situationen aber Bellsche Ungleichungen impliziert werden, reicht eine Verletzung
der kausalen Markov-Bedingung durch interaktive gemeinsame Ursachen also nicht
aus, um die EPR/B-Korrelationen zu erklären.
Die Quantenmechanik z. B. verletzt die kausale Markov-Bedingung in dem an-
gegebenen Sinne und verletzt außerdem noch die Lokalitätsannahme. Wir hatten
gesehen, dass die quantenmechanische Struktur die in Abb. 4.8c gezeigte ist (und
also nicht die in Abb. 4.10). Gemäß der Quantenmechanik schirmt der nicht-lokale
Quantenzustand λ vor dem Kollaps die Korrelationen nicht ab, und korrekterweise
sollte man dies im Diagramm auch kennzeichnen (z. B. durch einen Bogen, analog
zu dem in Abb. 4.10 gezeigten). Entscheidend dafür, dass die quantenmechanische
Struktur eine Bellsche Ungleichung verletzen kann, ist aber, dass die gemeinsame
Ursache λ von den Messeinstellungen beeinflusst wird, so dass es einen kausa-
len Pfad von mindestens einer der Messeinstellungen zum entfernten Messergebnis
gibt. Das ist für die Struktur in Abb. 4.10 nicht gegeben, und die Tatsache, dass die
gemeinsame Ursache nicht abschirmt, reicht dann für eine Verletzung nicht aus.
Wir sollten betonen, dass eine solche Verletzung der kausalen Markov-
Bedingung keinen Bruch mit dem impliziten methodischen Prinzip bedeuten muss,
dass alle Korrelationen verursacht sein müssen. Vielmehr kann man eine ver-
allgemeinerte Markov-Bedingung formulieren, die solchen interaktiven gemein-
samen Ursachen Rechnung trägt und das methodische Prinzip aufrecht erhält
Näger (im Erscheinen b). Insofern ist die hier diskutierte Verletzung der kausa-
len Markov-Bedingung nur eine Art schwache Verletzung. Sie bricht nicht mit dem
Grundgedanken des Prinzips.
Es sind aber auch stärkere Verletzungen denkbar, die darauf hinauslaufen, die
EPR/B-Korrelationen als kausal unerklärte Korrelationen zu akzeptieren. Während
Butterfield (1989) dies für eine mysteriöse aber unausweichliche Tatsache hält, ar-
gumentiert Fine (1989), dass unser Erklärungsideal, alle Korrelationen kausal zu
erklären, überholt sei. Man könne auch kausal unerklärte, basale Korrelationen ak-
zeptieren, und die EPR/B-Korrelationen seien ein guter Kandidat dafür. Vor dem
Hintergrund, dass die Erklärungsbedürftigkeit von Korrelationen zentrale metho-
dische Grundannahme aller empirischen Wissenschaften ist, wäre die Akzeptanz
kausal unerklärter Korrelationen eine ziemlich radikale Konsequenz. (Im Spiel der
Personen würde dies bedeuten, dass sich Korrelationen ergeben, die stärker sind als
man durch vorherige Absprache erreichen kann, aber dass man annimmt, das sei
nicht erklärungsbedürftig.) Es spricht daher vieles dafür, eine solche Schlussfolge-
rung nur als letzten Ausweg zu sehen, wenn alle anderen Lösungsvorschläge sich
als nicht tragbar erweisen.

4.5.2 Interventionsannahme

In den bisher betrachteten kausalen Strukturen hatten die Messeinstellungen und


der Quantenzustand immer nur ausgehende Pfeile, niemals eingehende, d. h. sie
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 175

waren nur Ursachen, nie Wirkungen der anderen Variablen. Solche Variablen hei-
ßen „exogen“. Die Begründung für die Exogenität dieser Variablen ist, dass ihre
Werte durch externe Interventionen des Experimentators unabhängig voneinander
festgelegt werden. „Intervention“ ist hier ein Fachbegriff und heißt, dass es sich um
einen Eingriff handelt, der (i) eine direkte Ursache genau einer Variablen ist (und
keiner anderen), der (ii) den Wert dieser Variablen determiniert und der (iii) selbst
keine Wirkung einer der betrachteten Variablen ist (Spirtes et al. 1993, Abschn.
3.7.2; Pearl 2000, Abschn. 3.2).
Wenn die Eingriffe des Experimentators, der den Quantenzustand präpariert und
die Messeinstellungen festlegt, Interventionen sind, dann heißt das wegen (ii), dass
die Messeinstellungen und der Quantenzustand nicht direkte Wirkungen einer ande-
ren Variable sein können. Denn wenn der Experimentator z. B. die Messrichtung
festlegt, kann die Messrichtung nicht direkt durch andere Variablen des Experi-
ments beeinflusst werden; Festlegung verhindert direkte Beeinflussung durch andere
Faktoren. Die vom Experimentator kontrollierten Variablen könnten dann allen-
falls indirekt beeinflusst werden, nämlich indem eine Variable des Experiments die
Intervention des Experimentators beeinflusst – aber das ist durch (iii) ausgeschlos-
sen. Also müssen die kontrollierten Variablen exogen sein, wenn es sich bei den
Eingriffen des Experimentators um Interventionen handelt.
Aber handelt es sich wirklich um Interventionen? Folgendes Prinzip formuliert
die übliche Auffassung:

Interventionsannahme: Der Experimentator (oder eine Maschine, die durch den


Experimentator aufgebaut wird) kann eine Einstellung eines makroskopischen
Apparats durch eine Intervention kontrollieren.

Diese Annahme ist Teil der alltäglichen wissenschaftlichen Methodik kontrollierter


Experimente. Wenn ein Experimentator einen Versuch durchführt und bestimmte
Variablen an Messgeräten dabei unter Kontrolle hat, dann nimmt er diese natürli-
cherweise als exogen an. Es gibt auch keinen besonderen Grund anzunehmen, dass
dieses Prinzip bei Quantenexperimenten verletzt sein sollte: Die Messgeräte, die der
Experimentator kontrolliert, sind ganz normale makroskopische Geräte.34
Nichtsdestotrotz wurde durchaus ernsthaft die Möglichkeit in Betracht gezo-
gen, dass dieses Prinzip in EPR/B-Experimenten verletzt sei. Der Grund ist, dass
die Aufgabe des Prinzips die einzige Möglichkeit zu sein scheint, eine kausale Er-
klärung zu geben, die in raumzeitlicher Hinsicht auf unzweifelhafte Weise mit der
Relativitätstheorie in Einklang zu bringen ist: Es ist die einzige Möglichkeit, eine
lokale, zeitlich vorwärtsgerichtete kausale Erklärung der Korrelationen zu liefern.
Auf probabilistischer Ebene verletzen solche Modelle die Messunabhängigkeitsan-
nahme.

34 Man beachte, dass auch die Präparation des Quantenzustandes durch eine experimentelle
Apparatur kontrolliert wird, die, wenn sie korrekt aufgebaut ist, durch eine entsprechende
makroskopische Vorrichtung (z. B. einen Knopf oder Hebel) gestartet werden kann – und damit
in den Geltungsbereich der Interventionsannahme fällt.
176 P.M. Näger und M. Stöckler

Abb. 4.11 Verborgene


gemeinsame Ursache μ der
Messeinstellungen a und b und
des verborgenen
Quantenzustandes λ (Verletzung a b
der Interventionsannahme)

Das grundlegende Modell ist das in Abb. 4.11 gezeigte (vgl. z. B. Suppes und
Zanotti 1981). Hierbei gibt es eine weitere verborgene Variable μ, die gemeinsame
Ursache der verborgenen Variable des Quantenzustandes λ und der Messeinstel-
lungen ist; indirekt (über λ) ist sie auch gemeinsame Ursache der Messergebnisse.
(Im Spiel der Personen würde dies bedeuten, dass z. B. der Versuchsleiter sowohl
den Versuchspersonen eine Strategie mitteilt als auch den Fragestellern die Fragen
vorgibt. Es ist klar, dass man durch eine geschickte Abstimmung von Strategie
und Fragen stärkere Korrelationen erzeugen kann, als wenn Fragen und Strategie
unabhängig voneinander gewählt werden.) Damit der Einfluss von μ auf die
Messeinstellungen lokal ist, muss μ in der gemeinsamen Vergangenheit der Mess-
einstellungen liegen, also zeitlich vor der Emission der Photonen an der Quelle. μ
kann dann keine Eigenschaft der Photonen sein, denn diese existieren zu diesem
Zeitpunkt noch nicht, sondern müsste wohl als verborgene Eigenschaft der Quelle
aufgefasst werden (oder gar als Eigenschaft eines anderen Objekts, falls die Quelle
zu diesem Zeitpunkt noch nicht existiert; im Extremfall ist μ eine Eigenschaft des
Urknalls). Es scheint seltsam anzunehmen, dass von der Quelle vor der Emission
(möglicherweise sogar vor der Präparation der Photonen) ein kausaler Prozess aus-
geht, der die entfernten Messeinstellungen beeinflussen wird, aber wir wollen diesen
Aspekt hier nicht weiter diskutieren. Entscheidender scheint die Frage zu sein, was
es heißen soll, dass μ die Messeinstellungen beeinflusst, gegeben dass der Experi-
mentator die Einstellung festlegt. Es kann nur heißen, dass der Experimentator von
den verborgenen Variablen beeinflusst wird, eine bestimmte Einstellung zu wäh-
len. In der stärksten Version dieses Modells, in dem die verborgene Variable die
Messeinstellungen determiniert („Superdeterminismus“), würden die Experimen-
tatoren keine (libertär) freien Entscheidungen treffen können, welche Einstellung
sie wählen.
Die meisten Autoren bewerten diese Lösung des Problems als überaus un-
plausibel. Zum einen ist es ad hoc und unwahrscheinlich, dass die Handlungen
von Experimentatoren durch verborgene Zustände beispielsweise einer Quelle von
Quantenobjekten wesentlich beeinflusst oder gar festgelegt werden. Der Vorschlag
klingt eher nach einer skurrilen Phantasiewelt denn nach einer seriösen, wissen-
schaftlich fundierten Erklärung. Tatsächlich wurde bemerkt, dass dieser Ansatz
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 177

einer „kosmischen Verschwörung“ gleichkäme. Denn es wären ja nicht nur die


Wissenschaftler, die durch die Quantenzustände beeinflusst werden würden. Alles,
was auch immer die Messeinstellungen festlegt, in modernen Experimenten z. B.
ein optischer Schalter, der an einen Zufallsmechanismus gekoppelt ist, müsste vom
verborgenen Zustand entsprechend beeinflusst werden. Ein solcher Einfluss, der
auf jeweils das wirkt, was gerade die Messeinstellung festlegt, scheint hochgradig
unplausibel zu sein.
Schließlich sollten wir auch noch bemerken, dass eine Wissenschaft, wie wir sie
kennen und offenbar erfolgreich praktiziert haben, für solche Quantensysteme dann
nicht mehr möglich wäre: Es ist eines der Grundprinzipien der wissenschaftlichen
Methodik, dass die Frage, was gemessen wird, unabhängig davon entschieden bzw.
variiert werden kann, welchen Zustand das zu messende System hat. Wenn aber
das System die Fragen diktiert, die an es gestellt werden können, ist es unmöglich,
das System in einem tieferen Sinne zu erforschen. Große Teile seiner Eigenschaften
könnten dann unentdeckt bleiben, und normale kausale Schlüsse wären für solche
Systeme nicht mehr möglich.

4.5.3 Rückwärtsverursachung

Schließlich hatten wir bei der Ableitung von Bells Theorem noch eine weitere
implizite Annahme getroffen, nämlich dass kausale Relationen zwischen zeitartig
gelegenen Ereignissen immer vorwärts in der Zeit gerichtet sind („keine Rückwärts-
verursachung“). Nur mit dem Ausschluss von Rückwärtsverursachung und der
Lokalitätsannahme können wir sicher sein, dass keine der Variablen des einen Flü-
gels des Experiments eine Variable des anderen Flügels beeinflusst. Denn wenn
solche Einflüsse möglich wären, könnte man z. B. einen Einfluss von b auf α ha-
ben, der durch eine Variable μ in ihrer gemeinsamen Vergangenheit vermittelt
wird (siehe Abb. 4.12). Zur Ableitung von Bells Theorem mussten wir deshalb
annehmen:

Abb. 4.12 Kausale Verbindung


zwischen den Flügeln durch
Rückwärtsverursachung

a b
178 P.M. Näger und M. Stöckler

Keine Rückwärtsverursachung: Wirkungen können nicht früher als ihre (zeitartig


gelegenen) Ursachen geschehen.

Wenn man erlaubt, dass es Rückwärtsverursachung gibt, kann man die gleichen
kausalen Strukturen generieren, wie wenn man die Lokalitätsannahme aufgibt, nur
dass die kausalen Pfade dann eine andere raumzeitliche Einbettung haben. Mit ande-
ren Worten: Jeder der oben beschriebenen nicht-lokalen kausalen Graphen kann
auch dadurch realisiert sein, dass jede der enthaltenen nicht-lokalen kausalen Rela-
tionen durch eine Wirkung zuerst rückwärts und dann vorwärts in der Zeit ersetzt
wird. Aus diesem Grund wurden solche Vorschläge auch „Zickzack-Kausalität“
genannt.
Im Prinzip kann man also jeden Einfluss zwischen den Flügeln über Rückwärts-
verursachung realisieren, aber natürlich sind nicht alle gleichermaßen plausibel. Die
Struktur in Abb. 4.13 gehört zu den typischen Vorschlägen, um die Korrelationen
durch Rückwärtsverursachung zu erklären. Hier beeinflusst die Messeinstellung die
verborgene Variable λ der Photonen an der Quelle. Damit es sich um Rückwärts-
verursachung handelt (und nicht um eine nicht-lokale Wirkung) kann der Einfluss
erst in dem Moment stattfinden, in dem das Photon das Messgerät erreicht. Price
(1994) hat ein solches Modell vorgeschlagen und entwickelt diesen Ansatz auch
in jüngster Zeit weiter (z. B. Price 2012). Cramer (1980, 1986) hat sogar eine de-
taillierte mathematische Beschreibung einer solchen Theorie entwickelt, gemäß der
das Messgerät bei Ankunft der quantenmechanischen Wellenfunktion eine Bestä-
tigungswelle zurück zur Quelle der eingetroffenen Welle sendet. Auf diese Weise
wird garantiert, dass die Quelle Objekte in einem solchen Zustand aussendet, dass
diese bei Messung die entsprechenden Korrelationen erzeugen. Im Spiel der beiden
Personen (siehe Abschn. 4.3.3) würde dies bedeuten, dass die Personen die Fra-
ge schon erfahren, solange sie noch im gemeinsamen Raum sind, so dass sie
ihre Strategie entsprechend darauf abstimmen können. Unter diesen Umständen
ist es natürlich ein Leichtes, die Korrelationen zu erzeugen. Modelle mit Rück-
wärtsverursachung können die EPR/B-Korrelationen erzeugen. Aber sind sie auch
überzeugend?
Ein großer Vorteil von Modellen mit Rückwärtsverursachung besteht darin,
dass sie nicht mit der Relativitätstheorie in Widerspruch geraten. Die Relativi-
tätstheorie scheint in einem gewissen Konflikt mit nicht-lokalen Relationen zu
stehen, aber nicht zu Wirkungen rückwärts in der Zeit. Unabhängig von ihrer Kom-
patibilität mit der Relativitätstheorie sind Wirkungen rückwärts in der Zeit aber
stark kritisiert worden. Manche Autoren behaupten, dass Kausalität rückwärts in
der Zeit eine begriffliche Unmöglichkeit ist (d. h. ein Widerspruch in sich). Da-
zu gehören zum einen Vertreter einer dynamischen Theorie der Zeit, gemäß denen
der Zustand der Welt jetzt den nächstfolgenden zukünftigen Zustand hervorbringt.
Solche Konzeptionen von Zeit sind inkompatibel mit Rückwärtsverursachung, weil
die Vergangenheit schon nicht mehr existiert, also nicht mehr beeinflusst werden
kann. Nur vor dem Hintergrund einer statischen Theorie der Zeit ist so etwas wie
Rückwärtsverursachung überhaupt denkbar. Kausale Erklärungen sind dann keine
metaphysischen Erklärungen, wie die Korrelationen in der Welt zustande kommen,
sondern epistemische Geschichten.
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 179

Aber selbst gegeben eine statische Theorie der Zeit, gibt es ernsthafte Ein-
wände gegen Rückwärtsverursachung. Beispielsweise müssen auch Vertreter einer
kausalen Theorie der Zeit – die annehmen, dass die Richtung der Zeit durch die
Richtung der Kausalität festgelegt ist – Rückwärtskausalität für eine begriffliche
Unmöglichkeit halten. Andere gestehen eine begriffliche Möglichkeit zu, behaupten
aber, dass Rückwärtskausalität in paradoxe kausale Schleifen (A bei t1 verursacht B
bei t2 verursacht Nicht-A bei t1 ) führt und deshalb nicht realisiert sein kann (Mellor
1981). T. Maudlin (2011, Kap. 7) z. B. argumentiert, dass Cramers Modell für die
EPR/B-Korrelationen in letzterem Sinne inkonsistent ist.
All diese Argumente schließen Erklärungen durch Rückwärtsverursachung un-
ter gewissen Umständen aber nicht aus. Wenn es Beschränkungen gibt, was was
beeinflussen kann, dann könnte es durchaus konsistente Theorien mit Rückwärts-
verursachung geben. Der entscheidende Punkt ist aber, dass wir keinerlei Hinweise
dafür haben, dass Rückwärtsverursachung vorliegen könnte. Zum einen liefern die
experimentellen Daten keinerlei Evidenz für Rückwärtsverursachung. Bei normaler
Verursachung gibt es i. d. R. Asymmetrien in der Statistik, die eine Richtung an-
geben, und Rückwärtsverursachung sollte dieselben Asymmetrien produzieren, nur
eben entgegengesetzt der gewöhnlichen Richtung. Doch weder in der Statistik von
EPR/B-Experimenten noch in irgendeiner anderen Statistik sind solche umgekehr-
ten Asymmetrien beobachtet worden. Ein Vertreter von Rückwärtsverursachung im
EPR/B-Fall könnte antworten, dass der Grund darin liegt, dass die behauptete Rück-
wärtsverursachung über die verborgene Variable λ läuft und deshalb auch nicht
die üblichen Spuren in der Statistik hinterlässt. Wie gesagt: möglich, aber nicht
besonders überzeugend.
Noch schwerwiegender für die meisten Autoren ist schließlich die Tatsache, dass
es auch keine theoretischen Hinweise auf Rückwärtsverursachung gibt. Alle be-
kannten Theorien, die die gemessenen Wahrscheinlichkeiten als objektiv betrachten,
also insbesondere die GRW-Theorie (siehe Abschn. 4.2) und die De-Broglie-Bohm-
Theorie, enthalten eine Nicht-Lokalität. So bleibt hauptsächlich der Eindruck
zurück, dass Rückwärtsverursachung als Antwort auf die Verletzung der Bellschen
Ungleichung sehr wahrscheinlich als eine Ad-hoc-Lösung einzustufen ist.

Abb. 4.13 Typische Struktur


mit Rückwärtsverursachung

a b
180 P.M. Näger und M. Stöckler

4.5.4 Fazit zu den alternativen Lösungsvorschlägen

Die in diesem Abschnitt diskutierten Alternativen zur Aufgabe der Lokalitätsbe-


dingung sind Vorschläge, die vor allem aus der Verzweiflung über die Probleme
entstanden sind, die eine Vereinbarkeit zwischen Relativitätstheorie und Nicht-
Lokalität bereitet. Die existierenden Vereinbarkeitsvorschläge können jedenfalls
nicht auf den ersten Blick überzeugen. Allerdings scheint – anders als nach dem
Diskussionsstand vor etwa 30 Jahren – eine Vereinbarkeit von Nicht-Lokalität und
Relativitätstheorie nicht mehr unmöglich. Die aktuelle Verzweiflung ist also nicht
mehr ganz so groß, und es ist fraglich, ob vor diesem Hintergrund die alternativen
Lösungen noch genug Überzeugungskraft besitzen.

4.6 Resümee

Dieses Kapitel ist eine Geschichte faszinierender Einsichten, großer Überraschun-


gen und enttäuschter Hoffnungen. Albert Einstein und seine Mitarbeiter wollten
zeigen, dass die Quantenmechanik unvollständig ist. Dieses Ziel haben sie nicht
erreicht, aber ihre bahnbrechende Arbeit hat – unbeabsichtigt – ein neues Pro-
blem sichtbar gemacht, das Einsteins Intuitionen noch mehr zuwider läuft als
die Anerkennung der Vollständigkeit der Quantenmechanik: Die Quantenwelt ist
nicht-lokal.
Es war J. S. Bell, der aus EPRs Arbeit die richtigen Folgerungen zog und mit
seiner Ungleichung einen neuen Ansatz entwickelte, der die Nicht-Lokalität in
den besonderen EPR/B Korrelationen explizit machte. Der empirische Nachweis
dieser Korrelationen wird auch gegenwärtig noch an einem experimentellen Aufbau
geführt, der im Wesentlichen dem EPR-Gedankenexperiment gleicht. Diese Expe-
rimente haben bestätigt, dass die Vorhersagen der Quantenmechanik korrekt sind.
Messungen an den Komponenten eines Systems, das durch einen verschränkten Zu-
stand beschrieben wird, zeigen starke Korrelationen, die auch dann beobachtbar
sind, wenn die Messgeräte sehr weit voneinander entfernt aufgebaut werden.
Die Ergebnisse von J. S. Bell haben auch Hoffnungen zerstört, die auf der
Idee beruhten, der quantenmechanische Zustand sei unvollständig und müsse prä-
ziser charakterisiert werden: Selbst Theorien mit verborgenen Variablen können
die Korrelationen nicht erklären, wenn sie nicht nicht-lokal sind. Die Allgemein-
heit des Beweises von Bell schließt aus, dass man neue Lösungen durch technische
Verfeinerungen des quantenmechanischen Formalismus finden kann.
Haben wir eine Erklärung für die empirischen Phänomene verschränkter Sys-
teme? Einerseits erklärt die Quantenmechanik die auftretenden Korrelationen in
dem Sinn, dass man sie korrekt aus dem Formalismus ableiten kann. Andererseits
schreibt Günther Ludwig zur Frage, wie die Korrelationen zustande kommen: „The
answer, being disappointing perhaps, is that quantum mechanics can say nothing
about it“ (Ludwig 1971, S. 312), und meint offensichtlich, dass die Quantenme-
chanik keinen Mechanismus (etwa im Sinn von Machamer et al. 2000) angibt, der
4 Verschränkung und Nicht-Lokalität: EPR, Bell und die Folgen 181

das Auftreten der Korrelationen erklären und so zu einem anschaulichen Verständ-


nis führen könnte. Das beste, was man in dieser Richtung tun kann, ist eine kausale
Struktur anzugeben, die den verschränkten Quantenzustand in Beziehung zu den
Messeinstellungen und den Messergebnissen setzt; aber der verschränkte Quanten-
zustand selbst kann nicht weiter in interagierende Teile zerlegt werden. Zudem kann
man sich keine einfache und intuitive raumzeitliche Beschreibung eines solchen
Mechanismus vorstellen, die problemlos mit der Relativitätstheorie vereinbar wäre.
Hier scheinen gleich zwei Hoffnungen enttäuscht zu werden: die Vorstellung, in der
Mikrowelt eine durchgehende raumzeitliche Analyse von Prozessen durchführen zu
können, sowie die Erwartung, dass vertraute mechanistische Erklärungsideale auch
in der fundamentalen Physik immer realisierbar sind. Der besondere Wert dieser
Einsichten ist vergleichbar mit dem Nutzen, den man hat, wenn man Illusionen auf-
geben muss: Danach kann man sich weniger voreingenommen den verbleibenden
Problemen stellen.
Der Bellsche Beweis zeigt, dass aus einer Menge von plausiblen und in der
klassischen Physik bewährten methodologischen und metaphysischen Annahmen
mindestens eine aufgegeben werden muss. Während die Diskussion in den über
vier Jahrzehnten nach Bells Entdeckung immer tiefere Einsichten in die Vorausset-
zungen, Reichweite und Konsequenzen des Beweises erlangt hat, hat sie noch nicht
zu einem allgemein akzeptierten und leicht einsehbaren Ergebnis geführt, insbeson-
dere nicht bezüglich der Frage, wie die Nicht-Lokalität der Quantenmechanik mit
einer relativistischen Raumzeit vereinbar ist. Dies bleibt die zentrale Frage in der
Diskussion um verschränkte Zustände.

Übungsaufgaben zu Kap. 4

1. In der EPR-Arbeit ist eine Annahme von zentraler Bedeutung, die wir „Loka-
litätsannahme“ genannt haben: „Da . . . die beiden Systeme zum Zeitpunkt der
Messung nicht mehr miteinander in Wechselwirkung stehen, kann nicht wirk-
lich eine Änderung in dem zweiten System als Folge von irgendetwas auftreten,
das dem ersten System zugefügt werden mag.“ Wie verhält sich diese Annahme
zu den verschiedenen Begriffsdifferenzierungen, die in Abschn. 4.4.5 einge-
führt worden sind: Ist damit auch globale und kausale Einstein-Lokalität sowie
raumzeitliche Separabilität gefordert?
2. Angenommen für ein EPR/B-Experiment gelte eine lokale kausale Struktur mit
verborgenen Variablen λ (siehe Abb. 4.5). Überlegen Sie sich, warum dann aus
der Tatsache perfekter Korrelationen folgt, dass die Messungen deterministisch
ablaufen müssen.
3. Nennen Sie die minimale Menge von Annahmen, die man benötigt, um eine
Bellsche Ungleichung herzuleiten und skizzieren Sie, was diese besagen.
4. Wenden Sie die kausale Markov-Bedingung auf die lokale kausale Struktur in
Abb. 4.5 an und notieren Sie die resultierenden statistischen Unabhängigkeiten.
5. Umreißen Sie die vier Konfliktfelder einer Nicht-Lokalität mit der Relativitäts-
theorie.
182 P.M. Näger und M. Stöckler

6. Diskutieren Sie verschiedene Möglichkeiten einer Nicht-Lokalität, die im Ein-


klang mit dem Relativitätsprinzip stehen. Berücksichtigen Sie dabei physika-
lische und ontologische Konsequenzen.

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Nicht-Kollaps-Interpretationen der
Quantentheorie 5
Oliver Passon

Inhaltsverzeichnis
5.1 Die de Broglie-Bohm-Theorie .......................................................................... 188
5.2 Die Everett-Interpretation ................................................................................ 207
5.3 Zusammenhang zwischen den verschiedenen Interpretationen ................................. 225
Übungsaufgaben zu Kap. 5 ...................................................................................... 227
Literatur zu Kap. 5 ................................................................................................. 227

In Abschn. 2.3.1 wurde das Messproblem in der Form eines Trilemmas formuliert.
Demnach ist entweder (i) die Wellenfunktion keine vollständige Beschreibung, (ii)
die Zeitentwicklung nicht durchgängig unitär oder führen (iii) Messungen nicht zu
definiten Ergebnissen. Die in Abschn. 2.3.1 dargestellte GRW-Theorie wählt (ii) –
ergänzt die Schrödinger-Gleichung also um einen nichtlinearen Term, der einen
physikalischen Mechanismus für den „ tatsächlichen“ Kollaps der Wellenfunktion
modelliert. Auch die Kopenhagener Deutung leugnet die durchgängige Zeitent-
wicklung gemäß der Schrödinger-Gleichung; im Gegensatz zur GRW-Theorie wird
diesem Vorgang jedoch keine realistische Deutung gegeben.
In diesem Kapitel behandeln wir die prominentesten Vertreter der Strategien,
entweder die Vollständigkeit der Wellenfunktion zu leugnen (de Broglie-Bohm-
Theorie) oder die Eindeutigkeit der Messergebnisse in Frage zu stellen (Everett
bzw. Viele-Welten-Interpretation). In diesen Theorien unterliegt der Zustandsvektor
also durchgängig einer unitären Zeitentwicklung. Gemeinsam ist ihnen somit der
Verzicht auf den Kollaps der Wellenfunktion; lediglich der Anschein dieser nicht-
unitären Zustandsänderung muss von ihnen begründet werden. In der englischspra-
chigen Literatur hat sich deshalb die Bezeichnung no-collapse interpretations als
Oberbegriff für diese Deutungen eingebürgert.

O. Passon ()
Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften, Bergische Universität Wuppertal,
Wuppertal, Deutschland
e-mail: passon@uni-wuppertal.de
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 187
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_5
188 O. Passon

5.1 Die de Broglie-Bohm-Theorie

Innerhalb der Deutungsdebatte um die Quantentheorie – vor allem angesichts des


Messproblems – stellt sich unmittelbar die Frage danach, ob die Quantenmecha-
nik in der bisherigen Form einfach nur unvollständig sei. Ihre statistische Deutung
legt die Vermutung nahe, dass ihr eine zusätzliche Struktur zu Grunde läge, mit
deren Aufklärung die Interpretation der Theorie eine vollkommen andere Richtung
nähme. Da diese zusätzliche Struktur in der herkömmlichen Quantenmechanik un-
bekannt ist, wurde dieses Forschungsprogramm ursprünglich als die Suche nach „
verborgenen Variablen“ bezeichnet.
Im Jahre 1952 veröffentlichte David Bohm die Arbeit A Suggested Interpre-
tation of the Quantum Theory in Terms of „Hidden“ Variables (Bohm 1952).
Ihm war zu diesem Zeitpunkt unbekannt, dass Louis de Broglie bereits auf der 5.
Solvay-Konferenz 1927 eine mathematisch äquivalente Formulierung dieser Theo-
rie vorgestellt hatte (de Broglie 1927). Aus diesem Grunde beziehen wir uns auf
diese Interpretation als „ de Broglie-Bohm-Theorie“ (DBB-Theorie).1 De Broglie
selbst bezeichnete sie im übrigen als Theorie der Führungswelle (l’onde pilo-
te bzw. engl. pilot wave theory). Der Konferenzband der 5. Solvay-Konferenz
ist erst seit 2009 in englischer Sprache zugänglich (Bacciagaluppi und Valentini
2009). Antony Valentini und Guido Bacciagaluppi haben nicht nur die Überset-
zung besorgt, sondern diskutieren in ihrem kenntnisreichen Kommentar ebenfalls
die Rolle dieser Konferenz für die Deutung der Quantentheorie im Allgemei-
nen. Ihrer Analyse zu Folge ist es irreführend, die Bedeutung der 5. Solvay-
Konferenz auf die (fraglos wichtigen) Debatten zwischen Bohr und Einstein zu
reduzieren. Bacciagaluppi und Valentini plädieren für eine Neubewertung der Rol-
le de Broglies innerhalb der frühen Deutungsdebatte und formulieren in diesem
Zusammenhang:

Today, pilot-wave theory is often characterised as simply adding particle trajectories to the
Schrödinger equation. An understanding of de Broglie’s thought from 1923 to 1927, and of
the role it played in Schrödinger’s work, shows the gross inaccuracy of this characterisation:
after all, it was actually Schrödinger who removed the trajectories from de Broglie’s theory.
(Bacciagaluppi und Valentini 2009, S. 78)

Eine Debatte um die Priorität bei der Entwicklung der Wellenmechanik kann und
soll an dieser Stelle jedoch nicht geführt werden. Wir zitieren diese provokante
Passage vor allem deshalb, weil sie die Grundidee der de Broglie-Bohm-Theorie
auf so simple und klare Weise ausdrückt. Es handelt sich um eine Theorie, die
die Unvollständigkeit der üblichen Quantenmechanik behauptet und zur Wellen-
funktion Teilchen im wörtlichen Sinne hinzufügt. Wie oben bereits angedeutet, hat
sich die Bezeichnung „verborgene Variablen“ für diese zusätzlichen Bestimmungs-
größen eingebürgert. Diese Bezeichnung ist allerdings irreführend, da auch ihre

1 Bohms Unkenntnis wird verständlich, wenn man weiß, dass de Broglie selbst seine Theorie nicht
weiter entwickelte und vielmehr Anhänger der „konventionellen“ Quantentheorie wurde. Erst unter
dem Eindruck der Veröffentlichung von 1952 belebte sich sein Interesse an diesen Fragen erneut.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 189

größten Kritiker nicht leugnen können, dass gerade Teilchen und ihre Orte direkt
beobachtbar (also in diesem Sinne gar nicht verborgen) sind. Stattdessen entzieht
sich ja gerade die Wellenfunktion einer direkten Beobachtung.2
Aus Gründen, die im Folgenden natürlich genauer erläutert werden müssen,
gelingt es auf diese Weise der de Broglie-Bohm-Theorie, den Messvorgang als
gewöhnliche Wechselwirkung zu beschreiben, die zu einem eindeutig definierten
Endzustand führt. Gleichzeitig handelt es sich um eine (im technischen Sinne)
deterministische Theorie – während gleichzeitig alle Vorhersagen der Quanten-
theorie reproduziert werden können. Allerdings macht diese Theorie keine von der
Quantentheorie abweichenden Vorhersagen, sodass experimentell zwischen diesen
beiden nicht unterschieden werden kann.3
In der Formulierung von 1952 handelt es sich um eine Erweiterung der nicht-
relativistischen Quantentheorie. Auf die Frage der relativistischen Verallgemei-
nerung werden wir in Abschn. 5.1.7 zu sprechen kommen. Die folgende Darstellung
der Theorie verwendet an verschiedenen Stellen den Vergleich mit der „Standard-
Interpretation“ oder „ üblichen Lehrbuchdarstellungen“ der Quantenmechanik.
Diese Begriffe sind natürlich nicht streng definiert, und der Leser kann hier an die
Kopenhagener Deutung oder eine Lehrbuchdarstellung denken, die die in diesem
Buch behandelten Probleme vernachlässigt.

5.1.1 Mathematische Beschreibung

Die de Broglie-Bohm-Theorie ist eine Vervollständigung der Quantentheorie. Zu


den Beziehungen, die die Theorie mathematisch definieren, gehört also zunächst
die übliche Schrödinger-Gleichung:
 2
∂ψ 
i =– ∇ 2 ψ + V(r)ψ. (5.1)
∂t 2m

Hier bezeichnet V das Potenzial, das das betreffende System charakterisiert (siehe
auch Gl. (1.39) in Abschn. 1.2.4; dort wird die Schrödinger-Gleichung allerdings
nur in einer Raumdimension eingeführt). Dabei wählen wir nicht zufällig die
Darstellung im Ortsraum, denn dieser ist, wie wir sehen werden, innerhalb der
de Broglie-Bohm-Theorie tatsächlich ausgezeichnet. In der Standard-Interpretation
stellt ψ jedoch die vollständige Beschreibung des Systems dar, und aus dem
Betragsquadrat |ψ|2 kann die Wahrscheinlichkeit dafür berechnet werden, ein Teil-
chen im Falle einer Messung in einem bestimmten Raumbereich anzutreffen. Von

2 Wir werden sehen, dass die Unkenntnis (und Kontrolle) über die exakten Anfangsbedingungen
eine wichtige Rolle in der DBB-Theorie spielt. Dieser Aspekt der zusätzlichen Variablen kann
tatsächlich als „verborgen“ aufgefasst werden. Zudem bedeutet der Begriff „verborgene Variablen“
wohl auch, dass sie in der Standard-Interpretation nicht auftreten.
3 Diese Aussage gilt unter der sog. Quantengleichgewichtshypothese (siehe 5.1.2) streng. Ohne

diese Annahme können sich unterschiedliche Vorhersagen ergeben (vgl. Cushing 1995; Valentini
2004).
190 O. Passon

einer Teilchenbahn, die zum Ort der Messung geführt hat, darf in der üblichen
Deutung jedoch nicht gesprochen werden.
In der de Broglie-Bohm-Theorie wird der Begriff „ Teilchen“ nun so ernst
genommen, dass man ihm zu jedem Zeitpunkt (also auch ohne Messung) einen
definierten Ort zuordnet. Ein quantenmechanisches N-Teilchen- System wird al-
so nicht mehr durch die Wellenfunktion alleine beschrieben, sondern durch das
Paar aus Wellenfunktion und den Ortskoordinaten der Teilchen: (ψ, Q(t)) (mit
Q(t) = (Q1 (t), · · · , QN (t)), wobei Qi :t → R3 die Ortskurve des i-ten Teilchens
ist). Q(t) ∈ R3N bezeichnet man auch als Konfiguration des Systems, und der R3N
ist der sog. Konfigurationsraum.4
Für die Teilchenorte Q(t) muss nun eine Bewegungsgleichung angegeben
werden, das heißt eine (Differenzial-)Gleichung, die die zeitliche und räumliche
Entwicklung der Teilchenorte unter dem Einfluss der jeweiligen äußeren Bedin-
gungen beschreibt. Diese Vorschrift muss im Mittel die statistischen Vorhersagen
der Quantentheorie reproduzieren.
Zur Motivation dieser Bewegungsgleichung existieren verschiedene Vorschläge
(vgl. Passon 2010, S. 32–36). Im Folgenden werden wir die Analogie zwischen
Quantentheorie und Hydrodynamik ausnutzen, auf die Erwin Madelung bereits
1926 hingewiesen hat (vgl. Madelung 1926). Betrachten wir deshalb kurz eine Flü-
ssigkeit (oder ein Gas) mit der Massendichte ρm . Unter der Annahme, dass die
Masse eine Erhaltungsgröße ist, kann sich die Massendichte in einem Raumbe-
reich nur um den Betrag ändern, der aus diesem Bereich heraus oder hinein strömt.
Um das Strömen der Flüssigkeit zu beschreiben, definiert man den „Stromdichte-
vektor“ oder kurz die „Stromdichte“, als Produkt aus der Massendichte und der
Geschwindigkeit der Flüssigkeit: jm = ρm v. Die x-Komponente von jm gibt die
Flüssigkeitsmenge an, die pro Zeiteinheit durch eine Flächeneinheit (senkrecht zur
x-Achse) fließt – und entsprechend für y und z. Damit findet die Massenerhaltung
folgenden mathematischen Ausdruck:
∂ρm
= –∇ · j (5.2)
∂t   m

räumliche Änderung
zeitliche Änderung

Hier bezeichnet das Symbol „∇“ die sog. Divergenz, d. h. die Summe der Rich-
tungsableitungen. Diese sog. Kontinuitätsgleichung der Hydrodynamik drückt – wie
erläutert – die Massenerhaltung aus.
Wir kehren nun zur Quantentheorie zurück, in der ebenfalls eine Kontinuitä-
tsgleichung gilt – diesmal jedoch für die „ Wahrscheinlichkeitsdichte“ ρ = |ψ|2 .
Diese Gleichung sieht formal identisch aus:5

4 Der Konfigurationsraum ist bereits in der konventionellen Quantentheorie von zentraler Bedeu-
tung, da die Wellenfunktion ebenfalls auf ihm definiert ist.
5 Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zur hydrodynamischen Kontinuitätsgleichung:

Während die Massendichte ρm auf dem Ortsraum definiert ist, ist die Wahrscheinlichkeitsdichte
ρ = |ψ|2 eine Funktion des Konfigurationsraumes. Eine naive Identifikation von |ψ|2 mit einer
Stoffdichte erscheint also nicht möglich.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 191

∂ρ
+∇ ·j=0 (5.3)
∂t

An dieser Stelle sollen natürlich weniger die mathematischen Details als die struktu-
rellen Zusammenhänge beleuchtet werden. Entscheidend ist, dass diese Gleichung
aus der Schrödinger-Gleichung abgeleitet werden kann und für die Wahrschein-
lichkeitsstromdichte der folgende (etwas unübersichtliche) Ausdruck gefunden
wird:
  ∗ 
j= ψ (∇ψ) – (∇ψ)ψ ∗ . (5.4)
2mi
In üblichen Lehrbuchdarstellungen der Quantentheorie wird die Kontinuitätsglei-
chung (5.3) als Ausdruck für die „Wahrscheinlichkeitserhaltung“ gedeutet. Wahr-
scheinlichkeit kann (wie die Masse innerhalb der Hydrodynamik) weder „erzeugt“
noch „vernichtet“ werden.
In der de Broglie-Bohm-Theorie geht man nun noch einen Schritt weiter, denn
man zielt schließlich auf eine Bewegungsgleichung für die „Bohmschen Teilchen“.
Man deutet den Ausdruck ρ in der Quantentheorie als Wahrscheinlichkeitsdichte der
tatsächlichen Teilchenkonfiguration und erinnert sich daran, dass in der Strömungs-
lehre der Zusammenhang j = ρv gilt. Setzt man für ρ und j die entsprechenden
quantentheoretischen Ausdrücke ein (sowie für die Wellenfunktion die „Polardar-
i
stellung“ ψ = Re  S ), findet man nach einer einfachen Rechnung schließlich
die von uns gesuchte Bewegungsgleichung für die Teilchenorte Q(t) (für deren
Geschwindigkeit natürlich v = dQdt gilt):

j
v=
ρ
dQ ∇S
= (5.5)
dt m
Die Gl. 5.5 wird als guidance equation oder Führungsgleichung der de Broglie-
Bohm-Theorie bezeichnet. Bildlich gesprochen werden die Teilchenbahnen also
durch die Wellenfunktion (bzw. ihre Phase S) geleitet bzw. geführt. Ein physika-
lisches Problem mit Hilfe der DBB-Theorie zu behandeln, bedeutet also zunächst
(wie in der üblichen Quantenmechanik) die Schrödingergleichung zu lösen. Wir
werden in Absch. 5.1.4 konkrete Anwendungen diskutieren.6
Die Gültigkeit der Kontinuitätsgleichung (5.3) hat für die de Broglie-Bohm-
Theorie noch eine andere bedeutende Konsequenz. Aus ihr folgt nämlich, dass

6 Tatsächlichlegt die Bedingung, die statistischen Vorhersagen der Quantenmechanik zu


reproduzieren, die Dynamik nicht eindeutig fest. In diesem Sinne existieren sogar unendlich viele
„de Broglie-Bohm-artige“ Theorien. In diesen Theorien verlaufen die individuellen Bahnen nicht
gemäß Gl. (5.5), sie reproduzieren jedoch die selbe Statistik (Deotto und Ghirardi 1998).
192 O. Passon

eine einmal |ψ|2 -verteilte Konfiguration unter der Bohmschen Dynamik diese
Eigenschaft behalten wird. Diese Beobachtung ist der Schlüssel dafür, dass die
de Broglie-Bohm-Theorie sämtliche Vorhersagen der üblichen Quantentheorie re-
produziert, denn natürlich legt eine Differenzialgleichung die Bewegung erst durch
Rand- oder Anfangsbedingungen eindeutig fest. Wählt man nun für ein System,
das durch die Wellenfunktion ψ beschrieben wird, die Anfangskonfiguration Q(t0 )
zufällig gemäß der Verteilung |ψt0 |2 , wird die Konfiguration Q(t) zu jedem spä-
teren Zeitpunkt gemäß |ψt |2 verteilt sein. Mit anderen Worten werden – gemäß
der Bornschen Regel – alle Vorhersagen der üblichen Quantentheorie reproduziert.7
Diese Bedingung wird „Quantengleichgewichtshypothese“ genannt und wird im
Abschn. 5.1.2 genauer untersucht werden.
Die drei Beziehungen, die die de Broglie-Bohm-Theorie mathematisch defi-
nieren, sind also:

1. Die Schrödinger-Gleichung: i ∂ψ
∂t = –
2
2m ∇ 2 ψ + V(r)ψ
∇S
2. Die Führungsgleichung: dQ dt = m
3. Die Quantengleichgewichtshypothese: Die Ortsverteilung ρ von Zuständen mit
der Wellenfunktion ψ ist durch die Wahrscheinlichkeitsdichte ρ = |ψ|2 gegeben.

Die zweite und die dritte Beziehung verdienen eine genauere Betrachtung, da sie
den Unterschied zur herkömmlichen Quantentheorie markieren.

5.1.2 Die Quantengleichgewichtshypothese

Gemäß der Quantengleichgewichtshypothese sind die Orte der Teilchen eines


Zustandes, der durch die Wellenfunktion ψ beschrieben wird, gemäß der Wahr-
scheinlichkeitsdichte |ψ|2 verteilt. Die Aufenthaltswahrscheinlichkeit
 in einem
Raumbereich V berechnet sich also durch die Integration V |ψ|2 dV  .
Ist diese Anfangsbedingung einmal realisiert, folgt aus der Kontinuitätsglei-
chung (5.3) die Gültigkeit der Bornschen Regel für alle Zeiten. Gleichzeitig stellt
die Quantengleichgewichtshypothese sicher, dass die Teilchenorte nicht genauer
kontrolliert werden können. Bell schreibt dazu:

Note that the only use of probability here is, as in classical statistical mechanics, to take
account of uncertainty in initial conditions. (Bell 1980, S. 156)

Aus diesem Umstand folgt, dass die Heisenbergsche Unschärferelation auch in der
de Broglie-Bohm-Theorie nicht verletzt werden kann! Gleichzeitig mag in diesem

7 Die äquivalenz zur Quantenmechanik setzt zusätzlich voraus, dass alle Vorhersagen eindeu-
tig durch Ortskoordinaten beschrieben werden können – etwa durch Zeigerstellungen eines
Messgerätes.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 193

Sinne der Determinismus der de Broglie-Bohm-Theorie als „fiktiv“ bezeichnet


werden. In ihrem deskriptiven Gehalt unterscheidet sich die de Broglie-Bohm-
Theorie nämlich nicht von der Quantenmechanik in ihrer Standard-Interpretation,
und es werden in ihr ebenfalls nur statistische Vorhersagen formuliert. Das
Bell-Zitat weist jedoch auf den konzeptionellen Unterschied hin. Innerhalb der
de Broglie-Bohm-Theorie ist der statistische Charakter der Vorhersagen unserer Un-
kenntnis zuzuschreiben – also epistemischer Natur. Innerhalb der konventionellen
Deutung ist die Ignoranzinterpretation der Wahrscheinlichkeit nicht möglich. Es
handelt sich also um ontische Wahrscheinlichkeiten.
Wenden wir uns nun der Frage zu, wie diese Gleichgewichtsverteilung begrün-
det werden kann. Bereits auf Bohm (vgl. Bohm 1953) geht der Versuch zurück,
eine dynamische Erklärung der |ψ|2 -Verteilung anzugeben. Dieser Ansatz wird
in Valentini (1991) weiter entwickelt. In Valentini und Westman (2005) finden
sich etwa numerische Simulationen von Systemen, die unter der Dynamik der
Führungsgleichung aus einer Ungleichgewichtsverteilung in die Quantengleichge-
wichtsverteilung relaxieren. Im Rahmen dieses Ansatzes ist es naheliegend, über
Systeme im „Quantenungleichgewicht“ nachzudenken – zusammen mit möglichen
Abweichungen der Vorhersagen zwischen konventioneller Quantenmechanik und
der de Broglie-Bohm-Theorie (vgl. Valentini 2004). Eine andere Strategie – für die
sich Bell an verschiedenen Stellen auszusprechen scheint – besteht darin, die Quan-
tengleichgewichtshypothese einfach zu postulieren. Dies würde ihr den Status eines
fundamentalen Gesetzes verleihen.
Im Gegensatz dazu argumentieren Dürr, Goldstein und Zanghì (1992), dass
weder ein Postulat der Quantengleichgewichtsbedingung noch deren dynamische
Begründung sinnvoll oder überzeugend sind. Im Kern geht es nämlich um die
Frage, wie in einer deterministischen Theorie überhaupt Wahrscheinlichkeitsaus-
sagen auftreten können. Dieses Problem ist natürlich viel älter als die de Broglie-
Bohm-Theorie und dominiert die Diskussion über den Zusammenhang zwischen
statistischer (Newtonscher) Mechanik und klassischer Thermodynamik seit dem
19. Jahrhundert. In ihrer Begründung der Quantengleichgewichtsverteilung greifen
Dürr et al. deshalb auf ein Konzept von Ludwig Boltzmann (1844–1906) zurück,
nämlich dem „Typisch-sein“ eines physikalischen Geschehens. „Typisch-sein“ hat
hier eine terminologische Bedeutung, nämlich das Zutreffen für (maßtheoretisch
definiert) die „überwältigende Mehrheit“ der Anfangskonfigurationen (Dürr 2001,
S. 49ff).
Die Anwendung auf die de Broglie-Bohm-Theorie erfolgt nun in zwei Schritten.
Zunächst klären die Autoren die Frage, unter welchen Bedingungen Teilsystemen
überhaupt eine Wellenfunktion zugeordnet werden kann. Von beliebigen Teilsyste-
men wird man dies nämlich aufgrund von Wechselwirkungen mit der Umgebung
nicht fordern können. Prinzipiell gilt die de Broglie-Bohm-Theorie also für die
Wellenfunktion des Universums . Der Begriff „Wellenfunktion des Universums“
klingt anmaßend. Tatsächlich ist mit ihm nicht gemeint, dass die de Broglie-
Bohm-Theorie universelle Gültigkeit beansprucht. Vielmehr ist es die Wellenfunk-
tion eines Systems, in dem Wahrscheinlichkeitsaussagen nicht mehr durch einen
194 O. Passon

„äußeren Zufall“ erklärt werden können, d. h. durch die Existenz eines größeren
Systems, in welches das betrachtete eingebettet ist. Für die fundamentale Begrün-
dung von Wahrscheinlichkeitsaussagen muss also dieser Standpunkt eingenommen
werden.
Für die Wellenfunktion des Universums scheint aber die Aussage, dass seine
Ortskoordinaten gemäß ρ = ||2 verteilt sind, problematisch. Schließlich gibt es
nur ein Universum,8 und ein Test dieser Wahrscheinlichkeitsaussage durch Messung
einer relativen Häufigkeit ist ausgeschlossen. Für die Wellenfunktion des Univer-
sums kann man dem Ausdruck ||2 also zumindest nicht im operationalen Sinne
die Bedeutung einer Wahrscheinlichkeitsdichte geben. Stattdessen schlagen Dürr
et al. vor, in ihm ein Maß dafür zu sehen, was eine „typische“ Anfangsbedin-
gung (im Sinne Boltzmanns) des Universums ist. Diese Wahl begründen sie mit der
„Äquivarianz“ der Verteilung, d. h. mit der bereits erwähnten Tatsache, dass eine
einmal gemäß |ψ|2 verteilte Konfiguration diese Eigenschaft behält. Die Wahl jeder
anderen (nicht-äquivarianten) Verteilung als Maß für „ typische“ Anfangskonfigu-
rationen würde in unnatürlicher Weise einen Zeitpunkt auszeichnen müssen, zu dem
diese Verteilung vorlag.
Daneben gibt es eine Klasse von Teilsystemen, die mit Hilfe von „effektiven
Wellenfunktionen“ beschrieben werden können. Damit ist gemeint, dass die Teil-
chendynamik dieser Teilsysteme durch diese effektive Wellenfunktion praktisch
vollkommen festgelegt ist.9
Schließlich können Dürr et al. beweisen, dass Teilsysteme mit einer effektiven
Wellenfunktion ψ in einem „typischen“ Universum die Quantengleichgewichts-
hypothese erfüllen. In diesem Sinne kann die deterministische de Broglie-Bohm-
Theorie den Anschein von Zufälligkeit geben, wobei die empirischen Verteilungen
den quantenmechanischen Vorhersagen entsprechen. Folgt man dem „ Boltzmann–
Argument“ wird die Quantengleichgewichtsbedingung somit zu einem Theorem der
de Broglie-Bohm-Theorie.10

8 An dieser Situation ändern auch Spekulationen über „Multiversen“ nichts – denn auch hier ist in
der Regel jeder Kontakt zu anderen „Universen“ verhindert.
9 Die effektive Wellenfunktion ψ(x) eines Teilsystems mit den Variablen x auf dem Konfigu-

rationsraum, das dem Gesamtsystem (x, y) angehört, ist als Teil der folgenden Zerlegung
definiert: (x, y) = ψ(x)(y) +  ⊥ (x, y). Dabei haben  und  ⊥ disjunkte Träger, und die
Konfiguration der Umgebung (Y) liegt im Träger von . Bei dem Gesamtsystem kann man
etwa an Teilsystem+Umgebung bzw. konkret Teilsystem+Messgerät denken. Obige Zerlegung
ensteht nämlich bei einer Messwechselwirkung: Entspricht die Konfiguration des Messgerä-
tes Y (man denke an eine bestimmte „ Zeigerstellung“ des Messgerätes), wird das x-System
durch die Wellenfunktion ψ(x) geleitet. Die anderen Anteile von  sind dann für die Teil-
chendynamik irrelevant, und es wird auf diese Weise ein „effektiver Kollaps“ beschrieben (vgl.
Abschn. 5.1.5).
10 Unsere Darstellung kann den Gedankengang natürlich nur grob skizzieren und unterdrückt viele

mathematischen Details. So mag irrtümlicherweise der Eindruck der Zirkularität entstehen: Man
postuliert die ||2 -Verteilung des Universums und erhält die |ψ|2 -Verteilung von Teilsystemen.
Siehe hierzu Dürr (2001, S. 201).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 195

5.1.3 Die Führungsgleichung

Bisher haben wir uns auf den 1-Teilchen-Fall beschränkt. Die allgemeine Form der
Führungsgleichung für ein N-Teilchen-System lautet:11

dQi  ∇i ψ ∇ i S
= ! = . (5.6)
dt mi ψ mi

Hier bezeichnet mi die Masse des i-ten Teilchens, ! den Imaginärteil und ∇i
den Gradienten in Bezug auf die Raumkoordinaten des i-ten Teilchens. Falls
die Wellenfunktion ein Spinor ist, also ψ:R3N → C2N , verändert sich der
Wahrscheinlichkeitsstrom, sodass man die folgende Führungsgleichung erhält:

dQi  ψ ∗ ∇i ψ
= ! , (5.7)
dt mi ψ ∗ ψ

mit ψ ∗ ψ dem Skalarprodukt im C2 . Die letzte Gleichung erwähnen wir nicht nur
der Vollständigkeit halber, sondern werden bei der Behandlung des Messproblems
in Abschn. 5.1.5 auf sie zurückgreifen.
Die Existenz und Eindeutigkeit der Lösung konnte für alle relevanten Po-
tenzialtypen nachgewiesen werden (siehe Teufel und Tumulka 2005). Hervorzu-
heben sind zwei Punkte: Erstens die Ordnung der Führungsgleichung (sowie die
daraus folgenden allgemeinen Eigenschaften ihrer Lösung) und zweitens ihre sog.
„Nicht-Lokalität“.

