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Inhalt

Einige Worte im Vorhinein 9


Was ist das: Erfolg? 10
Was bedeutet das W o r t » C h a r a k t e r « ? 10
Verhalten u n d Charakter 12
M o r a l und Ethik 14
Das innere Moralgesetz 14
Das äußere Moralgesetz 15
Die Sittlichkeit 15
Bestandsaufnahme 17

I. DIF CHARAKTERLOSIGKEIT 21

1. Wenn das innere Moralgesetz versagt 22


Der Systemagent 23
Der Egoist 25
Der Feigling 28
Menschen, die sekundäre Tugenden realisieren und sich
selbst dabei vergessen 29
Menschen, die davonlaufen und sich vor Verantwortung
drücken 31
Menschen mit der Angst, sich falsch zu entscheiden . . . . 33
Menschen, die sich von Drohungen bestimmen lassen . . . 34
Menschen, die sich von »Autoritäten« einschüchtern
oder manipulieren lassen 36
Menschen, die den Lebensmut verloren haben 39
Mangelnde Autonomie 47
Das »So-what-Syndrom« 49
DerUnehrÜche 51
Der Kriecher 53
Der Ausbeuter 54
5 Inhalt

Der Besessene 57
Der Desorientierte 60
Der Gelätimte 61
Der Schwätzer 63
Der Aggressor 64
Das Mittelmaß 67
Der Gutmensch 68
Bestandsaufnahme 71

2. Wenn das äußere Moralgesetz fehlt oder nicht beachtet wird 74


Der N a i v e 75
Frühe Sexualität 76
Der Fanatiker 77
Der Asoziale 79
Der sittliche Mensch i n einem faschistoiden System 81
Bestandsaufnahme 84

3. Wenn jede Sittlichkeit fehlt 86


Der Einzelgänger 86
Der Unangepasste 88
Der Überangepasste 91
Der Spielverderber 93
Der zirkulär Streitende 95
Der verdeckt K o m m u n i z i e r e n d e 96
Der Gaffer 97
Der Betroffene 98
Der D u m m e 100
Bestandsaufnahme 103

II. DAS LEBHN AUS ERSTER H A N D 105

1. Die primären Tugenden 109


Die Z i v i l c o u r a g e 109
D i e Konfliktfähigkeit I I I
Die Epikie oder der k o n s t r u k t i v e Ungehorsam 114
Bestandsaufnahme 117

2. Die s e k u n d ä r e n Tugenden 119


Die Weisheit 119
Die Tapferkeit 122
Die Gerechtigkeit 124
Die Besonnenheit 126
Inhalt 7

Die Geduld 131


Die Toleranz 134
Die A l t e r o z e n t r i e r u n g 138
Das alterozentrierte Hören 139
Das alterozentrierte Sprechen 140
Das alterozentrierte Sich-Einstellen 141
Die Hilfsbereitschaft ohne H e l f e r s y n d r o m 147
Das Ve r tr a ue n 153
D i e Realisierung v o n Idealen i n Werten 159
Die Treue 165
Die D i s k r e t i o n 169
Die Authentizität 172
D i e »Hohe M i n n e « 175
D i e Liebe 176
Die G r o ß m u t 178
Bestandsaufnahme 181

3. Weitere Charaktermerkmale, die Lebenserfolg bedeuten k ö n n e n 183


Die Demut 183
D i e Menschenführung 186
Bestandsaufnahme 189

Worte zum Schluss 191

Literatur 192
Einige Worte im Vorhinein

»Die Prinzen« sangen i n ihrem 1995 erschienen A l b u m »Schweine«:

Du musst ein Schwein sein in dieser Welt.


Schwein sein.
Du musst gemein sein in dieser Welt.
Du musst ein Schwein sein.

Muss man ein Dieses Buch w i l l u n d k a n n n i c h t den gelegentlichen Wahrheitsgehalt


Schwein sein? dieses Textes widerlegen. D e n n ganz offensichtlich haben Menschen
m i t den Eigenheiten der hier beleidigend angesprochenen Lebewesen
manches gemeinsam. D o c h w o l l e n w i r nicht über die Charakterlosig-
keit der Schweine handeln. W i r könnten den Tieren Unrecht t u n . Aber
sie haben n u n m a l den R u f . . . Den menschlichen Schweinen, den Cha-
rakterlosen fällt sicherlich mancher E r f o l g i n den S c h o ß , v o r allem
d a n n , w e n n sich ihre Charakterlosigkeit noch m i t sozialer u n d f o r m a -
ler Intelligenz verbindet. Ich kenne eine Reihe v o n Personen (meist Po-
l i t i k e r oder M a n a g e r ) , die - wenigstens vorübergehend - als »Schwei-
ne« ausgesprochen erfolgreich w a r e n (und sind). Sie wissen sich n u r
einem v e r p f l i c h t e t , dem E r f o l g , u n d sind bereit, u m seinetwillen H u n -
derte v o n Menschen ins Abseits der A r m u t oder der Arbeitslosigkeit zu
scheuchen. D e n Besitz v o n (moralischem) Charakter halten sie für ein
Zeichen karriereschädigender Schwäche.
Es dürfte allgemein bekannt sein, dass Handicap n i c h t n u r ein W o r t aus
der Sprache der G o l f e r ist, sondern i n der Sprache der N i c h t - G o l f e r vor
allem eine A r t v o n körperlicher u n d geistiger Behinderung bezeichnet.
H i e r steüt sich die Erage, über welche A r t der Behinderung w i r handeln
w o l l e n . Geht es hier u m geistige oder körperliche Behinderung? Deckt
das W o r t v o m H a n d i c a p n u r solche Behinderungen ab, oder gibt es
noch sehr viel radikalere, die W u r z e l n der Persönlichkeit erreichende
oder v o n ihnen ausgehende Eormen der Behinderung? W i r behaupten,
dass solche r a d i k a l e n Formen v o n Behinderungen möglich sind. Für sie
10 Einige Worte im Vorhinein

gibt es leider keine geschützten Bereiche (wie etwa Behindertenwerk-


stätten) oder gar behinderten-gerechte Toiletten. Es geht uns hier u m
die ärgste aller denkbaren Behinderungen, die u n e n d l i c h viel mehr Be-
rücksichtigung verlangt als etwa Schwachsinn oder Blindheit. Es geht
u m die charakterliche Behinderung.
Jetzt bindet sich der T i t e l dieses Buches auf sich selbst zurück: Es wäre
zu lesen: »Charakter ist (k)eine charakterliche Behinderung«. Das
scheint jedoch paradox zu sein. Also muss es sich beim Charakter, soll-
te es denn so etwas geben, u m eine anders geartete Behinderung han-
deln, die auf jeden Fall die Eigenschaft hat, den beruflichen, den unter-
nehmerischen, den politischen, den zwischenmenschlichen . . . E r f o l g i n
Frage zu stellen.

Was ist das: Erfolg?

Erfolg und Zufall Ist ein Mensch erfolgreich, wenn er über Ansehen, M a c h t , Einfluss,
Geld verfügt, dabei aber seine physische, psychische oder soziale Ge-
sundheit und/oder seine Familie zugrunde richtet? Erfolg bezeichnet i m
allgemeinen Sprachgebrauch das positive Ergebnis eines Bemühens
oder auch das Eintreten einer beabsichtigten oder auch zufälligen W i r -
k u n g . Aber w e r bestimmt schon, was ein positives Ergebnis ist; wer,
was das Eintreten einer beabsichtigten oder zufälligen Wirkung} Dass
E r f o l g n i c h t selten v o n Z u f a l l oder doch wenigstens v o n einer Reihe zu-
fälliger, das heißt n i c h t bewusst u n d g e w o l l t eingesetzter Strategien ab-
hängt, ist offensichtlich. Viele erfolgreiche Menschen verdanken ihren
Erfolg irgendwelchen Zufälligkeiten. U n d m a n k a n n noch n i c h t einmal
sagen, ob auf dem Weg z u m E r f o l g Charakter eine positive oder negati-
ve Rolle spielte. S o w o h l Charakter als auch Charakterlosigkeit können
z u m E r f o l g beitragen. D a die meisten Menschen sich i n irgendeiner
Weise für c h a r a k t e r v o l l halten (wobei nicht geleugnet werden soll, dass
auch einige sich offen eingestehen, Charakterschweine zu sein), müssen
w i r uns zunächst einmal fragen, was denn eigentlich »Charakter« i n
unseren Überlegungen bedeuten soll.

Was bedeutet das Wort »Charakter«?

Charakter ist ein Charakter bezeichnet i n unserer Umgangssprache die sehr individuelle
kommunikatives Gesamtheit angeborener oder erworbener sittlicher Eigenschaften eines
Ereignis Menschen, insoweit sie i n der Einheitlichkeit oder Stetigkeit seines Ver-
haltens u n d Handelns, seines Wertens oder Verurteilens, seiner d o m i -
nanten u n d dauerhaften Werteinstellungen, E r w a r t u n g e n , Interessen
Was bedeutet das Wort »Charakter«? 11

u n d Bedürfnisse z u m Ausdruci< i i o m m t . D a alle diese charakterbilden-


den Elemente moralisch oder sittlich gewertet werden können u n d o f t
auch - meist v o n anderen - gewertet w e r d e n , bezeichnet Charakter
auch eine moralische oder sittliche W e r t u n g . So spricht m a n Menschen
einen guten oder schlechten Charakter z u . Charakter k a n n aber auch
als psychische Qualität verstanden w e r d e n : So spricht m a n v o n einem
»komplizierten C h a r a k t e r « , einem »schwierigen C h a r a k t e r « , einem
»verlässlichen Charakter« . . .

Charakter ist ein k o m m u n i k a t i v e s Ereignis. K a u m ein Mensch spricht


sich selbst einen bestimmten Charakter z u . Er w i r d i h m vielmehr v o n
anderen zugesprochen. Diese Zuspräche b e t r i f f t n u n keineswegs einen
realen Menschen, sondern das B i l d , das sich andere Menschen auf-
g r u n d bestimmter Verhaltens-, A u s d r u c k s - , W e r t - M e r k m a l e v o n i h m
machen. M a n nennt solche Bilder auch Konstrukte, u m deutlich zu ma-
chen, dass es sich n i c h t u m A b b i l d e r realer Menschen handelt, sondern
u m Bilder, die unsere Großhirnrinde a u f g r u n d v o n abgespeicherten Er-
fahrungen der menschlichen Stammesentwicklung oder der persön-
lichen I n d i v i d u a l e n t w i c k l u n g m i t H i l f e ihrer Eigendynamik erzeugt.
Ein M e n s c h hat also n i c h t einen »guten« oder »schwierigen« Charak-
ter, sondern n u r das K o n s t r u k t , das er d u r c h sein Verhalten i n unserem
Erkennen erzeugte.
W i e alle W e r t w o r t e unserer Sprache, so h a t auch das W o r t Charakter
eine lange Geschichte. Es l o h n t sich, i h r nachzugehen, u m das Mühen
u m das zu verstehen, was w i r heute m i t diesem W o r t bezeichnen. Die
meisten W o r t e , die d u r c h viele Jahrhunderte unübersetzt v o m griechi-
schen O r i g i n a l w o r t i n nahezu alle indoeuropäischen Sprachen übergin-
gen, bezeichnen etwas sehr Wichtiges. »Charakter« benennt das, was
einen Menschen i n irgendeiner Weise prägt, i h n »charakterisiert«. Das
ist zunächst einmal i n keiner Weise moralisierend gemeint.
D o c h schon i m d r i t t e n v o r c h r i s t l i c h e n Jahrhundert wendet der A r i s t o -
telesschüler Theophrast ( 3 7 2 - 2 8 7 v. Chr.) den Begriff ins M o r a l i s c h e .
So unterscheidet er tugendhafte v o n lasterhaften Charakteren. Er w u r -
de z u m Vater der ethischen Sicht des Wortes Charakter.

Das Brandmal des D i e lateinische Hochsprache vermeidet aus m i r n i c h t nachvoUzieh-


Wildwest-Rinds baren Gründen das W o r t Charakter. Es blieb jedoch i n A n l e h n u n g a n
die ursprüngliche griechische Bedeutung (»Charakter« = das Einge-
prägte) i n der lateinischen Volkssprache erhalten. Es bezeichnet hier ein
Werkzeug zum Einprägen etwa eines Brandmals (wie w i r es v o n W i l d -
w e s t - R i n d e r n kennen). Später - etwa bei dem römischen Dichter V a r r o
(••• 82 V. Chr.) - bedeutet es auch das Unterscheidungsmerkmal oder die
schriftstellerische Eigenheit. Augustinus ( 3 5 4 - 4 3 0 ) greift das W o r t aus
12 Einige Worte im Vorhiinein

der Umgangssprache auf u n d wendet es ins Religiöse. Er bezeichnet m i t


Charakter ein unauslöschliches Merkmal. So w i r d der Seele des Täuf-
lings d u r c h die Taufe ein unauslöschliches Merkmal eingeprägt.

Unauslöschliches Thomas v o n A q u i n beruft sich i m 13. Jahrhundert auf Augustinus u n d


Merkmal? verwendet das W o r t in ganz ähnlicher Weise: D u r c h einige Sakramen-
te (Taufe, F i r m u n g , Priesterweihe) werden die Gläubigen m i t einem u n -
auslöschbaren M a l gekennzeichnet. Das gesamte M i t t e l a l t e r übersetzt
das W o r t Charakter weder ins Lateinische noch ins Mittelhochdeutsche
u n d verwendet es i n der Bedeutung eines Zeichens für einen schwer zu
erfassenden Z u s a m m e n h a n g i m religiösen wie i m profanen Sinn ( Z a u -
berzeichen, Schriftzeichen).
G o t t f r i e d W i l h e l m Leibniz ( 1 6 4 6 - 1 7 1 6 ) geht noch darüber hinaus. Er
definiert Charakter als »gewisse Dinge, d u r c h welche die Beziehungen
anderer Gegenstände ausgedrückt werden u n d deren H a n d h a b u n g
leichter ist als die jener Gegenstände selbst«. W i r würden heute hier
eher den Terminus Metapher verwenden. Charakter geht noch über das
Symbol- oder Zeichenhafte hinaus. Bis h i n zu I m m a n u e l K a n t ( 1 7 2 4 -
1804) w i r d das W o r t zumeist verstanden als symbolhaftes Zeichen für
einen sprachlich schwer zu erfassenden Z u s a m m e n h a n g . I m ethischen
Bereich spricht K a n t nicht v o n Charakter, sondern v o n Tugenden u n d
Pflichten.
Die Sprache der Gegenwart nähert sich dem Verstehen des Charakters,
wie er v o n Theophrast beschrieben w u r d e , wieder an.

