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I. DIF CHARAKTERLOSIGKEIT 21
Der Besessene 57
Der Desorientierte 60
Der Gelätimte 61
Der Schwätzer 63
Der Aggressor 64
Das Mittelmaß 67
Der Gutmensch 68
Bestandsaufnahme 71
Literatur 192
Einige Worte im Vorhinein
Erfolg und Zufall Ist ein Mensch erfolgreich, wenn er über Ansehen, M a c h t , Einfluss,
Geld verfügt, dabei aber seine physische, psychische oder soziale Ge-
sundheit und/oder seine Familie zugrunde richtet? Erfolg bezeichnet i m
allgemeinen Sprachgebrauch das positive Ergebnis eines Bemühens
oder auch das Eintreten einer beabsichtigten oder auch zufälligen W i r -
k u n g . Aber w e r bestimmt schon, was ein positives Ergebnis ist; wer,
was das Eintreten einer beabsichtigten oder zufälligen Wirkung} Dass
E r f o l g n i c h t selten v o n Z u f a l l oder doch wenigstens v o n einer Reihe zu-
fälliger, das heißt n i c h t bewusst u n d g e w o l l t eingesetzter Strategien ab-
hängt, ist offensichtlich. Viele erfolgreiche Menschen verdanken ihren
Erfolg irgendwelchen Zufälligkeiten. U n d m a n k a n n noch n i c h t einmal
sagen, ob auf dem Weg z u m E r f o l g Charakter eine positive oder negati-
ve Rolle spielte. S o w o h l Charakter als auch Charakterlosigkeit können
z u m E r f o l g beitragen. D a die meisten Menschen sich i n irgendeiner
Weise für c h a r a k t e r v o l l halten (wobei nicht geleugnet werden soll, dass
auch einige sich offen eingestehen, Charakterschweine zu sein), müssen
w i r uns zunächst einmal fragen, was denn eigentlich »Charakter« i n
unseren Überlegungen bedeuten soll.
Charakter ist ein Charakter bezeichnet i n unserer Umgangssprache die sehr individuelle
kommunikatives Gesamtheit angeborener oder erworbener sittlicher Eigenschaften eines
Ereignis Menschen, insoweit sie i n der Einheitlichkeit oder Stetigkeit seines Ver-
haltens u n d Handelns, seines Wertens oder Verurteilens, seiner d o m i -
nanten u n d dauerhaften Werteinstellungen, E r w a r t u n g e n , Interessen
Was bedeutet das Wort »Charakter«? 11
Tief sitzende Viele N o r m e n endogener M o r a l sind allen oder doch allen nicht-
Regeln faschistoiden Systemen gemeinsam. D a w i r Menschen selten i n einer
robinsonschen Einsamkeit leben (sieht m a n einmal v o n autistisch ge-
störten Menschen ab), sind w i r alle auch Teile v o n sozialen Systemen.
M a n c h e N o r m e n dienen dem Erhalt jedes sozialen Systems. W e n n w i r
schon als K i n d i n ein solches System (meist v o m T y p Familie, Kinder-
garten, Grundschule) hinein sozialisiert w u r d e n , haben w i r dessen
N o r m e n internalisiert u n d so eine endogene M o r a l e n t w i c k e l t .
Das innere Moralgesetz bestraft das Übertreten seiner N o r m e n endo-
gen (also aus dem Innen des Menschen k o m m e n d ) . Solche endogenen
Strafen können sein:
- Ängste (früher besonders die »Angst, in die Flölle zu k o m m e n « )
- Schuldgefühle
- Schamgefühle oder
- Gefühle geminderten Selbstwerts oder verringerter Selbstachtung.
Menschen verhalten sich also i n einem bestimmten sozialen System so-
zialverträglich, w e n n sie die Regeln dieser endogenen N o r m e n beach-
ten. I m Folgenden werden w i r die meisten Formen der Charakterlosig-
keit a u f solches systemisches Versagen zurückführen. Das soll n i c h t
heißen, dass nicht auch sittliches Versagen vorliegt.
Die Sittliclnl<eit 15
Die Sittlichkeit
»Liebe das Jede Gesellschaft u n d jeder Einzelne legt ständig sittliche M a ß s t ä b e an,
Leben!« w e n n er Dinge u n d Verhaltensweisen als »sehr gut«, »weniger gut«
oder »schlecht« klassifiziert. Der M a ß s t a b der Sittlichkeit ist das, was
die Philosophen höchstes ethisches Gut nennen. Die E t h i k ist eine p h i -
losophische D i s z i p l i n , deren wichtigste Aufgabe eben das Herausarbei-
ten dieses höchsten Gutes ist, v o m dem her sich Sittlichkeit bestimmt.
W i r entscheiden uns für die Liebe z u m Leben, die B i o p h i l i e , als höchs-
tes ethisches G u t . V o n diesem G u t aus k a n n die sittliche Qualität einer
H a n d l u n g bestimmt w e r d e n . A l s Handlungsleitsatz ( B i o p h i l i e - M a x i -
me) ließe sich also f o r m u l i e r e n :
Handle stets so, dass durch dein Handeln fremdes und eigenes personales Leben eher
gemehrt als gemindert wird.
16 Einige Worte im Vorlninein
Bestandsaufnahme
Familie
Schule
Kirche
Andere Quellen
Familie/Partnerschaft
Beruf
Freundeskreis
Andere Quellen
Bestandsaufnahme 19
Wie würde ich allein für mich das höchste ethische Gut (s. S. 15) definieren?
20 Einige Worte inn Vorhinein
Leben aus Was ist typisch für alle Menschen, die i h r Menschsein charakterlos le-
zweiter Hand ben oder gar leben wollen? Sie alle werden gelebt, leben ein Leben aus
zweiter H a n d . Ein M e n s c h , der n i c h t lebt, sondern gelebt w i r d , ist »das
ärmste aller Schweine«. Er w i r d zu einem Sklaven, zu einem Menschen,
der n i c h t mehr in der Lage ist, selbstverantwortet sein Leben zu gestal-
ten - u n d somit unfrei.
N i c h t Charakter ist eine E o r m der Behinderung, sondern die Charak-
terlosigkeit. Diese Behinderung f o r d e r t für sich A n e r k e n n u n g u n d A k -
zeptation. M a n k a n n die Menschen, die auf diese Weise behindert sind,
(leider) n i c h t in behütete Areale einsperren, denn sie suchen u n d b r a u -
chen eine F o r m der Öffentlichkeit, v o n der her sie sich selbst definieren.
A u c h das ist ein »Leben aus zweiter H a n d « . Sie benötigen Anerken-
n u n g und/oder repressive M a c h t ^ Es ist o f t frappierend, die extreme
Sozialverwiesenheit dieser armen Menschen zu sehen, die meist unend-
lich einsam sind.
Charakterlosigkeit k a n n mancherlei Gründe haben. H i e r sind vor allem
zu nennen:
- das Fehlen oder Nicht-Beachten des inneren Moralgesetzes (s. S.
22-70)
- das Fehlen oder Nicht-Beachten des äußeren Moralgesetzes (s. S.
74-83)
- das Fehlen oder Nicht-Beachten einer sittlichen M o r a l (s. S. 8 6 -
102).
Der Systemagent
Fallbeispiele
Wahnwelt eines 'i^ Ein P o l i t i k e r scheute n i c h t v o r groben Lügen über die zukünftige
Politikers E n t w i c k l u n g der B R D zurück - allein zu dem Z w e c k , sein Ansehen in
der Bevölkerung zu mehren u n d wieder gewählt zu we rd e n . Die Lügen
w a r e n so tragisch-komisch, dass m a n m i t einigem Recht vermuten
k o n n t e , der betreffende Politiker habe u m sich h e r u m eine W a h n w e l t
aufgebaut. Es ist keineswegs selten, dass Systemagenten, auf ihr System
f i x i e r t , die Außenwelt t o t a l , bis ins Paranoide verstellt w a h r n e h m e n .
Der Egoist
Mein Ich, das ist Ein Egoist^ sucht seinen eigenen N u t z e n m i t möglichst geringem A u f -
die Welt w a n d zu erzielen. Der Vorteil anderer interessiert i h n nur, insoweit er
auch i h m nützt. »Was b r i n g t es mir?« ist die zentrale Frage, die ein
Egoist vor jeder n i c h t zur R o u t i n e gewordenen F i a n d l u n g oder Unter-
lassung stellt. M i t u n t e r argumentieren Egoisten so: Wenn jeder seinen
Egoismus und D o c h solhe m a n auch das Thema des poütischen Egoismus i n eine
Kapitalismus struliturelle wirtschaftUche Überlegung einbinden: Es gibt V o l k s w i r t -
schaften, die v o m Egoismus ihrer Bürger leben. H i e r z u zählen alle k a -
pitalistisch orientierten V o l k s w i r t s c h a f t e n . ' ' I m Gegensatz z u solida-
risch orientierten Wirtschafts- u n d Gesellschaftssystemen denkt der
Kapitalismus wesentlich egoistisch. A d a m Smith ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ) , einer
der Theoretiker der kapitalistischen W i r t s c h a f t s o r d n u n g , e n t w a r f das
(kapitalistische) M o d e l l einer W i r t s c h a f t s o r d n u n g , die sich ohne staat-
liche E i n g r i f f e o p t i m a l entfaltet, w e n n n u r jeder Bürger seinen persönli-
chen N u t z e n zu o p t i m i e r e n versucht u n d d a m i t auch das G e m e i n w o h l
o p t i m i e r t . Der Kapitalismus gilt zu Unrecht als bloße Wirtschaftstheo-
rie. Er ist längst die heute in den meisten europäischen Staaten geltende
Gesellschaftstheorie.
Fallbeispiele
Aktiengewinn 'i^ Einer meiner Kollegen besitzt seit einiger Z e i t A k t i e n . Er freut sich
und Gewissen wie ein Schneekönig, w e n n er feststellt, dass seine Papiere ihren K u r s -
wert u m 10 % mehren k o n n t e n . Er w a r stolz auf »seine« Unternehmen,
denen es gelang, d u r c h Kosteneinsparungen den Unternehmenswert
(den er allerdings recht vordergründig m i t den meisten Anhängern ei-
nes Shareholder-Value-Geredes am Bilanzgewinn auszumachen suchte)
zu steigern u n d so den W e r t seiner A k t i e n steigen zu lassen. A u f meine
Frage, auf welche Weise seine Unternehmen ihre Kostenpositionen ab-
bauten, erwiderte er: »Natürlich durch Entlassungen überflüssiger A r -
beitskräfte!« M e i n e Frage, ob die Entlassungen sich rechtfertigen lie-
ßen, u m den Unternehmensbestand z u sichern, beantwortete er m i t
einem Lachen, das m i r noch heute in den O h r e n k l i n g t : »Aber n e i n ! Es
k o m m t darauf an, L o h n k o s t e n i n den Bilanzgewinn einzustellen u n d so
die Rendite auf die A k t i e n zu erhöhen!« Er hielt es für durchaus m o r a -
lisch, das P r o f i t p r i n z i p über das Solidaritätsprinzip zu stellen. W o kä-
men w i r denn h i n , w e n n M i t l e i d die höchste moralische Instanz wäre?
Jeder ist sich doch selbst der Nächste. Ich ersparte m i r einen K o m m e n -
tar, als ich erkannte, dass mein Freund Opfer des Zeitgeistes geworden
war. Wenn der k o l l e k t i v e W a h n , in dem der Zeitgeist w u r z e l t , nicht so
verbreitet wäre, dann wäre er therapiebedürftig. U m nicht allzu sehr zu
vereinsamen, fand ich mich d a m i t ab, dass manche meiner Freunde zu
O p f e r n des s t r u k t u r e l l e n kollektiven Egoismus unserer Tage geworden
waren.
Der Feigling
hier einen Feighng nennen? FeigHnge sind Menschen, denen die »Tu-
gend« der Tapfer]<eit fehlt. Das haben sie gemeinsam m i t vielen System-
agenten, Angsthasen, Wadenbeißern, Liebedienern, Speichelleckern
und E x h i b i t i o n i s t e n .
Fallbeispiele
Pubertärer Scherz 'i^ Ein Lehrer achtete außerordenthch auf Pünkthchkeit, Sauberkeit
u n d O r d n u n g n i c h t n u r bei sich selbst, sondern auch bei seinen
Schülern. Anlässlich einer Klassenkonferenz w u r d e ein Schüler heftig
angegriffen, w e i l er seine Klassenlehrerin - eine Blondine - m i t wenig
anständigen B l o n d i n e n w i t z e n k a r i k i e r t hatte. Diese - i m übrigen recht
gut gelungenen - Zeichnungen machten i n der Klasse die Runde, u n d
so k o n n t e es n i c h t ausbleiben, dass auch die L e h r e r i n die anstößigen
Bilder zu Gesicht bekam. A n s t a t t n u n über solche pubertären Scherze
zu lächeln, sann sie auf Rache. Es k a m zu einer Klassenkonferenz, auf
der sie durchsetzen konnte, dass der Schüler ein »consilium abeundi«
erhielt (d. h . einen dringlichen Rat, bei nächster Gelegenheit die Schule
zu verlassen). Der erwähnte Lehrer kannte die pubertären Schwierig-
keiten seines Schülers, n a h m i h n aber v o r der Konferenz nicht i n
Schutz, o b w o h l eine solche I n t e r v e n t i o n m i t großer Wahrscheinlichkeit
die drastische Bestrafung des Schülers vermieden hätte u n d nahezu alle
Teilnehmer der Konferenz sich beim Anschauen der Bilder k a u m i h r
offenes Lachens unterdrücken k o n n t e n . Die Solidarisierung der Konfe-
renz m i t der L e h r e r i n wäre umgehend zerbrochen, w e n n auch n u r einer
der Lehrer den M u t gehabt hätte, solche Zeichnungen eines pubertie-
renden Jungen als das N o r m a l s t e auf der Welt hinzustellen. So gefähr-
dete der M a n g e l an Z i v i l c o u r a g e das Verbleiben des Schülers.
Fallbeispiel
Nur ein Kratzer ' i ^ Ein A u t o f a h r e r kratzte beim Ausparken einen anderen Wagen an.
Er stieg zwar aus, u m den Schaden zu betrachten. Sehr viel genauer
aber überzeugte er sich, dass keine Zeugen sichtbar w a r e n . N a c h d e m er
sich dessen vergewissert hatte, stieg er eilends i n sein Fahrzeug u n d ent-
schwand. Er wartete mehrere Tage voller Angst auf einen Polizeibesuch
wegen der eventuell zu identifizierenden Lacksplitter. D a n n fiel i h m
eine Reihe v o n plausiblen Erklärungen seines Fehlverhaltens ein: Der
Fahrer des anderen Wagens habe die Schuld, denn er sei zu nah aufge-
p a r k t . M a n hatte es eilig, u m n i c h t einen w i c h t i g e n T e r m i n zu verpas-
sen. M a n habe nur der Verkehrssitte gehorcht, schließlich sei das eige-
ne A u t o auch schon verschiedentlich angekratzt w o r d e n ... Da zudem
das endogene Gewissen n u r schwach ausgebildet w a r u n d soziale Stra-
fen (wie etwa eine Anzeige wegen Fahrerflucht) n i c h t mehr zu erwarten
standen, schien bald die ganze Angelegenheit so nebensächlich zu sein,
dass m a n sie getrost vergessen k o n n t e .
Der Feigling 33
Fallbeispiele
Die Hölle, das sind Diese F o r m der mangelnden Tapferkeit ist recht verbreitet. Das ist
die anderen n i c h t erstaunlich, w e n n m a n bedenkt, dass D r o h u n g e n für viele M e n -
schen das wesentliche M i t t e l sind, das sie zu sozial verträglichem Ver-
halten bewegt. Es gibt sehr verschiedene A r t e n , andere Menschen zu
bedrohen.
D u r c h lange Jahrhunderte w a r die D r o h u n g , i n die Hölle zu k o m m e n ,
für viele Menschen der wesentliche G r u n d , sich sozialverträglich zu
verhalten (= die göttlichen Gebote zu achten). Menschen w a r e n f r e m d -
bestimmt, w e i l andere ihnen ( i m realen oder vermeintlichen A u f t r a g
des Göttlichen) geboten u n d verboten, was sie zu t u n hätten. Diese A r t
der Bedrohung spielt zumindest i n unserem K u l t u r k r e i s k a u m mehr
eine Rolle, o b w o h l das Übertreten v e r m e i n t l i c h göttlicher Gebote u n -
bewusste Schuldgefühle a u f k o m m e n lassen k a n n , die Menschen den
M u t nehmen, selbstverantwortet ihr Leben zu gestalten.
Die moderneren Formen der Bedrohung gehen heute v o n profanen so-
zialen Systemen aus. D a ist die D r o h u n g m i t dem Strafgesetz oder die
m i t dem Verlust des Arbeitsplatzes oder die m i t der Ehescheidung. Sol-
che offenen D r o h u n g e n werden meist n i c h t ausdrücklich f o r m u l i e r t ,
bestimmen aber das »Wohlverhalten« n i c h t weniger Menschen. A u c h
sie sind i n wesentlichen Anteilen ihres Lebens f r e m d b e s t i m m t .
Eine andere F o r m moderner Bedrohung erfolgt d u r c h die Angst v o r
sozialen Strafen: Missachtung, I s o l a t i o n , Entzug sozialer Sicherheit,
Geborgenheit, Nestwärme. W i e das innere Moralgesetz m i t der psychi-
schen Strafe der Höllenangst arbeitete, so arbeitet das äußere Moralge-
setz m i t der Angst vor sozialen Strafen. Das soziale Gewissen ist heute
sehr viel verbreiteter am H o r i z o n t des europäischen Denkens als das i n -
nere, weitgehend v o n christlichen M o r a l v o r s t e l l u n g e n geprägte. I n bei-
den Fällen werden Menschen fremdgesteuert. D i e ausdrückliche psy-
chische oder soziale Bedrohung ist ein n i c h t selten eingesetztes M i t t e l ,
u m auf andere Menschen Z w a n g auszuüben. D r o h u n g e n sind stärker
als Charakter. »Thus conscience does make cowards o f us all!«**
D r o h u n g e n sollten durchaus ernst genommen - n i c h t aber automatisch
als Bedrohungen verstanden w e r d e n . Ich-starke Menschen werden ver-
suchen, D r o h u n g e n auf ihren rationalen K e r n zurückzuführen. Sie wer-
den sich ihnen i n Tapferkeit stellen, w e n n sie w i r k l i c h ernst gemeint
sind. O f t sind D r o h u n g e n n i c h t ernst zu nehmen, w e i l sie als I n s t r u -
ment eingesetzt w e r d e n , die Selbstmotivation eines Menschen zu o p t i -
mieren, i h n zu z w i n g e n , sich s y s t e m k o n f o r m zu verhalten.
Ein drohender Mensch ist i n aller Regel weitgehend konfliktunfähig.
Fallbeispiele
Hölle, Gott und Gelegentlich begegne ich i n einem Altenpflegeheim Menschen, die
Liebe Angst vor dem Tode haben, n i c h t w e i l d a m i t i h r Leben endet, sondern
w e i l sie fürchten, i n die Hölle zu k o m m e n . I n einer nahezu diabolischen
Weise w u r d e n sie d u r c h die Höllenangst i n die K i r c h e n hinein soziali-
siert. Dass der K e r n der Jesusbotschaft d a r i n besteht, den Menschen zu
sagen, dass das Göttliche i n uns u n d unter uns »liebt«, unabhängig v o n
unserem Verhalten, hat m a n ihnen verschwiegen. Lesen Sie doch bitte
e i n m a l unter diesem Vorzeichen das Jesusgleichnis v o m verlorenen
Sohn ( L k 15, 1 1 - 3 2 ) .
^ Unzufriedenheit
Bedrohung durch ' i ^ Es gibt jedoch auch Fälle, i n denen sich Menschen unberechtigt be-
Jüngere d r o h t fühlen. I n meiner Tätigkeit als C o u c h begegnen m i r nicht selten
leitende Angestellte, die, meist i n den frühen Fünfzigern, sich jüngeren
M i t a r b e i t e r n unterlegen fühlen. Aus solchen Unterlegenheitsgefühlen
erwächst die Angst vor der Entlassung. Es sei hier n i c h t geleugnet, dass
diese Angst i n unserem System des Kults der Jugend berechtigt sein
k a n n . D o c h hat solche Angst nicht selten die self-fullfilling prophecy,
die sich selbst erfüllende Prophezeiung zur Folge. Die Angst verunsi-
chert, m i n d e r t die Entscheidungsfreude, schwächt das Durchsetzungs-
vermögen, verunsichert die M i t a r b e i t e r sodass es schließlich auf-
g r u n d dieser Defizite zur Entlassung k o m m t . W i e aber k a n n m a n
vermeiden, dass solche Ängste entstehen? Zunächst einmal ist sicher
eine geeignete U n t e r n e h m e n s k u l t u r v o n Nöten, die vorhandenes E r f a h -
rungswissen verwertet u n d deshalb schätzt. D a n n aber ist ein zurei-
chendes Selbstbewusstsein eine sichere H i l f e , die es vermeidet, dass die
genannten Defizite realisiert w e r d e n . E n d l i c h w i r d man sich davor hü-
ten müssen, etwas für g u t , r i c h t i g , nützlich zu halten, weil es einmal
gut, richtig u n d nützlich war. Häufig werden ältere M i t a r b e i t e r bevor-
zugt entlassen, weil man ihnen die für ihre F u n k t i o n notwendige Be-
reitschaft n i c h t zumutet, neu u n d anders zu denken als g e w o h n t .
recht oder Vertragsrecht gegründet. Sie Icommt etwa einem Staat als
Gesetzgeber, als Rechtsprecher, als N o r m e n v e r w a l t e r zu. Sie kann aber
auch über einen Dienstvertrag zustande k o m m e n . Diese legale A u t o -
rität w i r d v o n vielen Menschen als U r s p r u n g des eingeforderten Gehor-
sams verstanden - unabhängig v o n aller Legitimität. Dass der N a t i o -
nalsozialismus i n Deutschland so sehr wachsen k o n n t e , verdankte er
der Überzeugung vieler Deutscher, er vertrete eine legitime Autorität.
Unter diesem Schein k o n n t e er sich der legalen Autorität bemächtigen
und unendliches U n h e i l stiften.
W i r sprechen hier n i c h t v o n der legitimen, sondern ausschließlich v o n
der legalen Autorität.
Die Autoritätshörigkeit mancher Zeitgenossen k a n n m i t u n t e r groteske
Formen annehmen. N i c h t selten beginnen Menschen unter dem A n -
spruch v o n irgendwelchen Autoritäten, i h r eigenes Leben unter fremde
Ansprüche zu stellen u n d ein Leben aus zweiter H a n d zu leben. Für das
Gelingen ihres Lebens sind andere v e r a n t w o r t l i c h : seien es religiöse
oder profane Autoritäten. Wer ihnen gehorcht, dem k a n n nichts passie-
ren, dessen Leben w i r d glücken. Ich kenne Menschen, denen jede lega-
le Autorität als legitim g i l t . Sie gehorchen den Rechtsnormen, als seien
sie gottgegeben. Das Übertreten v o n Rechtsnormen w i r d als M o r a l v e r -
sagen verstanden. Diese Menschen bestehen auch dann auf Vertragser-
füllung, wenn das sozialschädliche Folgen hat.
Medien und N u n könnte man meinen, die Autoritätsgläubigkeit sei weitgehend ver-
Wissenschaftler schvvunden, doch ist sie bei vielen Menschen - wenigstens in Spuren -
aufweisbar. Früher w u r d e n die Menschen v o n »kirchlichen Autoritä-
ten« beeindruckt. Heute sind es die I n f o r m a t i o n e n , die durch die Mas-
senmedien erzeugt, die v o n Wissenschaftlern behauptet werden, die
den Selbstverständlichkeiten des allgemeinen Bewusstseins entspre-
chen. Diese versteckte Autoritätsgläubigkeit findet man selbst bei sol-
chen Menschen, die sich für aufgeklärt, selbstgesteuert und autoritäts-
kritisch halten. Gerade i m Aufbegehren gegen Autoritäten zeigt sich
eine eigentümliche Abhängigkeit v o n eben diesen Autoritäten. Der
w i r k l i c h a u t o n o m gesteuerte Mensch w i r d n i c h t gegen solche Autoritä-
ten aufbegehren. Sie sind i h m gleichgültig. Der charakterstarke Mensch
w i r d dem A u f r u f Kants folgen: »Habe M u t , dich deines eigenen Ver-
standes zu b e d i e n e n ! « ' "
10 A A V l l I , 35
38 I, Die Ciiarakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere IVloralgesetz versagt
Fallbeispiele
Enttäuschtes • Es gibt sicher nur wenige Menschen, die anderen vertrauten u n d da-
Vertrauen bei nicht enttäuscht w u r d e n . Psychisch u n d sozial gesunde M e n -
schen k o m m e n über solche Enttäuschungen ohne bleibende Narben
hinweg. Andere jedoch ziehen sich, w e n n i h r Vertrauen häufiger
missbraucht w u r d e , auf sich selbst zurück. Sie haben i n aller Regel
keinen Menschen mehr, dem sie unbedingt vertrauen, ohne jede
Angst, i m Ansehen des anderen gemindert zu w e r d e n , u n d ohne jede
Angst, dass ihr Vertrauen missbraucht werde. D a w i r aber alle, u m
uns e m o t i o n a l u n d sozial entfalten zu können, wenigstens einen sol-
chen Menschen benötigen, fehlt nicht wenigen derart Enttäuschten
der M u t zum Leben.