Allgemeine Eigenschaften der Trajektorien


Da die Führungsgleichung eine Differenzialgleichung 1. Ordnung ist, legen bereits
die Anfangsorte Q(t0 ) die Trajektorien eindeutig fest und nicht, wie in der newton-
schen Mechanik, Anfangsorte und Anfangsgeschwindigkeiten. Im Konfigurations-
raum sind die Bahnen also überschneidungsfrei. Daraus folgt für den 1-Teilchen
Fall, in dem Ortsraum und Konfigurationsraum identisch sind, dass die Trajektorien
der DBB-Theorie sich bereits im Ortsraum nicht schneiden. Sind sie schließlich in
einem Punkt identisch, müssen sie dies in allen Punkten sein. In vielen Fällen kann
man sich allein mit dieser Information bereits ein qualitatives Bild der Trajektorien
machen.

Nicht-Lokalität
Die Führungsgleichung legt die Bahn des i-ten Teilchens im Wesentlichen durch
Ableiten der Wellenfunktion (genauer: Gradientenbildung) fest. Die Wellenfunk-
tion ist jedoch auf dem Konfigurationsraum definiert – und wird an der Stelle

11 Das Folgende ist für den mathematisch weniger versierten Leser natürlich schwer verständ-
lich. Der entscheidende Punkt lautet, dass Ort (und Geschwindigkeit) der Bohmschen Teilchen
mathematisch durch die Wellenfunktion festgelegt sind.
196 O. Passon

Q(t) ausgewertet. Mit anderen Worten hängt die Ortsänderung jedes Teilchens zum
Zeitpunkt t von der Position aller anderen Teilchen zum selben Zeitpunkt ab. Da
diese Beeinflussung nicht im Sinne einer Nahwirkung durch den Raum propagiert,
spricht man von einer nicht-lokalen Beeinflussung bzw. der Nicht-Lokalität der
de Broglie-Bohm-Theorie. Jedoch ist es gerade diese Nicht-Lokalität, die es der
de Broglie-Bohm-Theorie erlaubt, die Bellschen Ungleichungen (in Übereinstim-
mung mit dem Experiment) zu verletzen (siehe Kap. 4). Gleichzeitig stellt die
Quantengleichgewichtshypothese sicher, dass diese Nicht-Lokalität nicht zur Sig-
nalübertragung verwendet werden kann, da es sich schließlich um stochastische
Ereignisse handelt. Die naheliegende Frage der relativistischen Verallgemeinerung
dieser Theorie werden wir in Abschn. 5.1.7 ansprechen.

5.1.4 Anwendungen der de Broglie-Bohm-Theorie

Wie wenden uns nun der naheliegenden Frage zu, welche Form die Teilchenbahnen
haben, deren Existenz die de Broglie-Bohm-Theorie von der herkömmlichen Quan-
tentheorie unterscheidet. Die Führungsgleichung ist tatsächlich für zahlreiche Pro-
bleme numerisch gelöst worden. Für die Anhänger der Theorie ist im übrigen die
Existenz dieser Bahnen bedeutender als ihr konkreter Verlauf bzw. ihre numerische
Simulation. Dürr schreibt zu der Frage, ob Bohmsche Bahnen überhaupt berechnet
werden sollten:

Grob gesagt: nein! Manchmal jedoch ist das asymptotische Bild der Bahnen – im wesent-
lichen dasjenige freier Teilchen – recht nützlich. [. . .] Alles was wir aus den Bahnen lernen
können, ist ja nur, daß zu jeder Zeit t Teilchen vorhanden sind, deren Orte nach der
Quantengleichgewichtshypothese mit |ψ|2 (q, t) verteilt sind. (Dürr 2001, S. 142)

Im Folgenden betrachten wir mit den Bohmschen Trajektorien beim Tunneleffekt,


der Interferenz am Mehrfachspalt (bzw. Doppelspalt) sowie dem Wasserstoffatom
dennoch einige Beispiele für Quantenphänomene, die nach üblichem Verständnis
unmöglich mit der Vorstellung von kontinuierlichen Bahnen erklärt werden können.

Der Tunneleffekt
Eine spektakuläre Vorhersage der Quantentheorie ist der „ Tunneleffekt“. Er be-
steht darin, dass quantenmechanisch beschriebene Teilchen eine Potenzialbarriere
überwinden können, obwohl die Energie dieser Barriere größer ist als die Energie
der Teilchen. Der radioaktive α-Zerfall oder die Kernfusion im Inneren der Son-
ne sind nur mit seiner Hilfe zu erklären.12 Bildlich gesprochen unterqueren sie

12 Im Falle des α-Zerfalls sind dies Heliumkerne, die die Potenzialbarriere des Mutterkerns
überwinden, obwohl ihre Energie in einer klassischen Betrachtung dafür zu gering ist. Bei
der Kernfusion im Inneren der Sonne verschmelzen Wasserstoffatome zu Helium. Auch hier
sind – klassisch betrachtet – Druck und Temperatur zu gering, um die Abstoßung der positiven
Wasserstoffkerne zu überwinden.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 197

0.85
Ort
0.80

0.75

0.70

0.65

0.60

0.55

0.50

0.45

0.40
0.00 2.00 4.00 6.00 8.00 10.00 12.00 14.00 16.00
Zeit/10–4 s

Abb. 5.1 Numerische Simulation einiger Trajektorien beim 1-dim. Tunneleffekt (aus Dewdney
und Hiley 1982, mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags). Die x-Achse entspricht der
Zeitkoordinate und die y-Achse der Ortskoordinate

die Barriere – sie „tunneln“ also unter ihr hindurch.13 In orthodoxer Sprechweise
besteht eine endliche Wahrscheinlichkeit dafür, die Teilchen jenseits der Bar-
riere anzutreffen. Innerhalb der de Broglie-Bohm-Theorie muss natürlich eine
kontinuierliche Teilchenbahn zum Ort jenseits der Potenzialbarriere führen.
Die Abb. 5.1 zeigt den Verlauf dieser Bahnen. Die y-Achse entspricht der Orts-
koordinate und die x-Achse der Zeitkoordinate. Als Anfangsbedingung wird ein
Gauß-förmiges Wellenpaket ψ angenommen, das sich in der Abbildung von unten
der Barriere nähert. Diese Potenzialbarriere liegt bei 0, 72 ≤ y ≤ 0, 78 und beträgt
das Doppelte der mittleren Energie des Wellenpaketes.14 Anschließend wurde die
Schrödinger-Gleichung numerisch gelöst und in die Führungsgleichung eingesetzt.
Auf diese Weise berechnet sich der Verlauf der Bahnen. Man erkennt zunächst,
wie alle Teilchen in der Barriere abgebremst werden (die Steigung der Bahnen
in Abb. 5.1 entspricht der Geschwindigkeit). Der Tunneleffekt tritt bei jenen Teil-
chen auf, die die Barriere als erste erreichen, während die nachfolgenden immer

13 Die Sprechweisen „tunneln“ oder „unterqueren“ sind natürlich metaphorisch zu verstehen, da

die „Höhe“ der Potenzialbarriere nicht räumlich aufzufassen ist.


14 Die Wellenfunktion ist Gauß-förmig mit dem anfänglichen Zentrum bei 0,5 und einer Standard-

abweichung von 0,05. Die Dichte der Trajektorien zwischen 0,66 und 0,68 wurde erhöht, um
das Oszillationsverhalten in der Barriere genauer studieren zu können (siehe Dewdney und Hiley
1982).
198 O. Passon

früher reflektiert werden. Wäre dies nicht der Fall, käme es zu überschneidungen
der Teilchenbahnen. Die Überschneidungsfreiheit der Bahnen legt hier also ihren
qualitativen Verlauf bereits fest.
Diese Beschreibung des Tunneleffektes eröffnet im übrigen die Möglichkeit, das
Problem der „Tunnelzeit“ zu behandeln. Die naheliegende Frage nach der Zeit, die
ein Teilchen zur Überwindung der Barriere braucht, kann in der herkömmlichen
Quantentheorie gar nicht sinnvoll gestellt werden, da die Zeit keine Observable ist.
In Cushing (1995) wird die Möglichkeit eines experimentellen Tests der de Broglie-
Bohm-Theorie auf dieser Grundlage erörtert.

Die Interferenz am Doppelspalt


Die Beugung und Interferenz eines Elektronenstrahls an einem Doppelspalt und
der Nachweis der typischen Interferenzstreifen (siehe Abb. 5.2, links) gelang Claus
Jönsson 1959 (siehe Möllenstedt und Jönsson 1959). Besonders eindrucksvoll sind
die Versuche, bei denen der Teilchenstrahl eine so geringe Intensität hat, dass die
Entstehung des Interferenzmusters über einen längeren Zeitraum beobachtet werden
kann. Hier bilden punktförmige Schwärzungen auf dem Schirm nach und nach das
Interferenzmuster.
Dieser Versuch scheint in seltener Deutlichkeit zu illustrieren, dass das Konzept
der Teilchenbahn in der Quantentheorie nicht mehr anwendbar ist. Würde – so die
häufige Argumentation – die Teilchenbahn durch den einen oder den anderen Spalt
verlaufen, sollte es irrelevant sein, ob in diesem Moment der jeweils andere Spalt
geöffnet ist oder nicht. Als Ergebnis sollte die Verteilung hinter einem Doppelspalt
derjenigen der Summe aus zwei Einzelspalten entsprechen.

Abb. 5.2 Links: Messung der Interferenzstreifen von Elektronen am Mehrfachspalt (aus Möllens-
tedt und Jönsson 1959). Rechts: Numerische Simulation einiger Trajektorien beim Doppelspalt
(aus Philippidis et al. 1979). Abdruck beider Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des
Springer Verlags
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 199

Das beobachtete Muster zeigt aber offensichtlich einen Unterschied. Populäre


Darstellungen sprechen gelegentlich davon, dass das Teilchen „durch beide Spalte“
gedrungen sei. Diese paradoxe Formulierung soll vermutlich andeuten, dass von
einer Teilchenbahn im üblichen Sinne keine Rede mehr sein kann.
Innerhalb der de Broglie-Bohm-Theorie löst sich dieses Problem auf einfa-
che Weise. Die Teilchenbahnen dringen natürlich jeweils nur durch eine Öffnung
des Doppelspalts (bzw. des Mehrfachspalts). Geleitet werden die Teilchenbahnen
jedoch gemäß der Führungsgleichung durch die Wellenfunktion. Diese kodiert
die Information über die Spaltgeometrie und lenkt die Bahnen entsprechend zu
den Inteferenzmaxima. Hier wird deutlich, wie innerhalb der de Broglie-Bohm-
Theorie die Wellenfunktion keine „ Wahrscheinlichkeitswelle“ darstellt, sondern
eine reale physikalische Wirkung vermittelt.15 Jeder Bezug auf einen Welle-
Teilchen-Dualismus wird dadurch überflüssig.
Sind die Anfangswerte der Teilchen gemäß der Quantengleichgewichtshypo-
these verteilt, reproduziert man exakt die Häufigkeitsverteilung der Quantentheorie.
Eine numerische Simulation einiger dieser Bahnen ist in Abb. 5.2 (rechts) zu se-
hen. Erneut ist gut zu erkennen, dass die Bahnen überschneidungsfrei verlaufen.
Gleichzeitig zeigen sie ein vollkommen „unklassisches“ Verhalten, indem sie (im
„ feldfreien“ Gebiet) abrupte Richtungsänderungen aufweisen. Bereits hier erkennt
man, dass Impuls- oder Energieerhaltung für die Teilchenbahnen nicht gültig sind,
da sie eben der Bohmschen und nicht der Newtonschen Mechanik gehorchen. In
Abschn. 5.1.5 (siehe auch Fußnote 19) wird dieser Aspekt genauer erläutert.

Das Wasserstoffatom
Die diskreten und charakteristischen Spektren angeregter Gase gaben wichtige
Anstöße zur Entwicklung der Quantentheorie. Die erfolgreiche Beschreibung der
diskreten Energieniveaus des Wasserstoffatoms gehörte zu ihren frühen Triumphen.
Die Lösung der Schrödinger-Gleichung für dieses Problem (also für das Poten-
2
zial V = – er ) ist mathematisch recht aufwendig und soll hier nicht dargestellt
werden. Entscheidend ist, dass man auf Eigenzustände der Energie geführt wird,
bei denen die Wellenfunktion das Produkt aus einer reellen Funktion und dem Aus-
druck ei(mφ–Et/) ist. Für den Grundzustand ist m (die „magnetische Quantenzahl“)
jedoch 0, sodass die Phase S = –Et lautet. Setzt man diesen Ausdruck in die Füh-
rungsgleichung (5.5) ein, ergibt sich für das Geschwindigkeitsfeld natürlich überall
null. Schließlich bildet man die räumliche Ableitung eines Ausdrucks, der gar nicht
vom Ort abhängt. Mit anderen Worten ruht das Teilchen im Grundzustand, und
zwar an Orten, die gemäß der Quantengleichgewichtsbedingung für die zugehöri-
ge Wellenfunktion verteilt sind. Man könnte dieses Ergebnis unintuitiv nennen –
allerdings muss man sich wohl eingestehen, gar keine „Intuition“ von Vorgängen
innerhalb des Atoms zu besitzen.16

15 Zum Status der Wellenfunktion siehe jedoch auch Abschn. 5.1.7 und vgl. Dürr et al. (1996).
16 Bei angeregten Zuständen mit m =/ 0 wird der Winkel φ eine Funktion der Zeit und das Teilchen
kreist um eine Achse (siehe Passon 2010, S. 87f). Aber auch diese Bewegung entspricht natürlich
nicht dem aus der Schule bekannten (und widerlegten) Bohrschen Atommodell.
200 O. Passon

5.1.5 Die Lösung des Messproblems

Im Kern besteht das Messproblem darin, dass am Ende einer Messung das betreffen-
de Gerät tatsächlich ein Ergebnis anzeigt. Nach der Messung sollte am Messgerät
(quantentheoretisch betrachtet) also ein Eigenzustand des Messgerätes hinsichtlich
des betreffenden Operators vorliegen.
Im allgemeinen wird der mikroskopische Zustand (an dem die Messung durch-
geführt wird) jedoch durch eine Überlagerung verschiedener Komponenten be-
schrieben werden, die jeweils einer anderen „ Zeigerstellung“ entsprechen. Unter
der Dynamik der linearen Schrödinger-Gleichung sollte das Messgerät also eben-
falls einen Überlagerungszustand annehmen – und keinen Eigenzustand. Tasäch-
lich ist eine Überlagerung makroskopisch verschiedener Zustände weder einfach
vorstellbar noch jemals beobachtet worden.17
Die Lösung der de Broglie-Bohm-Theorie für das Messproblem lässt sich voll-
kommen untechnisch und dennoch angemessen darstellen. Sie beruht darauf, dass
erst das Paar aus Wellenfunktion und Konfiguration die vollständige Beschrei-
bung eines Systems ausmacht – und nicht schon die Wellenfunktion alleine. Durch
die zusätzlichen Teilchenorte befindet sich jedes System jederzeit in einem defi-
nierten Zustand. Dies gilt somit auch für Messgeräte nach einer Messung. Die
verschiedenen Zeigerstellungen eines Messgerätes sind schließlich nichts anderes
als verschiedene Konfigurationen Q(t). Mit anderen Worten wird sich auch in der
de Broglie-Bohm-Theorie die „Wellenfunktion des Messgerätes“ im allgemeinen in
einem Überlagerungszustand befinden. Die Konfiguration zeichnet aber den tatsä-
chlich realisierten Ausgang der Messung aus. Der Teil der Wellenfunktion, der das
(oder die) Teilchen „führt“, kann sinnvoll als effektiv bezeichnet werden. Alle ande-
ren Anteile können im Anschluss ignoriert werden, da sie für die Teilchendynamik
irrelevant sind. In Folge von Dekohärenzeffekten (siehe hierzu Abschn. 5.2.4) ist die
Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie mit dem effektiven Wellenfunktionsanteil wieder
zur Interferenz gebracht werden können, verschwindend gering. In diesem Sinne be-
schreibt die de Broglie-Bohm-Theorie einen „effektiven Kollaps“ (siehe dazu auch
Fußnote 9). Mit den Worten von Dürr:

Dieser „Kollaps“ ist kein physikalischer Prozeß, sondern ein Akt der Bequemlichkeit. Er
findet nur durch die Wahl der Beschreibung statt [. . . ] weil der Preis für das Vergessen
der anderen, nicht effektiven Wellenanteile enorm gering ist, da zukünftige Interferenz
praktisch ausgeschlossen ist. (Dürr 2001, S. 160)

Diese Lösung des Messproblems macht stillschweigend eine zusätzliche Annahme:


Alle Ergebnisse von Messungen müssen sich durch Ortskoordinaten eindeutig cha-
rakterisieren lassen. Man denke etwa an die besagten Zeigerstellungen oder auch

17 Formalgesprochen betrachten wir hier die Überlagerung von mehreren Zuständen des Gesamt-

systems, bestehend aus Messobjekt (ψ = ci ψi ) und Messgerät (i ). Falls das Messgerät
 0 ist, vollzieht sich während der Messwechselwirkung eine Zeitent-
zunächst in der Stellung
wicklung ψ ⊗0 → ci ψi ⊗i . Hier bezeichnet i den Zustand des Gerätes bei der Messung
der Eigenschaft, der der Zustand ψi zugeordnet ist.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 201

die Position von Tinte auf einem Papier.18 Damit ist jedoch nicht gemeint, dass
nur die Messung von Teilchenorten in der de Broglie-Bohm-Theorie beschrieben
werden kann. Natürlich gilt diese Lösung des Messproblems auch für Spin, Impuls
oder die Messung beliebiger anderer „Observablen“. Deren Status erfährt in der
Theorie jedoch eine drastische Umdeutung, die mit dem Stichwort „Kontextualität“
beschrieben wird.

Kontextualität
Bereits in Abschn. 1.1.1 war der Stern-Gerlach-Versuch zur Messung der Spin-
komponente eines Valenz-Elektrons behandelt worden. Ein Strahl aus Silberatomen
wird durch ein inhomogenes Magnetfeld gelenkt, sodass der Spin des äußeren
Elektrons zu seiner Aufspaltung führt.
Auch hier liegt also eine Messung vor, deren eindeutiger Ausgang durch die
de Broglie-Bohm-Theorie beschrieben wird. Die Diskussion wird dadurch ver-
kompliziert, dass die Schrödinger-Gleichung keine Teilchen mit Spin beschreiben
kann. Stattdessen muss zur sog. „Pauli-Gleichung“ übergegangen werden. Die-
se Modifikation der Schrödinger-Gleichung beschreibt Spin- 12 -Teilchen durch eine
2-komponentige Wellenfunktion. Eine Führungsgleichung für die Teilchen fin-
det man analog wie im Fall der Schrödinger-Gleichung (diese Beziehung war in
Abschn. 5.1.3, Gl. 5.7, bereits erwähnt worden). Dadurch ergibt sich in unserer
Diskussion konzeptionell auch kein Unterschied.
Abbildung 5.3 gibt eine naive Darstellung davon, wie in der de Broglie-
Bohm-Theorie der Ausgang der Messung festgelegt wird. Befindet sich die

Spin-up

N
Ag-Strahl

Spin-down

Abb. 5.3 Ablenkung eines Silberatoms im inhomogenen Magnetfeld (Stern-Gerlach-Versuch).


Der Anfangsort (durch den kleinen Punkt unter der Lupe symbolisiert) entscheidet in der
de Broglie-Bohm-Theorie über den Ausgang der „Spin“-Messung

18 Andieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass die Bezeichnung „verborgene Variablen“ für
die Teilchenorte grob irreführend ist. Gerade ihr Unverborgen-sein qualifiziert sie dafür, den
beobachtbaren Ausgang einer Messung zu beschreiben!
202 O. Passon

Teilchenkoordinate oberhalb der Symmetrieebene (wie im Bild der kleine schwar-


ze Punkt unter dem Vergrößerungsglas), findet eine Ablenkung in den oberen
Zweig der Wellenfunktion statt („Spin-up“) – und umgekehrt. Es ist also der
Teilchenort, der über den Ausgang einer „ Spin-Messung“ entscheidet! Die Eigen-
schaft „Spin“ ist gar nicht dem Teilchen zugeordnet, sondern eine Eigenschaft der
Wellenfunktion.19
Genauso lässt sich nun bei der Messung von Energie, Impuls oder anderen
Observablen argumentieren. Für all diese Größen führt die de Broglie-Bohm-
Theorie also keine zusätzlichen „ verborgenen Variablen“ ein, die ihren tatsäch-
lichen Wert beschreiben. Stattdessen ergibt sich ihr Wert durch Wellenfunktion,
Teilchenort und die spezielle Durchführung der Messung. Am Beispiel des Stern-
Gerlach-Versuchs lässt sich der Einfluss der speziellen Messanordnung anschaulich
illustrieren: Wäre in Abb. 5.3 die Orientierung des Magnetfeldes vertauscht, wäre
am selben Teilchen der entgegengesetzte Spin gemessen worden! Die de Broglie-
Bohm-Theorie entwirft somit ein Bild, in dem nur Ortsmessungen einen Wert erge-
ben, der vor der Messung am System bereits vorlag – also eine Teilcheneigenschaft
im engeren Sinne darstellt. Alle anderen Messungen verdanken ihren Ausgang
dem „Kontext“ der Durchführung. Die Bezeichnungen „Messung“ und „ Obser-
vable“ sind hier also durchaus irreführend. Diese Eigenschaft der de Broglie-Bohm-
Theorie wird auch als „ Kontextualität“ bezeichnet. Tatsächlich hat dieser Begriff in
der Diskussion noch eine etwas weitere Bedeutung und umfasst auch den Einfluss,
den die gemeinsame Messung verschiedener Größen aufeinander haben.
Der hier geschilderte Zusammenhang kann prägnant formuliert werden, wenn
man die Terminologie verwendet, die in der Philosophie zur Beschreibung von
verschiedenen Eigenschaftstypen entwickelt wurde. Der Spin bzw. alle Eigenschaf-
ten außer dem Ort sind innerhalb der de Broglie-Bohm-Theorie keine kategorialen
Eigenschaften, sondern Dispositionen.20 Die Kontextualität von Dispositionen ist
jedoch nicht bemerkenswert, sondern Teil ihrer Definition (vgl. Pagonis und Clifton
1995).

Beweise über die Unmöglichkeit verborgener Variablen


Diese Eigenschaft der de Broglie-Bohm-Theorie erklärt, warum die zahlreichen
„No-go“ -Theoreme bzw. „ Unmöglichkeitsbeweise“ über Theorien verborgener
Variablen auf sie nicht zutreffen. Der bekannteste dieser Sätze geht auf von
Neumann zurück. Eine Verallgemeinerung haben Kochen und Specker formuliert;

19 Dasselbe gilt für alle anderen physikalischen Größen. Die Teilchen der de Broglie-Bohm-Theorie

haben außer dem Ort und der Geschwindigkeit keine Eigenschaft. Selbst Masse, Impuls oder
Ladung können nicht sinnvoll dem Teilchen zugeordnet werden; man denke etwa an quantenme-
chanische Interferenzexperimente, in denen auch der Einfluss von Gravitation oder elektromagneti-
scher Wechselwirkung (prinzipiell) die Wellenfunktion modifizert. Deshalb haben wir bisher auch
vermieden, sie als „Elektron“, „Atom“ o. ä. zu bezeichnen. Allerdings wird bei Holland (1993)
sowie Bohm und Hiley (1993) eine mögliche Spin-Variable diskutiert. Unsere Darstellung folgt
hier Bell (2001, S. 5ff) und Dürr (2001).
20 Während eine kategoriale Eigenschaft einem Objekt ohne jeden Bezug zur Umwelt zu-

kommt („rund sein“), beschreiben Dispositionen solche Eigenschaften, die sich nur in speziellen
Kontexten manifestieren („zerbrechlich sein“).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 203

vgl. Mermin (1990) und die Referenzen darin. Diesen Theoremen liegt nämlich
die Intuition zu Grunde, dass verborgene Variablen den (scheinbar) statistischen
Ausgang der Messungen vollständig kodieren. Diese Beweise zeigen die Unmö-
glichkeit einer Abbildung, die jedem Zustand einen eindeutigen Wert hinsichtlich
jeder möglichen Messung zuordnet – und zwar ohne Berücksichtigung des Kon-
textes. Die de Broglie-Bohm-Theorie behauptet nun überhaupt nicht die Existenz
von tatsächlichen Werten hinsichtlich jeder physikalischen Größe, die gemessen
werden kann, denn lediglich der Ort ist eine kategoriale Eigenschaft dieser Theorie.
Man denke noch einmal an das obige Beispiel der Messung der Spinrichtung: Dem
Teilchen wird unabhängig von einer konkreten „Messung“ keine feste Orientierung
des Spins zugeordnet und bei Veränderung der Magnetfeldorientierung sogar der
entgegengesetzte Wert. Nach Daumer et al. (1996) entlarvt sich in dem Verständnis
von Messung, das zum Beispiel diesen no-go-Theoremen zugrunde liegt, ein „nai-
ver Realismus“ in Bezug auf die Rolle von Operatoren. Darunter verstehen diese
Autoren die übliche Identifikation zwischen Operatoren und Observablen, verbun-
den mit der verbreiteten Sprechweise, dass „Operatoren gemessen“ werden. Diese
Ausdrucksweise ist jedoch grob irreführend, da der oben behandelte Einfluss des
experimentellen Kontexts auf eine Messung nicht berücksichtigt wird.

5.1.6 Die Schulen der de Broglie-Bohm-Theorie

Das Compendium of Quantum Physics (Greenberger et al. 2009) enthält zu dem


Thema dieses Kapitels zwei Einträge. Einer ist „Bohm Interpretation of Quantum
Mechanics“ überschrieben, der andere schlicht „Bohmian Mechanics“. Es entsteht
der Eindruck, dass die „Bohmsche Mechanik“ nicht mit „Bohms Interpretation der
Quantentheorie“ identisch ist. Dieser Eindruck ist korrekt und verdient eine genaue-
re Betrachtung – allein schon, um dem Leser die Orientierung in der Literatur zu
erleichtern.
Der Artikel „Bohmian Mechanics“ wurde von Detlef Dürr, Sheldon Goldstein,
Roderich Tumulka und Nino Zanghì verfasst. Diese Gruppe vertritt eine Version
der Theorie, wie sie ab den 1960er Jahren von John Bell formuliert wurde. Unsere
eigene Darstellung lehnt sich stark an diese Fassung an. Im Mittelpunkt stehen
die Führungsgleichung und die Umdeutung des Observablenkonzeptes (Stichwort:
„Kontextualität“).
Der Autor des Artikels „Bohm Interpretation of Quantum Mechanics“ ist Ba-
sil Hiley. Er war Kollege und enger Mitarbeiter Bohms am Birkbeck College,
und zusammen mit Chris Dewdney, Chris Philippidis und Anderen macht diese
„englische Gruppe“ die von Bohm 1952 vorgeschlagene Formulierung der Theorie
stark. Bohm und seine Mitarbeiter bezogen (bzw. beziehen) sich auf diese Theo-
rie übrigens als „ontologische“ bzw. „kausale“ Deutung der Quantentheorie. In
dieser Variante der Theorie spielt der Begriff des „Quantenpotenzials“ eine zen-
trale Rolle. Betrachten wir dazu die Herleitung der Führungsgleichung, wie sie von
David Bohm 1952 gegeben wurde. Er wählte dazu einen Weg, der eine Analogie
zur Hamilton-Jacobi-Gleichung der klassischen Mechanik herstellt. Im klassischen
Fall gilt in der Hamilton-Jacobi-Theorie die Beziehung p = ∇S (mit dem Impuls
204 O. Passon

p = mv und der Wirkung S). Bohm konnte in seiner Arbeit zeigen, dass die gleiche
Beziehung in der Quantentheorie gilt, wenn die Wirkung durch die Phase (S) der
Wellenfunktion ersetzt wird. Das führte ihn dann auf die bekannte Führungsglei-
∇S
chung v = dQdt = m . Tatsächlich erlaubt diese Theorie sogar eine Darstellung, die
sie wie eine Modifikation der Newtonschen Mechanik erscheinen lässt:

d2 Q(t)
m = –∇(V + Uquant ) (5.8)
dt2

mit dem klassischen Potenzial V und dem zusätzlichen Quantenpotenzial

2 ∇ 2 |ψ|
Uquant = – . (5.9)
2m|ψ|

Man beachte jedoch, dass, im Gegensatz zur Newtonschen Physik, die Geschwin-
digkeit über die Führungsgleichung bereits festgelegt ist. Eine Darstellung durch
eine Differenzialgleichung zweiter Ordnung ist in dieser Hinsicht also irreführend.
Tatsächlich hat das Quantenpotenzial vollkommen unklassische Eigenschaften,
mit deren Hilfe die Anhänger dieser „kausalen Sichtweise“ die Neuartigkeit der
Quantenphänomene begründen. Es gilt z. B., dass Wellenfunktionen, die sich nur
durch einen komplexen Faktor unterscheiden, auf dasselbe Quantenpotenzial füh-
ren, da in Uquant die Wellenfunktion in Nenner und Zähler eingeht. Hier prägen
Bohm und Hiley (1993, S. 31) den Begriff der „aktiven Information“ und sehen die
Begründung für eine neue Art von „Holismus“ (siehe auch Hiley 1999).
Obwohl diese beiden Lesarten der de Broglie-Bohm-Theorie mathematisch
äquivalent sind und der eigentliche Gegensatz zwischen der üblichen Quantentheo-
rie und diesen Varianten besteht, ist die Rivalität dieser Schulen beträchtlich. Hiley
schreibt:

It should be noted that the views expressed in our book (Bohm und Hiley 1993) differ very
substantially from those of Dürr et al. (1992) who have developed an alternative theory.
It was very unfortunately that they chose the term „Bohmian mechanics“ to describe their
work. When Bohm first saw the term he remarked, „Why do they call it ‚Bohmian mecha-
nics‘? Have they not understood a thing that I have written?“ He was referring [. . . ] to a
footnote in his book Quantum Theory in which he writes, „This means that the term ‚quan-
tum mechanics‘ is a misnomer. It should, perhaps, be better called ‚quantum nonmechanics‘
“. It would have been far better if Dürr et al. had chosen the term „Bell mechanics“. That
would have reflected the actual situation far more accurately. (Hiley 1999, S. 119)

Die Schärfe in der Auseinandersetzung rührt wohl im Wesentlichen daher, dass


die „ontologische Interpretation“ mit dem Konzept des Quantenpotenzials weit-
reichende naturphilosophische Spekulationen verbindet, während die Vertreter der
„Bohmschen Mechanik“ die Stärke der Theorie gerade darin sehen, philosophische
Spekulationen aus der Formulierung der Theorie eliminieren zu können. Charakte-
ristischerweise lautet der Titel eines Aufsatzes von Dürr und Lazarovici (2012):
„Quantenphysik ohne Quantenphilosophie“.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 205

5.1.7 Kritik an der de Broglie-Bohm-Theorie

John Bell, der ab den 1960er Jahren in vielen Artikeln zur Popularisierung der
de Broglie-Bohm-Theorie beitrug, schreibt zu dem Thema dieses Abschnitts:

It is easy to find good reasons for disliking the de Broglie-Bohm picture. Neither de Broglie
nor Bohm liked it very much; for both of them it was only a point of departure. Einstein
also did not like it very much. He found it ‘too cheap’ although, as Born remarked, ‚it was
quite in line with his own ideas‘. But like it or lump it, it is perfectly conclusive as a counter
example to the idea that vagueness, subjectivity, or indeterminism, are forced on us by the
experimental facts covered by nonrelativistic quantum mechanics. (Bell 2001, S. 152)

Nach Bell können also alle Gegenargumente den wichtigen prinzipiellen Wert der
Theorie nicht schmälern. Dennoch wollen wir uns im Folgenden mit einigen von
ihnen beschäftigen. Bei Heisenberg findet man das Argument, dass der identische
deskriptive Gehalt der Theorie sie gar nicht als eigenständig qualifiziert. Er schreibt
(Heisenberg 1959, S. 106):

Von einem strengen positivistischen Standpunkt aus könnte man sogar sagen, dass es sich
hier gar nicht um einen Gegenvorschlag zur Kopenhagener Deutung handelt, sondern um
eine exakte Wiederholung in einer verschiedenen Sprache.

Angesichts der konzeptionellen Unterschiede der de Broglie-Bohm-Theorie zur üb-


lichen Quantentheorie scheint diese Aussage zu stark. Zudem setzt Heisenberg hier
natürlich voraus, dass die Kopenhagener Deutung eine überzeugende Lösung für
das Messproblem besitzt. Eng verwand ist der Hinweis auf „Ockham’s razor“. Nach
gängiger Auffassung ist nämlich unter äquivalenten Theorien jene zu bevorzugen,
die mit der kleineren Anzahl an Voraussetzungen auskommt. „Schneidet“ Ockhams
Messer also die Führungsgleichung als überflüssigen Ballast aus einer Theorie, die
keine zusätzlichen Vorhersagen trifft? Diese Forderung übersieht, dass die zusätz-
liche Gleichung der de Broglie-Bohm-Theorie alle Postulate über den Ausgang der
Messung und die Interpretation der Wellenfunktion überflüssig macht.
Während bei den bisherigen Argumenten die zu große Ähnlichkeit der DBB-
Theorie mit der Quantentheorie Gegenstand der Kritik war, sehen andere in ihrer
radikalen Verschiedenheit Anlass zur Ablehnung. Sie bemängeln die explizite
Auszeichnung des Ortes und die fehlende Symmetrie zwischen etwa Orts- und Im-
pulsraum (siehe den Einwand von Pauli in Myrvold 2003). In dieser Theorie mit
einer Bewegungsgleichung erster Ordnung sind Impuls und Energie jedoch auf dem
Niveau der einzelnen Teilchen keine Erhaltungsgrößen mehr. Die Berechtigung der
Forderung einer Symmetrie zwischen Ort und Impuls kann also sinnvoll bezweifelt
werden.
Wieder andere stören sich an der (Doppel-)Rolle der Wellenfunktion: Sie
legt die Teilchendynamik fest und ist (als Betragsquadrat) gleichzeitig ein Maß
für die Gleichgewichtsverteilung. Zudem wirkt sie auf die Teilchenbewegung,
206 O. Passon

ohne dass eine Rückwirkung stattfindet. Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Tat-
sache, dass gemäß der de Broglie-Bohm-Theorie die Welt mit zahllosen „leeren“
Wellenfunktionen bevölkert ist. Auch dies ist zumindest unelegant.
Die Rolle bzw. der Status der Wellenfunktion ist auch Gegenstand einer Dis-
kussion zwischen den Wissenschaftlern, die auf dem Gebiet der DBB-Theorie
arbeiten. Ursprünglich wurde die Wellenfunktion als reales physikalisches Feld auf-
gefasst. Dürr et al. (1996) schlagen im Gegensatz dazu vor, ihr eine „nomologische“
(d. h. „ gesetzesartige“) Rolle zu geben. Die Wellenfunktion entspräche dann eher
der Hamilton-Funktion in der klassischen Mechanik, als einem üblichen physika-
lischen Feld. Sowohl der Einwand der fehlenden Rückwirkung als auch die Kritik
an „leeren“ Wellenfunktionen würden dadurch an Gewicht verlieren. Während der
interessierte Leser bei Passon (2010, 117ff) eine genauere Diskussion der Kritik an
der DBB-Theorie finden kann, wollen wir uns nun dem Haupteinwand gegen diese
Theorie widmen. Er berührt die Frage der relativistischen Verallgemeinerbarkeit.
Die Teilchen-Dynamik der de Broglie-Bohm-Theorie verknüpft Orte in belie-
biger Entfernung. Diese Nicht-Lokalität scheint das Einsteinsche Postulat von der
Lichtgeschwindigkeit als oberster Grenzgeschwindigkeit zu verletzen. Jedoch ist
diese Theorie eine Vervollständigung der nicht-relativistischen Quantenmechanik.
Im Hinweis darauf, dass sie mit den Forderungen der speziellen Relativitätstheorie
nicht verträglich ist, liegt also kein Vorwurf, sondern eine simple Feststellung. Diese
Erwiderung ist jedoch noch zu oberflächlich, denn es ist ja gerade diese nicht-lokale
Dynamik, die es der de Broglie-Bohm Theorie erlaubt, die Verletzung der Bellschen
Ungleichung zu erklären (vgl. Kap. 4 und hier im Besonderen Abschn. 4.4).
Mit der Kritik an der Nicht-Lokalität verbindet sich in der Regel der Zwei-
fel, dass die DBB-Theorie relativistisch verallgemeinert werden kann. Gleichzeitig
existieren relativistische Quantentheorie (Dirac-Theorie) und relativistische Quan-
tenfeldtheorien (siehe Kap. 6), sodass das negative Urteil über die de Broglie-Bohm-
Theorie gefällt zu sein scheint. Dieses Argument wäre jedoch bedeutend triftiger,
wenn besagte Theorien kein Messproblem hätten. Tatsächlich ist aber auch hier die
Frage definiter Ausgänge von Messungen Gegenstand kontroverser Debatten.
Lösungen des Messproblems dieser Theorien durch „de Broglie-Bohm-artige“
Ansätze sind also Teil des aktuellen Forschungsprogramms der Forscher, die
an der de Broglie-Bohm-Theorie arbeiten. Einige der hier diskutierten Ansätze
verwenden im übrigen keine Teilchen- sondern eine Feld-Ontologie. Außerdem
verzichten einige relativistische Verallgemeinerungen auf eine deterministische
Beschreibung.21
Es stellt sich nun heraus, dass nicht nur die Dynamik einer verallgemeiner-
ten Führungsgleichung ein Problem darstellt, sondern auch die (verallgemeinerte)
Quantengleichgewichtsverteilung. Diese Forderung zeichnet nämlich das Bezugs-
system aus, in dem diese Verteilung vorliegt. Die Gleichwertigkeit aller Inertial-
systeme ist es aber, die nach üblichem Verständnis das Herzstück der speziellen

21 Die existierenden Ansätze und Versuche einer Lorentz-invarianten Verallgemeinerung werden in

Passon (2006) und Tumulka (2007) diskutiert.


5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 207

Relativitätstheorie ausmacht. Es existieren Ansätze, in denen das so ausgezeich-


nete Bezugssystem ohne jeden experimentell zugänglichen Einfluss ist und alle
Vorhersagen der relativistischen Quantentheorie reproduziert werden. Eine Neu-
bewertung des Zusammenhanges von Quantentheorie und Relativitätstheorie ist
damit aber sicherlich verbunden. Die Anhänger der DBB-Theorie erinnern in
diesem Zusammenhang mit Recht daran, dass (wie oben bereits angedeutet) diese
Nicht-Lokalität, wie sie sich in der Verletzung der Bellschen Ungleichung aus-
drückt, auch ein Teil der konventionellen Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie
ist. Deshalb besitzt aus Sicht vieler Anhänger der DBB-Theorie die konventionelle
Deutung von Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie dieses Problem ebenfalls –
verschleiert dies jedoch durch ihre vage Formulierung (vgl. hierzu auch Bricmont
(2016, S. 169–173)).
Wir verlassen damit zunächst die de Broglie-Bohm Theorie und wenden
uns mit der Everett-Interpretation einer anderen kontrovers diskutierten Deu-
tung der Quantentheorie zu. In Abschn. 5.3 werden wir im Rahmen eines Ver-
gleichs zwischen verschiedenen Interpretationsansätzen auch auf die DBB-Theorie
zurückkommen.

5.2 Die Everett-Interpretation

Im Jahr 1957 veröffentlichte der amerikanische Physiker Hugh Everett III (1930–
82) seine „Relative state“ -Formulierung der Quantenmechanik (siehe Everett
1957). Es handelt sich um die Ergebnisse seiner von John A. Wheeler betreuten
Promotion an der Universität Princeton. Ihr Ziel war eine Reformulierung der Theo-
rie, in der die diskontinuierliche Zustandsänderung überflüssig ist und stattdessen
die unitäre Zeitentwicklung der Wellenfunktion durchgängig gilt. Im Gegensatz
zur de Broglie-Bohm-Theorie wird jedoch die Vollständigkeit der quantenmechani-
schen Beschreibung behauptet und somit die dritte Aussage des Maudlin-Trilemmas
(Abschn. 2.3.1) geleugnet: Messungen scheinen bei Everett nur einen definiten
Ausgang zu haben, während tatsächlich die Wellenfunktion (mit ihren Überlage-
rungszuständen) die vollständige Beschreibung darstellt.
Leitidee Everetts war dabei, die Interpretation aus dem mathematischen Forma-
lismus abzuleiten.22 Motiviert wurde Everett explizit durch das Messproblem bzw.
die Auszeichnung eines äußeren Beobachters in der üblichen Formulierung:

No way is evident to apply the conventional formulation of quantum mechanics to a system


that is not subject to external observation. The whole interpretive scheme of that formalism
rests upon the notion of external observation. (Everett 1957, S. 455)

22 Everett selbst schreibt zu seiner Methodologie: „The wave function is taken as the basic physical

entity with no apriori interpretation. Interpretation comes only after an investigation of the logical
structure of the theory. Here as always the theory itself sets the framework for its interpretation“
(Everett 1957, S. 455).
208 O. Passon

Aber spätestens bei der Behandlung von kosmologischen Problemen könne der
Standpunkt eines äußeren Beobachters nicht mehr sinnvoll eingenommen werden,
und die Anwendbarkeit der Quantentheorie erscheine dadurch verhindert.
Neben der Begründung, wie angesichts von Überlagerungszuständen der An-
schein von definiten Messergebnissen entsteht, muss Everett ebenfalls erklären,
wie und warum die Statistik dieser Messergebnisse der Bornschen Regel genügt
(also |ci |2 der Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des jeweiligen Ergebnisses ent-
spricht). Dabei ist Everetts Arbeit selbst Gegenstand einer Interpretationsdebatte
geworden. Jeffrey Barrett schreibt dazu:

The fact that most no-collapse theories have at one time or another been attributed to Everett
shows how much the no-collapse tradition owes to him, but it also shows how hard it is to
say what he actually had in mind. (Barrett 2003, S. 90f)

Im Folgenden wollen wir in groben Zügen nachzeichnen, wie offene technische


und konzeptionelle Fragen der Arbeit von 1957 zur Entwicklung von Varianten
und Modifikationen geführt haben. Wir beginnen jedoch mit einer Darstellung der
Grundidee.

5.2.1 Die Grundidee

Everetts Umdeutung des Messproblems ist gleichermaßen verblüffend wie brillant.


Dieses Problem resultiert bekanntlich aus der Anwendung der Quantentheorie auf
den Messprozess. Im allgemeinen entsteht dadurch ein Überlagerungszustand von
z. B. verschiedenen Zeigerstellungen, während unserer Erfahrung nach Messungen
eindeutige Ergebnisse haben. Superpositionszustände scheinen unter diesem Um-
stand keine angemessene Beschreibung der physikalischen Situation zu sein. Der
drastischen Konsequenz daraus („entweder ist die Schrödinger-Gleichung falsch
oder nicht vollständig“ Bell 2001, S. 173) entgeht Everett durch folgende Über-
legung: Unter der Voraussetzung, dass die Quantentheorie auch für den Beobach-
tungsprozess anwendbar ist, gelangt der Beobachter ebenfalls in einen Überlage-
rungszustand – und diese Superposition unterminiert die Verlässlichkeit des Urteils,
das überhaupt erst an Superpositionszuständen als angemessene Beschreibung zwei-
feln ließ. Stattdessen schlägt Everett vor, jeden Term der Superposition mit einem
(gleichberechtigten) Zustand des Beobachters zu identifizieren.23 Den Ablauf von
Messungen (bzw. Beobachtungen) beschreibt er wie folgt:

We thus arrive at the following picture: Throughout all of a sequence of observation pro-
cesses there is only one physical system representing the observer, yet there is no single
unique state of the observer (. . . ). Nevertheless, there is a representation in terms of a su-
perposition, each element of which contains a definite observer state and a corresponding

23 Ermodelliert den „Beobachter“ durch ein physikalisches System, konkret eine Maschine, die
über Sensoren und Speichermedien verfügt.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 209

system state. Thus with each succeeding observation (or interaction), the observer state
„branches“ into a number of different states. (. . . ) All branches exist simultaneously in the
superposition after any given sequence of observations. (Everett 1957, S. 459)

In welchem Sinne Everett jedoch immer noch von einem Beobachter („one physical
system representing the observer“) ausgehen kann, der sich gleichzeitig in der be-
schriebenen Vielzahl von Zuständen befindet, erscheint zunächst unklar. Durch die
verschiedenen Antworten auf diese Frage ergeben sich im Wesentlichen die unter-
schiedlichen Varianten der Everett-Interpretation, die im obigen Zitat von Barrett
erwähnt wurden.