Verhalten und Charakter

M i t aller Sorgfalt gilt es jedoch zu unterscheiden zwischen Verhaltens-


weisen u n d Charaktereigenschaften.
Sind Tapferkeit, Gehorsam, Pünktlichkeit etc. Verhaltensweisen oder
Charaktereigenschaften? Sicherlich können sie beides sein. Da w i r aber
über Charakter handeln, sollten w i r sorgfältig zwischen beiden unter-
scheiden. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass M e r k m a l e wie
Treue, Würde, Freiheit, Gehorsam usw. interaktioneile Größen sind.
Ein Mensch ist an sich nicht treu, tapfer, frei und all das, sondern alles
dieses ereignet sich zwischen Menschen u n d unter bestimmten Bedin-
gungen. Bedeutet das, dass sie alle »nur« Verhaltensweisen sind? Si-
cherlich n i c h t , denn Verhaltensweisen werden dem Verhalten eines
Menschen zugeschrieben, während interaktioneile M e r k m a l e als Sub-
jekt eben n i c h t Personen, sondern I n t e r a k t i o n e n haben. Dieser Inter-
aktionismus w i r d n i c h t selten übersehen, w e n n man Treue, Tapferkeit,
Gehorsam i n das Spannungsfeld zwischen Verhaltensweisen u n d Cha-
Verhalten und Charakter 13

r a k t e r m e r k m a l e n einspannt. A b e r diese Differenzierung ist i n einem


nicht-interaktionistischen W e l t b i l d w i c h t i g , weil sie uns h i l f t , eine u n -
differenzierte Sicht menschlichen Verhaltens u n d menschlicher Persön-
lichkeitsmerkmale zu überwinden.

Unsere Bilder von So schreibt Eckart K l o b e für ein nicht-interaktionistisches W e l t b i l d


uns und der Welt sehr z u t r e f f e n d : »So wie es optische Darstellungen gibt, die K i p p b i l d e r
genannt w e r d e n , w e i l ihre I n t e r p r e t a t i o n durch den Betrachter v o n ei-
ner Bedeutung z u einer anderen g e k i p p t werden k a n n , so k a n n auch
das Verständnis gewisser W ö r t e r v o n einer Bedeutung auf eine andere
k i p p e n . Derartige W ö r t e r m i t kippfähigen Bedeutungen sind prinzipiell
geeignet, zu einem kippfähigen Verständnis des Gesprochenen, also
auch zu kippfähigen Denkprozessen . . . beizutragen. Die V e r w e n d u n g
dieser kippfähigen W o r t e zur Beurteilung verschafft ihnen zudem noch
die Möglichkeit, bei der Weltsicht, bei der Sichtweise auf die M i t m e n -
schen u n d bei der individuellen Selbstreflexion ganz merkwürdige Blü-
ten zu treiben, solange der feine Unterschied nicht beachtet wird.«
Was ist n u n der Unterschied zwischen einer Verhaltensweise u n d einer
Charaktereigenschaft? Verfügt etwa jeder, der sich in einer bestimmten
Situation tapfer verhält, auch über das C h a r a k t e r m e r k m a l Tapferkeit}
Offensichtlich n i c h t . Ist es denkbar, dass ein M e n s c h , der das Charak-
t e r m e r k m a l tapfer besitzt, sich stets u n d unter aller Umständen auch
tapfer verhält? W i e d e r u m offensichtlich nicht. U n d weil das so ist, nei-
gen w i r dazu, in unseren K o n s t r u k t b i l d u n g e n v o n uns selbst, von ande-
ren, v o n Beziehungen zwischen Menschen beides entweder zu verwech-
seln oder es einmal so u n d ein anderes M a l anders zu sehen (wie bei
einem K i p p b i l d ) . Ein Verhaltensmerkmal hat zum Subjekt ein Verhal-
ten, das Subjekt einer Charaktereigenschaft dagegen ist eine Person.
Natürlich ist die Person keine gegebene Größe, sondern ein K o n s t r u k t :
Das B i l d , das w i r v o n uns selbst haben, bestimmt nicht allein unser
Verhalten, sondern auch unsere Eigenschaften.

Jedes interaktionistische W e l t b i l d w i r d ganz wesentlich bestimmt v o m


Selbstkonstrukt, v o m K o n s t r u k t anderer Personen - vor allen v o n de-
nen, die tatsächliche oder potentielle Interaktionspartner sind - und
dem K o n s t r u k t v o n zwischenpersonalen Beziehungen allgemein. W i e
w i r d man in einem solchen W e l t b i l d Charakter u n d Charakterlosigkeit
bestimmen?
14 Einige Worte im Voriiinein

Moral und Ethik

Dass Charakterlosigkeit i n aller Regel auf eine defizitäre M o r a l oder


E t h i k zurückgeführt werden k a n n , w i r d i m Folgenden offensichtlich
werden. Moral bezeichnet einen K a t a l o g v o n N o r m e n , die i n einem be-
stimmten Sozialgebilde (zumeist u m dessen Bestand zu sichern oder sei-
nen eigenen N u t z e n z u mehren) bewusst oder unbewusst e n t w i c k e l t
w u r d e n . M o r a l ist also stets ein systemspezifischer N o r m e n k a t a l o g .
W i r unterscheiden zwei Typen der M o r a l : eine endogene u n d eine exo-
gene.
Endogen (griechisch) bedeutet von innen kommend. I c h spreche i m
Folgenden v o n dem inneren Moralgesetz. Natürlich stammen auch die-
se N o r m e n v o n außen. Das K i n d w i r d nicht m i t ihnen geboren, sondern
übernimmt sie v o n seiner U m g e b u n g u n d »verinnerlicht« sie so, dass es
sie später k a u m i n Frage stellen k a n n .
Die exogene M o r a l , die i m Folgenden als das äußere Moralgesetz be-
zeichnet w i r d , fasst die N o r m e n zusammen, die erkennbar v o n außen
stammen, also die Gesetze, A r b e i t s v o r s c h r i f t e n , aber auch ungeschrie-
bene Regeln des Zusammenlebens.

Das innere Moralgesetz

Tief sitzende Viele N o r m e n endogener M o r a l sind allen oder doch allen nicht-
Regeln faschistoiden Systemen gemeinsam. D a w i r Menschen selten i n einer
robinsonschen Einsamkeit leben (sieht m a n einmal v o n autistisch ge-
störten Menschen ab), sind w i r alle auch Teile v o n sozialen Systemen.
M a n c h e N o r m e n dienen dem Erhalt jedes sozialen Systems. W e n n w i r
schon als K i n d i n ein solches System (meist v o m T y p Familie, Kinder-
garten, Grundschule) hinein sozialisiert w u r d e n , haben w i r dessen
N o r m e n internalisiert u n d so eine endogene M o r a l e n t w i c k e l t .
Das innere Moralgesetz bestraft das Übertreten seiner N o r m e n endo-
gen (also aus dem Innen des Menschen k o m m e n d ) . Solche endogenen
Strafen können sein:
- Ängste (früher besonders die »Angst, in die Flölle zu k o m m e n « )
- Schuldgefühle
- Schamgefühle oder
- Gefühle geminderten Selbstwerts oder verringerter Selbstachtung.
Menschen verhalten sich also i n einem bestimmten sozialen System so-
zialverträglich, w e n n sie die Regeln dieser endogenen N o r m e n beach-
ten. I m Folgenden werden w i r die meisten Formen der Charakterlosig-
keit a u f solches systemisches Versagen zurückführen. Das soll n i c h t
heißen, dass nicht auch sittliches Versagen vorliegt.
Die Sittliclnl<eit 15

Das äußere Moralgesetz

Nur nicht Das überkommene M o r a l s y s t e m Europas ist bis heute weitgehend v o m


erwischen lassen? C h r i s t e n t u m geprägt u n d sollte den Bestand des sozialen Systems
Abendland sichern. Es w a r n i c h t imstande, entscheidende Fragen der
Nachneuzeit zu lösen. Deshalb w a n d t e n sich viele Menschen v o n der
alten endogenen M o r a l ab. D i e n i c h t beantworteten Fragen betrafen
v o r allem:
- die Überbevölkerung mancher Weltregionen
- die ü m w e l t p r o b l e m a t i k u n d
- die A u t o d y n a m i k des technischen Fortschritts u n d das sozialverträg-
liche Verhalten sozialer Systeme.
A n die Stelle des inneren Moralgesetzes t r a t für viele Menschen ein
äußeres, das eigentlich nichts m i t » M o r a l « i m klassischen W o r t v e r -
ständnis zu t u n h a t , sondern a u f den Erfordernissen einer o p t i m a l e n
Lebensökonomie beruht. Wer das äußere Moralgesetz übertrat, musste
m i t sozialen Strafen rechnen, z. B. m i t mangelnder sozialer Geborgen-
heit, Sicherheit, A n e r k e n n u n g . . . Menschen verhalten sich sozialver-
träglich, u m solche »Strafen« zu vermeiden. Das Problem dieses äuße-
ren Moralgesetzes liegt auf der H a n d : » M a n d a r f alles t u n , w e n n es n u r
nicht h e r a u s k o m m t « , denn d a n n k a n n m a n ja auch nicht bestraft wer-
den.

Die Sittlichkeit

»Liebe das Jede Gesellschaft u n d jeder Einzelne legt ständig sittliche M a ß s t ä b e an,
Leben!« w e n n er Dinge u n d Verhaltensweisen als »sehr gut«, »weniger gut«
oder »schlecht« klassifiziert. Der M a ß s t a b der Sittlichkeit ist das, was
die Philosophen höchstes ethisches Gut nennen. Die E t h i k ist eine p h i -
losophische D i s z i p l i n , deren wichtigste Aufgabe eben das Herausarbei-
ten dieses höchsten Gutes ist, v o m dem her sich Sittlichkeit bestimmt.
W i r entscheiden uns für die Liebe z u m Leben, die B i o p h i l i e , als höchs-
tes ethisches G u t . V o n diesem G u t aus k a n n die sittliche Qualität einer
H a n d l u n g bestimmt w e r d e n . A l s Handlungsleitsatz ( B i o p h i l i e - M a x i -
me) ließe sich also f o r m u l i e r e n :

Handle stets so, dass durch dein Handeln fremdes und eigenes personales Leben eher
gemehrt als gemindert wird.
16 Einige Worte im Vorlninein

Personales Leben bezeichnet dabei alle Dimensionen des menschlichen


Lebens, das physische, das emotionale, das soziale, das geistige, das
intellektuelle, das fachliche, das k o g n i t i v e , das sittliche, das religiöse ...
Leben.
Diese M a x i m e ist f o r m a l . Das heißt: Sie muss i n jeder sozialen Situati-
on v o m H a n d e l n d e n neu ausgelegt w e r d e n . Sie ist außerdem transsyste-
misch. Das heißt: Sie w i r d nicht v o n einem sozialen System e n t w i c k e l t
und gilt nicht ausschließlich innerhalb eines sozialen Systems, sondern
immer u n d unter allen Umständen.
Bestandsaufnahme 17

Bestandsaufnahme

Woher stammen die Grundzüge meines inneren Moralgesetzes (s. S. 14)?

Familie

Schule

Kirche

Andere Quellen

Welche Grundzüge scheinen mir heute fragwürdig?

Welche schaden mir?

Wie kann ich hier etwas ändern?


18 Einige Worte im Vorhinein

Was gewinne oder verliere ich, wenn ich etwas ändere?

Wie kann ich vorgehen?

Woher stammen die Grundzüge meines äußeren Moralgesetzes (s. S. 15)?

Familie/Partnerschaft

Beruf

Freundeskreis

Andere Quellen
Bestandsaufnahme 19

Welche Grundzüge scheinen mir heute fragwürdig?

Welche schaden mir?

Wie kann ich hier etwas ändern?

Was gewinne oder verliere ich, wenn ich etwas ändere?

Wie kann ich vorgehen?

Wie würde ich allein für mich das höchste ethische Gut (s. S. 15) definieren?
20 Einige Worte inn Vorhinein

Wie weit ist mein Leben danach ausgerichtet?

Will ich etwas ändern?

Was kann ich dabei gewinnen oder verlieren?

Wo könnte ich anfangen?


1 DIE
• CHARAKTERLOSIGKEIT

Leben aus Was ist typisch für alle Menschen, die i h r Menschsein charakterlos le-
zweiter Hand ben oder gar leben wollen? Sie alle werden gelebt, leben ein Leben aus
zweiter H a n d . Ein M e n s c h , der n i c h t lebt, sondern gelebt w i r d , ist »das
ärmste aller Schweine«. Er w i r d zu einem Sklaven, zu einem Menschen,
der n i c h t mehr in der Lage ist, selbstverantwortet sein Leben zu gestal-
ten - u n d somit unfrei.
N i c h t Charakter ist eine E o r m der Behinderung, sondern die Charak-
terlosigkeit. Diese Behinderung f o r d e r t für sich A n e r k e n n u n g u n d A k -
zeptation. M a n k a n n die Menschen, die auf diese Weise behindert sind,
(leider) n i c h t in behütete Areale einsperren, denn sie suchen u n d b r a u -
chen eine F o r m der Öffentlichkeit, v o n der her sie sich selbst definieren.
A u c h das ist ein »Leben aus zweiter H a n d « . Sie benötigen Anerken-
n u n g und/oder repressive M a c h t ^ Es ist o f t frappierend, die extreme
Sozialverwiesenheit dieser armen Menschen zu sehen, die meist unend-
lich einsam sind.
Charakterlosigkeit k a n n mancherlei Gründe haben. H i e r sind vor allem
zu nennen:
- das Fehlen oder Nicht-Beachten des inneren Moralgesetzes (s. S.
22-70)
- das Fehlen oder Nicht-Beachten des äußeren Moralgesetzes (s. S.
74-83)
- das Fehlen oder Nicht-Beachten einer sittlichen M o r a l (s. S. 8 6 -
102).

