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Lea liebte die Musik und das Schauspiel. Sie wurde 15 Jahre alt. Für ein lebensbejahendes
Mädchen ist eine Skulptur in irgendeinem Park mit einer Kerze davor nicht die richtige Art von
Erinnerung, fand Mutter Anne. Heute lebt das Gedenken an Lea in der Jugend- und Theaterarbeit
fort, die in dem kleinen Haus geleistet wird.
Ein anderes Mädchen, ebenfalls lebenslustig, mit Vorliebe für das Literarische, wurde auch nur 15
Jahre alt. Es starb Anfang März 1945 in Bergen-Belsen. Im Konzentrationslager. Sein Vater sorgte
mit der Veröffentlichung des Tagebuchs der Anne Frank dafür, dass die Tochter unsterblich wurde
und heute als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes steht.
Als Ruben Michael das Lea-Drüppel-Theater das erste Mal betrat, wusste er sofort, dass er mit
seiner neuesten Arbeit hierhin musste. Nachdem er als 15-Jähriger Bastien et Bastienne inszeniert
hatte, folgte im vergangenen Jahr seine nächste Regie-Arbeit, Trouble in Tahiti von Leonard
Bernstein. In diesem Jahr steht Das Tagebuch der Anne Frank auf seiner Agenda, in der
Opernfassung von Grigori Frid. Das knapp einstündige Werk in 21 Sätzen aus dem Jahr 1966
wurde seit seiner Uraufführung am 18. Mai 1972 im Haus der Komponisten in Moskau immer
wieder gern gezeigt, weil es, wenn man will, mit wenig Aufwand zu inszenieren und „pädagogisch
wertvoll“, vor allem aber auch musikalisch höchst eindrucksvoll ist. Frid hat das Stück
durchkomponiert und mit rezitativischen Texten aus dem Tagebuch versehen. In Deutschland wird
üblicherweise die zweite, reduzierte Fassung in der Übersetzung von Ulrike Platow gezeigt. Das ist
auch bei Michael nicht anders. Der Jung-Regisseur setzt mit der Wahl des Stückes ein Signal zur
rechten Zeit und beweist damit, dass es hier nicht nur um die Lust eines Jugendlichen an der Oper
geht, sondern er jetzt schon eine der wichtigsten Eigenschaften des Regisseurs aufweist: Das
Gespür für gesellschaftliche Relevanz. Und so traut man ihm schon im Vorfeld die nötige
Ernsthaftigkeit zu, sich mit einem derart anspruchsvollen Thema wie dem der Anne Frank
auseinanderzusetzen.
Denn die 13-jährige Anne steht nicht nur für die Verfolgten
POINTS OF HONOR
dieser Erde, sondern auch für eine Haltung. Sie ist vom
Charakter her lebenslustig, Neuem gegenüber aufgeschlossen, Musik
von Naturliebe beseelt und optimistisch bis zumindest drei Gesang
Regie
Tage vor ihrer Entdeckung. Aber was kann jemand in dem
Bühne
Alter tun, der vor Energie sprüht, sich aber auf Zehenspitzen Publikum
bewegen muss? Und wie bringt man diesen Konflikt glaubhaft Chat-Faktor
auf die Bühne? Eine kaum lösbare Aufgabe. Und doch gelingt
es Michael bravourös. Auf der kleinen Bühne des Theaters steht das Klavier mit der Tastatur zum
Publikum im Mittelpunkt. Der Klavierspieler sitzt also mit dem Rücken zum Publikum. Er ist also
anwesend, notwendig als Musiker, nicht aber als handelnde Person. Dahinter eine weiße Wand, die
Platz bietet für ein paar Videoprojektionen, die aber komplett überflüssig sind. Um das Klavier
herum ist der Spielplatz für Anne, die sich mit ein paar Requisiten begnügen muss. Schon beim
Licht beweist Michael, dass er ein ganz feines Gespür für die Bühne hat. Geschickt unterstreicht er
die einzelnen Bilder mit Scheinwerfersetzungen, die atmosphärisch stimmig sind und die Inhalte
unterstützen. Besonders gelungen die Stelle, an der Anne zum Fensterspalt hinausschaut. Eine
schmale Lichtprojektion genügt, in die Anne hineinschaut, um die fatale Aussichtslosigkeit der
Situation zu zeigen. Dass Anne gleich zu Beginn eine line inhalieren muss – geschenkt. Ein
bisschen Übermut darf sein. Dass aus dem „Stoff“ mittels zweier Getränke-Plastikflaschen eine
Sanduhr wird, deren Zeit unabänderlich abläuft, ist dagegen schon ein ganz großes Bild, dass
richtig intelligent gelöst ist. So beeindruckt man das Publikum schon gleich zu Anfang mit
einfachsten Mitteln. In Sachen Personenführung möchte man die ganze Zeit über verzückt
applaudieren. Es ist eine Sache, auf einer riesigen Bühne mit Chor und Ballett Personen zu
bewegen, um für die notwendige Unterhaltung und Abwechslung zu sorgen, die andere Sache ist,
eine einzige Person so auf Trab zu halten, dass sie das Publikum nicht langweilt. Ruben Michael
gelingt das leichterdings – allerdings auch deshalb, weil er die richtige Darstellerin motivieren
kann.
Der zweite Partner, den Michael an diesem Abend an seiner Seite weiß, ist der musikalische Leiter
– also der Pianist – Telmo Mazurek. Er sorgt in kurzer Hose dafür, dass keinen Moment Langeweile
aufkommt, spielt ohne Rücksicht auf die Akustik lautstark, aber differenziert auf. Wer diesen
Abend erlebt, braucht keine orchestrale Fassung, weil Mazurek mit seinem Spiel fasziniert und die
nötige Spannung von der ersten Sekunde bis zum Schlussakkord aufrechterhält.
Am Ende will das Publikum nicht aufhören zu klatschen. Zurecht. Michael, Rohde und Mazurek
haben hier ein Stück auf die Bühne gebracht, das man nicht nur einmal erleben möchte. Mit
vergleichsweise minimalen Mitteln, Intelligenz und Spielfreude zeigen die drei hier ein Stück
aktueller Operngeschichte, das eindeutig Stellung bezieht und gleichzeitig Jugendlichen ohne
erhobenen Zeigefinger zeigt, dass „rechts“ keine Lösung ist, sondern es sich lohnt, andere Werte in
den Mittelpunkt des eigenen Lebens zu stellen. Eine Interpretation, die man häufiger sehen möchte
als nur in der zweiten Vorstellung am 2. November im Redhorn District.
Michael S. Zerban
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