5.2.2 Die Viele-Welten-Interpretation

Bryce DeWitt und Neil Graham (1973) popularisierten durch ihre Anthologie
The Many-Worlds Interpretation of Quantum Mechanics diese Theorie und präg-
ten durch die Wahl des Titels auch ihren griffigen Namen. Sie deuten die im
Everett-Zitat erwähnte Verzweigung der Wellenfunktion vollkommen realistisch als
tatsächliche Aufspaltung in verschiedene „Welten“ und schreiben:24

The universe is constantly splitting into a stupendous number of branches, all resulting
from the measurement-like interactions between its myriads of components. Moreover, any
quantum transition taking place on every star, in every galaxy, in every remote corner of the
universe is splitting our local world on earth into myriads of copies of itself. (DeWitt und
Graham 1973, S. 161)

Mit „Welt“ ist hier die Gesamtheit (makroskopischer) Objekte gemeint, und der
menschliche Beobachter unterliegt ebenfalls dieser Aufspaltung in eine Vielzahl von
„Kopien“.
David Wallace (Wallace 2010, 4) illustriert diese erstaunliche Idee durch
eine Analogie mit der klassischen Elektrodynamik. Man denke sich eine elektro-
magnetische Feldkonfiguration F1 (r, t), die einen Lichtpuls beschreibt, der sich
von der Erde zum Mond bewegt. Eine zweite Konfiguration F2 (r, t) beschreibe

24 Es ist sehr fraglich, inwieweit dieser Vorschlag Everetts eigenem Verständnis der Theorie ent-

spricht. Da Everett nach der Promotion in der strategischen Planung des Pentagon arbeitete und
insbesondere keine weitere Veröffentlichung zur Quantentheorie mehr vorgelegt hat, kann diese
Frage nur anhand von sporadischer Korrespondenz sowie Unterlagen aus seinem Nachlass unter-
sucht werden. Aus diesen Quellen entsteht der Eindruck, dass Everett gerade keine Aufspaltung in
„Welten“ im Sinn hatte, deren Definition einen Bezug auf klassische Konzepte nötig zu machen
scheint. In mancher Hinsicht hat die aktuelle Version der Viele-Welten-Interpretation, auf die wir
im Folgenden noch näher eingehen werden, größere Ähnlichkeit mit Everetts Originalkonzeption.
Allerdings lehnte er die Sprechweise von DeWitt auch nicht kategorisch ab – zumal er ihm gegen-
über große Dankbarkeit für die Popularisierung seiner Idee empfand. Siehe hierzu Barrett (2011)
sowie den Aufsatz von Peter Byrne in Saunders et al. (2010).
210 O. Passon

einen Lichtpuls zwischen Venus und Mars. Wie, so Wallace, solle man nun die
Konfiguration

1 1
F(r, t) = · F1 (r, t) + · F2 (r, t) (5.10)
2 2

deuten? Wird hier ein Lichtpuls beschrieben, der sich gleichzeitig zwischen Erde
und Mond sowie Venus und Mars bewegt, da er in einer Superposition vorliegt?
Dies sei natürlich Unfug, stattdessen beschreibe Gl. (5.10) nicht einen „seltsamen“
Lichtpuls in einem Überlagerungszustand, sondern zwei „gewöhnliche“ Lichtpulse
an verschiedenen Orten. Wallace führt weiter aus:

And this, in a nutshell, is what the Everett interpretation claims about macroscopic quantum
superpositions: they are just states of the world in which more than one macroscopically de-
finite thing is happening at once. Macroscopic superpositions do not describe indefiniteness,
they describe multiplicity. (Wallace 2010, S. 5)

Es liegt hier aber keine räumliche Trennung vor (wie im Beispiel aus der Elektro-
dynamik), sondern – wie Wallace es ausdrückt – eine dynamische Trennung. Damit
ist gemeint, dass die parallelen Welten ohne gegenseitige Wechselwirkung, d. h.
bildlich ausgedrückt „transparent“ füreinander sind. Die zahllosen „Welten“ liegen
deshalb auch ungestört in derselben Raumzeit. Diese ist erst dann der Aufspal-
tung unterworfen, wenn die Viele-Welten-Idee auf Theorien der Quantengravitation
angewendet wird.
Die Deutung der Everett-Interpretation nach DeWitt und Graham hat Eingang
in populärwissenschaftliche Darstellungen gefunden und befeuert seitdem (nicht
nur) die Fantasie von physikinteressierten Laien und Science-Fiction-Autoren. In
einem naheliegenden Sinne wird auf diese Weise das Messproblem gelöst, denn
in jeder „ Welt“ liegt tatsächlich ein Eigenzustand des Messgerätes vor. Ob die-
se Bedingung für eine vollständige Lösung des Messproblems ausreicht, wird
jedoch von Tim Maudlin (2010) bezweifelt. In Abschn. 5.2.6 werden wir diese
Kritik an der Everett-Interpretation vorstellen. Ähnlich ist die Situation hinsicht-
lich der Frage der Nicht-Lokalität: Während Bacciagaluppi (2002) die Auffassung
vertritt, dass die Verletzung der Bellschen Ungleichung (siehe Kap. 4) hier ohne
Fernwirkungen erklärt werden kann, argumentieren Allori et al. (2011), dass die
Viele-Welten-Interpretation diesen Anschein der Lokalität nur durch ihre ungenaue
Formulierung erweckt. In Allori et al. (2011) wird eine Modifikation der Viele-
Welten-Interpretation vorgeschlagen, die ebenfalls Fernwirkungen enthält (siehe
Abschn. 5.2.6).
In der bisher skizzierten Version erscheint die Theorie jedoch noch nicht voll-
ständig. Leslie Ballentine hat darauf hingewiesen, dass die Bedeutung von Wahr-
scheinlichkeitsaussagen innerhalb der Everett-Interpretation unklar ist. Schließlich
treten alle Ereignisse tatsächlich ein (siehe Ballentine 1971, S. 233–235). Zudem
unterliegt die Verzweigung einer Mehrdeutigkeit bezüglich der Basiswahl. Diesem
Problem der „bevorzugten“ Basis wenden wir uns zunächst zu.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 211

5.2.3 Das Problem der bevorzugten Basis

Betrachten wir unser typisches Beispiel einer Überlagerung


 verschiedener Spin-
zustände (z. B. eines Silberatoms): | = √1 |↑x  + |↓x  . Möchte man die
2
Orientierung des Spins entlang der x-Richtung bestimmen, wird man diesen Zu-
stand mit einem entsprechend orientierten Stern-Gerlach-Magneten untersuchen.
Am Ende der Messung liegt der Zustand

1  
| = √ |↑x |M↑x  + |↓x |M↓x  (5.11)
2

vor. Dieser beschreibt – gemäß der Viele-Welten-Interpretation – also zwei


„Welten“, in denen die x-Komponente des Spins jeweils ↑x bzw. ↓x ist. Die Zer-
legung in Basisvektoren ist jedoch im allgemeinen nicht eindeutig und kann ebenso
in Eigenvektoren bezüglich einer anderen Messgröße erfolgen. Zum Beispiel kann
die folgende Linearkombination betrachtet werden:25

1 1
|↑z  = √ (|↑x  + |↓x ) |↓z  = √ (|↑x  – |↓x )
2 2
1 1
|M↑z  = √ (|M↑x  + |M↓x ) |M↓z  = √ (|M↑x  – |M↓x ).
2 2

Hinsichtlich dieser Basis hat der Zustand (5.11) nun die folgende Darstellung:

1  
| = √ |↑z |M↑z  + |↓z |M↓z  . (5.12)
2

Verzweigen sich die „Welten“ hinsichtlich dieser Basisvektoren, besitzt der Spin
in x-Richtung jedoch gar keinen definierten Wert und stattdessen seine z-Kom-
ponente.26 Die Wahl einer Basis ist innerhalb der Quantentheorie allerdings rein
konventionell und sollte ohne jede physikalische Bedeutung sein. Ein tatsächlicher
Unterschied zwischen den Darstellungen in (5.11) und (5.12) muss also zusätzlich
begründet werden. Mit anderen Worten: Die Wahl einer „ bevorzugten Basis“ ist
notwendig. Man mag an dieser Stelle einwenden, dass die Wahl einer spezifischen
Messanordnung genau eine solche Auszeichnung der Zeigerbasis (5.11) begründet.
In der anderen Basis (5.12) liegt dagegen in jedem Term eine Überlagerung der
verschiedenen Zustände des x-Messgerätes vor. Das Nichtauftreten (bzw. die Nicht-
beobachtbarkeit) von Superpositionen makroskopisch verschiedener Zustände soll
durch die Everett-Interpretation jedoch gerade erklärt werden – sollte also keine

25 Die Mehrdeutigkeit der Darstellung ist Gegenstand des „Theorems der biorthogonalen Zer-

legung“ (vgl. Bub 1997, S. 151). Die Zerlegung ist nur dann eindeutig, wenn alle Komponenten
unterschiedliche und von null verschiedene Koeffizienten haben.
26 Man beachte, dass es keine gemeinsamen Eigenvektoren von σ und σ gibt.
x z
212 O. Passon

Voraussetzung der Untersuchung sein. Außerdem widerspricht eine solche Aus-


zeichnung des Messvorganges natürlich dem Geist einer Interpretation, die lediglich
den Formalismus gelten lassen möchte.27
Aus heutiger Sicht fallen die Vorschläge zur Lösung dieses Problems in zwei
Klassen: Die älteren, die keinen Bezug zur Dekohärenz herstellen, und jene, die
den Dekohärenzmechanismus verwenden. Eine knappe Darstellung der Everett-
Varianten, die seit den dekohärenzbasierten Ansätzen eigentlich als veraltet gelten,
ist mit Blick auf die Diskussion des Wahrscheinlichkeitsbegriffs (Abschn. 5.2.5)
sinnvoll. Wir werfen deshalb zunächst einen kurzen Blick auf diese älteren Ansätze,
bevor wir uns in Abschn. 5.2.4 mit der Rolle der Dekohärenztheorie beschäftigen.

David Deutschs Variante der Everett-Interpretation


David Deutsch schlägt in seinen frühen Arbeiten einen Mechanismus zur Auszeich-
nung einer Basis vor (vgl. Deutsch 1985).28 Er ergänzt den quantentheoretischen
Formalismus durch einen Algorithmus, der die entsprechende Basis erzeugt. Dieser
hängt (ohne hier auf Details einzugehen) nur vom jeweiligen physikalischen Zu-
stand und seiner Dynamik ab. Eingeschränkt wird diese Wahl durch die Forderung,
dass im Falle von „Messungen“ die relevante Basis tatsächlich der „Zeigerbasis“
entspricht. Damit wird sichergestellt, dass nach einer Messung tatsächlich ein
eindeutiges Resultat vorliegt (Deutsch 1985, S. 22f).
Wallace (2010, S. 7) nennt diese Variante der Everett-Interpretation die „Viele-
exakte-Welten“ Interpretation. In Abschn. 5.2.4 werden wir sehen, dass es in der
Zwischenzeit für die Lösung des Problems der bevorzugten Basis aussichtsreichere
Kandiaten gibt und auch David Deutsch selbst diese Interpretation seit Ende der
1990er Jahre verworfen hat. Zuvor betrachten wir jedoch noch eine andere Variante
der Everett-Interpretation.

Die Many-minds-Interpretation
Die Viele-Welten-Interpretation bezieht den Akt der Beobachtung in die physika-
lische Beschreibung ein. Damit wird scheinbar vorausgesetzt, dass auch mentale
Zustände Teil der physikalischen Welt sind und den Gesetzen der Quantentheorie
unterliegen.29

27 Das hier behandelte Problem stellt sich also auch in anderen Interpretationen der Quanten-
mechanik und zeigt, dass das Messproblem eigentlich aus zwei Teilproblemen besteht: (i) dem
Problem der bevorzugten Basis und (ii) dem Problem des definiten Ausgangs einer Messung. Inner-
halb z. B. der Kopenhagener Deutung kann (i) jedoch mit dem Hinweis auf die Messanordnung
gelöst werden.
28 Dabei erwähnt Deutsch (S. 2), dass er – auf Grundlage privater Gespräche – eine Idee von

Everett aufgreift.
29 Diese Position wird als Physikalismus bezeichnet. Der Physikalismus behauptet (vereinfacht

ausgedrückt) die metaphysische These, dass alles was existiert, physikalisch ist. Er kann als Weiter-
entwicklung des Materialismus aufgefasst werden. Im Besonderen wird jeder Dualismus zwischen
physischen und geistigen Zuständen abgelehnt. Der Zusammenhang zwischen physischen (bzw.
physikalischen) und mentalen Zuständen muss dabei nicht als Identität aufgefasst werden. In der
Philosophie des Geistes ist die Sichtweise verbreitet, dass diese beiden Eigenschaftsbereiche durch
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 213

In diesem Sinne scheint (die Ausnahme werden wir gleich kennen lernen) eine
Viele-Welten-Deutung immer auch eine Theorie sich verzweigender Bewusstseins-
zustände. Diese naheliegende Bedeutung ist allerdings nicht gemeint, wenn von der
Many-minds-Interpretation gesprochen wird.
Auf Albert und Loewer (1988) geht ein prominenter Vorschlag dieser Varian-
te zurück. Motiviert wurden sie durch das Problem der bevorzugten Basis sowie
die Schwierigkeit, Wahrscheinlichkeitsaussagen in der Viele-Welten-Interpretation
einen Sinn zu geben (auf dieses Problem werden wir in Abschn. 5.2.5 genauer
eingehen).
Ausgangspunkt der Many-minds-Interpretation ist die Feststellung, dass men-
tale Zustände sich gemäß unserer Introspektion niemals in Superposition befinden.
Loewer und Albert folgern daraus, dass mentale Zustände (d. h. Überzeugungen,
Absichten, Erinnerungen etc.) nicht physikalisch sind.30
Sie postulieren nun, dass jeder Beobachter mit einer unendlichen Anzahl
„minds“ ausgestattet ist. Während im Falle einer Messung bzw. Wechselwirkung
die physischen Gehirnzustände einen Überlagerungszustand annehmen, führt ei-
ne probabilistische Zeitentwicklung dazu, dass jeweils ein Anteil dieser minds der
Wahrnehmung eines Versuchsausgangs entspricht. Dieser Vorgang findet innerhalb
einer Welt statt.
Wie steht es jedoch in dieser Interpretation um das Problem der „bevorzug-
ten Basis“? In einem naheliegenden Sinne hat die Basiswahl zur Entwicklung des
Zustandes keine physikalische Bedeutung, da es in der Many-minds-Interpretation
nur eine Welt gibt. Eine Mehrdeutigkeit bezüglich der Aufspaltung in „viele
Welten“ kann es also gar nicht geben. Jedoch hat Barrett (2003, S. 195) darauf
hingewiesen, dass die „Basis“ der Bewusstseinszustände eine vergleichbare Rolle
spielt.31
Sowohl in der Many-minds-Interpretation als auch bei Deutsch (1985) muss
also eine bevorzugte Basis postuliert werden. Diese gemeinsame Strategie bringt
auch eine gemeinsame Schwierigkeit mit sich: Alle Versuche, eine bevorzugte Ba-
sis Ad-hoc einzuführen, müssen Eigenschaften postulieren, die eine fundamentale
Theorie eigentlich erklären sollte (vgl. Wallace 2010, S. 8). Im nächsten Abschnitt
behandeln wir die Dekohärenztheorie. Mit ihr verbindet sich die Hoffnung auf ei-
ne überzeugende Lösung des Problems der bevorzugten Basis, da sie ohne solche
Ad-hoc-Annahmen auskommt.

eine „ Supervenienz-Relation“ verbunden sind. Dabei versteht man unter der Supervenienz von A
über B, dass (in Form eines Slogans) „kein A-Unterschied ohne einen B-Unterschied“ möglich ist.
Dies erlaubt auch Spekulationen über einen nicht-reduktionistischen Physikalismus.
30 Man mag die wache Selbstbeobachtung, auf deren Grundlage dieser Schluss gezogen wird, für

kein besonders starkes Werkzeug halten. In Fragen des Bewusstseins ist es jedoch das einzige
Werkzeug!
31 Wie Barrett dies für eine nicht-physikalistische Konzeption des Geistes meint bleibt jedoch

undeutlich.
214 O. Passon

5.2.4 Die Rolle der Dekohärenztheorie

In der Regel untersucht die Physik „isolierte Systeme“, d. h. betrachtet den Einfluss
der „ Umgebung“ als zu vernachlässigende Störung. Man findet nun, dass in der
Quantentheorie gerade die Einbeziehung der Wechselwirkung mit der Umgebung
zu einem konzeptionellen Fortschritt bei der Beschreibung von Messungen sowie
des klassischen Grenzwertes der Theorie führt. Die Forschungsarbeiten, die seit
den frühen 1970er Jahren auf diesem Gebiet geleistet wurden, sind dabei an kei-
ne spezielle Interpretation der Quantentheorie geknüpft und verwenden lediglich
mathematische Eigenschaften des Standardformalimus. Pioniere auf diesem Gebiet
der „Dekohärenz“32 waren Zeh (1970) und Zurek (1981). Bereits in Abschn. 2.3
war das Dekohärenz-Programm erwähnt worden. Wir greifen die dort eingeführ-
ten Begriffe auf, vertiefen sie und ordnen die Ergebnisse in den Kontext der
Everett-Interpretation ein.
Wir haben in Abschn. 5.2.3 bereits erläutert, dass die Zerlegung eines Zustandes
in Basisvektoren mehrdeutig ist. Die Zerlegungen (5.11) und (5.12) sind mathema-
tisch gleichberechtigt – ihr physikalischer Unterschied muss also begründet werden.
Der erste Schritt zur Auflösung dieses Problems gelingt nun durch eine rein
mathematische Überlegung: Betrachtet man zusätzlich die Verschränkung mit ei-
nem dritten System E (wie environment, in unserem Beispiel ebenfalls durch einen
zweidimensionalen Hilbertraum mit Zuständen |ei  dargestellt), wird man auf einen
Zustand der Form

1 1
| = √ |↑x |M↑x |e↑x  + √ | ↓x |M↓x |e↓x  (5.13)
2 2

geführt. Andrew Elby und Jeffrey Bub konnten zeigen (Elby und Bub 1994),
dass diese Zerlegung in orthogonale Zustände eines dreifachen Produktraums ein-
deutig ist.33 Damit ist in einem formalen Sinne die Mehrdeutigkeit in der Wahl
einer Basis (und der zugehörigen Messgröße) aufgehoben. Natürlich liefert dieses
rein mathematische Argument noch keinen Hinweis darauf, welche Basis ausge-
zeichnet wird – vor allem da sich die detaillierten Zustände der Umgebung einer
Beobachtung entziehen. In dieser Situation müssen physikalische Kriterien für
die Identifikation dieser eindeutigen Basis entwickelt werden, wie Schlosshauer
schreibt:

32 Das Adjektiv „kohärent“ bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch „ zusammenhängend“. Der


physikalische Fachausdruck „ kohärent“ wurde ursprünglich in der Optik geprägt und beschreibt
grob gesprochen die Voraussetzung, die verschiedene Wellen erfüllen müssen, um interferie-
ren zu können. Untechnisch ausgedrückt versucht der Dekohärenzansatz also, die Bedingungen
und Voraussetzungen zu klären, unter denen Quantenzustände diese „unklassische“ Eigenschaft
verlieren.
33 Dieses triorthogonal uniqueness theorem gilt unter recht allgemeinen Bedingungen. Die Exis-

tenz der Zerlegung ist im übrigen nicht garantiert. Der Beweis dieses Theorems findet sich auch in
Bub (1997, Kap. 5.5).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 215

The decoherence program has attempted to define such a criterion based on the interaction
with the environment and the idea of robustness and preservation of correlations. The envi-
ronment thus plays a double role in suggesting a solution to the preferred-basis problem: it
selects a preferred pointer basis, and it guarantees its uniqueness via the tridecompositional
uniqueness theorem. (Schlosshauer 2005, S. 1279)

Diese Kriterien werden also nicht postuliert, sondern folgen aus der quantentheo-
retischen Untersuchung des dynamischen Einflusses der Umgebung. Zu diesem
Zweck behandelt man anspruchsvolle Modelle der Umgebung. Die Wechselwirkung
zwischen ihr und dem Messgerät verläuft dabei in der Regel über Kraftgesetze, die
Potenzen des räumlichen Abstandes beinhalten (etwa die Coulomb-Kraft ∝ r–2 ).
Daraus folgt, dass die eindeutige Zerlegung i. d. R. die Basis des Ortsraumes aus-
zeichnet und im Falle einer Messung die „Zeigerbasis“ die relevante Basis darstellt.
Schlosshauer fasst diesen environment-induced superselection genannten Ansatz
wie folgt zusammen:

The clear merit of the approach of environment-induced superselection lies in the fact that
the preferred basis is not chosen in an ad hoc manner simply to make our measurement
records determinate or to match our experience of which physical quantities are usually per-
ceived as determinate (for example, position). Instead the selection is motivated on physical,
observer-free grounds, that is, through the system-environment interaction Hamiltonian.
The vast space of possible quantummechanical superpositions is reduced so much because
the laws governing physical interactions depend only on a few physical quantities (position,
momentum, charge, and the like), and the fact that precisely these are the properties that
appear determinate to us is explained by the dependence of the preferred basis on the form
of the interaction. The appearance of classicality is therefore grounded in the structure of
the physical laws – certainly a highly satisfying and reasonable approach. (Schlosshauer
2005, S. 14f)

Dieses Zitat verdeutlicht erneut, dass die Ergebnisse zur Dekohärenz an keine
spezielle Interpretation der Quantentheorie geknüpft sind bzw. innerhalb jeder
Interpretation angewendet werden können.34
Da die Wechselwirkung mit der Umgebung quantenmechanisch beschrie-
ben wird (also durch eine unitäre Zeitentwicklung), bleibt die Kombination aus
Objekt+Messgerät+Umgebung in einem sog. „ reinen“ Zustand. Dieser Gesamt-
zustand wird also im allgemeinen sowohl die Überlagerung verschiedener Zeiger-
stellungen als auch Interferenzterme enthalten. Der genaue Zustand der Umgebung
entzieht sich aber nicht nur der Beeinflussung, sondern in der Regel auch der
Beobachtung. Berechnet man die Vorhersagen für die tatsächlichen Beobach-
tungsgrößen am Teilsystem Objekt+Messgerät, gewinnt man ein Ergebnis, das
praktisch keine Interferenzterme mehr besitzt.35 Dieser Teil des Programms wird

34 für den Anhänger der de Broglie-Bohm-Theorie leisten die Ergebnisse zur Dekohärenz zum

Beispiel eine genauere Begründung des sog. „effektiven Kollaps“ der Wellenfunktion (vgl.
Abschn. 5.1.5).
35 Technisch ausgedrückt bildet man in der Dichtematrix die Spur über die Freiheitsgrade der

Umgebung. Dadurch wird sie (in der bevorzugten Basis) näherungsweise diagonal. Die Neben-
diagonalelemente aber sind es gerade, die für Interferenzeffekte verantwortlich sind.
216 O. Passon

als environment-induced decoherence bezeichnet und besteht zusammenfassend al-


so darin, aus einer kohärenten Überlagerung („reiner Zustand“) eine inkohärente
(oder „dekohärente“ – daher der Name) Überlagerung bezüglich einer eindeutig de-
finierten Basis zu machen. Aus einem naheliegenden Grund stellt dieser Vorgang
allein noch keine Lösung des Messproblems dar, denn er erklärt immer noch nicht,
welcher Zweig dieser nun dekohärenten Überlagerung dem Ausgang der Messung
entspricht. In Fußnote 27 wurde das Messproblem in die Teilprobleme (i) „bevor-
zugte Basis“ und (ii) „definiter Ausgang“ unterteilt. Die Dekohärenztheorie löst also
lediglich das erste Teilproblem.
für die Everett-Interpretation stellt sich diese Frage natürlich nicht: In ihrem
Kontext definiert die auf diese Weise bevorzugte Basis die Aufspaltung in unabhän-
gige „Welten“. Diese sind jedoch nicht „exakt“ (wie etwa im Vorschlag von Deutsch
1985), sondern lediglich Näherungen. Schließlich wird die bevorzugte Basis in
einem dynamischen Prozess approximativ ausgezeichnet.
Nach David Wallace (2010, S. 11) besteht seit Mitte der 1990er Jahre ein
breiter Konsens unter Physikern, dass das Problem der bevorzugten Basis durch
die umgebungsinduzierte Dekohärenz gelöst ist. Lediglich in Teilen der Wiss-
enschaftsphilosophie werde kritisiert, dass der approximative dynamische Prozess
der Dekohärenz verwendet wird, um Objekte zu definieren, die man „ontologisch
ernst nimmt“. Nach Wallace handelt es sich bei den quasi-klassischen Zweigen
der Wellenfunktion um „emergente Strukturen“, deren ontologischer Status zum
Beispiel jenem der Temperatur in der statistischen Mechanik entspricht (siehe den
Aufsatz von Wallace in Saunders et al. 2010, S. 53).
Die Everett-Interpretation hat mit diesen Arbeiten einen beträchtlichen
Aufschwung erlebt.36 Die dekohärenzbasierte Viele-Welten-Interpretation ist
ontologisch sicherlich weniger extravagant als die Versionen von DeWitt und
Graham (1973), Deutsch (1985) oder Albert und Loewer (1988). Die Definiti-
on der „Welten“ beruht hier auf einem dynamischen Prozess, der mit Mitteln des
Standardformalismus analysiert werden kann. Zudem besitzt dieser Ansatz eine na-
heliegende relativistische Verallgemeinerung. Als größte offene Frage verbleibt der
Status von Wahrscheinlichkeitsaussagen, dem wir uns nun zuwenden.

5.2.5 Wahrscheinlichkeit in der Everett-Interpretation

Betrachtet man innerhalb der Kopenhagener Deutung einen Zustand | =



i ci |ψi , bedeutet das Amplitudenquadrat |ci | die Wahrscheinlichkeit, bei einer
2

Messung der entsprechenden Observablen am System | den Zustand |ψi  zu er-
halten. In der de Broglie-Bohm-Theorie gilt dieselbe Aussage – hier allerdings auf

36 Gelegentlichwerden auf wissenschaftlichen Konferenzen (nicht ganz ernst gemeinte) Um-


fragen durchgeführt, welcher Interpretation der Quantentheorie die Teilnehmer anhängen.
Tegmark (1998) berichtet von dem Ergebnis einer solchen Befragung auf einem Workshop zur
Quantentheorie, nach der die Everett-Interpretation die beliebteste Alternative zur Kopenhagener
Deutung darstellt.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 217

der Grundlage, dass die Konfiguration der Teilchen diesen Teil der Wellenfunktion
auszeichnet. In der GRW-Theorie schließlich handelt es sich um die Wahrschein-
lichkeit, dass der dynamische Kollaps der Wellenfunktion des Messgerätes zu
diesem Zustand des Systems führt. In all diesen Fällen gibt es zwei Voraussetzungen
für eine sinnvolle Anwendbarkeit des Wahrscheinlichkeitskonzepts: Verschiedene
mögliche Ausgänge sowie Unkenntnis über das tatsächliche Resultat. Innerhalb
der Viele-Welten-Interpretation treten jedoch alle Ergebnisse mit Sicherheit ein. Es
erscheint also zunächst unklar, worauf sich in diesem Zusammenhang Wahrschein-
lichkeitsaussagen überhaupt beziehen können („Inkohärenzproblem“) – geschweige
denn, warum diese Wahrscheinlichkeiten |ci |2 entsprechen sollten („quantitatives
Problem“). Genau diese beiden (jedoch eng zusammenhängenden) Aspekte werden
in der Diskussion des Wahrscheinlichkeitsproblems unterschieden.
Der Status von Wahrscheinlichkeitsaussagen innerhalb der Everett-Interpretation
hat zu einer technisch und konzeptionell hoch komplexen Debatte geführt. Einige
wichtige Beiträge dieser Diskussion wollen wir im Folgenden darstellen. Auch hier
zeigt sich, dass mit dem Aufkommen der Dekohärenztheorie eine Zäsur innerhalb
der Debatte verbunden war.

Das Inkohärenzproblem
Natürlich hat das Amplitudenquadrat |ci |2 in der Everett-Interpretation immer noch
die mathematischen Eigenschaften, die es formal zu einem Wahrscheinlichkeitsmaß
(auf der Menge der Verzweigungen) qualifizieren. Jedoch sind die ci eben „Ver-
zweigungsamplituden“, und jeder Zweig beansprucht in dieser Deutung dieselbe
Realität. Sowohl Everett als auch später DeWitt und Graham scheinen diesen Unter-
schied nicht ausreichend gewürdigt zu haben, denn sie behaupteten, die Bornsche
Regel sogar herleiten zu können:

The conventional probability interpretation of quantum mechanics thus emerges from the
formalism itself. (DeWitt und Graham 1973, S. 163)

Diese Behauptung stützen DeWitt und Graham auf das folgende mathematische
Resultat:37 Betrachtet man eine Serie von N Messungen an einem Überlage-
rungszustand mit Koeffizienten ci , wird im Grenzwert N → ∞ der Zustand des
Gesamtsystems (= N Messapparate + N Systeme) gegen einen Eigenzustand des
sog. „ relativen Häufigkeitsoperators“ für den Messwert i konvergieren. Dieser
Operator misst – wie der Name sagt – gerade die relative Häufigkeit, mit der
das Experiment den Ausgang i genommen hat. Als zugehöriger Eigenwert ergibt
sich nun tatsächlich der Wert |ci |2 . Darin einen Beweis der Bornschen Regel zu
sehen, verkennt jedoch, dass bei realen Experimenten der Wert für N immer end-
lich ist und daher Zweige mit abweichender Statistik vorkommen. Nun wird man
mit Recht erwarten, dass deren Amplitudenquadrat „klein“ ist. Die Behauptung,
dass diese Ereignisse damit auch mit einer geringen Wahrscheinlichkeit auftreten,

37 Dieser
Satz wurde von Neil Graham 1970 im Rahmen seiner von DeWitt betreuten Promotion
gefunden. Bereits 1968 hatte James Hartle ein äquivalentes Resultat bewiesen.
218 O. Passon

gilt jedoch nur, falls das Quadrat der Verzweigungsamplituden tatsächlich mit ei-
ner Wahrscheinlichkeit identifiziert wird. Damit ist das Argument jedoch zirkulär,
denn diese Identifikation soll ja gerade begründet werden (vgl. Barrett 2003, S. 163;
Deutsch 1985, S. 20 oder Ballentine 1971, S. 234).
Eine echte Lösung des Inkohärenzproblems hat David Deutsch in derselben
Arbeit vorgeschlagen, in der er auch die Frage der bevorzugten Basis behandelt hat.
Sie geht auf die Intuition zurück, dass der wahrscheinlichere Ausgang auch der häu-
figere ist. Während bei DeWitt einzelne Welten verzweigen, postuliert Deutsch eine
(überabzählbar) unendliche Anzahl identischer Kopien derselben Welt (siehe Axi-
om 8 in Deutsch 1985, S. 20). Im Falle einer Messung (mit i möglichen Messwerten)
verzweigt nun ein relativer Anteil pi in Welten mit dem entsprechenden Versuchs-
ausgang. Dieser Anteil entspricht dann der Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des
Ereignisses i (in „ meiner“ Welt). Deutsch löst das Inkohärenzproblem also durch
eine Ergänzung der „Ontologie“ der Theorie.
Die Many-minds-Interpretation von Albert und Loewer (1988) verfährt struktu-
rell identisch. Wie wir gesehen haben, werden auch dort jedem Beobachterzustand
unendlich viele minds zugeordnet. Diese sollen im Falle einer Messung (mit i mögli-
chen Messwerten) ebenfalls zu einem Bruchteil pi den Bewusstseinsinhalt „ Ereignis
i ist eingetreten“ annehmen.
Setzt man nun diesen Anteil pi der minds bzw. Welten (bei Deutsch) gleich
dem Amplitudenquadrat |ci |2 , erhält man ebenfalls eine (Ad-hoc) Lösung des
quantitativen Problems.38
Diese beiden Vorschläge basieren natürlich auf speziellen Lösungen des Pro-
blems der bevorzugten Basis (vgl. Abschn. 5.2.3), die mit dem Aufkommen der
dekohärenzbasierten Ansätze als überholt gelten. Es liegt hier also die kuriose Si-
tuation vor, dass gerade die (in den Augen vieler Physiker) überzeugende Lösung
des Problems der bevorzugten Basis dazu führt, dass der Wahrscheinlichkeitsbegriff
erneut wie ein Fremdkörper in der Everett-Interpretation erscheint.
Es existieren nun verschiedene Ansätze, als Ausweg aus diesem Dilemma
zunächst einen Begriff von „Unsicherheit“ bzw. „Unbestimmtheit“ innerhalb der
Everett-Interpretation zu begründen. Dieser erscheint vielen Autoren als not-
wendige Bedingung dafür, dass Wahrscheinlichkeitsaussagen überhaupt sinnvoll
getroffen werden können.
Vaidman (1998) hat einen solchen Versuch unternommen. Er betrachtet eine
Messung, deren mögliche Ausgänge mit A und B bezeichnet werden. Zwar, so Vaid-
man, sei in der Welt A die Wahrscheinlichkeit für den Ausgang A trivialerweise 1,
jedoch könne ein Experimentator in der Welt A über diesen Umstand durchaus in

38 DieMany-minds-Interpretation erkauft die Lösung des Wahrscheinlichkeitsproblems jedoch


durch einen Substanzdualismus, der in der aktuellen Philosophie des Geistes nur von einer kleinen
Minderheit vertreten wird. Dieses Problem motivierte Michael Lockwood (1996), eine Variante
der Many-minds-Interpretation vorzuschlagen, die ohne Dualismus und probabilistische Dyna-
mik auskommt. Ironischer weise ist jedoch umstritten, ob Lockwoods Theorie eine plausible
Wahrscheinlichkeitsdeutung zulässt (siehe Barrett 2003, S. 206–211).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 219

Unkenntnis sein – etwa solange der Beobachter in Welt A sein Messgerät noch nicht
abgelesen hat.
Ob diese Form der Unkenntnis ausreicht, den Begriffen Wahrscheinlichkeit und
Zufall eine sinnvolle Bedeutung zu geben, ist jedoch unklar. David Albert (siehe
Albert 2010, S. 367f) wendet ein, dass diese Unsicherheit zum einen vermeidbar ist
und zudem erst nach Durchführung des Experiments auftritt.
Simon Saunders hat eine stärkere Version dieser „subjektiven Unbestimmtheit“
entwickelt, die sich dem Anspruch nach auch auf Situationen vor Durchführung
einer Messung anwenden lässt. Er argumentiert, dass die Verzweigung in ver-
schiedene Welten subjektiv indeterministisch verläuft. Auf der Grundlage einer
spezifischen Definition von „personaler Identität“ sieht Saunders in jeder „Kopie“
des Beobachters ein zukünftiges Selbst des ursprünglichen Beobachters. In diesem
Sinne dürfe die Person vor einer Messung Unsicherheit darüber erleben, welche
Person sie nach einer Messung sei (vgl. Saunders 1998). Eine andere Begrün-
dung von subjektiver Unbestimmtheit in der Everett-Interpretation geht auf David
Wallace zurück, der die Semantik von Wahrscheinlichkeitsaussagen zum Ausgangs-
punkt macht (vgl. Wallace 2005). Diese Ergebnisse sind jedoch Gegenstand einer
kontroversen Debatte (vgl. etwa Greaves 2004 für Kritik an diesen Positionen). Am
Ende des nächsten Unterabschnitts werden wir noch einen weiteren Vorschlag zur
Behandlung des Inkohärenzproblems kennen lernen.

Das quantitative Problem


Stellen wir für einen Augenblick das Inkohärenzproblem zurück und wenden uns
der Frage zu, warum Wahrscheinlichkeitsaussagen in der Everett-Interpretation
gerade der Bornschen Regel genügen sollten. Etwa wäre der Gedanke naheliegend,
im Falle einer Aufspaltung in N Welten jedem Zweig dieselbe Wahrscheinlichkeit
1
N zuzuordnen. Schließlich wird auch ihre gleiche „Realität“ behauptet. Diese Stra-
tegie verbietet sich jedoch in der dekohärenzbasierten Everett-Interpretation, da
auf die dynamisch und approximativ definierten Welten gar kein Abzählargument
angewendet werden kann.
Einige Autoren bezweifeln jedoch die Berechtigung, mit der von der Everett-
Interpretation eine positive Begründung der Bornschen Regel verlangt wird (vgl.
Saunders 1998, S. 384 sowie den Beitrag von Papineau in Saunders et al. 2010).
Die Bornsche Regel könne hier ebenso postuliert werden wie in der üblichen
Quantentheorie (sowie analoge Aussagen in anderen Theorien) – der Status von
Wahrscheinlichkeitsaussagen wäre dann ebenso gut (oder schlecht) wie in anderen
Bereichen der Physik.
Eine vollkommen neue Wendung hat diese Diskussion durch die Arbeit von
Deutsch (1999) genommen (dieser Ansatz wurde durch Wallace (2003) präzisiert).
In ihr hat David Deutsch Methoden und Ergebnisse der Entscheidungstheorie in
einen quantentheoretischen Kontext übertragen und behauptet, die Bornsche Regel
sogar herleiten zu können.
Die (klassische) Entscheidungstheorie modelliert Entscheidungsprozesse, die
„rationale Akteure“ in Situationen der Ungewissheit ausführen. Wahrscheinlichkeiten
220 O. Passon

werden hier also funktional gedeutet, nämlich als Faktoren, die das Verhalten leiten.
Die Grundbegriffe dieser Theorie sind „Zustände der Welt“ (si ∈ S), „Handlungen“
(A, B, . . .), deren „Konsequenzen“ (C) sowie „Präferenzen“, die ein Akteur den
Handlungen zuordnet. Diese Präferenzen definieren eine Ordnung auf der Menge
der Handlungen: A ≥ B ≥ C · · · (sprich: „Handlung A wird gegenüber B bevorzugt;
diese gegenüber C etc.“).
Formal sind Handlungen Abbildungen zwischen den Zuständen der Welt und
den Konsequenzen (A(s) ∈ C). Der betrachtete Akteur besitzt nur unvollständige
Kenntnis über den tatsächlichen Zustand der Welt – und damit auch über die Konse-
quenzen seiner Handlungen. Die Entscheidungstheorie kann nun das sogenannte „
Darstellungstheorem“ beweisen: Unterliegen die Präferenzen für Handlungen sog.
Rationalitätsbedingungen,39 können diese Präferenzen durch eine eindeutige Nütz-
lichkeitsfunktion U für die Konsequenzen sowie ein Wahrscheinlichkeitsmaß p für
die Zustände ausgedrückt werden:

EU(A) = p(si ) · U(A(si )). (5.14)


si ∈S

In diesem Ausdruck steht EU(A) für expected utility (also: „erwartete Nützlichkeit“
der Handlung), und die vom Akteur beschlossene Bevorzugung der Handlung A ge-
genüber der Handlung B übersetzt sich in die Bedingung EU(A) > EU(B). Greaves
fasst diesen Zusammenhang wie folgt zusammen:

This result guarantees an operational role for subjective probability: any rational agent
will (at least) act as if she is maximizing expected utility with respect to some probability
measure. (Greaves 2007, S. 113)

Diese Zusammenhänge werden gerne in einem ökonomischen Kontext dargestellt,


nämlich als das rationale Verhalten, seinen Einsatz bei Wetten zu wählen.
David Deutsch und David Wallace können ein analoges Resultat für die Everett-
Interpretation beweisen, wenn sie folgende Identifikationen vornehmen: „Zustände
der Welt“ entsprechen der Menge an Verzweigungen nach Durchführung einer
spezifischen Messung, „Handlungen“ entsprechen den Wetten auf spezifische Mess-
ergebnisse (in einem „Quantenspiel“) und „Konsequenzen“ dem Gewinn (bzw.
Verlust), im Falle des Eintretens eines bestimmten Ergebnisses. Mit Hilfe analo-
ger „Rationalitätsbedingungen“ gelingt nun der Beweis eines Darstellungstheorems
wie Gl. (5.14). Für das Wahrscheinlichkeitsmaß findet man gerade das Ampli-
tudenquadrat pi = |ci |2 . Der rationale Akteur wird sich also so verhalten, als ob

39 Der Begriff „Rationalität“ wird hier in einem sehr schwachen Sinne verwendet. Die Entschei-
dungstheorie untersucht logische Einschränkungen an Präferenzen und hat keinen Anspruch, diese
inhaltlich zu bestimmen. Eine typische Rationalitätsforderung ist die Transitivität von Präferen-
zen: Bevorzuge ich Handlung A vor Handlung B sowie B vor C, so muss auch A der Vorzug vor C
gegeben werden.
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 221

die multiplen Verzweigungen Alternativen darstellen, deren Eintreten durch die


Bornsche Wahrscheinlichkeitsregel gegeben ist.40
In den Augen der Anhänger dieser Position ist damit der Wahrscheinlichkeits-
begriff in der Everett-Interpretation sogar besser aufgehoben als in allen anderen
physikalischen Theorien. Statt ein besonderes Problem darzustellen, wäre die
Rolle der Wahrscheinlichkeit nun sogar ein starkes Argument für die Viele-Welten-
Interpretation.
Mit diesem Resultat wurde die Diskussion jedoch keineswegs beendet, denn es
herrscht keine Einigkeit darüber, wie schlüssig die Voraussetzungen für den Beweis
begründet werden können. Einige Autoren bezweifeln, dass tatsächlich nur nicht-
probabilistische Teile von Entscheidungs- und Quantentheorie in die Beweisführung
eingehen. Damit wäre die behauptete Begründung einer Wahrscheinlichkeitsregel
natürlich hinfällig (vgl. Hemmo und Pitowsky 2007).
Ebenfalls problematisch ist die Tatsache, dass die Entscheidungstheorie Hand-
lungen in „Situationen der Ungewissheit“ untersucht. Ihre Anwendbarkeit hängt
also auch wieder von der Frage ab, ob „Ungewissheit“ in der Everett-Interpretation
überhaupt vorliegt (bzw. deren subjektiver Anschein schlüssig begründet werden
kann). Dies ist im Kern natürlich wieder das Inkohärenzproblem des letzten Ab-
schnitts. Hier nun vertritt Hilary Greaves eine radikale Position: Sie gesteht
freimütig ein, dass genuine Wahrscheinlichkeit und subjektive Unsicherheit tatsä-
chlich keinen Platz innerhalb der Everett-Interpretation haben. Sie vertritt (Greaves
2004) die Position, dass im Rahmen des entscheidungstheoretischen Programms
diese auch gar nicht notwendig seien, und argumentiert, dass die Rationalitä-
tsbedingungen auch in einem Kontext von sich (deterministisch) verzweigenden
Welten begründet werden können. Das zugehörige Maß p(si ) könne hier natürlich
nicht sinnvoll „Wahrscheinlichkeit“ genannt werden. Greaves schlägt stattdessen die
Bezeichnung caring measure vor und beschreibt seine Bedeutung mit den Worten:

We might instead call it the agent’s ‚caring measure‘, since the measure quantifies the extent
to which (for decision-making purposes) the agent cares about what happens on any given
branch. (Greaves 2007, S. 118)

Der rationale Akteur handelt also so, dass die erwartete Nützlichkeit über alle
Zweige der Wellenfunktion hinsichtlich des |ci |2 -Maßes maximiert wird, weil er
weiß, dass tatsächlich alle Ergebnisse realisiert werden.
Ein weiterer Einwand gegen die entscheidungstheoretische Begründung von
Wahrscheinlichkeit bezieht sich darauf, dass dieses Programm voraussetzt, dass der
rationale Akteur die Gültigkeit der Everett-Interpretation annimmt. Welche Argu-
mente gibt es jedoch dafür? Diese Frage berührt das sog. Evidenzproblem der
Everett-Interpretation, also die Frage, wie durch Messergebnisse eine Bestätigung

40 Damit trifft die Everett-Variante des Darstellungstheorems sogar eine stärkere Aussage als ihr

Pendant in der klassischen Entscheidungstheorie. Dieses legt nämlich das Wahrscheinlichkeitsmaß


nur relativ zu den jeweiligen Vorlieben des Akteurs fest. Von diesen Präferenzen gibt es jedoch
mehrere, die die Rationalitätsbedingungen erfüllen!
222 O. Passon

dieser Theorie herbeigeführt werden kann. Innerhalb der Everett-Interpretation tritt


bei einer Serie von Messungen eine Aufspaltung in Zweige der Wellenfunktion auf,
die jeder beliebigen statistischen Verteilung der Messwerte entsprechen. Das Auf-
treten einer Verteilung, die von der Bornschen Vorhersage beliebig stark abweicht,
wäre also gar kein Grund, an der Quantentheorie zu zweifeln, sondern geradezu
erwartbar. Einen Vorschlag zur Lösung dieses Problems machen Greaves und Myr-
vold (siehe Saunders et al. 2010, S. 264ff). Diesen Autoren zufolge können die
entscheidungstheoretisch begründeten „Verzweigungs-Gewichte“41 ebenfalls eine
bestätigungstheoretische Rolle spielen.

5.2.6 Kritik an der Everett-Interpretation

Der problematische Status von Wahrscheinlichkeitsaussagen innerhalb der Everett-


Interpretation war bereits Inhalt des vorigen Abschnitts. Wenden wir uns also direkt
einem anderen naheliegenden Einwand zu, nämlich der Extravaganz dieser Theorie.
David Wallace bemerkt am Ende eines Aufsatzes zur Everett-Interpretation:

I have left undiscussed the often-unspoken, often-felt objection to the Everett interpretation:
that it is simply unbelievable. This is because there is little to discuss: that a scientifc theory
is wildly unintuitive is no argument at all against it, as twentieth century physics proved
time and again. (Wallace 2010, S. 23)

Gegen diese lapidare Bemerkung lässt sich einwenden, dass die Everett-Inter-
pretation in ihrer Anwendung des „ wissenschaftlichen Realismus“ weiter geht als
andere Theorien der modernen Physik. Der wissenschaftliche Realist vertritt die
Auffassung, dass der Erfolg einer wissenschaftlichen Theorie am besten dadurch
zu erklären ist, dass man die Existenz der von ihr postulierten Objekte und Eigen-
schaften annimmt (vgl. Bartels 2007). Diese These bezieht sich also ausdrücklich
auf nicht direkt beobachtbare Objekte wie Quarks, schwarze Löcher etc.42 Die
Anhängerin der Everett-Interpretation folgert in genau diesem Sinne, dass die Ver-
zweigung der Wellenfunktion die Existenz paralleler Welten impliziert. Besonders
treffend beschreibt Ballentine diesen Sachverhalt:

Rather than deny that a state vector can be a complete model of the real world, Everett and
DeWitt choose to redefine „the real world“ so that a state vector [. . .] can be a model of it.
(Ballentine 1971, S. 232)

Die modernen (dekohärenzbasierten) Ansätze scheinen jedoch den ontologischen


Status der Viele-Welten-Interpretation deutlich verbessert zu haben. Die fast will-
kürliche Vervielfachung der Universen bzw. minds innerhalb der frühen Variante

41 DerBegriff „Wahrscheinlichkeit“ wird hier also wieder vermieden.


42 Tatsächlichsind auch Varianten des wissenschaftlichen Realismus möglich, die mit Theorien
einen Wahrheitsanspruch verknüpfen, während die betreffenden Entitäten nicht realistisch gedeutet
werden (siehe Russells Position in Hacking 1983, S. 27).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 223

von David Deutsch oder der Many-minds-Interpretation nach Albert und Loewer
wird hier immerhin überflüssig.
Die Lösung des Messproblems der Viele-Welten-Interpretation beruht auf ei-
ner weiteren starken metaphysischen Annahme: Um auf „externe Beobachter“ zu
verzichten, bezieht sie die Messung und Beobachtung in die sich verzweigenden
Welten ein. Dies setzt voraus, das die mentalen Zustände des Beobachters ebenfalls
quantentheoretisch beschrieben werden können.43 Dieser Physikalismus ist zwar
eine verbreitete Position, jedoch wird in der Philosophie des Geistes kontrovers
diskutiert, ob auf dieser Grundlage das Qualia-Problem oder die typische Intentio-
nalität mentaler Zustände erklärt werden können. Die Lösung des Messproblems an
diese Voraussetzung zu knüpfen, erscheint zumindest ungeschickt.
Eine noch viel grundsätzlichere Kritik übt Tim Maudlin (vgl. Maudlin 2010).
Er bezweifelt, dass die Everett-Interpretation tatsächlich eine Lösung des Mess-
problems darstellt. Nach üblicher Auffassung (etwa auch gemäß Maudlin 1995!)
besteht das Messproblem im Wesentlichen darin, die Superposition makroskopisch
verschiedener Zustände (also verschiedener Zeigerstellungen, toter und lebendiger
Katzen etc.) zu interpretieren. Nach dieser Lesart ist dann die Messung an ei-
nem Eigenzustand unproblematisch. Sei |M0  der Zustand eines Messgerätes vor
der Messung und |ψ1  der Eigenzustand eines Systems hinsichtlich der Größe,
die von M gemessen wird. Dann liegt liegt nach seiner Messung der Gesamtzu-
stand |M1 |ψ1  vor. Maudlin bezweifelt nun die vorgebliche Einfachheit dieses
Spezialfalles und stellt die Frage, in welchem Sinne ein Zustand (etwa |M1 ) in
einem hochdimensionalen Vektorraum überhaupt den definierten räumlichen Zu-
stand eines Messgerätes („ Zeiger auf Stellung 1“) repräsentieren kann. Er kritisiert
die übliche Sprechweise, nach der die Wellenfunktion auf dem Konfigurations-
raum definiert ist, denn die „räumliche Konfiguration“ aller Teile, die durch einen
Punkt dieses Konfigurationsraumes dargestellt wird, ist gar nicht Bestandteil aller
Interpretationen der Quantentheorie. Während in der de Broglie-Bohm-Theorie die
räumliche Konfiguration aller Teile auf dem R3 expliziter Bestandteil der Beschrei-
bung ist, kann sich in einer „ wellenmonistischen“ Theorie auf dieses Konzept gar
nicht bezogen werden (siehe Maudlin 2010, S. 126f). Dem Vertreter der Everett-
Interpretation (und dasselbe trifft auf einige Varianten der GRW-Theorie zu) fehlen
nach Maudlin somit die Ressourcen, um eine Verbindung zu den lokalisierten
Objekten unserer niedrigdimensionalen Raumzeit herzustellen:

For if the result of a measurement consists in, say, a pointer pointing a certain way, and if
a pointer is made of particles, then if there are no particles there is no pointer and hence no
outcome. All of this talk of a wavepacket „representing“ an outcome is unfortunate: what
the wavefunction monist has to defend is that the outcome just is the wavefunction taking a
certain form (in some high-dimensional space). (Maudlin 2010, S. 130)

Nach Maudlin verdecken die technischen Diskussionen um den Wahrschein-


lichkeitsbegriff in der Everett-Interpretation damit einen entscheidenden Punkt:

43 Albertund Loewer (1988) formulieren im Gegensatz dazu in ihrer Many-minds-Interpretation


eine dualistische Position.
224 O. Passon

Die gesuchten Wahrscheinlichkeiten müssten nicht nur Wahrscheinlichkeiten für


physikalische Ereignisse sein, sondern für die richtigen physikalischen Ereig-
nisse. „Richtig“ bezieht sich hier natürlich auf das Vermögen, eine Verbindung zu
Elementen unserer physikalischen Welt im oben beschriebenen Sinne herzustellen.
Tatsächlich existiert mit der Arbeit von Allori et al. (2011) eine Variante der
Viele-Welten-Interpretation, die dem Einwand von Maudlin Rechnung trägt. Wir
werden allerdings sehen, dass diese Modifikation auf die Grundannahme aller bis-
herigen Viele-Welten-Interpretationen verzichtet, ein physikalisches System durch
die Wellenfunktion allein zu beschreiben.44 Da es aber diese formale Einfachheit
ist, die die Anhänger der Viele-Welten-Interpretation als ihr Hauptmerkmal hervor-
heben, handelt es sich natürlich aus ihrer Perspektive um keine ernstzunehmende
Variante.
Werfen wir einen kurzen Blick auf diese Arbeit, die auch einen interessan-
ten wissenschaftshistorischen Bezug herstellt. In Allori et al. (2011) wird nä-
mlich zunächst der ursprüngliche Vorschlag von Schrödinger (1926) analysiert,
die Wellenfunktion „realistisch“ zu deuten. Demnach soll im Ein-Elektronen-Fall
die Ladungsdichte durch den Ausdruck e · |ψ|2 gegeben sein. Für den Mehr-
Elektronen-Fall formuliert Schrödinger eine Vorschrift, die über die zusätzlichen
Koordinaten des Konfigurationsraums integriert. Bekanntlich führt die Dynamik der
Schrödinger-Gleichung im allgemeinen dazu, dass diese Ladungsdichte in kurzer
Zeit auf große Raumbereiche verteilt wäre. Dies ist auch der Grund, aus dem Schrö-
dinger diese Deutung der Wellenfunktion rasch verwarf.45 Allori et al. scheint dieser
Schritt jedoch voreilig gewesen zu sein, denn während Schrödingers Idee tatsäch-
lich als „Eine-Welt“ -Theorie im Widerspruch zu punktförmigen Ladungen steht,
kann seine Idee auf naheliegende Weise zu einer Viele-Welten-Theorie umgedeutet
werden. Statt der Ladungsdichte verwenden Allori et al. übrigens aus technischen
Gründen die Massendichte m(x, t) (siehe Fußnote 1 auf S. 4 in ihrer Arbeit):

N 
m(x, t) = mi d3 x1 · · · d3 xN δ(x – xi )|ψ(x1 , · · · , xN )|2 (5.15)
i=1

Die Massendichte an einem Punkt x wird also dadurch gewonnen, dass die
Wahrscheinlichkeitsdichte |ψ|2 über den gesamten restlichen Konfigurationsraum
integriert wird (dies ist genau analog zur Vorschrift in Schrödinger 1926). Der Viele-
Welten-Charakter dieser Theorie ist nun offensichtlich: Verzweigt sich zum Beispiel
die Wellenfunktion von Schrödingers Katze in die disjunkten Anteile ψlebendig und
ψtot , wird (5.15) auf wechselwirkungsfreie Massendichten mlebendig und mtot führen.
Die durch diese Massendichten beschriebenen Objekte können bildlich gesprochen
als „ reciprocally transparent“ (Allori et al. 2011, S. 7) betrachtet werden.