1 W i r v e r w e n d e n hier ein H a n d l u n g s - U m w e l r - M o d e l l der M a c h t . M i c h e l F o u c a u l t b e t o n t


den s t r i k t r e l a t i o n a l e n C h a r a k t e r der M a c h t v e r h ä l t n i s s e . M a c h t ist kenie I n s t i t u t i o n ,
n i c h t eine S t r u k t u r , n i c h t die » M ä c h t i g k e i t einiger M ä c h t i g e r « s o n d e r n eine k o m p l e x e
strategische S i t u a t i o n , die i m m e r d a n n erzeugt w i r d , w e n n sich soziale Systeme a u s b i l -
den. M a c h t k a n n k o n s t r u k t i v w i e repressiv sein, je nach der A r t der Systeme oder Inter-
a k t i o n e n i m Innen oder Außen solcher Systeme, ( v g l . W o l f g a n g D e t e l , M a c h t , M o r a l ,
Wissen. F r a n k f u r t (stw 1362) 199Ü, 26) A u s g e n o m m e n sind hier allein soziale Systeme
des Typs » T e a m - , die s t r u k t u r e l l die A u s b i l d u n g v o n M a c h t ausschlielsen.
1. Wenn das
innere Moralgesetz versagt

Sozialverträg- Das Fehlen oder Nicht-Beachten einer endogenen M o r a l erkennt m a n


lichkeit ist der am Fehlen jeder sozialen Tugend. Was ist unter sozialen Tugenden zu
Maßstab verstehen? I m m a n u e l K a n t hat sie definiert: »Nun ist das Vermögen
und der überlegte Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner
Widerstand zu t u n , die Tapferkeit u n d i n Ansehung des Gegners der
sittlichen Gesinnung i n uns Tugend.« ( A A V I , 380) Er bestimmt sie als
»moralische Tapferkeit«, da i h r ein starker, aber ungerechter Gegner
entgegensteht. Sie beruht ausschließlich auf freiem Z w a n g , den ein
Mensch sich selbst auferlegt. U n d der Beachtung moralischer N o r m e n
stehen mächtige u n d einflussreiche Feinde gegenüber.
Das W o r t Tugend ist heute i n V e r r u f geraten. Als G r u n d dieser negati-
ven Besetzung des Wortes möchte ich den Untergang der Neuzeit m i t
ihren Wertvorstellungen annehmen. Ein weiterer G r u n d mag sein, dass
sich vor allem die M o r a l t h e o l o g i e des Wortes bemächtigte u n d die ver-
breitete A b n e i g u n g gegen sie sich auch auf ihre Terminologie ausdehn-
te. Die E t h i k spricht heute lieber v o n moralischen Werten^ u n d be-
zeichnet d a m i t N o r m e n u n d deren Ergebnisse.
W i r reduzieren hier die endogene Moral auf den für unser Vorhaben
w i c h t i g e n Aspekt der Sozialverträglichkeit. Die Sozialverträglichkeit
bezieht sich stets auf bestimmte soziale Gebilde wie Partnerschaft, Fa-
milie, Unternehmen, Parteien, Staat ... Dabei w i r d stets vorausgesetzt,
dass diese Gebilde sich nicht selbstzwecklich (= faschistoid)-' verhalten.

2 » M o r a l i s c h e Werte« s i n d zu unterscheiden v o n »Werten« s c h l e c h t h i n . Diese bezeichnen


das k o l l e k t i v ( i n n e r h a l b eines sozialen Systems) W ü n s c h b a r e . So g i b t es p o l i t i s c h e , so-
ziale, ö k o n o m i s c h e , k u l t u r e l l e W e r t e . D a m i t sie sozialverträglich realisiert w e r d e n , soll-
ten die H a n d l u n g e n oder Sachverhalte, die sie erzeugen, v o n m o r a l i s c h e n W e r t e n gelei-
tet sein. Diese übernehmen also die A u f g a b e v o n » M e t a w e r t e n « .
3 Selbstzwecklich verhält sich s t r u k t u r e l l vorgegeben oder d u r c h das V e r h a l t e n der i n i h m
Lebenden ein Sozialgebilde genau d a n n , w e n n es n u r den Selbsterhalt u n d - w e n n dieser
d a d u r c h n i c h t gefährdet w i r d - die E x p a n s i o n anstrebt. Es sucht also ausschließlich sei-
nen N u t z e n u n d n i c h t primär den N u t z e n der M e n s c h e n i n n e r h a l b u n d a u ß e r h a l b des
Sozialgebildes.
Der Systemagent 23

Wer sich i n einem Sozialgebilde sozialverträgiich verhält, degeneriert


leicht z u m Systemagenten. Oder er e n t w i c k e l t eine andere F o r m der
Charakterlosigkeit, die ich Ihnen n u n als A b f o l g e v o n Typen vorstellen
w i l l . N i c h t selten sind diese Typen p o l i t i s c h , ökonomisch u n d auch p r i -
vat durchaus erfolgreich. Jedem M e r k m a l fehlender oder mangelnder
w i e auch vorhandener Charakterstärke werde ich das eine oder andere
Fallbeispiel folgen lassen. Keines dieser Beispiele ist k o n s t r u i e r t , allen
liegen persönliche E r f a h r u n g e n zugrunde.

Der Systemagent

Der Mensch: D i e Versuchung, z u m Systemagenten zu v e r k o m m e n , ist vor allem i n


ein Mittel zum faschistoiden Sozialgebilden groß. Systemagenten können - w e n n die
Zweck Ziele des sozialen Systems, dessen Agenten sie sind, anders n i c h t d u r c h -
zusetzen oder z u erreichen sind - Menschen z u reinen M i t t e l n ihrer
Ziele degradieren. Sie verstoßen so gegen den praktischen I m p e r a t i v
K a n t s : »Handle so, dass d u die Menschheit s o w o h l i n deiner Person als
i n der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Z w e c k , niemals
als bloßes M i t t e l brauchst.« ( A A IV, 429) Der Systemagent »verzweck-
licht« n i c h t n u r andere Menschen, sondern auch sich selbst u n d ver-
stößt d a m i t gegen die grundlegende N o r m jeder M o r a l .
Systemagenten zu sich selbst zu bringen ist eine der schwierigsten A u f -
gaben jedes Coachings. Sie bauen mächtige Panzer u m sich auf. Einen
der mächtigsten bezeichnen sie m i t dem W o r t »Pflicht«''. »Ich habe n u r
meine Pflicht getan« w a r die Entschuldigung v o n H i t l e r s Schergen u n d
ist noch die Entschuldigung so manches politischen u n d ökonomischen
Systemagenten, dem a m Wohlergehen seines Systems nahezu alles gele-
gen ist, k a u m aber an dem der Menschen innerhalb u n d außerhalb des
Systems.
I n den letzten Jahren k a m eine neue Version des Systemagenten auf den
M a r k t . Es sind jene Manager, denen der Shareholder Value über alles
geht - w o b e i sie den Shareholder Value fälschlich auf den Bilanzgewinn
(und n i c h t auf den Unternehmenswert) beziehen. Ihre »Verpflichtung«
gilt der P r o d u k t i o n s b e d i n g u n g Kapital u n d erst sekundär u n d mittelbar
i n dem Ausmaß, w i e diese dem K a p i t a l nützen, den P r o d u k t i o n s f a k t o -

4 »Pflicht« bezeichnet n a c h K a n t den »Begriff einer N ö t i g u n g der freien W i l l k ü r d u r c h s


Gesetz; dieser Z w a n g m a g n u n ein äußerer oder ein Selbstzwang sein.« ( A A V I , 3 7 9 ) I n
unserem K o n t e x t k a n n P f l i c h t n u r e i n Selbstzwang sein. Dieser Selbstzwang ist entweder
m o r a l i s c h e r N a t u r ( w e n n er d e m p r a k t i s c h e m I m p e r a t i v g e h o r c h t ) , oder er ist zwangs-
neurotischer A r t . E i n Systemagent k a n n sich n u r a u f eine neurotische V a r i a n t e v o n
P f l i c h t b e r u f e n , s o f e r n er d e n n e i n solches Berufen n i c h t n u r als faule E n t s c h u l d i g u n g
gebraucht.
24 I. Die Charakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

ren w i e Arbeit, Umtvelt, Mobilität (geistige wie lokale), Kreativität, Be-


triebsklima, Unternehmenskultur ...
V e r m u t l i c h seit dem A u f k o m m e n politischer Herrschaft begegnen w i r
einem anderen Typ des Systemagenten. Er w i l l m i t allen M i t t e l n an die
M a c h t k o m m e n oder sie sich erhalten. D a z u w a r e n M i t t e l w i e physi-
scher, psychischer oder sozialer M o r d , V e r l e u m d u n g , üble Nachrede,
Verbannung möglicher Wettbewerber u m die M a c h t , Unterdrücken
v o n K r i t i k keineswegs zu schäbig. Die »Untertanen« galt es n u r r u h i g
zu halten, sie w a r e n keineswegs primärer Z w e c k oder gar das Z i e l
politischen Agierens. Der Faschist ist ein besonders problematisches
Exemplar eines Systemagenten.
Ein anderer T y p des Systemagenten ist der Marxist. M a r x i s t e n folgen i n
ihrer Staatstheorie Jean-Jacques Rousseau ( 1 7 1 2 - 1 7 7 8 ) , für den der
Staat die Aufgabe hatte, das G e m e i n w o h l zu mehren. D a m i t stehen die
M a r x i s t e n i m W i d e r s p r u c h z u der Staatstheorie John Lockes ( 1 6 3 2 -
1704), nach dessen liberaler Theorie der Staat ausschließlich die Funk-
t i o n hat, Schaden v o m G e m e i n w o h l derart abzuhalten, dass der abge-
wendete Schaden n i c h t unverhältnismäßig i n die Freiheitsrechte der
M i t g l i e d e r des Staatsvolkes eingreife.^ Systemagenten neigen i n ihren
Allmachtsvorstellungen dazu, M a r x i s t e n zu sein. Sie wissen besser, was
den Menschen nutzt, als diese selbst. Das ist der am weitesten verbrei-
tete Typ politischer A r r o g a n z , die sich m i t dem Mäntelchen der W o h l -
fahrt kleidet. Menschen leben n i c h t mehr ihr eigenes Leben, sondern
werden gelebt, v o n den Zwängen, p o l i t i s c h etwas z u m vermeintlichen
N u t z e n der Menschen zu verändern.

Fallbeispiele

Frisiertes ^ i ^ H e r r A ist Finanzvorstand eines großen deutschen Unternehmens.


Betriebsergebnis Er ist stolz auf sein Unternehmen u n d identifiziert sich m i t i h m . Alles,
was dem Unternehmen schaden könnte, sei es ein Rufschaden oder ein
finanzieller Schaden, versucht er zu vermeiden. Dabei ist i h m jedes M i t -
tel recht. Er e r z w i n g t eine Öffentlichkeitsarbeit, die das Unternehmen
in glänzendem L i c h t erstrahlen lässt. Alles das hält er für seine Pflicht.
Als sich jedoch das Betriebsergebnis schon i m zweiten Jahr ver-
schlechtert, d r i n g t er darauf, Kosten (und hier denkt er ganz i n der W e i -
se eines Systemagenten v o r allem an Arbeitskosten) zu senken u n d

5 D i e liberale Staatsidee ist einer m a r x i s t i s c h e n u n b e d i n g t v o r z u z i e h e n , da der B e g r i f f


» G e m e i n w o h l « n u r i d e o l o g i s c h b e s t i m m t w e r d e n k a n n . E i n C h r i s t w i r d d a r u n t e r etwas
anderes verstehen als e i n M a r x i s t , e i n L i b e r a l e r etwas anderes als e i n M u s l i m . . . D a -
gegen besteht w e i t g e h e n d Konsens über den Sachverhalt »Schaden v o m G e m e i n w o h l
wenden«.
Der Egoist 25

nicht etwa die Kosten-Leistungsrechnung durch Leistungsverbesserung


zu o p t i m i e r e n . N a he z u 2 0 % der M i t a r b e i t e r werden auf sein Betreiben
h i n (natürlich »sozialverträglich«!) entlassen. Diese Entlassungen w a -
ren keineswegs n o t w e n d i g , u m den Unternehmensbestand zu sichern,
sondern u m das Betriebsergebnis (und vor allem den Bilanzgewinn) zu
steigern. E a k t o r v e r a n t w o r t u n g ist einem solchen Systemagenten ein
F r e m d w o r t . Er kennt meist n u r die V e r a n t w o r t u n g v o r dem Faktor
»Kapital«, den es möglichst gut zu bedienen gilt.

Wahnwelt eines 'i^ Ein P o l i t i k e r scheute n i c h t v o r groben Lügen über die zukünftige
Politikers E n t w i c k l u n g der B R D zurück - allein zu dem Z w e c k , sein Ansehen in
der Bevölkerung zu mehren u n d wieder gewählt zu we rd e n . Die Lügen
w a r e n so tragisch-komisch, dass m a n m i t einigem Recht vermuten
k o n n t e , der betreffende Politiker habe u m sich h e r u m eine W a h n w e l t
aufgebaut. Es ist keineswegs selten, dass Systemagenten, auf ihr System
f i x i e r t , die Außenwelt t o t a l , bis ins Paranoide verstellt w a h r n e h m e n .

Sozial- 'i^ Ein Politiker, lange Jahre M i n i s t e r i n verschiedenen Ressorts, w o l l -


versicherung te m i t nahezu allen M i t t e l n eine neue Sozialversicherung einführen.
Das v o n i h m o f f e n zugegebene Z i e l w a r es n i c h t etwa, schweren Scha-
den v o m G e m e i n w o h l zu w e n d e n , sondern das W o h l der Menschen zu
mehren, o b sie w o l l t e n oder n i c h t . Er w a r so z u m Gefangenen des Bö-
sen g e w o r d e n . Dessen W i l l e n galt es zu erfüllen. U n d er hatte E r f o l g ,
denn n i c h t wenige seiner Kabinettskollegen waren (und sind) M a r x i s -
ten. Allmachtsvorstellungen treten offensichtlich gehäuft i n sozialen
Systemen bei M a c h t h a b e r n auf, die ihren W i l l e n ihrer inneren U m w e l t
(= den Menschen, die i n ihnen leben) aufzwingen können. Dass es sich
hierbei u m einen Fall v o n Systemagententum handelt, dürfte offensicht-
lich sein. Marxisten bevölkern alle Parteien v o n der C D U bis zur PDS.