Störung des • Das W o h l b e f i n d e n eines sozial gesunden Menschen ist an ein be-
sozialen Wohl- stimmtes M a ß an sozialer Geborgenheit u n d A n e r k e n n u n g gebun-
befindens den. W i r d i h m beides für eine längere Z e i t verweigert - sei es durch
eigenes Verschulden oder weil er n u r glaubte, geborgen u n d aner-
k a n n t zu sein - , so folgt in der Regel der Versuch, zunächst das Defi-
zit zu beheben oder es zu ignorieren. Der Versuch eines Ignorierens
ist, w e n n er längere Z e i t anhält, zumeist verbunden m i t einer mehr
oder weniger bewussten sozialen Desorientierung. N i c h t wenige
Menschen m i t erheblichem E r f o l g besitzen n i c h t die Charakterstär-
ke, anders als kompensatorisch m i t einem solchen U n w o h l s e i n u m -
zugehen. Das bedeutet: Sie können zu unausstehlichen Tyrannen
werden. »Oderint, d u m m e t u a n t ! « " (Sie mögen mich hassen, wenn
Mangelnder Mut • Ich meine hier den M u t , verbunden m i t der Bereitschaft u n d Fähig-
keit, selbstverantwortet sein Leben zu gestalten. Dieser M u t zur
Freiheit ist nicht jedem gegeben. Er setzt ein gerütteltes M a ß an
Selbstvertrauen voraus. Ein autonomer Mensch macht sich weitge-
hend unabhängig v o n der A n e r k e n n u n g und dem L o b anderer. Er
beurteilt sein Flandeln und dessen Folgen nach seinen eigenen Wert-
vorgaben. Wenn diese Wertvorgaben sittlich v e r a n t w o r t e t sind, spre-
chen w i r v o n sittlicher A u t o n o m i e . Ein M e n s c h , dem diese A u t o n o -
mie fehlt, ist auf das Bewerten seiner H a n d l u n g e n u n d deren Folgen
d u r c h andere angewiesen. U n d weil er zumeist danach strebt, v o n
anderen »gute Noten« für seine H a n d l u n g e n u n d Handlungsfolgen
zu b e k o m m e n , kann es dazu k o m m e n , dass seine Selbstbewertung
für i h n unerheblich w i r d und er die Fremdbewertung nahezu aus-
schließlich als w e r t h a f t akzeptiert. Sobald die äußere A n e r k e n n u n g
ausbleibt, w i r d der M a n g e l an A u t o n o m i e den Lebensmut erheblich
mindern.
Der Feigling 43
Fallbeispiele
Depression 'i* Ein M a n n v o n etwa 30 Jahren wiri<te auf m i c h , als er i n die Sprech-
stunde k a m , n i c h t n u r niedergeschlagen u n d antriehsschwach, sondern
auch verhärmt. A u f meine Frage, was ich für i h n t u n könnte, a n t w o r t e -
te er recht lustlos: »Vermutlich nichts.« N a c h einer M i n u t e gemeinsa-
men Schweigens erzählte er mir, dass seine Freundin vor einem halben
Jahr einen anderen M a n n kennen lernte u n d seitdem nichts mehr v o n
i h m wissen w o l l e . N u n ist das sicherlich ein G r u n d zur Trauer. Aber
hier lag noch etwas anderes vor. Trauer hat die F u n k t i o n , Abschied zu
nehmen, und w i r d also m i t der Z e i t geringer. H i e r aber lag der Fall ge-
nau umgekehrt. Die scheinbare »Trauer« w u r d e immer größer. Der A p -
petit ging zurück, die Schlafstörungen nahmen zu, Sozialkontakte w u r -
den abgebrochen. Es dauerte ziemlich lange, bis w i r zur Ursache dieser
Unfähigkeit zu t r a u e r n vorgestoßen w a r e n u n d ernsthaft i n den thera-
peutischen Prozess einsteigen k o n n t e n .
Selbstideal ' i * Viele Menschen haben ein Selbstideal, das alles, was sie leisten,
unerheblich macht. So sind m i r Manager bekannt, die ihre Manage-
mentleistungen an ihrem Selbstideal messen. Z w a r können sie in aller
Regel ihre psychische Störung d u r c h ein Übermaß an A r b e i t aus dem
Bewusstwerden verbannen, doch i n Phasen erzwungener Ruhe (etwa
während einer E r k r a n k u n g ) überfällt sie ein Gefühl der eigenen N i c h -
tigkeit. Ein für einen Außenstehenden sehr erfolgreicher Manager w a r
der eigentümlichen M e i n u n g , er sei für die i h m übertragene Aufgabe
ungeeignet, da er sie nicht - an seinem Idealbild orientiert - o p t i m a l
ausfülle. Diesen scheinbaren »Mangel« suchte er d u r c h o f t hektische
A r b e i t auszugleichen. D a er diese H e k t i k a u f seine M i t a r b e i t e r über-
t r u g , w u r d e n diese unzufrieden. Es k a m zu Beschwerden beim Betriebs-
44 I. Die CInarakterlosigkeit -- 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt
Urmisstrauen ' i ' Ein v o n seinen Examensleistungen her guter Lehrer w a r so miss-
trauisch zu seinen Schülern, dass er da Bosheiten u n d schulisches Fehl-
verhalten w i t t e r t e , w o sie n i c h t vorhanden w a r e n . Er misstraute auch
der Schulleitung. Überall sah er gegen sich gerichtete A k t i o n e n . Er ent-
wickelte sich zu einem Sonderling, weit über das berufsübliche M a ß
hinaus. Sorgfältig untersuchte er etwa i m Klassenzimmer den Stuhl, ob
da nicht etwas darauf lag, was hier nicht hingehört, ebenso sorgfältig
überprüfte er die Standfestigkeit dieses Gerätes. Er hatte sich ange-
wöhnt, die Tafel seitlich zu beschreiben, u m immer einen halben Blick
auf die Klasse richten zu können. D a er keine Partnerin an sich binden
k o n n t e , w a r er wenig passend gekleidet. Er aß auch offensichtlich nicht
das Richtige, denn er w u r d e v o n Jahr zu Jahr immer dicker.
Enttäuschtes 'i' H e r r K . musste erfahren, dass seine Vorgesetzten ihn auf eine Sache
Vertrauen h i n ansprachen, die er unter dem Siegel versprochener V e r t r a u l i c h k e i t
einem Kollegen anvertraut hatte. Es handelte sich dabei u m einen er-
heblichen Fehler, den er gemacht hatte, der aber nicht aufgefallen war.
Diesen Vertrauensbruch konnte er seinem Kollegen nicht verzeihen.
Für H e r r n K . w a r dieser V o r f a l l der A n f a n g einer Lebenskatastrophe.
Er baute ein erhebliches A n t i p a t h i e f e l d auf, das i h n hinderte, m i t die-
sem Kollegen auch nur einen Gruß auszutauschen. Wenn er i h n sah,
kehrte er u m . Wenn das nicht möglich war, ging er, scheinbar ohne i h n
zu sehen, an i h m vorüber. Dieser Z u s t a n d währte fast zwei Jahrzehnte,
da auch der »Petzer« jedesmal Schuldgefühle hatte, w e n n er seinen v o n
i h m denunzierten Kollegen sah. Erst als dieser Kollege i n ein anderes
Werk versetzt w u r d e , ging es etwas besser. Aber das Trauma blieb. M i t
niemandem sprach H e r r K . ein vertrauliches W o r t . Was er sagte, hätte
am nächsten Tag problemlos i n der Z e i t u n g stehen können. Er verlor
alle Freunde. Als er sich aufraffte, u m zu m i r zum Coaching zu k o m -
men, benötigte ich fast zehn Gespräche, ehe er sich v o n seinen Ängsten,
das Anvertraute könnte irgendwie missbraucht werden, befreit hatte
und wenigstens i n seinem Coach einen Menschen sah, m i t d e m er
angstfrei alles bereden k o n n t e .
Bodybuilding ' i ^ H e r r M . (39 Jahre) verbrachte den Großteil seiner Freizeit i n einem
Z e n t r u m für B o d y s t y l i n g . Er w a r schlank u n d stolz a u f seine harten
M u s k e l n . Aufs Erste w i r k t e er gesund u n d galt als Typ »erfolgreicher
M a n a g e r « . Sein Lieblingssport w a r S c h w i m m e n , w o b e i er jedoch meist
am Rande stand, u m seine Gestalt u n d vor allem seinen Waschbrett-
bauch b e w u n d e r n zu lassen. Das w a r aber auch sein einziger nennens-
werter E r f o l g . D a das zentrale Interesse seinem körperlichen Aussehen
galt, reduzierten sich seine intellektuellen Anstrengungen. Bald w a r
deutlich zu spüren, dass er lange Z e i t kein Fachbuch u n d keine Fach-
zeitschrift zur H a n d genommen hatte. Sein Körperkult (durchaus als
charakterliches D e f i z i t zu sehen) führte zur Vernachlässigung aller an-
deren Werte u n d d a m i t auch nach einiger Z e i t zum Ende seines b e r u f l i -
chen Aufstiegs.
Kauziger Tyrann ' i * Ich hatte einmal einen Lehrer, der i n keiner Weise auch n u r den ge-
ringsten W e r t auf die Z u w e n d u n g seiner Schüler oder eines M i t g l i e d s
seiner Kollegenschaft oder auf die seiner Angehörigen legte. Er w a r i n
seiner sozialen Vereinsamung n i c h t n u r ein Kauz geworden, sondern
auch ein T y r a n n . Er vergab n u r schlechte N o t e n . Eines seiner Lieblings-
w o r t e lautete: »Im Staatsexamen beurteilte m a n meine Deutschkennt-
nisse m i t 3. Ist ein Schüler so gut w i e ich, erhält er eine 3. Ist er schlech-
ter, eine entsprechende N o t e . « W i r w a r e n alle f r o h , als er i n den
»wohlverdienten Ruhestand« abgeschoben w u r d e . I n seinen Augen
w a r er ein erfolgreicher, w e i l gerechter Lehrer.
46 I. Die Charakterlosigkeit - 1. Wenn das innere Moralgesetz versagt
Mangelnde Autonomie
Wären wir N u n lautet die stereotype Behauptung der meisten, die m i t diesem Er-
anders? gebnis k o n f r o n t i e r t w e r d e n : » M i r könnte das n i c h t passieren!« Diese
Behauptung zeugt v o n erheblicher A r r o g a n z , denn w o h e r nehmen
Menschen das Recht zu behaupten, sie seien moralisch besser als der
Bürger N e w Yorks m i t einem Telefonanschluss.' Gehen w i r also einmal
v o n der Tatsache aus, dass die weitaus meisten Menschen, wenn sie u n -
ter psychischen D r u c k gestellt werden, v o n außen gesteuert sind (bis
hin zum Töten auf Befehl). W o r i n besteht n u n das moralische Versagen
solcher Menschen? Z u m Ersten sicher d a r i n , dass sie sich selbst niemals
über das M a ß ihrer Verführbarkeit ein realitätsgerechtes U r t e i l bilde-
ten, sondern dem V o r u r t e i l R a u m gaben, sie würden auch unter Belas-
t u n g ihrer W e r t e o r d n u n g treu bleiben. Z u m Z w e i t e n aber auch d a r i n ,
dass sie niemals autonomes Verhalten (etwa i n der Realisierung der
Primärtugenden, s. S. 109 ff.) einübten. Viele Menschen, die i n der ge-
nannten Weise »pflegeleicht« sind, w e i l sie sich an Vorgesetzten wie an
V o r b i l d e r n orientieren, haben - w e n n es n i c h t u m die Besetzung v o n
Spitzenpositionen geht - durchaus beruflichen E r f o l g .
Fallbeispiele
Soldaten und Zivis 'i^ N i c h t wenige Soldaten sind bereit, i m Kriegsfall auf Befehl Z i v i l i s -
ten zu töten, auch ohne eine aktuelle individuelle oder k o l l e k t i v e N o t -
w e h r s i t u a t i o n . Daraus folgt keineswegs, dass Soldaten als Mörder de-
nunziert werden dürften, sondern ausschließlich, dass sie - wie die
Milgram-Versuche zeigten - Menschen sind wie w i r alle oder doch wie
die meisten v o n uns. Verächtlich auf Soldaten herabzuschauen ist bare
A r r o g a n z . A l l e r A c h t u n g w e r t sind daneben zweifellos Menschen, die
sich n i c h t i n eine solch gefährliche Situation bringen lassen w o l l e n , i n
der sie bereit sind, auf Befehl zu töten. Ich meine die Zivildienstleisten-
den. N i c h t selten wissen sie u m die Gefahr, v o n außen gesteuert zu
werden.
Das »So-what-Syndrom« 49
Gehorsam ' i ^ Die Steuerung v o n aul?en (heteronome Steuerung) kann sehr ver-
schiedene Ursachen haben. O f t ist der Gehorsam die verbreitetste F o r m
der H e t e r o n o m i e . I c h Icenne viele junge Menschen, die i n einem Unter-
nehmen versuchen, ihren Vorgesetzten »den Wunsch v o n den Augen
abzulesen«. Ein m i r bekannter junger M a n n w a r so versessen darauf,
Karriere zu machen, dass er jeden H i n w e i s oder Wunsch seines Vorge-
setzten möglichst vollständig u n d o p t i m a l zu realisieren versuchte. Da-
bei setzte er so viel Z e i t u n d Energie ein, dass er anderes, was man nicht
ausgesprochen v o n i h m erwartete, nicht mehr leisten k o n n t e . Er w u r d e
noch während der Probezeit entlassen.
»Es kommt nicht ' i ^ E i n H e r r A wählte die Lebensparole: »Es k o m m t nicht auf mich
auf mich an!« a n ! « u n d brachte sich d a m i t i n eine so extrem heteronome Lebens-
organisation, dass er sich selbst tötete. Er stellte alles höher als seine ei-
genen Werteinstellungen, Bedürfnisse u n d E r w a r t u n g e n : sein Unterneh-
men, seine Familie u n d die Interessen seiner Freunde. Er k a m i n seinem
eigenen Leben k a u m mehr vor. Dass er sich für nahezu heiligmäßig
hielt, begründete er aus seiner Religiosität, die ihn - es sei nebenbei
angemerkt - auch zu solcher w a h n a r t i g e n Lebenmaxime führte. M i t
etwa 4 0 Jahren e r k r a n k t e er schwer. D a m i t t r a t eine Situation ein, i n
der es n u r noch auf i h n u n d seine Interessen u n d Bedürfnisse a n k a m . Er
fand sich in eine Welt geschleudert, in der er sich nicht mehr orientieren
k o n n t e . Er fand sich überflüssig. D i e Uberzeugung v o n der eigenen
Wertlosigkeit führte i h n zum Selbstmord.
Das »So-what-Syndrom«
Wozu ist das Wer seinem Leben niemals v e r a n t w o r t e t O r i e n t i e r u n g gab u n d nie ei-
alles gut? nem Stern folgte, der dem Leben seine R i c h t u n g wies, der w i r d sich i n
Phasen, i n denen er sich nicht ablenken k a n n , die Frage stellen, o b sich
denn das Leben gelohnt habe. Ein Leben, das ausgefüllt w a r m i t dem
Streben nach G e l d , nach Einfluss, nach A n e r k e n n u n g . . . etc., muss i r -
g e n d w a n n einmal leer erscheinen. Die Frage nach dem »Was soll denn
alles das, was d u da tust?« u n d die Frage: »Das also soll es gewesen
sein?« sind die beiden w i c h t i g s t e n Varianten des So-what-Syndroms.
Solche Fragen stellen sich e i n d r i n g l i c h u n d lassen sich nicht in einem i r -
gendwie gearteten Vergessen zum Schweigen bringen. N u r ein M e n s c h ,
der seinem Leben ein sittlich verantwortetes Z i e l setzt, w i r d nicht
d u r c h diese Fragen bedroht. Wer sich das Z i e l gesetzt hat, d u r c h sein
T u n u n d Lassen eigenes u n d fremdes personales Leben eher zu meh-
ren als zu m i n d e r n , der sein Leben also unter die M a x i m e »Liebe das
Leben!« (das Biophilie-Postulat) stellte - ein solcher Mensch k a n n nie-
50 I. Die Cinaral<terlosigl<eit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt
Fallbeispiele
Arbeitsopfer 'i^ Ein erfolgreicher Manager kannte nur sein Unternehmen. I h m op-
ferte er 60 u n d mehr Stunden i n der Woche. Seine Partnerschaft ging,
da er sie an die zweite Stelle in seinem Leben setzte, nach wenigen Jah-
ren zugrunde. Er selbst instrumentalisierte sich so sehr, dass er die eige-
ne V e r a n t w o r t u n g für die sittliche Gestaltung sein Lebens übersehen
lernte. Es k a m dazu, dass er sich z u m N u t z e n seines Unternehmens m i t
falschen Angaben Subventionen auszahlen ließ. Als er deshalb einen
Strafprozess erwartete, brach sein Selbstbild zusammen. D i e Frage:
»Was hatte das eigentlich für einen Sinn, dass ich m i c h für mein Unter-
nehmen aufopferte?« beherrschte wochenlang sein Denken u n d blo-
ckierte sein Fiandeln. Erst jetzt erkannte er, dass allein eine lebendige
Ehe einem Menschen helfen k a n n , m i t V e r a n t w o r t u n g menschlich zu
leben.
Leben voller Sinn ' i ^ Eine ältere Frau, die sich aufs Sterben vorbereitete, erzählte m i r ihr
Leben, aus dem i c h einige Episoden hier vorstelle. Sie sei als junges
Mädchen eine Langschläferin gewesen. Als sie geheiratet hatte, musste
sie jedoch jeden M o r g e n vor fünf U h r aufstehen, da i h r M a n n u m sechs
U h r auf der Baustelle sein musste. Es galt, i h m sein Frühstück zu berei-
ten u n d den »Henkelmann« fürs Mittagessen fertig zu machen. I m L a u -
fe der Jahre stellten sich zwei K i n d e r ein. »Beide sind gut geraten!« ver-
kündete sie m i r voller Stolz. U n d nach einer längeren Pause fragte sie:
»Aber, H e r r Pfarrer, w o ist mein Leben geblieben? Ich w a r i m m e r n u r
für andere da, für andere gut genug, aber dabei habe ich mich selbst
verloren!« Es folgten mehrere Gespräche, ehe sie bereit w a r zu akzep-
tieren, dass sie ein Leben voller Sinn gelebt habe. Sie habe sich keines-
wegs verloren, sondern in einer Weise gefunden, die es ihr ermöglichte,
vor allem auf das W o h l anderer zu achten.
Der Unehrliche 51
Der Unehrliche
Fallbeispiele
Einfluss. Seine Karriere ging schnell nach oben. Als dem Unternehmen
jedoch eine E r w e i t e r u n g der P r o d u k t i o n s a b t e i l u n g d u r c h die zuständi-
ge Behörde verweigert w u r d e , sollte der so einflussreiche M i t a r b e i t e r
bei der entsprechenden Behörde oder an noch höherer Stelle Überzeu-
gungsarbeit leisten. Es stellte sich heraus, dass seine Beziehungen zu
Ämtern eher unerfreulicher A r t w a r e n . Schreiben der Geschäftsleitung,
die sich auf i h n beriefen, w u r d e n u n w i r s c h beantwortet.
Der Kriecher
Dem Chef Der Kriecher ist eine Person, die bewusst oder unbewusst die eigenen
gefallen um jeden Werteinstellungen, E r w a r t u n g e n , Bedürfnisse u n d Interessen hintan-
Preis stellt, u m anderen zu gefallen, u m anderen Recht zu geben, auch w e n n
sie offensichtlich Unrecht haben u n d vertreten. Er ist bereit, moralische
Vorgaben zu vertreten, w e n n dieser Verrat l o h n e n d erscheint. N u n
w i r d jedermann einen Kriecher dieser A r t ablehnen, besonders d a n n ,
w e n n er selber wie ein Blindschleiche i m Sande k r i e c h t . Dennoch wäre
es falsch, die Menge der Kriecher u n d die Gefahr, die v o n ihnen aus-
geht, zu unterschätzen. Schwache (und d a m i t weitgehend ungeeignete)
Vorgesetzte halten Menschen, die ihren Vorstellungen stets gerecht
w e r d e n , für gute M i t a r b e i t e r . Das ist ein klassisches V o r u r t e i l u n d w i r d
jeden Vorgesetzten, der die Stufe v o n einer Führungskraft zu einer
Führungspersönlichkeit überschritt, skeptisch machen. Einen Kriecher
i n der Unternehmenshierarchie weiter nach oben zu befördern, das
w i r d dem Unternehmen m i t ziemlicher Gewissheit schaden. Es ist m i r -
o b w o h l ich i n n i c h t wenigen Unternehmen eine Aufsichtsratsposi-
t i o n w a h r n e h m e - ein Rätsel, wieso Kriecher sich in Unternehmen bis
zu Vorstandspositionen heraufschlängeln können. O f f e n b a r sind auch
manche Aufsichtsräte n i c h t gegen die Gefahr i m m u n , Kriecher u n d
Intriganten (eine o f t enge Partnerschaft zwischen zwei Charakterdefek-
ten) für besonders geeignete Vorstandsmitglieder zu halten.
Fallbeispiele
Der Ausbeuter
Was meinte Gemeinhin bezeichnet man als Ausbeuter einen Menschen, der andere
Marx? benutzt, u m materielle Güter zu erwerben. V o r M a r x bezeichnete Aus-
beutung die A n e i g n u n g u n d V e r w e r t u n g fremder unbezahlter Arbeits-
k r a f t . So würden Besitzende (von G r u n d u n d Boden, v o n Geld u n d Ka-
pital) v o n den Menschen, die diesen Besitz nutzen, Geld verlangen,
ohne selbst irgendetwas d a z u z u t u n . Erst K a r l M a r x bereitete dieser bis
heute noch demagogisch vertretenen Theorie ein Ende: Z i n s , Profit u n d
Rente seien besondere Eormen des M e h r w e r t s , des M e h r p r o d u k t s oder
der M e h r a r b e i t . A u s b e u t u n g sei folglich die A n e i g n u n g v o n M e h r a r b e i t
(Sklaverei), des M e h r p r o d u k t s (naturale Renten i m Feudalismus) oder
des M e h r w e r t s (Zinsen, Gewinne, Renten i m K a p i t a l i s m u s ) . I n jedem
Fall ist A r b e i t die Quelle des Angeeigneten. D i e Aneignungsformen
sind bestimmt d u r c h historische gesellschaftliche Bedingungen - sie
sind kein Diebstahl. M a r x sieht das Problem der A u s b e u t u n g i m K a p i -
talismus vielmehr i n der Tatsache begründet, dass die A r b e i t selbst zu
einer Ware gemacht u n d d a m i t entpersonalisiert w i r d . Das führt dazu,
dass auch der Arbeiter als Ware gesehen w i r d u n d sich oft genug auch
so sieht.
Fallbeispiele
Telefonieren ' i ^ I c h kenne eine junge D a m e , die, w e n n sie m i t sich allein ist, diesen
Z u s t a n d zu beenden versucht, i n d e m sie z u m Telefon greift. Aus einem
Repertoire v o n zwei oder drei Menschen wählt sie einen an u n d beläs-
56 I. Die Cliarakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt
Besuche ' i ^ I n einem anderen Fall neigt ein durchaus erfolgreicher Manager
dazu, zu allen möglichen Z e i t e n u n d Unzeiten bei Personen, die er auf-
g r u n d ihrer Geduld u n d Höflichkeit (sie weisen i h n n i c h t ab) für seine
Freunde hält, »hereinzuschauen« u n d m i t ihnen die nebensächlichsten
Probleme seiner Ehe u n d seiner Gesundheit zu besprechen. Gerne sei
zugegeben, dass er sich für eine gewisse Dauer einen Therapeuten er-
spart.
. . .
Rat und Hilfe ' i * Einer meiner ehemaligen N a c h b a r n w a n d t e sich stets a n m i c h ,
w e n n er i n irgendeiner Sache R a t oder H i l f e zu benötigen meinte. Das
f i n g an beim Aufstellen u n d Festhalten einer Leiter, u m die D a c h r i n n e n
v o m L a u b z u säubern, u n d endete bei langen Krankheitsgeschichten,
bei denen er meinen therapeutischen R a t wünschte. Dazwischen lagen
Probleme m i t der Einkommensteuererklärung, d e m Ausleihen v o n
Werkzeug, der Reparatur seines Rasenmähers u n d den meist bösartigen
Erzählungen über die übrige Nachbarschaft. W e r vermuten würde,
dieser H e r r sei i m Beruf n i c h t erfolgreich, i r r t , denn es handelt sich u m
einen V o r s t a n d eines keineswegs kleinen Unternehmens. Aus irgend-
einem G r u n d hielt er m i c h für seinen Freund, o b w o h l i c h keinerlei
freundschaftlichen Gefühlen A u s d r u c k gab.
Schnee von ' i ^ I n einem U n t e r n e h m e n , das i c h beraten sollte, herrschte eine be-
gestern merkenswerte, w e n n auch recht verbreitete U n k u l t u r . Es w u r d e n häufig
- ohne Wissen der meisten Beteiligten - Sachverhalte diskutiert, die
schon längst vorentschieden w a r e n . Die elementarsten Regeln der K o n -
ferenzkultur w u r d e n n i c h t berücksichtigt. D e n n auf solchen Veranstal-
tungen, sollten sie denn schon einmal nötig sein, müssen zu jedem ent-
scheidungserheblichen Sachverhalt zunächst die schon entschiedenen
Rahmenbedingungen genannt u n d danach die noch offenen Fragen be-
sprochen w e r d e n . Dass ich solche Unternehmen n i c h t berate, sondern
ihnen einen anderen Berater empfehle, werden Sie sicher verstehen.