44 Damit besteht eine konzeptionelle Ähnlichkeit zur de Broglie-Bohm-Theorie, die bei einem
Blick auf die Autorenliste auch nicht verwundert: Mit Valia Allori, Sheldon Goldstein, Roderich
Tumulka und Nino Zanghì finden wir hier profilierte Vertreter der Bohmschen Mechanik.
45 Auf diese Schwierigkeit wurde Schrödinger von Hendrik Antoon Lorentz brieflich im März 1926

aufmerksam gemacht (Jammer 1974, S. 31).


5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 225

Allori et al. bezeichnen die (im Vergleich zur üblichen Viele-Welten-


Interpretation) zusätzlich eingeführte Massendichte m(x, t) als die primitive on-
tology (PO) ihrer Theorie.46 Sie verweisen auf die Notwendigkeit einer solchen
Struktur, um, wie im Maudlin-Argument, mit einer physikalischen Theorie ma-
terielle Objekte im Anschauungsraum zu beschreiben.47 Wie eingangs bereits
erwähnt, wird die Leitidee Everetts, mit der Wellenfunktion allein zu arbeiten,
bei dieser Theorie bewusst missachtet. Während also formal die Maudlin-Kritik
an der Viele-Welten-Interpretation durch diese Variante entkräftet wird, zielt sie in-
haltlich eher auf das Gegenteil, denn es gibt keinen Grund, diese Variante nun der
de Broglie-Bohm-Theorie vorzuziehen.

5.3 Zusammenhang zwischen den verschiedenen


Interpretationen

Wir wollen dieses Kapitel mit einer knappen Zusammenfassung schließen, die vor
allem einige Zusammenhänge zwischen Bohm, Everett und den im zweiten Kapitel
vorgestellten Deutungen (Ensemble- und Kopenhagener-Interpretation) herstellt.
Sowohl die de Broglie-Bohm-Theorie als auch die Everett-Interpretation der
Quantenmechanik verzichten auf eine unstetige Zustandsänderung der Wellen-
funktion („Kollaps“). Beide Interpretationen beinhalten also tatsächlich sämtliche
Zweige der sich bei jeder Wechselwirkung aufspaltenden Wellenfunktion. Die
Nichtbeobachtbarkeit von Überlagerungen makroskopisch verschiedener Zustände
(etwa beim Akt der Messung – aber die Messung ist natürlich nur ein typisches Bei-
spiel für die Wechselwirkung mit einem makroskopischen Objekt) muss in beiden
Deutungen also begründet werden. Für die Lösung dieses Problems wählen sie
unterschiedliche Strategien.
Die Bohmsche Lösung des Messproblems besteht darin, dass die zusätzlich
eingeführte räumliche Konfiguration der „ Bohmschen Teilchen“ jenen Teil der
Wellenfunktion auszeichnet, der der Anzeige des Messgerätes entspricht.48 Zu
einer Mehrdeutigkeit der Zeigerstellung kann es ja schon deswegen nicht kom-
men, da auch jeder Zustand eines Messgerätes durch die eindeutige Konfiguration
dieser Bohmschen Teilchen charakterisiert ist. Durch geeignete Anfangsbedin-
gungen können auf diese Weise alle statistischen Vorhersagen der Quantenmechanik
reproduziert werden. In diesem Sinne ergänzt die de Broglie-Bohm-Theorie die
Ensemble-Interpretation der Quantenmechanik um einen Mechanismus, der das
Verhalten der Ensemble-Mitglieder beschreibt.

46 Primitive ontology kann wohl mit „ grundlegende Ontologie“ übersetzt werden.


47 In Abschn. 5.2.2 war bereits erwähnt worden, dass diese Variante der Viele-Welten-Interpretation

nicht-lokal ist. Das Problem der bevorzugten Basis und die Rolle von Wahrscheinlichkeitsaussagen
können in dieser Theorie ebenfalls anders behandelt werden.
48 Die Beschreibung des „effektiven Kollaps“ der Wellenfunktion profitiert zudem von den

Ergebnissen der Arbeiten zur Dekohärenz.


226 O. Passon

Bis auf Ortsmessungen wird hier jedoch keine Eigenschaft der Quantenobjekte
festgestellt, die vor der Messung bereits vorlag. Originellerweise kann diese Form
der Kontextualität als Präzisierung eines Hinweises von Bohr gedeutet werden, der
etwa in folgendem Zitat anklingt: „The procedure of measurement has an essential
influence on the conditions on which the very definition of the physical quantities in
question rests“ (Bohr 1935, S. 1025).49 Die „Erzeugung“ oder „ Hervorbringung“
des Resultats durch und im Akt der Messung ist ebenfalls ein Teil der Kopenhagener
Deutung. Im Gegensatz zur Kopenhagener Deutung bietet die de Broglie-Bohm-
Theorie jedoch einen physikalischen Mechanismus, der diesen Vorgang realistisch
deutet. Über die Plausibilität dieses Mechanismus ist damit natürlich noch keine
Aussage getroffen.
Noch auf einem anderen Niveau kann eine Parallele zwischen der de Broglie-
Bohm-Theorie und der Kopenhagener Deutung hergestellt werden: Charakteristisch
für die de Broglie-Bohm-Theorie ist die Beschreibung der physikalischen Realität
durch das Paar aus Wellenfunktion und Konfiguration (formal: (ψ, Q)). Wie in
Abschn. 2.2.2 erwähnt, behauptet die Kopenhagener Deutung eine „unaufhebbare
Verknüpfung“ zwischen Mikrosystem und Messgerät (bzw. Makrowelt). In diesem
Sinne beschreibt die Kopenhagener Deutung die physikalische Welt also ebenfalls
durch ein Paar – formal etwa durch (ψ, „ Makrowelt“) auszudrücken.50 In der
de Broglie-Bohm-Theorie wird das zweite Element dieses Paares also durch die Ob-
jekte ersetzt, die dieser Theorie zufolge die Konstituenten der Makrowelt darstellen.
Im Falle der Everett-Interpretation sind alle möglichen Ausgänge einer Mes-
sung tatsächlich realisiert. Dies entzieht sich jedoch der Beobachtung, da jeder
Beobachter dieser Aufspaltung ebenfalls unterliegt. Die Integration eines plausi-
blen Wahrscheinlichkeitsbegriffs und die Begründung der Bornschen Regel (also
der beobachtbaren relativen Häufigkeiten) sind, wie wir in Abschn. 5.2.5 diskutiert
haben, problematisch. Jedoch haben die Arbeiten auf dem Gebiet der Dekohärenz
plausibel gemacht, wie die Zeigerbasis eines Messgerätes tatsächlich ausgezeichnet
wird. Diese „dekohärenzbasierte“ Version der Viele-Welten-Interpretation verzich-
tet somit auf einigen ontologischen Ballast, der älteren Formulierungen vorgeworfen
wurde.
Die Aufspaltung in unendlich viele Welten erscheint natürlich immer noch ra-
dikal und exzentrisch. Vor diesem Hintergund mag man zumindest hinsichtlich der
Lösung des Messproblems die de Broglie-Bohm-Theorie bevorzugen. Zahlreiche
Autoren haben jedoch darauf hingewiesen, dass diese natürlich ebenfalls sämtliche
Zweige der sich bei jeder Wechselwirkung aufspaltenden Wellenfunktion enthält.

49 Bohr sah darin jedoch keinen kausalen Zusammenhang, sondern verglich den Einfluss der Mes-
sung auf das Messergebnis mit dem Zusammenhang zwischen Bezugssystem und Beobachtung in
der speziellen Relativitätstheorie.
50 Diese Paarbildung soll ausdrücken, dass auch innerhalb der Kopenhagener Deutung eine voll-

ständige Beschreibung der physikalischen Welt mit Bezug auf die Wellenfunktion allein nicht
gelingt. Das klassische Lehrbuch von Landau und Lifschitz formuliert diesen Zusammenhang
besonders pointiert: „Die Quantenmechanik nimmt also eine sehr eigenartige Stellung unter
den physikalischen Theorien ein: Sie enthält die klassische Mechanik als Grenzfall und bedarf
gleichzeitig dieses Grenzfalles zu ihrer eigenen Begründung.“ (Landau und Lifschitz 2012, S. 3).
5 Nicht-Kollaps-Interpretationen der Quantentheorie 227

Eine plausiblere Lösung des Messproblems gelingt der de Broglie-Bohm-Theorie


also nur dann, wenn sie den ontologischen Status der Wellenfunktion entsprechend
definiert. In Brown and Wallace (2005) wird diskutiert, welche Schwierigkeiten
diese Strategie hat. Der bereits in Abschn. 5.1.7 erwähnte Vorschlag von Dürr
et al. (1996), die Wellenfunktion nomologisch zu deuten, wird dafür kritisiert,
auf spekulative Weise von kosmologischen Betrachtungen abzuhängen. Brown und
Wallace zufolge entsprechen die leeren Wellenfunktionen der de Broglie-Bohm-
Theorie ebenfalls realen Welten – die Lösung des Messproblems in der de Broglie-
Bohm-Theorie müsse (und könne) also auf die Teilchen gar keinen entscheidenen
Bezug nehmen und falle mit derjenigen der Viele-Welten-Interpretation zusammen.
Brown und Wallace unterstreichen damit das Diktum von David Deutsch, der von
Führungsfeldtheorien als „parallel-universe theories in a state of chronical denial“
spricht (Deutsch 1996, S. 225). Eine Erwiderung auf diesen Vorwurf findet sich et-
wa in Maudlin (2010). Im Abschnitt zur Kritik an der Everett-Interpretation (5.2.6)
hatten wir diese Arbeit bereits vorgestellt, die in Zweifel zieht, dass bei einem Ver-
zicht auf die räumliche Konfiguration überhaupt eine Lösung des Messproblems
gelingt. Auf ein wichtiges und offenes Problem der de Broglie-Bohm-Theorie ist
damit jedoch hingewiesen: Der Status der Wellenfunktion ist auch bei ihr nicht
vollständig geklärt und markiert eine weitere Trennlinie zwischen verschiedenen
Schulen der de Broglie-Bohm-Theorie (vgl. Abschn. 5.1.6).

Übungsaufgaben zu Kap. 5

1. Die de Broglie-Bohm Theorie wird häufig als Theorie „verborgener Variablen“


bezeichnet. Dabei schwingt der Vorwurf mit, diese Theorie führe prinzipiell
unbeobachtbare Größen in die Beschreibung ein. Schreiben Sie einen klei-
nen Dialog zwischen einem Anhänger der Kopenhagener Deutung und der
de Broglie-Bohm Theorie, in dem letzterer sich gegen diesen Vorwurf vertei-
digt und dem „Kohenhagener“ vorwirft, diesen Fehler selber zu begehen. Im
Verlauf dieses Streitgesprächs können auch weitere Argumente Pro und Contra
eingeführt werden!
2. Begründen Sie, warum auch innerhalb der de Broglie-Bohm Theorie die Unbe-
stimmtheitsrelation x · p ≥ 2 nicht verletzt wird.
3. Vergleichen Sie die Lösungen des Messproblems der de Broglie-Bohm und
Everett Interpretation. Finden Sie Beispiele für strukturelle Ähnlichkeiten und
Unterschiede zwischen ihnen.

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Quantenfeldtheorie
6
Meinard Kuhlmann und Manfred Stöckler

Inhaltsverzeichnis
6.1 Charakterisierung der Quantenfeldtheorie ........................................................... 231
6.2 Raumzeitliche Beschreibung von Prozessen......................................................... 233
6.3 Mathematische Struktur der Quantenfeldtheorie ................................................... 235
6.4 Interpretationen der Quantenfeldtheorie .............................................................. 258
6.5 Neue Wege der Interpretation ........................................................................... 268
Übungsaufgaben zu Kap. 6 ...................................................................................... 273
Literatur zu Kap. 6 ................................................................................................. 273

6.1 Charakterisierung der Quantenfeldtheorie

Viele ihrer philosophischen Probleme teilt die Quantenfeldtheorie (QFT) mit der
Quantenmechanik. Dazu gehören der Messprozess und die damit zusammenhän-
genden Interpretationsprobleme, zu denen die QFT nichts Neues beiträgt. Auch
die Frage, wie die Objekte, die die Theorie beschreibt, in den Raum eingebettet
sind, wird schon in der Quantenmechanik diskutiert. Die neuen mathematischen
Strukturen der QFT lassen allerdings auch neue Antworten erwarten, so dass die
raumzeitliche Interpretation der Theorie ein wichtiges Thema wird. Die QFT scheint
auch eine Sicht auf die Unterscheidbarkeit und die Identität der Quantenobjekte
und auf die Geltung des Leibniz-Prinzips (vgl. Kap. 3) zu eröffnen, die über die
der Quantenmechanik hinaus geht. Die Frage, über welche Art von Gegenständen

M. Kuhlmann ()
Philosophisches Seminar, Universität Mainz, Deutschland
e-mail: mkuhlmann@uni-mainz.de

M. Stöckler
Institut für Philosophie, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
e-mail: stoeckl@uni-bremen.de
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 231
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_6
232 M. Kuhlmann und M. Stöckler

und Eigenschaften die QFT spricht, hat für klassische Themen der Naturphilo-
sophie eine besondere Bedeutung, weil sie als fundamentale Theorie der Materie
für die Ontologie besonders relevant ist. Für die Wissenschaftstheorie ist die QFT
reizvoll, weil es sich um eine Theorie handelt, deren Entwicklung noch nicht ab-
geschlossen ist und deren provisorischer Charakter dafür, wie Physiker wirklich
arbeiten, viel typischer ist als die vereinfachten Lehrbuchdarstellungen, auf die sich
philosophische Analysen häufig beziehen.
Die QFT ist der mathematische und begriffliche Rahmen, in dem die Physik der
Elementarteilchen formuliert ist. Hier wird man beginnen, wenn man untersucht,
welches Bild von der Materie die gegenwärtige Physik nahe legt. Allerdings kann
man die Antwort auf diese Fragen nicht einfach aus dem mathematischen Forma-
lismus ablesen. Weder in der Physik noch in der Philosophie herrscht Einigkeit
darüber, von welchen Typen von Gegenständen die Theorie handelt. Diese Frage
steht im Mittelpunkt der gegenwärtigen philosophischen Debatten über die QFT
und bildet auch den Schwerpunkt dieses Kapitels.
In mathematischer Hinsicht kommt man zur QFT, wenn man die heuristischen
Verfahren, die von der klassischen Punktteilchen-Mechanik z. B. zur Schrödinger-
Gleichung führen, auf klassische Feldtheorien anwendet. In dieser Sichtweise ist
die QFT eine Quantentheorie von Systemen mit unendlich vielen Freiheitsgraden.
Unter Freiheitsgraden versteht man allgemein voneinander unabhängige Bewe-
gungsmöglichkeiten. So sind z. B. den drei Freiheitsgraden eines Punktteilchens
drei unabhängige Ortskoordinaten zugeordnet. Die Anzahl der Freiheitsgrade be-
stimmt die Anzahl der Angaben, die man braucht, um den Zustand eines Systems
zu charakterisieren. Bei einem einzelnen klassischen Teilchen reicht die Angabe
der drei Komponenten seines Orts und der drei Komponenten seines Impulses. Zur
Charakterisierung eines Feldes müssen für jeden Ort die Feldamplitude und ein zu-
geordneter Feldimpuls angegeben werden. In mathematischer Hinsicht ähnelt ein
Feld also einem System aus unendlich vielen Teilchen, die durch die räumlichen
Koordinaten unterschieden werden. Für viele Zwecke kann man das Verhältnis von
Quantenmechanik und QFT in diesem Sinn als Übergang von endlich vielen zu
unendlich vielen Freiheitsgraden ansehen.
Dieser Übergang ist eigentlich schon notwendig, wenn man die Schrödinger-
Gleichung benutzt, um Atomspektren zu berechnen. Die Quantenmechanik ist
hier nämlich in einer charakteristischen Weise unvollständig, weil die Wechselwir-
kung von elektromagnetischer Strahlung und Materie (die ja den Test der Theorie
überhaupt erst ermöglicht) dabei ganz ausgeklammert oder nur halbklassisch be-
rücksichtigt wird. Schon in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts arbeiteten
M. Born, W. Heisenberg und P. Jordan sowie P. Dirac an Ansätzen zu einer Quanten-
theorie des elektromagnetischen Feldes und seiner Wechselwirkung mit der Materie
(„Feldquantisierung“). Dabei zeigte sich, dass in der QFT Materie (wie Elektronen)
und Strahlung (wie Licht) in mathematischer Hinsicht auf ganz ähnliche Weise
beschrieben werden können. Im Rahmen der QFT ist es gelungen, frühere eher
heuristische Vorstellungen über den Teilchencharakter, den z. B. Licht unter be-
stimmten Umständen zeigt, und den Wellencharakter, den Materie unter bestimmten
Umständen zeigt, in einem einheitlichen mathematischen Formalismus zu erfas-
sen. Zugleich wurde dabei deutlich, dass die alte Einteilung, nach der Materie aus
6 Quantenfeldtheorie 233

räumlich lokalisierten Teilchen und Strahlung aus räumlich kontinuierlich verteil-


ten Feldern besteht, aufgegeben werden muss. Besonders hervorzuheben ist, dass
die QFT auch Systeme und Vorgänge mit veränderlicher Teilchenzahl beschreiben
kann, d. h. Prozesse, bei denen Teilchen vernichtet oder erzeugt werden. Dafür hat
die Quantenmechanik keine Möglichkeiten.
Im folgenden Abschn. 6.2 werden wir uns zur Vorbereitung zunächst anschau-
en, wie in der klassischen Physik die raumzeitliche Einbettung der fundamentalen
Gegenstände, also der Teilchen und Felder, mathematisch erfasst wird. Wir werden
sehen, warum diese klassischen Vorstellungen zu der mathematischen Struktur der
QFT ebenso wenig passen wie zur Quantenmechanik. Dazu müssen wir einen et-
was genaueren Blick auf die QFT und ihre verschiedenen Varianten werfen. Dann
können wir verschiedene Vorschläge zur Interpretation der QFT analysieren und
bewerten.

6.2 Raumzeitliche Beschreibung von Prozessen

Bevor wir die raumzeitliche Einbettung von Prozessen in der QFT analysieren, soll
zusammenfassend dargestellt werden, wie die klassische Physik die Vorgänge in
der Natur in dem Rahmen von Raum und Zeit anordnet. Dabei wollen wir uns
zunächst auf die räumliche Einordnung konzentrieren. Man kann zwei Arten von
räumlicher Einbettung unterscheiden, die zugleich zu verschiedenen Gegenstands-
konzeptionen, d. h. zu verschiedenen Ontologien führen: die Teilchenontologie und
die Feldontologie (bzw. die Teilchenvorstellung und die Feldvorstellung).
Die Annahme der Teilchenstruktur der Materie liegt in der Tradition des me-
chanistischen Denkens, und diese Annahme hat sich sowohl im Großen (bei der
Erklärung der Planetenbahnen) als auch im Kleinen (in der kinetischen Wärme-
theorie) bestens bewährt. Auch bei der Untersuchung der neu entdeckten Elektronen
stellte man fest, dass sie offenbar einer Bahn folgen und ihre Masse und Ladung im-
mer in Vielfachen einer Elementarmasse und einer Elementarladung auftreten, und
klassifizierte so die Elektronen als Teilchen.
In der klassischen Mechanik sind die fundamentalen Objekte Teilchen, de-
ren Ausdehnung im Idealfall verschwindend klein ist. Der Zustand eines solchen
Punktteilchens ist festgelegt, wenn man seine drei Ortskoordinaten und die drei
Komponenten des Impulses angegeben hat. Die Teilchen (Korpuskel) sind zu je-
der Zeit lokalisiert, und ihre Aufenthaltsorte ergeben im zeitlichen Verlauf eine
kontinuierliche Bahn. Eine solche Bahn (Trajektorie) kann durch eine Funktion
x(t) beschrieben werden, die für jeden Zeitpunkt t den Ort x angibt, an dem sich
das Teilchen befindet. Diese Bahn erlaubt es auch, dasselbe Teilchen zu einem
späteren Zeitpunkt wiederzuentdecken. So wird es möglich, Teilchen zu identifi-
zieren und als „Individuen“ in ihrer Bewegung zu verfolgen. Sofern es sich um
nicht zusammengesetzte Teilchen handelt, sind sie unzerstörbar. Im mathema-
tischen Formalismus der klassischen Mechanik ist das Entstehen oder Vergehen
eines Teilchens nicht beschreibbar.
234 M. Kuhlmann und M. Stöckler

Im 19. Jh. hatte sich herausgestellt, dass nicht alle Erscheinungen im korpusku-
laren Weltbild erfassbar sind. So trat neben das Teilchenmodell noch eine zweite,
grundlegend verschiedene Weise, Prozesse zu beschreiben: die Feldphysik. In der
Feldphysik wird der Zustand eines physikalischen Systems durch die Angabe der
Feldstärke (genauer: der geeignet definierten Feldgröße und des zugeordneten Feld-
impulses) in jedem Raumzeit-Punkt festgelegt. Hier gibt es keine Individuen, wie
z. B. Punktteilchen in der Mechanik, die Träger des Geschehens sind. In einem ge-
wissen Sinn wird der Raum selbst Träger von Eigenschaften. Während man etwa
in der Hydrodynamik trotz der Feldbeschreibung eine diskontinuierliche Teilchen-
Substruktur annimmt, ist das elektromagnetische Feld ein Standardbeispiel für
ein fundamentales Feld. In der Theorie der elektrischen Felder wird z. B. jedem
Raumzeit-Punkt (x, t) eine Feldstärke E(x, t) zugeordnet, die angibt, welche Kraft an
der Stelle (x, t) auf eine Probeladung ausgeübt wird. In der Auseinandersetzung um
die Natur des Lichtes hatte sich die Wellen- bzw. Feldauffassung durchgesetzt, weil
mit ihr Interferenz- und Beugungsphänomene gut erklärt werden können. Während
nach der klassischen Vorstellung zwei Teilchen nicht den gleichen Raumzeit-Punkt
einnehmen können und die Energie des Teilchens immer am Aufenthaltsort konzen-
triert ist, können sich Felder gegebenenfalls überlagern, in bestimmten Bereichen
durch Interferenz sogar auslöschen, und die kontinuierlich verteilte Energie kann
sich im Raum verdünnen.
Die Teilchen- und die Feldontologie sind in einem gewissen Sinn Nachfolger
von älteren naturphilosophischen Ideen, nämlich einerseits atomistischen Konzep-
tionen und andererseits Plenumsauffassungen. Gegen Ende des 19. Jh. schien die
Auseinandersetzung zwischen beiden durch eine Aufteilung der Welt geschlichtet
zu sein: Die Teilchenontologie beschreibt die Materie und die Feldontologie die
Kräfte, z. B. das elektromagnetische Feld. Obwohl Teilchen und Felder auf den
ersten Blick ganz unterschiedliche Wesenheiten zu sein scheinen, so gibt es doch
Gemeinsamkeiten in der mathematischen Beschreibung. In diesem Rahmen kann
man das klassische Feld als Grenzfall eines mechanischen Systems mit unendlich
vielen Freiheitsgraden auffassen, wobei die Ortsfunktion x in der Feldgröße (x, t)
formal die Rolle der Teilchenindizes i bei den Koordinaten qi (t) übernimmt.
Mit dem Übergang von der klassischen Mechanik zur Quantenmechanik be-
gannen die Schwierigkeiten mit der räumlichen Einbettung der von der Physik be-
schriebenen Objekte. Die räumlichen Aspekte der Interpretation der Quantentheorie
wurden zunächst vor allem unter dem Stichwort des Teilchen-Welle-Dualismus dis-
kutiert. Erfahrungsnaher Ausgangspunkt waren dabei die Probleme, die die Wech-
selwirkung von Strahlung und Materie aufwarfen. So zeigte A. Einstein (1905), dass
sich Strahlung (Licht) von geringer Intensität in thermodynamischer Hinsicht so ver-
hält, als ob sie aus unabhängigen Energiequanten hν bestünde, und dass mit dieser
Vorstellung auch eine elegante Erklärung des Photoeffekts möglich wird. So kam es
zu einer gängigen Vorstellung, nach der sowohl Materie als auch das elektromagne-
tische Feld sich manchmal so verhalten, als seien sie aus Teilchen zusammengesetzt,
und manchmal so, als seien sie Felder. Sehr früh wurde von den Physikern auch
die Frage gestellt, ob die raumzeitliche Beschreibung von Prozessen in der Mikro-
physik generell an ihre Grenzen gestoßen ist (vgl. Jammer 1966, S. 326). Für Niels
6 Quantenfeldtheorie 235

Bohr schlossen sich die Anwendbarkeit von kausaler und raumzeitlicher Beschrei-
bung aus. Prozesse können demnach nicht gleichzeitig dynamische Erhaltungssätze
befolgen und raumzeitlich eingeordnet werden.1
Im Rahmen der „klassischen“ Quantenmechanik konnten weder der Teilchen-
Welle-Dualismus noch die räumliche Einbettung der Quantenobjekte wirklich ge-
klärt werden. Solche Fragen spielten jedoch bei der Entwicklung der QFT eine
wichtige heuristische Rolle. In dieser Lage folgten die Physiker überwiegend einer
instrumentalistischen Auffassung von physikalischen Theorien, die Hans Reichen-
bach sehr schön formuliert hat: „. . . und fragt man ihn [den Physiker], ob es wirklich
materielle Teilchen seien, so antwortet er, das sei ein heikle Frage, die er lieber nicht
beantworten wolle. Das bedeutet, dass zu dieser Antwort mehr Philosophie gehört,
als der Physiker bei seiner technischen Untersuchung braucht“ (Reichenbach 1955,
S. 84).
Aus philosophischer Sicht bleiben also die Fragen, ob die QFT überhaupt noch
über Objekte in Raum und Zeit spricht, ob ihr mathematischer Apparat (auch wenn
sie dem Namen nach eine Feldtheorie ist) eher eine Teilchen- oder eine Feld-
ontologie nahe legt, oder ob evtl. ganz andere ontologische Modelle herangezogen
werden müssen. Wie kann man auf solche Fragen eine Antwort finden? Der nahe
liegende Weg ist, nachzusehen, ob die mathematischen Strukturen der QFT (bzw.
einer ihrer Formulierungen) noch die einer Teilchentheorie oder die einer Feldtheo-
rie sind. Die Durchführung dieses Projekts zeigt, dass man in der QFT sowohl
Eigenschaften findet, die Teilaspekten der klassischen Merkmale von Teilchen zu-
geordnet werden können, als auch solche, die zu Merkmalen von Feldern gehören.
Um einen Einblick in die gegenwärtigen Diskussionen um die raumzeitliche Inter-
pretation der QFT zu gewinnen, müssen wir uns also den mathematischen Apparat
der QFT zunächst etwas genauer anschauen.

6.3 Mathematische Struktur der Quantenfeldtheorie

Die beiden Grundpfeiler im Formalismus der Quantenphysik, also der Quanten-


mechanik wie auch der QFT, sind Zustände und Observable. In der klassischen
Punktteilchen-Mechanik ist der Zustand eines Teilchens zu jedem Zeitpunkt durch
die Angabe seines Ortes und seines Impulses festgelegt. Während der Zustandsbe-
griff in der klassischen Mechanik unproblematisch ist und selten thematisiert wird,
wird die Rolle der Zustände in der Quantenphysik komplizierter: (Reine) Zustän-
de spezifizieren die maximal mögliche Information über die zeitlich veränderlichen
Eigenschaften des betreffenden System – d. h. jenseits der permanenten Eigenschaf-
ten, die den Systemtyp, z. B. Elektron oder Photon, erst definieren. Anders als in
der klassischen Mechanik heißt dies aber nicht, dass für jede dynamische Observa-
ble ein bestimmter Wert spezifiziert wird. Angesichts der Unschärferelationen sind

1 Vgl. z. B. den Como-Vortrag 1925 von Bohr (1961), insbes. S. 54.


236 M. Kuhlmann und M. Stöckler

der gleichzeitigen Zuschreibung inkompatibler Eigenschaften, wie insbesondere Ort


und Impuls, Grenzen gesetzt (vgl. Abschn. 1.2.4, Gl. 1.37).
Dieser Umstand kommt in der Quantenphysik besonders deutlich in den Ver-
tauschungsrelationen zum Ausdruck (vgl. Abschn. 1.2.2, Gl. 1.16). Tatsächlich sind
die Vertauschungsrelationen so fundamental, dass mit ihrer Hilfe die betreffenden
Observablen in einem gewissen Sinn „mathematisch“ definiert werden können. In
diesem Kapitel werden wir sehen, dass Vertauschungsrelationen auch in der QFT
eine zentrale Rolle spielen. Und wie in der Quantenmechanik führt die Reprä-
sentation von Eigenschaften durch Operatoren zu Interpretationsschwierigkeiten.
Die Feldgrößen sind in der QFT selbst Operatoren, die den Wert der jeweiligen
Eigenschaften eines Systems nur nach Anwendung auf einen Zustandsvektor (vgl.
Abschn. 1.2.2) bestimmen.
Um das Verständnis der QFT möglichst leicht zu machen, werden wir histo-
risch bzw. heuristisch starten und damit wesentliche Elemente der konventionellen
QFT so weit einführen, dass ihre Interpretation einigermaßen fundiert diskutiert
werden kann. Die konventionellen Formulierungen der QFT, die für die Rechnungen
in der Praxis ausreichen, sind in streng mathematischer Sicht nicht durchweg be-
friedigend. Deswegen gibt es verschiedene Versuche einer exakteren Formulierung.
Auf einen dieser Versuche werden wir noch eingehen: In Abschn. 6.3.5 gibt es eine
kurze Einführung in die konzeptionell wichtigste axiomatisch orientierte Reformu-
lierung, die Algebraische QFT. Zunächst geht es aber in 6.3.1 um grundsätzliche
Fragen der sogenannten Quantisierung, in 6.3.2 wird ein konkretes Beispiel der
Quantisierung einer Theorie vorgestellt und dabei auch der Zustandsraum der QFT
eingeführt, der im Abschn. 6.3.3 genauer analysiert wird. In 6.3.4 wird untersucht,
wie Operatoren und Zustände mit im Experiment messbaren Größen zusammen-
hängen. Dann haben wir alle Voraussetzungen zusammen, um in Abschn. 6.4
verschiedene Interpretationen der QFT zu diskutieren.

6.3.1 Quantisierung von Feldern

In diesem Abschnitt soll das heuristische Programm näher dargestellt werden, nach
dem es analog zum Übergang von der klassischen Mechanik zur Quantenmechanik
auch einen Übergang von klassischen Feldern zu quantenphysikalischen Feldern
gibt. Von dieser Warte aus gesehen ist der entscheidende Unterschied, dass sich die
Quantenmechanik sowie die klassische Mechanik der Punktteilchen auf Systeme
mit endlich vielen Freiheitsgraden (auf die Eigenschaften endlich vieler Teilchen)
beziehen, während QFT und klassische Feldtheorien Systeme mit unendlich vielen
Freiheitsgraden behandeln. In beiden Fällen hat, wie schon angedeutet, der Über-
gang von der klassischen Theorie zur entsprechenden Quantentheorie die Folge,
dass die grundlegenden physikalischen Größen nicht mehr durch „normale“ Zahlen
repräsentiert werden, sondern durch Operatoren, also durch ungesättigte mathema-
tische Ausdrücke, die noch auf etwas wirken müssen, um zu bestimmten Werten zu
führen (vgl. Abschn. 1.2.2).
6 Quantenfeldtheorie 237

Der formale Übergang von der klassischen Theorie der Punktteilchen zur Quan-
tenmechanik lässt sich so beschreiben, dass den klassischen Größen Ort und Impuls
bestimmte Vertauschungsrelationen auferlegt werden. Das heißt genauer, dass an-
genommen wird, dass z. B. für die Operatoren, die Ort und Impuls repräsentieren,
Vertauschungsrelationen gelten, nämlich
 
q ,p ≡ qm pn – pn qm = iδm,n
 m n   (6.1)
qm , qn = pm , pn = 0

(vgl. Gl. 1.16, Abschn. 1.2.2). Die unteren Gleichungen besagen, dass der Kommu-
tator der Ortsoperatoren und der Kommutator der Impulsoperatoren verschiedener
Teilchen immer gleich null sind (die jeweiligen Messungen also gleichzeitig zu
scharfen Werten führen können), und die oberen Gleichungen, dass der Kommutator
zwischen Orts- und Impulsoperator bei dem gleichen Teilchen (m = n) gleich 1 und
bei verschiedenen Teilchen (m =/ n) gleich 0 ist. Bei diesem Verfahren der Quanti-
sierung einer klassischen Theorie werden Elemente der klassischen Theorie (z. B.
mathematische Ausdrücke für die Repräsentanten von Ort, Impuls und Energie) in
die Quantenphysik übernommen, spielen darin aber eine neue Rolle. Der Name
Quantisierung rührt daher, dass die quantenphysikalischen Operatoren häufig nicht
beliebige Eigenwerte haben, dass z. B. Wasserstoffatome nach der Quantenmecha-
nik nur diskrete Eigenwerte des Energie- oder des Drehimpulsoperators annehmen
können. Das ist neu gegenüber der klassischen Mechanik, in der alle dynamischen
Größen im Prinzip kontinuierliche Werte annehmen können.
Die folgenden Überlegungen wenden sich vor allem an Leserinnen und Leser,
die schon ein wenig besser mit der Physik vertraut sind. Sie führen in eine spezielle
Formulierung der Mechanik ein, die man Lagrange-Formulierung nennt und in der
die Feldquantisierung besonders gut verständlich gemacht werden kann. Die Gl. 6.1,
die sogenannten „kanonischen Vertauschungsrelationen“, gehören bereits zu einer
Formulierung der Mechanik, die sich auf die generalisierten Koordinaten q und die
entsprechenden „konjugierten“ Impulse p bezieht. Der generalisierte Begriff eines
„konjugierten“ oder „kanonischen“ Impulses ist dabei durch p = ∂L∂ q̇ definiert, wobei
L die Langrange-Funktion L = T – V ist, mit der kinetischen Energie T und dem
Potenzial V; der Punkt über dem q bedeutet die Ableitung nach der Zeit. Wieso der
Impuls gerade so definiert ist, lässt sich verstehen, wenn man den speziellen Fall
einer Langrange-Funktion betrachtet, bei der das Potenzial V nur vom Ort abhängt,
so dass (in kartesischen Koordinaten)
 
∂L ∂ 1 2
= mẋ = mẋ = px .
∂ ẋ ∂ ẋ 2

In diesem Fall ist der generalisierte Impuls also identisch mit dem gewöhnlichen
Impuls der Newtonschen Mechanik. Die Lagrange-Funktion L charakterisiert dabei
das jeweilige System, so dass z. B. ein Drehpendel und ein Fadenpendel verschie-
dene Lagrange-Funktionen haben. Wenn man die Lagrange-Funktion kennt, kann
man in der klassischen Physik bei gegebenen Randbedingungen alle Größen und
238 M. Kuhlmann und M. Stöckler

ihre weitere zeitliche Entwicklung ausrechnen. Lagrange-Funktionen gibt es für me-


chanische Systeme, aber auch für Felder (dort sind es Langrange-Dichten, d. h. auf
dem Ortsraum definierte Funktionen, aus denen man die Lagrange-Funktion durch
Integration über den gesamten Raum erhält).
Im Rahmen der Lagrange-Theorie klassischer Felder wird, in Entsprechung zu
den generalisierten Koordinaten q und Impulsen p der Mechanik, jedem Feld φ ein
konjugiertes Feld („Feldimpuls“)

∂L
π= (6.2)
∂ φ̇

zugeordnet, das als eine partielle Ableitung der Lagrange-Dichte L bestimmt ist.
Diese Lagrange-Formulierung erlaubt es nun, ganz analog zur Quantisierung der
klassischen Mechanik durch (6.1) auch klassische Felder dadurch zu quantisieren,
dass das Erfüllen kanonischer Vertauschungsrelationen
 
φ(x, t), π (y, t) = iδ 3 (x – y)
    (6.3)
φ(x, t), φ(y, t) = π (x, t), π (y, t) = 0.

gefordert wird, und zwar nun für das Feld φ und das entsprechende konjugierte
Feld π . Die Delta-Funktion δ bedeutet, dass φ und π an verschiedenen Orten x und
y vertauschen (ihr Kommutator also 0 ist). Die Vertauschungsrelationen beziehen
sich jeweils auf feste Zeiten t. Dazu möchten wir nochmals in Erinnerung rufen,
dass es sich hierbei um ein heuristisches Verfahren handelt, dessen Ergebnisse sich
im Einzelfall immer auch bewähren müssen. Das Wesen von Quantenfeldern kann
schon deshalb nicht in der Quantisierung von klassischen Feldern bestehen, weil es
für viele Quantenfelder gar kein klassisches Analogon gibt.2
In der QFT sind die den Raumzeit-Punkten (x, t) zugeordneten „Feldwerte“
φ(x, t) Operatoren. Das bedeutet also, dass die „Feldwerte“ keine definiten messba-
ren Eigenschaften mehr sein können, wie etwa die elektromagnetische Feldstärke.
Um zu bestimmten Größen zu gelangen, die konkret gemessen werden können,
müssen die operatorwertigen Quantenfelder auf Zustände wirken. In gleicher Wei-
se braucht man auch in der Quantenmechanik Operatoren und Zustände, um zu
Messwerten und zu der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens zu kommen. In den
Abschn. 6.3.2 und 6.3.3 werden wir mehr über die Natur der Feldzustände er-
fahren und in 6.3.4 ihre Verknüpfung mit dem Experiment kennenlernen. Die
klassische Feldkonzeption verliert in der QFT aufgrund der Operatorwertigkeit der

2 Für Experten: Eine manifest relativistisch invariante Schreibweise ist ebenfalls möglich. Schließ-
lich ist noch zu erwähnen, dass die Vertauschungsrelationen 6.3 nur für bosonische Felder gelten,
wie insbesondere das elektromagnetische Feld. Im Rahmen der QFT werden aber ebenso wie
diese Wechselwirkungsfelder auch materielle „Teilchen“, mit halbzahligem Spin, durch Felder be-
schrieben. Für solche fermionischen Felder, wie etwa das Dirac-Feld für Elektronen, benötigt man
Anti-Vertauschungs-Relationen, die etwas von den Gl. 6.3 abweichen. Wir benutzen im Folgenden
zudem auch das sogenannte Heisenberg-Bild, d. h. wir arbeiten mit zeitabhängigen Operatoren.
6 Quantenfeldtheorie 239

Quantisierung
∧ ∧
(x, p → x , p )
Klassische
Quantenmechanik
Punktmechanik

N→∞
N→∞

Nichtrelativistische Nichtrelativistische
Klassische Feldtheorie Quantenfeldtheorie

Quantisierung
& SRT ∧ ∧ & SRT
(φ, π → φ , π)

Relativistische Relativistische
Klassische Feldtheorie Quantenfeldtheorie

Abb. 6.1 Durch die Forderungen Quantisierung, Übergang auf unendlich viele Freiheitsgrade
und relativistische Invarianz lassen sich strukturelle Zusammenhänge zwischen verschiedenen
Theorien charakterisieren (SRT = Spezielle Relativitätstheorie)

Quantenfelder jedenfalls ihren Sinn: Die Feldoperatoren können den Raumzeit-


Punkten nicht bestimmte physikalische Eigenschaften zuschreiben. Die Frage, ob
das Quantenfeld selbst überhaupt einen ontologischen Status hat, werden wir im
Abschn. 6.4.3 diskutieren.
Die Struktur und die Interpretation der QFT ist wesentlich durch ihre vielfäl-
tigen Beziehungen zu klassischen Vorgänger-Theorien bestimmt. Die Abb. 6.1 gibt
einen Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf den Wegen von
der klassischen Punktmechanik zur relativistischen QFT. Wesentliche strukturelle
Unterschiede liegen in den beiden Schritten von oben nach unten, d. h. im Übergang
zu unendlich vielen Freiheitsgraden (N → ∞) und in der Beachtung der Invarianz-
forderungen der Speziellen Relativitätstheorie (& SRT). Die Übergänge von links
nach rechts stehen für „Quantisierungen“, wie wir sie gerade kennen gelernt haben.
Die Abb. 6.1 beschreibt mögliche formale und heuristische Beziehungen zwi-
schen Theorien. Sie gibt nicht den historischen Weg zur QFT wieder, in dem z. B.
die Möglichkeit einer nichtrelativistischen QFT keine Rolle gespielt hat. In der klas-
sischen Elektrodynamik lag schon eine relativistische Theorie als Startpunkt der
Quantisierung vor.

6.3.2 Das einfachste Beispiel einer Quantenfeldtheorie

Bereits in der Entstehungsphase der Quantenmechanik war offensichtlich, dass


die relativistisch invariante Theorie des elektromagnetischen Feldes nicht in den
Rahmen der (nicht-relativistischen) Quantenmechanik passt.3 Obwohl schon im

3 DieSchrödinger-Gleichung verletzt die Forderung der Speziellen Relativitätstheorie, dass die


Naturgesetze ihre Form bewahren müssen, wenn man mittels Lorentz-Transformation vom
240 M. Kuhlmann und M. Stöckler

Bohrschen Atommodell Quantenobjekte Energie nur gequantelt aufnehmen und


abgeben konnten, wurde das elektromagnetische Strahlungsfeld selbst schlicht klas-
sisch behandelt. Parallel wurde bereits früh einerseits nach einem relativistischen
Analogon der Schrödinger-Gleichung und andererseits nach einem quantenphysi-
kalischen Analogon des elektromagnetischen Feldes gesucht. Beides stellte sich als
unerwartet schwer heraus, da der jeweils sich direkt anbietende Weg auf so tieflie-
gende Probleme stieß, dass bloße Modifikationen des bekannten Rahmens nicht
mehr reichten, was schließlich zur Entwicklung der QFT führte. Im Folgenden
werden wir die wichtigsten Stationen von der Quantenmechanik zum einfachsten
Beispiel einer QFT kurz skizzieren.
Ein Ansatz, um Spezielle Relativitätstheorie und Quantenmechanik miteinander
in einer relativistisch invarianten Wellengleichung zu versöhnen, besteht darin, die
relativistische Energie-Impuls-Beziehung

E2 = p2 c2 + m2 c4 (6.4)

für ein Teilchen mit der Masse m als Operatorgleichung zu lesen, die auf die Wellen-
funktion φ(x, t) wirkt. Fasst man dazu Energie und Impuls nach den in der Quanten-

mechanik gängigen Ersetzungsregeln Ê = i ∂t und p̂ = –i∇ (s. Abschn. 1.2.4) als
∂ ∂ ∂
Operatoren auf, mit dem vektoriellen Nabla-Operator ∇ ≡ ( ∂x , ∂y , ∂z ), so gelangt
man unmittelbar zu der relativistischen Wellengleichung
 
1 ∂2 m2 c2
– ∇ 2
+ φ(x, t) = 0, (6.5)
c2 ∂t2 2
der berühmten Klein-Gordon-Gleichung (für den wechselwirkungsfreien Fall, da
jegliche Wechselwirkung mit anderen Objekten bzw. Feldern ausgeblendet wird).4
Man sieht die relativistische Invarianz dieser Gleichung noch unmittelbarer, wenn
∂2
man sie mit dem Wellenoperator  ≡ ∂ μ ∂μ = c12 ∂t 2 – ∇ („D’Alembert-Operator“),
2

der abkürzenden vierdimensionalen Schreibweise x = (x, t) und der in der Ele-


mentarteilchenphysik üblichen, viele Formeln vereinfachenden, Dimensionswahl
 = 1 und c = 1 kompakt schreibt als

( + m2 )φ(x) = 0. (6.6)

Die freie Klein-Gordon-Gleichung ist eine Wellengleichung für das Feld φ. Im


Gegensatz zur Schrod̈inger-Gleichung erfüllt sie die Forderungen der Speziellen
Relativitätstheorie. Sie ist das einfachste Beispiel einer Gleichung der relativisti-
schen Quantenmechanik, weil sie sich unter Lorentz-Transformation wie ein Skalar
transformiert, da nur Betragsquadrate von 4er-Vektoren sowie von vornherein ska-
lare Größen auftauchen. Die Klein-Gordon-Gleichung könnte deshalb „skalare

Bezugssystem eines inertialen Beobachters zu dem eines anderen übergeht. Die Maxwell-
Gleichungen etwa erfüllen diese Forderung; insbesondere hat Licht im Vakuum für alle diese
Beobachter die gleiche Geschwindigkeit c.
4 Wie in der QFT üblich, werden wir dies im Folgenden kurz als „freie Theorie“ bezeichnen.
6 Quantenfeldtheorie 241

Teilchen“ beschreiben und zwar massive Bosonen mit Spin 0, wie etwa Pionen.
Damit ist aber auch klar, dass sie für Fermionen, insbesondere Elektronen, un-
geeignet ist. Diese werden durch die Dirac-Gleichung beschrieben, dem zweiten
berühmten Ergebnis der Suche nach einer relativistischen Verallgemeinerung der
Schrödinger-Gleichung.
Diese heuristische Herleitung der Klein-Gordon-Gleichung wurde ursprüng-
lich als „erste Quantisierung“ bezeichnet. Hintergrund dieser Bezeichnung ist der
Umstand, dass die Klein-Gordon-Gleichung nicht wie erhofft als relativistische
(quantenmechanische) Wellengleichung für ein Teilchen interpretiert werden konn-
te.5 Als Ausweg wurde die Gl. (6.5) nicht mehr als Bewegungsgleichung für eine
Wellenfunktion, sondern für ein klassisches skalares Feld aufgefasst (und m entspre-
chend zunächst auch nicht als Teilchenmasse), für die eine „zweite Quantisierung“
nach dem in Abschn. 6.3.1 beschriebenen Verfahren durchzuführen ist, in welchem
φ(x) durch Forderung der kanonischen Vertauschungsrelationen für Felder zu einem
Operator wird. Diese Vorgehensweise stellte sich schließlich als erfolgreich heraus,
mit einem physikalisch sinnvollen und tatsächlich realisierten Ergebnis.
Der Begriff einer „zweiten Quantisierung“ ist jedoch insofern sehr irreführend,
als er nahelegt, dass für den Übergang zur QFT zwei Quantisierungen nötig seien.6
Historisch bzw. heuristisch ist das zwar im speziellen Fall des Klein-Gordon-Feldes
in einem gewissen Sinn zutreffend, sachlich jedoch nicht. Die „erste Quanti-
sierung“ war im intendierten Sinne ein Misserfolg, liefert aber ex post betrachtet
das einfachste Beispiel eines klassischen Feldes, das nach dem oben beschriebenen
Verfahren quantisiert werden kann. In modernen Darstellungen startet man daher
oft direkt mit der Lagrangedichte
1 1
LKG = ∂ μ φ∂μ φ – m2 φ 2 (6.7)
2 2
für das klassische Klein-Gordon-Feld, aus der man durch Einsetzen in die
Euler-Lagrange-Gleichung unmittelbar die Feldgleichung, d. h. hier die Klein-
Gordon-Gl. (6.5) erhält.7 Ohne die obige heuristische Herleitung der Klein-Gordon-
Gleichung fällt die Lagrange-Dichte (6.7) natürlich vom Himmel, sie lässt sich

5 Es gibt insbesondere Lösungen mit negativer Energie, die zu unendlichen Kaskaden von ener-
getisch günstigeren Zuständen mit niedrigerer Energie führen würden. Rückblickend kann man
argumentieren, dass es auch nicht zu erwarten ist, dass relativistische Prozesse mit einer Ein-
teilchentheorie beschrieben werden können, da die Energie-Masse-Äquivalenz E = mc2 der
Speziellen Relativitätstheorie die Entstehung von Teilchen-Anti-Teilchen-Paaren erlaubt (Peskin
und Schroeder 1995, Kap. 2). Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Normierung der durch
die Klein-Gordon-Gleichung bestimmten Zustände nicht mehr zeitunabhängig ist, was ihre Inter-
pretation als Antreffwahrscheinlichkeitsdichte unterminiert. Die Klein-Gordon-Gleichung erfüllt
also zwar die Forderungen der Speziellen Relativitätstheorie, nicht aber die der Quantenmechanik
(Srednicki 2007, Kap. 1).
6 Peskin und Schroeder (1995), Fußnote auf S. 19, und Redhead (1988).
7 Im Lagrange-Formalismus lässt sich die jeweilige Bewegungsgleichung, bei Feldern also die

Feldgleichung, dadurch herleiten, dass man die Lagrange-Dichte einem Variationsprinzip unter-
wirft, welches durch die Euler-Lagrange-Gleichung ausgedrückt wird (bzw. genauer: zu dieser
Gleichung führt). So können z. B. durch Einsetzen der Lagrange-Dichte der Elektrodynamik in die
Euler-Lagrange-Gleichung die Maxwell-Gleichungen hergeleitet werden.
242 M. Kuhlmann und M. Stöckler

jedoch auch unabhängig vom gewünschten Ergebnis zumindest motivieren und ist
Vorbild zur Konstruktion weiterer Quantenfeldtheorien.
Eine spezielle Lösung der Klein-Gordon-Gl. (6.5) sind ebene Wellen eip·x ,
die sich in Richtung des Impulses p bewegen, wobei p beliebig wählbar ist. Die
allgemeine (reelle) Lösung der Klein-Gordon-Gleichung lautet

d3 p  
φ(x, t) = a(p)eip·x–iωt + a† (p)e–ip·x+iωt (6.8)
f (ωp )

mit den jeweiligen Wellenamplituden a(p) und a† (p) und einem mit der Normierung
zusammenhängenden Faktor f (ωp ), auf den wir hier nicht im Detail eingehen wollen
(Peskin und Schroeder 1995, S. 20–22).8 Die Lösung (6.8) ist eine Zerlegung von
φ(x, t) nach ebenen Wellen bzw. physikalisch gesprochen eine Überlagerung ebe-
ner Wellen mit einem Kontinuum von verschiedenen Frequenzen (eine sogenannte
„Fourier-Zerlegung“).
Führen wir nun das Quantisierungsverfahren für das Feld durch, das von der
Klein-Gordon-Gl. (6.5), bzw. (6.6), beschrieben wird. Wir nehmen also an, dass
es sich um ein klassisches Feld handelt, wobei der Ausdruck m an dieser Stelle
noch ein uninterpretierter Parameter ist. Zur Quantisierung werden φ und das
entsprechende konjugierte Feld π als Operatoren aufgefasst, die die Vertauschungs-
relationen (6.3) erfüllen. Eine wichtige Konsequenz ist, dass die für die allgemeine
Lösung eingeführten Faktoren a(p) und a† (p) ebenfalls zu Operatoren werden, die
folgende Vertauschungsrelationen erfüllen:

[a(p), a† (p )] = f (ωp )δ 3 (p – p )


(6.9)
[a(p), a(p )] = [a† (p), a† (p )] = 0

mit dem hier wieder nicht explizit angegebenen Faktor f (ωp ) von oben.
Die Operatoren in (6.9) und ihre Vertauschungsrelationen sind entscheidend für
die Charakterisierung des Zustandsraums der Feldzustände. Die Struktur dieser Ver-
tauschungsrelationen ist aus der quantenmechanischen Theorie des harmonischen
Oszillators bekannt. Man kann zeigen, dass der Operator

N(p) = a† (p)a(p)

als Eigenwerte diskrete ganze Zahlen n(p) = 0, 1, 2, . . . hat. Außerdem kann man
zeigen, dass es einen Zustand |0 („Vakuumzustand“) geben muss, für den

a(p)|0 = 0

8 DieFrequenz ω = 2π ν ist über ωp = |p|2 c2 + m2 c4 mit dem Impuls verbunden. In vielen
QFT-Lehrbüchern werden die Lösungen der Klein-Gordon-Gleichung nicht mit den Impulsen p,
sondern mit den Wellenvektoren k formuliert, welche über p = k zusammenhängen und mit der
oben eingeführten Setzung  = 1 sogar identisch sind.
6 Quantenfeldtheorie 243

gilt9 (damit die Norm der Eigenzustände |n(p) nicht negativ werden kann). Die
diskreten Eigenwerte des Operators N(p) = a† (p)a(p) gehören zu Eigenzuständen,
die man erhält, wenn man den Operator a† (p) so oft auf den Vakuumzustand |0
wirken lässt, wie der zum jeweiligen Eigenzustand gehörige Eigenwert lautet, d. h.