Der Egoist

Mein Ich, das ist Ein Egoist^ sucht seinen eigenen N u t z e n m i t möglichst geringem A u f -
die Welt w a n d zu erzielen. Der Vorteil anderer interessiert i h n nur, insoweit er
auch i h m nützt. »Was b r i n g t es mir?« ist die zentrale Frage, die ein
Egoist vor jeder n i c h t zur R o u t i n e gewordenen F i a n d l u n g oder Unter-
lassung stellt. M i t u n t e r argumentieren Egoisten so: Wenn jeder seinen

6 M a n l<ann andererseits den M a n g e l an Egoismus bei solchen M e n s c h e n beklagen, die i r -


r i t i e r t sich selbst vergessen. Sie w e r d e n gelebt, geschoben, getreten . . . Sie w o l l e n nichts
anderes, als möglichst i n Ruh e gelassen zu w e r d e n . Sie haben n i c h t e i n m a l die physische,
die psychische oder die soziale K r a f t , ihren eigenen N u t z e n zu b e s t i m m e n , geschweige
d e n n , i h n zu suchen u n d anzustreben.
26 I. Die Charal<terlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

eigenen N u t z e n anstrebt, so erreicht er den o p t i m a l e n N u t z e n aller. Es


wäre also anzustreben, dass alle Menschen Egoisten seien. Spieltheo-
retisch ließe sich v o n diesem Ansatz her sogar eine eigene Tugendlehre
entwickeln.
D e m Egoisten fehlt der Sinn dafür, dass w i r Menschen existentiell so-
ziale Wesen sind u n d diese Sozialität sich auch auf den N u t z e n anderer
u n m i t t e l b a r ausrichten lassen muss. Sicherlich spielt menschliches Le-
ben i m Spannungsfeld zwischen Egoismus u n d A l t r u i s m u s . Einseitige
Fixierungen sind aber v o m Übel.
Das soll n u n keineswegs heißen, dass Egoisten erfolglos seien. Es gibt
sie i n W i r t s c h a f t u n d P o l i t i k , i n Familien u n d Parteien, i n K i r c h e n u n d
Gewerkschaften. Erfolgreiche Egoisten sind selten bescheiden - m i t u n -
ter leiden sie an einer Großtuerei, die an eine narzisstische Neurose
denken lässt. Diese ihre Großtuerei erschöpft sich nicht in Erzählungen
v o n eigenen Erfolgen, sondern e n t w i c k e l t zudem Techniken der Selbst-
darstellung, die anderen aufs Erste i m p o n i e r e n . Da ihre Selbstliebe kei-
ne Grenzen kennt, ist jede Beleidigung des E G O - sei es d u r c h K r i t i k ,
sei es d u r c h M i s s e r f o l g , sei es d u r c h K r a n k h e i t - eine existentiell erfah-
rene Kränkung. Sie gilt es u m nahezu jeden Preis zu vermeiden. Ist Ver-
m e i d u n g nicht möglich, so w i r d die Realität verleugnet oder auf andere
Weise abgewehrt.
Die Liebe zur Selbstrepräsentation einerseits u n d der angstbesetzte
Rückzug auf sich selbst andererseits, w e n n das E G O beleidigt w u r d e ,
machen die neurotischen Züge des Egoismus deutlich. N i c h t wenige
Egoisten sind entweder depressiv, oder sie ähneln armen kleinen Würst-
chen i m Z u s t a n d der D a u e r e r e k t i o n . Das Sich-unter-allen-ümständen-
für-wichtig-FIalten macht einen Egoisten nicht selten erfolgreich. A n d e -
re Menschen halten i h n , zureichende Ich-Schwäche vorausgesetzt, eben
auch für w i c h t i g .
Egoisten gibt es in nahezu allen Bereichen. Besonders aber häufen sie
sich i n Berufen, i n denen eine gewisse Selbstdarstellung nützlich, o f t gar
n o t w e n d i g ist: Managementtrainer, Unternehmenssanierer, Schauspie-
ler, Politiker sind nicht selten Egoisten. N i c h t nur, w e i l sie zu einer ego-
manen Selbstdarstellung neigen, sondern auch aus s t r u k t u r e l l e n Grün-
den. Es ist n i c h t leicht nachzuvollziehen, w a r u m Politiker, v o r allem,
w e n n sie als K o l l e k t i v tätig w e r d e n , der w a h n h a f t verstellten M e i n u n g
sind, sie wüssten besser, was den Menschen nütze, als diese selbst. Die
weitaus meisten Gesetze setzen diesen Größenwahn voraus, i n dem die
Politiker glauben, i n Gestalt v o n Übervätern den unmündigen Unterta-
nen verordnen zu müssen, was diesen N o t t u t . W i r haben solche patho-
logischen Vorstellungswelten schon an einem Beispiel des Systemagen-
tentums vorgestellt (s. S. 2 3 - 2 5 ) .
Der Egoist 27

Egoismus und D o c h solhe m a n auch das Thema des poütischen Egoismus i n eine
Kapitalismus struliturelle wirtschaftUche Überlegung einbinden: Es gibt V o l k s w i r t -
schaften, die v o m Egoismus ihrer Bürger leben. H i e r z u zählen alle k a -
pitalistisch orientierten V o l k s w i r t s c h a f t e n . ' ' I m Gegensatz z u solida-
risch orientierten Wirtschafts- u n d Gesellschaftssystemen denkt der
Kapitalismus wesentlich egoistisch. A d a m Smith ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ) , einer
der Theoretiker der kapitalistischen W i r t s c h a f t s o r d n u n g , e n t w a r f das
(kapitalistische) M o d e l l einer W i r t s c h a f t s o r d n u n g , die sich ohne staat-
liche E i n g r i f f e o p t i m a l entfaltet, w e n n n u r jeder Bürger seinen persönli-
chen N u t z e n zu o p t i m i e r e n versucht u n d d a m i t auch das G e m e i n w o h l
o p t i m i e r t . Der Kapitalismus gilt zu Unrecht als bloße Wirtschaftstheo-
rie. Er ist längst die heute in den meisten europäischen Staaten geltende
Gesellschaftstheorie.

Fallbeispiele

Manische Uber- ' i ^ E i n bekannter Management- u n d Unternehmensberater ist so sehr


zeugungskraft v o n sich selbst u n d seiner W i c h t i g k e i t überzeugt, dass er nahezu aus-
schließlich über seine (in der T a t erheblichen) Erfolge berichtet. Gele-
gentliche Misserfolge können i h n so erschüttern, dass er i n physische
K r a n k h e i t e n flieht. Es gelingt i h m , seinen Klienten m i t seiner Ȇber-
zeugungskraft« ein Pseudowissen einzureden, das diese dann auch fas-
ziniert zu objektivieren versuchen. Schaut man näher h i n , bemerkt man
b a l d , dass diese »Überzeugungskraft« eine K o m b i n a t i o n v o n i n f a n t i l e r
Aggressivität u n d einem ebenso i n f a n t i l e n Narzissmus ( m i t ausgebilde-

7 » K a p i t a l « ( d . h . anlagewilliges Geld) ist n u r eine der P r o d u k t i o n s b e d i n g u n g e n , n i c h t


aber ein P r o d u k t i o n s f a k t o r , dessen Aktivität i n n e r l i c h i n das P r o d u k t eingeht. P r o d u k t i -
o n s f a k t o r e n s i n d neben A r b e i t auch i n n o v a t i v e s u n d kreatives D e n k e n sowie eine U n t e r -
n e h m e n s k u l t u r , die sorglichst die innere u n d äuf^ere Beziehungsarbeit p f l e g t . W i r spre-
chen v o n k a p i t a l o r i e n t i e r t e n U n t e r n e h m e n , d i e i m Gegensatz z u a r b e i t s o r i e n t i e r t e n
stehen. I n solchen a r b e i t s o r i e n t i e r t e n , »laboristischen« Systemen b e s t i m m t der F a k t o r
»Arbeit« die i m U n t e r n e h m e n wesentlichen A b l ä u f e . D e r Betriebsrat v e r t r i t t das U n t e r -
n e h m e n nach i n n e n u n d a u ß e n . Das M a n a g e m e n t w i r d v o n i h m angestellt. O b ein l a b o -
ristisches U n t e r n e h m e n i n F o r m einer Produktionsgenossenschaft oder einer K a p i t a l g e -
sellschaft a u f g e b a u t w i r d , ist z w e i t r a n g i g . Es arbeitet i n s o w e i t hoch e f f i z i e n t , als es keine
effizientere A u f s i c h t über die b e t r i e b l i c h e n Abläufe gibt als G e l d i m Konsuminteresse.
D a b e i ist keineswegs ausgeschlossen, dass ein L a b o r i s m u s einen e n t w i c k e l t e n K a p i t a l i s -
mus voraussetzt. D e r K a p i t a l i s m u s ü b e r n i m m t - u m i n der G e d a n k e n w e l t des Schnei-
dergesellen W i l h e l m W e i t l i n g ( 1 8 0 8 - 1 8 7 1 ) , eines z e i t w e i l i g e n Weggefährten v o n K a r l
M a r x zu bleiben - die R o l l e der D i k t a t u r , die jedem L a b o r i s m u s vorausgehen muss. Dass
beide a n eine » D i k t a t u r des P r o l e t a r i a t s « d a c h t e n u n d n i c h t schon die » D i k t a t u r des K a -
pitals« als Vorläufer einer l a b o r i s t i s c h e n Gesellschafts- u n d W i r t s c h a f t s o r d n u n g sahen,
ist aus d e m revolutionären Zeitgeist der Z e i t erklärlich.
28 I. Die Charakterlosigi<eit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

ter Ich-Schwäche) zugrunde Hegt. Die negativen Seiten dieser InfantiHs-


men werden d u r c h scheinbare »Gröi?e« Icompensiert.

Super-Hausfrau 'i^ Eine allgemein anerkannte H a u s f r a u ist v o n ihrer Tüchtigkeit v o l l


überzeugt. Sie prahlt m i t ihren sozialen K o n t a k t e n u n d Beziehungen,
m i t ihren pädagogischen Fähigkeiten, m i t ihren Kochkünsten (letzeres
zu Recht), m i t ihren Möglichkeiten, andere zu überzeugen, m i t ihrer
Hilfsbereitschaft. Sie ist i n ihrer W a h r n e h m u n g großartig u n d nahezu
heiligmäßig. Dass sie m i t ihrer D o m i n a n z ihren Partner zu einem unter-
w o r f e n e n Wesen machte u n d alle ihre K i n d e r partnerschaftsunfähig
blieben, m e r k t sie n i c h t einmal. I h r übergroßes E G O w e h r t solche Ein-
sichten beharrlich ab.

Aktiengewinn 'i^ Einer meiner Kollegen besitzt seit einiger Z e i t A k t i e n . Er freut sich
und Gewissen wie ein Schneekönig, w e n n er feststellt, dass seine Papiere ihren K u r s -
wert u m 10 % mehren k o n n t e n . Er w a r stolz auf »seine« Unternehmen,
denen es gelang, d u r c h Kosteneinsparungen den Unternehmenswert
(den er allerdings recht vordergründig m i t den meisten Anhängern ei-
nes Shareholder-Value-Geredes am Bilanzgewinn auszumachen suchte)
zu steigern u n d so den W e r t seiner A k t i e n steigen zu lassen. A u f meine
Frage, auf welche Weise seine Unternehmen ihre Kostenpositionen ab-
bauten, erwiderte er: »Natürlich durch Entlassungen überflüssiger A r -
beitskräfte!« M e i n e Frage, ob die Entlassungen sich rechtfertigen lie-
ßen, u m den Unternehmensbestand z u sichern, beantwortete er m i t
einem Lachen, das m i r noch heute in den O h r e n k l i n g t : »Aber n e i n ! Es
k o m m t darauf an, L o h n k o s t e n i n den Bilanzgewinn einzustellen u n d so
die Rendite auf die A k t i e n zu erhöhen!« Er hielt es für durchaus m o r a -
lisch, das P r o f i t p r i n z i p über das Solidaritätsprinzip zu stellen. W o kä-
men w i r denn h i n , w e n n M i t l e i d die höchste moralische Instanz wäre?
Jeder ist sich doch selbst der Nächste. Ich ersparte m i r einen K o m m e n -
tar, als ich erkannte, dass mein Freund Opfer des Zeitgeistes geworden
war. Wenn der k o l l e k t i v e W a h n , in dem der Zeitgeist w u r z e l t , nicht so
verbreitet wäre, dann wäre er therapiebedürftig. U m nicht allzu sehr zu
vereinsamen, fand ich mich d a m i t ab, dass manche meiner Freunde zu
O p f e r n des s t r u k t u r e l l e n kollektiven Egoismus unserer Tage geworden
waren.

Der Feigling

Allgegenwärtig A u c h Feiglinge haben n i c h t selten in Ö k o n o m i e u n d P o l i t i k , in K i r c h e n


u n d Unternehmen reichen E r f o l g . Ich kenne eine Reihe v o n Betrieben,
in denen n u r Feiglinge reale Aufstiegschancen haben. Wen w o l l e n w i r
Der Feigling 29

hier einen Feighng nennen? FeigHnge sind Menschen, denen die »Tu-
gend« der Tapfer]<eit fehlt. Das haben sie gemeinsam m i t vielen System-
agenten, Angsthasen, Wadenbeißern, Liebedienern, Speichelleckern
und E x h i b i t i o n i s t e n .

Feiglinge sind v o r allem aber


- Menschen, die sekundäre Tugenden realisieren u n d sich selbst dabei
vergessen
- Menschen, die davonlaufen u n d sich vor V e r a n t w o r t u n g drücken
- Menschen m i t der Angst, sich falsch zu entscheiden
- Menschen, die sich v o n D r o h u n g e n bestimmen lassen
- Menschen, die sich v o n »Autoritäten« einschüchtern oder m a n i p u -
lieren lassen
- Menschen, die den Lebensmut verloren haben.

Menschen, die sekundäre Tugenden realisieren und sich


selbst dabei vergessen

Die ordentlichen Sekundäre Tugenden sind zu unterscheiden v o n den primären Tugen-


Bürger den, über die w i r an anderer Stelle (s. S. 109 ff.) zu reden haben, wenn
es uns u m die »Tugend« der Tapferkeit geht. H i e r sollen diese primären
Tugenden daher n i c h t ausgeführt, sondern n u r aufgezählt w e r d e n . Z u
ihnen gehören seit der griechischen A n t i k e :
Z i v i l c o u r a g e (s. S. 109)
Konfliktfähigkeit (s. S. I I I ) u n d
Epikie oder der k o n s t r u k t i v e Ungehorsam (s. S. 114).
Beginnen w i r m i t jenen Menschen, denen die primären Tugenden feh-
len. Sie haben sie entweder nie gelernt oder - durch böse E r f a h r u n g ei-
nes »Besseren« belehrt - wieder verlernt. Menschen ohne primäre T u -
genden verfügen n i c h t selten über eine Fülle sekundärer Tugenden wie
Gehorsam, Pünktlichkeit, Fleiß, Ordnungsliebe, Sauberkeit . . . Alle die-
se Tugenden sind an sich w e r t l o s . Das ist leicht daran zu erkennen, dass
sich gerade faschistoide oder faschistische politische, ökonomische, so-
ziale, ekklesiale, familiäre Systeme der Pflege dieser Tugenden befleißi-
gen u n d ihnen Eigenwert zusprechen. D e m Nationalsozialismus wäre
es unmöglich gewesen, gerade die »ordentlichen« Bürger ideologisch
für sich zu g e w i n n e n , w e n n sie n i c h t die sekundären Tugenden gepre-
digt u n d beobachtet hätten. Das soll n u n keineswegs heißen, dass se-
kundäre Tugenden stets gering zu schätzen sind. Sie haben einen hohen
W e r t , w e n n i h r Vorzeichen durch den Besitz primärer Tugenden be-
s t i m m t w i r d . D i e Ausübung sekundärer Tugenden, die n i c h t v o n p r i -
mären reguliert w e r d e n , ist ein Zeichen v o n Charakterlosigkeit.
30 I. Die Cliarai<terlosigl<eit - 1 . Wenn das innere IVloralgesetz versagt

Fallbeispiele

Pubertärer Scherz 'i^ Ein Lehrer achtete außerordenthch auf Pünkthchkeit, Sauberkeit
u n d O r d n u n g n i c h t n u r bei sich selbst, sondern auch bei seinen
Schülern. Anlässlich einer Klassenkonferenz w u r d e ein Schüler heftig
angegriffen, w e i l er seine Klassenlehrerin - eine Blondine - m i t wenig
anständigen B l o n d i n e n w i t z e n k a r i k i e r t hatte. Diese - i m übrigen recht
gut gelungenen - Zeichnungen machten i n der Klasse die Runde, u n d
so k o n n t e es n i c h t ausbleiben, dass auch die L e h r e r i n die anstößigen
Bilder zu Gesicht bekam. A n s t a t t n u n über solche pubertären Scherze
zu lächeln, sann sie auf Rache. Es k a m zu einer Klassenkonferenz, auf
der sie durchsetzen konnte, dass der Schüler ein »consilium abeundi«
erhielt (d. h . einen dringlichen Rat, bei nächster Gelegenheit die Schule
zu verlassen). Der erwähnte Lehrer kannte die pubertären Schwierig-
keiten seines Schülers, n a h m i h n aber v o r der Konferenz nicht i n
Schutz, o b w o h l eine solche I n t e r v e n t i o n m i t großer Wahrscheinlichkeit
die drastische Bestrafung des Schülers vermieden hätte u n d nahezu alle
Teilnehmer der Konferenz sich beim Anschauen der Bilder k a u m i h r
offenes Lachens unterdrücken k o n n t e n . Die Solidarisierung der Konfe-
renz m i t der L e h r e r i n wäre umgehend zerbrochen, w e n n auch n u r einer
der Lehrer den M u t gehabt hätte, solche Zeichnungen eines pubertie-
renden Jungen als das N o r m a l s t e auf der Welt hinzustellen. So gefähr-
dete der M a n g e l an Z i v i l c o u r a g e das Verbleiben des Schülers.