Der Besessene 57
Der Besessene
Sein und Haben Die Besessenheit gehört zu den E r k r a n k u n g e n des Suchttyps. W i r spre-
chen v o n einer Sucht, w e n n ein M e n s c h sich i n eine lebensmindernde
(nekrophile) E o r m der Abhängigkeiti^ derart einlebt, dass sie zu einem
Strukturelement seiner Persönlichkeit w i r d . Menschen können v o n
allen möglichen lebensmindernden Möglichkeiten des Menschlichen
besessen sein. Es g i b t Abhängigkeit v o m A l k o h o l , v o n Z i g a r e t t e n , v o n
Kaffee, v o n A r b e i t , v o m schnellen A u t o f a h r e n . . . Früher sprach man
solchen Besessenen einen bösen Geist z u , den es auszutreiben gelte.
Fleute ist das n i c h t mehr üblich. Es handelt sich vielmehr u m einen
k r a n k e n Geist.
Menschen definieren sich selbst heute n i c h t mehr v o n dem her, der sie
sind, sondern v o n dem her, was sie haben. Viele wissen n i c h t mehr, wer
sie sind, sondern n u r n o c h , was sie haben oder haben w o l l e n . D a dieses
Flaben keine Grenzen kennt, ist eine Erfüllung dieser Selbst-Definition
nicht möglich, sie kennt kein Resultat. W i r Psychologen bezeichnen
Menschen, die grundsätzlich Strategien einsetzen, die keinesfalls z u m
angestrebten Z i e l führen können, als neurotisch gestörte Persönlich-
keiten. Dieser A b s c h n i t t behandelt eine der am weitesten verbreiteten
Neurosen. O b w o h l i h r K r a n k h e i t s w e r t hoch ist, werden sie k a u m v o n
einer Krankenkasse als therapiebedürftig akzeptiert.
Es scheint sich also u m eine K r a n k h e i t zu handeln, die so verbreitet ist,
dass viele Menschen sie n i c h t mehr als K r a n k h e i t erkennen. Der eigent-
liche G r u n d der K r a n k h e i t w u r d e schon (auf S. 3 9 - 4 2 ) behandeh:
N i c h t selten handelt es sich u m »frühe Störungen« (etwa u m eine ge-
störtes U r v e r t r a u e n , eine misslungene Selbstdefinition, ein gebrochenes
Verhältnis z u m eigenen K ö n n e n ) . Gelegentlich w i r d auch eine K o m -
pensation früherer Kränkungen (etwa des Selbstwertgefühls oder ande-
rer Dimensionen des narzisstischen Gleichgewichts) zur Ursache der
k r a n k h a f t e n E n t a r t u n g . Die K r a n k h e i t besteht i m Verlust des eigenen
Seins, das n u n d u r c h F o r m e n des Flabens kompensiert werden soll -
ohne dass dieses Z i e l je erreichbar wäre, denn H a b e n k a n n niemals
Sein ersetzen.
N i c h t wenige i m Beruf erfolgreiche Menschen sind schwer am Geist des
Habens, an Besessenheit e r k r a n k t . Sie sind besessen v o n solch bösen
Geistern w i e E r f o l g , Ansehen, M a c h t , Einfluss, R e i c h t u m . . . A l l dieses
Fallbeispiele
Besitz 'i^ Besonders anfällig für die K r a n k h e i t der Besessenheit scheinen die
Menschen zu sein, die i h r H e r z an den materiellen Besitz hängen. N i c h t
selten sind sie bereit, diesem Götzen nahezu i h r ganzes Leben, ihre Fa-
m i l i e n , ihre Freundschaften, ihre Gesundheit zu o p f e r n . Das k a n n bis-
weilen paradoxe Formen annehmen. I c h las vor einiger Z e i t i n einer
Z e i t s c h r i f t v o n einem M a n n , der - u m seinen materiellen Besitz zu er-
halten - einen bewaffneten u n d i h m zudem körperlich w e i t überlege-
nen Einbrecher m i t bloßen Fäusten anging. A m anderen Tag w a r e n
nicht n u r eine Menge seiner Schätze verloren, sondern die Polizei muss-
te sich auch m i t seiner Leiche beschäftigen.
Der Desorientierte
Vielfalt der Werte W i r leben nach dem Zerbrechen der festen Stützpfeiler der Neuzeit i n
einer W e l t , i n der plötzlich die Menge der Möglichkeiten sich bis z u m
Unverständlichen h i n öffnet. Unzählbar sind heute die Möglichkeiten
der Freizeitgestaltung (Fernsehen, Sport, Reisen) bis h i n zur Gestaltung
der Partnerschaft (institutionalisiert - frei; heterosexuell - homosexu-
ell; Z w e i e r b i n d u n g - M e h r f a c h b i n d u n g ; zusammenlebend - getrennt
lebend; K i n d e r oder keine). V o n der Berufswahl (es tauchen jährlich i n
der B R D mehr als 50 neue Berufsbilder auf) bis h i n zur M o r a l (in der
jeder seine eigenen N o r m e n festlegt) haben w i r alle ständig die W a h l .
W i r sagen, dass unsere Welt multioptional geworden sei.
Wer keinen k o n k r e t e n Lebensplan v e r f o l g t , landet n i c h t selten i n der
Desorientierung. Solche Desorientierung ist meist leicht auszumachen:
In ihr verbindet sich eine o f t tief beängstigende Ratlosigkeit m i t plötz-
lichen, aber aufs Ganze gesehen ungerichteten Entscheidungen. Desori-
entierte Persönlichkeiten können durchaus beruflichen E r f o l g haben,
w e n n sie ihre Entscheidungen an der »normativen K r a f t des F a k t i -
schen« orientieren. D a sich aber i n unserer Z e i t der Multioptionalität
diese N o r m e n des Faktischen schnell u n d ständig ändern, sind die Ent-
scheidungen eines desorientierten Menschen meist ohne konkretes, i h m
bewusstes Z i e l .
Fallbeispiele
Neue Zielsetzung 'i^ Es sei hier einmal ein Beispiel angeführt, bei dem kein c h a r a k t e r l i -
cher D e f e k t den G r u n d zu einem Lebenserfolg legte, sondern die Über-
w i n d u n g einer Desorientierung. Eins der tragischsten Menschenleben,
die ich ein Stück begleiten d u r f t e , w a r geprägt v o n der Ansicht, es gebe
keine Möglichkeit mehr, das Leben völlig neu zu orientieren. D a der
Betroffene schon 5 1 war, glaubte er, n i c h t die K r a f t zu einem solchen
N e u b e g i n n a u f z u b r i n g e n . Als einzige A l t e r n a t i v e , die i h m einfiel, k a m
für i h n n u r ein Selbstmord i n Frage. Es gelang m i r , i h m i n einer N i c h t -
erwerbsarbeit eine Stellung zu besorgen, die m i t großer V e r a n t w o r t u n g
für andere Menschen verbunden war. Als ich i h m einige M o n a t e später
begegnete, w a r er ein anderer Mensch geworden: Er ging aufrecht, sein
Gesicht strahlte innere Z u f r i e d e n h e i t aus, sein Blick w a r w a c h u n d auf-
merksam g e w o r d e n . Er hatte seinem Leben eine O r i e n t i e r u n g gegeben.
Der Gelähmte
Wer arbeitet. D i e Multioptionalität kennt noch einen zweiten negativen Ausgang: die
macht Fehler Lähmung vor der Fülle der sich eröffnenden Möglichkeiten. Diese Läh-
m u n g ist n i c h t zu verwechseln m i t der Handlungslähmung, die v o n de-
pressiven Stimmungen ausgehen k a n n . Es ist vielmehr die Unfähigkeit
gemeint, einen bestimmten Entschluss zu fassen, da m a n niemals wis-
sen könne, ob er v o r der Fülle der möglichen o p t i m a l sein werde. Viele
Menschen, die sich für die N u l l - O p t i o n entschieden haben, sind nahezu
k r a n k h a f t darauf bedacht, keine Fehler zu machen. Der fatale M a n g e l
an Entscheidungen k a n n i n einem Unternehmen zu größeren Schäden
62 I. Die Charakterlosigl<eit - 1 . Wenn das innere IVloralgesetz versagt
Fallbeispiele
Der Schwätzer
Viel reden = Schwätzer sind Menschen, die u m des Redens w i l l e n reden u n d jeder-
viel hören? zeit bereit sind, die A b f a l l p r o d u k t e ihrer Großhirnrinde v o r anderen -
meist recht unzensiert - auszubreiten. W e i l sie selten i n der Lage sind,
einen v e r t r a u l i c h erfahrenen Sachverhalt auch vertraulich z u behan-
deln, sind sie alles andere als vertrauenswürdig. Wer würde schon frei-
w i l l i g einem Schwätzer ein Geheimnis anvertrauen? W i e aber k a n n es
dazu k o m m e n , dass Menschen, die an dieser schweren F o r m einer »Lo-
goröe« (einem Sprechdurchfall) leiden, beruflichen E r f o l g haben? N u n ,
es g i b t Vorgesetzte, die solche Schwätzer dann als M i t a r b e i t e r schätzen,
w e n n sie n i c h t selbst v o n deren Geschwätz überfallen, belästigt, behin-
dert, ihrer Z e i t beraubt w e r d e n . Der G r u n d ist relativ einfach. Schwät-
zer verfügen über manch vertrauliches Wissen, da sie sich m i t allen
ihnen bekannten Menschen, die ihnen begegnen u n d sich n i c h t auf i r -
gendeine Weise wehren (»Ich habe i m A u g e n b l i c k w i r k l i c h keine Z e i t ;
darüber müssen w i r uns ein anderes M a l austauschen!«), unterhalten
u n d n i c h t selten über die Gabe des Aushorchens verfügen. W e n n dieses
Wissen abgefragt w i r d , fühlen sie sich geschmeichelt.
Fallbeispiele
Wichtigtuerei 'i^ Eine junge F r a u , die zudem über eine extrem lebhafte Fantasie ver-
fügte, ging regelmäßig zu einem meiner Vorgesetzten, der sie ebenso re-
gelmäßig »abschöpfte«. Was er a u f diese Weise erfuhr, akzeptierte er
ohne Prüfung, w e n n es n u r seinen V o r u r t e i l e n entspräche. Hätte er sein
Pseudowissen für sich behalten, wäre die ganze Sache auf den charak-
terlichen D e f e k t der Leichtgläubigkeit hinausgelaufen. D a er aber das
Gehörte »von A m t s wegen« weiter meldete, führte sein Verhalten zu
mancher menschlichen Katastrophe.
Richter-Monolog "i" Bei einer Begegnung m i t einem Vorsitzenden Richter eines Landge-
richts k a m keine der beiden Parteien ernsthaft zu W o r t . Die Gerichts-
v e r h a n d l u n g bestand aus langen M o n o l o g e n , die sich n u r vordergrün-
dig an die Parteien richteten, eigentlich jedoch den jungen Juristen galt,
die sich i m Saale aufhielten. Als ich m i c h nach dem Ansehen des Rich-
ters e r k u n d i g t e , w a r e n alle - t r o t z seines unglaublichen Verhaltens, das
er auch anderswo als n u r i n den v o n i h m geleiteten Prozessen zeigte -
zutiefst beeindruckt über die Fülle seines Wissens (weniger die des Ju-
risten als des allgemeinen). N u r so hat er v e r m u t l i c h eine doch beacht-
liche Position erreichen können. Der M a n g e l an Charakter w u r d e i h m
nicht zum Handicap.
64 I. Die Charakterlosigi<eit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt
Coaching 'i^ Ein V o r s t a n d eines großen Unternehmens, der sich v o r Jahren ein-
m a l v o n m i r coachen ließ, pflegte sich nach einer kurzen Begrüßung i n
seinen Sessel fallen zu lassen. D a n n begann er zu reden. U n d das 50 M i -
nuten lang (das ist die gewöhnliche Dauer einer solchen Veranstaltung),
ohne auch n u r die geringste U n t e r b r e c h u n g . Er hatte i r g e n d w a n n ein-
m a l gelernt, dass derjenige d o m i n a n t ist, der a m längsten ungestraft
sprechen darf. Dass er dabei vielen Menschen die G e d u l d raubte, inte-
ressierte i h n n i c h t . A u f g r u n d seiner D o m i n a n z prüfte er sie unbewusst
ständig ab, d u r c h langes, o f t nichts sagendes Gerede. Er hatte irgend-
w a n n einmal die triviale Tatsache verlernt, dass n u r der etwas erfährt,
der zuhört. N u n k a n n er nicht zu mir, u m zu hören, was i n dieser Si-
t u a t i o n nicht a n o r m a l ist, sondern u m zu sprechen. N a c h 50 M i n u t e n
erhob er sich m i t der abschließenden Bemerkung: »Ich danke I h n e n ,
H e r r Lay, denn jetzt weiß ich, was zu t u n ist!« Diese F o r m des Ge-
schwätzes dient dazu, sich selbst über Sachverhalte k l a r zu w e r d e n , die
i m Vorsprachlichen n i c h t greifbar w u r d e n . E i n solches Vorgehen ist
verständlich. M a n sollte es aber n u r dann t u n , w e n n die gesamte Situa-
t i o n (etwa i m Coaching) solches erlaubt.
Der Aggressor
Revier- Aggression bezeichnet ein Verhalten oder eine Einstellung, die offen-
verteidigung sichtlich auf einen physischen oder verbalen A n g r i f f auf Sachverhalte
(hier interessiert uns vor allem der A n g r i f f auf Personen) abzielt. Das
Z i e l ist k l a r : Die Personen sollen überwunden oder ihnen Schaden zu-
gefügt werden. Es gilt sehr verschiedene Formen v o n Aggressivität zu
unterscheiden. Die erste ist die Revierverteidigungs-Aggressivität, die
uns angeboren ist. Über viele J a h r m i l l i o n e n k o n n t e n Menschen u n d
ihre A h n e n n u r überleben, w e n n sie i n der Lage w a r e n , i h r - meist ter-
ritoriales - Revier vor E i n d r i n g l i n g e n zu schützen. Dieser uns angebo-
rene (instinktoide) Mechanismus ist n u n keineswegs sinn- oder f u n k -
tionslos geworden. D e n n so verteidigen w i r die für uns notwendigen
Regionen, w e n n w i r uns angegriffen fühlen.
Welches sind n u n solche Regionen? Es k a n n sicher unser Ansehen, u n -
ser privates oder berufliches Einflussgebiet sein. Es können aber auch
unsere M e i n u n g e n sein, w e n n w i r sie für existentiell halten, w e n n w i r
also d a v o n ausgehen, sie erst gäben unserem T u n u n d H a n d e l n , unse-
rem Leben gar, Sinn, Z w e c k u n d Z i e l . Das Abstecken unserer t e r r i t o -
rialen oder mentalen, sozialen oder psychischen Claims ist ein angebo-
rener G r u n d für unsere Aggressionen. U m unsere Claims mental zu
sichern, bilden w i r m i t u n t e r erhebliche Vorurteilsbereiche aus, die -
w e i l es sich u m V o r u r t e i l e handelt - uns v o n der Realität ablösen.
Der Aggressor 65
Fallbeispiele
Falsch dosierter 'i^ E i n M e n s c h sieht sich d u r c h die aktive Intoleranz etwa seiner K i r -
Widerstand ehe, seiner Vorgesetzten, seiner Nachbarschaft bedroht. Diese Intole-
ranz h a t stets den C h a r a k t e r aktiver Aggressivität m i t sich. W i e soll er
etwa unter dem A n s p r u c h der B i o p h i l i e - M a x i m e »Liebe das Leben!«
reagieren? I c h vermute, dass er vor dem A n s p r u c h dieser M a x i m e - u n -
ter Beobachtung der Verhältnismäßigkeit i n der W a h l seiner M i t t e l -
reaktiv i n t o l e r a n t sein muss, u m erfolgreich abwehren zu können. Jedes
andere Verhalten wäre lebensmindernd, w e i l Toleranz anders keine
Chance hätte zu überleben. N i c h t jede E o r m der Intoleranz wider-
spricht also dem B i o p h i l i e - K r i t e r i u m , es k a n n sie sogar zwingend ein-
f o r d e r n . Eine m i r recht gut bekannte Persönlichkeit akzeptierte nicht
die aktive Intoleranz der K i r c h e , reagierte gegen manche ihrer F u n k t i o -
nen u n d I n s t i t u t i o n e n d u r c h reaktive Intoleranz - u n d w u r d e umge-
hend d u r c h die Systemagenten eliminiert, w e i l seine Aktivitäten als
k o n t r a p r o d u k t i v systemgefährdend angesehen w u r d e n . Was hatte er
falsch gemacht? Er überschätzte sich selbst i n seinen Möglichkeiten.
Seine reaktive Intoleranz w a r n i c h t einflussreich genug, u m m i t der i n -
stitutionalisierten a k t i v e n Intoleranz fertig zu werden oder sie gar zu
überwinden. A n dem Problem der Verhältnismäßigkeit sind so viele
Ketzer u n d Rebellen gescheitert. Es wäre weiser gewesen, sich n i c h t m i t
einer I n s t i t u t i o n anzulegen, sondern m i t einigen ihrer F u n k t i o n e n ge-
genüber einzelnen Menschen. A u c h die A r b e i t i m Kleinen k a n n Großes
bewirken.
Das Mittelmaß
Heute regiert das »Nicht der Schuft ist der Schurke, sondern das M i t t e l m a ß . « Dieser o f t
Mittelmaß zitierte Satz hat heute mehr Berechtigung als zuvor. Z u m einem fördert
die F o r m der D e m o k r a t i e , der w i r derzeit huldigen, keineswegs Leis-
tungseliten, sondern das M i t t e l m a ß . Jedes V o l k verdient die Regierung,
die es h a t (oder v o n der es gehabt w i r d ) . Der Z u s t a n d der deutschen
oder österreichischen Bundesrepublik belegt diese V e r m u t u n g als stim-
m i g . D a die Wahlbürger i m statistischen Sinne das Mittelmaß verkör-
p e r n , w e r d e n sie k a u m etwas anderes wählen als eben dieses. K e i n
M e n s c h fühlt sich v o m M i t t e l m a ß besser verstanden als das M i t t e l m a ß .
Solche Mittelmäßigkeit b e t r i f f t keineswegs n u r die Intelligenz, sondern
auch die charakterlichen Begabungen der Herrschenden. Franz Josef
Strauß w i r d das böse W o r t zugeschrieben, Dr. K o h l sei deshalb ein g u -
ter Kanzler, w e i l selbst i m dümmsten Deutschen die Überzeugung reifen
könne, bei i h m reiche es auch z u m Kanzler. Das W o r t ist deshalb böse,
w e i l es n i c h t heißen darf: »Selbst dem dümmsten Deutschen«, sondern:
»Selbst dem bürgerlichen M i t t e l m a ß « . W o w i r auch hinschauen: I m
Staat, i n K i r c h e n , i n Parteien, i n Gewerkschaften, i n Schulen u n d U n i -
versitäten h a t das M i t t e l m a ß das Sagen. Der Masse ist jeder, der zu
Recht einer Leistungselite zugerechnet w i r d , unverständlich u n d - w e i l
unverständlich - w e n i g geheuer, u n d w e r möchte schon gerne v o n
einem Menschen beherrscht w e r d e n , der i h m n i c h t geheuer ist?
68 I. Die Charakterlosigkeit - 1. Wenn das innere Moralgesetz versagt
Fallbeispiele
Der Gutmensch
Gut, gutmütig M a n möchte meinen, ein Gutmensch, also ein M e n s c h , der hehre Idea-
oder gut gemeint le v e r t r i t t , sei n i c h t m i t einem charakterlichen H a n d i c a p belastet. Das
ist leider n i c h t so, denn Gutmenschen w o l l e n z w a r das Gute (oder das,
was sie dafür halten), bedenken aber n i c h t den Schaden, den sie m i t der
Der Gutmensch 69
Realisierung ihres Zieles anrichten (können). Für sie gilt das etwas zy-
nische W o r t : »Gut ist das Gegenteil v o n gut gemeint!« Gutmenschen
verfolgen irgendwelche Ideale, die - aus i h r e m realen K o n t e x t gerissen
- sehr w o h l gut sind, aber i n einer realen Welt zumeist sehr üble Folgen
haben können. Gutmenschen folgen einer unverfälschten Gesinnungs-
e t h i k , nach der eine H a n d l u n g schon d a n n gut ist, w e n n sie einer edlen
Gesinnung folge. Sie halten sich selbst meist für gute Menschen, verges-
sen dabei aber die Folgen ihrer gut gemeinten Taten. Einige G u t m e n -
schen machen einen einzigen relativen W e r t z u m absoluten: etwa die
Gerechtigkeit, die i n t a k t e U m w e l t , die Ausländerfreundlichkeit. Sicher
sind alle diese Werte an u n d i n sich g u t , aber sie sind n i c h t absolut gut.
Sie k o n k u r r i e r e n m i t anderen W e r t e n . D a sich viele dieser Menschen
für c h a r a k t e r l i c h w e r t v o l l halten, w i r d ihnen i h r Charakter zu einem
Handicap.
Fallbeispiele
Bestandsaufnahme
Verhalte ich mich manchmal ähnlich wie ein Systemagent (s. S. 23-25),
Egoist (s. S. 25-28) oder Feigling (S. 28 ff.)?
Welche Form (s. S. 29-46) nimmt bei mir die Feigheit an?
Zeigt sich bei mir die Mangelnde Autonomie (s. S. 47-49) oder das »So-What-Syndrom«
(s. S. 49/50)?
Bin ich ein Unehrlicher (s. S. 51/52), ein Kriecher (s. S. 53/54), ein Ausbeuter (s. S. 54-56),
ein Besessener (s. S. 57-60), ein Desorientierter (s. S. 60/61), ein Gelähmter (s. S. 61/62),
ein Schwätzer (s. S. 63/64), ein Aggressor (s. S. 64-67), Mittelmaß (s. S. 67/68) oder
ein Gutmensch (s. S. 68-70)?
72 I. Die Charakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt
Von welchem dieser auf S. 71 noch einmal genannten Mängel fühle ich mich frei?
Wechselnde Ebenso wie früher das innere Moralgesetz religiös oder doch d u r c h ge-
Maßstäbe seilschaftliche T r a d i t i o n e n begründet w u r d e , so basierte das äußere auf
der öffentlichen Meinung. Diese stellt fest, w a n n Moralversagen v o r -
liegt u n d w a n n n i c h t . E r k e n n t sie auf Moralversagen, w i r d sozial be-
straft. D a der Staat meist dann a k t i v d u r c h Gesetze tätig w i r d , w e n n die
öffentliche M e i n u n g auf Moralversagen erkennt, u n d w e i l er solches
Moralversagen d u r c h Gesetze zu u n t e r b i n d e n versucht, k a n n i n m a n -
chen Fällen auch die strafende Sanktion des Staates das Übertreten der
N o r m e n der exogenen M o r a l zur Folge haben.
Die öffentliche M e i n u n g unterliegt einer D r i f t . Als vor noch n i c h t ein-
mal zehn Jahren v o n einem Unternehmen betriebsbedingt einige t a u -
send M i t a r b e i t e r entlassen w u r d e n , erkannte die öffentliche M e i n u n g
auf Moralversagen. Der Staat verschärfte den Kündigungsschutz.
W e n n dagegen heute, i m Zeitalter des Shareholder Value, viele tausend
Arbeiter entlassen w e r d e n , u n d das allein, u m das Betriebsergebnis
d u r c h Senken der Arbeitskosten zu verbessern, dann erkennt die öffent-
liche M e i n u n g keineswegs mehr auf Moralversagen. Wer andererseits
heute ein A u t o fährt, dessen A u s p u f f n i c h t m i t einem Katalysator aus-
gestattet ist, gilt als sozialer Schädling u n d w i r d den Repressionen der
Staatsgewalt u n t e r w o r f e n .
Dass ein M e n s c h , der sich u n k r i t i s c h dem U r t e i l der öffentlichen M e i -
nung aussetzt, über eine n i c h t unproblematische C h a r a k t e r s t r u k t u r
verfügt, ist offensichtlich. H i e r w i r d auch i n besonders schöner Weise
das Paradoxon des Titels dieses Buches deutlich: Charakterlosigkeit
w i r d als Sozialverträglichkeit verstanden, während eine realistische,
durchaus nicht sozialunverträgliche Sicht der Dinge als sozialunver-
träglich interpretiert werden k a n n .
Der Naive 75
Der Naive
Realitätsblind Gemeint ist hier keineswegs jede F o r m der Naivität. Naivität k a n n als
»Ursprünglichkeit« verstanden w e r d e n , d a n n ist sie kein Zeichen eines
charakterlichen Defizits. I m Gegenteil. A b e r auch eine andere F o r m der
Naivität w i r d eher belohnt als bestraft. Wer etwa Sachverhalte u n d de-
ren W e r t u n g bezweifelt, die i n einer bestrenommierten Tageszeitung
standen, w i r d i n bestimmten Kreisen als Kritikaster, als Störenfried, als
D u m m k o p f abgetan, w e i l er n i c h t zureichend naiv ist, das für w a h r zu
halten, was da geschrieben stand. Gemeint ist hier eine andere F o r m
von Naivität: Jene nämlich, die einen Sachverhalt n i c h t nach den
N o r m e n der öffentlichen M e i n u n g beurteilt. Das ist gefährlich, w e i l die
öffentliche M e i n u n g eine reale M a c h t darstellt. Der N a i v e erscheint
realitätsblind. Solche F o r m der Naivität zeugt wegen erheblicher Rea-
litätsablösung daher n i c h t n u r v o n einem C h a r a k t e r d e f i z i t , sondern
auch v o n einem i n t e r a k t i o n e i l e n H a n d i c a p .