[a† (p)]n(p) |0 = |n(p), (6.10)

wobei wir die Normierung hier außer Acht lassen.10 So ist beispielsweise

a† (p)|0 = |1

und
a† (p)|1 = [a† (p)]2 |0 = |2.

Die wiederholte Anwendung des Operators a† (p) auf den Vakuumzustand erzeugt
also in ganzzahligen Schritten weitere Zustände, die Eigenzustände des Operators
N(p) zu den Eigenwerten 0, 1, 2, . . . sind. Deswegen nennt man diese Operatoren
auch Erzeugungsoperatoren. Wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, bil-
den die so „erzeugten“ Zustände eine Basis im Zustandsraum, d. h. dass man zu
allen Zustandsvektoren durch mehrfache Anwendung verschiedener Erzeugungs-
operatoren und passende Linearkombination kommen kann. Umgekehrt führt die
Anwendung des Operators a(p) zu einer Verminderung des jeweiligen ganzzahligen
Eigenwertes um 1, also z. B.
a(p)|4 = |3.

Deshalb nennt man sie Vernichtungsoperatoren. Mit Hilfe der Erzeugungs- und der
Vernichtungsoperatoren kann man die Erzeugung und Vernichtung von Teilchen
in Prozessen der Elementarteilchenphysik beschreiben. Den Operator N(p) nennt
man wegen seiner ganzzahligen Eigenwerte und aus Gründen, die weiter unten
dargestellt werden, Teilchenzahloperator. 11
Zur näheren Charakterisierung der Feldzustände betrachten wir zunächst den
Vakuumzustand |0, der physikalisch und philosophisch interessant und wichtig ist.
In Brown und Harré (1988) werden einige dieser Aspekte diskutiert. Klassisch ist
das Vakuum einfach der leere Raum, in dem weder Energie noch Materie vorhanden
sind. In der Quantenmechanik hat der harmonische Oszillator einen Energiegrund-
zustand (= Zustand mit der niedrigst möglichen Energie), dessen Energieeigenwert
nicht gleich 0 ist und aus verwandten Gründen ist auch das Vakuum der QFT nicht
einfach ein Zustand, in dem nichts vorhanden ist. Dennoch ist er wegen des oben
eingeführten Teilchenzahloperators ein Zustand mit der Teilchenzahl 0. Eine wei-
tere bemerkenswerte Eigenschaft des Vakuums der QFT besteht darin, dass es vom

9 Die „0“ auf der rechten Seite bezeichnet den Nullvektor, der nicht mit dem Vakuumzustand |0
verwechselt werden darf.
10 Wir arbeiten an dieser Stelle bereits faktisch mit der sogenannten Fockraum-Darstellung der

Vertauschungsrelationen, die wir im nächsten Abschn. 6.3.3 systematisch einführen werden.


11 Zum Zusammenhang von Vertauschungsrelationen und Zustandsraum vgl. Mandl und Shaw

(2010), Abschn. 1.2.2 und 3.1.


244 M. Kuhlmann und M. Stöckler

Bezugssystem abhängig ist, d. h. verschiedene Beobachter können verschiedene


Vakua feststellen.
Um die Bedeutung der Operatoren a(p) und a† (p) – und damit der Feld-
operatoren – weiter zu veranschaulichen, kann man die Energieeigenwerte des
Klein-Gordon-Feldes näher untersuchen. Da das Klein-Gordon-Feld φ operator-
wertig ist, wird die Hamilton-Funktion H, die die Energie beschreibt, ebenfalls
operatorwertig, weil φ hierin einfließt. Für den Hamilton-Operator erhält man:

HKG = d3p ωp a† (p)a(p). (6.11)

Hierin kann man wegen der schon erwähnten Analogie der Vertauschungsrela-
tionen zu entsprechenden Operatoren, die in der quantenmechanischen Theorie des
harmonischen Oszillators eine zentrale Rolle spielen, eine Überlagerung von un-
endlich vielen harmonischen Oszillatoren mit je verschiedenen Frequenzen sehen,
die ihrerseits schon aus der Quantenmechanik bekannt sind (s. auch Fußnote 11).
Der Erzeugungsoperator a† (p) fügt dem jeweiligen Oszillator in ganzzahligen
Schritten Energiequanten ωp hinzu. Es ist nun sehr gängig zu sagen, diese
Ergebnisse vervollständigten „the justification for interpreting N(k) as the num-
ber operator, and hence for the particle interpretation of the quantized theory“
(Ryder 1996, S. 131). Danach ist a† (p) ein Erzeugungsoperator für „Teilchen“ (und
zwar Bosonen mit Spin 0, s.u.), die den Impuls p = k und die Energie ωk ha-
ben. Dies kann man daran sehen, dass die Einteilchen-Zustände a† (p)|0 sowie die
Mehrteilchen-Zustände [a† (p)]n(p) |0 Eigenzustände des (die Energie repräsentie-
renden) Hamilton-Operators sind, wobei die zugeordneten Eingenwerte gerade die
relativistischen Energien für ein bzw. mehrere nicht wechselwirkende Teilchen sind
(s.a. Fraser 2008, S. 845f).
In Abschn. 6.4.2 werden wir die Zulässigkeit dieser standardmäßigen Interpre-
tation ausführlich diskutieren. Bevor wir dies tun, werden wir sie im Folgenden
vorläufig selbst verwenden, um die Darstellung möglichst einfach zu halten und
an gängige Sprechweisen anzuschließen. Wann immer der Ausdruck „Teilchen“
auftaucht, sollte dies also als vorläufige Sprechweise verstanden werden.
Des Weiteren würde die Klein-Gordon-Gleichung damit natürlich kein einzel-
nes Teilchen beschreiben, wie dies ganz am Anfang beabsichtigt war. Gleichung
(6.10) würde bedeuten, dass wir für jede Frequenz einen Zustand mit n(p) Spin-0-
Bosonen erhalten, die einen Impuls k und eine Energie ωk haben, wenn wir n(p)
Mal den Erzeugungsoperator a† (p) auf den Vakuumzustand |0 wirken lassen. Ent-
sprechend könnte man N(p) nun im wörtlichen Sinn als Operator der Teilchenzahl
interpretieren, n(p) als Besetzungszahl für Bosonen mit Impuls p, und analog a(p)
als Vernichtungsoperator.

6.3.3 Besetzungszahldarstellung

In der Einteilchen-Quantenmechanik (Kap. 1) wie auch in der Mehrteilchen-


Quantenmechanik (Kap. 3) haben wir es immer mit einer unveränderlichen Anzahl
6 Quantenfeldtheorie 245

von Quantenobjekten zu tun. In der Elementarteilchenphysik, die sich insbesondere


mit Prozessen beschäftigt, in denen Teilchen mit so hoher Energie aufeinander sto-
ßen, dass sie vernichtet werden und neue Teilchen entstehen können, ist der Rahmen
der Mehrteilchen-Quantenmechanik offensichtlich nicht mehr ausreichend. Wir be-
nötigen eine Darstellung, die es zulässt, unendlich viele Freiheitsgrade und variable
Teilchenzahlen zu beschreiben.12
Im vorhergehenden Abschnitt haben wir gesehen, wie man das quantenmecha-
nische Analogon eines klassischen relativistischen Feldes (ohne Wechselwirkung)
durch die Feldquantisierung gewinnen kann. Durch Lösung der resultierenden Feld-
gleichung konnten wir das operatorwertige Quantenfeld als unendliche Summe von
Termen aufschreiben, die wiederum Ausdrücke mit bemerkenswerten Eigenschaf-
ten enthielten. Wir haben insbesondere Erzeugungsoperatoren gefunden, die durch
wiederholte Anwendung auf einen eindeutigen Grundzustand |0, den Vakuum-
zustand, in ganzzahligen Schritten weitere Zustände erzeugen, deren Energie und
Impuls in einem Verhältnis zueinander stehen, das für relativistische Teilchen zu
erwarten ist. Weiter hatten wir gesehen, dass die so erzeugten Zustände Eigen-
zustände eines Operators sind, der als Teilchenzahloperator interpretiert werden
kann, in dem Sinne, dass seine Eigenwerte gerade angeben, wie oft der Er-
zeugungsoperator angewendet werden muss, damit der zugeordnete Eigenzustand
erreicht wird. Diese Ergebnisse lassen sich ausnutzen, um für den Zustandsraum
des quantisierten freien Klein-Gordon-Feldes eine besonders nützliche Darstel-
lung zu konstruieren, die auf einer speziellen Wahl der Basis im Raum der
Feldzustände beruht – welche wir im letzten Abschnitt faktisch schon verwendet
haben.
Zunächst wird die Basis der Einteilchen-Zustände erzeugt, die alle Zustände
enthält, die durch einmalige Anwendung der Erzeugungsoperatoren bzgl. der
verschiedenen Impulswerte gebildet werden. So erzeugt beispielsweise der Erzeu-
gungsoperator a† (pi ) den Basiszustand

|φi  ≡ a† (pi )|0 = |0, 0, . . . , 1i , . . .,

wobei |0, 0, . . . , 1i , . . . bedeutet, dass an der i-ten Stelle eine 1 steht und sonst
nur Nullen (mit der schon vorher faktisch benutzen Abkürzung |0 ≡ |0, 0, . . .).
Physikalisch wird dies gängiger Weise als ein Zustand interpretiert, in dem es
genau ein Teilchen (ein Boson) gibt, das den i-ten Impulswert pi hat – oder

12 Die Möglichkeit, variable Teilchenzahlen zu beschreiben, bedeutet nicht gleichzeitig, dass die zu

Grunde liegenden Wechselwirkungen selbst beschrieben werden. Wir arbeiten weiter mit der so-
genannten freien Theorie aus dem vorigen Abschnitt. Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren
beschreiben in ihr keine dynamischen Prozesse. Tatsächlich besagt das sogenannte Haagsche
Theorem sogar, dass die Beschreibung von Wechselwirkungen in dem Rahmen dieser Theorie
ausgeschlossen ist. Diese Einschränkung auf die freie Theorie hat wichtige Konsequenzen für die
Interpretation (s. Abschn. 6.4.2). Für die konkrete Behandlung von Streuprozessen ist sie aber zu-
nächst nicht so erheblich, wie es erscheinen mag, da wir es hier zumindest mit asymptotisch,
d. h. auf lange Sicht, freien Zuständen zu tun haben und diese „lange Sicht“ fast sofort nach der
Wechselwirkung erreicht wird.
246 M. Kuhlmann und M. Stöckler

alternativ als ein Feld, das in der i-ten Mode angeregt ist.13 Die Basis der
Zweiteilchen-Zustände wird dadurch erzeugt, dass zweimal hintereinander ein
Erzeugungsoperator auf den 0-Teilchen-Zustand |0 wirkt, wobei sowohl Erzeu-
gungsoperatoren für zwei verschiedene Impulswerte vorkommen als auch die
zweifache Anwendung für denselben Impulswert. Hierdurch entstehen Basisvekto-
ren des Typs |0, 0, . . . , 1, . . . , 1, . . . oder |0, 2, . . . , 0, . . ., bei denen die Summe der
Besetzungszahlen 2 ist. Allgemein lauten die Basisvektoren in dieser „Besetzungs-
zahldarstellung“ (auch „Fockraum-Darstellung“)

|n1 , n2 , . . . ni , . . .,

womit ausgedrückt wird, dass n1 Teilchen im Zustand |φ1  sind, n2 Teilchen im


Zustand |φ2  usw. Erzeugt werden diese Zustände durch mehrfache Anwendung
der Erzeugungsoperatoren auf den Vakuumzustand. Damit sinddie Basiszustä-
nde eines n-Teilchen-Systems alle so erzeugten Zustände mit ni = n. Wie
wir am Anfang bereits gesagt haben, ist es ein wesentliches Ziel der Fockraum-
Darstellung, Zustände mit wechselnder Teilchenzahl beschreiben zu können. Dieses
Ziel wird nun erreicht, indem für den gesamten Zustandsraum eines bosoni-
schen Klein-Gordon-Feldes die n-Teilchen-Zustandsräume für alle n ∈ (0, 1, 2, . . . )
zusammengenommen werden, mathematisch repräsentiert durch die direkte
Summe
∞ "
! #
Fbos. = |n1 , n2 , . . ., ni = n , (6.12)
n=0

wobei der erste Index anzeigt, dass es sich bei diesem Fockraum um den Zustands-
raum eines bosonischen Feldes handelt. Anders als in einem n-Teilchen-Hilbertraum
können im Fockraum also Zustände mit verschiedenen Teilchenzahlen beschrieben
werden. Des Weiteren umfasst die direkte Summe der n-Teilchen-Zustandsräume
lineare Superpositionen verschiedener n-Teilchen-Zustände, so dass man auch
Zustände mit nicht definierter Teilchenzahl hat.
Wie hängt diese Beschreibung von Mehrteilchen-Systemen im Fockraum nun
mit der Darstellung zusammen, die wir in Kap. 3 und 4 kennengelernt und be-
nutzt haben? Dort wurden Teilchen zunächst stets durch einen Index (engl. oft
„label“) bezeichnet, und die Ununterscheidbarkeit von Teilchen desselben Typs
wurde durch die Symmetrisierungsforderung für die erlaubten Zustände umgesetzt
(s. Abschn. 3.1.3). In der Besetzungszahldarstellung, die wir in diesem Abschnitt
eingeführt haben, kommen Indizes für Teilchen dagegen gar nicht mehr vor. Der
einzige Index, den wir hier verwenden, bezieht sich auf die diskrete Abfolge der
Impulseigenzustände, die jeweils ni -fach besetzt sind. Diese indexfreie (engl. oft
„unlabelled“) Darstellung trägt der Symmetrisierungsforderung automatisch Rech-
nung, da es nicht einmal mehr ausdrückbar ist, dass Teilchen a den Impulswert pi

13 Diese Alternative bedeutet, dass die ontologische Bedeutung der erzeugten Zustände hier (noch)
nicht festgelegt ist.
6 Quantenfeldtheorie 247

hat und Teilchen b den Impulswert pj , also

|φ = |φia  ⊗ |φjb . (6.13)

Der symmetrische Zweiteilchen-Zustand

1
√ |φia  ⊗ |φjb  + |φib  ⊗ |φja  (6.14)
2

der indizierten Hilbertraumformulierung wird in der Besetzungszahldarstellung (für


Bosonen14 ) einfach durch den Zustand

|0, 0, . . . , 1i , . . . , 1j , . . . (6.15)

ausgedrückt, bei dem ein Teilchen im Zustand φi ist und ein Teilchen im Zustand φj .
Die Ununterscheidbarkeit quantenmechanischer Teilchen desselben Typs – samt der
jeweiligen Symmetrisierungsforderung – ist also in der durch die Feldquantisierung
natürlich resultierenden Besetzungszahldarstellung automatisch verankert. Wie wir
in Abschn. 6.4.2 sehen werden, ist diese Beobachtung eine wesentliche Grundlage
für die sogenannte Quanta-Interpretation. Wir werden in der Diskussion dieser In-
terpretation jedoch auch sehen, dass die Fockraum-Darstellung zwar eine für viele
Zwecke nützliche Wahl der Basis im Raum der Feldzustände ist, daraus aber kein
gutes Argument für eine bestimmte Interpretation der QFT abgeleitet werden kann.
Für eine angemessene Diskussion der Quanta-Interpretation benötigen wir
noch eine weitere Untersuchung zum Verhältnis der gerade eingeführten Fock-
raum-Darstellung mit der Darstellung im indizierten Tensorprodukt-Mehrteilchen-
Formalismus, den wir in Abschn. 3.1.2 kennengelernt haben. In der letzteren
Darstellung können wir den Zustandsraum eines n-Teilchen-Systems durch das
n-fache Tensorprodukt von Einteilchen-Hilberträumen H erzeugen, also


n
Hn = H1 ⊗ H2 ⊗ . . . ⊗ Hn = Hi , (6.16)
i=1

wobei der untere Index die n Einteilchen-Zustandsräume nummeriert. Entsprechend


lassen sich die einfachsten Basiszustände ψ ∈ Hn eines n-Teilchen-Hilbertraums
als
|ψ = |ψ1  ⊗ |ψ2  ⊗ . . . ⊗ |ψn , |ψi  ∈ Hi

14 Da a† (p) und a† (p ) laut Gl. 6.9 kommutieren, ist der Zweiteilchen-Zustand a† (p )a† (p )|0
identisch mit dem Zustand a† (p )a† (p)|0 mit vertauschten Erzeugungsoperatoren. Mehrteilchen-
Zustände sind also symmetrisch unter Permutationen der Erzeugungsoperatoren. Des Weiteren
können beliebig viele Klein-Gordon-„Teilchen“ mit demselben Impuls bzw. in derselben Feldmode
p erzeugt werden. Wie wir in Kap. 3 gesehen haben, bedeutet dies, dass Klein-Gordon-„Teilchen“
Bosonen sind.
248 M. Kuhlmann und M. Stöckler

aufschreiben. Wir haben weiter gesehen, dass der Tensorproduktraum (6.16)


charakteristisch für die Quantenmechanik ist, da seine Elemente auch Superposi-
tionen von mehreren Produktzuständen umfassen, während im Mehrteilchen-Zu-
standsraum der klassischen Mechanik die Zustände der Teilchen völlig unabhängig
voneinander sind und einfach aufsummiert werden (s. Abschn. 3.1.2). Wir hat-
ten aber auch gesehen, dass der Tensorproduktraum so strukturreich ist, dass in
vielen wichtigen Fällen Zustände als verschieden beschrieben werden können,
denen in der Natur nichts Verschiedenes entspricht. Konkret ging es dabei um
Mehrteilchen-Zustände, die sich lediglich durch Permutationen von Teilchen der-
selben Sorte unterscheiden. Das Ergebnis dabei war, dass je nach der betreffenden
Teilchensorte – Bosonen oder Fermionen – nur symmetrische oder antisymmetri-
sche Zustände erlaubt sind, während der Tensorproduktraum auch unsymmetrische
Zustände enthält, die in der Natur nicht vorkommen.
Da wir es im Falle unseres obigen Feldsystems – mit bosonischen Vertau-
schungsrelationen (6.9) – auch mit ununterscheidbaren Teilchen derselben Sorte zu
tun haben, enthält Hn auch hier Zustände, die aus Symmetriegründen nicht erlaubt
sind.15 Es ist nun möglich, im Rahmen der indizierten Hilbertraum-Beschreibung
Hn so zu verkleinern, dass die nicht-symmetrischen Zustände ausgeschlossen
werden und nur die symmetrischen Zustände (bei Bosonen) oder die antisymme-
trischen Zustände (bei Fermionen) übrig bleiben. Für unsere Zwecke konstruieren
wir den symmetrischen Unterraum des n-Teilchen-Hilbertraums in Gl. (6.16) durch


n
Hsym
n
= H1 ⊗s H2 ⊗s . . . = S Hi (6.17)
i=0

wobei ⊗s das Tensorprodukt bezeichnet, das nur symmetrische Zustände zulässt.16


Um sämtliche Zustände zu erhalten, reicht dies beim Klein-Gordon-Feld aber
nicht mehr aus. Hier können bosonische Teilchen mit beliebigen Impulsen vor-
kommen bzw. beliebig viele Moden angeregt sein. Der Zustandsraum muss also
auf variable Teilchenzahlen erweitert werden, indem alle möglichen n-Teilchen-
Hilberträume aufsummiert werden. Damit kann der in Gl. (6.12) eingeführte Fo-
ckraum auch im indizierten Tensorprodukt-Mehrteilchen-Formalismus konstruiert
werden als

!
HF,bos. = Hsym
n
, (6.18)
n=0

wobei der Vakuumzustand aus rechentechnischen Gründen analog zu den n-Teil-


chen-Hilberträumen einfach als H0 geschrieben wird. Ausgeschrieben ist der
Fockraum also

15 Es gibt natürlich auch in der Quantenphysik Systeme mit unterscheidbaren Teilchen, näm-
lich Mehrteilchen-Systeme mit verschiedenen Teilchensorten. Auch diese werden mit dem
Hilbertraum-Formalismus beschrieben und lassen daher die typischen Superpositionen zu.
16 Es gilt h ⊗ h ≡ h ⊗ h + h ⊗ h .
1 s 2 1 2 2 1
6 Quantenfeldtheorie 249


n 
! 
HF,bos. = S Hi . (6.19)
n=0 i=0

Dabei wird entsprechend zu (6.12) die direkte Summe aller symmetrisierten n-Teil-
chen-Hilberträume gebildet. In Abschn. 6.4.2 wird die Äquivalenz der Fockraum-
Darstellung mit der entsprechenden symmetrisierten Darstellung im indizierten
Tensorprodukt-Mehrteilchen-Formalismus eine wichtige Rolle bei der Bewertung
der Quanta-Interpretation spielen.

6.3.4 Quantenfeldtheorie und Experiment

Die bisherige Darstellung der mathematischen Struktur der QFT hat noch nicht
eindeutig gezeigt, wie diese Theorie raumzeitlich zu interpretieren ist. In der all-
gemeinen Betrachtung bleibt vieles zunächst unbestimmt, z. B. die Frage, wie
die Zustände aussehen, auf die die Feldoperatoren wirken. Für die Anwendung
der Theorie muss die Verknüpfung der mathematischen Ausdrücke mit Mess-
ergebnissen geklärt sein, die in Geräten gewonnen werden, die Ereignisse an
einem bestimmten Ort und z. B. in eine bestimmte Richtung verlaufende „Teilchen-
spuren“ aufzeichnen. Spätestens für die experimentelle Anwendung muss also die
QFT raumzeitlich interpretierbar sein, jedenfalls so weit, dass die Ergebnisse der
Experimente mit Vorhersagen der Theorie verglichen werden können.
Dazu werden wir im Folgenden eine typische Anwendung skizzieren, nämlich
die Analyse eines Streuprozesses. Wenn die QFT in der Elementarteilchenphysik
zum Einsatz kommt, geht es fast immer um Berechnungen von Streuprozessen und
ihre experimentelle Überprüfung. In einem typischen Streuexperiment werden in
einem Beschleuniger Quantenobjekte einer bestimmten Art so präpariert, dass sie
alle den gleichen Impuls haben. In einer anschaulichen und populären Sprechweise,
die auch in der Experimentalphysik verwendet wird, würde man sagen, dass Teil-
chen beschleunigt werden, die alle mit gleicher Energie in die gleiche Richtung
fliegen. Dieser „Teilchenstrahl“ wird z. B. auf ein Ziel (Streuzentrum) gelenkt, das
aus anderen Quantenobjekten besteht, oder zwei solcher Teilchenstrahlen werden
zur Kollision gebracht. Die Vorgänge in der unmittelbaren Wechselwirkungszone
wird man in der Regel nicht beobachten können. Mit Hilfe von Nachweisgeräten
(„Detektoren“) kann man aber registrieren, wie die Quantenobjekte ihren Impuls
geändert haben und welche neuen „Teilchen“ beim Zusammenstoß entstanden sind.
Durch Auswertung der von den verschiedenen Detektoren gelieferten Daten kann
man Eigenschaften wie Masse, Ladung oder Energie (bzw. Impuls) der aus dem
Wechselwirkungsbereich auslaufenden Quantenobjekte bestimmen. Diese Größen
kann man dann mit den Rechnungen der Theorie vergleichen, die z. B. voraussagen,
wie viele Teilchen mit einer bestimmten Energie in den verschiedenen Richtungen
nachgewiesen werden können.
Die üblichen Rechnungen gehen der experimentellen Situation entsprechend da-
von aus, dass zu Beginn und am Ende des Streuprozesses nur weit voneinander
entfernte, nicht wechselwirkende („freie“) Quantenobjekte auftreten (vgl. Abb. 6.2).
250 M. Kuhlmann und M. Stöckler

Abb. 6.2 Schema eines einlaufende auslaufende


Streuexperiments Teilchen Teilchen

Wechsel-
wirkung

im Detektor
ursprünglicher nachgewiesener
Zustand: |a〉 Zustand: |b〉

Es wird ein Streuoperator S eingeführt, der beschreibt, in welchen Zustand der An-
fangszustand übergeht, d. h. welcher Feldzustand sich am Ende des Streuprozesses
aus dem präparierten Anfangszustand (der z. B. den Impuls und die Energie der
Teilchen beschreibt, die zur Kollision gebracht werden) entwickelt.
Ziel der Berechnung ist die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit

Wab = |Sab |2 , (6.20)

dass ein bestimmter Anfangszustand |a in einen bestimmten Endzustand |b über-
geht. Dieser Ausdruck spielt bei Streuprozessen eine änliche Rolle wie die Bornsche
Regel in der Quantenmechanik. Dabei sind die Sab die Elemente der sog. Streumatrix

Sab = a | S| b. (6.21)

Grundlage der Berechnung der Elemente der Streumatrix ist eine Gleichung für die
zeitliche Veränderung der Zustände, die nur die Entwicklung aufgrund der Wechsel-
wirkungen berücksichtigt und für die eine Art Schrödinger-Gleichung gilt, in der im
Hamilton-Operator Hww (t) nur die Elemente des Lagrange-Operators auftauchen,
die die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Quantenfeldern beschreiben:


i |ψ(t) = Hww (t) |ψ(t). (6.22)
∂t
Der Operator Hww (t) ist also systemspezifisch und enthält die Beschreibungen der
jeweiligen Wechselwirkungstypen (z. B. der Wechselwirkung eines Photons mit ei-
nem Elektron) durch Feldoperatoren. Neu entdeckte Teilchentypen (Quantenfelder)
würden also zu Zusatztermen in Hww (t) führen. Für die Berechnung des Streu-
operators S gibt es einen Lösungsweg, der durch den Operator Hww (t) bestimmt
ist. S kann dann schrittweise in immer weiter verbesserten Näherungen berechnet
werden. Dabei erhält man den Wert eines Elements der Streumatrix als Summe von
immer kleiner werdenden Beiträgen (d. h. als Reihenentwicklung im Sinne einer
Störungstheorie).
6 Quantenfeldtheorie 251

Abb. 6.3 Ergebnisse eines Streuexperiments

Die Übergangswahrscheinlichkeiten Wab ermöglichen den Test der Theorie, da


aus ihnen z. B. folgt, wie viele Ereignisse man in einem bestimmten Detektor zu
erwarten hat oder wie viele Teilchen mit welchem Impuls in eine bestimmte Rich-
tung fliegen. Zur Verknüpfung der Theorie mit dem konkreten Experiment (vgl.
Abb. 6.3) muss man aber nicht nur etwas über die Feldoperatoren wissen, die in
S eingehen, man muss auch Angaben zu den Feldzuständen |a und |b machen.
Im Hinblick auf die Experimente ist es naheliegend, die Zustände der eingehenden
Teilchen und die Produkte des Wechselwirkungsprozesses durch Eigenzustände des
Impulsoperators des Feldes zu beschreiben. Die Analogie zu klassischen Feldern
führt zu der Vorstellung, dass es sich dabei um ebene Wellen in einer durch den
Impuls festgelegten Richtung und mit der entsprechenden Wellenlänge handelt. Da
diese Zustände Eigenzustände des Impulsoperators sind, könnte man anschaulich
aber auch davon sprechen, dass die Feldzustände eine bestimmte Anzahl von Teil-
chen mit einem bestimmten Impuls beschreiben. Ein typischer Prozess ist, dass
sich bei der Wechselwirkung die Richtung der eingehenden Teilchen ändern kann.
Das äußert sich in der Fockraum-Darstellung darin, dass aus dem Anfangszustand
ein Zustand mit einem bestimmten Impuls „vernichtet“ wird und dafür im Endzu-
stand ein Zustand mit einem in der Richtung veränderten Impuls „erzeugt“ wird.
Anfangs- und Endzustand unterscheiden sich demnach in ihren Besetzungszahlen
für die Zustände der beteiligten Impulse.
Die Berechnung der Elemente der Streumatrix a|S|b ist sehr aufwändig und
führt zu einer großen Anzahl einzelner Beiträge (s. Peskin und Schroeder 1995,
Kap. 4). Man bekommt diese Elemente als Summe von Ausdrücken, in denen
Kombinationen von Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren vorkommen, die auf
den Vakuumzustand |0 wirken. Den einzelnen Ausdrücken kann man Zahlenwerte
252 M. Kuhlmann und M. Stöckler

Abb. 6.4 Feynman-Diagramm e– e–


eines Beitrags zur
Elektron-Elektron-Streuung

e– e–

oder Integrale zuordnen, aus denen sich in der Summe dann der Wert des Streu-
matrixelements ergibt. Ein wichtiges und außerordentlich hilfreiches Hilfsmittel
sind dabei die sogenannten Feynman-Graphen. Den einzelnen Komponenten ei-
nes Diagramms (vgl. z. B. Abb. 6.4) sind mathematische Ausdrücke zugeordnet,
so dass die anschaulichen Diagramme helfen, beim Rechnen nicht die Übersicht zu
verlieren.
Obwohl diese Feynman-Diagramme häufig zur Veranschaulichung elementarer
Prozesse benutzt werden, haben sie innerhalb der Theorie nicht die Aufgabe, raum-
zeitliche Prozesse abzubilden. Diese Rolle können sie aus prinzipiellen Gründen
nicht übernehmen. Sie sind ein graphisches Hilfsmittel zur störungstheoretischen
Auswertung der Streumatrix.17 In der Abb. 6.4 haben die Linien für die Elektronen
offene Enden. Sie stehen für mathematische Ausdrücke, die ein- bzw. auslaufen-
den Teilchen zugeordnet werden können. Die Wellenlinie dazwischen, die von
Operatoren für das elektromagnetische Feld herrührt, hat dagegen im Diagramm
einen Anfangs- und Endpunkt. Anschaulich wird oft gesagt, dass sie ein Photon be-
schreibt, das an einem Punkt erzeugt und an dem anderen vernichtet wird. Solche
Teilchen hat Feynman schon 1949 „virtuell“ genannt, weil sie nicht im Anfangs-
oder Endzustand vorkommen. Tatsächlich ist diese Sprechweise irreführend. Da
die Diagramme, wie gesagt, nur Illustrationen für mathematische Ausdrücke sind,
beschreiben solche inneren Linien keine Bahnen von irgendwelchen Teilchen, ob
virtuell oder nicht. Es gibt also keinen eigenen Typ von „virtuellen“ Teilchen, über
deren besondere Existenzweise man sich Gedanken machen müsste.
Abbildungen wie 6.4 haben zu einem weiteren populären Missverständnis ge-
führt, weil es so aussieht, als ob ein Photon die beiden Elektronen auseinander
treiben würde. So wird gesagt, dass durch den Austausch von Photonen die elektro-
magnetische Wechselwirkung zwischen geladenen Teilchen vermittelt werde. Ein
genauerer Blick auf die mathematische Formulierung der QFT zeigt aber, dass Elek-
tronen, Protonen und Photonen in gleicher Weise durch Quantenfelder repräsentiert
werden. Wechselwirkungen zwischen solchen Feldern werden dadurch beschrieben,

17 Zur
Diskussion um die Bedeutung der Feynman-Diagramme vgl. Wüthrich (2012) und Kuhl-
mann (2010), Abschn. 10.3 und 10.4.
6 Quantenfeldtheorie 253

dass im Lagrange-Operator eigene Terme auftreten, deren Wirkungen man dann in


den Elementen der Streumatrix sehen kann. Das anschauliche Bild eines „Teilchen-
austauschs“ tritt nur in den Feynman-Graphen der Näherungsrechnungen auf und
kann nicht als Beschreibung eines räumlichen Prozesses verstanden werden. Auch
wenn man die QFT als Theorie über Teilchen interpretieren würde, bliebe das Bild
eines Teilchenaustauschs metaphorisch. Und selbst auf der metaphorischen Ebene
wird anschaulich nicht klar, wie ein Austausch von Teilchen zu anziehenden und
abstoßenden Kräften führen könnte.
Da die Feldzustände |a und |b durch die Impulsoperatoren aus dem Vakuum-
zustand |0 erzeugt werden, kann man die Elemente der Streumatrix auf Vakuum-
erwartungswerte 0|A|0 zurückführen, wobei der Operator A aus Feldoperatoren
bzw. aus Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren zusammengesetzt ist. Die Feld-
zustände sind in diesem Ausdruck nicht mehr explizit sichtbar, sie wirken sich aber
noch darauf aus, welche Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren zur Charakte-
risierung von |a und |b ausgewählt werden, womit man festlegt, in welcher
Richtung auslaufende Teilchen gemessen werden. Schon aus dieser groben Skizze
wird deutlich, dass auch in der Anwendung der QFT der Streuprozess nicht voll-
ständig als raumzeitlicher Prozess rekonstruiert werden kann. Da man nur an
Übergangselementen der Art Sab = a|S|b interessiert ist, kann auch die Antwort auf
die Frage, ob sich nun eigentlich die Feldoperatoren oder die Feldzustände im Lau-
fe der Zeit ändern, offen bleiben. Beide Varianten führen nämlich auf die gleichen
Übergangswahrscheinlichkeiten. Der gesamte Streuprozess wird als „stationäres“
Problem behandelt, die Dynamik der Wechselwirkung wird mathematisch nur im
Blick auf einen Strom eingehender und ausgehender freier Quantenobjekte analy-
siert. Da aus der Theorie in dieser Anwendung nur Übergangswahrscheinlichkeiten
folgen, bleibt im Übrigen offen, welcher der möglichen Messausgänge tatsächlich
eintritt. Auch in der QFT bleibt also das Problem des Messprozesses ungeklärt, das
selbst auch einen Aspekt von raumzeitlicher Diskontinuität hat.

6.3.5 Probleme der konventionellen Quantenfeldtheorie

Dieser Abschnitt stellt einige Probleme des (von uns eingeführten) gängigen Forma-
lismus der QFT dar. Diese Probleme sind der Hintergrund verschiedener Versuche,
die QFT axiomatisch zu reformulieren. Die generelle Annahme ist hierbei, dass die
Unzulänglichkeiten der konventionellen QFT an ihrer gewachsenen Theoriestruktur
liegen und durch eine konzeptionell klarere und mathematisch präzisere Neuformu-
lierung beseitigt werden können. Den für die Interpretation der QFT fruchtbarsten
Ansatz, die „Algebraische QFT“ (AQFT), werden wir am Ende kurz vorstellen.
Wie eingangs im Abschn. 1.2 sowie im Abschn. 1.2.4 bereits kurz angedeu-
tet, besteht für die Quantenmechanik eine gewisse Freiheit bei der Wahl des
Formalismus, speziell bei der Art, wie Observable (und Zustände) mathematisch
repräsentiert werden. Wie wir gesehen haben, können die für die Quantenmecha-
nik grundlegenden kanonischen Vertauschungsrelationen, etwa für Ort und Impuls,
nur durch Operatoren erfüllt werden. Allgemein werden Observable durch lineare
254 M. Kuhlmann und M. Stöckler

Operatoren auf dem Vektorraum der Zustände (dem Hilbertraum) repräsentiert.


Die kanonischen Vertauschungsrelationen legen die betreffenden Operatoren zwar
weitgehend fest, jedoch gibt es eine gewisse Freiheit bei der Auswahl der Zustands-
Vektorräume und der Basisvektoren, die die mathematische Gestalt der Operatoren
bestimmen, wodurch eine Darstellung der durch die Vertauschungsrelationen be-
stimmten algebraischen Struktur festgelegt wird. Gemeinsam ist allen Darstellungen
in den verschiedenen Zustandsräumen, dass die jeweiligen Operatoren in denselben
algebraischen Relationen zueinander stehen und dass für sie z. B. die gleichen Ver-
tauschungsrelationen gelten. Eben dies macht sie zu verschiedenen Darstellungen
derselben Vertauschungsrelationen.
In der Schrödingerschen Version der Quantenmechanik – der Wellenmechanik –
die in der Ortsbasis arbeitet, wird die Ortsobservable z. B. durch einen Multi-
plikationsoperator und der Impuls durch einen Differenzialoperator dargestellt. In
Abschn. 1.2.4 haben wir diese Operatoren explizit angegeben.18 Eine weitere Mög-
lichkeit ergibt sich aus dem Übergang zu einer Impulsdarstellung. Noch eine ganz
andere Alternative ist die besonders auf Heisenberg zurück gehende Matrizen-
mechanik (s.a. Kap. 7) – auch „Energiedarstellung“ genannt –, bei der Observable
durch Matrizen dargestellt werden. Wie Stone und von Neumann schon Anfang der
1930er Jahre gezeigt haben, sind Wellenmechanik und Matrizenmechanik äquiva-
lent zueinander, da sie durch bestimmte („unitäre“) Transformationen ineinander
überführbar sind.19 Genauer gesagt, sind es zwei äquivalente Darstellungen des ab-
strakteren Hilbertraum-Formalismus, den von Neumann zu dieser Zeit allerdings
erst formuliert hat. (Unitäre) Äquivalenz verschiedener Darstellungen bedeutet
physikalisch, dass Observable zwar unterschiedlich dargestellt werden, die jewei-
ligen Darstellungen aber zu denselben beobachtbaren Erwartungswerten führen.
Mit welcher Fassung der Quantenmechanik – d. h. in welcher Darstellung – man
konkret arbeitet, hängt in der Regel von dem pragmatischen Ziel ab, Rechnungen
möglichst leicht zu machen. Da alle (irreduziblen20 ) Darstellungen der Vertau-
schungsrelationen durch Operatoren auf dem betreffenden Hilbertraum äquivalent
zueinander sind, hat die Wahl der Darstellung keinerlei physikalische Relevanz.
Dies ändert sich in der QFT jedoch grundlegend, da die Vertauschungsrelationen
hier inäquivalente Darstellungen zulassen. Der Grund für diesen Unterschied be-
steht darin, dass Felder Systeme mit unendlich vielen Freiheitsgraden sind, was
darin zum Ausdruck kommt, dass es sich bei den Vertauschungsrelationen (6.3)
um unendlich viele handelt, da es für jeden Raumzeit-Punkt einen eigenen Satz
von Relationen gibt. Gewöhnlich wird in der QFT ohne weitere Begründung ei-
ne bestimmte Hilbertraum-Darstellung der Vertauschungsrelationen gewählt. Eine

18 Da die meisten Operatoren in der Schrödingerschen Version der Quantenmechanik Differenzial-


operatoren sind, hatten wir diesen Zugang den „Analysis-Zugang“ genannt.
19 Im Folgenden werden gelegentlich unerläuterte Begriffe in Anführungsstrichen oder eingeklam-

mert auftauchen, entweder damit die betreffenden Aussagen nicht falsch werden und/oder um dem
Leser mit weitergehenden Interessen den Zugang zu vertiefender Literatur zu erleichtern. Bei der
ersten Lektüre können die jeweiligen Begriffe jedoch ignoriert werden.
20 Siehe Abschn. 3.1.4.
6 Quantenfeldtheorie 255

gewisse Rechtfertigung findet diese pragmatische Einstellung darin, dass die al-
lermeisten der ignorierten inäquivalenten Darstellungen physikalisch keinen Sinn
ergeben (weil physikalische Grundforderungen verletzt werden). Dennoch blei-
ben immer noch verschiedene physikalisch sinnvolle inäquivalente Darstellungen
übrig.21 Insbesondere für die Interpretation der QFT muss daher unterstrichen
werden, dass – anders als in der Quantenmechanik – die Wahl der Darstellung keine
harmlose pragmatische Angelegenheit ist.22
Aus dem Vorhandensein verschiedener physikalisch sinnvoller inäquivalenter
Darstellungen der Vertauschungsrelationen ergeben sich zwei Fragen. (i) Gibt es ei-
ne Möglichkeit, die Wahl einer bestimmten Darstellung zu vermeiden oder ggf. zu
rechtfertigen? (ii) Hat dies Auswirkungen auf die Interpretation der QFT, insbeson-
dere bei ontologischen Fragen? Die Frage (ii) werden wir im nächsten Abschn. 6.4
behandeln. Eine Antwort auf die Frage (i) wird im Rahmen einer Neuformulierung
der QFT versucht, der wir uns jetzt zuwenden.
Die QFT ist, wie wir gesehen haben, zunächst mit Hilfe von Analogien
zur klassischen Feldphysik und zur Einteilchen-Quantenmechanik entwickelt wor-
den, wobei aufgrund der unendlich vielen Freiheitsgrade immer wieder spezielle
mathematische Schwierigkeiten auftreten. Seit den 1950er Jahren gibt es deshalb
Versuche, die QFT in einer systematischen, vorzugsweise axiomatischen Wei-
se so zu reformulieren, dass diese Defizite schon im Ansatz vermieden werden.
Als besonders erfolgreich hat sich dabei die sogenannte Algebraische Quanten-
feldtheorie herausgestellt.23 Die zentrale Idee der AQFT besteht darin, anders als
die konventionelle QFT nicht eine spezielle Darstellung der kanonischen Vertau-
schungsrelationen durch bestimmte Operatoren auf einem Hilbertraum zu wählen,
sondern die Ebene der in den Vertauschungsrelationen zum Ausdruck gebrachten al-
gebraischen Beziehungen zum Ausgangspunkt der Theoriebildung zu machen. Kurz
gesagt stehen abstrakte Observablen-Algebren, wie z. B. durch Vertauschungsrela-
tionen festgelegt, im Zentrum der Theorie. Auf dieser Ebene werden dann – so das
ursprüngliche Ideal – in axiomatischer Weise verschiedene physikalische Forde-
rungen erhoben, die etwa die relativistische Natur der Theorie betreffen. So wird

21 Auf der Existenz inäquivalenter Darstellungen beruht z. B. der sogenannte Unruh-Effekt, wo-

nach das, was für einen Beobachter wie ein Vakuum aussieht, für einen beschleunigt bewegten
Beobachter als thermisches Bad von Teilchen erscheint. Der tiefere Grund für dieses anschei-
nende Paradoxon ist, dass mit den beiden Beobachtern verschiedene inäquivalente Darstellungen
verbunden sind, was u.a. bedeutet, dass sie verschiedene Vakuumzustände haben. Tatsächlich
hängen verschiedene inäquivalente Darstellungen sogar systematisch mit verschiedenen Vakuum-
zuständen zusammen. Dies ist Grundlage der sogenannten „GNS-Konstruktion“, die für den
Zusammenhang von AQFT und konventioneller QFT eine wichtige Rolle spielt, da hierbei
ausgehend von Observablen-Algebren verschiedene Operatordarstellungen mit je verschiedenen
Vakuumzuständen konstruiert werden.
22 Ruetsche (2003) diskutiert ausführlich die philosophischen Konsequenzen.
23 Haag (1996) bietet eine umfassende Darstellung der AQFT. Buchholz (2000) betont die Grund-

züge der AQFT. Halvorson und Müger (2007) bietet eine mittellange Einführung, die sich
insbesondere an Philosophen der Physik richtet.
256 M. Kuhlmann und M. Stöckler

z. B. gefordert, dass Observablen, die sich auf raumartig zueinander liegende Ge-
biete beziehen, miteinander kommutieren müssen, da sich Messungen, die nach
der speziellen Relativitätstheorie in kausal getrennten Raumzeitgebieten stattfinden,
nicht beeinflussen dürfen.24
Leider hat es sich als unerwartet schwierig herausgestellt, realistische Modelle
für die AQFT zu finden, d. h. insbesondere für interaktive Quantenfeldtheorien.
Das heißt, man kann die AQFT nicht in der Hochenergiephysik zur Berechnung
von Wirkungsquerschnitten einsetzen, da man mit ihr (noch?) keine befriedigende
Verbindung zum Experiment herstellen kann. Trotz dieser zweifellos erheblichen
Einschränkung ist es im Rahmen der AQFT jedoch möglich, einige grundlegende
Resultate zu erzielen, die für die Interpretation der QFT von großer Bedeutung
sind. Vor diesem Hintergrund ist es nachzuvollziehen, dass dieser Ansatz seit den
1990er Jahren in vielen, evtl. sogar den meisten philosophischen Untersuchungen
zur QFT zugrunde gelegt wird.25 Dies bezieht sich etwa auf Einsichten zur Nicht-
Lokalisierbarbeit von Quantenobjekten, die ein entscheidendes Argument gegen die
Teilcheninterpretation darstellen (s. Abschn. 6.4.2). Darüber hinaus bildet die AQFT
eine wichtige Grundlage gerade für einige der jüngsten Interpretationsansätze
(s. Abschn. 6.5).
Die konventionelle QFT hat ein weiteres Problem, das den Wunsch verständ-
lich macht, sie mathematisch präziser neu zu formulieren. Im Abschn. 6.3.4 haben
wir skizziert, wie in der konventionellen QFT die Verknüpfung mit dem Experi-
ment durch schrittweise Berechnung der Elemente der Streumatrix Sab hergestellt
wird. Bei der Durchführung dieser Näherungsrechnungen zeigen sich mathema-
tische Probleme, die daran zweifeln lassen, dass die konventionelle QFT eine in
einem strengen mathematischen Sinn konsistente Theorie ist. Fast alle Beiträge, die
sich in der Summe eigentlich immer mehr einem bestimmten Wert nähern sollten,
sind unendlich, d. h. die Berechnung der zugehörigen Elemente der Streumatrix
führt zu keinem endlichen Wert (die entsprechenden Integrale divergieren). Be-
rechnungen von Übergangswahrscheinlichkeiten im Rahmen der Störungstheorie
ergeben also Reihenentwicklungen, die in den ersten Ordnungen zu hervorragenden
Übereinstimmungen mit dem Experiment führen, aber in höheren Ordnungen (d. h.
bei Hinzunahme weiterer Korrekturelemente) wieder divergieren.
Man hat zur Umgehung dieser Schwierigkeiten verschiedene pragmatische
Methoden entwickelt. Eine Möglichkeit ist, in den Lagrange-Operator weitere Ter-
me einzufügen, so dass die Elemente der Streumatrix wieder endlich werden. Bei
bestimmten Quantenfeldtheorien (d. h. bei Lagrange-Operatoren, die zu den soge-
nannten renormierbaren Theorien führen) gelingt es, durch die Einführung einer
endlichen Zahl von Zusatztermen allen relevanten Elementen der Streumatrix einen
endlichen Wert zu geben. Diese pragmatischen Verfahren kann man in einem gewis-
sen Sinn rechtfertigen, in dem man die Parameter wie Masse und Ladung, die im

24 Diese Forderung steht nicht im Widerspruch zur Möglichkeit nicht-lokaler EPR-Korrelationen


(s. Kap. 4).
25 Siehe etwa Redhead (1995), Halvorson und Clifton (2002), Earman und Fraser (2006), Baker

(2009), Kuhlmann (2010) und Ruetsche (2011).