Übersteigertes ' i ^ Eine angestellte U n t e r n e h m e r i n liebte H a r m o n i e über alles u n d w a r


Harmonie- deshalb nur begrenzt konfliktfähig. O b w o h l ein M i t a r b e i t e r ständig
bedürfnis den Betriebsfrieden d u r c h abfällige u n d destruktive Bemerkungen ge-
fährdete - zumindest aber einige M i t a r b e i t e r demotivierte - , sah sie
sich n i c h t i n der Lage, m i t i h m ein Konfliktgespräch zu führen oder i h n
gar abzumahnen. Sie ängstigte sich vor der eigenen wie der fremden
Aggressivität. Sie entschuldigte sich m i t der Ausrede, der p r o b l e m a t i -
sche M i t a r b e i t e r sei ansonsten recht fleißig u n d verlässlich u n d verfüge
zudem noch über eine große » H a u s m a c h t « . Erst nachdem die Gesell-
schafter v o n diesem Missstand erfuhren, forderten sie die M a n a g e r i n
auf, ernsthafte Schritte zu unternehmen. D a sie sich dazu n i c h t i n der
Lage sah, kündigte sie i h r Vertragsverhältnis auf. I h r N a c h f o l g e r über-
sandte dem problematischen M i t a r b e i t e r auf der Stelle eine A b m a h -
nung, die alsbald zu einer Kündigung führte.

Sinnloser ' i ^ Es gibt A u t o f a h r e r , die m i t t e n i n der N a c h t auf verkehrsarmen


Gehorsam Kreuzungen vor roten A m p e l n anhalten. Sinnvoll wäre es (den A n o r d -
nungen des § 1 der S t V O folgend), die A m p e l als ein v o r f a h r t n e h m e n -
des Schild zu interpretieren u n d v o r s i c h t i g i n die K r e u z u n g einzufah-
Der Feigling 31

ren, sodass m i t Sicherheit Icein anderer Verkehrsteilnehmer auch n u r


belästigt würde. Statt dessen stehen die A u t o s da u n d verpesten die
U m w e l t . Das aber k a n n n i c h t I n t e n t i o n eines »vernünftigen N o r m e n g e -
bers« gewesen sein. Dass manche Normengeber alles andere als ver-
nünftig sind, ist kein moralischer oder juristischer, sondern ein typisch
deutscher psychopathologischer Sachverhalt. Eine A u t o f a h r e r , der auch
n u r ein w e n i g m i t der Tugend der Epikie (s. S. 114) vertraut ist, wäre
w i e beschrieben i n die K r e u z u n g eingefahren, ohne die rote A m p e l als
absolutes Stoppsignal misszuverstehen.

Menschen, die davonlaufen und sich vor Verantwortung


drücken

Allen Menschen M a n k a n n auf mancherlei Weisen v o r sich selbst d a v o n l a u f e n , u m sich


recht getan v o r V e r a n t w o r t u n g zu drücken. Die einen übernehmen keine Verant-
ist eine Kunst, w o r t u n g für ihr eigenes Fehlverhalten, sondern suchen sie andern anzu-
die keiner kann lasten. D i e anderen scheuen jede A r t der V e r a n t w o r t u n g , w e i l sie m i t
psychischem und/oder sozialem A u f w a n d verbunden ist. Wieder ande-
re scheuen sich v o r Entscheidungen jeder A r t , da sie ja Fehlentschei-
dungen sein könnten, für die sie sich v e r a n t w o r t e n müssten.
W i r unterscheiden zwei Formen der V e r a n t w o r t u n g . Da ist z u m einen
die V e r a n t w o r t u n g v o r dem eigenen Gewissen (interne V e r a n t w o r -
t u n g ) , z u m anderen die V e r a n t w o r t u n g v o r einem oder mehreren M e n -
schen (externe V e r a n t w o r t u n g ) . H i e r meinen w i r allein die externe Ver-
a n t w o r t u n g , die weniger dem moralischen als dem sozialen Gewissen
verpflichtet ist.
Menschen verhalten sich sozialverträglich, u m n i c h t sozial bestraft zu
w e r d e n . U n d diese F o r m des Bemühens, soziale Strafen zu vermeiden,
k a n n durchaus i n Feigheit gründen. Dass Menschen, die sich aus-
schließlich u m sozialverträgliches Verhalten mühen, v o n denen gelebt
w e r d e n , die über die Sozialverträglichkeit befinden u n d sozialunver-
trägliches Verhalten bestrafen können, ist offensichtlich. Sie führen
ein Leben aus zweiter H a n d . Sie leben n i c h t , sondern werden gelebt.
D a jedes Sozialgebilde andere Vorstellungen v o n Sozialverträglichkeit
e n t w i c k e l t , müssen solche Menschen w o h l oder übel über recht viele
N o r m e n k a t a l o g e verfügen, deren A n f o r d e r u n g e n n i c h t miteinander
übereinstimmen. Einer dieser N o r m e n k a t a l o g e gilt i n der Familie, der
andere i m U n t e r n e h m e n , ein dritter i m Freundeskreis . . . Dass sich die-
se Menschen k a u m mehr v o n i h r e m Gewissen u n d ihrer M o r a l her de-
finieren können, ist offensichtlich, denn sie verfügen über vielfache
Moralgesetze. Ihre Selbstdefinition - w e n n überhaupt vorhanden - ist
i n aller Regel sehr l a b i l , w e i l sie n i c h t v o n Werten getragen ist.
32 Die Charakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

Entscheidungsträgheit beruht meist auf dem Versuch, M ü h s a l , A n -


strengungen u n d Überwindung v o n Trägheit zu vermeiden, die m i t
Entscheidungen u n d ihrer Ausführung verbunden sind. Solche Trägheit
k a n n systemischer oder personaler A r t sein. Entscheidungsträge (oder
entscheidungsschwache) Personen sitzen aus, w a r t e n ab u n d reagieren
allenfalls, w e n n das unvermeidbar scheint. Sie verspüren nicht einmal
den geringsten A n t r i e b zu agieren.
Personale Entscheidungsträgheit k a n n mancherlei Gründe haben. Dazu
gehören Faulheit oder Niedergeschlagenheit, Angst vor einem Z u v i e l
an A r b e i t wie die Sorge, sich d u r c h Agieren Feinde zu schaffen.
Systemische Trägheit ist d a n n , w e n n ein soziales System eine bestimm-
te kritische Größe erreicht hat, eher die Regel als die Ausnahme. Die
Menge der Selbstverständlichkeiten n i m m t m i t der Z e i t u n d der Größe
zu. Das H a n d e l n gegen das Selbstverständliche gilt nicht n u r als über-
flüssig, sondern w i r d o f t genug auch als Störgröße gesehen. W i e k a n n
das, was einmal gut, r i c h t i g , erfolgreich war, n u n plötzlich schlecht,
falsch, erfolglos werden? Routine erspart finanziellen, psychischen, so-
zialen A u f w a n d - w a r u m sollte man v o n i h r lassen?

Fallbeispiel

Nur ein Kratzer ' i ^ Ein A u t o f a h r e r kratzte beim Ausparken einen anderen Wagen an.
Er stieg zwar aus, u m den Schaden zu betrachten. Sehr viel genauer
aber überzeugte er sich, dass keine Zeugen sichtbar w a r e n . N a c h d e m er
sich dessen vergewissert hatte, stieg er eilends i n sein Fahrzeug u n d ent-
schwand. Er wartete mehrere Tage voller Angst auf einen Polizeibesuch
wegen der eventuell zu identifizierenden Lacksplitter. D a n n fiel i h m
eine Reihe v o n plausiblen Erklärungen seines Fehlverhaltens ein: Der
Fahrer des anderen Wagens habe die Schuld, denn er sei zu nah aufge-
p a r k t . M a n hatte es eilig, u m n i c h t einen w i c h t i g e n T e r m i n zu verpas-
sen. M a n habe nur der Verkehrssitte gehorcht, schließlich sei das eige-
ne A u t o auch schon verschiedentlich angekratzt w o r d e n ... Da zudem
das endogene Gewissen n u r schwach ausgebildet w a r u n d soziale Stra-
fen (wie etwa eine Anzeige wegen Fahrerflucht) n i c h t mehr zu erwarten
standen, schien bald die ganze Angelegenheit so nebensächlich zu sein,
dass m a n sie getrost vergessen k o n n t e .
Der Feigling 33

Menschen mit der Angst, sich falsch zu entscheiden

Solche Angst k a n n bis zu einer A r t psychischer (und gelegentlich auch


sozialer) Lähmung führen. N u n d a r f die Sorge, eine Fehlentscheidung
zu t r e f f e n , n i c h t gering geschätzt w e r d e n , denn nahezu alle Entschei-
dungen v o n einiger Erheblichkeit sind auch solche unter Unsicherheit.
Niemals k a n n m a n alle Entscheidungsfolgen voraussehen. D o c h man-
che Menschen lassen sich v o n dieser Tatsache lähmen.

Fallbeispiele

Lähmende Zweifel ' i ^ Ein bislang sehr erfolgreicher u n d entscheidungsfreudiger Manager


t r a f i n n e r h a l b kurzer Z e i t einige weitreichende Fehlentscheidungen, die
z u m Entscheidungszeitpunkt durchaus vertretbar w a r e n u n d vernünf-
tig schienen. So kaufte er u . a. ein Unternehmen auf, das bislang als Z u -
lieferer diente. D o c h der Z u k a u f ließ das Interesse der bisherigen U n -
ternehmensführung erlahmen, sodass das zugekaufte Unternehmen
Verluste machte. Ein anderes M a l erteilte er einem seiner leitenden A n -
gestellten P r o k u r a , die dieser missbrauchte. So k a m es denn dazu, dass
unser M a n a g e r Z w e i f e l an seiner Entscheidungskompetenz bekam u n d
Entscheidungen m i e d . Ein Gespräch m i t seinem Vorstand führte zu kei-
nem Ergebnis. N a c h etwa einem halben Jahr w u r d e er aus seiner Posi-
t i o n entlassen u n d verließ bald das Unternehmen. Bis hierher zeugt die
Geschichte n u r v o n mangelnder Vorsicht. Mangelnde Tapferkeit w u r d e
nur insoweit erheblich, als er n i c h t zu seinen Fehlentscheidungen stand
und sie entweder zu k o r r i g i e r e n versuchte oder aber akzeptierte, dass er
für die i h m anvertraute Position ungeeignet sei. I n letzteren Fall lähmte
ihn seine vermeintliche Selbstachtung u n d hinderte i h n daran, die not-
wendigen Konsequenzen zu ziehen.

Folgenreiche ' i ^ Eine M u t t e r sorgte sich sehr u m ihren Zehnjährigen. Einerseits w a r


Verantwortungs- sie der M e i n u n g , seine Begabungen reichten aus, i h n aufs G y m n a s i u m
scheu zu schicken. Andererseits fürchtete sie, dass er d u r c h schulischen M i s s -
erfolg so d e m o t i v i e r t würde, dass er sich selbst als »Versager« definier-
te. So stellte sie sich aus Sorge, eine Fehlentscheidung zu treffen, v o n je-
der Entscheidung frei. Der Junge besuchte also die Hauptschule. Erst
als i h r zwei Jahre später die Lehrer d r i n g e n d empfahlen, ihren Sohn
z u m G y m n a s i u m anzumelden, sah sie sich v o n der V e r a n t w o r t u n g , eine
Fehlentscheidung zu treffen, entlastet. Die V e r a n t w o r t u n g trugen ja an-
dere. A m Rande sei bemerkt, dass der Junge als einer der Besten seiner
Klasse das A b i t u r bestand.
34 I. Die Cinaral<teriosigl<eit - 1 . Wenn das innere IVloralgesetz versagt

Menschen, die sich von Drohungen bestimmen lassen

Die Hölle, das sind Diese F o r m der mangelnden Tapferkeit ist recht verbreitet. Das ist
die anderen n i c h t erstaunlich, w e n n m a n bedenkt, dass D r o h u n g e n für viele M e n -
schen das wesentliche M i t t e l sind, das sie zu sozial verträglichem Ver-
halten bewegt. Es gibt sehr verschiedene A r t e n , andere Menschen zu
bedrohen.
D u r c h lange Jahrhunderte w a r die D r o h u n g , i n die Hölle zu k o m m e n ,
für viele Menschen der wesentliche G r u n d , sich sozialverträglich zu
verhalten (= die göttlichen Gebote zu achten). Menschen w a r e n f r e m d -
bestimmt, w e i l andere ihnen ( i m realen oder vermeintlichen A u f t r a g
des Göttlichen) geboten u n d verboten, was sie zu t u n hätten. Diese A r t
der Bedrohung spielt zumindest i n unserem K u l t u r k r e i s k a u m mehr
eine Rolle, o b w o h l das Übertreten v e r m e i n t l i c h göttlicher Gebote u n -
bewusste Schuldgefühle a u f k o m m e n lassen k a n n , die Menschen den
M u t nehmen, selbstverantwortet ihr Leben zu gestalten.
Die moderneren Formen der Bedrohung gehen heute v o n profanen so-
zialen Systemen aus. D a ist die D r o h u n g m i t dem Strafgesetz oder die
m i t dem Verlust des Arbeitsplatzes oder die m i t der Ehescheidung. Sol-
che offenen D r o h u n g e n werden meist n i c h t ausdrücklich f o r m u l i e r t ,
bestimmen aber das »Wohlverhalten« n i c h t weniger Menschen. A u c h
sie sind i n wesentlichen Anteilen ihres Lebens f r e m d b e s t i m m t .
Eine andere F o r m moderner Bedrohung erfolgt d u r c h die Angst v o r
sozialen Strafen: Missachtung, I s o l a t i o n , Entzug sozialer Sicherheit,
Geborgenheit, Nestwärme. W i e das innere Moralgesetz m i t der psychi-
schen Strafe der Höllenangst arbeitete, so arbeitet das äußere Moralge-
setz m i t der Angst vor sozialen Strafen. Das soziale Gewissen ist heute
sehr viel verbreiteter am H o r i z o n t des europäischen Denkens als das i n -
nere, weitgehend v o n christlichen M o r a l v o r s t e l l u n g e n geprägte. I n bei-
den Fällen werden Menschen fremdgesteuert. D i e ausdrückliche psy-
chische oder soziale Bedrohung ist ein n i c h t selten eingesetztes M i t t e l ,
u m auf andere Menschen Z w a n g auszuüben. D r o h u n g e n sind stärker
als Charakter. »Thus conscience does make cowards o f us all!«**
D r o h u n g e n sollten durchaus ernst genommen - n i c h t aber automatisch
als Bedrohungen verstanden w e r d e n . Ich-starke Menschen werden ver-
suchen, D r o h u n g e n auf ihren rationalen K e r n zurückzuführen. Sie wer-
den sich ihnen i n Tapferkeit stellen, w e n n sie w i r k l i c h ernst gemeint
sind. O f t sind D r o h u n g e n n i c h t ernst zu nehmen, w e i l sie als I n s t r u -
ment eingesetzt w e r d e n , die Selbstmotivation eines Menschen zu o p t i -
mieren, i h n zu z w i n g e n , sich s y s t e m k o n f o r m zu verhalten.
Ein drohender Mensch ist i n aller Regel weitgehend konfliktunfähig.