Fallbeispiel
Technik vs. Moral ' i ^ I n einem C h e m i e w e r k geschieht eine technische Panne, die dazu
führt, dass eine ganze O r t s c h a f t m i t einer durchaus n i c h t ungefährli-
chen Substanz belastet w i r d . Der V o r s t a n d des Unternehmens beurteilt
den V o r g a n g als technische Panne, die niemals ganz auszuschließen ist,
w e n n w i r Menschen m i t C h e m i k a l i e n umgehen. Die öffentliche M e i -
n u n g dagegen beurteilt den Vorgang als Moralversagen. D a der Vor-
stand nahezu eine Woche benötigt, u m z u erkennen, dass es sich hier
nicht u m eine technische Panne handelte, sondern u m ein M o r a l v e r s a -
gen, hatte sich die V o r s t e l l u n g v o n einem sozialunverträglichem Ver-
halten des Unternehmens i n den Köpfen der meisten eingenistet. D i e
Stadt verschärfte als Folge die Umweltschutzauflagen. Das Werk büßt
daher n i c h t allein viel G e l d , sondern auch einen Teil seines Rufes ein.
Was hätte anders gemacht werden müssen? Möglichst noch ehe irgend-
ein Meinungsmacher den U n f a l l näher als Folge eines Moralversagens
hätte darstellen können, musste ein V o r s t a n d i n Fernsehen v o n dem
Sachverhalt berichten. Er hätte zu erläutern gehabt, welchen w i c h t i g e n
Z w e c k die ausgetretene Substanz gehabt hätte u n d dass er a u f g r u n d ei-
ner Güterabwägung zu dem Schluss gekommen sei, der N u t z e n des
Produktes sei unverhältnismäßig groß gegenüber einem recht u n w a h r -
scheinlichen technischen Ventilversagen. Er habe sich i n dieser Sache
offensichtlich getäuscht u n d übernehme die V e r a n t w o r t u n g für den
V o r f a l l . D a m i t wäre das Pulver der öffentlichen M e i n u n g so feucht ge-
w o r d e n , dass m a n d a m i t keine K u g e l mehr hätte abschießen können.
76 I. Die Charakterlosigkeit - 2. Wenn das äußere Moralgesetz fehlt oder nicht beachtet wird
Frühe Sexualität
Fallbeispiele
Keine Sünde ' i ^ N i c h t wenige junge Menschen, die, durchaus tief religiös, regel-
mäßig zur Beichte k o m m e n , denken gar n i c h t daran, sexuelles H a n -
deln, das v o n den Beteiligten als lustvoller Lebensvollzug w a h r g e n o m -
men w i r d , zu beichten. Das hat halt nichts m i t Sünde zu t u n .
Papstworte " i ' * Als der Papst Johannes Paul I I . 1 9 9 7 anläßlich seines Besuchs i n
F r a n k r e i c h i n Paris für die Jugend einen Gottesdienst hielt, fuhr ich zu-
sammen m i t zahlreichen Studenten m i t der M e t r o z u m Campus der
Universität zurück. Die S t i m m u n g der jungen Leute w a r ausgelassen.
A l l e w a r e n begeistert v o m Papst - als einem tollen Entertainer. »Was er
sagt, ist natürlich Quatsch« - w a r die unwidersprochene M e i n u n g al-
ler, die sich zu diesem Thema äußerten.
Der Fanatiker
Die Religions- A u f den ersten Blick mag es erstaunlich erscheinen, Fanatiker hier sie-
stifter dein zu lassen. Es g i b t sicherlich auch religiösen Fanatismus, der sich
selbst als religiös legitimiert erfährt. Für i h n ist Fanatismus eine F o r m ,
seinem religiösen Gewissen zu folgen. D e n n o c h ist jeder Fanatismus so-
zialunverträglich u n d d a m i t s o w o h l m o r a l i s c h als auch ethisch ver-
w e r f l i c h . Es ist erstaunlich, w i e wenige der großen Religionsstifter Fa-
n a t i k e r w a r e n : Weder Buddha noch Esra u n d Nehemia (die Stifter des
institutionalisierten Jahwekultes), weder Jesus noch M u c h a m m a d , we-
der Laotse noch Zoroaster - u n d dennoch gab es i n allen v o n ihnen ge-
78 I. Die Cl-iarakterlosigkeit - 2. Wenn das äußere Moralgesetz fehlt oder nicht beachtet wird
Fallbeispiele
Hindus und ' i ^ N a c h der Teilung der einst britischen K o l o n i e »Indien« i n Indien
Muslime u n d Pakistan entstanden zwischen den Religionsgruppen der H i n d u s
u n d der M u s l i m e erbittere, hasserfüllte Kämpfe, o b w o h l gerade der
H i n d u i s m u s Toleranz groß u n d über lange Jahrhunderte überzeugend
auf seine Fahnen geschrieben hatte. H i e r w i r d ein Phänomen deutlich,
das unsere Z e i t i n einigen Regionen des B a l k a n , des nahen Ostens u n d
Z e n t r a l a f r i k a s zu bestimmen scheint: Religiöse Überzeugungen verbin-
den sich m i t ethnischer Elite-Überzeugung z u einem grausigen Ge-
misch, das stets i n der Gefahr ist zu explodieren.
Der Asoziale 79
Unternehmens- ' i * Es wäre n u n falsch, die Intoleranz als Wesen des Religiösen zu se-
sanierer hen. A b e r eine Gefahr hat das Religiöse i n so mancher A u s d r u c k s f o r m
an sich: Es führt zur A u s b i l d u n g ideologischer E l i t e n , das sind Eliten,
die ihren elitären A n s p r u c h aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Glaubensgemeinschaft, Ethnie, Berufsgruppe . . . herleiten. Ich kenne ei-
nige (ökonomisch) sehr erfolgreiche Unternehmenssanierer, die ihrem
Gewerbe m i t geradezu fanatischem Eifer n a c h k o m m e n - gleichgültig,
welche u n d wie viele Menschen da auf der Strecke bleiben.
Der Asoziale
Fallbeispiele
Der Trainer ' i ^ E i n Management-Trainer fragt sich bei jeder Anfrage nach seinen
Diensten an erster Stelle: »Was nützt es mir?« K o m m t er zu einem posi-
tiven Ergebnis, ist er fähig u n d bereit, Techniken z u v e r m i t t e l n , deren
A n w e n d u n g längst als überholt, ja als sozial u n d ökonomisch schädlich
g i l t . Die Hauptsache ist i h m das schnelle G e l d . Das Merkwürdige a n
der Sache ist: Er leidet keinesfalls a n einem M a n g e l an Aufträgen. A n -
dererseits ist es selten, dass er z w e i m a l ins gleiche U n t e r n e h m e n gerufen
wird.
Der Vertreter ' i ^ Ich kenne einen Versicherungsvertreter, der sich bewusst u n d vor-
sätzlich die Unerfahrenheit seiner K l i e n t e l z u m eigenen V o r t e i l zunutze
m a c h t . 2 0 Es hat d a m i t erheblichen persönlichen finanziellen E r f o l g u n d
ist bei seinem Bereichsleiter, der o f f e n s i c h t l i c h v o r den M a n i p u l a t i o n e n
seines M i t a r b e i t e r s O h r e n u n d A u g e n verschließt, recht angesehen. Er
passt sich den N o r m e n seines sozialen Feldes (scheinbar oder gar an-
Der Rächer " i " * V o r Jahren begegnete ich einmal einem jungen M a n n , der unschul-
dig Jahre i n einer Justizstrafanstalt verbringen musste. Erst einige Z e i t
nach seiner regulären Strafverbüßung w u r d e der w a h r e Schuldige er-
m i t t e l t . Er schwor sich Rache a n einer Gesellschaft, die Unschuldige
einsperrt, ohne ihnen w i r k s a m e M i t t e l zur Verfügung z u stellen, sich
ihrer H a u t zu w e h r e n . Zunächst w a n d t e er jene Techniken an, die er i m
Knast gelernt hatte: Er brach i n A u t o s u n d Häuser ein. Er raubte auf
offener Straße Handtaschen. E n d l i c h vergewaltigte er mehrere Frauen.
Eine dieser Vergewaltigungen führte tatsächlich zur A n k l a g e , u n d er
w u r d e , w e i l er vorbestraft (sie!) war, z u vier Jahren Freiheitsstrafe
(ohne Bewährung) v e r u r t e i l t . D i e anderen Straftaten w u r d e n n i c h t
entdeckt. A b e r hier w u r d e ein M e n s c h i n die Antisozialität getrieben,
sicher wegen seiner Ich-Schwäche, v o r allem aber wegen des Versagens
des gesellschaftlichen Umfeldes. Sein A n t r a g auf eine psychotherapeuti-
sche Behandlung, u n m i t t e l b a r nach der ersten Haftentlassung gestellt,
w u r d e v o n der Krankenkasse negativ beschieden.
Das soziale Es geht hier u m den Mitläufer i n einem faschistoiden sozialen System.
System und sein Das k a n n ein Staat, eine Partei, ein U n t e r n e h m e n , eine Kirche etc. sein.
Zweck »Faschistoid« nennen w i r ein soziales System, dass sich selbst z u m
höchsten p o l i t i s c h e n , ökonomischen und/oder religiösen G u t macht.
D a alle sozialen Systeme der Menschen wegen existieren u n d n i c h t
etwa u m g e k e h r t , ist die inhumane S t r u k t u r eines solchen Systems of-
fensichtlich. Es macht die Menschen z u m M i t t e l , z u m I n s t r u m e n t seiner
eigenen Ziele. D i e Selbstzwecklichkeit sozialer Systeme ist n u n keines-
wegs etwas, das einem sozialen System a n sich f r e m d wäre. Solange
dem n i c h t bewusst entgegengesteuert w i r d , entartet jedes soziale Sys-
tem faschistoid. Menschen, die sich den N o r m e n eines solchen Systems
anpassen, w e r d e n o f t erheblichen E r f o l g haben. O f t entschuldigen,
n e i n ! idealisieren sie i h r Verhalten m i t Sätzen w i e : »Du bist nichts, dein
V o l k ist alles!« - »Es k o m m t d a r a u f an, dass die Kirche wächst, m e i n
Schicksal ist da unerheblich!«
82 I. Die Cliarakterlosigkeit - 2. Wenn das äußere Moralgesetz fehlt oder nicht beachtet wird
Fallbeispiele
Bestandsaufnahme
Verhalte ich mich manchmal ähnlich wie ein Naiver (s. S. 75), Fanatiker (s. S. 77-79)
oder Asozialer (S. 79-81)?
Habe ich Ähnlichkeit mit einem sittlichen Menschen, der sich einem faschistoiden
System unterwirft (s. S.81-83)?
Von welchem dieser auf S. 84 noch einmal genannten Mängel fühle ich mich frei?
Was ist Sittlich- Bisher hahe ich Ihnen Verhaltensweisen vorgesteüt, die - o f t unbewusst
keit? S. S. 15 f. u n d n i c h t reflektiert - i n einer sittlichen G r u n d o r i e n t i e r u n g gründen.
Jetzt sollen Verhaltensweisen vorgestellt w e r d e n , die weder m i t einem
inneren noch m i t einem äußeren Moralgesetz verträglich sind, denen
eine solche G r u n d o r i e n t i e r u n g fehlt. Dabei geht es keineswegs u m eine
moralische V e r u r t e i l u n g . Mögen Menschen sich auch noch so sozial
unverträglich verhalten - w i r wissen n i c h t , aus welchen M o t i v e n sie
sich eben so verhalten. I n aller Regel spielen bei solchem Verhalten
auch pathologische Mechanismen eine Rolle, i n die w i r uns schwer h i n -
eindenken können.
Der Einzelgänger
Fallbeispiele
Ich bin der ^i^ Ich kenne einen Kollegen, der sein Einzelgängertum aus A r r o g a n z
Größte! ganz einfach d a m i t begründet, dass er m i t keinem Menschen beruflich
zusammenarbeiten könne, w e i l alle weniger gut seien als er selbst. Ein
ähnliches S y m p t o m e n t w i c k e l n auch manche Manager, die zutiefst
d a v o n überzeugt sind, dass sie alles besser machen könnten als ihre
M i t a r b e i t e r . M i t a r b e i t e r muss m a n haben (a) des Prestiges w i l l e n u n d
(b) w e i l der Tag n u r 24 Stunden hat. Sie sind also n u r Folge kategoria-
1er Unzulänglichkeiten. Es wäre n u n falsch anzunehmen, dass diese
Personen ein befriedigendes Familienleben führten. M i t u n t e r erwarten
sie v o n i h r e m Partner jene Perfektion, die sie bislang nur bei sich fan-
den, oder es fehlt ihnen a u f g r u n d ihrer Fehleinstellung die Z e i t , die für
die K u l t u r jeder Partnerschaft aufzubringen ist.
Menschen- ^i^ Es ist m i r ein Jurist (Strafrichter) bekannt, der alle Menschen ver-
verachtung achtet wegen ihrer Unfähigkeit, k l a r zu denken. Recht v o n Unrecht zu
unterscheiden, Emotionalität u n d Rationalität voneinander zu trennen.
Die glasklare Vernünftigkeit w a r für i h n das, was einen Menschen z u m
Menschen m a c h t . Ich v e r m u t e , dass auch er - w e m ginge das anders? -
diese H a l t u n g i n seine Urteile einfließen ließ. Z u diesem Z u s a m m e n -
hang findet sich manche Weisheit bei den Revolutionären i n Frankreich
nach 1 7 8 9 . Sie setzten i n N o t r e Dame eine D i r n e auf den A l t a r - als
Göttin der V e r n u n f t . Vielleicht erkannten sie als erste, dass die Ver-
n u n f t keine absoluten N o r m e n kennt u n d dass das, was vernünftig ist,
sich n i c h t absolut u n d allgemein v e r b i n d l i c h ausmachen lässt. Die Ver-
n u n f t b u h l t vielmehr m i t jedem, der genügend dafür zu zahlen bereit
ist. U n d i h r Preis ist h o c h : Es ist die A r r o g a n z , die n i c h t zu sehen u n d
erst recht n i c h t z u akzeptieren v e r m a g , dass w i r Menschen sehr viel
mehr v o n unserer Emotionalität u n d Sozialität geleitet w e r d e n als v o n
unserer Rationalität.
Der Unangepasste
Jedes System Der M e n s c h , der sich n i c h t an sozial akzeptierten, religiös oder sozial
fordert vorgegebenen Normen o r i e n t i e r t , gilt als unangepasst. Anpassung
Anpassung bezieht sich i m m e r auf ein meist größeres. N o r m e n setzendes soziales
System, das selbst definiert, was i n i h m als r i c h t i g gilt u n d was n i c h t .
Fallbeispiele
Der Überangepasste
Die unbemerkte Überangepasste Menschen, die bereit sind, ihre eigenen Wertvorstel-
Schwäche lungen aufzugeben, n u r u m dazuzugehören, gibt es wie Sand am Meer.
V e r m u t l i c h ist das Fehlen eines gültigen inneren u n d äußeren M o r a l -
gesetzes für diese Charakterlabilität v e r a n t w o r t l i c h . Das Problem be-
steht d a r i n , dass die weitaus meisten dieser Menschen sich für ausge-
sprochen c h a r a k t e r v o l l halten u n d glauben, moralischen N o r m e n zu
folgen. D o c h dieses Wahngebäude bricht unter geringer Belastung zu-
sammen. Andererseits haben viele überangepasste Menschen beruf-
lichen u n d privaten E r f o l g . Charakter, zu dem eine stabile u n d belast-
bare sittliche O r d n u n g gehört, würde ihnen z u m H a n d i c a p .
Fallbeispiele
Noch einmal: ' i ^ Das klassisch gewordene Beispiel für solche Überangepasstheit
Das Milgram- stellt das M i l g r a m - E x p e r i m e n t (s. S. 4 7 f.) vor. Sein Ergebnis ist klar:
Experiment O f f e n s i c h t l i c h sind w i r Menschen, sobald w i r i n ein soziales System (in
unserem Fall ein aus den I n t e r a k t i o n e n dreier Personen k u r z f r i s t i g k o n -
struiertes System) eingebunden sind, bereit, viele unserer moralischen
Überzeugungen über B o r d zu w e r f e n . Es steht also durchaus zu v e r m u -
ten, dass die meisten Menschen überangepasst sind.
Wes' Brot ich " i " Eine traurige E r f a h r u n g machte ich beim A u f b a u einer auf Sittlich-
ess ... keit gründenden U n t e r n e h m e n s k u h u r i n einer F i r m a , deren Geschäfts-
führer dieses Vorhaben stark unterstützte. N a c h d e m er aus Altersgrün-
den ausgeschieden war, t r a t ein anderer an seine Stelle, der seine - rein
ökonomisch orientierten - Vorstellungen durchzusetzen versuchte. Sol-
che Vorstellungen richten sich b e k a n n t l i c h m o n o p o l a r an ökonomi-
schen Größen aus u n d haben nichts m i t K u l t u r zu t u n . Es w a r für m i c h
erschütternd zu sehen, wie i n k a u m zwei Jahren die gesamte Führungs-
mannschaft sich seinem Stil u n d seinen Vorstellungen anpasste. M a n
könnte hier natürlich auch v e r m u t e n , dass es u m die Angst ging, an
Einfluss zu verlieren, vielleicht gar entlassen zu w e r d e n . D o c h dies w a r
- soweit ich es beurteilen k a n n - n i c h t der eigentliche G r u n d der K e h r t -
wende, sondern einfach der charakterliche Defekt deS' Überangepasst-
seins. Er scheint sich zu rentieren. Charakter zu zeigen wäre hier ein
Flandicap gewesen.
Der Spielverderber
Fallbeispiele
phrase killing ' i ^ E i n junger M a n n - jenseits der Pubertät - brach i n nahezu jedes
Gespräch, das andere miteinander führten, ein, u n d versuchte d u r c h
seine keineswegs als k o n s t r u k t i v z u bezeichnenden I n t e r a k t i o n e n das
Gespräch zu stören (phrase killing). M i t u n t e r brach er d u r c h scheinbar
geistvolle Bemerkungen ins Gespräch ein, ein anderes M a l versuchte
er die N i c h t i g k e i t des Gesprächsthemas aufzuzeigen, wieder ein ande-
res M a l erzählte er irgendeine U n b i l l , die i h m w i d e r f a h r e n sei. Einige
Spielverderber haben sich auf eine dieser M e t h o d e n spezialisiert: D u r c h
scheinbar interessante Wortspielereien beenden sie das Gespräch. Das
w i r d man einige M a l verzeihen, w e i l Wortspielereien durchaus w i t z i g
sein können - auf die Dauer aber w i r d der Spielverderber aus der G r u p -
pe ausgeschlossen.
Kein Ende in Sicht Zirkulär (Icreisförmig) nennt man ein Streiten d a n n , w e n n immer das-
selbe w i e d e r h o l t w i r d , ohne auf Einwände oder andere Formen der Ein-
lassungen ernsthaft einzugehen. D e r zirkulär Streitende macht jeden
Versuch, ein k o m m u n i k a t i v e s Spiel aufzubauen, i n dem m a n gewinnen
oder verlieren k a n n , zunichte. Er reduziert die k o m m u n i k a t i v e Situati-
o n , die an sich dialogisch aufgebaut ist, auf einen M o n o l o g . Der Part-
ner h a t zuzuhören. Jede Bemerkung, jeder E i n w a n d gar gilt als Stör-
größe oder gar als A u f f o r d e r u n g , die ganze Geschichte - meist m i t
ähnlichen W o r t e n - noch einmal zu beginnen. Die Prozedur verstößt
gegen die Regel des äußeren Moralgesetzes, denn das geht - m i t u n t e r
fälschlich - d a v o n aus, dass i m Prinzip alle Meinungsverschiedenheiten
entweder gütlich oder streitig beizulegen sind. Es gilt jedoch, bevor
m a n den zirkulär Streitenden h a r t beurteilt, auch z u bedenken, dass
solch zirkuläres Streiten i h m dazu dient, sein Selbstbild (Selbstkon-
strukt) zu stabilisieren. Er w i r d dieses Vorgehen deshalb besonders gern
p r a k t i z i e r e n , w e n n sein Selbstbild schwankend w u r d e oder seine K o n -
turen zu verlieren d r o h t .
Fallbeispiele
Olle Kamellen ' i * Zirkuläre Streitereien sind aber auch i n anderen Sozialgebilden
oder U n t e r n e h m e n durchaus n i c h t selten. Es werden etwa einem M i t a r -
beiter i m m e r wieder dieselben V o r h a l t u n g e n über o f t längst vergangene
Sachverhalte gemacht. Ich beriet einmal ein U n t e r n e h m e n , i n dem sol-
che k o m m u n i k a t i v e n S t r u k t u r e n i n die Unternehmensführung einge-
gangen w a r e n . Fast jede Konferenz endete i n Vorwürfen oder A n k l a g e n
über Sachverhalte, die schon längst v o n der n o r m a t i v e n K r a f t des Fak-
tischen a u f den M i s t h a u f e n der Unternehmensgeschichte geschaufelt
w o r d e n w a r e n . So ging es z. B. i n einer Bank u m einen faulen u n d
schließlich abzuschreibenden K r e d i t . Der für diese Kreditvergabe Ver-
a n t w o r t l i c h e w u r d e i n zahlreichen Fällen, i n denen er eine Kreditver-
96 I. Die Cliaral<terlosigl<eit - 3. Wenn jede Sittliclnl<eit felilt
Fallbeispiele
Unausgespro- ^ i ^ Ein Ehemann unterhält sich m i t seiner Erau über die gemeinsamen
chene Ängste Kinder. Er ist der A n s i c h t , dass sie die schulischen Aufgaben der K i n d e r
zu w e n i g begleite. So eröffnet er das Gespräch m i t der Erage, ob sie sich
überfordert fühle. Sie v e r m u t e t , er w o l l e w o h l einmal wieder das The-
ma ihrer Halbtagsbeschäftigung zur Sprache bringen, u m i h r dieses
Feld der S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g zu nehmen. Deshalb reagiert sie entspre-
chend heftig u n d verteidigt ihre Halbtagsbeschäftigung. E i n Streit ist
die Folge, w e i l beide Partner ihre tatsächlichen Interessen einander
nicht m i t t e i l e n : Er spricht n i c h t v o n der mangelnden Sorge u m die
schulischen Leistungen ihrer K i n d e r u n d sie n i c h t über die Bedeutung
ihrer außerhäuslichen A r b e i t für ihr Selbstwertgefühl.
Indirekter Tadel " i " Ein Lehrer tadelt einen Schüler, w e i l der i h n d u r c h sein ständiges
und neugieriges Fragen aus dem K o n z e p t b r i n g t . A b e r er tadelt n i c h t
eben dieses, sondern seine Leistungen i n Englisch, die i n keiner Weise
erwarten ließen, dass sie sich ernsthaft verbessern würden. I n seinem
Z o r n greift er also zur verdeckten K o m m u n i k a t i o n u n d w i r d dabei de-
m o t i v i e r e n d ungerecht.
Der Gaffer
Fallbeispiele
Beerdigung 'i" Ich kenne einige Zeitgenossen, die - meist schon aus dem Berufsle-
ben ausgeschieden - gern zu Beerdigungen auch v o n unbekannten
Menschen gehen, u m das Leid der Angehörigen zu begaffen. D a z u
k o m m t m i t u n t e r noch ein w e n i g Schadenfreude, w e i l ein Mensch i n
jüngeren Jahren sterben musste, als m a n selbst inzwischen erreicht hat.
Der Betroffene
Solidarität ohne Es scheint Brauch geworden zu sein, sich betroffen zu fühlen. Diese Ge-
Folgen fühlsäußerung b r i n g t soziale A n e r k e n n u n g m i t sich u n d scheint somit
dem H o r i z o n t des sozialen Gewissens angemessen zu sein. Tatsächlich
steht dahinter weder der A n s p r u c h eines inneren noch eines äußeren
Moralgesetzes. Bestenfalls ist es eine Spur v o n M i t l e i d , welche Betrof-
fenheit auslöst. O f t ist es jedoch n u r eine A r t v o n R i t u a l , das zu a k t i -
vieren, »was sich gehört«. So sind n i c h t wenige Menschen betroffen
über das Schicksal der Menschen i m Südsudan, v o n den Menschen, die
Der Betroffene 99
Fallbeispiele
Der Dumme
Wer es besser Dumm ist nicht der M e n s c h , der w e n i g weiß, sondern jener, der über
wissen könnte die Qualität seines tatsächlichen oder vermeintlichen Wissens i r r t .
D u m m ist also ein M e n s c h , der etwa die primäre Redlichkeitsregel
nicht beherrscht u n d so seine Gewissheiten m i t W a h r h e i t verwechselt.