6 Quantenfeldtheorie 257

Lagrange-Operator vorkommen, uminterpretiert. Man kann z. B. annehmen, dass


die beobachtbare Masse eines Elektrons sich aus seiner „nackten“ Masse und einem
Anteil zusammensetzt, der der Wechselwirkung des Elektrons mit anderen Feldern
zugeschrieben werden kann. Der Wert der beobachtbaren Masse lässt sich allerdings
nicht mit Hilfe der Theorie berechnen, er muss experimentell bestimmt werden.
Dieses hier nur kurz geschilderte Renormierungsprogramm erlaubt es also, auf-
tretende Divergenzen (unendliche Größen) zu umgehen und experimentelle Effekte
bemerkenswert genau vorherzusagen. Die angewendeten mathematischen Verfahren
zur Renormierung von Masse und Ladung legen die Idee nahe, dass die Aus-
wirkungen von Prozessen, die bei sehr hohen Energien stattfinden, durch eine
Anpassung von Parametern wie Masse und Ladung berücksichtigt werden können.
Diese Idee wurde in den 70er Jahren im Konzept der effektiven Feldtheorien aus-
gearbeitet (s. Kuhlmann 2012, Abschn. 2.4). Effektive Feldtheorien beschreiben
nur Wechselwirkungen, die für einen bestimmten Energiebereich charakteristisch
sind. Die genaue Gestalt der Lagrange-Funktion hängt also von dem untersuchten
Energiebereich ab (z. B. von der Energie der Teilchen, die in einem bestimmten
Beschleuniger bereitgestellt werden kann). Bestimmte Arten von Teilchen kön-
nen z. B. nur bei entsprechend hohen Energien erzeugt werden. Die Prozesse in
den verschiedenen Energiebereichen sind weitgehend voneinander entkoppelt. Die
Auswirkungen der Prozesse bei sehr hohen Energien können durch die Anpassung
weniger Parameter berücksichtigt werden, die selbst energieabhängig sind. Wäh-
rend Newtons Gravitationstheorie für den Mond und den vom Baum fallenden Apfel
in gleicher Weise gilt, hat man es nach dieser Sichtweise in der Hochenergiephysik
mit einer ganzen Abfolge von (sich in den Lagrange-Operatoren unterscheidenden)
Quantenfeldtheorien zu tun, die jeweils nur in einem bestimmten Energiebereich
Gültigkeit haben und die offenbar nicht als Annäherungen an eine „ultimative“
Theorie verstanden werden müssen. Wenn dieses Bild korrekt ist, gibt es keine
zwingenden Gründe für die Annahme der Existenz einer im strengen Sinn funda-
mentalen Theorie. Ontologische Überlegungen müssen danach bei dem allgemeinen
Theorierahmen der QFT ansetzen und können nicht auf die fundamentale Theorie
warten.
Ein weiteres Defizit der gewöhnlichen QFT besteht darin, dass der Begriff eines
Feldoperators an einem Raumzeit-Punkt mathematisch nicht wohldefiniert ist.26 Die
verschiedenen hier kurz skizzierten Probleme machen sicherlich den Wunsch nach
einer mathematisch besseren Neuformulierung der QFT verständlich. Da solche
Ansätze aber bisher für praktische Anwendungen wenig brauchbar sind, bleibt
nichts anderes übrig, als jedenfalls vorerst weiter im Rahmen der konventionel-
len QFT zu arbeiten. Solange das Bessere nicht da ist, bleibt nur die „schmutzige
Physik“. Ein solches pragmatisches Vorgehen ist für die neuere Physik nicht un-
gewöhnlich. Die Wissenschaftsphilosophie hat sich bisher allerdings überwiegend
mit ausgereiften Theorien beschäftigt. Es gibt aber gute Gründe, die Methoden der

26 Eineknappe Darstellung der verschiedenen Defizite findet sich in Kuhlmann (2012),


Abschn. 4.1.
258 M. Kuhlmann und M. Stöckler

„vorläufigen Physik“ genauer zu analysieren und so zu einem besseren Verständnis


gegenwärtiger Theorien beizutragen (vgl. Audretsch 1989).
Das pragmatische Vorgehen im Rahmen einer vorläufigen Physik ist für die For-
schungspraxis sicher sehr vernünftig, um unter den gegebenen Umständen, wenn
nicht die theoretisch ideale, so doch eine praktisch nützliche Theorieformulierung
zu finden. Aus philosophischer Sicht könnte man allerdings sagen, dass solche
„unfertigen“ Theorieformulierungen besser nicht realistisch interpretiert werden
sollten, und empfehlen, die Klärung der Ontologie der Theorie zu verschieben,
bis mathematisch stabilere Varianten zur Verfügung stehen. Im nächsten Abschnitt
werden wir uns trotzdem solchen Fragen zuwenden und auch begründen, warum
das sinnvoll ist.

6.4 Interpretationen der Quantenfeldtheorie

6.4.1 Vorbemerkungen

Vielleicht sind die philosophischen Bedenken gegen eine realistische Interpretation


vorläufiger Physik der Grund dafür, dass die Interpretationen der QFT sich erst seit
etwa 2000 zu einem wichtigen Feld innerhalb der Philosophie der Physik entwickelt
haben (vgl. für einen Überblick Kuhlmann 2012). Man kann verschiedene Gründe
dafür anführen, mit semantischen und ontologischen Untersuchungen nicht zu war-
ten, bis die QFT z. B. den Reifegrad der klassischen Elektrodynamik erreicht hat:
Einmal ist die Arbeit mit provisorischen Theorien für sich ein lohnendes Thema der
Wissenschaftsphilosophie. Weiter weiß man nicht, wie lange die QFT noch in dem
gegenwärtigen Zustand bleibt, und vielleicht gibt es in den gegenwärtigen Formulie-
rungen doch schon Hinweise auf die Ontologie der Mikrowelt. Außerdem spielen
ontologische Intuitionen bei der Weiterentwicklung von Theorien eine nicht zu un-
terschätzende heuristische Rolle. Für diesen Fall ist es gut, wenn die Intuitionen
durch die Ergebnisse der gegenwärtigen analytischen Ontologie präzisiert werden
können.
In der klassischen Physik ist es auf einfache Weise möglich, die Theorien
raumzeitlich zu interpretieren. Das ist in der QFT mit ihren viel reicheren mathema-
tischen Strukturen erheblich schwieriger. Die Frage nach der Ontologie der QFT
setzt voraus, dass die Theorie nicht nur als Instrument zur Vorhersage von expe-
rimentellen Ergebnissen verstanden wird, sondern, jedenfalls in Teilen, realistisch
interpretiert wird. Unter dieser Voraussetzung muss man angeben, wie sich die QFT
auf die Welt auch in den Bereichen bezieht, die nicht Teil eines Experiments sind.
In diesem Kapitel untersuchen wir insbesondere die Frage, ob und wie die QFT
Vorgänge in Raum und Zeit beschreibt.
Auf die Frage, wie man die Ontologie einer Theorie bestimmt, wie man also her-
ausfindet, über welche Gegenstände (im weitesten Sinn) eine Theorie spricht, gibt es
generell keine einfache Antwort. Im Falle von Theorien über unser Planetensystem
6 Quantenfeldtheorie 259

oder über die Verbreitung der Darwin-Finken scheint die Sache noch einfach zu
sein, weil man unabhängig von der Theorie schon viel über ihre Gegenstände weiß.
Bei der Suche nach einer Ontologie, die für die QFT passt, werden u.a. folgende
Hilfsmittel eingesetzt: Man beruft sich auf ein anschauliches Verständnis der Phäno-
mene, die in einschlägigen Experimenten sichtbar werden (also in einem gewissen
Sinn auf vortheoretisches Wissen). Man stützt sich weiter auf Analogien zu klassi-
schen Theorien und zur Interpretation der Quantentheorie für „Einteilchensysteme“
und wertet damit die Heuristik aus, die zur neuen Theorie geführt hat. Vor allem
analysiert man im Detail die verschiedenen Möglichkeiten, dem mathematischen
Formalismus der QFT eine physikalische Bedeutung zu verleihen. Philosophische
Theorien legen vielleicht die Idee nahe, die bedeutungstragenden Elemente der
Theorie und damit die Entitäten, über die sie spricht, dadurch zu finden, dass man
nachsieht, über welche Größen in axiomatisierten Formulierungen quantisiert wird,
d. h. konkret, für welche Größen in den Axiomen Forderungen formuliert sind.
Dieser Weg erweist sich aber, jedenfalls in der gegenwärtigen Situation, wegen der
komplizierten mathematischen Struktur der QFT als nicht gangbar.
Die Diskussionen im Umfeld verschiedener Interpretationen der Quanten-
mechanik legen eigentlich nahe, dass Quantenobjekte weder klassische Teilchen
noch klassische Felder sein können. Dennoch beginnen die neueren Beiträge
zur Interpretation der QFT wieder mit einer Auseinandersetzung mit klassischen
Teilchen- und Feldkonzepten. Das mag daran liegen, dass viele Physiker glauben,
man könne mit der QFT wieder zu einer, vielleicht leicht revidierten, Teilchenvor-
stellung zurückkehren. Vielleicht sucht man im Rahmen der QFT auch nach neuen
Möglichkeiten, die klassischen Konzepte in irgendeiner Weise zu verbinden, da
alternative Modelle zu einer räumlichen Einbettung der Quantenobjekte nicht zur
Verfügung stehen. Wir werden deshalb ebenfalls untersuchen, ob die QFT von Teil-
chen (Abschn. 6.4.2) oder von Feldern (Abschn. 6.4.3) handelt, und dann alternative
Vorschläge für eine Ontologie der QFT analysieren.27

6.4.2 Teilcheninterpretation

Betrachten wir zunächst etwas genauer die Vorzüge und Schwierigkeiten einer Teil-
cheninterpretation der QFT. Die experimentelle Elementarteilchenphysik scheint
eine Teilchenontologie zu favorisieren. Es werden Teilchenbeschleuniger gebaut,
Detektoren zeichnen Teilchenspuren auf oder erlauben es, Teilchenbahnen in kom-
plizierten Zählern zu rekonstruieren, und am Ende gibt es Nobelpreise für die
Entdeckung von Elementarteilchen. Man muss jedoch genauer hinsehen, was in sol-
chen Formulierungen jeweils unter „Teilchen“ verstanden wird. Offenbar sind keine
Objekte gemeint, die sich in jeder Beziehung wie klassische Teilchen verhalten.
Die Probleme einer Teilcheninterpretation der QFT werden deutlich, wenn man

27 Ein
Überblick über die verschiedenen Interpretationen der QFT findet sich in Kuhlmann 2012,
Abschn. 5.1.2.
260 M. Kuhlmann und M. Stöckler

untersucht, welche Züge des klassischen Teilchenbegriffs in der QFT aufgegeben


werden müssen.

Klassischer Teilchenbegriff
Es gibt keine kanonische Definition dafür, was ein klassisches Teilchen ist.28 Um die
folgende Darstellung transparenter zu machen, werden wir daher mit dem Vorschlag
arbeiten, klassische Teilchen als diskrete, scharf lokalisierte, massebehaftete29 Ob-
jekte mit synchroner und diachroner Identität zu definieren. Diskretheit bedeutet,
dass man eine Anzahl angeben kann. Das ist z. B. bei der Angabe der Quantität ei-
ner kontinuierlichen Größe wie der Feldstärke eines klassischen elektrischen Feldes
nicht der Fall. Lokalisiertheit unterscheidet Teilchen von Feldern, die im gesam-
ten Raum ausgebreitet sind. Synchrone Identität bedeutet, dass Teilchen zu jedem
gegebenen Zeitpunkt Individuen sind. Dies unterscheidet sie etwa von 100 Euro
auf einem Bankkonto. Diskrete Entitäten, die synchrone Identität besitzen, sind in
diesem Sinn nicht nur kardinal, sondern auch ordinal abzählbar.30 Man kann also
sagen, dies ist das erste und das ist das zweite Teilchen, wobei diese Aussage eine
ontologische Bedeutung hat, sich also auf einen realen Unterschied in der Welt be-
zieht. Diachrone Identität schließlich bedeutet, dass Teilchen als Individuen in ihrer
zeitlichen Entwicklung verfolgt werden können. In der klassischen Mechanik ist
die diachrone Identität von Teilchen durch das Vorhandensein von Trajektorien ga-
rantiert, also durch raumzeitliche Bahnen, die sich nie kreuzen können. Damit sind
klassische Teilchen auch undurchdringlich. Nicht gegeben ist dies etwa bei zwei
Wellenbergen, die aufeinander zulaufen, sich treffen, überlagern und schließlich
wieder voneinander entfernen.
Wie wir im Folgenden sehen werden, gehen alle der oben genannten Charakte-
ristika von Teilchen in der QFT je nach Kontext verloren. Zum Teil ist dies schon
in der Quantenmechanik der Fall, jedoch liefert die QFT zusätzliche Gründe für die
Nichtanwendbarkeit des klassischen Teilchenbegriffs.

Diskretheit
Wie wir im Abschn. 6.3.2 gesehen haben, gibt es im Formalismus der QFT einige
Züge, die die Behauptung stützen, die QFT handle von Teilchen. Die Anwen-
dung des Erzeugungsoperators a† (p) auf den Vakuumvektor erzeugt Zustände, die
einige Eigenschaften haben, die auch Teilchen zeigen würden, z. B. ganzzahlige
Eigenwerte des „Teilchenzahloperators“: Wir haben es mit etwas zu tun, das in dis-
kreten Portionen vorkommt, wobei die aufsummierten Energie- und Impulswerte in

28 Auch Wigners gruppentheoretische Klassifikation der Elementarteilchen (Wigner 1939) liefert


keine Definition des Teilchenbegriffs, wie oft angenommen wird. Was Wigner stattdessen definiert,
ist Elementarität (s. Kuhlmann 2010, Abschn. 8.1.2). Dies lässt sich schon daran sehen, dass
räumliche Lokalisierbarkeit in Wigners Definition keine Rolle spielt.
29 Klassische relativistische Teilchen müssen wegen der Äquivalenz von Masse und Energie die in

Gl. (6.4) ausgedrückte Energiebedingung erfüllen.


30 Statt von ordinaler Abzählbarkeit wird mitunter (s. Teller 1995) auch einfach von Abzählbarkeit

gesprochen und der Aggregierbarkeit (hier: kardinaler Abzählbarkeit) gegenübergestellt.


6 Quantenfeldtheorie 261

einem für relativistische Teilchen korrekten Verhältnis zueinander stehen.31 Letz-


teres ist zwar ein weniger überraschendes Ergebnis als die ganzzahligen Eigenwerte
des Teilchenzahloperators, da wir Gl. (6.5) ja auf Grundlage der relativistischen
Energie-Impuls-Relation (6.4) gefunden haben. Allerdings haben wir letztere zur
„Herleitung“ einer Einteilchentheorie verwendet und das Ergebnis dann als klas-
sisches Feld interpretiert. Insofern ist es nicht selbstverständlich, dass sich dieser
Zusammenhang auch auf die resultierende Theorie überträgt, die (möglicherwei-
se) von mehreren Teilchen handelt. Insgesamt haben wir mit der Diskretheit und
dem Erfüllen der relativistischen Energiebedingung zwei nicht-triviale und für (re-
lativistische) Teilchen wesentliche Merkmale aufgefunden. Nicht-trivial ist dieser
Umstand, da wir in Abschn. 6.3.2 die in den Vertauschungsrelationen zum Ausdruck
kommenden Forderungen der Quantenphysik an eine klassische relativistische
Feldtheorie gestellt haben und nicht an eine Teilchentheorie. Die resultierende Dis-
kretheit sowie die Tatsache, dass diese in diskreten Portionen auftretenden Objekte
die relativistische Energiebedingung erfüllen, sind also bemerkenswerte Resultate.
Allerdings ist sogar das in der QFT noch am deutlichsten vorliegende Teil-
chenmerkmal der Diskretheit bzw. der kardinalen Abzählbarkeit nicht ohne Ein-
schränkungen erfüllt. Das erste Problem besteht darin, dass die Eigenzustände des
Teilchenzahloperators nur eine besondere Untermenge der Zustandsvektoren sind.
Wie wir oben gesehen haben, beinhaltet der Fockraum in Gl. (6.12) bzw. (6.19)
als direkte Summe von n-Teilchen-Zustandsräumen ebenso Linearkombinationen
von n-Teilchen-Zuständen mit unterschiedlichen Teilchenzahlen, so dass man auch
Zustände mit unbestimmter Teilchenzahl hat. Dies unterscheidet die QFT übrigens
auch grundlegend von der Quantenmechanik, wo wir es immer mit einer festen
Teilchenzahl zu tun haben. Wenn Teilchen fundamentale Objekte der Ontologie
der QFT sein sollen, scheint es aber kaum akzeptabel zu sein, dass nicht einmal
bestimmt ist, wie viele fundamentale Objekte es zu einem gegeben Zeitpunkt gibt.32
Ein zweites Problem für die Diskretheit bzw. kardinale Abzählbarkeit unserer
potenziellen Teilchen könnte der Unruh-Effekt darstellen. Ein gleichförmig be-
schleunigter Beobachter sieht das, was für einen anderen Beobachter ein Vakuum
ist, als thermisches Bad von Teilchen, den sogenannten „Rindler-Quanten“ (s.a.
Fußnote 21). Ein bloßer Wechsel des Bezugssystems dürfte aber wohl nicht da-
zu führen, dass neue Teilchen auftauchen, wenn diese die fundamentalen Entitäten
unserer Ontologie sind. Beide Punkte scheinen mit einer Interpretation, die den
Teilchenbegriff ernst nimmt, kaum vereinbar zu sein.33

31 Fraser (2008) drückt dies so aus, dass Abzählbarkeits- und Energiebedingung erfüllt sind.
Da Abzählbarkeit aber oft – wie z. B. von Teller – im ordinalen Sinne verstanden wird, es
im gegenwärtigen Zusammenhang aber gerade um den kardinalen Sinn geht, sprechen wir von
Diskretheit.
32 Baker (2013, S. 267) hält dagegen, dass die Situation ähnlich der von Atomen in Superpositions-

zuständen sei, ohne dass wir daher die Existenz von Atomen bezweifeln würden.
33 Teller (1995) argumentiert dagegen, dass probabilistische Aussagen ein generischer Zug der

Quantenphysik sind und sich mit einer Propensitätsinterpretation quantenmechanischer Wahr-


scheinlichkeiten (s. Abschn. 2.2.2) beide Probleme bewältigen lassen. Siehe bei Teller (1995)
262 M. Kuhlmann und M. Stöckler

Häufig wird aber gar nicht eine klassische Teilcheninterpretation verteidigt,


sondern eine schwächere Position. Tellers sogenannte „Quanta-Interpretation“ ist
der wohl am meisten diskutierte Ansatz. Der Hauptunterschied besteht darin, dass
Quanta im Gegensatz zu (klassischen) Teilchen keine Individuen sind, was uns zum
nächsten Merkmal bringt.

Synchrone Identität
Wie wir im Kap. 3 über Mehrteilchen-Quantenmechanik gesehen haben, können
Quantenobjekte nach der Standardsicht das Leibniz-Prinzip verletzen: Es gibt
Mehrteilchen-Systeme mit Quantenobjekten derselben Sorte (nämlich verschie-
dene Typen von Bosonen oder Fermionen), die sich in keiner ihrer permanenten
Eigenschaften und obendrein auch in keiner ihrer zeitabhängigen Eigenschaften
unterscheiden, und die aber trotzdem nicht numerisch identisch sind, wie das
Leibniz-Prinzip es fordert. Wenn man dieser Standardsicht folgt, dass also Quan-
tenobjekte keine Individuen (im Sinne des Leibniz-Prinzips) sind, kann man – wie
Teller (1995) dies tut – argumentieren, dass es unglücklich ist, mit einem Forma-
lismus zu arbeiten, der (anscheinend) Teilchen nummeriert und damit den Eindruck
erweckt, als habe man es mit verschiedenen Individuen zu tun.34 Genau dies ist aber
beim indizierten Tensorprodukt-Mehrteilchen-Formalismus der Quantenmechanik
der Fall, wie wir ihn in Kap. 3 kennengelernt haben. Teller (1995) argumentiert, dass
dieser Formalismus sogenannte „Überschuss-Struktur“ („surplus structure“) besitze
und es ein Fortschritt wäre, einen Formalismus zu haben, in dem Zustände wie in
Gl. (6.13), denen in der Natur nichts entspricht, gar nicht mehr auftauchen. Genau
ein solcher Formalismus ohne Überschuss-Struktur sei der in der QFT gebräuch-
liche Fockraum-Formalismus in symmetrisierter Form (s. Abschn. 6.3.3), da dieser
mit seiner Zustandsbeschreibung in Besetzungszahldarstellung, wie z. B. in (6.15),
auf ganz natürliche Weise der Tatsache Rechnung trage, dass das, was Teilchen in
der Quantenwelt am nächsten kommt – Teller nennt sie „Quanta“ –, zwar aggre-
giert, aber nicht wie die individuellen Teilchen der klassischen Physik nummeriert
werden kann.
Des Weiteren scheint die Existenz der Fockraum-Darstellung zu zeigen, dass
es möglich ist (tatsächlich ist es sogar die einzige Möglichkeit), in einem ge-
meinsamen Rahmen unendlich viele Freiheitsgrade und abzählbare Entitäten zu
beschreiben – wobei es außerdem einen relativistisch invarianten Zustand gibt, der
genau null dieser Entitäten enthält, d. h. ein Vakuum. Eine Feldtheorie (unend-
lich viele Freiheitsgrade) scheint also mit der Existenz von abzählbaren Teilchen
vereinbar zu sein. Und in der Tat ist ein wesentlicher Zug des Formalismus, den

S. 31–33 bzgl. des ersten und S. 110–112 bzgl. des zweiten Problems. Eine sehr zugängli-
che Darstellung und kritische Diskussion von Tellers Argumenten bieten Huggett und Weingard
(1996).
34 Hierbei setzt Teller allerdings voraus, dass es nicht sinnvoll ist anzunehmen, Quantenobjekte

seien primitiv individuiert. Wie wir in der Diskussion über die Möglichkeit schwacher Unter-
scheidbarkeit in Abschn. 3.2.3 gesehen haben, ist diese Voraussetzung allerdings insbesondere in
den letzten Jahren vielfach kritisiert worden.
6 Quantenfeldtheorie 263

wir in Abschn. 6.3.1 kennengelernt haben, die Äquivalenz von Mehrteilchen- und
Feldbeschreibung.
Teller ist für seine Sichtweise vielfach kritisiert worden. So argumentieren
Huggett und Weingard (1996), dass der Fockraum-Formalismus äquivalent zum
indizierten Tensorprodukt-Mehrteilchen-Formalismus ist. Insbesondere aus diesem
Grunde haben wir die Äquivalenz der Fockraum-Darstellung der Vertauschungs-
relationen des Klein-Gordon-Feldes mit der entsprechenden symmetrisierten Dar-
stellung im indizierten Tensorprodukt-Mehrteilchen-Formalismus in Abschn. 6.3.3
so ausführlich beschrieben. Wenn diese Formalismen aber äquivalent sind, sei nicht
einzusehen, wieso der eine Formalismus für ontologische Fragen relevanter sein
soll als der andere. Es gibt aber noch zwei „härtere“ Argumente gegen Tellers Wahl
der Fockraum-Darstellung als Grundlage seiner ontologischen Untersuchungen zur
QFT. Wie wir in Abschn. 6.3.5 gesehen haben, gibt es in der Quantenfeldtheorie
wegen der unendlichen Anzahl von Freiheitsgraden unendlich viele verschie-
dene inäquivalente Darstellungen, von denen die Fockraum-Darstellung nur eine
bestimmte ist.35 Huggett und Weingard (1996) resümieren daher:

. . . the quantum field is richer than any single Fock space description, but this point is obscu-
red by presenting the field in terms of a particular Fock space. [S. 306] [. . .] Thus Teller’s
attempt to establish the quanta representation as the appropriate way to view QFT obscures
some of the most crucial and startling aspects of that theory. [S. 307]

Nun ließe sich einwenden, dass es fraglich ist, ob diese unendlich vielen verschie-
denen inäquivalenten Darstellungen überhaupt eine physikalische Bedeutung haben.
Und tatsächlich ist dies bei den allermeisten auch nicht der Fall. In jedem Fall gilt
die Fockraum-Darstellung jedoch nach dem Haagschen Theorem (s. Fraser 2008)
nur für die freie Theorie. Er kann also nicht der korrekte Zustandsraum für Theorien
sein, die Wechselwirkungen beschreiben.36 Es gibt also keinen unitären Operator,
der von der freien zur wechselwirkenden Darstellung führt. Da die freie Theorie
aber eine Idealisierung ist, ist es hochproblematisch, ontologische Konsequenzen
aus einer speziellen Darstellung zu ziehen, die nur für die freie Theorie existiert (s.
Fraser 2008).37
Aus den vorhergehenden Überlegungen lassen sich zwei Konsequenzen ab-
leiten. Erstens ist eine Teilcheninterpretation selbst im Sinne der schwachen – weil
auf synchrone Identität verzichtenden – Quanta-Version nicht haltbar, da die Ab-
zählbarkeit diskreter Entitäten an der Fockraum-Darstellung hängt, die – wie wir
gerade gesehen haben – eine sehr begrenzte Gültigkeit hat. Eine zweite darauf
aufbauende Konsequenz könnte für unsere Debatte zum Leibniz-Prinzip gezogen

35 Ein einfaches Beispiel findet sich in Huggett und Weingard (1996, S. 306). Obendrein gibt es
in der QFT auf gekrümmten Raumzeiten auch noch unendlich viele verschiedene inäquivalente
Fockraum-Darstellungen (Baker 2013).
36 Das gilt, obwohl in der Störungstheorie der konventionellen Quantenmechanik mit dem

Fockraum gearbeitet wird.


37 Bain (2011) formuliert eine alternative Quanta-Interpretation für die asymptotisch freie Theorie.
264 M. Kuhlmann und M. Stöckler

werden. Wenn die QFT weder eine Teilchen- noch eine Quanta-Interpretation zu-
lässt, würden sich die Symmetrisierungsforderungen der Quantenphysik gar nicht
auf Permutationen von Objekten welcher Art auch immer beziehen, sondern z. B.
auf die Reihenfolge, in der Erzeugungsoperatoren auf Feldzustände angewendet
werden.38 Mit dieser Überlegung werden wir uns gleich noch etwas ausführlicher
befassen.
Wie in Abschn. 3.1.2 (Mehr-Teilchen-Tensorprodukt) gezeigt wurde, wird das
Ununterscheidbarkeits-Postulat erfüllt, wenn das Vertauschen zweier Indizes, mit
der die n Faktoren des Tensorprodukts von n Einteilchen-Hilberträumen durchnum-
meriert werden, zu Zuständen führt, die sich physikalisch nicht unterscheiden; s. Gl.
(3.3) und (3.4). Diese Symmetrieforderung ist für bosonische und fermionische
Felder aufgrund der Vertauschungsrelationen der jeweiligen Feldoperatoren erfüllt.
Schwieriger ist die Frage, ob und in welchem Sinn die QFT von ununter-
scheidbaren Quantenobjekten handelt und ob in ihr das Leibniz-Prinzip erfüllt ist.
Das grundlegende Problem ist dabei, diejenigen mathematischen Elemente in der
Theorie zu identifizieren, die gegebenenfalls Quantenobjekte repräsentieren. Bei
Zweiteilchen-Systemen wie wir sie z. B. im Kap. 4 (EPR) kennengelernt haben,
gibt es Gründe, von zwei Photonen oder zwei Protonen als Objekten zu sprechen.
Diese Gründe haben unter anderem mit den jeweiligen experimentellen Anord-
nungen zur Herstellung und zum Nachweis solcher Systeme zu tun. Auch in der
experimentellen Elementarteilchenphysik kann man davon sprechen, dass in einem
Detektor ein bestimmtes Teilchen nachgewiesen wurde, weil man einen aus der
Wechselwirkungszone ausgehenden Zustand mit einem bestimmten Impuls und ei-
ner bestimmten Ladung gemessen hat. Auch hier macht man zunächst nur Aussagen
über Ergebnisse eines Messprozesses.
Es bleibt also offen, ob und wie Quantenobjekte, für die man ein Leibniz-Prinzip
formulieren könnte, im Formalismus der QFT vorkommen. Bei genauerem Hin-
sehen stellt sich sogar die Frage, ob die sogenannten Quanta selbst, deren Existenz
durch die Besetzungszahldarstellung nahe gelegt wird, tatsächlich als Kandidaten
für Quantenobjekte angesehen werden können. Die Redeweise, dass ein bestimmter
Zustand n-fach besetzt ist, sagt etwas über die Eigenwerte von Eigenzuständen des
sogenannten Teilchenzahloperators aus, klärt aber nicht, was diesen Zustand mehr-
fach „besetzt“ und ob die Suche danach überhaupt sinnvoll ist. Die Vorstellung, dass
Erzeugungsoperatoren die Erzeugung von Teilchen bzw. Quanta beschreibe, ist sug-
gestiv, kann aber in die Irre führen. Eine konkurrierende Vorstellung ist, dass sie
Übergänge zwischen verschiedenen Anregungszuständen eines Feldes beschreiben,
Anregungszuständen, denen man normalerweise keinen Objektcharakter zuspricht.
Die Zustandsbeschreibung der QFT ordnet nicht in einfacher Weise Objekten in
der Welt Zustände zu. „Instead states simply characterize propensities for what will
be manifested with what probability under various activating conditions.“ So Teller
(1995, S. 105), der dann fortfährt: „Among the items for which there can be propen-
sities for manifestations is the occurrence of various numbers of quanta exhibiting

38 Nach Baker (2013) beziehen sich die Permutationen auf die Reihenfolge, in der Ladungen
(zu „algebraischen Zuständen“) hinzugefügt werden.
6 Quantenfeldtheorie 265

various properties.“ Man kann Teller sicher insoweit folgen, dass es experimentelle
Situationen gibt, in denen Zustände auftreten, aus denen folgt, dass eine bestimmte
Anzahl von auslaufenden Teilchen mit einem bestimmten Impuls gemessen werden
kann. Wenn man die mathematische Struktur der QFT jedoch allgemein betrachtet,
gibt es dort einfach keine Elemente, die man in einem vernünftigen Sinn als Ob-
jekte betrachten könnte. Und deshalb kann man auch nicht sinnvoll fragen, ob sie
das Leibniz-Prinzip erfüllen.
In ähnlicher Weise zieht Baker (2013) daher den Schluss

. . . there is no analogue of the existing debate in interacting or curved-space-time QFTs. So


puzzles about the statistical behavior of quantum particles would seem not to bear on the
question of whether the actual world is made up of individuals. According to the QFTs that
offer the best available approximation to reality, there are no quantum particles, and we
have no particular reason to expect that they will be reintroduced by some later more funda-
mental theory. [. . .] Since QFT is probably best understood as describing the assignment of
fundamental quantities to regions of spacetime [. . .], it is plausible that the best candidates
for the „individuals“ posited by the theory are space-time points, or space-time regions. For
this reason [. . .] space-time theories, and not basic QM, should be the locus of philosophi-
cal debate about the nature of identity and individuality in modern physics. (Baker 2013,
S. 284)

Diachrone Identität und Lokalisierbarkeit


Wer eine Teilcheninterpretation der QFT jetzt immer noch attraktiv findet, sollte
spätestens bei den folgenden Ergebnissen ins Grübeln geraten. Die allgemein als
am stärksten eingestuften Argumente gegen eine Teilcheninterpretation haben näm-
lich mit der Nicht-Lokalisierbarkeit von „Quantenobjekten“ zu tun, die in der QFT
noch eine Stufe radikaler ausfällt als in der Quantenmechanik. Schon bei der heuris-
tischen Herleitung der Operatoren a† (p) (s. Gl. 6.8) kann man sehen, dass die durch
ihre Anwendung erzeugten Zustände Eigenzustände des Impulsoperators sind, also
eher ebenen Wellen gleichen und schon wegen der Heisenbergschen Unschärfere-
lation keinen definierten Ort haben können. Im Lichte der QFT wird auch deutlich,
dass es bei der Erklärung des Photoeffekts auf die Erhaltung von Impuls und Energie
ankommt und nicht auf die Vorstellung eines lokalisierten Photons.39
Zusätzlich zu diesen Überlegungen, die an die konventionelle Formulierung
der QFT anknüpfen, gibt es ganz grundsätzliche Argumente, die zeigen, dass im
Rahmen einer relativistischen QFT keine lokalisierbaren Objekte vorkommen kön-
nen. Diese mathematischen Beweise zeigen, dass keine Theorie, die bestimmte
allgemeine Prinzipien erfüllt, lokalisierte Zustände zulässt, also Zustände, in de-
nen mögliche Teilchen in einem abgegrenzten Bereich mit Sicherheit angetroffen
werden können. In einem viel beachteten Theorem hat z. B. David Malament (1996)
vor allem mit Hilfe relativistischer Überlegungen gezeigt, dass Teilchentheorien,

39 Etwas vorsichtiger als viele andere Lehrbücher formulieren dann auch Peskin und Schroeder

(1995, S. 22): „It is quite natural to call these excitations particles, since they are discrete enti-
ties that have the proper relativistic energy-momentum relation. (By a particle we do not mean
something that must be localized in space; a†p creates particles in momentum eigenstates.)“
266 M. Kuhlmann und M. Stöckler

die einige wenig einschränkende und plausible Bedingungen erfüllen, zu dem Er-
gebnis führen, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen in irgend einem endlichen
Raumbereich zu finden, gleich null ist. Das ist aber ein absurdes Ergebnis, so dass
eine reductio ad absurdum zu der Konklusion führt, dass Quantenobjekte keine
Teilchen sein können, wenn man ihre Lokalisierbarkeit als unverzichtbar betrach-
tet.40 Dementsprechend kann in der QFT auch kein sinnvoller Ortsoperator definiert
werden.

Fazit zur Teilcheninterpretation


Die Annahme, die QFT handele von klassischen Teilchen oder von Entitäten, die
klassischen Teilchen ähnlich sind, stößt also auf große Schwierigkeiten. Wenn
in den Lehrbüchern und in der Alltagspraxis der Forschung dennoch häufig von
Teilchen die Rede ist, dann liegt das daran, dass der Teilchenbegriff fast belie-
big ausgeweitet wurde und die verschiedenen Bedeutungen nur noch durch eine
Familienähnlichkeit verbunden sind. Es gibt dann kein Merkmal mehr, das den
„Teilchen“ in den verschiedenen Verwendungsweisen noch gemeinsam wäre (vgl.
Falkenburg 2012).

6.4.3 Feldinterpretation

Wenn die Gegenstände der QFT keine Teilchen sind, dann bleibt aus der Sicht der
klassischen Physik nur die Option, anzunehmen, dass die QFT über Felder spricht.
Dazu scheint zu passen, dass die Quantenfelder (x, t) die Raumzeitmannigfaltig-
keit als Argument haben, dass also jedem Raumzeit-Punkt eine Größe zugeordnet
wird, wodurch die zentrale Kennzeichnung eines Feldes erfüllt ist.41 Allerdings
ist (x, t) ein Operator, so dass den Raumzeit-Punkten, anders als etwa beim
elektromagnetischen Feld, zunächst keine definiten physikalischen Eigenschaften
zugeordnet sind. Die Feldoperatoren sind für die Dynamik der Zustände wichtig,
aber nur mit den Zuständen kann man eine experimentell zugängliche raumzeitliche
Interpretation verbinden.
Erst wenn man zu den Feldoperatoren (x, t) die Systemzustände |ψ hinzu-
nimmt, auf die Feldoperatoren bzw. Zusammensetzungen f ((x, t)) wirken, kann
man Raumzeit-Punkten über die Erwartungswerte der Form

ψ|f ((x, t))|ψ

40 Vgl. dazu und zu anderen Beweisen Halvorson und Clifton (2002), Kuhlmann (2010), Kap. 8,
und Kuhlmann (2012), Abschn. 5.3.
41 In der mathematisch saubereren algebraischen Formulierung der QFT (s. Abschn. 6.3.5) wird

erstens nicht Punkten, sondern endlichen Regionen der Raumzeit etwas zugeordnet, und zwei-
tens sind es keine einzelnen Operatoren, die diesen zugeordnet werden, sondern Algebren von
Operatoren. Für die folgenden Argumente bedeutet dies aber keinen wesentlichen Unterschied.
6 Quantenfeldtheorie 267

konkrete Werte physikalischer Größen zuordnen. Dieser Ansatz hat aber eine Reihe
von Schwierigkeiten. Die erste ist, dass überhaupt nicht klar ist, was man eigent-
lich weiß, wenn man die Erwartungswerte ψ|f ((x, t))|tψ kennt. Wenn man die
Rolle der Feldoperatoren in der Anwendung analysiert, dann werden durch sie Ty-
pen von Wechselwirkungen und mögliche Beobachtungen charakterisiert, nicht aber
bestimmte Systeme. Die Feldoperatoren scheinen, wenn man sie für Erklärungen
einsetzt, also eher auf der Ebene der Gesetze zu stehen und nicht zu der Ebene der
Randbedingungen zu gehören, die wechselnde Eigenschaften des Systems erfassen.
In der praktischen Anwendung spielen die oben angegebenen Erwartungswerte nur
eine indirekte Rolle. Die Feldoperatoren sind wichtig, wenn man fragt, wie groß die
Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Feldzustand |ta in einen anderen Feldzustand |tb
übergeht. Diese Funktion der Feldoperatoren hat aber keinen feldartigen Charakter
und ist kein Argument für eine Feldinterpretation der QFT.
Eine ähnliche Schwierigkeit mit der Anwendungspraxis der QFT ergibt sich
für eine Interpretation, nach der die Feldoperatoren zu Wahrscheinlichkeiten füh-
ren, klassische Feldkonfigurationen vorzufinden. Huggett (2000) nennt dies die
„Wellenfunktional-Interpretation“: Analog dazu, wie man die Wellenfunktion der
Quantenmechanik so verstehen kann, dass sie Orten Antreffwahrscheinlichkeiten
zuordnet, werden in der QFT Feldkonfigurationen (die selbst Funktionen sind)
Wahrscheinlichkeiten dafür zugeordnet, die betreffenden Feldkonfigurationen zu
beobachten (während Funktionen Zahlen auf Zahlen abbilden, bilden Funktionale
Funktionen auf Zahlen ab).
Eine Feldinterpretation müsste aber auch klar machen, wie es kommt, dass
z. B. die gesamte Ladung und Energie eines ausgebreiteten Elektronenfeldes in
einem Detektor „an einem Punkt“ lokalisiert werden. Die Feldoperatoren („Quan-
tenfelder“) scheinen also nicht als physikalische Felder interpretierbar zu sein, aber
auch die Zustandsvektoren |tψ sind keine Felder im klassischen Sinn und kom-
men auch nicht ohne die Operatoren aus. Es drängen sich auch keine anderen
mathematischen Strukturen auf, die problemlos als Felder interpretiert werden kön-
nen. Baker (2009) analysiert weitere Schwierigkeiten einer Feldinterpretation. So
scheinen auch die bisherigen Vorschläge, die QFT im Rahmen einer Feldontologie
zu interpretieren, nicht zum Erfolg zu führen.

Fazit zur Feldinterpretation


Die gegenwärtig sehr lebendige Diskussion um die richtige Ontologie für die QFT
hat bis jetzt noch nicht zu einem von allen akzeptierten Ergebnis geführt. Am we-
nigsten kontrovers ist die Einschätzung, dass eine Teilcheninterpretation der QFT
angesichts einer Vielzahl von Problemen nicht zu halten ist. Etwas anders sieht
die Lage bezüglich einer Feldinterpretation aus. Da sich die Diskussion bisher am
stärksten auf eine Teilcheninterpretation konzentriert hat und eine Feldinterpreta-
tion oft ohne weitere Diskussion als einzig verbleibende Alternative angesehen
wurde, gibt es insbesondere zu wenige Überlegungen dazu, was eine Feldtheo-
rie im Bereich der Quantenphysik überhaupt sein soll. Es ist klar, dass man hier
keine klassische Feldtheorie erwarten darf. Es muss aber dennoch ausbuchstabiert
268 M. Kuhlmann und M. Stöckler

werden, auf welche Weise es sich in einem physikalischen Sinne um eine Feldtheo-
rie handelt und nicht bloß um die Zuordnung bestimmter mathematischer Ausdrücke
zu Raumzeit-Punkten. Des Weiteren ist noch zu wenig untersucht, in wieweit die
Argumente gegen eine Teilcheninterpretation auch eine Feldinterpretation treffen.
Insgesamt kann man sagen, dass die erdrückende Beweislast gegen eine Teilchen-
interpretation und die nur schwer zu beantwortende Frage, in welchem Sinne die
QFT wirklich physikalische Felder beschreibt, es nahe legen, nach ganz anderen In-
terpretationsvorschlägen Ausschau zu halten, die besser zur QFT passen. Beispiele
dafür werden im nächsten Abschnitt diskutiert.

6.5 Neue Wege der Interpretation

6.5.1 Ontischer Strukturenrealismus

Es gibt in der Philosophie eine Konzeption, nach der nicht Dinge wie Elek-
tronen, sondern Strukturen bzw. Relationen die Grundelemente der Welt sind. Dies
ist der ontische Strukturenrealismus in seiner stärksten Variante: der sogenannte
„eliminative“ Strukturenrealismus (Ladyman 1998). In der heute gängigeren nicht-
eliminativen Variante des ontischen Strukturenrealismus stehen Strukturen bzw.
Relationen ontologisch mindestens auf derselben Stufe wie Dinge, in dem Sinne,
dass nicht nur Dinge existieren müssen, damit die Relationen realisiert sein kön-
nen, in denen diese Dinge zueinander stehen, sondern die betreffenden Dinge selbst
erst durch bestimmte Strukturen bestimmt sind. Die Behauptung ist also, dass es
Strukturen bzw. Relationen gibt, die nicht erst durch Anordnung der vorher be-
reits existierenden Dinge in die Welt kommen, sondern die konstitutiv für diese
Dinge sind. Im Rahmen der Physik dreht es sich bei diesen ontologisch grundlegen-
den Strukturen vornehmlich um Symmetriestrukturen (Lyre 2012). Bezüglich der
QFT geht es dabei an erster Stelle um solche Symmetrien, die für die Klassifikation
von elementaren Systemen (also insbesondere von Elementarteilchen) entscheidend
sind. In Abschn. 3.1.4 hatten wir z. B. gesehen, dass Elementarteilchen bezüglich
des Symmetrieverhaltens ihrer Zustände unter Permutationen in zwei Hauptgruppen
zerfallen: Bosonen (symmetrisch) und Fermionen (antisymmetrisch).
In der QFT erhält der ontische Strukturenrealismus wenigstens eine gewisse
Anfangsplausibilität durch die Tatsche, dass am Beginn der Theoriebildung oft
Symmetrieüberlegungen standen und die fundamentalen Symmetriestrukturen mit-
unter eher feststanden als die Elementarteilchen, die diese Symmetrien erfüllen (Cao
2010, bes. Kap. 1 und 9). In jedem Fall spielen Symmetrieüberlegungen in der mo-
dernen Physik eine so fundamentale Rolle, dass die Frage berechtigt erscheint, ob
sich dies nicht auch in der Ontologie niederschlagen muss.
Physikalische Theorien heißen invariant unter einer bestimmten (Symme-
trie-)Transformation, wenn ihre Gesetze sich von der Form her nicht ändern, falls
man die betreffende Transformation durchführt. Dabei kann es sich sowohl um
6 Quantenfeldtheorie 269

raumzeitliche Transformationen (z. B. Drehungen oder Zeitumkehr) als auch um


nicht-raumzeitliche Transformationen (z. B. Permutationen oder „Eichtransforma-
tionen“ von Potenzialfeldern) handeln. Nach einem wegweisenden Aufsatz von
Eugene Wigner (1939) liefert die Analyse der raumzeitlichen Symmetriegruppen ei-
ne Klassifikation elementarer physikalischer Systeme wie Elementarteilchen. Dies
wird von Vertretern des ontischen Strukturenrealismus als Hinweis darauf inter-
pretiert, dass Symmetrien Elementarteilchen charakterisieren und in diesem Sinne
konstitutiv für sie sind.
Ein Hintergrund ist die ontologische Debatte um Mehrteilchen-Systeme mit
ununterscheidbaren Teilchen (s. Kap. 3). In der Quantenmechanik scheint es mög-
lich zu sein, dass „Teilchen“ in all ihren Eigenschaften, sowohl ihren permanenten
Eigenschaften wie Ladung und Masse als auch ihren zeitabhängigen Eigenschaf-
ten wie der Verteilung ihrer Antreffwahrscheinlichkeit, exakt übereinstimmen und
trotzdem nicht numerisch identisch sind. Aber was ist die Grundlage dafür, dass
wir es hier mit zwei Objekten und nicht mit einem zu tun haben, wenn diese
beiden Objekte in jeder Eigenschaft exakt übereinstimmen? Der Strukturenrealist
hat hierauf folgende Antwort (Esfeld und Lam 2011): Die beiden Elektronen haben
zwar dieselben monadischen (d. h. nur auf sie allein beziehenden) Eigenschaften.
Die entscheidenden relationalen Eigenschaften bzgl. ihrer Verschränkungen im
Mehrteilchen-System werden dabei aber völlig außer acht gelassen. Diese können
etwa so aussehen, dass Spinmessungen an zwei Elektronen immer zu entgegenge-
setzten Ergebnissen führen, spin up und spin down (s. Kap. 4). Diese irreflexive
Relation von Eigenschaften kann es aber nur an zwei verschiedenen Elektronen
geben. Ergo werde die numerische Diversität der Elektronen durch relationale
und nicht durch monadische Eigenschaften garantiert. Die Verschränkungsstruk-
tur des Zweielektronen-Systems ist es also, welche Elektronen erst als verschiedene
Entitäten konstituiere. Damit entstehe diese Struktur nicht erst durch die „Anord-
nung“ bereits für sich existierender Elektronen, sondern sei ontologisch mindestens
auf derselben Stufe anzusiedeln.
Aufbauend auf diesen Überlegungen zur Permutationsinvarianz von Mehrteil-
chen-Wellenfunktion gibt es schließlich eine Reihe weiterer Argumente zugunsten
des ontischen Strukturenrealismus. Stachel (2002) schlägt folgende Verallgemei-
nerung vor: Schlagen sich Permutationen von potenziellen Individuen, seien dies
Raumzeit-Punkte oder Teilchen, in keiner Weise beobachtbar nieder, so legt Ock-
hams Rasiermesser nahe, diese auch nicht als fundamental anzusehen, sondern die
jeweiligen Symmetriestrukturen – etwa die metrische Struktur der Raumzeit oder
die jeweilige Symmetriegruppe bei der Beschreibung der Materie. In Abschn. 3.1.4
haben wir einige Beispiele solcher Symmetriegruppen kennengelernt, die sich
unmittelbar auf die QFT erweitern lassen.
Ob es Argumente zugunsten des ontischen Strukturenrealismus gibt, die spezi-
fisch für die QFT sind und nicht schon bzgl. der Quantenmechanik oder auch ganz
allgemein gültig sind, ist bisher nicht geklärt. Unabhängig von dieser Frage könnte
es aber sein, dass der ontische Strukturenrealismus Probleme lösen kann, die bei der
Interpretation der QFT aufgetreten sind. Ein besonders hartnäckiges Problem war
dabei das Vorhandensein verschiedener inäquivalenter Darstellungen bei Theorien
270 M. Kuhlmann und M. Stöckler

von Systemen mit unendlich vielen Freiheitsgraden, wie die QFT sie behandelt
(s. Abschn. 6.3.5). Das Problem der Wahl einer dieser inäquivalenten Darstellungen
würde sich aber gar nicht ergeben, wenn wir eine Berechtigung hätten, bereits
die Ebene der algebraischen Struktur der Vertauschungsrelationen als ontologisch
fundamental einzustufen. Genau dafür könnte der ontische Strukturenrealismus die
allgemeine Grundlage liefern.
Es gibt allerdings auch viele Einwände gegen den ontischen Strukturenrea-
lismus. Das Hauptargument gegen die starke eliminative Variante des ontischen
Strukturenrealismus besteht darin, dass die Annahme von Relationen ohne Rela-
ta in sich widersprüchlich sei. Bei der schwächeren nicht-eliminativen Variante des
ontischen Strukturenrealismus, die wir gerade dargestellt haben, besteht das Haupt-
problem darin, was genau darunter zu verstehen sein soll, dass Objekte strukturell
charakterisiert sind. Traditionellere Ontologen leugnen ja weder, dass es Relationen
bzw. Strukturen gibt, noch dass diese bei der Theoriebildung eine entscheidende
Rolle spielen, insbesondere in der QFT. Die Frage ist aber, ob es sinnvoll ist zu sa-
gen, dass Strukturen ontologisch primär sind oder wenigstens auf der gleichen Stufe
stehen wie Objekte. Behauptet der Vertreter des ontischen Strukturenrealismus nur,
dass es Strukturen gibt und diese wichtig sind, so wird damit keine neue Ontologie
etabliert.