8 W i l l i a m Shakespeare, H a m l e t I I I , 1 . » S o m a c h t Gewissen Feige aus uns allen!«


Der Feigling 35

Begrenzte Konfliktfähigkeit aber ist entweder ein Zeichen eines unan-


gemessenen Harmoniebedürfnisses, einer Charakterneurose oder aus-
geprägter Ich-Schwäche. N u r ein M e n s c h , der unfähig ist, sinnvoll
K o n f l i k t e auszutragen, w i r d zum I n s t r u m e n t der D r o h u n g greifen. Die
rechte A n t w o r t auf eine D r o h u n g besteht i n der Überlegung, durch w e l -
ches eigene Verhalten m a n selbst die H i l f l o s i g k e i t des Bedrohenden
ausgelöst hat.

Fallbeispiele

Hölle, Gott und Gelegentlich begegne ich i n einem Altenpflegeheim Menschen, die
Liebe Angst vor dem Tode haben, n i c h t w e i l d a m i t i h r Leben endet, sondern
w e i l sie fürchten, i n die Hölle zu k o m m e n . I n einer nahezu diabolischen
Weise w u r d e n sie d u r c h die Höllenangst i n die K i r c h e n hinein soziali-
siert. Dass der K e r n der Jesusbotschaft d a r i n besteht, den Menschen zu
sagen, dass das Göttliche i n uns u n d unter uns »liebt«, unabhängig v o n
unserem Verhalten, hat m a n ihnen verschwiegen. Lesen Sie doch bitte
e i n m a l unter diesem Vorzeichen das Jesusgleichnis v o m verlorenen
Sohn ( L k 15, 1 1 - 3 2 ) .

Motivation und 'i^ M a n c h e Chefs d r o h e n m i t Entlassung, ohne zuvor ein K o n f l i k t g e -


Leistung spräch geführt zu haben. Sie sind darauf aus, eine Entlassung i n beider-
seitigem Einverständnis durchaus gerechtfertigt erscheinen zu lassen.
Eine solche D r o h u n g hat meist den Z w e c k , den M i t a r b e i t e r zu einem
M e h r an »Leistung« zu motivieren.^ D r o h u n g e n erzeugen bei ich-

9 Solche Vorgesetzte versuchen das zweite M a x i m u m des »Führungsbusens« anzustreben.


D e r » F ü h r u n g s b u s e n « stellt die F u n k t i o n v o n »Leistung« (= Beitrag zur betrieblichen
W e r t s c h ö p f u n g « ) u n d U n z u f r i e d e n h e i t dar. Das m a g grafisch so dargestellt w e r d e n :
Leistung
A
M(2)
0
O 0
M(l) 0 0
O 0 0
O XXXXXXXX 0 0
> 0 XX 0 o
O 0

^ Unzufriedenheit

Viele U n t e r n e h m e n b e f i n d e n sich i m T r o g x x x . M a n c h e U n t e r n e h m e r versuchen, v o n


eher ungeeigneten U n t e r n e h m e n s b e r a t e r n angestiftet, ihre M i t a r b e i t e r d u r c h A n g s t m o t i -
v a t i o n a u f M ( 2 ) zu b r i n g e n . H i e r »leisten« sie z w a r besonders v i e l , sind aber i n Gefahr,
entweder i n den T r o g zurückzufallen oder sich d u r c h äußere oder innere Kündigung
v o m U n t e r n e h m e n zu t r e n n e n . E i n k l u g e r U n t e r n e h m e r versucht, M ( l ) zu erreichen.
36 Die Charakterlosigl<eit - 1. Wenn das innere Moralgesetz versagt

schwachen Menschen Ängste. Die M o t i v a t i o n über Ängste vernichtet


jedoch alle Selbstmotivation u n d bringt den M i t a r b e i t e r dazu, i m Z u -
stand innerer Kündigung oder der Angst vor Arbeitsplatzverlust erheb-
liche Interaktionskosten zu erzeugen (Kosten für Ausschussproduktion,
Fehlzeiten, innere oder äußere Kündigung . . . ) .

Bedrohung durch ' i ^ Es gibt jedoch auch Fälle, i n denen sich Menschen unberechtigt be-
Jüngere d r o h t fühlen. I n meiner Tätigkeit als C o u c h begegnen m i r nicht selten
leitende Angestellte, die, meist i n den frühen Fünfzigern, sich jüngeren
M i t a r b e i t e r n unterlegen fühlen. Aus solchen Unterlegenheitsgefühlen
erwächst die Angst vor der Entlassung. Es sei hier n i c h t geleugnet, dass
diese Angst i n unserem System des Kults der Jugend berechtigt sein
k a n n . D o c h hat solche Angst nicht selten die self-fullfilling prophecy,
die sich selbst erfüllende Prophezeiung zur Folge. Die Angst verunsi-
chert, m i n d e r t die Entscheidungsfreude, schwächt das Durchsetzungs-
vermögen, verunsichert die M i t a r b e i t e r sodass es schließlich auf-
g r u n d dieser Defizite zur Entlassung k o m m t . W i e aber k a n n m a n
vermeiden, dass solche Ängste entstehen? Zunächst einmal ist sicher
eine geeignete U n t e r n e h m e n s k u l t u r v o n Nöten, die vorhandenes E r f a h -
rungswissen verwertet u n d deshalb schätzt. D a n n aber ist ein zurei-
chendes Selbstbewusstsein eine sichere H i l f e , die es vermeidet, dass die
genannten Defizite realisiert w e r d e n . E n d l i c h w i r d man sich davor hü-
ten müssen, etwas für g u t , r i c h t i g , nützlich zu halten, weil es einmal
gut, richtig u n d nützlich war. Häufig werden ältere M i t a r b e i t e r bevor-
zugt entlassen, weil man ihnen die für ihre F u n k t i o n notwendige Be-
reitschaft n i c h t zumutet, neu u n d anders zu denken als g e w o h n t .

Menschen, die sich von »Autoritäten« einschüchtern


oder manipulieren lassen

Legitime und M a n sollte legale v o n legitimer Autorität unterscheiden. D i e legale


legale Autorität w u r z e l t i n menschlicher Setzung, die legitime i n sittlicher O r i e n t i e r u n g .
Legitime Autoritäten kennen n u r drei Quellen. M a n unterscheidet die
göttliche Autorität (die heute für menschliches H a n d e l n u n d Ent-
scheiden in Europa nahezu jede Bedeutung verloren hat), die elterliche
Autorität (die meist i n der Pubertät ihre Bedeutung verliert) u n d die
delegierte Autorität, i n der ein Mensch einem anderen - etwa d u r c h
sein Gefolgschafts-Verhalten i n einem unausgesprochenen Vertrag - die
V o l l m a c h t erteilt, i h m Weisungen zu geben. Diese Autorität ist heute in
der k o n k r e t e n Lebenspraxis die einzig legitime.
V o n dieser legitimen Autorität muss die legale genau unterschieden
werden. Legal heißt: i m Recht, d . h . diese Autorität ist i m Gesetzes-
Der Feigling 37

recht oder Vertragsrecht gegründet. Sie Icommt etwa einem Staat als
Gesetzgeber, als Rechtsprecher, als N o r m e n v e r w a l t e r zu. Sie kann aber
auch über einen Dienstvertrag zustande k o m m e n . Diese legale A u t o -
rität w i r d v o n vielen Menschen als U r s p r u n g des eingeforderten Gehor-
sams verstanden - unabhängig v o n aller Legitimität. Dass der N a t i o -
nalsozialismus i n Deutschland so sehr wachsen k o n n t e , verdankte er
der Überzeugung vieler Deutscher, er vertrete eine legitime Autorität.
Unter diesem Schein k o n n t e er sich der legalen Autorität bemächtigen
und unendliches U n h e i l stiften.
W i r sprechen hier n i c h t v o n der legitimen, sondern ausschließlich v o n
der legalen Autorität.
Die Autoritätshörigkeit mancher Zeitgenossen k a n n m i t u n t e r groteske
Formen annehmen. N i c h t selten beginnen Menschen unter dem A n -
spruch v o n irgendwelchen Autoritäten, i h r eigenes Leben unter fremde
Ansprüche zu stellen u n d ein Leben aus zweiter H a n d zu leben. Für das
Gelingen ihres Lebens sind andere v e r a n t w o r t l i c h : seien es religiöse
oder profane Autoritäten. Wer ihnen gehorcht, dem k a n n nichts passie-
ren, dessen Leben w i r d glücken. Ich kenne Menschen, denen jede lega-
le Autorität als legitim g i l t . Sie gehorchen den Rechtsnormen, als seien
sie gottgegeben. Das Übertreten v o n Rechtsnormen w i r d als M o r a l v e r -
sagen verstanden. Diese Menschen bestehen auch dann auf Vertragser-
füllung, wenn das sozialschädliche Folgen hat.

Medien und N u n könnte man meinen, die Autoritätsgläubigkeit sei weitgehend ver-
Wissenschaftler schvvunden, doch ist sie bei vielen Menschen - wenigstens in Spuren -
aufweisbar. Früher w u r d e n die Menschen v o n »kirchlichen Autoritä-
ten« beeindruckt. Heute sind es die I n f o r m a t i o n e n , die durch die Mas-
senmedien erzeugt, die v o n Wissenschaftlern behauptet werden, die
den Selbstverständlichkeiten des allgemeinen Bewusstseins entspre-
chen. Diese versteckte Autoritätsgläubigkeit findet man selbst bei sol-
chen Menschen, die sich für aufgeklärt, selbstgesteuert und autoritäts-
kritisch halten. Gerade i m Aufbegehren gegen Autoritäten zeigt sich
eine eigentümliche Abhängigkeit v o n eben diesen Autoritäten. Der
w i r k l i c h a u t o n o m gesteuerte Mensch w i r d n i c h t gegen solche Autoritä-
ten aufbegehren. Sie sind i h m gleichgültig. Der charakterstarke Mensch
w i r d dem A u f r u f Kants folgen: »Habe M u t , dich deines eigenen Ver-
standes zu b e d i e n e n ! « ' "

10 A A V l l I , 35
38 I, Die Ciiarakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere IVloralgesetz versagt

Fallbeispiele

Kadavergehorsam ' i ' M i r sind M i t g l i e d e r katholischer O r d e n bekannt, die der m i t t e l a l -


terlichen V e r m u t u n g folgen, dass alle Autorität v o n G o t t k o m m e - des-
halb sei i h r auch gegen eigene Überzeugung zu gehorchen. Ein spani-
scher Jesuit namens A l f o n s o Rodrigues schrieb i m 16. Jahrhundert ein
dreibändiges W e r k über monastische Askese, i n dem der Gehorsam
eine erhebliche Rolle spielte. Er berichtet v o n einem A b t , der einem sei-
ner M ö n c h e befahl, m i t bloßen Händen einen Löwen zu fangen. M i t
Gottes H i l f e k o n n t e der M ö n c h unter dem A n s p r u c h des Gehorsams
den Befehl ausführen. Als er aber dem A b t seinen Löwen vorführte, riss
sich dieser los u n d verspeiste den A b t . Was soll diese Geschichte leh-
ren? Wer unsinnige Befehle gibt u n d deren Beachtung e r z w i n g t , gegen
den richten sich solche Befehle selbst, u n d wie viele unsinnige A n o r d -
nungen, Anweisungen u n d Befehle werden heute erteilt, sei es beim M i -
litär, i n Unternehmen, i n den K i r c h e n , i n Ordensgemeinschaften! W e n n
ein autoritätshöriger Mensch sie b l i n d befolgte, würde er binnen k u r -
zem seiner T r u p p e , seinem Unternehmen, seiner K i r c h e , seiner Ordens-
gemeinschaft schweren Schaden zufügen.

Anmaßung ' i ^ M a n c h e Autorität ist angemaßt. Ein Eall solcher angemaßter A u t o -


rität ist m i r einmal in einer gruppendynamischen Übung i m Verlauf ei-
nes Seminars begegnet. A u f g r u n d seiner Wissensdominanz forderte der
Teilnehmer auch Führungsdominanz. Er versuchte, die Gruppe i n der
von i h m gewünschten Weise zu leiten. Da er i m Verlauf der gruppendy-
namischen Prozesse weit unten rangierte, k a m es zu einer offenen Aus-
einandersetzung, die m i t dem Ausschluss u n d dem folgenden Ausschei-
den des Teilnehmers endete.