Diese Unfähigkeit beruht auf einer Unfähigkeit, zwischen psychischen
Zuständen (Gewissheiten) u n d semantischen Qualitäten (einer Aussa-
ge, die frei ist v o n I r r t u m u n d Täuschung) zu unterscheiden. D u m m h e i t
ist also insofern eine Charaktereigenschaft, w e i l sie in einer f u n d a m e n -
talen U n r e d l i c h k e i t gründet. Sie w i r d zu einem persönlichen u n d gesell-
schaftlichen H a n d i c a p , w e n n sie zu fixen Ideen (realitätsabgelösten
K o n s t r u k t b i l d u n g e n ) führt u n d so das persönliche, aber auch das w i r t -
schaftliche u n d politische Geschehen maßgeblich m i t b e s t i m m t .
M i t dem Thema Dummheit haben sich viele Dichter u n d Denker he-
rumgeschlagen. So schreibt F r i e d r i c h Schiller i n der »Jungfrau v o n O r -
leans«: » M i t der D u m m h e i t kämpfen Götter selbst vergebens«. Johann
N e p o m u k N e s t r o y vergleicht die D u m m h e i t m i t einem Felsen, »der u n -
erschüttert dasteht, w e n n auch ein M e e r v o n V e r n u n f t i h m seine Wogen
an die Stirn schleudert«. I m m a n u e l K a n t definiert D u m m h e i t als einen
M a n g e l an U r t e i l s k r a f t , dem n i c h t abzuhelfen sei.2' Robert M u s i l hielt
am 1 1 . M ä r z 1 9 3 7 einen gewagten V o r t r a g , i n dem er v o n dem Uberle-
genheitsgefühl sprach, das die D u m m h e i t d o r t verleihe, w o der Mensch
»im Schutz der Partei, N a t i o n , Sekte oder K u n s t r i c h t u n g a u f t r i t t u n d
W i r statt Ich sagen darf.« E. Gürster interessiert sich für die D u m m h e i t
als das verbreitetste aller menschlichen Phänomene, w e i l sie »unter den
verschiedensten weltanschaulichen Vorzeichen den Begriff der freien
selbstverantwortlichen Person als dem Zeitalter der industriellen M a s -
sengesellschaft n i c h t mehr angemessen preiszugeben beginnt«.26
Offensichtlich ist D u m m h e i t an erster Stelle eine V e r d u n k l u n g der Er-
kenntnis, die schicksalhaft unserer Z e i t anhaftet. D e n n o c h ist sie inso-
w e i t ein C h a r a k t e r d e f i z i t , als es möglich ist, sich ihrer zu entledigen.
Selbstverständlich sind die Beispiele für die k o l l e k t i v e w i e die i n d i v i d u -
elle D u m m h e i t unzählbar, dennoch seien einige wenige hier angeführt.
Fallbeispiele
Newtons Gesetze ' i ' D i e Newtonschen Fallgesetze sind eine Fortsetzung u n d Präzisie-
rung der spätmittelalterlichen Impetus-Theorie, nach der die Fallge-
25 A A 7 , 2 0 4 .
26 M a c h t u n d G e h e i m n i s der D u m m h e i t , 1 9 6 7 , 122.
Der Dumme 101
Ökologie und ' i ^ Eine gefährliche F o r m der D u m m h e i t ist die Diskussion u m die
Ökonomie Globalisierung der Industrie u n d der L a n d w i r t s c h a f t . W e n n dieser ö k o -
nomischen Globalisierung nicht eine ökologische vorausgeht (wie es
die längst vergessene Konferenz v o n R i o deutlich zur Sprache brachte),
dann werden große Teile der Menschheit vor einer ökologischen Kata-
strophe stehen. H i e r überlagert die ökonomische Raffgier die ökolo-
gische V e r n u n f t i n einer Weise, die erstere n u r i n der Kategorie der
D u m m h e i t w i e d e r f i n d e n lässt. D i e D u m m h e i t e n t p u p p t sich als ein
H a n d i c a p , dem große Teile der Menschheit z u m Opfer fallen können,
w e n n sie nicht sehr bald endet. Aber die Geschichte kennt n u r wenige
Beispiele v o n D u m m h e i t , die bewusst überwunden w u r d e , aber zahlrei-
che, i n denen die D u m m h e i t sich selbst liquidierte.
Shareholder Value ' i ^ Fast jeder, der sich etwas gründlicher m i t Fragen der Ö k o n o m i e be-
schäftigte, weiß, dass für den nachhaltigen ökonomischen E r f o l g we-
nigstens sechs Faktoren erheblich sind: 1 . die menschliche A r b e i t , 2.
das betriebsnotwendige K a p i t a l , 3. eine zureichend intakte U m w e l t (sie
ersetzt weitgehend den klassischen Faktor »Grund u n d B o d e n « ) , 4 . die
geistige u n d lokale M o b i l i t ä t , 5. die Unterstützung v o n Kreativität ( =
das p r o d u k t i v e Denken gegen Selbstverständlichkeiten) u n d I n n o v a -
tionsvermögen u n d 6. die Unternehmenskultur, die neben der ö k o n o -
mischen V e r a n t w o r t u n g auch eine ethische kennt (etwa das innere und
äußere Beziehungsmanagement, die E n t f a l t u n g der fachlichen u n d so-
zialen Begabungen der M i t a r b e i t e r i m Führungsgeschehen, die Team-
fähigkeit). Dennoch redet m a n auf so mancher H a u p t v e r s a m m l u n g
v o m Shareholder Value ( m i t u n t e r falsch verstanden als Verbesserung
des Bilanzgewinns) als dem wichtigsten Unternehmensziel. Diese ein-
seitige Betrachtung, wie sie i n der F i x i e r u n g a u f den Faktor K a p i t a l
deutlich w i r d , zeugt - wie jede Einengung des Blickfeldes - v o n einer
beachtlichen D u m m h e i t . Auch hier w i r d wieder deutlich, dass die
D u m m h e i t ein wirtschaftliches H a n d i c a p ist.
Bestandsaufnahme 103
Bestandsaufnahme
Gehöre ich zu den zirkulär Streitenden (s. S. 95/96) oder verdeckt Kommunizierenden
(s. S. 96/97)?
Habe ich Ähnlichkeit mit dem, was in diesem Buch als Spielverderber (s. S. 93/94), Gaffer
(s. S. 97/98), Betroffener (s. S. 98/99) oder Dummer (s. S. 100-102) beschrieben wird?
Von welchem dieser auf S. 103 noch einmal genannten Mängel fühle ich mich frei?
»Liebe das Wie eingangs (s. S. 14 f.) schon erläutert, hat sich der sittlich orientier-
Leben!« - Was te Mensch a u f g r u n d einer v e r a n t w o r t e t e n ethischen Reflexion für ein
heißt das im höchstes sittliches G u t entschieden, v o n dem er seine obersten h a n d -
Alltag? lungsleitenden Werte herleitet und versucht, diese i n seinem H a n d e l n
praktisch zu machen. M i t den meisten wissenschaftlichen Vertretern
ethischer Reflexionen hatten w i r uns für die B i o p h i l i e m a x i m e »Liebe
das Leben« u n d d a m i t für das »personale Leben u n d dessen Sicherung
u n d Entfaltung« als höchstes sittliches G u t entschieden.
Es gibt kein Leben W i e der charakterlose oder charakterschwache Mensch nicht sein Le-
ohne Bindung ben lebt, sondern v o n inneren und/oder äußeren Zwängen gelebt w i r d ,
so ist das entscheidende K r i t e r i u m für einen Menschen, der die Bildung
seines Charakters verantwortungsbewusst k u l t i v i e r t e , die Fähigkeit
und Bereitschaft, sein Leben, ein Leben aus erster F l a n d , zu leben. Dazu
gehört unabdingbar die E i n b i n d u n g i n soziale Felder der Partnerschaft,
Familie, Berufswelt, U m w e l t . . . Dass n u r ein solches Leben für sich den
A n s p r u c h erheben k a n n , dem B i o p h i l i e p o s t u l a t zu gehorchen, ist offen-
sichtlich. Ein Mensch, der gelebt w i r d , entfaltet n i c h t sein eigenes Le-
ben, sondern w i r d z u m Sklaven äußerer oder innerer Gegebenheiten
und Z w ä n g e .
Die für unsere Überlegungen zentrale Frage lautet n u n : W i r d ein sol-
cher Mensch seinen Charakter als H a n d i c a p erfahren, oder ist Charak-
ter gar - unabhängig v o n aller subjektiven W a h r n e h m u n g - ein o b j e k t i -
ves Handicap?
Die Zivilcourage
Gegen den Strom Sie zeigt sich v o r allem, w e n n ein M e n s c h seine begründete M e i n u n g
selbst d a n n vorträgt, w e n n sie unpopulär sein sollte. Unpopulär ist eine
M e i n u n g d a n n , w e n n sie den k o l l e k t i v e n Überzeugungen eines sozialen
Systems w i d e r s p r i c h t , vielleicht Inhalte des allgemeinen Bewusstseins
oder Selbstverständlichkeiten systemischer S t r u k t u r e n i n Frage stellt.
Sicherlich muss Z i v i l c o u r a g e beachten, o b überhaupt eine Chance be-
steht, selbstverständliche Überzeugungen oder S t r u k t u r e n zu labilisie-
ren oder gar zu verändern. Beim Bedenken der Folgen ist jedoch eher
an die O p t i m i e r u n g (= H u m a n i s i e r u n g ) der systemstiftenden Interak-
t i o n e n z u denken als a n die eigene Angst, sich ins Abseits z u stellen.
Andererseits k a n n Z i v i l c o u r a g e zu D o n q u i c h o t t e r i e entarten, w e n n sie
n i c h t die Verhältnismäßigkeit u n d die möglichen negativen Folgen für
den Couragierten m i t b e d e n k t . I n unserem mitteleuropäischen Denken
w i r d hier jedoch die Verhältnismäßigkeit des M i t t e l s des Widerspruchs
i n seinen Folgen meist überschätzt. M a n c h e Menschen halten auch da
den M u n d , w o sie sprechen sollten u n d nach den Forderungen der Bio-
p h i l i e - M a x i m e auch sprechen müssten. Z i v i l c o u r a g e n i m m t nichts für
selbstverständlich, sondern fragt nach Optimierungstrategien jenseits
aller Selbstverständlichkeiten. Sie ist bereit, auch eigenen Schaden i n
K a u f zu nehmen, w e n n i h r Bemühen erfolgreich sein w i r d . H i e r gilt es
110 II. Das Leben aus erster Hand - 1 . Die primären Tugenden
Fallbeispiele
Kritik an der ' i ' A u c h das berühmte Interview, das der ehemalige Bundespräsident
Regierung R i c h a r d v o n Weizsäcker dem Stern gab, w a r ein solcher Ausweis v o n
Z i v i l c o u r a g e , die i h m H e r r Dr. H e l m u t K o h l nicht vergessen mochte.
Weizsäcker g r i f f d a r i n die Machtversessenheit u n d Machtvergessen-
heit der führenden Politiker der damals herrschenden liberal-konser-
vativen Regierung K o h l a n . Selbstverständlich w a r e n die angegriffe-
nen Parteifunktionäre u n d Regierungsmitglieder nicht i n irgendeinem
weltanschaulichen Sinne liberal-konservativ, sondern allein orientiert
am M a c h t e r h a l t , den sie bereit w a r e n , auch m i t sozial-unverträglichen
M i t t e l n zu sichern.
Katholische ledige 'i^ I n einem Fernsehinterview des W D R stellte ich fest: »Ich halte alle
Mütter Bischöfe einschließlich des Bischofs v o n R o m für widerliche Heuchler,
w e n n sie ledige M ü t t e r aus dem k i r c h l i c h e n Dienst entlassen!« Diese
Worte zogen ihre Kreise. A b e r sie hatten einigen E r f o l g : Es w u r d e n i m
deutschen Sprachraum k a u m noch ledige Mütter, die etwa i h r D i p l o m
in Theologie bestanden hatten, aus dem k i r c h l i c h e n Dienst entlassen.
H i e r erwies sich Charakter, o b j e k t i v gesehen, n i c h t als H a n d i c a p , o b -
w o h l m i r einige meiner M i t m e n s c h e n bitterböse Briefe schrieben.
Kann es Dogmen 'i' Ich schrieb 1997 ein Buch über »Nachkirchliches Christentum«, i n
geben? dem ich nach dem heutigen Stand unseres soziologischen u n d h i r n p h y -
siologischen Wissens die unschwer zu begründende These vertrat, dass
es i m nicht empirisch fassbaren Bereich keine D o g m e n geben könne.
Ein D o g m a ist ein w a h r e r Satz, frei v o n Täuschung u n d I r r t u m . D a sol-
Die Konflil<tfäliigkeit 111
Die Konflil<tfähigkeit
Konflikte lieben Sie beweist sich vor allem i n der Eähigkeit u n d Bereitschaft, n o t w e n d i -
lernen? ge K o n f l i k t e unter V e r w e n d u n g verhältnismäßiger M i t t e l anzugehen
u n d nach Möglichkeit zu beheben. N o t w e n d i g sind vor allem K o n f l i k -
te mit einem K o n f l i k t p a r t n e r , der d u r c h sein H a n d e l n oder Unterlassen
anderen und/oder sich selbst schadet. Diese wichtigste F o r m der K o n -
fliktfähigkeit setzt voraus, dass man den rechten Z e i t p u n k t wählt, den
K o n f l i k t anzusprechen u n d i h n - w e n n möglich - zu allgemeinem N u t -
zen löst. Der rechte Z e i t p u n k t ist dann g e k o m m e n , w e n n beide Partner
i n einem e m o t i o n a l u n d sozial ausgeglichenen Feld miteinander spre-
chen können. O f t g i l t es dieses Feld etwa d u r c h vertrauensschaffende
u n d angstlösende H a n d l u n g e n erst aufzubauen.
112 II. Das Leben aus erster Hand - 1 . Die primären Tugenden
Fallbeispiele
Wenn nur ein ' i ' K o n f l i k t e können auch einseitig sein. Einer der Partner m e i n t , alles
Partner leidet sei i n O r d n u n g , der andere aber leidet unter irgendeinem i n t e r a k t i o n e l -
len D e f i z i t so sehr, dass m a n sicherlich v o n einem K o n f l i k t sprechen
k a n n . Solche m o n o p o l a r e n K o n f l i k t e sind m i t u n t e r sehr schwer auszu-
machen, vor allem d a n n , w e n n der nicht-leidende K o n f l i k t p a r t n e r sehr
d o m i n a n t ist u n d die M e i n u n g v e r t r i t t , er mache alles r i c h t i g u n d wer-
de allen gerecht. - I n der Therapie w a r jedes v o n vier Paaren gehalten,
einen K o n f l i k t vorzustellen. Eine Erau sah ihren wesentlichen K o n f l i k t
d a r i n , dass i h r M a n n sie niemals d u r c h W o r t e dafür anerkannt hatte,
dass sie de facto allein ihren gemeinsamen Sohn großgezogen habe.
Dieser K o n f l i k t saß z u m Entsetzen des männlichen Partners so tief,
dass seine Frau, u n m i t t e l b a r auf diese Erzählung h i n , i n Tränen aus-
brach u n d f l u c h t a r t i g den Seminarraum verließ. Es dauerte Stunden,
bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dieser K o n f l i k t - w i e jeder m o n o p o -
lare - zeigt, dass die Partner allenfalls sehr oberflächlich u n d auf Baga-
tellen f i x i e r t miteinander über ihre unterschiedlichen Bedürfnisse, I n -
teressen, Werteinstellungen, E r w a r t u n g e n an den Partner u n d die
Partnerschaft gesprochen hatten. Leider k o n n t e ich das Paar n i c h t w e i -
ter begleiten, aber ich h o f f e , dass sie i h r ängstliches Schweigen u n d Ver-
schweigen überwinden k o n n t e n . Die Charaktere beider Partner w a r e n
s u b o p t i m a l e n t w i c k e l t : Der des M a n n e s , w e i l er niemals daran dachte,
dass seine Bedürfnisse, E r w a r t u n g e n , Interessen u n d Werteinstellungen
wesentlich u n d grundsätzlich anders sein könnten als die seiner Partne-
r i n . Der der Frau, w e i l sie niemals den M u t f a n d zu sagen, was i h r e x i -
stentiell w i c h t i g war. Der M a n g e l i n den charakterlichen S t r u k t u r bei-
der erwies sich als erhebliches Flandicap.
Normen sind Epikie bezeichnet nach Aristoteles die »Tugend«, gegen eine N o r m
veränderlich (Gesetzesnorm, Gehorsamsnorm, Standesnorm, moralische N o r m . . . )
zu verstoßen, w e n n i n der k o n k r e t e n H a n d l u n g s s i t u a t i o n ein »vernünf-
tiger Normgeber« die N o r m anders festgestellt hätte, u m ein bestimm-
tes Z i e l z u erreichen: W e n n also die Beobachtung der N o r m dazu
geführt hätte, dass das Z i e l , das d u r c h die Beobachtung der N o r m an-
Die Epikie oder der konstruktive Ungehorsam 115
Fallbeispiele
Die rote Ampel ' i * Es ist das Z i e l eines vernünftigen N o r m g e b e r s , den Straßenverkehr
so z u regeln, dass d a m i t Schaden v o m G e m e i n w o h l abgewendet u n d
auch die U m w e l t n i c h t mehr als z u m Erreichen dieses Zieles n o t w e n d i g
belastet w i r d . Wer nachts v o r einer auf R o t geschalteten A m p e l anhält
u n d sie w i e ein Stoppschild behandelt, o b w o h l er sicher sein k a n n , dass
beim vorsichtigen E i n f a h r e n i n die K r e u z u n g kein Verkehrsteilnehmer
auch n u r behindert w i r d , handelt der Tugend der Epikie zuwider. Er
ist ein (zwar gesetzestreuer) Eeigling, w e i l er den Gesetzeswillen eines
»vernünftigen Gesetzesgebers« d u r c h sein Verhalten a d a b s u r d u m
führt.
Als ich einmal i n A t h e n bei durchaus lebhaftem Straßenverkehr vor ei-
ner r o t e n A m p e l hielt, k a m ein Polizist auf m i c h zu u n d ermahnte m i c h ,
m i c h dem Verkehrsfluss einzupassen u n d i h n n i c h t d u r c h m e i n H a l t e n
zu behindern. M e i n e n H i n w e i s auf die rote A m p e l erledigte er m i t der
Bemerkung, Verkehrszeichen hätten n u r dem Z w e c k , den Schuldigen
festzustellen, falls es z u einem U n f a l l käme. Der M a n n hatte die v o n
seinem L a n d s m a n n Aristoteles vorgestellte Epikie internalisiert. ( V g l .
S. 30/31, Sinnloser Gehorsam)
Kreativer vs. 'i^ Bitte lesen Sie noch einmal das Fallbeispiel v o n dem A b t u n d dem
Kadavergehorsam Löwen auf S. 3 8 . Was hat das m i t Epikie zu tun? Der unweise N o r m e n -
geber muss d a m i t rechnen, dass die Beobachtung der N o r m gegen i h n
selbst ausgeht. W e n n sich tatsächlich alle Menschen a n der gegebenen
N o r m orientieren würden, würde jedes soziale System binnen k u r z e m
k o l l a b i e r e n . D e r p r o d u k t i v e u n d kreative Ungehorsam muss also als
wichtiges Element des Überlebens sozialer Systeme interpretiert wer-
den. N u r faschistoide Systeme w e r d e n kreativen Ungehorsam k a u m zu-
lassen. Sie sind auch deshalb stets d u r c h die Starre ihrer S t r u k t u r e n i n
i h r e m Bestand gefährdet.
Ausnahmen ' i ^ I n einem Elternhaus w u r d e sehr genau darauf geachtet, dass die
zulassen einmal ausgehandelten Spielregeln unter A n d r o h u n g materieller u n d
sozialer Strafen auch v o n allen eingehalten w u r d e n . N u n w a r e n die
Eltern so weise zu erkennen, dass Spielregeln wie alle anderen Regeln
auch Ausnahmen zulassen, w e n n diese zureichend begründet sind. Eine
der Spielregeln lautete: U m 23.00 U h r haben alle K i n d e r (Alter: 14, 16,
17) zu Hause zu sein, w e n n n i c h t ausdrücklich eine Ausnahme gewährt
w o r d e n war. N u n hatte der Älteste sich m i t seinem Freund so ins C o m -
puterspielen verliebt, dass der Blick auf die U h r vergessen w u r d e . K u r z
nach 23.00 U h r rief er zu Hause an, er möchte bei seinem Freund über-
nachten. Der Vater w a r so weise, hier eine Ausnahme v o n der Regel an-
zuerkennen u n d die entsprechende Erlaubnis zu erteilen. Das Beispiel
verdeutlicht, dass Menschen, die disziplinäre N o r m e n aufstellen, da-
r u m wissen, dass solche N o r m e n Regeln sind, die w i e alle regelartigen
Aussagen Ausnahmen zulassen (die Statistik spricht hier v o n Beta-Feh-
lern). Das Praktizieren einer solchen N o r m e n d y n a m i k - wie i n unserem
A n w e n d u n g s f a l l vorgestellt - ist sicherlich ein Zeichen v o n zureichen-
der Ich-Stärke u n d zureichender Souveränität i m Führen v o n M e n -
schen. Charakter ist hier keinesfalls ein H a n d i c a p . Er wäre n u r z u ei-
nem solchen entartet, w e n n die Erlaubnis n i c h t erteilt u n d eine Strafe
verhängt w o r d e n wäre.
Bestandsaufnahme 117
Bestandsaufnahme
Wie steht es mit meiner Epikie oder dem konstruktiven Ungehorsam (s. S. 114-116)?
Die Weisheit
Fallbeispiele
Alternative ' i ^ Ein Freund r u f t an, er w o l l e sich selbst töten, denn nach Verlust des
Arbeitsplatzes u n d nachdem die K i n d e r flügge geworden seien habe
sein Leben keinen Sinn mehr. Er habe sich schon alles zurecht gelegt:
ein E l e k t r o k a b e l u n d einen Stuhl. A l s O r t seiner H a n d l u n g habe er
ein Heizungsrohr i m Keller gefunden, das i n der Lage sei - wie auspro-
biert - , sein G e w i c h t zu tragen. Was w i r d ein weiser Mensch jetzt tun?
Er w i r d seinem Freund sagen, dass er u m der Freundschaft w i l l e n sei-
nen Besuch a b w a r t e n solle, u m m i t i h m seine Lebensbilanz (da es sich
u m einen geplanten Bilanzsuizid handelt) durchzusprechen. Es sei doch
denkbar, dass er den einen oder anderen P u n k t vergessen habe. D a n n
w i r d er sich so schnell wie möglich zu seinem Freund aufmachen, u m
i h m A l t e r n a t i v e n zu der geplanten Selbsttötung aufzuzeigen - ohne sie
i h m ausreden zu w o l l e n . So biete der A r b e i t s m a r k t doch eine Menge
v o n sinnstiftenden N i c h t - E r w e r b s - A r b e i t e n an. Es gebe in jedem K r a n -
kenhaus Menschen, die unendlich einsam seien. H i e r könne er durch
Krankenbesuche u n d geduldiges Hinhören Menschen helfen. - Es f o l g -
te noch der A u f w e i s andere A l t e r n a t i v e n . I c h habe nur diese eine er-
wähnt, weil mein Freund diese ausgewählt hat. Als er m i c h wieder ein-
m a l besuchte, sagte er mir, er habe noch niemals i n seinem Leben etwas
Sinnvolleres getan. Der Gedanke, dass so viele i h n u n d seine Besuche
benötigten, ließ i h n bald seinen geplanten Selbstmord als depressive
Episode erkennen u n d aufarbeiten. H i e r w u r d e i m Charakter schlum-
merndes Potential freigesetzt. Charakter w u r d e zu etwas völlig ande-
rem als einem H a n d i c a p .
Entscheidung ' i ^ Das Finanzamt forderte einen m i r recht gut bekannten Menschen
auf, i n n e r h a l b v o n einer Frist v o n k n a p p fünf Wochen für sechs Jahre
eine M e h r w e r t s t e u e r - , eine K i r c h e n - u n d Einkommenssteuererklärung
abzugeben. Der Versuch, eine Fristverlängerung zu erreichen, scheiter-
te. N u n w a r es weder dem Bekannten noch seinem Steuerberater mög-
l i c h , i n solch kurzer Frist die geforderten Steuererklärungen abzugeben.
Das Finanzamt schätzte. Es k a m zu einer Steuerschuld, der er in keiner
Weise gewachsen war. Er beschloss n u n , persönlichen K o n k u r s anzu-
melden u n d seine freiberufliche Tätigkeit - er w a r i m m e r h i n weit über
60 - einzustellen, u m i n Z u k u n f t v o n der Sozialhilfe zu leben. - H i e r
122 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden
Die Tapferl<eit
Die Tugend des Tapferkeit bezeichnet jene Tugend, die es einem Menschen ermöglicht,
Widerstands sich furchtlos u n d z u m W i d e r s t a n d bereit m i t tatsächlichen oder mögli-
chen Gefahren u n d Schwierigkeiten auseinanderzusetzen.'' W i e schon
gesagt: Aristoteles rechnet die Primärtugenden (s. S. 109) zu Aus-
drucksformen der Tapferkeit. Furchtlosigkeit hat nichts oder n u r sehr
wenig m i t dem Fehlen v o n Ängsten zu t u n . M a n kann Ängste haben
und zugleich furchtlos sein. V e r m u t l i c h ist es n u r möglich, einer sittli-
chen M a x i m e (etwa der der Biophilie) zu folgen, w e n n m a n tapfer ist.