6.5.2 Eine tropenontologische Interpretation

Die Grundidee des ontischen Strukturenrealismus besteht darin, den Problemen


der traditionellen Interpretationen dadurch zu begegnen, dass Dinge (oder „Sub-
stanzen“) wie etwa Elektronen nicht als fundamentale Elemente der Ontologie
angenommen werden, sondern etwas anderes als primär eingestuft wird. Diese
Charakterisierung trifft auch auf die sogenannte „tropenontologische“ Interpre-
tation der QFT zu.42 Während der ontische Strukturenrealismus Relationen als
basal ansetzt, sind bei der Tropenontologie Eigenschaften die Grundelemente der
Ontologie.
Die Tropenontologie ist unabhängig von Erwägungen zur modernen Physik
entwickelt worden und wird seit einigen Jahren viel diskutiert.43 Als „Tropen“
bezeichnet man in der Ontologie die einzelnen Vorkommnisse von Eigenschaften.
Unter Rückgriff auf Aristoteles kann man folgende Analogie ziehen: Ein individu-
elles Vorkommnis von Weiß steht im selben Verhältnis zur universellen Eigenschaft
des Weißseins, wie ein einzelner Mensch zur natürlichen Art der Menschen. Die
Tropenontologie (in ihrer Standardform) behauptet nun, dass Tropen die funda-
mentale Kategorie des Seienden bilden, auf die alles andere reduzierbar ist. Die
Tropenontologie ist also eine einkategoriale Theorie. So werden Dinge (oder „Sub-
stanzen“) wie etwa der Radiergummi, der gerade vor mir auf dem Schreibtisch
liegt, als Bündel von Tropen aufgefasst, d. h. als Bündel von dieser Weißtrope,

42 Wayne (2008), Morganti (2009) und Kuhlmann (2010).


43 Maurin (2013) gibt einen aktuellen Überblick.
6 Quantenfeldtheorie 271

d. h. diesem individuellen Vorkommnis von Weiß, dieser gummiartigen Konsistenz,


dieser abgestumpften Quadergestalt usw.
Die Tropen bzw. Eigenschaften eines Bündel dürfen offensichtlich nicht als
raum-zeitliche Teile aufgefasst werden, aber insofern doch als Teile, weil Dinge aus
ihnen bestehen. Entscheidend ist nun, dass Tropen bzw. Eigenschaften nicht über
die Dinge individuiert werden, deren Eigenschaften sie sind, sondern ihre Partiku-
larität (oder „Einzeldinglichkeit“) als primitiv gegeben angesehen wird. Ihre Parti-
kularität ist die Grundlage für die Individualität des Gegenstands, den sie jeweils
konstituieren. Daher können die Eigenschaften, auf die Gegenstände in der Tropen-
ontologie reduziert werden, auch keine Universalien sein. Ansonsten könnten auch
substantielle Einzeldinge vielfach auftreten, was ein Widerspruch in sich wäre.
Die bislang genannten Beispiele für Tropen sind allerdings nur als Veranschau-
lichung der Grundidee zulässig. Genau genommen sind die Dinge um uns herum
ihrerseits Bündel von Bündeln, da sich ansonsten verschiedene Probleme ergäben.44
Wirkliche Tropen finden sich erst auf der fundamentalen Ebene, und genau darum
ist es auch für die philosophische Tropenontologie so wichtig, was die moderne
Physik über die Basiselemente unser materiellen Welt aussagt.
Wie lässt sich die Tropenontologie nun in der Quantenphysik ausbuchstabieren?
Der erste Vorschlag geht auf Simons (1994) zurück, wobei der Hintergrund wieder
die Debatte um Mehrteilchen-Systeme ist (s. Kap. 3 und Abschn. 6.5.1). Werden
Eigenschaften nicht als Universalien, sondern als Einzeldinge, d. h. Tropen, auf-
gefasst, so gibt es von vornherein keinen Konflikt mit dem Leibniz-Prinzip: Zwei
Elektronen, die sich exakt ähnelnde Ladungstropen haben, d. h. beide eine negative
Elementarladung tragen, sind zwei verschiedene Dinge, da sie in ihren Eigenschaf-
ten – im Sinne von Tropen – gar nicht exakt übereinstimmen. Eigenschaften sind
nach der Tropenontologie Partikularien45 und folglich auch die Dinge, die nichts
als Bündel von Tropen sind.
Wie sieht nun eine tropenontologische Interpretation der QFT aus? Morganti
(2009) bindet seinen Ansatz an das Standardmodell an, in dem Elementarteilchen
nach verschiedenen Eigenschaften klassifiziert werden. Eine andere Variante, die
„dispositionale Tropenontologie“,46 stützt sich insbesondere auf die algebraische
Formulierung der QFT, die AQFT (s. Abschn. 6.3.5). Ein wesentlicher Punkt ist
auch hier wieder das Problem inäquivalenter Darstellungen. Ähnlich wie der onti-
schen Strukturenrealismus sieht auch die dispositionale Tropenontologie algebrai-
sche Strukturen als ontologisch fundamental an und vermeidet es, die fundamentale
Ontologie (vorschnell) an einzelne Darstellungen anzubinden. Anders als beim onti-
schen Strukturenrealismus hält die dispositionale Tropenontologie es aber nicht für
möglich, mit (abstrakten) Strukturen die Ontologie der materiellen Welt zu erfas-
sen. Aus diesem Grunde spielen in systematischer Weise konkrete Darstellungen,

44 Sieheetwa das boundary problem in Campbell (1990).


45 Anders als beim englischen „particulars“ wäre der im Deutschen gängige Ausdruck „Einzel-
dinge“ hier sehr missverständlich, da einzelne Tropen ja gerade keine Dinge sind.
46 Kuhlmann (2010), Kap. 11–15.
272 M. Kuhlmann und M. Stöckler

die an die empirische Welt anschließen, eine tragende Rolle in der dispositionalen
Tropenontologie.47 Ein weiterer wichtiger Punkt besteht darin, dass in der AQFT
nicht einzelne Observablen an der Basis der Formulierung stehen, sondern Netze
von Observablen-Algebren. Mit anderen Worten sind das Zentrale weder einzel-
ne Observablen noch einzelne Observablen-Algebren, sondern die Art und Weise,
wie Observablen-Algebren bezüglich jeweils verschiedener Raumzeit-Regionen zu-
einander stehen. Nach der dispositionalen Tropenontologie wird dieser Aspekt am
besten von einer Bündeltheorie von Eigenschaften erfasst.
Es gibt eine Reihe weiterer Gründe, weswegen es vorteilhaft ist, weder (Quan-
ten-)Felder noch Elementarteilchen als fundamental anzusehen, sondern disposi-
tionale Tropen, die in Bündeln zu den Objekten korrespondieren, die wir etwa
als Elektronen kennen. Wir möchten exemplarisch zwei Punkte herausgreifen: Es
gibt Erhaltungssätze für diverse physikalische Größen, insbesondere für Ladun-
gen verschiedenster Art. Es gibt jedoch keinen Erhaltungssatz für die Teilchenzahl.
Solch ein Erhaltungssatz stünde auch im Widerspruch zur Empirie der Hochener-
giephysik, in der in Streuexperimenten ja millionenfach Teilchen vernichtet werden
und dafür andere Typen von Teilchen entstehen. Die Tropenbündeltheorie kann die-
se Tatsache ganz natürlich abbilden, da Teilchen hier keinen fundamentalen Status
haben, sondern durch neue Bündelung ständig entstehen und vergehen können. Ein
weiteres Thema, bei dem sich die dispositionale Tropenontologie als vorteilhaft
erweist, ist das Vakuum der QFT. In einer Teilchen-Interpretation ist es unver-
ständlich, dass Detektoren auch im Vakuum ansprechen, obwohl das Vakuum der
„0-Teilchen“-Zustand ist. Ganz anders die dispositionale Tropenontologie: Dis-
positionale Tropen liegen auch im Vakuum vor und können zu teilchenhaften
Detektionsergebnissen führen. Schließlich stellen sich auch die Nichtlokalisier-
barkeitprobleme der Teilchen-Interpretation nicht mehr, da Elementarteilchen in
der dispositionalen Tropenontologie keine fundamentalen Objekte sind und es
daher auch keine Erklärungsprobleme bereitet, dass sich nur unter bestimmten
Bedingungen einzelne teilchenhafte Aspekte beobachten lassen.

6.5.3 Fazit zur Ontologie der Quantenfeldtheorie

Die Diskussionen zur Ontologie der QFT sind noch vergleichsweise jung, und
entsprechend sind insbesondere die neueren Ansätze noch nicht hinreichend ausge-
arbeitet. Eine besondere Herausforderung für jegliche Interpretation, die versucht,
die QFT ontologisch ernst zu nehmen, besteht darin, die Existenz verschiede-
ner inäquivalenter Darstellungen richtig einzuordnen. Wie soll ontologisch damit
umgegangen werden, dass freie und wechselwirkende Theorie, ruhende und be-
schleunigte Beobachter, Beobachter in flacher und in gekrümmter Raumzeit zum

47 Rossanese (2013) argumentiert, dass die Überlegung, nach der der Unruh-Effekt die Teilchen-
interpretation unterminiert, nicht nur auf die Feldinterpretation übertragbar ist (wie Baker 2009
behauptet), sondern auch eine tropenontologische Interpretation treffen könnte.
6 Quantenfeldtheorie 273

Teil so radikal unterschiedliche Bilder zeichnen?48 Die offenen Fragen im Hinblick


auf die Ontologie der QFT führen dazu, dass auch zu der raumzeitlichen Einbettung
der Quantenobjekte wenig gesagt werden kann. Wie wir gesehen haben, gibt es in
der konventionellen QFT Verfahren, die es wenigstens erlauben, bei der Verknüp-
fung mit dem Experiment zu räumlichen Aussagen zu kommen. Man kann mit der
QFT als physikalischer Theorie also arbeiten. Bei der Suche nach Antworten auf die
philosophischen Fragen im Umkreis der QFT gibt es aber sicherlich noch einiges
zu tun.

Übungsaufgaben zu Kap. 6

1. Informieren Sie sich über Theorien des Lichts aus der Geschichte der Physik!
Warum war man mit Newtons Theorie des Lichts nicht zufrieden? Vergleichen
Sie die mathematische Beschreibung von Teilchen und Wellen! Was ist Ihrer
Auffassung nach der Hauptunterschied?
2. Gibt es in der klassischen Physik etwas, das weder Teilchen noch Feld ist?
3. Nennen Sie zwei Argumente, die nach Ihrer Auffassung am meisten dafür spre-
chen, die Quantenfeldtheorie als Theorie über Teilchen zu verstehen. Was kann
man gegen diese Argumente ins Feld führen?
4. Würde es Ihrer Meinung nach helfen, die Begriffe „Teilchen“ und „Feld“
auszuweiten, d. h. nicht nur solche Entitäten Teilchen bzw. Felder zu nennen,
die alle Charakteristika klassischer Teilchen bzw. klassischer Felder erfüllen?

Literatur zu Kap. 6
Audretsch, Jürgen (1989). Vorläufige Physik und andere pragmatische Elemente physikalischer
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48 EineMöglichkeit sind multiperspektivische Ansätze, wie etwa der „Schweizer-Messer-Ansatz“


(swiss army approach) von Ruetsche (2011). Es stellt sich aber die Frage, ob das Problem damit
nicht eher explizit formuliert als gelöst wird.
274 M. Kuhlmann und M. Stöckler

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Chronologie und Ausblick
7
Cord Friebe, Meinard Kuhlmann und Holger Lyre

Inhaltsverzeichnis
7.1 Frühphase der Quantenphysik........................................................................... 278
7.2 Etablierung der Standard-Quantenmechanik ........................................................ 280
7.3 Bestätigung und neue Herausforderungen ........................................................... 282

Die folgende Chronologie legt den Fokus auf die Grundlagen und Deutungen
der Quantenphysik, sie ist keine Geschichte der Quantenphysik im Ganzen, ins-
besondere finden die speziellen Entwicklungen der Quantenfeldtheorie und der sich
daraus entwickelnden Teilchenphysik keine Berücksichtigung. Dafür kommen ne-
ben den im Buch vorrangig behandelten Deutungen (Kopenhagen, GRW, Everett,
Bohm) auch viele weitere Interpretationsansätze kurz zur Sprache, die im Rahmen
des Buches nicht eingehender behandelt werden konnten, wie etwa

• Bewusstseins-Interpretationen (ab 1939)


• Modal-Interpretationen (ab 1972)
• Konsistente Historien (ab 1984)
• Transaktions-Interpretation (1986)
• Relationale Quantenmechanik (ab 1994)

C. Friebe ()
Philosophisches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland
e-mail: cgf88@hotmail.com

M. Kuhlmann
Philosophisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland
e-mail: mkuhlmann@uni-mainz.de

H. Lyre
Lehrstuhl für Theoretische Philosophie, Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
e-mail: lyre@ovgu.de

c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 277
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7_7
278 C. Friebe et al.

• Epistemische Interpretationen und Quanten-Bayesianismus (ab 2000)


• Informationsbasierte Interpretation (ab 2003)

Insgesamt lässt sich die Entwicklung der Quantenphysik grob in drei Phasen ein-
teilen: In der Frühphase hielt man noch keine geschlossene Theorie in Händen,
vielmehr herrschte ein Gemisch von Modellen vor, das neuartige Elemente mit
klassischen verband. Die Frühphase begann 1900 mit Plancks Quantenhypothese
und endete etwa 1925. Daran schloss sich eine Phase des Durchbruchs und der
Etablierung der neuen Theorie, der Quantenmechanik, und eines entsprechenden
mathematischen Formalismus an. Sie endete etwa 1935 mit Bohrs Antwort auf
die Herausforderung durch das EPR-Gedankenexperiment, womit auch die seit
Mitte der 1920er Jahre geführte philosophische Deutungsdebatte um die neu ent-
wickelte Theorie ihren vorläufigen Abschluss fand, da die nunmehr durch Bohr,
Heisenberg und andere führende Quantenphysiker propagierte Kopenhagener Deu-
tung von der großen Mehrheit der Physiker – zumindest vorläufig, gewisserweise
aber bis zum heutigen Tage – als Standard-Deutung akzeptiert wurde. Seit Ende
der 1930er, spätestens im Verlaufe der 1940er Jahre ging die Entwicklung in ei-
ne dritte Phase über. Sie ist zum einen durch theoretische Weiterentwicklungen
wie relativistische Quantenmechanik, Quantenfeldtheorie und Quantengravitation
gekennzeichnet, aber auch durch wichtige experimentelle Bestätigungen der quan-
tenmechanischen Grundlagen, durch die Entwicklung innovativer moderner Gebiete
wie etwa der Quanteninformationstheorie sowie schließlich durch die Etablierung
abweichender alternativer Deutungsansätze.

7.1 Frühphase der Quantenphysik

1900: Plancks Quantenhypothese.


Max Planck schlägt zur Beschreibung des Strahlungsspektrums eines schwarzen
Körpers eine Formel vor, die nach heutigem Verständnis auf der Grundlage be-
ruht, dass ein Körper Strahlungsenergie nur portionsweise, in Form von „Quanten“,
emittiert. Die volle Tragweite dieser Entdeckung wurde erst von Einstein gesehen,
Plancks Arbeit führte jedoch zur Einführung des Energiequants hν mit dem von ihm
bereits 1899 vorgeschlagenen Wirkungsquantum h als neuer Naturkonstante.

1905: Einsteins Lichtquantenhypothese.


In seinem annus mirabilis stellt Albert Einstein nicht nur die Spezielle Relativitäts-
theorie auf, sondern begründet auch die Vermutung, dass die Energie von Licht (d. h.
„elektromagnetischer Strahlung“) nur portionsweise transportiert werden kann. Als
eine mögliche Anwendung diskutiert er den photoelektrischen Effekt (für diese
Arbeit erhält Einstein 1921 den Nobelpreis für Physik). Es wäre allerdings irrefüh-
rend, diese „Lichtquanten“ mit den Photonen der erst Jahrzehnte später entwickelten
Quantenelektrodynamik (QED) zu identifizieren.
7 Chronologie und Ausblick 279

1911–1913: Bohrs Atommodell.


1911 entdeckt Ernest Rutherford, dass Atome aus einem positiv geladenen Kern
und einer Elektronenhülle bestehen. Den Kern umkreisende Elektronen müssten
nach klassischer Auffassung aber Strahlungsenergie abgeben, die Atome folglich
instabil sein. Niels Bohr ‚löst‘ dieses Problem 1913 durch die Ad-hoc-Annahme
einer Quantelung des Bahndrehimpulses und das Postulat „erlaubter“ Bahnen, zwi-
schen denen die Elektronen bei Aufnahme bzw. Abgabe von Strahlung springen
und auf denen sie strahlungfrei kreisen. Das Modell erklärt viele Beobachtungs-
daten, steht aber in einem ungelösten Widerspruch zur Elektrodynamik und versagt
bei der Beschreibung komplexer Atome.

1916: Bedarf nach Quantenkorrekturen der Gravitationstheorie.


Einstein weist ein Jahr nach der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) auf die Not-
wendigkeit von Modifikationen hin, um Quanteneffekten Rechnung zu tragen. Bis
heute ist die Gravitation die einzige der vier Grundkräfte, für die es keine akzep-
tierte Quantentheorie gibt. Die bisher nicht geglückte Vereinigung von Allgemeiner
Relativitätstheorie und Quantenphysik ist die wohl größte verbliebene Lücke der
gegenwärtigen Physik (vgl. Einträge 1949–1957 und 1967).

1922–1923: Compton Effekt und seine Deutung.


Der US amerikanische Physiker Arthur H. Compton entdeckt 1922, dass an Elek-
tronen gestreute Röntgenstrahlung ihre Wellenlänge verändert. Im folgenden Jahr
erklärt er dies mit Hilfe von Energie- und Impulserhaltung bei einem Stoß zwischen
teilchenhaft gedachten Lichtquanten an den Elektronen. Dies wurde als Bestätigung
der Einsteinschen Lichtquantenhypothese aufgefasst.

1922–1925: Entdeckung des Spins.


Otto Stern und Walther Gerlach schicken 1922 Silberatome durch ein inhomo-
genes Magnetfeld und beobachten eine Aufspaltung des Strahls. Zur Erklärung
dieses Effekts (und weiterer spektroskopischer Daten) postulierten Samuel Goud-
smith und George Uhlenbeck 1925 eine völlig neuartige Eigenschaft, für die es kein
klassisches Analogon gibt: den (Elektronen-)Spin.

1923: De Broglies Materiewellen.


Die strahlungsfreie Kreisbewegung im Atom bleibt unverstanden, überhaupt wird
fraglich, ob Teilchen sich noch auf klassischen Bahnen bewegen: Louis de Broglie
schlägt in seiner Dissertation vor, (gebundene) Elektronen und andere Teilchen als
stehende Wellen mit diskreten Frequenzen zu verstehen. Danach haben nicht nur
Wellen Teilchencharakter, sondern auch Teilchen Wellencharakter.

1924: Bose-Einstein-Statistik.
Satyendranath Bose und Albert Einstein entwickeln eine von der klassischen Sta-
tistik abweichende Wahrscheinlichkeitsverteilung der Quantenstatistik von Boso-
nen. [Vgl. Abschn. 3.1.3]
280 C. Friebe et al.

7.2 Etablierung der Standard-Quantenmechanik

1925: Heisenbergs Matrizenmechanik.


Werner Heisenberg findet einen algebraischen Zugang zur Quantenmechanik, bei
dem Messgrößen wie Ort und Impuls als Matrizen dargestellt werden (mathema-
tische Objekte, deren Multiplikation nicht-kommutativ ist). Durch diesen Übergang
zu einer neuen „Kinematik“ werden klassische Begriffe wie „Ort“ oder „Teilchen-
bahn“ abgelöst.

1925: Paulis Ausschließungsprinzip.


Wolfgang Pauli stellt die Forderung auf, dass keine zwei Elektronen in einem Atom
in allen vier Quantenzahlen übereinstimmen dürfen. Der Aufbau des Periodensys-
tems wird hierdurch wesentlich durchsichtiger. [Vgl. Abschn. 3.1.3]

1926: Schrödingers Wellenmechanik.


Erwin Schrödinger stellt die Grundgleichung der Quantenmechanik auf: eine
lineare, deterministische und zeitlich-reversible Wellengleichung für die Wellen-
funktion (x, t). Die Deutung dieser Gleichung als die zeitliche Entwick-
lung eines delokalisierten Materiefeldes scheitert jedoch, da die Funktion für
N Teilchen im 3N-dimensionalen Konfigurationsraum und nicht im Ortsraum
definiert ist.

1926: Hydrodynamische Quantenmechanik.


Erwin Madelung formuliert Schrödingers Wellenmechanik in hydrodynamischer
Form um, wobei er statt der Schrödinger-Gleichung ein Paar von Quanten-
Euler-Gleichungen ins Zentrum stellt. Die spätere Bohmsche Theorie hat hierzu
Ähnlichkeiten. [Vgl. Abschn. 5.1]

1926: Borns Wahrscheinlichkeitsdeutung.


Max Born interpretiert Schrödingers Wellenfunktion auf eine neuartige, anti-
realistisch anmutende Weise. Demnach repräsentiert (x, t) keine materielle Größe,
sondern erlaubt lediglich Wahrscheinlichkeitsaussagen. In der Verallgemeinerung,
die
 Pauli noch im selben Jahr vorgeschlagen hat, drückt das Betragsquadrat
dx|(x, t)| 2 die Wahrscheinlichkeit dafür aus, ein Teilchen in einem bestimm-
X
ten Intervall X zu finden. Die „Bornsche Regel“ wird zum Grundelement der
praktischen Anwendung der Theorie. [Vgl. Abschn. 2.1]

1927: Heisenbergsche Unschärferelationen.


Heisenberg zeigt im Rahmen seiner Unschärfe- oder Unbestimmheitsrelationen,
dass kanonisch-konjugierte Größen (also z.B. Ort und Impuls) in der Quanten-
mechanik nicht gleichzeitig scharf messbar sind.
7 Chronologie und Ausblick 281

1927: Solvay-Konferenz.
1927 gilt als das Schlüsseljahr für die Etablierung der Kopenhagener Deutung der
Quantenmechanik. In Kenntnis der Äquivalenz von Wellen- und Matrizenmecha-
nik – und also die von Inkonsistenzen befreite Theorie vor Augen – kommt es auf
der 5. Solvay-Konferenz zur Auseinandersetzung zwischen Einstein und Bohr, die
nach Mehrheitsmeinung Bohr für sich entscheidet.

ab 1927: Anfänge der Quantenfeldtheorie (QFT).


Jordan, Heisenberg und Pauli sowie auch Dirac leisten Ende der 1920er und in den
frühen 1930er Jahren Pionierarbeit zur aufkommenden Frage der Quantisierung von
Feldern.

1928: Diracs relativistische Gleichung.


Paul A. M. Dirac stellt eine relativistische Version der Schrödinger-Gleichung für
Spin- 12 -Teilchen auf: ein Meilenstein der Verallgemeinerung der Quantenmechanik,
der auch zu einer erfolgreichen Vorhersage von Antimaterie führt.

ab 1928: Statistische- oder Ensemble-Interpretationen.


Hierbei handelt es sich um ein ganzes Cluster von Interpretationsansätzen, de-
ren genaue Urheberschaft und zeitliche Datierung schwer fällt. Im Zentrum steht
die Ansicht, dass der quantenmechanische Formalismus nicht auf Einzelsysteme
angewandt werden darf, sondern nur auf Ensembles im Sinne einer statistischen
Theorie (die die Born-Regel befolgt). Einstein und Schrödinger argumentieren früh
in diese Richtung. Karl Poppers Propensity-Auffassung von Wahrscheinlichkeiten
als Verwirklichungstendenzen lässt sich hier ebenso grob zuordnen wie die vom
Marxismus inspirierte Schule kollektivistischer Interpretationen der Quantenmecha-
nik nach Dimitrij Blochinzew ab Ende der 1940er Jahre. Ab den 1950er Jahren
arbeiten Günther Ludwig und ab den 1970er Jahren Leslie E. Ballentine je eigene
ensemble-theoretische Programme aus.

1929: Weyls Eichprinzip.


Hermann Weyl zeigt 1929 in einer Arbeit, in der er auch Tetraden und Weyl-
Spinoren einführt, dass die Freiheit der quantenmechanischen Wellenfunktion unter
der Wahl der lokalen Phase, von ihm als Eichfreiheit bezeichnet, auf einen Term
in der freien Schrödinger-Gleichung führt, der als Kopplungsterm an das elektro-
magnetische Feld angesehen werden kann. Invarianz unter lokaler Eichsymmetrie
führt insofern auf minimale Kopplung.

1932: von Neumanns Standard-Formalismus.


Johann von Neumann veröffentlicht sein Buch Mathematische Grundlagen der
Quantenmechanik. Nach allgemeiner Ansicht findet die Entwicklung der neuen
Quantenmechanik mit dieser Veröffentlichung ihren vorläufigen theoretischen und
mathematischen Abschluss. Von Neumanns Buch enthält auch den Hinweis, dass es
282 C. Friebe et al.

in der Quantenmechanik zwei zeitliche Prozesse für die Wellenfunktion gibt, näm-
lich einerseits eine kontinuierliche und deterministische Entwicklung gemäß der
Schrödinger-Dynamik, andererseits einen diskontinuierlichen Kollaps. Auch leitet
von Neumann ein No-go-Theorem ab, das die Quantenmechanik als vollständig
ausweisen soll und somit die Möglichkeit einer Theorie mit ‚verborgenen Varia-
blen‘ bestreitet. Vor allem Bell kann später zeigen, dass die Voraussetzungen des
Theorems zu speziell sind, um diesen Schluss zu rechtfertigen.

1935: Schrödingers Katze.


Das neue Paradigma hat hartnäckige Gegner. 1935 veröffentlicht Schrödinger einen
Aufsatz, mit dem er die Kopenhagener Deutung attackiert: Koppelt man den Zerfall
eines einzelnen radioaktiven Atoms an einen makroskopischen Zünder, so über-
trägt sich die mikroskopische Superposition ins Makroskopische. Eine Katze müsste
dann in einem Superpositionszustand von tot und lebendig sein, ein Szenario, das
Schrödinger als „burlesk“ bezeichnet.

1935: EPR-Argument.
Auch Einstein bleibt Gegner der Quantenmechanik. Gemeinsam mit Boris Podolsky
und Nathan Rosen veröffentlicht er ein Gedankenexperiment, das den Blick auf
zusammengesetzte Systeme richtet und die Vollständigkeit der Quantenmechanik in
Zweifel ziehen soll. [Vgl. Abschn. 4.2]

7.3 Bestätigung und neue Herausforderungen

ab 1936: Quantenlogik.
Garrett Birkhoff und Johann von Neumann zeigen, dass die logische Struktur
der Quantenmechanik nicht derjenigen der klassischen Logik entspricht. Wäh-
rend die Aussagenmenge der klassischen, zweiwertigen Logik einen (distributiven)
Booleschen Verband bildet, bildet die Menge der Projektoren bzw. Unterräume
des Hilbertraums einen nicht-distributiven Verband, der sich insbesondere dadurch
auszeichnet, dass in ihm das Tertium non datur nicht gilt. Die Birkhoff/von-
Neumann-Arbeit gilt als Geburtsstunde der Quantenlogik.

ab 1936: Algebraische Quantenmechanik (AQM).


Von Neumann und in den 1940er Jahren Gelfand, Neumark und Segal entwickeln
die AQM. Sie stellt neben der Standard-Formulierung im Hilbertraum und der in der
Praxis wenig gebräuchlichen Quantenlogik eine dritte mathematische Darstellungs-
form der Quantenmechanik dar. Die Grundidee ist, ein Quantensystem vornehmlich
durch die Menge seiner Observablen und damit durch eine Observablen-Algebra
zu charakterisieren. Physikalische Zustände lassen sich als lineare Funktionale
auf der Algebra definieren. Die so genannte GNS-Konstruktion garantiert, dass
7 Chronologie und Ausblick 283

jedes Zustandsfunktional eine Darstellung der Algebra in Form von Hilbertraum-


Operatoren gestattet. Die spätere AQFT baut auf diesen Grundideen auf (vgl.
Eintrag 1956).

ab 1939: Bewusstseins-Interpretationen.
In von Neumanns Theorie des Messprozesses (vgl. Eintrag 1932) wird auch der
Messapparat quantenmechanisch beschrieben. Dabei entsteht das Problem, dass
für das Zustandekommen eines eindeutigen Messergebnisses eine diskontinuierli-
che Zustandsänderung (‚Kollaps‘) gefordert werden muss. Von Neumann lässt die
Möglichkeit offen, dass diese Zustandsänderung erst bei der Wahrnehmung, also
durch das Bewusstsein des Beobachters, eintritt. Fritz London und Edmund Bau-
er entwickeln diese Vorstellung zu einer Messtheorie weiter, nach der der Kollaps
durch die Wechselwirkung des physikalischen Systems mit dem bewusstseinsbe-
gabten Beobachter eintritt, weil dieser die besondere Fähigkeit hat, seinen eigenen
Zustand eindeutig zu bestimmen. Ihre Position ist von philosophischen Lehren be-
einflusst, die von einem substanziellen Dualismus von Geist und Materie ausgehen.
In ähnlicher Weise weist auch Eugene Wigner dem Bewusstsein eine besondere Rol-
le beim Kollaps des Zustands bei der Messung zu (vgl. Eintrag 1961). In neuerer
Zeit hat Henry Stapp zusätzlich Gehirnzustände ins Spiel gebracht. Diese Ansät-
ze haben insgesamt in der Fachwelt wenig Resonanz gefunden, u.a. weil die dabei
zugrunde gelegten Annahmen über das Verhältnis von Materie und Bewusstsein
philosophisch problematisch sind und die darauf beruhenden Erklärungen für den
Messprozess wenig Erklärungswert haben und ad hoc erscheinen.

ab 1940: Quantenelektrodynamik (QED).


Richard Feynman, Julian Schwinger und Shinichiro Tomonaga entwickeln in den
1940er Jahren die Quantenelektrodynamik (QED), eine eichtheoretisch formulier-
bare, relativistische Quantenfeldtheorie (vgl. Einträge 1964 und 1967).

1948: Feynmans Pfadintegralmethode.


In der kanonischen Formulierung der QFT (vgl. Abschn. 6.3.1) werden Felder ganz
analog zur gewöhnlichen Quantenmechanik durch nicht-kommutierende Opera-
toren beschrieben und auf diese Weise ‚quantisiert‘. Richard Feynman findet
einen anderen Übergang von der klassischen Physik zur Quantentheorie und da-
mit eine Formulierung, die ohne Operatoren und ohne Hilbertraum auskommt.
In ihr stehen Integralausdrücke im Mittelpunkt, die man sich als Integrale über
alle möglichen Teilchenbahnen vorstellen kann. Die Pfadintegralmethode wird
auch als Sum over paths- oder Sum over histories-Ansatz bezeichnet. Wenn
auch klassische Teilchenbahnen bei der Entstehung der Theorie eine heuristi-
sche Rolle gespielt haben mögen, kann Feynmans Pfadintegralmethode jedoch
nicht als Rückkehr zu einer Teilchenontologie verstanden werden. Feynman
selbst hatte seinen Zugang vor allem als mathematisches Instrument verstanden.
Sein Ansatz kommt bei den Übergangselementen (z. B. in der Streutheorie) zu
284 C. Friebe et al.

den gleichen Ergebnissen wie die Standard-Formulierung; beide Theorievarian-


ten sind also auf der Beobachtungsebene äquivalent. Pfadintegrale haben Vorteile
bei der expliziten Berücksichtigung relativistischer Überlegungen (vgl. Eintrag
1949–1957) und bei halbklassischen Approximationen. Bei vielen Anwendungen
der Pfadintegralmethode spielen Feynman-Diagramme (vgl. Eintrag 1949) eine
wichtige Rolle bei der Berechnung von Übergangswahrscheinlichkeiten. Im Prinzip
handelt sich jedoch um zwei zunächst getrennte Methoden.

1949: Feynman-Diagramme.
Feynman führt im Rahmen seines Pfadintegral-Zugangs (vgl. Eintrag 1948) ei-
ne höchst effektive Methode ein, um die Wahrscheinlichkeiten zu erfassen, mit
denen bei Streuprozessen Anfangszustände in bestimmte Endzustände übergehen:
Feynman-Diagramme sind eine Art graphische Stenographie, die einzelnen Ele-
menten in der Störungsrechnung berechenbare Ausdrücke zuordnet. Sie sind ein
graphisches Hilfsmittel, um alle relevanten störungstheoretischen Beiträge zu finden
und zu berechnen. Ihre Funktion ist es dagegen nicht, wie ein weit verbreite-
tes Missverständnis besagt, fundamentale Prozesse zu veranschaulichen. Obwohl
Feynman-Diagramme im Zusammenhang mit dem Pfadintegral-Zugang eingeführt
worden sind, sind sie nicht an diese Herkunft gebunden. Sie werden in der glei-
chen Funktion auch in der Streutheorie der Standard-Formulierung der QFT benutzt.
[Vgl. Abschn. 6.3.4]

1949–1957: Erste Quantengravitationstheorien.


Nach diversen Vorarbeiten in den 1930er und 40er Jahren werden die Programme
für die bis heute wichtigsten Ansätze einer Quantengravitationstheorie formuliert.
Die Herausforderung für Quantengravitationstheorien besteht darin, dass die Gravi-
tation nach der Allgemeine Relativitätstheorie (ART) nicht eine Kraft in Raum und
Zeit, sondern die Krümmung von Raum und Zeit selbst ist. Eine Quantisierung der
Gravitation könnte also eine Quantisierung von Raum und Zeit beinhalten, und es
ist nicht klar, was das bedeuten würde. Prinzipiell gibt es vier verschiedene Mö-
glichkeiten, ART und QFT in Einklang zu bringen: (i) die ART wird quantisiert;
(ii) die QFT wird ‚allgemein relativiert‘; (iii) eine Theorie ist Grenzfall der ande-
ren; oder (iv) sowohl ART als auch QFT sind Grenzfälle einer grundsätzlich neuen
Theorie. Es ist üblich, (i) als kanonischen Ansatz zu bezeichnen (wegen kanoni-
scher Quantisierung; vgl. Abschn. 6.3.1) und (ii) als kovarianten Ansatz (da die
Kovarianz der ART der Ausgangspunkt ist). Diese Bezeichnungen sind allerdings
etwas missverständlich und die Einteilung nicht immer trennscharf. Ein weiterer
wichtiger Ansatz, der in dieser Zeit entsteht, ist die Anwendung der Feynman-
schen Pfadintegralmethode der Quantisierung auf die Gravitation, auch als Sum over
histories-Ansatz bezeichnet (vgl. Eintrag 1948). Der wichtigste kanonische An-
satz ist die Quantenschleifen-Gravitation (vgl. Eintrag 1986), der kovariante Ansatz
mündet schließlich weitgehend in die Stringtheorie (vgl. Eintrag 1987).
7 Chronologie und Ausblick 285

1952: Bohms deterministische Quantenmechanik (de Broglie-Bohm-Theorie


oder Bohmsche Mechanik).
David Bohm entwickelt eine deterministische Konkurrenztheorie zur Standard-
Quantenmechanik, in der sich Teilchen wieder auf Bahnen bewegen, ‚geführt‘ durch
die Wellenfunktion  als Führungsfeld. Der französische Physiker de Broglie hatte
eine ähnliche Theorie bereits in den 1920er Jahren formuliert (die Bohm bei der
Entwicklung seiner Theorie aber nicht kannte). [Vgl. Abschn. 5.1]

1954: Yang-Mills-Theorien.
Chen Ning Yang und Robert L. Mills weiten das Konzept der Eichtheorien (vgl.
Eintrag 1929) auf nicht-Abelsche unitäre Symmetriegruppen aus. Die spätere elek-
troschwache Vereinheitlichung und die QCD fallen darunter (vgl. Einträge 1964;
1967).

ab 1956: Axiomatische und Algebraische Quantenfeldtheorie (AQFT).


Unter anderem angesichts der schwerwiegenden Probleme mit unendlichen Grö-
ßen in der konventionellen Formulierung der QFT werden verschiedene Versuche
begonnen, die QFT mathematisch rigoros und transparent axiomatisch zu refor-
mulieren. Nach der Wightman-Axiomatik der frühen 1950er Jahre eröffnen Daniel
Kastler, Huzihiro Araki und am nachhaltigsten Rudolf Haag den wohl erfolgreich-
sten axiomatisch orientierten Ansatz, die AQFT, die ab den 1980er Jahren u. a. durch
Klaus Fredenhagen und Detlev Buchholz vorangebracht wurde. Während sich die
Absicht einer rein axiomatischen Formulierung als nicht durchführbar erwies, ist
die AQFT insbesondere dann von großem Nutzen, wenn es um Grundlagenfragen
wie die Vereinbarkeit von Lokalisierbarkeit und relativistischer Invarianz oder um
die Bedeutung nicht-äquivalenter Darstellungen bei Systemen mit unendlich vielen
Freiheitsgraden geht. [Vgl. Kap. 6]

1957: Everett- oder Viele-Welten-Interpretation.


Hugh Everett III stellt seine Relative-state-Formulierung der Quantenmechanik
vor, die als Viele-Welten-Interpretation populär wird. Letztere betrachtet die reine
Schrödinger-Dynamik und verzichtet auf jeglichen Kollaps. [Vgl. Abschn. 5.2]

1959: Aharonov-Bohm-Effekt.
Yakir Aharonov und David Bohm entdecken einen nicht-lokalen Effekt, der nahe
legt, dass elektromagnetische Vektorpotenziale mehr als nur mathematische Hilfs-
konstruktionen sind. Genauer: das Kreisintegral über dem Potenzial liefert die im
Experiment beobachtbare Interferenzmuster-Verschiebung.

1961: „Wigners Freund“.


In einem Gedankenexperiment möchte Eugene Wigner durch Einführung eines
zweiten Beobachters („Wigners Freund“) zeigen, dass der Standard-Formalismus
nicht ausdrücken kann, wo der „Heisenbergsche Schnitt“ zwischen Beobachter
und Messobjekt liegt, wann und wo also der Kollaps stattfindet. So könnte sein
286 C. Friebe et al.

Freund im Labor ein Schrödinger-Katzen-Experiment durchgeführt und bereits ein


bestimmtes Messresultat gefunden haben. Außerhalb des Labors muss Wigner
jedoch die quantenmechanische Überlagerung zweier Zustände des Gesamtsystems
„Freund + Katze“ betrachten. Da Wigner es für offenkundig hält anzunehmen,
dass sein Freund die Katze bereits als lebendig bzw. tot aufgefunden hat, argu-
mentiert er, dass diese Schwierigkeiten nur gelöst werden können, wenn man im
Einklang mit einer Bewusstseins-Interpretation (vgl. Eintrag 1939) annimmt, dass
das menschliche Bewusstsein den Kollaps hervorruft.

1964: Bells Theorem und Bellsche Ungleichung.


John S. Bell zeigt den nicht-lokalen Charakter der Quantentheorie durch eine sehr
allgemeine Betrachtung der Korrelationen in EPR-analogen Experimenten. Unter
der Voraussetzung, dass eine lokale Erklärung möglich ist, erfüllen die Wahrschein-
lichkeitsverteilungen für diese Messung eine spezielle Ungleichung. Innerhalb der
Quantentheorie wird diese Ungleichung jedoch verletzt, was auch experimentell
bestätigt werden kann (vgl. Eintrag 1982). [Vgl. Abschn. 4.3]

1964: Quarks und Quantenchromodynamik (QCD).


Murray Gell-Mann stellt 1964 das Quark-Modell auf, das wesentlich zur Entwick-
lung der QCD, einer eichtheoretischen Quantenfeldtheorie der starken Kernkraft,
beiträgt.

1967: Glashow-Salam-Weinberg-Theorie (GSW).


Die elektroschwache Theorie nach GSW stellt eine Vereinheitlichung elektroma-
gnetischer und schwacher Wechselwirkung im Rahmen einer eichtheoretischen
Quantenfeldtheorie dar (vgl. Eintrag 1954).

1967: Wheeler-DeWitt-Gleichung.
Ein Meilenstein in dem Versuch, die Allgemeine Relativitätstheorie kanonisch zu
quantisieren (vgl. Eintrag 1949–1957), ist die Wheeler-DeWitt-Gleichung, die zu-
nächst „Einstein-Schrödinger-Gleichung“ hieß. Sie drückt eine Bedingung aus,
die alle Wellenfunktionen erfüllen müssen, nämlich die Gleichberechtigung der
verschiedenen möglichen Koordinatensysteme.

1967: Kochen-Specker-Theorem.
Simon Kochen und Ernst Specker päsentieren ein Argument zugunsten der Vollstä-
ndigkeit der Standard-Quantenmechanik – also ein No-go-Theorem für verborgene
Variablen. Demnach besitzen Quantensysteme bestimmte Eigenschaften wie den
Spin nicht unabhängig vom Kontext, also nicht unabhängig davon, wie eine
Messung konkret ausgeführt wird.

1970: Dekohärenz.
H. Dieter Zeh gibt den Anstoß zu einem Projekt, das dann aber erst seit den
1990er Jahren reüssiert. Die Idee der Dekohärenz ist, dass unter Berücksichtigung
7 Chronologie und Ausblick 287

der Umgebung der Zustand des aus Messgerät und Mikroobjekt zusammenge-
setzten Systems auf natürliche Weise von der unerwünschten Superposition in
einen gemischten Zustand übergeht, der keine Interferenzen mehr enthält (daher
„dekohäriert“). [Vgl. Abschn. 2.3.2]

ab 1972: Modal-Interpretationen.
Bas van Fraassen schlägt eine Interpretation der Quantenmechanik vor, die er
bis 1991 fortentwickelt. Hauptziel dieses Ansatzes ist es, die Probleme zu lösen,
die insbesondere im Zusammenhang mit dem quantenmechanischen Messprozess
auftreten. Modal-Interpretationen nehmen, wie auch die Bohmsche Quantenmecha-
nik und die Viele-Welten-Interpretation, keinen Kollaps der Wellenfunktion an.
Das Projektionspostulat, nach dem der Zustand des Messobjekts bei der Messung
schlagartig in den (Eigen-) Zustand übergeht, der dem gemessenen Wert entspricht,
wird also zurückgewiesen. Grundlegend in van Fraassens modalem Ansatz ist die
Unterscheidung von „dynamischem Zustand“ und „Wertezustand“. Während der
dynamische Zustand beschreibt, was gemessen werden könnte, gibt der Wertezu-
stand an, was tatsächlich der Fall ist, sprich: welche physikalischen Eigenschaften
scharf vorliegen. Der dynamische Zustand ist dabei der gewöhnliche Hilbertraum-
Zustand der Quantenmechanik, der sich immer gemäß der Schrödinger-Gleichung
entwickelt. Eine entscheidende Idee dieser Modal-Interpretation ist nun, dass die
physikalischen Eigenschaften eines Systems scharfe Werte haben können, ohne
dass der dynamische Zustand Eigenzustand der entsprechenden Observablen ist. In
den folgenden Jahrzehnten wurden eine Reihe alternativer Modal-Interpretationen
formuliert, insbesondere von Simon Kochen, Dennis Dieks und Richard Healey.

1974 und 1976: Hawking-Strahlung und Unruh-Effekt.


Stephen Hawking berechnet 1974 im Rahmen der QFT in gekrümmten Räumen
die Strahlung von schwarzen Löchern. Da wegen der extrem hohen Massendichte
schwarze Löcher zu einer unendlichen Krümmung der Raumzeit (einer Singulari-
tät) führen, hat seine Arbeit auch große Auswirkungen auf die Entwicklung von
Quantengravitationstheorien, da die Hoffnung besteht, dass diese mit Singularitä-
ten umgehen bzw. sie beseitigen können. Hawking verwendet und entwickelt in
seiner Rechnung Feynmans „Sum over histories“-Ansatz fort (vgl. Eintrag 1948).
Zugleich eröffnet er mit seiner Arbeit ein sehr fruchtbares neues Arbeitsfeld: die
Thermodynamik schwarzer Löcher. In diesem Rahmen findet William Unruh 1976
den sogenannten Unruh-Effekt, der gegen eine Teilcheninterpretation der QFT zu
sprechen scheint. [Vgl. Abschn. 6.3.5, 6.4.2 und 6.5.2]

1977: Quanten-Zenon-Effekt.
Baidyanaith Misra und George Sudarshan sagen einen Effekt voraus, dem zufolge
die Zerfallsrate eines Quantensystems durch kontinuierliche Messung drastisch ge-
senkt, das System also nahezu eingefroren werden kann (nach Art der Zenonischen
Bewegungsparadoxien).
288 C. Friebe et al.

1978: Delayed-choice-Experiment.
John A. Wheeler verschärft das Doppelspalt-Paradoxon durch verzögerte Wahl,
wonach Experimentatoren erst dann, wenn ein Teilchen den Doppelspalt (nach
klassischer Vorstellung) passiert hat, entscheiden, ob und was sie messen wollen.
1984 wird ein entsprechendes Experiment realisiert, das die quantenmechanischen
Vorhersagen bestätigt.

ab 1980: Quantencomputer.
Angetrieben durch erste theoretische Arbeiten von Yuri Manin, Richard Feynman,
Charles H. Bennett, Paul A. Benioff und David Deutsch reifen in den 1980er Jahren
die Konzepte der Quanteninformation und des Quantencomputers heran sowie die
daraus erwachsenden Möglichkeiten spezieller Quanten-Berechenbarkeit. Ab den
1990er Jahren entwickeln sich Quanteninformationstheorie und Quanteninformatik
zunehmend auch in experimenteller Hinsicht.

1982: Aspect-Experiment.
Alain Aspect et al. zeigen erstmals experimentell die Verletzung der Bellschen
Ungleichung (vgl. Eintrag 1964).

1982: No-cloning-Theorem.
William K. Wootters und Wojciech H. Zurek sowie Dennis Dieks zeigen, dass
Quantenzustände nicht klonierbar bzw. kopierbar sind.

ab 1984: Konsistente-Historien-Interpretation.
Eine oft in der Nähe der Kopenhagener Deutung eingeordnete Interpretation der
Quantenmechanik ist die Konsistente-Historien-Interpretation. Sie wurde 1984
durch Robert Griffiths eingeführt und in den Folgejahren durch ihn wie auch
durch Roland Omnés, Murray Gell-Mann und Jim Hartle fortentwickelt. Grund-
idee ist, etwas ähnlich wie bei Feynmans „Sum over histories“-Ansatz (vgl. Eintrag
1948), die Dynamik physikalischer Systeme auf „konsistente Historien“ zurück-
zuführen. Historien sind dabei zeitlich geordnete Reihen von Ereignissen, denen
in konsistenter Weise bestimmte Wahrscheinlichkeiten zugeschrieben werden, d. h.
insbesondere ohne mit der Schrödinger-Gleichung in Konflikt zu geraten. Die
Forderung (weitgehend) interferenzfreier Historien führte zu den sogenannten „de-
kohärenten Historien“. Die Konsistente-Historien-Interpretation verzichtet sowohl
auf einen Zustandskollaps als auch auf jegliche Beschreibung des quantenme-
chanischen Messprozesses. Heute spielt diese Interpretation besonders für die
Quantenkosmologie eine Rolle.

1984: Berrys geometrische Phase.


Michael Berry entdeckt einen geometrischen Effekt der quantenmechanischen
Wellenfunktion, der darin besteht, dass ein Quantensystem, das aufgrund seiner
Dynamik eine zyklische Entwicklung im Zustandsraum erfährt, eine beobachtbare
Holonomie in der Phase der Wellenfunktion aufweist.
7 Chronologie und Ausblick 289

1984: Quantenkryptographie.
Charles H. Bennett und Gilles Brassard stellen erstmals ein Protokoll zum
Austausch von Quantenschlüsseln vor. Die Quantentheorie führt demnach auf
Verschlüsselungstechniken, die aus prinzipiellen Gründen abhörsicher sind.

ab 1986: GRW: Spontaner-Kollaps-Theorie.


GianCarlo Ghirardi, Alberto Rimini und Tullio Weber ersetzen die Schrödinger-
Gleichung durch eine nicht-lineare, indeterministische und zeitlich-irreversible
Gleichung, die einen realen, spontanen Kollapsmechanismus der Wellenfunktion
beinhaltet. [Vgl. Abschn. 2.4]

1986: Transaktions-Interpretation.
Nach John Cramer ist die quantenmechanische Wellenfunktion eine reale physika-
lische Welle, die der relativistischen Quantenmechanik gehorcht und sich sowohl
in Form auslaufender, „retardierter“ Wellen in die Zukunftsrichtung als auch in
Form einlaufender, „avancierter“ Wellen in die Vergangenheitsrichtung ausbrei-
tet. Dabei kommt es zu Transaktionen („handshakes“), die dann Quantenereig-
nisse ausmachen. Cramers Interpretation lehnt sich an die Wheeler/Feynmannsche
Absorber-Theorie der elektromagnetischen Strahlung (1945) an.

ab 1986: Quantenschleifen-Gravitation.
Die Quantenschleifen-Gravitation wird zum wichtigsten kanonischen Ansatz einer
Quantengravitationstheorie (vgl. Eintrag 1949–1957) und stellt heute den Haupt-
konkurrenten zur Stringtheorie dar (vgl. Eintrag 1987). Der indische Physiker Ab-
hay Ashtekar leistet 1986 durch eine neue Variablenwahl einen wesentlichen Beitrag
zur Etablierung der Quantenschleifen-Gravitation. Mit dieser Methode finden Lee
Smolin u.a. bald darauf sogenannte Wilson-Loops („Schleifen“) als exakte Lösun-
gen der Wheeler-DeWitt-Gleichung (vgl. Eintrag 1967). Eine wesentliche Annahme
der Quantenschleifen-Gravitation ist die sogenannte Hintergrundunabhängigkeit,
wonach die Raumzeit kein bloßer Hintergrund, sondern auf mikroskopischer Ebene
selbst etwas Dynamisches ist. Raumzeit wird also nicht vorausgesetzt, sondern ent-
steht in gewisser Weise erst. Im Gegensatz dazu ist die Stringtheorie nicht (manifest)
hintergrundunabhängig, da sie mit einer gegebenen Raumzeit arbeitet.

ab 1987: Stringtheorie.
Die bereits in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit der QCD vorgeschlagene
Stringtheorie erlebt ein stark auflebendes Interesse als Kandidat einer vereinheit-
lichten Theorie von QFT und Gravitation. Die Stringtheorie wird zum wichtigste
kovarianten Ansatz einer Quantengravitationstheorie (vgl. Eintrag 1949–1957),
wobei u.a. störungstheoretische Berechnungen von bestimmten Streuamplituden
zu ihrem Durchbruch führen. Die Grundidee der Stringtheorie ist es, nicht Teil-
chen, sondern kleine vibrierende eindimensional ausgedehnte Saiten oder Fäden
(„Strings“) als die fundamentalsten Objekte anzunehmen. Ein entscheidender Vor-
teil besteht darin, dass Strings nicht punktförmig miteinander wechselwirken, so
dass bestimmte unendliche Größen vermieden werden können, die bereits in der
290 C. Friebe et al.

konventionellen QFT, aber erst recht bei der gesuchten Vereinheitlichung mit der
Gravitation große Probleme verursachen. 1995 schlägt Edward Witten eine um-
fassendere Theorie, die sogenannte M-Theorie, vor, zu welcher die bisherigen
Stringtheorien Approximationen sind.

1993: Quantenteleportation.
Charles H. Bennett et al. zeigen 1993, dass Quantenzustände ferntransportierbar
sind, wobei neben einem Quantenkanal, der auf einem Verschränkungssystem (z. B.
einem EPR-Paar) beruht, auch ein klassischer Kanal benötigt wird. Zeilinger et al.
realisieren 1997 erstmals entsprechende Experimente mit Photonen.

ab 1994: Relationale Quantenmechanik.


Nach Carlo Rovellis relationaler Interpretation kommt den Zuständen eines Quan-
tensystems keine absolute Bedeutung zu, sondern nur in Relation zu einem anderen
System (in Analogie zur relativistischen Bezugssystemabhängigkeit).

1994: Shor-Algorithmus.
Peter Shor findet einen Quanten-Algorithmus zur Primfaktorzerlegung in polyno-
mialer Zeit (vgl. Eintrag 1980). Die Arbeit wirkt enorm befruchtend für die weitere,
insbesondere experimentelle Fortentwicklung einer neu entstehenden Quanteninfor-
matik ab den 2000er Jahren.

ab 2000: Epistemische Interpretationen und Quanten-Bayesianismus.