Unsinnige ' i ^ Ein Abteilungsleiter eines großen Unternehmens versuchte, selbst


Anweisung hoch qualifizierte M i t a r b e i t e r etwa d u r c h M o b b i n g zu entlassen, w e n n
sie nicht i n seinen zweifelsfrei beschränkten H o r i z o n t v o n Gehorsam
passten. U m das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Er ordnete an, dass
während der Arbeitszeit keine privaten Gespräche geführt werden soll-
ten. Er übersah, dass die innere Beziehungsarbeit i n einem Unterneh-
men eben solche Gespräche gelegentlich e i n f o r d e r t . E i n M i t a r b e i t e r ,
dessen Frau schwer k r a n k war, musste, u m sich selbst psychisch zu ent-
lasten, häufig - auch während der Arbeitszeit - v o n der E r k r a n k u n g
seiner Frau sprechen. Als der Vorgesetzte davon erfuhr, mahnte er den
betreffenden M i t a r b e i t e r ab u n d entließ i h n schließlich. Als i c h bald
nach diesem Ereignis i m Unternehmen beratend tätig w u r d e , versuchte
ich, den Abteilungsleiter v o n seinem Fehlverhalten zu überzeugen. D a
diese Überzeugungsarbeit sich als fruchtlos erwies, i n f o r m i e r t e ich den
Der Feigling 39

V o r s t a n d , dem unter anderen auch diese A b t e i l u n g unterstand. Der


Vorstand versetzte den Abteilungsleiter k u r z darauf i n eine Position, i n
der er keine personale V e r a n t w o r t u n g zu tragen hatte.

Menschen, die den Lebensmut verloren haben

Es g i b t viele Ursachen dafür, dass Menschen n i c h t mehr ihr eigenes Le-


ben führen, sondern die V e r a n t w o r t u n g für das Gelingen ihres Lebens
entweder auf andere oder auf die n o r m a t i v e K r a f t des Eaktischen dele-
gieren. Dieser Satz dürfte w o h l unser aller E r f a h r u n g entsprechen. Eini-
ge dieser Ursachen sollen hier genannt w e r d e n .

Depression • Depressive Störungen sind Phasen tiefer Niedergeschlagenheit, die


meist eine begrenzte Z e i t währen. Sie gehen i m allgemeinen einher
mit Schlafstörungen (frühem A u f w a c h e n ) , A p p e t i t l o s i g k e i t , ver-
minderter Reizansprechbarkeit, verringertem Interesse an anderen
Menschen, verhärmtem Aussehen. Häufig k a n n man den konkreten
Auslöser finden u n d spricht dann v o n exogener Depression. Jedoch
besteht zwischen dem G r a d der Niedergeschlagenheit und dem aus-
lösenden Ereignis ein eigentümliches Missverhältnis. Es k a n n aber
auch jeder erkennbare Auslöser fehlen; dann spricht m a n v o n endo-
gener Depression.

Misserfolg • Häufiger und/oder lang anhaltender privater oder beruflicher Miss-


erfolg k a n n den Lebensmut rauben. Es k a n n sein, dass die Umge-
bung n i c h t bemerkt, w e n n jemand den E r f o l g vermisst. Die Unfähig-
keit, einen Partner zu halten, w i r d o f t als privater M i s s e r f o l g
gewertet. V e r m u t l i c h noch häufiger n i m m t beruflicher M i s s e r f o l g
die Liebe z u m Leben. M i s s e r f o l g bedeutet mangelnde A n e r k e n n u n g .
U n d je mehr ein Mensch a u f A n e r k e n n u n g angewiesen ist, u m so
mehr w i r d er unter Misserfolgen leiden.

Selbstideal • Eine Selbstbestimmung v o m Selbstideal her ist an sich, wenn sie


einen Menschen d o m i n i e r t , ein R e l i k t aus Kindertagen. Das Selbst-
ideal k a n n seiner N a t u r nach niemals erreicht werden. Ein Mensch,
der sich v o n d o r t aus versteht und i n t e r p r e t i e r t , muss sich selbst als
unerheblich u n d ungenügend w a h r n e h m e n . Z w a r gibt es mancher-
lei Strategien, m i t dieser Beleidigung des nie einzuholenden Ideals
fertig zu w e r d e n , doch sind sie alle neurotisch (d. h . prinzipiell u n d
s t r u k t u r e l l ungeeignet, das angestrebte Z i e l zu erreichen). Hierher
gehören etwa Hyperaktivität, überzogenes L o b der eigenen Tüchtig-
keit gegenüber D r i t t e n (also ein starkes Imponiergehabe), Rechtha-
40 I. Die Ciiarakterlosigl<eit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

berei, Sieg- u n d andere Zwänge. Ein reifer Mensch w i r d sich nicht


v o n seinem Ideal her bestimmen, sondern v o n seinen tatsächlichen
Fähigkeiten u n d Begabungen u n d deren Grenzen her.

Urmisstrauen • E i n urmisstrauischer Mensch traut i n aller Regel weder sich selbst


noch anderen Menschen noch sozialen Situationen noch irgendwel-
chen G r u p p e n , Vereinen, V e r b i n d u n g e n , Parteien . . . Das Urmiss-
trauen gehört zu den »frühen Störungen«. D e n n urmisstrauisch w i r d
ein Mensch, wenn er i m ersten Lebensjahr die existentielle Verlust-
angst, nämlich die Angst vor dem Verschwinden der primären Be-
zugsperson, nicht verlernt.

Enttäuschtes • Es gibt sicher nur wenige Menschen, die anderen vertrauten u n d da-
Vertrauen bei nicht enttäuscht w u r d e n . Psychisch u n d sozial gesunde M e n -
schen k o m m e n über solche Enttäuschungen ohne bleibende Narben
hinweg. Andere jedoch ziehen sich, w e n n i h r Vertrauen häufiger
missbraucht w u r d e , auf sich selbst zurück. Sie haben i n aller Regel
keinen Menschen mehr, dem sie unbedingt vertrauen, ohne jede
Angst, i m Ansehen des anderen gemindert zu w e r d e n , u n d ohne jede
Angst, dass ihr Vertrauen missbraucht werde. D a w i r aber alle, u m
uns e m o t i o n a l u n d sozial entfalten zu können, wenigstens einen sol-
chen Menschen benötigen, fehlt nicht wenigen derart Enttäuschten
der M u t zum Leben.

Krankheit • Eine schwere u n d schmerzhafte E r k r a n k u n g - vor allem, w e n n sie


als unheilbar gilt - k a n n Menschen dazu bringen, den M u t zum Le-
ben zu verlieren. Dass Menschsein n u r z u haben ist u m den Preis
möglicher Krankheiten u n d eines sicheren Todes, w i r d heute v o n vie-
len verdrängt. E i n eigentümliches Vollkommenheitsideal bestimmt
die Selbstdefinition vieler. Dabei sind w i r Menschen recht u n v o l l -
kommene Wesen. Unsere Organe, unsere Psyche u n d unser soziales
Feld sind labile Systeme, die schon d u r c h kleine Störungen aus dem
Gleichgewicht gebracht werden können. Da w i r aber - realitätsblind
- davon ausgehen, dass das Gleichgewicht der N o r m a l z u s t a n d ist,
leiden w i r unter jeder A b w e i c h u n g v o n dem, was w i r selbst oder die
»öffentliche Meinung« als Normalität definieren. Der M u t k a n n da-
bei so weit schwinden, dass Gedanken an einen Selbstmord n i c h t
auszuschließen sind. Besonders gefährdet sind Menschen, die sich
von ihrem gesunden Körper her seihst verstehen. Ihr kranker Körper
widerspricht ihrem Selbstverständnis - ist eine A r t Beleidigung. In
einer Z e i t , die das Bodystyling groß schreibt u n d einen Waschbrett-
bauch als männliches Ideal hinstellt, sind solche Enttäuschungen
nicht selten der G r u n d , die Freude am Leben zu verlieren. Das mag
Der Feigling 41

aufs Erste töricht k l i n g e n . Aber Menschen, denen aus diesem G r u n d


der Lebensmut schwindet, sind keineswegs selten.
Bei den schweren, d . h . anhaltenden oder häufig wiederkehrenden
E r k r a n k u n g e n unterscheiden w i r körperliche, psychische und sozia-
le Störungen unseres Wohlbefindens. Dabei ist sehr darauf zu ach-
ten, dass alle drei A b w e i c h u n g e n v o m Gleichgewicht eng m i t e i n a n -
der verbunden sind. So sind körperliche Beschwerden meist m i t
sozialen und/oder psychischen verbunden. E i n Mensch, der Z a h n -
schmerzen hat, w i r d sich k a u m i n geselliger U m g e b u n g W o h l b e f i n -
den (soziales Leiden) oder sich recht freuen können (psychisches Lei-
den). Ein M e n s c h , der schwer trauert, w i r d sich nicht gern in großer
Gesellschaft aufhalten oder seinen Körper lustbetont w a h r n e h m e n .

Körperliches • Unser physisches W o h l b e f i n d e n ist sicherlich gestört, wenn w i r unter


Leiden Schmerzen oder Schwindel leiden oder hohes Fieber haben. D o c h
es ist auch schon gestört, w e n n w i r bei uns selbst A b w e i c h u n g e n
v o n der »Normalität« realisieren (zu hohen B l u t d r u c k , zu hohe Le-
bertransaminasen, zu hohen Cholesterinspiegel, Verdauungsstörun-
gen . . . ) . Viele Menschen muten ihrem A r z t zu, die Abweichungen zu
beheben, was sicherlich meist gelingt. So w e i t , so gut. Weniger gut
ist es jedoch, w e n n ein Mensch a u f g r u n d eines schiefen Selbstbildes
(und d a m i t eines Charakterdefekts) v o n seiner körperlichen Gesund-
heit geradezu besessen w i r d . Er ist n i c h t gesund, sondern die Ge-
sundheit hat i h n . Sicherlich ist ein solches eigenartiges Gesundheits-
bewusstsein für viele Menschen karriereförderlich, w e i l sie v o n
Gesundheit »strotzen« und ein entsprechendes Selbstwertgefühl aus-
strahlen.

Störung des • Das W o h l b e f i n d e n eines sozial gesunden Menschen ist an ein be-
sozialen Wohl- stimmtes M a ß an sozialer Geborgenheit u n d A n e r k e n n u n g gebun-
befindens den. W i r d i h m beides für eine längere Z e i t verweigert - sei es durch
eigenes Verschulden oder weil er n u r glaubte, geborgen u n d aner-
k a n n t zu sein - , so folgt in der Regel der Versuch, zunächst das Defi-
zit zu beheben oder es zu ignorieren. Der Versuch eines Ignorierens
ist, w e n n er längere Z e i t anhält, zumeist verbunden m i t einer mehr
oder weniger bewussten sozialen Desorientierung. N i c h t wenige
Menschen m i t erheblichem E r f o l g besitzen n i c h t die Charakterstär-
ke, anders als kompensatorisch m i t einem solchen U n w o h l s e i n u m -
zugehen. Das bedeutet: Sie können zu unausstehlichen Tyrannen
werden. »Oderint, d u m m e t u a n t ! « " (Sie mögen mich hassen, wenn

I I N a c h d e m Z e u g n i s des Sueton w a r dieses W o r t der Fieblingsausspruch des römischen


Kaisers C a l i g u l a . Frstmals t a u c h t er m einer Tragödie des Accius auf.
42 I. Die Clnaral<terlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

sie mich n u r fürchten) w i r d nicht selten z u m Wahlspruch dieser


Menschen.

Seelische Not • A u c h Störungen wie Angst, Trauer, Einsamkeit u n d Furcht können


manche Menschen dazu führen, t r o t z äußeren Erfolgs i h r Leben als
Leiden anzusehen. Es soll Menschen geben, die niemals i n ihrem be-
wussten Leben den Z u s t a n d psychischen Wohlbefindens erlebten.
Sie erscheinen als depressive, resignative Persönlichkeiten, die i n al-
lem n u r das Fehlerhafte, das Schlechte zu sehen in der Lage sind. Sol-
che Menschen können i n i h r e m vermeintlichen K a m p f gegen das
M i n d e r w e r t i g e , das U n w e r t e zu einer grandiosen Selbstüberschät-
zung k o m m e n : Sie allein sehen die Dinge, wie sie tatsächlich sind.
Wenn ein solches depressives Streben nach A n e r k e n n u n g , M a c h t
und Einfluss nicht in seinen Ursachen durchschaut w i r d , k a n n diese
in Aktivität gewandelte Depression durchaus auf der Karriereleiter
bis in hohe Positionen führen. Aber w o liegt das charakterliche D e f i -
zit eines solchen Menschen? Sicherlich i n der arroganten A n n a h m e ,
Sachverhalte realistischer zu sehen als die meisten anderen M e n -
schen. Gelingt es einem depressiv gestörten Menschen, Toleranz zu
erlernen, ohne zu resignieren, k a n n er i n der Beurteilung v o n s t r i t t i -
gen Sachverhalten durchaus helfen, auch die leicht übersehenen
Schattenseiten eines Zustandes, einer Entscheidung, einer Persön-
lichkeit zu erkennen.

Mangelnder Mut • Ich meine hier den M u t , verbunden m i t der Bereitschaft u n d Fähig-
keit, selbstverantwortet sein Leben zu gestalten. Dieser M u t zur
Freiheit ist nicht jedem gegeben. Er setzt ein gerütteltes M a ß an
Selbstvertrauen voraus. Ein autonomer Mensch macht sich weitge-
hend unabhängig v o n der A n e r k e n n u n g und dem L o b anderer. Er
beurteilt sein Flandeln und dessen Folgen nach seinen eigenen Wert-
vorgaben. Wenn diese Wertvorgaben sittlich v e r a n t w o r t e t sind, spre-
chen w i r v o n sittlicher A u t o n o m i e . Ein M e n s c h , dem diese A u t o n o -
mie fehlt, ist auf das Bewerten seiner H a n d l u n g e n u n d deren Folgen
d u r c h andere angewiesen. U n d weil er zumeist danach strebt, v o n
anderen »gute Noten« für seine H a n d l u n g e n u n d Handlungsfolgen
zu b e k o m m e n , kann es dazu k o m m e n , dass seine Selbstbewertung
für i h n unerheblich w i r d und er die Fremdbewertung nahezu aus-
schließlich als w e r t h a f t akzeptiert. Sobald die äußere A n e r k e n n u n g
ausbleibt, w i r d der M a n g e l an A u t o n o m i e den Lebensmut erheblich
mindern.
Der Feigling 43

Fallbeispiele

Depression 'i* Ein M a n n v o n etwa 30 Jahren wiri<te auf m i c h , als er i n die Sprech-
stunde k a m , n i c h t n u r niedergeschlagen u n d antriehsschwach, sondern
auch verhärmt. A u f meine Frage, was ich für i h n t u n könnte, a n t w o r t e -
te er recht lustlos: »Vermutlich nichts.« N a c h einer M i n u t e gemeinsa-
men Schweigens erzählte er mir, dass seine Freundin vor einem halben
Jahr einen anderen M a n n kennen lernte u n d seitdem nichts mehr v o n
i h m wissen w o l l e . N u n ist das sicherlich ein G r u n d zur Trauer. Aber
hier lag noch etwas anderes vor. Trauer hat die F u n k t i o n , Abschied zu
nehmen, und w i r d also m i t der Z e i t geringer. H i e r aber lag der Fall ge-
nau umgekehrt. Die scheinbare »Trauer« w u r d e immer größer. Der A p -
petit ging zurück, die Schlafstörungen nahmen zu, Sozialkontakte w u r -
den abgebrochen. Es dauerte ziemlich lange, bis w i r zur Ursache dieser
Unfähigkeit zu t r a u e r n vorgestoßen w a r e n u n d ernsthaft i n den thera-
peutischen Prozess einsteigen k o n n t e n .