Das sittliche Verhalten unterscheidet sich gerade darin v o m nur m o r a l i -
schen, dass das moralische sich stets a n den N o r m e n eines k o n k r e t e n
äußeren Moralsystems o r i e n t i e r t , das sittliche aber transsystemisch ist.
Sittliches Verhalten k a n n also durchaus auf den W i d e r s t a n d v o n sozia-
len Systemen stoßen, vor allem d a n n , w e n n die N o r m e n dieser Systeme
Fallbeispiele
Die Angst des 'i^ Als erstes Beispiel sei hier eine militärische Geschichte erzählt, die
Generals recht gut den Unterschied zwischen Tapferkeit u n d Angstlosigkeit deut-
lich macht: Ein General besuchte seine F r o n t t r u p p e n . Feindliches Feuer
aus Maschinengewehren u n d der Einschlag gegnerischer Granaten be-
s t i m m t e n die Szene. E i n junger Leutnant w u r d e a b k o m m a n d i e r t , den
General zu begleiten u n d zu führen. Bald zitterte der General vor Angst
u m sein Leben. Der Leutnant fragte: »Herr General haben doch keine
Angst.'« Der General erwiderte i h m : »Wenn Sie die gleiche Angst hät-
ten wie ich, stünden Sie v e r m u t l i c h nicht mehr hier.« Der General w a r
tapfer, der L e u t n a n t n u r verwegen. Das Beispiel zeigt, dass sich Tapfer-
keit durchaus n i c h t in der Praxis primärer Tugenden erschöpft.
Die Lebensrettung ' i ^ Einer meiner Freunde, n i c h t gerade ein hervorragender Schwimmer
(mit M ü h e hatte er »Bronze« bei der D L R G geschafft) sprang, nach-
124 i Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären T u g e n d e n
Die Gerechtigl<eit
Rechtsstaat und Gemeint ist hier Gerechtigkeit als Tugend (also i n einem subjektiven
Menschenrechte Sinn'^). Sie w u r d e durch den römischen Juristen U l p i a n definiert als
»der feste W i l l e , einem jeden sein Recht z u k o m m e n zu lassen.« Er
kannte schon drei Quellen solchen Rechts: (a) das Gesetz (das etwa die
Erbfolge sichert), (b) den Vertrag (in dem sich die vertragschließenden
Parteien verpflichten, wechselseitig bestimmte Leistungen zu erbringen)
und (c) die Rechte, die ein römischer Bürger hat, da er römischer Bür-
ger ist (etwa vor Gericht i m Strafverfahren zu schweigen). Während die
Falibelsplele
Noch einmal: ' i ^ Das klassische Beispiel eines Menschen, der v o n der Rechtspre-
Michael Kohlhaas c h u n g zu Unrecht Gerechtigkeit erwartet, w a r Hans Kohlhase ( f 1540)
dessen Schicksei schon weiter oben (s. S. 69) berichtet w u r d e . ' - ' Der Be-
r i c h t macht deutlich, dass Gerechtigkeit keine absolute Tugend ist, ja
zur U n t u g e n d werden k a n n , w e n n sie der B i o p h i l i e - M a x i m e wider-
spricht. Das gilt i n entsprechender Weise auch für die i m Folgenden
vorgestellten »Tugenden« wie etwa Pünklichkeit.
Die Besonnenheit
Fallbeispiele
Umgang mit ' i ' K a u m w a r mein Buch über das »Nachkirchliche Christentum« er-
Empörung schienen, besuchte mich i m Z u s t a n d empörter Erregung ein ansonsten
auf Ausgleich bedachter M i t b r u d e r und machte m i r eine Szene, i n der
es seinerseits recht laut u n d beschimpfend einherging. Ich fühlte mich
v o n keinem seiner Vorwürfe betroffen, a n t w o r t e t e n u r r u h i g u n d gelas-
Die Besonnenheit 129
Wissen, wovon 'i^ I n meinen Managerseminaren prüfe ich die Fähigkeit, differenziert
man redet zu denken, regelmäßig nach. O b w o h l nahezu alle Manager den M a r -
xismus ablehnen, wusste n i e m a n d , was er da ablehnte. Ganz ähnlich
erging es dem C h r i s t e n t u m , o b w o h l dieses W o r t i n der Regel positiv
besetzt war, oder anderen W e r t w o r t e n (Würde, Freiheit, Gerechtig-
keit . . . ) . Sind Menschen w i r k l i c h nur bereit, für Werte zu sterben, die
ihnen zureichend u n k l a r sind, wie G . B. Shaw einmal meinte? H a t sich
denn die v o n Aristoteles geforderte Redlichkeitsregel, welche die Fähig-
keit e i n f o r d e r t , sagen zu können, worüber man redet, noch nicht ins
allgemeine Bewusstsein eingenistet? Ich b i n noch keinem Manager be-
gegnet, der zureichend differenzierte, was a m M a r x i s m u s b i o p h i l sei
und was n i c h t . Ebensowenig konnte die analoge Frage nach biophilen
und n e k r o p h i l e n Aspekten i m gegenwärtigen mitteleuropäischen Chris-
t e n t u m auch nur halbwegs zutreffend b e a n t w o r t e t w e r d e n .
Interessen 'i^ Nahezu ebenso kläglich ist es nicht selten u m ein abwägendes U r -
abwägen teilen bestellt. D o g m a t i k - o f t verbunden m i t dem beharrlichen W i l l e n ,
sich durchzusetzen u n d seinen Einflussbereich zu sichern oder Recht zu
behalten - bestimmt die Szene so vieler Konferenzen u n d Sitzungen.
Das Abwägen allein zwischen den f u n k t i o n a l e n Interessen eines Unter-
nehmens ( M i n i m i e r u n g etwa der Aufwandsgrößen) u n d seinen perso-
nalen ( E n t w i c k l u n g der M i t a r b e i t e r v o r allem i n ihren sozialen u n d
fachlichen Begabungen) gelingt selbst bei größeren Betrieben recht sel-
ten. Die Fähigkeit, Wertigkeiten gegeneinander abzugrenzen, ist weit-
gehend verschwunden - d a m i t ein w i c h t i g e r Aspekt der Tugend der Be-
sonnenheit. Abwägen bedeutet zusätzlichen emotionalen u n d sozialen
A u f w a n d , u n d den gilt es möglichst klein zu halten. D a ist es doch sehr
viel einfacher, v o n den fünf Faktoren, die den Stil eines Unternehmens
prägen ( K a p i t a l , A r b e i t , U m w e l t , Kreativität u n d Innovationsfreude
sowie eine humane U n t e r n e h m e n s k u l t u r ) , n u r einen noch zu berück-
sichtigen: den des K a p i t a l s , meist eingebunden i n eine Shareholder-
Value-Ideologie.
Die Geduld 131
Seinen Platz ' i ' Z w a r ist ein weiser M e n s c h stets auch hesonnen, aber n i c h t jeder
finden Besonnene ist weise. I c h erinnere m i c h an einen meiner Lehrer, der
offensichtlich u m Besonnenheit bemüht war. Sein M ü h e n , ein differen-
ziertes u n d abwägendes Verhalten n i c h t n u r zu leben, sondern auch leh-
rend zu v e r m i t t e l n , scheiterte an den Auffassungen der M e h r h e i t einer
Lehrerkonferenz, zu der er n i c h t einmal geladen w u r d e , u m seine V o r -
stellung zu erläutern, dass das V e r m i t t e l n v o n Wissen ohne c h a r a k t e r l i -
che B i l d u n g der Schüler für i h n n i c h t zu v e r a n t w o r t e n sei. Er wurde
z u m Schuljahresende a n eine andere Schule versetzt, da er sich i n die
»Chemie« seiner Kollegen n i c h t einpassen könne. A b e r a n der neuen
Stelle geschah i h m nach n u r zweijähriger Lehrtätigkeit genau dasselbe.
Er f a n d eine p r i v a t geführte Schule, in der er plötzlich einer der belieb-
testen Lehrer w u r d e - n i c h t n u r bei den Schülern, sondern auch bei sei-
nen Kollegen. Besonnen, aber unweise w a r der Lehrer, dass er nicht
erkannte, dass die meisten öffentlichen Schulen sich als A u s b i l d u n g s i n -
stanz ( u n d n i c h t der B i l d u n g verpflichtet) begreifen - es sei denn, i n
schönen W o r t e n anlässlich v o n A b i t u r f e i e r n u n d ähnlichen Veranstal-
tungen. Er hätte unbedingt schon sehr viel früher an eine geeignete Pri-
vatschule umsiedeln müssen, w e n n auch Weisheit i m K a t a l o g der v o n
i h m vertretenen Tugenden Platz gehabt hätte.
Die Geduld
Die unmoderne M i t der G e d u l d ist es heute bei vielen n i c h t gut bestellt. Das k a n n
Tugend wenigstens zwei Gründe haben, (a) Es k a n n sich u m eine zeittypische
R e a k t i o n handeln: Alles, was dem heutigen Menschen i m A u g e n b l i c k
wünschenswert erscheint, muss sich auch n o t w e n d i g ereignen. Das be-
t r i f f t o f t n i c h t allein das K a u f v e r h a l t e n , sondern auch die E r w a r t u n g e n
i m p r i v a t e n u n d beruflichen Bereich. Dieses k i n d l i c h e Verhaltensmuster
scheint i n manchen Bereichen die Erwachsenenwelt zu bestimmen,
(b) Z e i t ist für n i c h t wenige die knappste aller Ressourcen geworden.
Wer diese Ressource missbraucht, w i r d als unzuverlässig abgestempelt.
Das »Pünklichkeit ist die Höflichkeit der Könige« w i r d z u m P r o g r a m m
und erhält den Charakter einer M a x i m e .
Geduld bezeichnet eine Tugend, die Aristoteles zur Tapferkeit rechnete.
Das christliche A l t e r t u m verstand sie als ein Beharren im Guten trotz
äußerer U n b i l l u n d V e r f o l g u n g . Viele moderne A u t o r e n verstehen Ge-
duld i n A n l e h n u n g an Dulden als die Fähigkeit u n d Bereitschaft, r u h i g ,
beherrscht u n d nachsichtig ein Ereignis zu ertragen oder a b z u w a r t e n .
Dieses Ereignis k a n n das K o m m e n eines Menschen oder das Sich-Ereig-
nen einer Lebenschance sein, auch die Begegnung m i t einem Menschen,
m i t dem m a n Freundschaft u n d Liebe teilen k a n n . . . I m Gegensatz zur
132 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden
Fallbeispiele
Pünktlichkeits- ' i ' Ein V o r s t a n d eines großen deutschen Unternehmens hatte es sich
fanatiker zur Regel gemacht, dass Menschen, die n i c h t z u m vereinbarten Z e i t -
p u n k t erschienen, i n seinem V o r z i m m e r auf einen neuen T e r m i n festge-
legt w u r d e n . Seine U n g e d u l d zog weite Kreise, denn er erwartete auch
von seinen M i t a r b e i t e r n absolute Pünktlichkeit u n d ließ p r i n z i p i e l l kei-
ne Entschuldigungen (wie: »Ich habe den Z u g nicht mehr erreichen
k ö n n e n « , »Mein A u t o ist i m Schnee stecken geblieben«, »Ich musste
die K i n d e r zur Schule fahren, w e i l meine Frau e r k r a n k t ist« ...) gelten.
Da er für sich i n A n s p r u c h n a h m , unbedingt pünktlich z u sein, es sei
denn, die Verspätung wäre zuvor vereinbart gewesen, machte er die
Pünktlichkeit zur höchsten Tugend, die selbst höhere Gewalt nicht ge-
gen sich gelten ließ. H i e r begegnen w i r wieder einer Situation, i n der
eine sekundäre Tugend pervertiert, w e n n sie n i c h t unter die B i o p h i l i e -
M a x i m e gestellt w i r d . So w i r d d a n n ein negatives C h a r a k t e r m e r k m a l
zum H a n d i c a p .
Erziehungsterror ^ i ' Ungeduldige Eltern werden selten gute Erzieher ihrer K i n d e r sein.
M i t ist ein Fall bekannt, i n der selbstverschuldete Unpünktlichkeit zu
den M a h l z e i t e n z u m Z e i t p u n k t des abendlichen Zuhauseseins etwa
durch Prügel oder durch Aussperren extrem h a r t bestraft w u r d e n . Die-
se K i n d e r hatten die Möglichkeit, die Zwangsneurose ihrer Eltern
zunächst zu akzeptieren, m i t der Gefahr, sie früher oder später sich
selbst zu eigen zu machen, oder offen zu opponieren. Solche O p p o s i t i o n
Die Geduld 133
Hektischer Chef 'i*» Ein Vorgesetzter ist bei seinen M i t a r b e i t e r n bekannt wegen seiner
H e k t i k . Jede Besprechung lässt i h n vor dem Konferenzzimmer h i n und
her laufen w i e einen gemütskranken Löwen i n seinem Käfig. Wenn sei-
ne Sekretärin i n einem P r o t o k o l l oder einem Brief auch n u r ein Satz-
zeichen vergisst oder es an falscher Stelle setzt, sind Strafen fällig. Die
harmloseste w a r noch eine A r t v o n Anbrüllen, die bei D r i t t e n (leider
meist n i c h t dem Betroffenen) gewisse Assoziationen z u animalischem
Verhalten a u f k o m m e n lässt. D a G e d u l d u n d H e k t i k unvereinbare
M e r k m a l e sind, handelt es sich hier w i e d e r u m u m ein C h a r a k t e r m e r k -
m a l , das z u m H a n d i c a p w i r d .
Geduldiger Chef ' i ^ A b e r es g i b t auch positive Beispiele, die aufzeigen, dass die Geduld
eine Tugend sein k a n n , die eng m i t Primärtugenden (s. S. 109 f f . ) liiert
ist. Der Chef der Deutschlandsektion einer großen Unternehmensbera-
t u n g scheint m i r ein positives Beispiel für die i m Charakter wurzelnde
Tugend Geduld zu sein. Er strahlt innere Ruhe aus u n d vermittelt so ein
Feld v o n Ausgeglichenheit bei M i t a r b e i t e r n u n d K u n d e n . D a n u n eine
der w i c h t i g s t e n Begabungen, welche ein b i o p h i l e r u n d erfolgreicher
Vorgesetzer besitzen muss, gerade das Aus- u n d A b s t ra h l e n v o n ruhiger
Sicherheit ist, verfügt der Betreffende s o w o h l bei den K u n d e n wi e bei
seinen M i t a r b e i t e r n über hohes Ansehen. Er w i r d auch dann n i c h t u n -
geduldig, w e n n er einen Sachverhalt z u m d r i t t e n oder vierten M a l
einem K u n d e n oder einem M i t a r b e i t e r erläutern muss. Er w i r d nicht
u n g e d u l d i g , w e n n seine M i t a r b e i t e r einen Fehler machen u n d i h n ein-
gestehen. Gemeinsam versucht er m i t seinem M i t a r b e i t e r den eigentli-
chen U r s p r u n g des Fehlers auszumachen: H a t der M i t a r b e i t e r etwa
nicht die E r w a r t u n g e n , die Interessen u n d Bedürfnisse des K u n d e n r i c h -
tig eingeschätzt? Sind die Interaktionsangebote, die der M i t a r b e i t e r sei-
nen K u n d e n macht, zureichend klar (dem Verstehenkönnen des K u n -
den angepasst), oder v e r k a u f t er seine Hinweise u n d Vorschläge i m
Jargon der Unternehmensberater? Akzeptiert der M i t a r b e i t e r , dass sein
Gehalt zwar juristisch v o m Unternehmen gezahlt w i r d , de facto aber
v o m Kunden? Versteht er seine A r b e i t als Dienstleistung, die er dem
K u n d e n e r b r i n g t - u n d dass i h n letztlich der K u n d e bezahlt?
Die Toleranz
Wissen wir, was Toleranz ist eine Tugend, die den anderen Menschen gelten lässt. Sie er-
Gut und Böse ist? streckt sich auf religiöse, soziale, politische, wissenschaftliche, philoso-
phische Überlegungen sowie N o r m e n u n d Werte eines anderen M e n -
schen oder v o n Menschen anderer sozialer System, zu denen m a n selbst
keine eigene Beziehung aufbauen k a n n oder w i l l . Der tolerante Mensch
lässt alle N o r m e n , Werte etc. als gleichberechtigt''* gelten, solange ihre
Realisierung nicht zu sozialschädlichem Verhalten führt. Jede Toleranz
hat zur Voraussetzung die Überzeugung, dass auch die eigene Position
nicht frei ist v o n Täuschungen und Irrtümern. Sie w i r d i n der Begeg-
nung m i t dem Fremden die Chance erkennen, diese eigenen Irrtümer
u n d Täuschungen zu m i n d e r n oder doch zu relativieren.
Toleranz als Tugend ist relativ spät ins allgemeine Bewusstsein des eu-
ropäischen Denkens eingedrungen. Dabei hat bereits Sokrates (in den
platonischen Dialogen) auf die Toleranz als eine zentrale Begabung h i n -
gewiesen, die allein den menschlichen U m g a n g der Menschen m i t e i n a n -
der erlaube. N i c h t zufällig sieht das i n jüdischer T r a d i t i o n stehende
Denken in der Intoleranz die Quelle alles zwischenmenschlichen Übels
(= der Erbsünde). D a h i n t e r steht der folgende Gedankengang: G o t t
allein ist das Wissen über G u t u n d Böse vorbehalten. Das w i r d i n
der fatalen, w e n n auch mythischen Verheißung der Schlange deutlich:
»Wenn i h r v o n den Früchten i n der M i t t e v o n Eden esst, werdet i h r sein
w i e G o t t u n d erkennen, was G u t u n d Böse ist.« (Gen 3, 5)^-^ Dieses si-
chere Wissen, was sittlich gut u n d böse ist, ist die Grundlage mancher
Intoleranz. D e r charakterfeste Mensch w i r d niemals sittlich r i c h t e n .
D e n n das, was m a n erkennen k a n n , ist allenfalls die Sozialverträglich-
keit oder auch Sozialunverträglichkeit menschlichen Flandelns u n d
Verhaltens. Menschliches H a n d e l n u n d Verhalten aber sind stets syste-
misch, a m Systeminteresse o r i e n t i e r t , u n d deshalb nie v o n allgemeiner
Gültigkeit, wie das sittlich Gute u n d Böse. A u f g r u n d unerforschlicher
Vorurteile halten sich manche Menschen - vor allem, w e n n sie einer
ideologischen Elite-'^ angehören - für etwas Besseres, für bessere M e n -
schen gar.
Fallbeispiele
Religion und ' i ^ Ganz besonders auffällig ist die religiöse Intoleranz der K i r c h e n
Kirche u n d mancher Christen, die v o n sich annehmen, sie seien i n besonderer
Weise der Jesusbotschaft nahe. Das sittliche Verurteilen gehört zu den
zentralen A u f g a b e n c h r i s t l i c h - k i r c h l i c h e r I n s t i t u t i o n e n . Wer eine der
zentralen Lehraussagen der Kirche ablehnt, w i r d m i t Ausschluss be-
straft, o b er n u n C h r i s t sein w i l l oder n i c h t . I n Deutschland k a n n ein
Jugoslawien ' i ' Intoleranz gründet zumeist i n einer Ich-Schwäche, die - u m das
eigene Ich zu schützen - fremdes oder auch n u r f r e m d a r t i g Erscheinen-
Die Toleranz 137
des abweist. So sind viele Serben gegenüber anderen Ethnien der ehe-
maligen Sozialistischen V o l k s r e p u b l i k Jugoslawien i n t o l e r a n t , w e i l sie
sich diesen Ethnien ihres ehemaligen Staatsgebietes für überlegen hal-
ten.
Verzicht auf 'i^ I c h habe bislang n u r Beispiele v o n Intoleranz angeführt, bei denen
Kontrolle ganz offensichtlich bei den Entscheidungsträgern charakterliche D e f i -
zite zutage t r a t e n . Hier soll einmal auch ein Beispiel angeführt w e r d e n ,
in dem deutlich w i r d , dass das Verfügen über Toleranz keineswegs ein
Flandicap darstellt. I n einem m i r bekannten Unternehmen (Flewlett-
138 II. Das Leben aus erster Hand ~ 2. Die sekundären Tugenden
Die Alterozentrierung
Egozentrik Alterozentrierung ist ein W o r t , das i n der Sprache der Gegenwart aus-
kennt jeder gestorben ist. W i r kennen zwar das Begriffspaar egoistisch u n d altru-
istisch u n d verstehen darunter, dass ein Mensch überwiegend den eige-
nen N u t z e n bzw. den des anderen sucht. W i r kennen ferner das W o r t
egozentrisch, w o m i t w i r Menschen bezeithnen, deren Interesse u m das
liebe Ich kreist. H i e r aber fehlt uns die Bezeichnung des Gegenteils,
das alterozentrisch heißen müsste. Das ist a u f f a l l e n d , denn ein Begriff
wie Egozentrik hat eigentlich n u r i n einem polaren Spannungsfeld eine
sinnvolle Bedeutung. Er braucht ein logisches Gegenstück, wie etwa
der Egoismus den A l t r u i s m u s .
Was für einen Sachverhalt bezeichnet n u n Alterozentrik} Genau den:
dass der andere Mensch i m M i t t e l p u n k t meines Interesses steht. Unser
Leben spielt sich immer i m Dazwischen v o n Egoismus u n d A l t r u i s m u s
ab. Das Dazwischen schließt keineswegs aus, dass manche Menschen
sich dem einen oder dem anderen Pol nähern. M a n c h e Menschen sind
d o m i n a n t Egoisten. Ihre zentrale Frage lautet stets: »Was nützt es
mir?« Andere sind d o m i n a n t A l t r u i s t e n , deren Frage lautet: »Was nützt
es dir?« oder »Was nützt es uns?« Dabei ist keineswegs n u r der ö k o n o -
mische N u t z e n gemeint, sondern auch der soziale, emotionale etc.
Wie alterozentrisch sind die Menschen i n Ihrer Umgebung? U n d wie
steht es, H a n d aufs H e r z , m i t Ihrer eigenen Alterozentrik? Es gibt ver-
gleichsweise einfache H i l f s m i t t e l , u m das herauszufinden. Ich möchte
Ihnen zunächst einige Aspekte vorstellen, die sich i n dem k o m m u n i k a -
tiven M i t e i n a n d e r unseres Alltags finden. Sie w i r k e n sich auf sehr ver-
Die Alterozentrierung 139
Hören Sie, was E i n egozentrischer M e n s c h w i r d das Hören fremder Sätze als eine V o r -
man Ihnen sagt? bereitung des eigenen Redens verstehen. Er hört n u r so lange zu, bis
i h m etwas zu dem Gehörten eingefallen ist. V o n diesem Z e i t p u n k t an
w i r d er sehr ungenau zuhören, w e i l er das Sprechen des anderen vor al-
lem als Störgröße w a h r n i m m t , die i h n daran h i n d e r t , das W i c h t i g e , das
er selbst zu sagen hat, auszusprechen. Je länger er scheinbar zuhört, u m
so ungeduldiger w i r d er, u m so mehr w i r d das Gehörte bedeutungslos,
u m so mehr wächst die Sorge, dass das, was er selbst an so W i c h t i g e m
zu sagen hat, entweder n i c h t mehr z u m Thema passt oder gar aus sei-
nem Gedächtnis verschwände. I m Gegensatz dazu w i r d ein alterozen-
trierter Hörer den letzten Satz des Gesprochenen so w i c h t i g nehmen
wie den ersten, denn er weiß, dass n i c h t selten erst die letzten Sätze des
Sprechers das ausdrücken, was dem Sprecher w i c h t i g ist. Hören ist i h m
eine eigenwertige Tätigkeit, u n d zwar als V o r b e r e i t u n g auf das eigene
Sprechen. V o r vielen Jahren setzte ich einige Studenten auf ein Projekt
an, das i n zwei großen U n t e r n e h m e n (eines aus der Chemie-, das ande-
re aus der Baubranche - also m i t sehr verschiedenartig begabten M e n -
schen, wie sie i n diesen Unternehmen tätig sind) herausfinden sollte,
welche Eigenschaften eines Vorgesetzten s i g n i f i k a n t korrelieren m i t
dem M e r k m a l »gutes Betriebsklima«. Neben vielen andere positiven
K o r r e l a t i o n e n (wie gutes Verhältnis zu den Kollegen, Z u f r i e d e n h e i t am
Arbeitsplatz, Z u f r i e d e n h e i t m i t der A r b e i t ...) w a r e n n u r zwei K o r r e l a -
t i o n e n auf dem 5 - % - L e v e l s i g n i f i k a n t : 1 . »Er hat Z e i t für mich!« u n d
»Ich k a n n i h m vertrauen!« Beide M e r k m a l e werden n u r den Vorgesetz-
ten zuerkannt, die zuhören können.
Wiederholbarkeit Der egoistische Sprecher betrachtet nicht selten das eigene Gerede als
als Kriterium lustvollen Selbstvollzug. O f t w i l l er gar - meist ohne es zu wissen - sei-
nen sozialen Status definieren. D i e gruppendynamische Regel lautet:
»Wer a m längsten ungestraft reden k a n n , ist dominantes Alpha.« U n d
dieser Test ist i h m w i c h t i g . M i t dieser d o m i n a n t e n Grundeinstellung
w i r d zugleich alles, was andere sagen, vergleichsweise unerheblich.