Mit dem Quanten-Bayesianismus (am stärksten durch Christopher Fuchs vertreten)
wird eine ausdrücklich subjektivistische bzw. epistemische Interpretation formu-
liert, nach der quantenmechanische Wahrscheinlichkeiten sich nicht auf objektive
Unbestimmtheit in der Welt, sondern auf unser beschränktes Wissen bezieht. Die
zugeordneten Wahrscheinlichkeiten sind dabei nicht beliebig, sondern genügen den
Minimalbedingungen der auf Thomas Bayes zurückgehenden subjektivistischen
Wahrscheinlichkeitskonzeption. Nach dem Quanten-Bayesianismus beschreibt der
Kollaps der Wellenfunktion keinen physikalischen Prozess am betrachteten Objekt,
sondern eine Aktualisierung unseres Wissens. Weitere wichtige Arbeiten zu epis-
temischen Interpretationen der Quantenmechanik stammen u.a. von David Mermin
und Richard Healey.

ab 2003: CBH-Theorem und informationsbasierte Interpretation.


Robert Clifton, Jeffrey Bub und Hans Halvorson zeigen im Rahmen des CBH-
Theorems, dass die algebraische Struktur der Quantenmechanik (vgl. Eintrag 1936)
aus drei informationstheoretischen Annahmen abgeleitet werden kann, die die
Unmöglichkeit überlichtschneller Informationsübertragung, des Kopierens eines
unbekannten Zustands und eines spezieller Übertragungsprotokolls betreffen. Nach
Auffassung von Bub sollte man die Quantenmechanik daher als eine Theorie zur
Manipulation von Information als physikalischer Fundamentalgröße interpretieren.
Musterlösungen der Übungsaufgaben

Kapitel 1

1. Niels Bohr führte zur Deutung der Quantenmechanik den Begriff „Komple-
mentarität“ ein. Unterscheiden Sie zwei Lesarten, wie man ihn verstehen
kann.
Klassisch sich ausschließende Konzepte ergänzen sich quantenmechanisch
(Welle/Teilchen-Dualismus) versus klassisch sich ergänzende Größen schlie-
ßen sich quantenmechanisch in präzisierbarem Sinne aus (nicht-kommutierende
Observablen wie etwa Ort/Impuls oder Spin in verschiedenen Richtungen).
2. Bei aufeinanderfolgenden Spinmessungen wurden zuletzt vermeintlich zwei Ef-
fekte unterschieden, die durch das Mischen der Teilchen wieder rückgängig
gemacht werden könnten. Beschreiben Sie zunächst diese beiden vorgeblichen
Effekte und erläutern Sie anschließend, warum es sich dabei tatsächlich nur um
einen einzigen handelt. Was kann man daraus folgern?
In Abb. 1.5 laufen Teilchen mit definitem Spinwert in y-Richtung in die Ge-
samtapparatur hinein. Beim Durchgang durch das (erste) Ŝx -Gerät wird anschei-
nend einerseits ein definiter Spinwert in x-Richtung hergestellt, andererseits der
definite Spinwert in y-Richtung zerstört. Beides würden Spinmessungen ent-
lang der Wege bezeugen, wenn man sie durchführte. Die vermeintlichen zwei
Effekte können aber nicht separat rückgängig gemacht werden: Überraschender-
weise haben alle Teilchen, die die Gesamtapparatur verlassen, wieder ihren
ursprünglichen Wert. Daraus folgert man das Prinzip, wonach (auf das Beispiel
bezogen) der Zustand eines Teilchens mit bestimmtem Spinwert in bestimmter
Richtung nichts anderes ist als ‚Superpositionen‘ gegensätzlicher Spinwerte in
abweichenden Richtungen.
3. Betrachten Sie die Erwartungswerte von Operatoren in Abhängigkeit davon, ob
das physikalische System durch einen Eigenvektor des gewählten Operators dar-
gestellt wird oder nicht. Berechnen Sie die Erwartungswerte der zuvor gegebenen

c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 291
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7
292 Musterlösungen der Übungsaufgaben

Spin-Operatoren bzgl. der (dort dargestellten) verschiedenen Vektoren. Erläu-


tern Sie die Ergebnisse anhand der Abbildungen zur Wiederholungs- und zur
Zerstörungsmessung.
Beispiel Spin-Operator (1.8): Der Zustand entspreche zunächst einem seiner
Eigenvektoren (1.11). Der Erwartungswert (1.18) der Wiederholungsmessung
(vgl. Abb. 1.2) ist dann identisch mit dem dazugehörigen Eigenwert, und die
Streuung ist laut 01. Rechnung (analog mit dem anderen Eigenvektor):
 √ 
√ √ 0 –i 1/ 2
EV1 |Ŝ|EV1  = 1/ 2 –i/ 2 √
i 0 i/ 2
√ 
√ √ 1/ 2
= 1/ 2 –i/ 2 √ =1
i/ 2

Ŝ = EV1 |Sˆ2 |EV1  – |EV1 |Ŝ|EV1 |2 = 1 – 1 = 0

Nun werde der Zustand durch einen der Basisvektoren aus Abb. 1.11 dargestellt.
Der Erwartungswert ist nun nicht mehr identisch mit einem der Eigenwerte, und
die Streuung ist auch nicht mehr 0. Der Vorgang/die Messung, aus der dieser neue
Zustand hervorging, hat den zuvor definiten Spinwert zerstört (vgl. Abb. 1.3).
Rechnung (analog mit dem anderen Basisvektor):
  
0 –i 1 0
1 0 = 1 0 =0
i 0 0 i

Ŝ = 1 – 0 = 1
4. Was besagt von Neumanns Projektionspostulat? Erläutern Sie insbesondere, in-
wiefern dieses Postulat über das hinausgeht, was in Bezug auf Erwartungswerte
als unstrittig festgehalten wurde.
Unstrittig ist: Wenn das quantenmechanische System in einem Zustand ist, der
durch einen bestimmten Eigenvektor dargestellt wird, dann wird der dazuge-
hörige Eigenwert mit Sicherheit gemessen. Strittig ist die Umkehrung: Wenn
ein bestimmter Eigenwert gemessen wird, ist das quantenmechanische Sys-
tem (unmittelbar anschließend) in einem Zustand, der durch den (bzw. einen)
entsprechenden Eigenvektor dargestellt wird. Diese Eigenwert-Eigenvektor-
Verknüpfung fordert von Neumanns Projektionspostulat; es impliziert das Pro-
blem des Kollapses.
5. Im Gegensatz zur Alltagsmeinung, zu vielen philosophischen Denkrichtungen,
aber auch zu physikalischen Alternativen (z. B. GRW, Bohm) steht der
(Anschauungs-)Raum nicht im Zentrum der Standard-Quantenmechanik. Dis-
kutieren Sie diese These zunächst nicht-formal und anschließend anhand der
mathematischen Besonderheiten des Ortsoperators.
Offene Frage zu Abschn. 1.2.4.
Musterlösungen der Übungsaufgaben 293

Kapitel 2

1. Unterscheiden Sie zwei Lesarten der Bornschen Regel abhängig davon, ob der
Bezug auf eine Messung in ihr wesentlich ist oder nicht.
Ist der Bezug auf eine Messung relevant, liegen die Eigenschaften, die den Mess-
werten entsprechen, zeitlich-vor der Messung nicht bereits vor. Die Standard-
Quantenmechanik wäre dann vollständig, und es entsteht das Problem, zu klären,
was bei einer solchen Messung eigentlich geschieht. Ist der Bezug auf eine Mes-
sung jedoch irrelevant, wäre der Standard-Formalismus unvollständig, da dann
Eigenschaften objektiv vorlägen, die nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden
können. Es ist aber zu beachten, dass aufgrund von EPR/Bell (vgl. Kap. 4)
solche lokalen Eigenschaften in keinem Falle vorliegen und dass die Bohmsche
Mechanik (vgl. Kap. 5) nur Ortseigenschaften hinzufügt.
2. Nach der (Heisenbergschen) Kopenhagener Deutung gibt es zwei zeitliche Dy-
namiken des Zustandsvektors. Beschreiben Sie diese in eigenen Worten. Wie
verhält sich die zweite Dynamik zur Bornschen Regel und zu von Neumanns
Projektionspostulat? Was ist an ihr problematisch?
Die erste Dynamik folgt der linearen Schrödinger-Gleichung und ist kontinu-
ierlich, deterministisch und reversibel. Sie findet zwischen Messungen statt.
Während einer Messung kommt es, dieser Deutung zufolge, zu einer zweiten
Dynamik, die diskontinuierlich, indeterministisch und irreversibel ist. Entspre-
chend kommt es in der Bornschen Regel wesentlich auf den Bezug auf eine
Messung an; die zweite Dynamik ist durch von Neumanns Projektionspostu-
lat gefordert. Problematisch daran ist vor allem, dass es kein physikalisches
Kriterium dafür gibt, wo der Schnitt zwischen dem Messenden und dem
Zu-Messendem liegt.
3. Das Interpretationsproblem der Quantenmechanik kann auch als ein Trilemma
dargestellt werden. Erläutern Sie die drei Aussagen und zeigen Sie, dass
sie zusammen genommen inkonsistent sind. Worin besteht der Vorteil dieser
Darstellung gegenüber der bisherigen, an der Bornschen Regel orientierten?
Die drei Behauptungen sind:
a) Sämtliche objektiv vorliegende Eigenschaften werden durch den Zustands-
vektor bestimmt (Vollständigkeit des Standard-Formalismus).
b) Der Zustandsvektor folgt in seiner zeitlichen Entwicklung immer der linearen
Dynamik (Schrödinger-Gleichung).
c) Messungen ergeben stets definite Messwerte.
Die Konjunktion dieser drei Behauptungen ist inkonsistent, was bereits die
Spinmessungen vom Eingangskapitel zeigen. Der Vorteil dieser Darstellung des
Interpretationsproblems besteht darin, dass auf diese Weise alle noch vertretenen
Optionen (plus Varianten davon) auf dem Tisch liegen: Die Bohmsche Mechanik
als Negation der ersten Behauptung, „Kopenhagen“ und GRW als Negation der
zweiten sowie Everett als Negation der dritten.
4. Das Dekohärenzprogramm stellt einen wichtigen Fortschritt dar. Stellen Sie he-
raus, wodurch alle Interpretationsvarianten profitieren können. Warum aber löst
das Programm das Messproblem letztlich nicht?
294 Musterlösungen der Übungsaufgaben

Der entscheidende Fortschritt besteht darin, dass eine Basis – die Zeiger-Basis (in
der Regel der Ortsraum) – physikalisch-dynamisch ausgezeichnet wird; dies löst
den einen Teil des Interpretationsproblems, wovon alle Optionen profitieren. Des
Weiteren konnte gezeigt werden, dass lokal die Interferenzterme verschwinden,
was unserer Wahrnehmung entspricht. Global aber verstärken sich die Inter-
ferenzen sogar noch. Selbst wenn man dies akzeptieren wollte, erreicht man
durch Dekohärenz nur ein (zwar klassisch zu verstehendes) Entweder-Oder, al-
so weiterhin eine Form von Unbestimmtheit und noch immer keinen definiten
Messwert.
5. Formulieren Sie in eigenen Worten, was die GRW-Theorie in den Augen ih-
rer VertreterInnen leistet. Verteidigen Sie demgegenüber die Standardsicht der
Physik.
Die GRW-Theorie vertritt eine einheitliche (nicht-lineare) Dynamik ohne ge-
heimnisvolle Messung. Sie zeichnet das raumzeitliche Geschehen aus, was
unserer Erfahrung entspricht. (Ihr objektiver Indeterminismus könnte auch wei-
tere Vorteile bieten, etwa bei der Diskussion um den Zeitpfeil.) Die neuen
Naturkonstanten aber sind extrem willkürlich gewählt, gerade so, dass die Mess-
ergebnisse reproduziert werden, ohne eigenständige empirische Bestätigung. Die
gewöhnliche Quantenmechanik kann darüber hinaus auf etablierte Weise so mo-
difiziert werden, dass sie mit der (speziellen) Relativitätstheorie vereinbar ist
(vgl. Kap. 6) – eine (allgemein akzeptierte) lorentzinvariante GRW-Theorie liegt
demgenüber (noch) nicht vor.

Kapitel 3

1. Konstruieren Sie die total-symmetrisierten Basisfunktionen im Zustandsraum


dreier gleichartiger Objekte a, b, c (Hinweis: wie in Abschn. 3.1.4 ausgeführt,
sind dies die eindimensionalen irreduziblen Darstellungen der S3 ).
Die S3 hat die Dimension 3!=6. Die 6 Permutationen dreier Objekte a, b, c lau-
ten abc, bac, cba, acb, cab und bca. Sie gehen aus abc durch Anwendung der 6
Permutationsoperatoren (bzw. Elemente der S3 ) hervor: 1, P̂12 , P̂13 , P̂23 , P̂13 P̂12
und P̂12 P̂13 . Ebenso, wie der total-symmetrische Zustand (3.9) zweier Objekte a
und b aus dem Symmetrisierungs-Operator Ŝ2 = 1 + P̂12 der beiden S2 -Elemente
hervorgeht, lautet der Symmetrisierer der S3

Ŝ3 = 1 + P̂12 + P̂13 + P̂23 + P̂13 P̂12 + P̂12 P̂13 .

Die total-symmetrische Basisfunktion der S3 folgt hieraus zu

1
S = √ ψa ψb ψc + ψb ψa ψc + ψc ψb ψa + ψa ψc ψb + ψc ψa ψb + ψb ψc ψa .
6

In einem total-antisymmetrischen Zustand liefert die Vertauschung zweier Ob-


jekte einen Vorzeichenwechsel in der Wellenfunktion. Im Falle der S2 liefert
Musterlösungen der Übungsaufgaben 295

der Antisymmetrisierer Â2 = 1 – P̂12 die Funktion (3.7). Zur Konstruktion der
total-antisymmetrischen Basisfunktion der S3 benötigt man analog einen Anti-
symmetrisierer Â3 , der aus Ŝ3 durch Vorzeichenumkehr aller P̂ij hervorgeht, und
schließlich auf die total-antisymmetrische Basisfunktion

1
A = √ ψa ψb ψc – ψb ψa ψc – ψc ψb ψa – ψa ψc ψb + ψc ψa ψb + ψb ψc ψa
6

führt.
2. Wie lautet das Leibnizsche PII in kontrapositiver Formulierung?
Keine zwei Objekte teilen alle Eigenschaften.
3. Inwieweit ist die Bündelontologie auf das PII festgelegt?
Leibniz-Individuation ist Individuation über Eigenschaften. Falls Objekte Bün-
del von Eigenschaften sind, stehen zur Objekt-Individuation nichts anderes als
Eigenschaften zur Verfügung, daher ist die Bündelontologie auf das Leibnizsche
PII festgelegt.
4. Worauf beziehen sich die Konzepte synchroner und diachroner Identität?
Synchrone Identität bezieht sich auf die Identität (oder Unterscheidbarkeit) von
Objekten zu einem gegebenen Zeitpunkt, während diachrone Identität sich auf
zeitüberbrückende Persistenz bezieht.
5. Definieren Sie die drei Arten von Unterscheidbarkeit nach Quine.
Verschiedenheit hinsichtlich wenigstens einer
– monadischen Eigenschaft = absolute Unterscheidbarkeit,
– Ordnungsrelation = relative Unterscheidbarkeit,
– irreflexiven Relation = schwache Unterscheidbarkeit.
6. Diskutieren Sie, inwieweit schwaches PII und Strukturenrealismus zu verwandten
Objektkonzeptionen führen.
Offene Frage zu Abschn. 3.2.4.

Kapitel 4

1. In der EPR-Arbeit ist eine Annahme von zentraler Bedeutung, die wir „Loka-
litätsannahme“ genannt haben: „Da . . . die beiden Systeme zum Zeitpunkt
der Messung nicht mehr miteinander in Wechselwirkung stehen, kann nicht
wirklich eine Änderung in dem zweiten System als Folge von irgendetwas auf-
treten, das dem ersten System zugefügt werden mag.“ Wie verhält sich diese
Annahme zu den verschiedenen Begriffsdifferenzierungen, die in Abschn. 4.4.5
eingeführt worden sind: Ist damit auch globale und kausale Einstein-Lokalität
sowie raumzeitliche Separabilität gefordert?
Die Unterscheidung von erstem und zweitem System zeigt, dass Einstein Se-
parabilität fordert. Der Ausschluss von Wechselwirkungen bedeutet kausale
Einstein-Lokalität. Aus Separabilität und kausaler Einstein-Lokalität folgt dann
globale Einstein-Lokalität.
296 Musterlösungen der Übungsaufgaben

2. Angenommen für ein EPR/B-Experiment gelte eine lokale kausale Struktur mit
verborgenen Variablen λ (siehe Abb. 4.5). Überlegen Sie sich, warum dann aus
der Tatsache perfekter Korrelationen folgt, dass die Messungen deterministisch
ablaufen müssen.
Perfekte Korrelationen bestehen darin, dass bei gleicher Messrichtung an beiden
Flügeln die Messergebnisse mit Sicherheit übereinstimmen (zu 50 % α = +,
β = + und zu 50 % α = –, β = –). Eine lokale Struktur läuft darauf hi-
naus, dass das Messergebnis an einem Flügel nur vom Zustand des lokalen
Photons und der lokalen Messeinstellung abhängt. Angenommen eine Mes-
sung am Photon bei A habe für die Messeinstellung a = 0 ◦ das Resultat
α = + ergeben und bei B liege ebenfalls die Einstellung b = 0 ◦ vor. Dann
muss das Photon bei B auch β = + ergeben. Da das Messergebnis bei B
laut angenommener kausaler Struktur nur von der lokalen Messeinstellung und
dem Zustand des Photons bei B abhängt, müssen diese beiden das Ergebnis
determinieren. Das gilt dann auch, wenn bei A eigentlich eine andere Mess-
einstellung (d. h. nicht parallel zu der bei B) oder ein anderes Messergebnis
vorliegt. Ein analoges Argument gilt umgekehrt für das Photon bei A, wenn
das Ergebnis bei B festliegt. Deshalb müssen für jedes Photon der jeweilige
Zustand zusammen mit der vorliegenden Messrichtung determinieren, welches
Ergebnis eine Messung liefert, und diese Ergebnisse müssen für gleiche Mess-
richtungen übereinstimmen. (Vgl. auch Tab. 4.2, wo mögliche Determinierungs-
schemata angegeben sind, die jeweils unterschiedlichen Photonen-Zuständen
entsprechen.)
3. Nennen Sie die minimale Menge von Annahmen, die man benötigt, um eine
Bellsche Ungleichung herzuleiten und skizzieren Sie, was diese besagen.
Überblick über die benötigten Annahmen in Abschn. 4.3.4:
– Globale Einstein Lokalität: Es gibt keine kausalen Prozesse schneller als
Licht (s. Abschn. 4.3.1).
– Keine Rückwärtsverursachung: Wirkungen können nicht früher als ihre
(zeitartig gelegenen) Ursachen geschehen (s. Abschn. 4.5.3).
– Interventionsannahme: Der Experimentator (oder eine Maschine, die durch
den Experimentator aufgebaut wird) kann eine Einstellung eines makroskopi-
schen Apparats durch eine Intervention kontrollieren (s. Abschn. 4.5.2).
– Kausale Markov-Bedingung: Gegeben ihre direkten Ursachen Z wird eine
Variable X statistisch unabhängig von allen Variablen Y, die keine Wirkungen
von X sind: P(X|YZ) = P(X|Z) (s. Abschn. 4.3.4).
4. Wenden Sie die kausale Markov-Bedingung auf die lokale kausale Struktur in
Abb. 4.5 an und notieren Sie die resultierenden statistischen Unabhängigkeiten.
Die Markov Bedingung besagt, dass gegeben ihre direkten Ursachen eine
Variable unabhängig von ihren Nicht-Wirkungen wird. D. h. wenn X die betrach-
tete Variable ist, gilt P(X | direkte Ursachen von X, Nicht-Wirkungen von X) =
P(X | direkte Ursachen von X). Wendet man diese Regel auf jede Variable im
Musterlösungen der Übungsaufgaben 297

Graphen an, erhält man:

P(λ|abψ) = P(λ) P(ψ|abλ) = P(ψ) P(a|bψλ) = P(a)


P(b|aψλ) = P(b) P(α|βabψλ) = P(α|aψλ) P(β|αabψλ) = P(β|bψλ)

5. Umreißen Sie die vier Konfliktfelder einer Nicht-Lokalität mit der Relativitäts-
theorie.
Siehe Abschn. 4.4.2. (und zur Präzisierung die darauffolgenden Abschnitte): In
einer relativistischen Raumzeit
– ist Materie- oder Energietransport schneller als Licht nicht möglich.
– können Signale mit Überlichtgeschwindigkeit in paradoxe Schleifen führen.
– widersprechen fundamentale raumartige kausale Verbindungen der zeitlichen
Asymmetrie der Kausalität.
– zeichnen nicht-lokale Verbindungen Bezugssysteme aus und verletzen so das
Relativitätsprinzip.
6. Diskutieren Sie verschiedene Möglichkeiten einer Nicht-Lokalität, die im Ein-
klang mit dem Relativitätsprinzip stehen. Berücksichtigen Sie dabei physikalische
und ontologische Konsequenzen.
Siehe Abschn. 4.4.7:
Hyperplane-Dependence:
– vollständig Lorentz-invariante Theorie (auch mit Wechselwirkungen)
– Zustände sind nur relativ zu Hyperebenen definiert, d. h. an jedem Raumzeit-
punkt gibt es für ein Quantensystem unendlich viele Zustände, nämlich einen
zu jeder Hyperebene.
– ontologisch verschwenderisch
– hochgradig kontraintuitiv
– Was soll es heißen, dass ein Ding an einem Raumzeitpunkt verschiedene
Zustände haben kann?
GRW-Flash:
– Im Augenblick ist nur für Teilchen ohne Wechselwirkung eine lorentzinvari-
ante Theorie bekannt.
– Möglicherweise kann eine Theorie mit Wechselwirkung nicht lorentzinva-
riant sein; dann wäre dies keine angemessene Lösung.
– Objekte sind in der Raumzeit nicht kontinuierlich anwesend sondern eine
schnelle Abfolge von Flashes.
– ebenfalls kontraintuitiv
– Objekte in der Raumzeit sind Epiphänomene: Flash zur Zeit 1 verur-
sacht nicht den Flash zur Zeit 2. (Der Quantenzustand im Hilbertraum zu
Zeit 1 verursacht sowohl den Flash in der Raumzeit zu Zeit 1 als auch den
Quantenzustand zu Zeit 2; letzterer verursacht den Flash zu Zeit 2.)
– Der grundlegende Raum ist nicht die vierdimensionale Raumzeit, sondern
der (möglicherweise) unendlich-dimensionale Hilbert-Raum des Quantensys-
tems.
298 Musterlösungen der Übungsaufgaben

– Wie verhalten sich Raumzeit und Hilbert-Raum? Wie kann es sein, dass
Objekte aus letzterem in ersterem wirken? (aber nicht umgekehrt?)
– Superveniert die Raumzeit über dem Hilbertraum? Wenn ja: wie genau?

Kapitel 5

1. Ein Streitgespräch zwischen einem Vertreter der de Broglie-Bohm Theorie und


der Kopenhagener Deutung.
Der Vertreter der DBB Theorie kann darauf hinweisen, dass sich ja gerade die
Wellenfunktion jeder direkten Beobachtung entzieht. Lediglich die statistischen
Vorhersagen, die aus ihr abgeleitet werden, sind Gegenstand experimenteller
Überprüfung. Die Wellenfunktion eines einzelnen Quantenobjekts kann prinzi-
piell nicht ermittelt werden. Im Gegensatz dazu sind die Teilchenorte dasjenige,
was (auch am Einzelsystem) gemessen werden kann – man denke etwa an die
Versuche mit Elektronen am Doppelspalt. Der „Kopenhagener“ kann hier ein-
wenden, dass die Quantengleichgewichtsbedingung (Abschn. 5.1.2) die Kenntnis
über die Orte wieder prinzipiell einschränkt – sie in diesem Sinne also „ver-
borgen“ sind. Hier könnte der DBB-Vertreter darauf hinweisen, dass der Status
der Wahrscheinlichkeitsaussagen innerhalb der Kopenhagener Deutung ja noch
viel schwieriger ist. Sie beziehen sich ja gemäß dieser Auffassung nicht auf die
Eigenschaften selber, sondern nur auf ihren Nachweis.
2. Begründen Sie, warum auch innerhalb der de Broglie-Bohm Theorie die Unbe-
stimmtheitsrelation x · p ≥ 2 nicht verletzt wird!
Hier lässt sich auf mehreren Ebenen argumentieren: (i) Grundsätzlich stellt
die Quantengleichgewichtshypothese sicher, dass die de Broglie-Bohm Theo-
rie alle (in der Regel statistischen) Vorhersagen der Quantentheorie erfüllt; vgl.
Abschn. 5.1.2. Die Heisenberschen Unbestimmtheitsrelationen stellen nun einen
Zusammenhang zwischen den Streuungen dieser Vorhersagen dar und gelten so-
mit auch innerhalb der DBB. (ii) Es gilt, dass der Impuls p (im Gegensatz zum
Ort) in der DBB nicht jederzeit einen festen Wert hat, sondern eine „kontextuelle
Eigenschaft“ ist (vgl. Abschn. 5.1.5). In diesem Sinne gibt es überhaupt keinen
Grund dafür, anzunehmen, dass Ort und Impuls innerhalb der DBB „eigent-
lich“ jederzeit einen definierten Wert hätten. Siehe hierzu auch Bricmont (2016,
S. 159–161).
3. Vergleichen Sie die Lösungen des Messproblems der de Broglie-Bohm und
Everett Interpretation. Finden Sie Beispiele für strukturelle Ähnlichkeiten und
Unterschiede zwischen ihnen.
Beide verzichten auf eine unstetige Zustandsänderung der Wellenfunktion („Kol-
laps“). In beiden Fällen sind alle Zweige eines Überlagerungszustandes der
Wellenfunktion also jederzeit anwesend. Um dennoch sicherzustellen, dass
Messungen einen definiten Ausgang haben, führt die de Broglie-Bohm Theo-
rie zusätzliche Bestimmungsstücke ein, die einen Zustand erst eindeutig defi-
nieren: die Teilchenorte. Sie zeichnen den Teil der Wellenfunktion aus, der
Musterlösungen der Übungsaufgaben 299

dem tatsächlichen Ergebnis entspricht. In der Everett-Deutung wird lediglich


der Anschein von definiten Messergebnissen begründet. Alle möglichen Ergeb-
nisse treten tatsächlich ein – allerdings in „unterschiedlichen Welten“. In beiden
Interpretationen spielen Effekte der sog. Dekohärenz (vgl. Abschn. 5.2.4) eine
zentrale Rolle. Sie stellen sicher, dass die einmal getrennten Zweige nicht mehr
zur Interferenz gebracht werden können. Ohne diese Eigenschaft könnten die
„leeren“ Zweige der Wellenfunktion in der DBB Theorie nicht effektiv vernach-
lässigt werden. Innerhalb der Everett-Deutung würde fehlende Dekohärenz die
prinzipielle Abgeschlossenheit der verschiedenen „Welten“ gefährden. Zudem
könnte die Existenz einer „bevorzugten Basis“ (Abschn. 5.2.4) nicht begründet
werden.

Kapitel 6

1. Informieren Sie sich über Theorien des Lichts aus der Geschichte der Physik!
Warum war man mit Newtons Theorie des Lichts nicht zufrieden? Vergleichen
Sie die mathematische Beschreibung von Teilchen und Wellen! Was ist Ihrer
Auffassung nach der Hauptunterschied?
Z. B. vertrat Newton eine Theorie, nach der Licht aus Korpuskeln besteht. Feld-
theorien konnten jedoch verschiedene Beugungs- und Brechungseffekte durch
die Interferenz von Wellen besser erklären als die Teilchentheorie. Der Zu-
stand eines Teilchens ist durch Ort und Impuls gekennzeichnet, es durchläuft
abhängig von der Zeit eine Bahn. Wellen kommen in Feldern vor. Zur Charakte-
risierung eines Feldes muss man für jeden Raumzeitpunkt z. B. die Feldstärke
angeben.
2. Gibt es in der klassischen Physik etwas, das weder Teilchen noch Feld ist?
In der klassischen Physik wurden mechanische Prozesse durch Teilchen und
elektromagnetische Prozesse durch Felder beschrieben. In der klassischen Physik
gibt es also keine Objekte, die weder Teilchen noch Felder sind. Allerdings kom-
men in der klassischen Physik Zahlen vor, die weder Teilchen noch Wellen sind
und überhaupt keine Objekte, die in den Raum eingebettet sind.
3. Nennen Sie zwei Argumente, die nach Ihrer Auffassung am meisten dafür spre-
chen, die Quantenfeldtheorie als Theorie über Teilchen zu verstehen. Was kann
man gegen diese Argumente ins Feld führen?
In den Experimenten werden vor allem Teilcheneigenschaften nachgewiesen, das
zeigt sich auch in der Sprechweise der „Teilchenphysik“ (vgl. 6.3.4). Allerdings
werden zur Berechnung der Streuquerschnitte auch die Feldaspekte der Quan-
tenfeldtheorie gebraucht. Für eine Teilcheninterpretation scheint vor allem auch
die Besetzungsdarstellung zu sprechen (6.3.2). Allerdings ist zu beachten, dass
das, was durch Erzeugungsoperatoren erzeugt wird (bzw. dessen Erzeugung be-
schrieben wird), nicht die Eigenschaften klassischer Teilchen hat. Z. B. gibt es in
der Quantenfeldtheorie Zustände mit nicht definierter Teilchenzahl, was in einer
reinen Teilchentheorie nicht vorkommen kann.
300 Musterlösungen der Übungsaufgaben

4. Würde es Ihrer Meinung nach helfen, die Begriffe „Teilchen“ und „Feld“ auszu-
weiten, d. h. nicht nur solche Entitäten Teilchen bzw. Felder zu nennen, die alle
Charakteristika klassischer Teilchen bzw. klassischer Felder erfüllen?
Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Gegenstände, die die Quantenfeldtheo-
rie beschreibt, im Laboralltag Teilchen oder Feld genannt werden, insbesondere
wenn sie in der jeweiligen Situation auch Eigenschaften von Feldern oder Teil-
chen haben. Für die Fragen, was die Natur der fundamentalen Objekte der Welt
ist und wie sie in den Raum eingebettet sind, muss man sich jedoch darüber klar
sein, dass die Quantenfeldtheorie nicht über klassische Teilchen und auch nicht
über klassische Felder spricht. Was man z. B. als Teilchen bezeichnen will, ist
eine Frage der sprachlichen Konvention. Dadurch wird aber noch nicht geklärt,
wie Quantenobjekte in den Raum eingebettet sind.
Sachverzeichnis

A Bohrsches Atommodell, 279


Abzählbarkeit Born, Max, 232
kardinale, 260–262 Bornsche Regel, 45, 216, 250, 280
ordinale, 260–262 Bose, Satyendranath, 79
Äquivalenz von Masse und Energie, 260 Bose-Einstein-Statistik, 80, 279
Aggregierbarkeit, 260–262 Boson, 81, 84, 95, 98, 100, 248, 268
Aharonov-Bohm-Effekt, 285 Bricmont, Jean, 207
Algebraische Quantenfeldtheorie, 253–256, Bündelontologie, 7, 90, 270–272
266, 271
Algebraische Quantenmechanik, 282
Anti-Realismus, siehe Realismus C
Aspect, Alain, 132–133 Cartwright, Nancy, 172
Aspect-Experiment, 288 Cassirer, Ernst, 95
Auswahlregel, 84 CBH-Theorem, 290
Compton Effekt, 279
Compton, Arthur, 279
B Cramer, John, 289
Bain, Jonathan, 263
Baker, David J., 261, 264, 265, 267, 272
Basis D
eines Vektorraums, 17, 210 Darstellung
Problem der bevorzugten, 65, 211, 216 einer Gruppe, 83, 84
Bell, John, 71, 109, 120, 125–147, 286 eines Vektors, 18
Bell-Zustände, 126–127 Darstellungen, inäquivalente, 254–255
Bells Theorem, 120–121, 125–147, 286 de Broglie, Louis, 188
Bellsche Ungleichungen, 135, 140, 146, 286 de Broglie-Bohm-Theorie, 187, 196, 202–204,
Herleitung, 144–146 285
Verletzung, 135–136, 140, 146 relativistische Verallgemeinerung, 206
Beobachter, 58 Schulen der, 203
Besetzungszahl, 244 Dekohärenz, 63, 214, 286
Besetzungszahldarstellung, 244–249 Delayed Choice, 288
Bewusstseins-Interpretation, 213, 283 Determinismus, 8, 134, 141, 193
Bezugssystem, 151–152, 166–171 DeWitt, Bryce, 218
bevorzugtes, 171 diachrone Identität, 93
Blacksche Kugeln, 92 Dichtematrix, 32, 215
Bohm, David, 120, 126, 188 Dirac, Paul, 232, 281
Bohmsche Mechanik, siehe de Dirac-Gleichung, 241, 281
Broglie-Bohm-Theorie Dirac-Theorie, 206
Bohr, Niels, 110, 118–119, 278, 279 Diskretheit, 260–262
Bohr-Einstein-Debatte, 110–119 Doppelspalt, 4, 198, 288
c Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 301
C. Friebe et al., Philosophie der Quantenphysik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54276-7
302 Sachverzeichnis

Drehoperator, 20 Everett-Interpretation, siehe


Dynamik, 54 Viele-Welten-Interpretation

E F
Earman, John, 256 Faktorisierbarkeit, 144
ebene Welle, 242 Falkenburg, Brigitte, 266
effektive Wellenfunktion, 194, 200 Feinabstimmung, 155
Eichboson, 100 Feld
Eichprinzip, 281 klassisches, 236
Eichtransformation, 269 konjugiertes, 238
Eigen quantenmechanisches, 236
-raum, 28 Feld-Ontologie, 206, 233, 266–268
-vektoren, 21 Feldgrößen, 236
-zustand, 61 Feldimpuls, 238
Eigenschaften, 47, 53, 87, 270, 286 Feldinterpretation, 266–268
dispositionale, 202 Feldoperator, 257, 266
inkompatible, 236 Feldquantisierung, 237
kategoriale, 72, 202 Feldtheorie, 235
monadische, 269 Feldzustand, 250, 267
permanente, 235 Fermi-Dirac-Statistik, 80
relationale, 269 Fermi-Druck, 82
zeitabhängige, 235 Fermion, 80–82, 84, 95, 97, 100, 248, 268
Eigenwert, 19, 21, 31 Fernwirkung, 151, 154
-gleichung, 44 Feynman, Richard, 81, 283, 284
-problem, 22 Feynman-Diagramme, 251–253, 284
mehrfacher, 27, 122 Fine-Tuning, siehe Feinabstimmung
Einstein, Albert, 80, 108–118, 126, 159–160, Fockraum, 75, 243–251, 261–263
282 Fraser, Doreen, 244, 261, 263
Einstein-Lokalität, siehe Lokalität Freiheitsgrad, 232, 234, 236, 239, 245, 254,
Elementarität, 260 255, 262–263, 270, 285
Elementarteilchenphysik, 264 French, Steven, 96
Energiebedingung, 260 Führungsfeld, siehe Führungsgleichung
Energiequanten, 234, 244 Führungsgleichung, 191
Ensemble-Interpretation, 42, 46, 49, 225, 281 für N-Teilchen, 195
Entropie, 76 für Spin 12 -Teilchen, 195
Entscheidungstheorie, 219
Environment-induced-decoherence, 64, 216
Environment-induced-superselection, 215 G
Epistemische Interpretationen, 290 gemeinsame Ursache
EPR-Argument, 110–118, 282 nicht-abschirmende, 172–173
EPR-Gedankenexperiment, 111 verborgene, 149
EPR-Korrelationen, 108, 122–124, 128–129 Geometrische Phase, 288
EPR-Paradoxon, siehe EPR-Argument Ghirardi, Rimini, Weber, 59
EPR/B-Experiment, 120–123, 126–134 Gibbs-Paradoxon, 76
Ereignis, 131 Gibbsscher Korrekturfaktor, 76
Ergebnis-Abhängigkeit, 149, 156–158 Glashow-Salam-Weinberg-Theorie, 286
Erklärungen, kausale, siehe kausale Goudsmith, Samuel, 279
Erklärungen Gruppe
Erwartungswert, 26 Permutations-, 79
Erzeugungsoperatoren, 242–265 symmetrische, 79
Esfeld, Michael, 166, 269 GRW-Theorie, 42, 59, 60
Everett, Hugh III, 207 mit Flash-Ontologie, 170–171
Sachverzeichnis 303

H kausale Markov-Bedingung, siehe kausale


Haag, Rudolf, 255, 285 Erklärungen
Haagsches Theorem, 245 kausaler Graph, 132, 143–144, 161
Hacking, Ian, 90 Kausalität
Haecceitismus, 90, 91 in der Raumzeit, siehe Einstein-Lokalität;
Häufigkeiten Nicht-Lokalität
relative, 49 und Interventionen, siehe
Hamilton-Operator, 84, 244, 250 Interventionsannahme
Hamiltonsche Bewegungsgleichungen, 43 und Korrelationen, siehe kausale
Hawking-Strahlung, 287 Erklärungen
Heisenberg, Werner, 232, 254, 278, 280 und Signale, 152–155
Heisenberg-Cut, 56 und Zeit, siehe Rückwärtsverursachung
Heisenbergsche Kommutatorrelationen, 100 Klassifikation der Elementarteilchen,
Heisenbergsche Unschärferelation, 48, 280 gruppentheoretische, 260, 268–269
in der DBB-Theorie, 192 Klein-Gordon-Feld, 241
hermitescher Operator, 21, 44 Klein-Gordon-Gleichung, 240
Higgs-Boson, 100 Kochen-Specker-Theorem, 202, 286
Hilbertraum, 26 Kollaps
Holismus, 164–166, 204 der Wellenfunktion, 42, 52, 56, 225
Huggett, Nick, 262, 263, 267 effektiver, 194
Hume, David, 2 Kommunikation, 138
Humesche Supervenienz, siehe Supervenienz, kommutativ, 25
Humesche Kommutator, 25, 236, 237
Hydrodynamische Quantenmechanik, 280 kommutieren, 29
Hyperebene, raumartige, 167–170 Komplementarität, 2
Hyperebenen-Abhängigkeit, 170 Konfigurationsraum, 38, 45, 55, 71, 190, 195,
223, 224
konjugiert, 237
I Konsistente-Historien-Interpretation, 288
Identität, 85–87, 92, 94, 101, 231 Kontextualität, 201–203, 226
diachrone, 93, 260–266 Kopenhagener Deutung, 42, 51, 58, 226, 278
synchrone, 93, 260–265 Korrelationen
Impulsoperator, 36 in EPR-Experimenten, siehe
Indeterminismus, 8 EPR-Korrelationen
Individualität, 85–87, 93, 101 und kausale Erklärungen, siehe kausale
Informationsbasierte Interpretation, 290 Erklärungen
Inkommensurabilität, 23, 62
Interferenz, 196
Interventionsannahme, 174–177 L
Irreversibilität, 11, 48 Ladyman, James, 268
Lagrange-Dichte, 241
Lagrange-Funktion, 237
J Lagrange-Theorie, 238
Jordan, Pascual, 232, 281 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 87
Leibniz-Pauli-Verbot, 94
Leibniz-Prinzip, VI, 85–103, 231, 262–265,
K 271
Kant, Immanuel, 86 moderates, 99
Kardinalität, 102 schwaches, 99
kausale Erklärungen, 141–144, 154–155, starkes, 99
172–174 Lewis, David, 85, 160–161
kausale Faithfulness-Bedingung, siehe kausale lichtartig, 130
Erklärungen Lichtgeschwindigkeit, 129–130, 149–153, 157
304 Sachverzeichnis

Lichtkegel, 130–131 statistische, siehe Ergebnis-Abhängigkeit;


Lichtquantenhypothese, 278 Parameter-Abhängigkeit
Linearkombination, 14 und Lorentz-Invarianz, 166–171
Lokalisierbarkeit, 260, 265 und Signale, siehe Signal, superluminales
Lokalität, 130–132 Nicht-Separabilität, 158–164, 166
Nicht-, siehe Nicht-Lokalität No-cloning-Theorem, 288
relativistische Begründungen, 151–152 No-Collapse-Interpretation, 187
Loophole No-go-Theorem, 146, 202
detection, siehe Schlupfloch, Detektions-
fair-sampling, siehe Schlupfloch,
Repräsentative-Stichprobe- O
freedom-of-choice, siehe Schlupfloch, Observablen-Algebra, 254, 255, 270, 271, 282
Unabhängigkeits- Ontologie, 85, 124, 170, 171, 258–273
locality, siehe Schlupfloch, Lokalitäts- Bündel-, 90, 270–272
Lorentz-Invarianz, 167–171 der QFT, 258–273
Feld-, 206, 233, 266–268
Teilchen-, 206, 233, 259–266
Tropen-, 90, 270–272
M
Madelung, Erwin, 190, 280 Universalien-, 90
Malament, David, 265 Operator, 19
Many-Minds-Interpretation, 212 Dichte-, 122
Materiewelle, 279 Dreh-, 20
Matrix, 20 Erzeugungs-, 242–265
Feld-, 257, 266
Matrizenmechanik, 280
Hamilton-, 84, 244, 250
Maudlin Trilemma, 59, 65, 187, 207
hermitescher, 21, 43, 44
Maudlin, Tim, 60, 137, 157, 169–171, 223
Impuls-, 36
Maxwell-Boltzmann-Statistik, 79
in der QFT, 236
Mehrteilchen-Quantenmechanik, 244
linearer, 19
Mehrteilchen-Zustand, 81
Nabla-, 240
Mehrteilchensysteme, 31
Orts-, 36
Messgerät, 53
Permutations-, 83
Messproblem
selbstadjungierter, 21
in der QFT, 231 Teilchenzahl-, 245
in der QM, 36, 59, 60 und naiver Realismus, 203
Lösung bei GRW, 67 unitärer, 34
Lösung bei Bohm, 200 Vernichtungs-, 243–253
Lösung bei Everett, 223 Zeitentwicklungs-, 34
und Dekohärenz, 63, 216 Orbitalmodell, 28
und Ensemble-Interpretation, 50 Orthonormalbasis, 17, 23
Messung, 11, 44, 53 Ortsoperator, 36
Messwerte, 19 Oszillator
Minimalinterpretation, 42 harmonischer, 244
Modal-Interpretationen, 287 Outcome Dependence, siehe
Morganti, Matteo, 270 Ergebnis-Abhängigkeit
Muller, Fred, 99
Multiplett, 84
P
Para-Statistik, 81
N Parameter Dependence, siehe
Neumann, Johann von, 202, 281–283 Parameter-Abhängigkeit
Nicht-Lokalität, 130, 148–171, 195 Parameter-Abhängigkeit, 149, 156–158
Konfliktfelder mit der Relativitätstheorie, Partikularismus, 165–166
149–152 Pauli, Wolfgang, 80, 97, 280
Sachverzeichnis 305

Pauli-Gleichung, 201 gekrümmte, 263, 265, 272


Paulisches Ausschließungsprinzip, 280 Raumzeit-Konventionalismus, 89
Paulisches Ausschließungsprinzip, 80 Realismus, 110–111, 147–148
Permutationsinvarianz, 101 epistemischer, 110
bosonischer Zustände, 80 in Bezug auf Operatoren, 203
von Mehrteilchen-Zuständen, 269 lokaler, 110, 147
Permutationsoperator, 83 metaphysischer, 110–111, 147
Pfadintegral, 283 struktureller, siehe Strukturenrealismus
Phasenraum, 43 wissenschaftlicher, 110–111, 222
photoelektrischer Effekt, 278 Realität, 52, 71, siehe auch Realismus
Physikalismus, 212 Realitätskriterium, 113
Plancksches Wirkungsquantum, 278 Redhead, Michael, 97, 256
Podolsky, Boris, 108–118, 126, 282
Reichenbach, Hans, 235
Produktzustand, 123
Reichenbachsches Prinzip der gemeinsamen
Projektionsoperator, 31
Ursache, 143, 172
Projektionspostulat, 26, 58
Relation, 270
Propensitäten, 55
Relationale Quantenmechanik, 290
Propensitätsinterpretation, 261
Punktmechanik, 239 Relative-state-Interpretation, 207
Relativitätsprinzip, 152, 166–171
Relativitätstheorie, 129–132, 149–157,
Q 166–171, 239–241, 256
Quanta-Interpretation, 247, 249, 261–265 allgemeine, 279
Quanten-Bayesianismus, 290 Renormierung, 256
Quanten-Zenon-Effekt, 287 Rindler-Quanten, 261
Quantenchromodynamik, 286 Rosen, Nathan, 108–118, 126, 282
Quantencomputer, 288 Rückwärtsverursachung, 177–179
Quantenelektrodynamik, 283 Ruetsche, Laura, 255, 273
Quantenfeldtheorie, 231–275
algebraische, 236, 253–256, 266, 271
axiomatische und algebraische, 285 S
konventionelle, 253 Saunders, Simon, 98, 99, 219
relativistische, 265 Schlupfloch
Quantengleichgewichtshypothese, 192 Detektions-, 133
Quantengravitation, 284 Lokalitäts-, 133
Quanteninformation, 288 Repräsentative-Stichprobe-, 133
Quantenkryptographie, 289 Unabhängigkeits-, 133
Quantenlogik, 282 Schrödingers Katze, 56, 119–120, 282
Quantenmechanik Schrödinger, Erwin, 108, 119–120, 224
algebraische, 282 Schrödinger-Gleichung, 35, 189
Quantenpotenzial, 204
Separabilität, 159–161
Quantenschleifen-Gravitation, 289
Nicht-, siehe Nicht-Separabilität
Quantenstatistik, 79
Shor-Algorithmus, 290
Quantenteleportation, 290
Signal, superluminales, 152–158, 162–163
Quantisierung, 237
erste, 241 Simons, Peter M., 271
zweite, 241 Simultaneität, 151–152, 166–169
Quine, Willard V. O., 85, 98 Singulett-Zustand, 83, 122, 165
Skalarprodukt, 17, 35
Solvay-Konferenz (1927), 188, 281
R Spin, 5, 201
Raum-Zeit-Diagramm, 130–131 Spin-Statistik-Theorem, 81
raumartig, 130, 149–152, 167 Spontaner-Kollaps-Theorie, 289
Raumzeit, 130–131, 170–171 Stachel, John, 102, 269
306 Sachverzeichnis

Statistik Umgebung, 214


Bose-Einstein-, 80 Undurchdringbarkeit, 86
Fermi-Dirac-, 80 unitärer Operator, 34
Maxwell-Boltzmann-, 79 Universalien, 86, 271
Statistischer Operator, 32 Universalienontologie, 90
Stern-Gerlach-Experiment, 5, 211, 279 Unruh-Effekt, 255, 261, 272, 287
in der DBB-Theorie, 201 Unschärferelation, siehe Heisenbergsche
Streuexperiment, 249–253 Unschärfelelation
Streumatrix, 251 Unterscheidbarkeit, 98, 246, 247
Streuprozess, 249 absolute, 98
Stringtheorie, 289 relative, 98
Struktur schwache, 98
Überschuss-, 262 Ununterscheidbarkeits-Postulat, 77, 264
Strukturenrealismus, 102–103, 268–270 Unvollständigkeit, 47
eliminativer, 268 Unwissen, 47
nicht-eliminativer, 268 Ursache, gemeinsame, siehe gemeinsame
ontischer, 268–270 Ursache
Superauswahlregel, 16, 82, 84
Superposition, 15, 26, 56
und Verschränkung, 108, 119, 123–124 V
Superselection, 215 Vakuumzustand, 242, 243, 248, 253, 255, 261,
Supervenienz, 160–166 262, 272
Humesche, 160 Vektor, 15
Symmetrieforderung, 264 Vektorraum, 15
symmetrische Gruppe, 79 Basis, 17
Symmetrisierungspostulat, 82 Darstellung einer Gruppe, 84
synchrone Identität, 93 Dimension, 17
euklidisch, 17
Verborgene gemeinsame Ursache der
T Messeinstellungen, 176
Teilchen, verborgene Variable, 112, 120–121, 134–137,
virtuelle, 252 202
Teilchen-Ontologie, 206, 233, 259–266 Beweis der Unmöglichkeit von, 202
Teilchenbegriff, 260 Vernichtungsoperatoren, 243–253
Teilcheninterpretation, 259–266 verschränkte Systeme, siehe Verschränkung
Teilchenspuren, 249 verschränkter Zustand, siehe Verschränkung
Teilchenzahloperator, 245 Verschränkung, 54, 64, 108–120, 126, 133,
Teller, Paul, 260–265 163, 165–166, 173
Tensorprodukt, 77, 121–122, 248 kausales Problem der, 154–155
Trajektorien, 233, 249 Vertauschungsrelationen, 236, 237
der Bohmschen Teilchen, 195–199 Viele-Welten-Interpretation, 65, 207, 209, 285
Transaktions-Interpretation, 289 und Entscheidungstheorie, 219
Triplett-Zustand, 83 Variante von Deutsch (1985), 212
Tropenontologie, 90, 270–272 Vollständigkeit, 113
tropenontologische Interpretation der QFT,
271–272
Tunneleffekt, 196 W
Typisch-sein, 193 Wahrscheinlichkeit, 19
Übergangs-, 251
in der Everett-Interpretation, 216–222
U Wahrscheinlichkeitsdichte, 45
Überlichtgeschwindigkeit, siehe Wallace, David, 209, 212, 216, 219
Lichtgeschwindigkeit Wasserstoffatom, 28, 196
Uhlenbeck, George, 279 Wave Function Ontology, 73
Sachverzeichnis 307

Wayne, Andrew, 270 Wigner, Eugene, 269, 285


Weingard, Robert, 262, 263 Wigners Freund, 56, 285
Welle
ebene, 242
Wellenfunktion, 67 Y
des Universums, 193 Yang-Mills-Theorie, 285
effektive, 194, 200
Kollaps, 42, 52, 56
leere, 227
Mehrteilchen-, 81 Z
Wellenmechanik, 280 Zeilinger, Anton, 133, 290
Weyl, Hermann, 93–95, 97, 281 zeitartig, 130
Wheeler-DeWitt-Gleichung, 286 Zeitentwicklungsoperator, 34
Wiederholungsmessung, 6 Zustand, 26

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