Sprechen dient i h m als A u s d r u c k u n d M i t t e i l u n g des eigenen Sach- u n d
Erfahrungswissens einerseits u n d der eigenen Werteinstellungen, Be-
dürfnisse, E r w a r t u n g e n u n d Interessen andererseits. I m Gegensatz dazu
w i l l der alterozentrierte Sprecher die Werteinstellungen, Bedürfnisse,
E r w a r t u n g e n u n d Interessen des anderen erkennen. Er w i l l herausfin-
den, wie der andere M e n s c h i m H o r i z o n t eben seiner eigenen Wertein-
stellungen, E r w a r t u n g e n u n d Interessen einen Sachverhalt w a h r n i m m t ,
um a u f diese Sicht des anderen eingehen zu können. Egozentrische
Sprecher sind meist leicht zu entlarven: Sie sind gewöhnlich n i c h t i n der
Lage, i n h a l t l i c h zutreffend das Gesagte z u w i e d e r h o l e n . Viele M e n -
schen neigen dazu, ihre M e i n u n g ohne sonderliche Rücksicht auf den
Zuhörer k u n d z u t u n . Sie halten es für selbstverständlich, dass die Z u -
hörer auch nicht-triviale Sachverhalte verstehen. Dieses Verstehen ist
leicht zu überprüfen, i n d e m der Hörer dem Sprecher vorträgt, was er
verstanden hat. Die W i e d e r h o l b a r k e i t ( i m Gespräch unschwer auszu-
machen) ist ein k a u m zu überschätzendes K r i t e r i u m , u m zu prüfen, ob
das Gesprochene so verstanden w u r d e , wie der Sprechende es verstan-
den haben w o l l t e . Das ist keineswegs i m m e r der Eall. Es ist eine der
wichtigsten E r f a h r u n g e n , die meine Seminarteilnehmer machen, dass es
keineswegs einfach ist, dieses Z i e l zu erreichen. W i r d es n i c h t erreicht,
k o m m t keine eigentliche K o m m u n i k a t i o n zustande. D i e Anschluss-
beiträge w i r k e n desorientiert. Das, w o r a u f es dem Sprechenden a n k a m ,
w u r d e n i c h t zutreffend erkannt. Es gibt viele Gründe für Missver-
stehen: Sie beginnen m i t persönlicher A b n e i g u n g u n d enden n i c h t ein-
mal bei der V e r k e n n u n g der Wertvorstellungen, Interessen, Bedürfnisse
und E r w a r t u n g e n des Hörenden. Sicherlich verfügen beide Gesprächs-
partner auch nach einem noch so umfangreichen Diskurs n i c h t über
identische I n f o r m a t i o n e n , w e i l alle erzeugten I n f o r m a t i o n e n v o n Le-
benserfahrungen, v o n H o f f n u n g e n u n d Sorgen, v o n Vertrauen u n d
M i s s t r a u e n , v o n E r w a r t u n g e n u n d Interessen, v o n den Vorstellungen
von D o m i n a n z u n d Subdominanz bestimmt w e r d e n . U n d i n diesem
Bereich v o n Lebenserfahrungen ist kein Mensch auch n u r einem ande-
ren ähnlich genug, u m Missverständnisse zu vermeiden.
Die Alterozentrierung 141
Das Ich, das Der egozentrische M e n s c h schHeßt i n allem v o n sich auf andere. Er
Zentrum? geht d a v o n aus, dass das soziale System m i t a l l seinen Systemelemen-
ten^s weitgehend v o n seinen persönlichen Interessen, E r w a r t u n g e n u n d
Bedürfnissen bestimmt w i r d . Der egozentrische Mensch w i r d daher
k a u m auf die sinnstiftende Anschlussfähigkeit seiner Beiträge ( k o m m u -
n i k a t i v e n I n t e r a k t i o n e n ) achten, sondern diese als selbstverständlich
voraussetzen.
Die gelungene soziale Passung setzt aber i n der Regel ein gewisses M a ß
an Empathie (= Einfühlungsvermögen) voraus, die dem Egozentriker
abgeht. Deshalb w i r d er es schwer haben, über längere Z e i t innerhalb
eines k o m p l e x e n Themenbereichs m i t anderen sinnvoll zu k o m m u n i -
zieren. Er w i r d U n g e d u l d zeigen, sich zurückziehen aus dem k o m m u n i -
k a t i v e n Geschehen, andere Themen anzuschneiden versuchen (um so
das Systemende herbeizuführen).
Das k a n n zwei Folgen haben: Entweder w i r d m a n seine Ausführungen
n i c h t ernsthaft zur Kenntnis nehmen, oder er ist a u f g r u n d seiner hie-
rarchischen Stellung, seines aggressiven Potenzials so stark, dass er das
alte Spiel enden lassen k a n n , u m ein neues m i t anderen k o l l e k t i v i e r t e n
Interessen, E r w a r t u n g e n , Werteinstellungen u n d Bedürfnissen der Be-
teiligten zu beginnen.
Fallbeispiele
Ersatz für die 'i^ Ein Unternehmer verwandte einen sehr elaborierten Sprechcode'"'.
Sprache Das hatte zur unvermeidlichen Folge, dass er v o n seinen M i t a r b e i t e r n ,
die zumeist einen restringierten Code a k t i v wie passiv beherrschten,
nur unzureichend verstanden w u r d e . Deshalb kamen k a u m I n t e r a k t i o -
nen i n K o o r d i n a t i o n (also die zwischenmenschliche Gleichheit realisie-
rend) zustande. I n solchen Fällen ist es d r i n g e n d angeraten, den u n m i t -
telbaren K o n t a k t zu seinen M i t a r b e i t e r n d u r c h n i c h t - k o m m u n i k a t i v e
I n t e r a k t i o n e n (wie Dabeisein, Freundlichkeit, möglichste Zurücknah-
me v o n d i r e k t i v e m u n d d o m i n a n t e m Verhalten) zu k u l t i v i e r e n . D i e
K u l t u r des u n m i t t e l b a r e n Kontaktes sollte unbedingt d u r c h eine dazu
begabte Führungspersönlichkeit erfolgen.
Fallbeispiele
Wenn es nur ^ i ' Einer meiner Freunde hat stets eine Menge Münzen bereit. Er gibt
einem hilft... jedem, der i h n m i t t e l b a r oder u n m i t t e l b a r (wie ein a m Boden sitzender
Geiger auf der F r a n k f u r t e r Z e i l ) u m Geld angeht, eine M a r k . A u f die
Frage, w a r u m er das tue, o b w o h l auch er wisse, dass die meisten das
Erbettelte i n A l k o h o l oder D r o g e n anlegen würden, antwortete er:
»Wenn auch nur einem Prozent der Bettler d u r c h meine kleine Gabe et-
was geholfen werden k a n n , würde i c h m i c h selbst verachten müssen,
w e n n i c h vergebens u m H i l f e fragen ließe u n d nicht geholfen hätte!«
W u r d e hier Charakter z u m Handicap? Ließ sich hier - wie der nicht
selten gehörte V o r w u r f lautete - ein Mensch missbrauchen, w e i l er gut-
mütig war? N u n ist sicherlich Gutmütigkeit (aus Schwäche) nicht das-
selbe wie Güte, die stets zumindest nicht der V e r n u n f t w i d e r s p r i c h t .
Biophilie, die sich m i t Weisheit gepaart z u m höchsten sittlichen G u t
entfaltet hat, w i r d v o n einem Menschen auch verlangen, gut zu sein.
Güte bezeichnet die V e r b i n d u n g v o n M e n s c h u n d W e r t i m H a n d e l n . Er
w i r d nicht n u r i n solchem H a n d e l n v o m Wert geführt, sondern die
Güte erfüllt i h n u n d sein verantwortetes H a n d e l n v o n innen her (und
nicht wie durch ein äußeres Gebot verlangt) (Seneca).
Sterbebegleitung ' i ^ Ich wachte bei einer Frau, die an einem damals inoperablen M a -
g e n k a r z i n o m l i t t u n d dem Tode sehr nahe war. M e i n Bemühen, ihre
Stirn zu kühlen, i h r die H a n d zu halten u n d ihrem o f t schon unver-
ständlichen Sprechen zuzuhören, w u r d e beschämt v o n einer k a t h o l i -
schen Krankenschwester, die i h r H a b i t ablegte u n d sich zu der entsetz-
lich stinkenden Frau, sie i n die A r m e nehmend, ins Bett legte. D i e
K r a n k e beruhigte sich sehr bald u n d k a m zu einer A r t innerem Frieden,
Die Hilfsbereitschaft ohne Helfersyndrom 149
. . . .
Burn-out- ' i ^ M i r ist ein Sozialhelfer bekannt, der täglich sicherlich mehr als
Syndrom zwölf Stunden als Streetworker tätig ist. Er bemüht sich u m O b d a c h l o -
se w i e u m rauschgiftabhängige Jugendliche, u m Betrunkene wie u m
Stadtstreicher. Sein Eamilienleben ist zerbrochen, w e i l seine Partnerin -
w o h l n i c h t ganz zu Unrecht - forderte, dass er auch seiner Familie hel-
fe. Er w a r k a u m 4 0 Jahre alt, als er unter den Symptomen eines »Burn-
out-Syndroms« z u leiden begann. Das erste bedenkliche Anzeichen ei-
nes solchen Syndroms ist zumeist, dass der Betroffene sich n i c h t selbst
helfen lassen m ö c h t e . Er versteht sich ausschließlich als Helfer, n i c h t
aber als einen, der der H i l f e bedarf. So weigerte er sich, gegen den W i l -
len seiner Vorgesetzten, U r l a u b zu nehmen, u m wieder aufzutanken. So
versuchte er eine rheumatische E r k r a n k u n g seines Kniegelenkes z u
verleugnen, o b w o h l i h m sein Beruf manche Gänge abverlangte. D i e
nächste Stufe des B u r n - o u t - S y n d r o m s w a r erreicht, als i h m seine A r b e i t
keine Freude mehr machte, sondern das Pflichtgefühl die Rolle des
wichtigsten Selbstmotivators übernahm. A m Ende stand eine A r t des
Ausgebranntseins, die es i h m nahezu unmöglich machte, seinem Beruf
auf der Straße n a c h z u k o m m e n . Eine Versetzung i n die V e r w a l t u n g
stand an. Er akzeptierte sie aber erst nach einiger therapeutischer H i l f e .
H i e r w u r d e eine charakterliche Schwäche z u m H a n d i c a p .
150 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden
Samariter heute ^ i ^ Dass Hilfsbereitschaft ihre Grenzen haben k a n n , erlebte ich i n ge-
radezu dramatischer F o r m , als i c h Zeuge eines schweren Verkehrs-
unfalls w u r d e . Ein M e n s c h , den die herumstehenden Gaffer als »Tür-
ken« identifiziert hatten, ließ keinerlei Hilfsbereitschaft a u f k o m m e n .
Erst als ich einem der Herumstehenden sein H a n d y gleichsam a b n a h m ,
u m H i l f e u n d Polizei herbeizutelefonieren, k a m etwas Bewegung i n die
träge M e n g e . Tatsächlich gab es einen Helfer, der m i c h dabei unter-
stützte, den Verunglückten i n die stabile Seitenlage zu drehen, seinen
M u n d v o n Erbrochenem zu säubern u n d andere Erste-Hilfe-Maßnah-
men durchzuführen. Es blieb aber bei einem - u n d der w a r jung u n d
hatte seine Haare i m Irokesenschnitt grün gefärbt. Als ich später über
den Z w i s c h e n f a l l nachdachte, bemerkte ich die Lebensnähe eine Jesus-
Gleichnisses. Es erzählt v o n einem Juden, der unter die Räuber fiel. Ein
v o r b e i k o m m e n d e r jüdischer Priester u n d ein ebenso vorübergehender
Levit halfen i h m n i c h t , w o h l aber ein v o n den rechtgläubigen Juden
verachteter Samariter (vgl. L u k 10, 3 0 - 3 7 ) . Eine ganz ähnliche U n -
fähigkeit zur H i l f e erlebte i c h i n der berüchtigten Pogromnacht a m
9. 1 1 . 1938, der so genannten K r i s t a l l n a c h t . Ich stand am Fenster u n d
sah, w i e SA-Männer das Textilhaus des jüdischen Mitbürgers Lenne-
berg i n Olpe plünderten u n d niemand - sonst seines Christseins stolz -
i h m aus Angst v o r den Nazis zur H i l f e eilte.
Pannenhilfe •'i'* Als i c h m i r auf dem Wege z u einem Seminar an einer scharfen
Bordsteinkante den Reifen meines A u t o s aufgeschlitzt hatte u n d eini-
germaßen hilflos a m Straßenrand stand, hielten innerhalb weniger M i -
nuten vier A u t o f a h r e r a n , die m i r H i l f e anboten. Z w e i wechselten i n
wenigen M i n u t e n den Reifen - eine A r b e i t , zu der ich sicher eine halbe
Stunde benötigt hätte. Die Hilfsbereitschaft der M i l t e n b e r g e r Fahrer ei-
nem F-Kennzeichen gegenüber beschämte m i c h , denn i c h erinnerte
m i c h , an so manchem Pannenauto vorbeigefahren zu sein, selbst w e n n
der Fahrer allein u n d hilflos neben seinem A u t o stand.
Jeder gegen ' ' i " I n manchen Unternehmen ist die Hilfsbereitschaft einer Unterneh-
jeden? mensberatung zum Opfer gefallen, m i t dem nahezu ausschließlichen
Z i e l , die Kosten-Leistungsrechnung d u r c h M i n d e r u n g der Personal-
kosten zu o p t i m i e r e n . Alle sind n u r noch daran interessiert, dass m a n
ihnen möglichst n i c h t kündigt. Der M o t i v a t o r Angst t r e i b t sie dabei
m i t u n t e r - w e n n auch recht vorübergehend - zu erheblichen Leistun-
gen a n . Hilfsbereitschaft m i n d e r t die Chancen des eigenen Überlebens
i m Unternehmen. Wer sollte unter diesen Umständen noch hilfsbereit
sein? Es k o m m t darauf a n , i m H o r i z o n t innerbetrieblichen Wettbe-
werbs ein besseres Bild abzugeben. U n d da ist Helfen ebenso wett-
bewerbswidrig wie H i l f e für seinen außerbetrieblichen Wettbewerber,
seinen K o n k u r r e n t e n . D o c h darf man diesen recht verständlichen M e -
chanismus nicht verallgemeinern. Ich kenne Unternehmen, i n denen bei
»betriebsnotwendigen Entlassungen«42 auch u n d v o r allem auf die
soziale Intelligenz und die sozialen Begabungen der verbleibenden M i t -
Das Vertrauen 153
Eine Hand wäscht ' i ^ »Jeder ist sich selbst der Nächste« ist sicherlich eine der Lieblings-
die andere parolen v o n Menschen, die n u r dann hilfsbereit sind, wenn es sich
l o h n t . I c h habe i m Verlauf meiner unternehmensberatenden Tätigkeit
nicht wenige Menschen kennen gelernt, die Hilfsbereitschaft n i c h t als
Tugend verstanden, sondern als Strategie, u m Karriere zu machen. Sie
waren hilfsbereit - aber ausschließlich aus Gründen der beruflichen Le-
bensökonomie. Solchen Menschen k a n n man schnell ihren defizitären
Charakters verdeutlichen. Wenn Hilfsbereitschaft nichts an A n e r k e n -
n u n g , an gutem Ruf, an sozialen Erfolgen e i n b r i n g t , w i r d sie nicht er-
heblich. So etwa i m Familienleben oder in der Gestaltung der Partner-
schaft. Solche c h a r a k t e r l i c h geschädigten Menschen sind keineswegs
selten.
Das Vertrauen
Sich selbst Vertrauen bezeichnet die feste Überzeugung v o n der Verlässlichkeit und
und anderen Zuverlässigkeit eines Menschen."*' Dieser Mensch k a n n der Vertrauen-
vertrauen de selbst sein (»Selbstvertrauen«) oder ein anderer. Die Fähigkeit zum
Vertrauen ist eine Folge des schon erwähnten Uruertrauens, das ein
Mensch i m Verlauf des ersten Lebensjahres e n t w i c k e l t . W i r d es nicht
e n t w i c k e l t , spricht man v o n Urmisstrauen. In beiden Fällen geht es also
zunächst n i c h t u m ein C h a r a k t e r m e r k m a l , sondern u m eine psychische
D i s p o s i t i o n . D o c h k a n n sich die psychische D i s p o s i t i o n des U r v e r t r a u -
ens zu dem charakterlichen M e r k m a l des Vertrauens entfalten. V e r m u t -
lich sind auch als charakterliche M e r k m a l e die Fähigkeit, sich selbst
und anderen Menschen zu vertrauen, eng miteinander v e r w o b e n . Sich
selbst vertrauend ist ein Mensch, der seinen Fähigkeiten, seinen intel-
Facetten des Das Vertrauen repräsentiert sich i n sehr verschiedenen Facetten, etwa:
Vertrauens • Das A n v e r t r a u e n eines Geheimnisses. Eine sehr intensive F o r m des
Vertrauen w i r d a k t i v i e r t , w e n n ein Mensch einem anderen ein Ge-
heimnis anvertraut. N u n gibt es sehr verschiedene A r t e n v o n Ge-
heimnissen:
- Betriebsgeheimnisse, die z. B. die A r b e i t der Forschungsabteilung be-
treffen,
- Beziehungsgeheimnisse, welche die eigenen oder fremden Beziehun-
gen zu Menschen berühren,
- Geheimnisse, welche die Eigenschaften u n d Versagen v o n Menschen
in einem sozialen System (etwa einem U n t e r n e h m e n , einer Partei, ei-
ner Kirche) beinhalten und endlich jene
- Geheimnisse, die den M i t t e i l e n d e n persönlich betreffen. Diesen letzt-
genannten Geheimnissen gilt unsere besondere A u f m e r k s a m k e i t . Die
F o r m des Vertrauens ist existentiell n o t w e n d i g , denn w i r alle benöti-
gen, u m psychisch u n d sozial gesund zu bleiben, wenigstens einen
Menschen, dem w i r unbedingt u n d ohne jede Einschränkung ver-
trauen können: Er w i r d niemals das A n v e r t r a u t e weitergeben (Ver-
schwiegenheit). Seine Einstellung zu dem, der Vertrauen erwartet,
k a n n durch nichts Anvertrautes erschüttert w e r d e n ( A c h t u n g vor der
Würde eines Menschen).
• Das Vertrauen auf Fertigkeiten u n d Begabungen.
Das Vertrauen 155
Fallbeispiele
Blindes Ver- und ' i ^ Die meisten Menschen bringen anderen, w e n n sie ihnen n i c h t u n -
Misstrauen sympathisch sind, einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegen. I c h
erinnere m i c h an einen Fall, in dem ein V o r s t a n d seinem Assistenten i n
einem U m f a n g vertraute, dass er alle seine Probleme - auch die ver-
traulichen - m i t i h m besprach. Z w i s c h e n beiden baute sich ein enges
Sympathiefeld auf. Dieses zerbrach jedoch v o n einem Augenblick
auf den anderen, als der V o r s t a n d - übrigens zu Unrecht - vermutete,
sein Assistent habe ein i h m anvertrautes Geheimnis, welches ein beruf-
liches Versagen eines Kollegen betraf, weitererzählt. Das Sympathiefeld
wechselte i n ein A n t i p a t h i e f e l d , das u m so tief greifender w u r d e , als der
Assistent heftig den i h m vorgestellten Sachverhalt leugnete. Es k a m zu
einer A b m a h n u n g (einen anderen Sachverhalt betreffend) u n d endlich
zu einer Kündigung. W o lag hier der Charakterfehler? Sicherlich hätte
der V o r s t a n d n i c h t unbesehen einen solchen, n u r i n Sympathie w u r -
zelnden Vertrauensvorschuss leisten sollen, w e n n er auch in diesem Fall
durchaus gerechtfertigt war. Ferner ist ein so plötzliches Umspringen
v o n Sympathie i n A n t i p a t h i e eher ein Zeichen dafür, dass hier eine u n -
reife F o r m der Akzeptanz eines Menschen v o r l a g . Der Charakterfehler
lag zweifelsfrei beim V o r s t a n d , der sich keineswegs zureichende M ü h e
gab, den streitigen Sachverhalt aufzuklären. D a n n hätte er nämlich u n -
schwer erfahren, dass sein Kollege selbst die i h m unterlaufene Panne
erzählte. H i e r w u r d e ein Charakterfehler zu einem erheblichen H a n d i -
cap, denn der Verlust eines w e r t v o l l e n M i t a r b e i t e r s ist mehr als eine or-
ganisatorische Panne.
zeigt n u r die Uni<ultur dieser Kreise, in denen man meist niclits anderes
mehr schätzt als die Sicherung der eigenen Karriere. Andererseits kann
auch ein Charakterfehler beim Vertrauenden nicht ausgeschlossen wer-
den. Freundschaften auf der Vorstandsebene sind stets problematisch,
weil manche Menschen, n u r u m eine Vertragsverlängerung zu errei-
chen, zu jedem Verrat bereit sind.
Jasager ' i ^ Ein M a n n i n den besten Jahren, der s o w o h l i n seiner privaten wie
beruflichen U m w e l t sehr geschätzt w u r d e , passte sich der jeweiligen
sozialen Situation u n d den allgemeinen, hier geltenden Vorurteilen an.
Alles, was er sagte, stand also unter dem Vorbehalt der allgemeinen
Akzeptanz. Die Fähigkeit u n d Bereitschaft, die eigenen Überzeugungen
nur dann zu wechseln, wenn der Wechsel v o n außen her angezeigt war,
waren stark e n t w i c k e l t , u n d dank der Fähigkeit, den Z u s t a n d sozialer
Passung i n s t i n k t i v zutreffend zu bewerten, wurde der M a n n für jeder-
mann ein pflegeleichter Partner. Dass auch hier ein Charakterfehler das
Verhalten bestimmte, ist offensichtlich. Aber der Fehler führte zu E r f o l -
gen. Es gibt also soziale Situationen, i n denen die Charakterlosigkeit
kein H a n d i c a p ist. Diese Schnittstellen zwischen einer Person u n d ei-
nem System lassen o f t auf die i m System erheblichen und dieses System
definierenden S t r u k t u r m e r k m a l e schließen.
158 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden
Teamwork 'i' In Unternehmen ist wechselseitiges Vertrauen auf der gleichen Füh-
rungsebene eher selten anzutreffen. Bedeutet doch »Kameradschaft«
die Bereitschaft, sich für den anderen u n d sein Schicksal v e r a n t w o r t l i c h
zu wissen, u n d das bei vergleichsweise w e n i g emotionaler B i n d u n g
(etwa i m Gegensatz zur Freundschaft, bei der die B i n d u n g stärker u n d
die Bereitschaft, selbst sein Leben für den anderen einzusetzen, deutlich
geringer ist). Was bedeutet das für die alltägliche Praxis? Vor allem i m
T e a m w o r k , welches das Z i e l hat, durch M i n d e r u n g v o n Täuschungen
u n d Irrtümern eine optimale Lösung einer gestellten Aufgabe zu finden,
ist die Kameradschaftlichkeit die beste Voraussetzung, das erwünschte
Z i e l zu erreichen. In gut f u n k t i o n i e r e n d e n Teams ist die Bereitschaft,
eigene Interessen zurückzustellen, besser e n t w i c k e l t als die d u r c h per-
sonale Bindungen (Freundschaft, Liebe) bestimmte soziale Einheit. Die
Teamfähigkeit k o r r e l i e r t s i g n i f i k a n t m i t der Fähigkeit, ein kamerad-
Die Realisierung von Idealen in Werten 159
46 Über das T h e m a , w e l c h e r L o h n denn n u n gerecht sei, ist inzwischen seit über 100 Jahren
gestritten w o r d e n . Tatsächlich g i b t es kein objektives K r i t e r i u m , sondern allenfalls das
subjektive, nach dem der L o h n so zu bemessen ist, dass die lohnabhängige A r b e i t einer
Familie erm<)glicht, ihre physischen (Fssen, T r i n k e n , W o h n e n ) , sozialen (Pflege v o n
Freundschaften, Besuche bei V e r w a n d t e n , B i l d i m g der eigenen K m d e r j , aber auch k u l t u -
rellen (Lesen, Fernsehen, K o n z e r t b o r e n . . . ) Bedürfnisse z u befriedigen. U m d e n n o c h
den Versuch zu w a g e n , den Begriff »gerechter L o h n « zu sich u n d zur Sprache zu b r i n -
gen, sei er hier e i n m a l v o n seinem M i n n n u m her d e f i n i e r t : Gerecht sei der N e t t o l o h n ,
der die Kosten der Sozialhilfe i n allen ihren M a ß n a h m e n u m wenigstens .50 % über-
steigt.
Die Realisierung von Idealen in Werten 161
Ideale zu haben ist i m m e r h i n ein erster Schritt. Sie aber auch zu leben
bringt Ideale erst zur Realität u n d d a m i t zu sich. Dieser Weg v o m M e i -
nen z u m Sein gelingt vielen Menschen n i c h t , denn er ist steinig. I h n zu
gehen f o r d e r t viel Tapferkeit u n d Redlichkeit ein. Es gibt viele M e n -
schen, die ganz besonders hehre Ideale ausmachten u n d ihre eigene
Existenz in einer A r t w a h n h a f t e r V e r k e n n u n g v o n Realität v o n diesen
nicht-realisierten Idealen her definieren (bzw. die Ideale als wesentliche
Elemente ihres Selbstkonstruktes betrachten). Das D e n k e n v o n Idealen
k a n n wie das Zusprechen v o n Idealen bedeuten, dass ich sie i n Sprache
eingekerkert habe, w o sie m i c h n i c h t mehr belästigen. K h a l i G i b r a n
fasste diesen Mechanismus, Ideale i n W o r t e einzusperren, u m sie n i c h t
leben zu müssen, i n die bekannten W o r t e : »Jeden Gedanken, den ich i n
Sprache eingekerkert habe, muss ich d u r c h meine Taten befreien! « 4 8
Ideale sind niemals real v o r h a n d e n . Ihre Welt sind die virtuellen Berei-
che des Denkens, des Erdenkens. Sie haben also K o n s t r u k t c h a r a k t e r .
Sie erreichen n u r dann die handlungsleitende So-Seins-Sphäre, w e n n sie
sich als Werte i n personalem H a n d e l n oder systemischem Entscheiden
vorstellen. Werte an sich gibt es n i c h t als Besitz, sondern n u r als Q u a -
litäten v o n H a n d e l n , Entscheiden, Unterlassen. Erst i n der Umsetzung
des idealen Gedankens i n wertbestimmte Taten erweist sich die ethische
O r i e n t i e r u n g eines Menschen oder eines Unternehmens, einer O r g a n i -
sation, etc. Die Verwechslung des K o n s t r u k t c h a r a k t e r s v o n Idealen m i t
Werten ist der häufigste G r u n d für das Fehlen einer Unternehmenskul-
tur. Die schweigenden Ideale u n d die passive Z u o r d n u n g v o n Werten
führen häufig zu einer »Unternehmenskultur«, die ausschließlich i n
Kunstdruckbroschüren i h r meist ungelesenes Dasein fristet.
Falibelsplele
Jugendkult ^i^ Es gibt i n unserem K u l t u r k r e i s das Ideal Jugend. Seine Quelle ist
ebenso schwer zur erschließen wie das Ideal Alter i m K o n f u z i a n i s m u s .
H i n t e r beiden Idealbildern stecken Elemente, die sich der Vordergrün-
Allmachtswahn ' i ' Es gibt nicht wenige Menschen, die d a v o n überzeugt sind, dass es
der Technik »über« ihnen keine Instanzen gibt, die ihnen Lebensorientierung ver-
m i t t e l n . Der A l l m a c h t s w a h n der Technik führte zu einem personalen
A l l m a c h t s w a h n , dem jeder Mensch z w i n g e n d verfallen muss, der keine
über i h m gebietende u n d N o r m e n gebende Instanz anerkennt. I n die-
sem Fall bleibt i h m nichts anderes übrig, als sich selbst an die Stelle des
»höchsten Wesens« z u setzen. N i c h t wenige erfolgreiche Unterneh-
menssanierer sind diesem W a h n verfallen. Wer daran zu rühren w a g t ,
verfällt dem V e r d i k t der Unfähigkeit oder der Aufsässigkeit. Einer der
bekanntesten deutschen Sanierer v e r t r i t t ebenso eigentümliche wie be-
triebswirtschaftlich problematische M e i n u n g e n . H i e r h i n gehören etwa:
• Ein Unternehmen sollte sich auf die Herstellung v o n P r o d u k t e n be-
schränken, die i n den eigentlichen Kernbereich seiner P r o d u k t i o n
gehören. A n die Stelle solcher Konzepte sollte unbedingt eine Pro-
zesskostenanalyse treten, die es erlaubt, den eventuell abzustoßen-
den Produktbereich i n seiner Bedeutung für die betriebliche Wert-
schöpfung auszumachen. Erst dann k a n n eine T r e n n u n g v o n diesem
Produktionsbereich (Schließen, V e r k a u f e n , Ausgliedern) als r a t i o n a l
und ökonomisch vernünftig vertreten werden.
• E i n Unternehmen solle an erster Stelle die Kosten-Leistungsrechnung
d u r c h M i n d e r u n g der Arbeitskosten (das bedeutet i n aller Regel
»betriebsnotwendige Entlassungen«) v o r dem A n s p r u c h der O p t i -
m i e r u n g des Shareholder Value verbessern. A u c h hier liegt ein Fehl-
schluss vor, denn die Kostenleistungsrechnung k a n n - w e n n auch
meist etwas aufwändiger als die Einsparung v o n Personalkosten -
durchaus o p t i m i e r t werden, w e n n es gelingt, die »Leistung« (die
Wertschöpfung) durch Veränderung der Unternehmensstruktur,
d u r c h Umbesetzungen, d u r c h Schaffung einer effizienten Unterneh-
menskultur zu verbessern.
Offensichtlich liegen i n der Persönlichkeit vor allem der i m Unterneh-
men strategisch Führenden charakterliche Defizite vor, w e n n sie i h r
H a n d e l n u n d Entscheiden hauptsächlich v o n der n o r m a t i v e n K r a f t des
Faktischen u n d nicht auch v o n Idealen abhängig machen, die i n Werte
übersetzt w u r d e n . Der Verlust v o n kreativem Denken u n d I n n o v a t i o n s -
freudigkeit ist i n aller Regel eine unausweichliche Konsequenz des rei-
nen Kosten-Minderungs-Denkens.
Unternehmens- ' i " ' Häufig gelingt es Unternehmen n i c h t , v o n den i n virtuellen Welten
Leitlinien siedelnden Idealen der Unternehmensphilosophie i n die realen, system-
stiftenden Werte der U n t e r n e h m e n s k u l t u r u n d d a m i t der realisierten
Die Treue 165
Die Treue
Der Mensch will Die Treue k a n n mancherlei Objekte haben. M a n k a n n seinem Freund,
dazugehören seinem Partner, seinem U n t e r n e h m e n , seiner Partei, seiner Kirche, ei-
nem Versprechen u n d schließlich auch sich selbst treu sein. Ein Mensch
ist t r e u , w e n n er verlässlich u n d beständig die B i n d u n g an seine Treue-
Objekte i n seinem H a n d e l n , seinem Entscheiden, seinem Unterlassen
realisiert. Dabei ist w i e d e r u m zu beachten, dass Treue zwar i m Selbst-
k o n s t r u k t eines Menschen eine erhebliche Rolle spielen k a n n . D o c h
diese A r t abstrakter Treue ist hier n i c h t gemeint. Treue ereignet sich in
I n t e r a k t i o n e n zwischen Menschen. Treue verlangt nicht selten eine reife
F o r m der Internalisierung des Treueobjekts (s. S. 166), die keineswegs
die Regel zwischenmenschlichen Verhaltens ist. Treue k a n n durchaus
eine opferbereite u n d auf das Verzichten ausgerichtete Einstellung sein
(darin ähnlich der Freundschaft und der Liebe), die manche Menschen
nicht bereit sind, a u f z u b r i n g e n . Treue verbalisiert sich i n Zugehörig-
166 I. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden
Fallbeispiele
Wenn Liebe zu ' i ^ Eine der wichtigsten Formen der Treue ist sicherlich die partner-
Hass wird schaftsbezogene (etwa die eheliche) Treue. Diese Treue gilt i n zwei
Richtungen. Die eine ist die Treue gegenüber dem e i n ma l feierlich gege-
benen W o r t (etwa v o r dem Standesbeamten oder einem Geistlichen),
die andere die Treue gegenüber der Person, der m a n sich zur Treue ver-
pflichtet weiß. Das Problem dieser F o r m der Treue ist die A r t der sie
schaffenden I n t e r n a l i s a t i o n . N i c h t selten setzt die gefährdete F o r m der
Treue die I n t r o j e k t i o n als Internalisierungsform voraus. D i e Partner-
schaft k a n n scheitern, d . h . der Partner w i r d aggressiv-emotional extra-
jiziert u n d aus dem Bereich der biophilen Emotionalität entlassen. Die
streitige Scheidung ist n i c h t selten Zeichen einer zerbrochenen Partner-
b i n d u n g , die auf I n t r o j e k t i o n (= den anderen z u m I n t r o j e k t machen)
beruht. Diese F o r m der Internalisierung ist eher biologisch als ethisch
begründet. Sie weist nicht Charakter aus, sondern eben dessen Fehlen
oder dessen Unreife.
Die Treue 167
Recht und Gesetz ' i ^ I n der Gesetzgebung u n d d a m i t auch i n der Rechtsprechung taucht
der Begriff der Treue i n der K o m b i n a t i o n Treu und Glauben auf. Ge-
meint ist hier ein Rechtsgrundsatz (der durchaus aus dem Bereich des
Funlctionalen i n den des Personalen wechseln k a n n ) , nach dem der
Rechtsprechende nicht starr einem Gesetz folgen darf, w e n n das Ergeb-
nis eines solchen Vorgehens dem allgemeinen Rechtsempfinden wider-
spricht oder allgemein als u n b i l l i g empfunden w i r d . Dass zu einem sol-
chen Verhalten Charakter gehört, ist unbestritten, denn starr u n d stur
dem W o r t l a u t des Gesetzes zu folgen ist sehr viel einfacher. I c h hielt
einmal für Richter ein K o m m u n i k a t i o n s - S e m i n a r ab. Als These stellte
ich den Satz auf: »Dasjenige U r t e i l ist o p t i m a l , das den potentiellen
Schaden, der aus dem U r t e i l erwachsen könnte, möglichst klein hält.«
Ich w o l l t e meine Zuhörer provozieren, aber das lief ins Leere, denn
nicht wenige Richter s t i m m t e n m i r z u . Andere hielten den erwähnten
Grundsatz n i c h t für generalisierbar u n d glaubten sich auf der revisions-
sicheren Seite, w e n n sie sich so w e i t als möglich an den W o r t l a u t des
Gesetzes hielten. I n dieser F o r m der Treue gegenüber dem Gesetz stan-
den sich zwei Positionen gegenüber: Für die erste Gruppe stand i m Vor-
d e r g r u n d der Sinn des Gesetzes, der sicherlich n i c h t erfüllt ist, w e n n
man, soweit als irgendmöglich, dem W o r t l a u t folgt. Die Beachtung der
Primärtugend Epikie (s. S. 114 ff.) w a r für diese Gruppe keine leere
Forderung.
Der Erste 'i^ Es gibt auch eine Treue, die, weil völlig i r r a t i o n a l , lebensmindernd
Weltkrieg und daher abzulehnen ist. Gemeint ist hier nicht irgendeine F o r m v o n
Gaunertreue, sondern das, was - w e n n auch f o r m a l gesehen v o n Gau-
nertreue nicht allzu sehr entfernt - gemeinhin m i t Nibelungentreue be-
zeichnet w i r d . Als klassisches Beispiel solch einer n i c h t mehr rationalen
Treue gelten die Vorgänge, die z u m A u s b r u c h des Ersten Weltkriegs
führten. A m 2 8 . Juni 1914 w u r d e der österreichische T h r o n f o l g e r
Franz Ferdinand i n Sarajevo ermordet. Die österreichische Heereslei-
t u n g sah jetzt den günstigen Z e i t p u n k t gekommen, Serbien als Staat zu
vernichten. Dazu w a r es nötig, dass zumindest Russland nicht der ser-
bischen Seite beitrat. Das aber w i e d e r u m hing davon ab, o b Deutsch-
land den österreichischen Plan stützte. N u n setzte sich in der deutschen
Heeresleitung die Überzeugung d u r c h , dass ein Krieg gegen Russland
wünschenswert sei. A m 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den
Krieg. V e r m u t l i c h aus einer A r t v o n Treue erklärte n u n das Reich Russ-
land (am 1 . August) u n d Frankreich (3. August) den Krieg. Aus einem
Balkankrieg w u r d e ein zunächst europäischer, zuletzt ein W e l t k r i e g .
H i e r wäre es sicherlich einer v o n Weisheit getragenen Treue selbstver-
ständlich gewesen, m i t allen M i t t e l n einen europäischen Krieg zu ver-
Die Diskretion 169
Die Diskretion
Fallbeispiele
Die Authentizität
Fallbeispiele
Strebend sich Die »Minne« w i r d uns in der Schule meist dargestellt als eine F o r m der
bemüh'n erotischen Liebe, die sich, keineswegs n o t w e n d i g sexuell, i m alterozen-
trischen'''' Interagieren realisieren müsse - i m Gegensatz zur niederen
M i n n e , als deren erster großer Minnesänger meist Walther v o n der Vo-
gelweide gilt. D o c h »Minne« bezeichnete i m M i t t e l h o c h d e u t s c h e n eine
Tugend, die den Weisen anhält, ein als w e r t h a f t erkanntes Z i e l (wozu
durchaus auch die E r l a n g u n g der Z u w e n d u n g eines anderen Menschen
gehören kann) unter personalem ( i m Gegensatz z u m f u n k t i o n a l e n ) u n d
v e r a n t w o r t e t e m Einsatz zu verfolgen. Insoweit ist die M i n n e durchaus
auch der Liebe (als gr. agape verstanden) v e r w a n d t .
Fallbeispiele
Der Lehrer ' i ^ Einer meiner Lehrer w a r tief ergriffen v o n seinem Beruf. Er nahm
sich selber so weit zurück, dass deutlich w u r d e , er w o l l e seine Schüler
u n d Schülerinnen nicht etwa n u r belehren, sondern i n ihren intellektu-
ellen, emotionalen und sozialen Begabungen entfalten. Das lateinische
educere (oder educare) bezeichnet das Herausführen eines Menschen
aus einem s u b o p t i m a l e m N i v e a u h i n auf ein höheres, menschlicheres.
Dieser Gedanke w u r d e i h m z u m K r i t e r i u m eines gelingenden Lebens.
Selbst w e n n manche Schüler sein Verhalten als Schwäche interpretier-
ten u n d so seine Einstellung gelegentlich auf eine harte Probe stellten,
w a r er bald der beliebteste v o n allen Lehrern. Er hatte m i t einem M i n i -
m u m an Bestrafungen den besten pädagogischen E r f o l g . Sein Charak-
ter sicherte i h m seinen beruflichen E r f o l g - er w a r alles andre als ein
Handicap.
Die Liebe
Fallbeispiele
Sich selbst lieben ' i ^ N i c h t selten begegnen m i r Menschen, die k a u m mehr liebesfähig
sind, w e i l sie sich selbst n i c h t lieben können. I c h denke etwa an einen
Manager, der so sehr i n seine A r b e i t verliebt war, dass er die Liebe zu
seinen K i n d e r n u n d z u seinem Partner nicht mehr darstellen k o n n t e .
Seine Geschenke etwa, die w i e alle Geschenke das Geschenk der Liebe
symbolisieren sollen, w u r d e n zum A u s d r u c k reiner Pflichterfüllung. Z u
Weihnachten, z u m Geburtstag . . . beschenkt »man« sich. Seine U n -
fähigkeit zu lieben machte i h n dermaßen einsam, dass er k a u m andere
als f u n k t i o n a l e Beziehungen zu anderen aufnehmen k o n n t e . Weil er
sich selbst n i c h t liebte, k o n n t e er nicht n u r n i c h t andere lieben, sondern
w u r d e auch v o n niemandem geliebt. Langsam steigerte er sich i n die
Mentalität eines »Oderint, d u m metuant« (= sie mögen m i c h hassen,
w e n n sie mich n u r fürchten - ein dem römischen Kaiser Caligula zuge-
schriebenes W o r t ) . Seine Entscheidungen zielten ausschließlich auf
f u n k t i o n a l e O p t i m i e r u n g - u n d w a r e n deshalb s u b o p t i m a l . Es fehlte
i h m ein C h a r a k t e r m e r k m a l , das allein auch den ökonomischen E r f o l g
langfristig sichern konnte - die O r i e n t i e r u n g an der personalen D i m e n -
sion seiner Entscheidungen. E i n i n der S t r u k t u r seines Charakters lie-
gendes D e f i z i t w u r d e i h m z u m H a n d i c a p .
Die Großmut
Fallbeispiele
Ehebruch 'i*- Ein Ehemann erfuhr zufällig, dass seine Frau einen Freund hatte,
m i t dem sie ein gelegentlich recht intimes Verhältnis verband. Bei einem
m i n d e r großmütigen Menschen wäre entweder die Liebe gestorben,
oder sie hätte sich Eifersuchtsszenen vorgestellt. G i b t es doch i n der Tat
Menschen, welche das Verhalten der Frau als mangelnde Liebe inter-
pretieren u n d die Schuld ausschließlich beim anderen suchen (und we-
gen ihrer Selbstblindheit auch finden). Gelegentlich höre ich sogar das
abstruse A r g u m e n t : »Wer n i c h t eifersüchtig sein k a n n , der liebt auch
nicht.« Dabei ist das genaue Gegenteil der F a l l . Eine Liebe, die nicht
180 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden
verzeihen kann, ist recht ärmHch i n den Vorhöfen des Liebens verhun-
gert. Der Ehemann tat das einzig Richtige: Er überlegte, was er selbst
falsch gemacht haben könnte, sodass seine Frau ihre erotische Erfül-
lung bei einem D r i t t e n suchte. Er entdeckte plötzlich, dass er m i t seiner
Frau selten - u n d i n den letzten Jahren gar n i c h t mehr - über ihre I n -
teressen, Bedürfnisse, E r w a r t u n g e n gesprochen hatte. Sie w a r e n i h m
unbekannt. Das führte z w i n g e n d dazu, dass die Beziehung i n die D i v e r -
genz führte. Als es i h m gelang, gegen anfängliche Widerstände seiner
Frau, diese Themen zu besprechen, konnte nach einigen M o n a t e n auch
die Freundschaft m i t einem D r i t t e n zu Sprache k o m m e n . W i e selbstver-
ständlich regenerierte sich die alte Beziehung. Die Freundschaft w u r d e
v o n der Frau als eine wichtige Lebensepisode gesehen, i n der sie viel ge-
lernt habe über Treue u n d Liebe.
Bestandsaufnahme 181
Bestandsaufnahme
Die Demut
Sich selbst Die A n t i k e kennt keine Tugend der Demut. Erst i m apostolischen Z e i t -
annehmen alter bezeichnete das W o r t Demut eine Tugend. Erst durch I m m a n u e l
K a n t erhält Demut eine auch profane Bedeutung. Sie ist das »Bewusst-
sein u n d Gefühl der Geringfügigkeit seines moralischen Wertes in Ver-
gleichung m i t dem Gesetz.« Sie kennt keinen H o c h m u t , der z. B. i m
Vergleich m i t anderen Personen oder gar i m Versuch, sie zu übertreffen,
a u f k o m m e n könnte. Sie ist die Selbsteinschätzung der eigenen inneren
Würde als sittliches Wesen.-'-''
W i r w o l l e n hier Demut verstehen als die Bereitschaft u n d Fähigkeit,
sich selbst in seinem So-Sein m i t allen Möglichkeit u n d Grenzen anzu-
55 A A V I , 4 3 5
184 II. Das Leben aus erster Hand - 3. Weitere Charaktermerkmale, die Lebenserfolg
nehmen. Das soll nicht bedeuten, dass m a n auf das Weiten v o n Gren-
zen, insoweit dieses möglich ist, verzichtet. D e m u t weiß v o n den eige-
nen Möglichkeiten u n d Fähigkeiten, die es z u m eigenen u n d fremden
N u t z e n zu entfalten gilt. Sie kennt aber auch die eigenen Charakterfeh-
ler {= Fehler, die m a n m i t eigenen M i t t e l n n i c h t überwinden k a n n , wie
etwa bei manchen Menschen Ehrgeiz, Flabsucht, Trägheit) u n d ver-
sucht, sie aus i n t e r a k t i o n e l l e m Geschehen fernzuhalten. A l l e i n die
D e m u t verhindert, dass das Selbstkonstrukt realitätsabgelöst gebildet
w i r d . Insoweit ist die D e m u t das Gegenteil v o n H o c h m u t u n d A r r o -
ganz. Die D e m u t zeigt sich i m interaktioneilen Geschehen o f t - w e n n
auch n i c h t ausschließlich - als
• Bescheidenheit. Sie erscheint bei I m m a n u e l K a n t als »Mäßigung i n
Ansprüchen, das ist freiwillige Einschränkung der Selbstliebe eines
Menschen«^^. So sei sie auch hier verstanden. Sie setzt einen reifen
Narzissmus voraus. Das Verzichten-Können als freiwillige Beschrän-
k u n g der Selbstliebe setzt voraus, dass Selbstliebe auch ein Übermaß
kennt, auf das verzichtet w i r d . Dabei ist n i c h t der generelle Verzicht
auf die Selbstliebe gemeint, denn Selbstliebe gehört zur Vorausset-
zung jeder Fähigkeit, andere zu lieben. Gemeint ist vielmehr eine
Selbstliebe, die das Ego i n den M i t t e l p u n k t alles Geschehens stellt.
Wenn sich bei einem Menschen die Einstellung breit macht, dass
wohlenaorbene Besitzstände unantastbar sind, w e n n ein Mensch
nicht mehr bereit ist zu teilen, auch etwas v o n sich selbst m i t ande-
ren zu teilen, d a n n hat die Selbstliebe - nicht selten vorgestellt als
Bescheidenheit - perverse Gestalt angenommen.
Fallbeispiele
Alles auf sich ' i ^ Eine schon ans Pathologische grenzende Eigenliebe finden w i r nicht
beziehen selten bei Menschen, bei denen D u m m h e i t u n d A r r o g a n z ständige
Llochzeit feiern. I c h erinnere m i c h an einen Vorstand eines großen
deutschen Unternehmens, dessen Eigenliebe so ausgeprägt war, dass er
jede kritische Bemerkung auf sich selbst bezog u n d entsprechend rea-
gierte. M a n hätte diese R e a k t i o n auf eine überstarke I d e n t i f i k a t i o n m i t
dem Kritisierten beziehen können. Das w a r aber n i c h t so. Als ich ein-
mal einen ganz offensichtlichen Fehler der Unternehmensleitung, den er
gar nicht z u v e r a n t w o r t e n hatte, zur Sprache brachte, reagierte er, als
hätte ich i h n einen Betrüger genannt. Andererseits plante er, das Unter-
nehmen aus einem n i c h t gekündigten Vertrag heraus zu verlassen. Sol-
che F o r m e n der Fehlbeziehung v o n K r i t i k , die i n einem Übermaß an
Selbstliebe w u r z e l t , finden sich keineswegs selten. Flier w i r d der M a n -
gel an Bescheidenheit zu einem offensichtlichen H a n d i c a p , das den Be-
186 II. Das Leben aus erster Hand - 3. Weitere Charaktermerkmale, die Lebenserfolg
Leben auf 'i^ Einem Unternehmer w a r das Verzichten zur charakterlichen Selbst-
kleinerem Fuß Verständlichkeit geworden, ohne dass sie etwa i m Geiz w u r z e l t e . Bei al-
ler Großzügigkeit des Gebens verzichtete er auf eine große W o h n u n g ,
als die K i n d e r flügge geworden w a r e n . Statt acht Z i m m e r n bewohnte er
n u r noch zwei. Statt eines großen Mercedes m i t Eahrer f u h r er einen
Mittelklassewagen ohne Eahrer. Statt seinen U r l a u b i n fremden Län-
dern zu verbringen, reiste er mittels öffentlicher Verkehrsmittel i n den
S c h w a r z w a l d , u m zu w a n d e r n . Statt Steaks zu essen, fand er Gefallen
an Salaten u n d Schnitzeln . . . I m Gegensatz zu seinem früheren Leben,
das v o n Verzicht nichts wissen w o l l t e , w u r d e er zu einem physisch, psy-
chisch u n d sozial gesunden Menschen, der sich noch a m Gesang der
Vögel freuen konnte u n d a m W i n d , der d u r c h die W i p f e l der Bäume
rauschte. Sein Charakter w a r i h m n i c h t mehr H a n d i c a p , sondern H i l f e
zu einem menschlichen Leben geworden.
Die IVIenschenführung
Führen ist eine Das Führen v o n Menschen bringt drei Elemente zu einer dialektischen
Dienstleistung Einheit: den Führenden, die Geführten u n d eine v o n beiden zu lösende
eigen- oder fremdgestellte A u f g a b e . G u t führt jeder, dem es gelingt,
f u n k t i o n a l u n d personal zu o p t i m i e r e n . F u n k t i o n a l o p t i m i e r t der, der
Aufwandsgrößen (psychische, soziale, zeitliche, finanzielle) m i n d e r t .
Personal führt gut, wer i n den Führungsinteraktionen - i m Sinne der
Die Menschenführung 187
Fallbeispiele
Erfolgreicher " i " Eine andere FührungspersönHchkeit führte i n der genau entgegen-
Chef, Typ II gesetzten Weise - also i n K o o r d i n a t i o n . W e n n ich an einer Sitzung teil-
n a h m , w a r es aus der A r t des Miteinander-Umgehens unmöglich fest-
zustellen, wer hier der Chef war. I n diesem Unternehmen gab es keine
Stechuhren oder andere Weisen der Anwesenheitskontrolle. Eür A k q u i -
sitionen w a r jeder v e r a n t w o r t l i c h , der für ein Unternehmen einen A u f -
trag erfüllte u n d i h n präsentierte. Der Führende, i n unserem Eall ein
Geschäftsführer, hatte ausschließlich die Aufgabe, Verträge (Werkver-
träge m i t K u n d e n , Anstellungsverträge m i t M i t a r b e i t e r n ) zu unter-
schreiben - ansonsten w a r er einer v o n ihnen. M a n c h e n Führungskräf-
ten alten Stils werden sich bei diesem Bericht die Haare sträuben - aber
das Unternehmen w a r deutlich erfolgreicher als seine M i t b e w e r b e r .
Bestandsaufnahme 189
Bestandsaufnahme