Misserfolg ' i ^ Alle Menschen haben Misserfolge. Es k o m m t darauf an, sich v o n


ihnen n i c h t kränken zu lassen, sondern bewusst aus ihnen zu lernen.
Ein Student m i t guten A b i t u r n o t e n fiel gleich i m ersten Semester d u r c h
ein E x a m e n . D a er d u r c h den schulischen E r f o l g verwöhnt war, kränk-
te der M i s s e r f o l g sein Selbstbewusstsein. Seine Selbstzweifel nahmen
zu, sodass er bald auch andere Examina weit unter seinem N i v e a u ab-
solvierte. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis er sich selbst nicht mehr von
dem gekränkten Selbstideal her verstand, sondern lernte, sich v o n sei-
nen realen Begabungen u n d Fähigkeiten her zu definieren. Einige Ge-
spräche machten deutlich, dass sich die Schwerpunkte seiner Begabung
i m gewählten Studienfach n i c h t o p t i m a l realisieren ließen. Er wechselte
das Fach, u n d n u n erlaubte es i h m sein neu gewonnenes Selbstvertrau-
en, überdurchschnittliche Studienerfolge zu erreichen.

Selbstideal ' i * Viele Menschen haben ein Selbstideal, das alles, was sie leisten,
unerheblich macht. So sind m i r Manager bekannt, die ihre Manage-
mentleistungen an ihrem Selbstideal messen. Z w a r können sie in aller
Regel ihre psychische Störung d u r c h ein Übermaß an A r b e i t aus dem
Bewusstwerden verbannen, doch i n Phasen erzwungener Ruhe (etwa
während einer E r k r a n k u n g ) überfällt sie ein Gefühl der eigenen N i c h -
tigkeit. Ein für einen Außenstehenden sehr erfolgreicher Manager w a r
der eigentümlichen M e i n u n g , er sei für die i h m übertragene Aufgabe
ungeeignet, da er sie nicht - an seinem Idealbild orientiert - o p t i m a l
ausfülle. Diesen scheinbaren »Mangel« suchte er d u r c h o f t hektische
A r b e i t auszugleichen. D a er diese H e k t i k a u f seine M i t a r b e i t e r über-
t r u g , w u r d e n diese unzufrieden. Es k a m zu Beschwerden beim Betriebs-
44 I. Die CInarakterlosigkeit -- 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

rat. Dieser w a n d t e sich an die Unternehmensleitung. Es k a m zu einer


vorzeitigen Entlassung, da der Betroffene nicht bereit war, i m Unter-
nehmen eine andere Position zu übernehmen, die k a u m m i t personaler
V e r a n t w o r t u n g verbunden war.

Urmisstrauen ' i ' Ein v o n seinen Examensleistungen her guter Lehrer w a r so miss-
trauisch zu seinen Schülern, dass er da Bosheiten u n d schulisches Fehl-
verhalten w i t t e r t e , w o sie n i c h t vorhanden w a r e n . Er misstraute auch
der Schulleitung. Überall sah er gegen sich gerichtete A k t i o n e n . Er ent-
wickelte sich zu einem Sonderling, weit über das berufsübliche M a ß
hinaus. Sorgfältig untersuchte er etwa i m Klassenzimmer den Stuhl, ob
da nicht etwas darauf lag, was hier nicht hingehört, ebenso sorgfältig
überprüfte er die Standfestigkeit dieses Gerätes. Er hatte sich ange-
wöhnt, die Tafel seitlich zu beschreiben, u m immer einen halben Blick
auf die Klasse richten zu können. D a er keine Partnerin an sich binden
k o n n t e , w a r er wenig passend gekleidet. Er aß auch offensichtlich nicht
das Richtige, denn er w u r d e v o n Jahr zu Jahr immer dicker.

Enttäuschtes 'i' H e r r K . musste erfahren, dass seine Vorgesetzten ihn auf eine Sache
Vertrauen h i n ansprachen, die er unter dem Siegel versprochener V e r t r a u l i c h k e i t
einem Kollegen anvertraut hatte. Es handelte sich dabei u m einen er-
heblichen Fehler, den er gemacht hatte, der aber nicht aufgefallen war.
Diesen Vertrauensbruch konnte er seinem Kollegen nicht verzeihen.
Für H e r r n K . w a r dieser V o r f a l l der A n f a n g einer Lebenskatastrophe.
Er baute ein erhebliches A n t i p a t h i e f e l d auf, das i h n hinderte, m i t die-
sem Kollegen auch nur einen Gruß auszutauschen. Wenn er i h n sah,
kehrte er u m . Wenn das nicht möglich war, ging er, scheinbar ohne i h n
zu sehen, an i h m vorüber. Dieser Z u s t a n d währte fast zwei Jahrzehnte,
da auch der »Petzer« jedesmal Schuldgefühle hatte, w e n n er seinen v o n
i h m denunzierten Kollegen sah. Erst als dieser Kollege i n ein anderes
Werk versetzt w u r d e , ging es etwas besser. Aber das Trauma blieb. M i t
niemandem sprach H e r r K . ein vertrauliches W o r t . Was er sagte, hätte
am nächsten Tag problemlos i n der Z e i t u n g stehen können. Er verlor
alle Freunde. Als er sich aufraffte, u m zu m i r zum Coaching zu k o m -
men, benötigte ich fast zehn Gespräche, ehe er sich v o n seinen Ängsten,
das Anvertraute könnte irgendwie missbraucht werden, befreit hatte
und wenigstens i n seinem Coach einen Menschen sah, m i t d e m er
angstfrei alles bereden k o n n t e .

Krankheit ' i ^ H e r r N . (41 Jahre) w a r bislang i m Beruf, n i c h t zuletzt wegen seines


kerngesunden Aussehens, seiner Körpergröße u n d seiner sportlichen Fi-
gur, recht erfolgreich. Als der A r z t i h m aber einen Leberschaden u n d zu
hohen B l u t d r u c k attestierte, begann er ohne Rückbindung an seinen
Der Feigling 45

A r z t - u n d hier w i r d eine charakterHches H a n d i c a p deuthch - , ausdau-


ernd z u joggen. Es schien, als ob er seinem T o d davon laufen w o l l t e .
Ferner unterstützte er seine Gesundheit m i t allen möglichen V i t a m i n -
präparaten u n d M i n e r a l s t o f f e n . D e r E r f o l g ließ n i c h t lange a u f sich
w a r t e n : E i n K r e i s l a u f k o l l a p s sorgte für 14 Tage Krankenhausaufent-
halt. Schlimmer jedoch w a r e n die psychischen Folgen. V o n dieser Z e i t
an betrachtete sich H e r r N . als »kranken M a n n « , der sich privat u n d
beruflich z u schonen habe. Seine berufliche Karriere w a r d a m i t been-
det, u n d zu Hause fehlte i h m der zureichende A n t r i e b zu einem gelin-
genden Familienleben.

Bodybuilding ' i ^ H e r r M . (39 Jahre) verbrachte den Großteil seiner Freizeit i n einem
Z e n t r u m für B o d y s t y l i n g . Er w a r schlank u n d stolz a u f seine harten
M u s k e l n . Aufs Erste w i r k t e er gesund u n d galt als Typ »erfolgreicher
M a n a g e r « . Sein Lieblingssport w a r S c h w i m m e n , w o b e i er jedoch meist
am Rande stand, u m seine Gestalt u n d vor allem seinen Waschbrett-
bauch b e w u n d e r n zu lassen. Das w a r aber auch sein einziger nennens-
werter E r f o l g . D a das zentrale Interesse seinem körperlichen Aussehen
galt, reduzierten sich seine intellektuellen Anstrengungen. Bald w a r
deutlich zu spüren, dass er lange Z e i t kein Fachbuch u n d keine Fach-
zeitschrift zur H a n d genommen hatte. Sein Körperkult (durchaus als
charakterliches D e f i z i t zu sehen) führte zur Vernachlässigung aller an-
deren Werte u n d d a m i t auch nach einiger Z e i t zum Ende seines b e r u f l i -
chen Aufstiegs.

Drohende ' i ^ Einem befreundeten Management-Trainer w u r d e die Diagnose ei-


Behinderung nes K e h l k o p f k a r z i n o m s gestellt. Heilungschancen bestünden n u r d a n n ,
w e n n der K e h l k o p f entfernt würde. D a er nach einer solchen O p e r a t i o n
k a u m mehr i n der Lage wäre, längere Z e i t verständlich zu sprechen, be-
schloss er, sich m i t seinem Gewehr zu erschießen. Sein Charakter w a r
so sehr a u f einen Beruf h i n f i x i e r t , dass er keine A l t e r n a t i v e zu ent-
w i c k e l n oder auch n u r zu sehen i n der Lage war.

Kauziger Tyrann ' i * Ich hatte einmal einen Lehrer, der i n keiner Weise auch n u r den ge-
ringsten W e r t auf die Z u w e n d u n g seiner Schüler oder eines M i t g l i e d s
seiner Kollegenschaft oder auf die seiner Angehörigen legte. Er w a r i n
seiner sozialen Vereinsamung n i c h t n u r ein Kauz geworden, sondern
auch ein T y r a n n . Er vergab n u r schlechte N o t e n . Eines seiner Lieblings-
w o r t e lautete: »Im Staatsexamen beurteilte m a n meine Deutschkennt-
nisse m i t 3. Ist ein Schüler so gut w i e ich, erhält er eine 3. Ist er schlech-
ter, eine entsprechende N o t e . « W i r w a r e n alle f r o h , als er i n den
»wohlverdienten Ruhestand« abgeschoben w u r d e . I n seinen Augen
w a r er ein erfolgreicher, w e i l gerechter Lehrer.
46 I. Die Charakterlosigkeit - 1. Wenn das innere Moralgesetz versagt

Prozessgretel ^ i ^ Eine Frau B. die sicli so verhielt, dass niemand etwas m i t i h r zu t u n


haben w ö l k e , zog wegen jeder i h r v e r m e i n t l i c h zugefügten U n b i l l oder
gar eines vermuteten Unrechts vor Gericht. Sie hatte stets einige Pro-
zesse laufen. A u t o s , die i m Parkverbot p a r k t e n , fotografierte sie u n d
stellte Strafanzeige. K u r z u m , sie w a r k a u m z u ertragen, da sie sogar
ihre eigenen K i n d e r bei der Polizei anzeigte. M i t der Z e i t schlug die i h r
entgegengebrachte Verachtung in Angst u m . Sie fühlte sich n u n als Sie-
gerin, der es gelungen war, alle ihre Feinde zu bezwingen. V o n daher
erlebte sie sich als Tugendheldin, deren Charakter keineswegs ein H a n -
dicap war, sondern ein göttliches Geschenk, das es i h r ermöglichte, Ge-
rechtigkeit auf Erden zu schaffen.

Misanthrop ^ i ^ E i n eher berüchtigter Unternehmenssanierer w a r ein rechter M e n -


schenfeind. Er verachtete alle Personen, m i t denen er b e r u f l i c h zu t u n
hatte. Sie seien Nichtskönner, Taugenichtse, Schwindler oder H o c h -
stapler. Als ich i h n näher kennen lernen d u r f t e , bemerkte ich eine fast
mimosenhafte E m p f i n d l i c h k e i t . Er ertrug auch nicht die A n d e u t u n g ei-
nes Tadels. D e n n o c h hatte er b e r u f l i c h manchen - w e n n auch wie viele
Unternehmenssanierer meist vorübergehenden - E r f o l g . Seine Versu-
che, eine Partnerin zu f i n d e n , scheiterten alle nach k u r z e m Kennenler-
nen. Welche Frau lässt sich schon ständig erniedrigen, tadeln, schlecht
machen (vor allem i n Anwesenheit Dritter)? Sein beruflicher E r f o l g
führte i h n i m m e r weiter ins psychische u n d d a m i t auch soziale Abseits.
Schließlich glaubte er n u r noch an sich selbst. Seine Unfähigkeit, f r e m -
de Leistung anzuerkennen, n a h m er n i c h t als charakterlichen M a n g e l ,
sondern als realitätsnahe Lebensorientierung wahr. Erst als er nach
einem schweren H e r z i n f a r k t i n psychotherapeutische Behandlung ver-
wiesen w u r d e , erkannte er nach einigen Mühen, wie defizitär seine Le-
bensorientierung war.

Resignation ' i ^ Eine depressiv-gestörte Frau i n den m i t t l e r e n Jahren hatte manchen


beruflichen E r f o l g , den sie zu nutzen verstand. D o c h eines Tages schlug
ihre aktive Depression i n eine passive Niedergeschlagenheit u m . Sie be-
richtete allen Menschen, zu denen sie noch K o n t a k t e pflegen konnte
(meist a u f g r u n d v o n deren Aktivität), nahezu ausschließlich v o n sich
selbst u n d ihren psychischen Beschwerden, die sich i m Laufe der Z e i t
auch somatisierten. W o mag hier ein charakterliches Defizit vermutet
werden? Die Einsicht i n den eigenen Z u s t a n d einer erheblichen E r k r a n -
k u n g hätte sie rechtzeitig, möglichst noch vor dem Umschlag i n die Re-
signation, zur Therapie führen sollen. Viele Menschen sind unfähig
oder auch nicht bereit, eigene Defizite zu erkennen u n d aus dieser Er-
kenntnis geeignete Konsequenzen zu ziehen. Bei psychischen Defiziten
fällt diese Erkenntnis besonders schwer.
Mangelnde Autonomie 47

Mangelnde Autonomie

Das Milgram- Dass mangelnde A u t o n o m i e a u f ein charal<terliches Defizit verweist,


Experiment dürfte außer Z w e i f e l stehen. Wer sich einmal m i t dem M i l g r a m - E x p e r i -
menti2 beschäftigte, weiß, w i e e x t r e m fremdgesteuert Menschen sein
können u n d i n aller Regel auch sind.
W o r u m ging es bei diesem berühmten Experiment? D i e Teilnehmer
w u r d e n d u r c h Z u f a l l s s t i c h p r o b e aus den Telefonbesitzern v o n N e w
Häven ermittelt. Sie gehörten also überwiegend der M i t t e l s c h i c h t an.

D e m E x p e r i m e n t lag folgende Versuchsanordnung zugrunde. Z w e i Per-


sonen, die sich n i c h t k a n n t e n , betraten ein Psychologielabor, u m an
einem E x p e r i m e n t über Lernfähigkeit u n d Erinnerungsvermögen teil-
zunehmen. Einer - ein echter Teilnehmer - w u r d e z u m »Lehrer« be-
s t i m m t , der andere w a r ein 4 7 Jahre alter Buchhalter, der für diese R o l -
le t r a i n i e r t w o r d e n war. Er w u r d e z u m »Schüler«. Der Versuchsleiter,
ein 31-jähriger Biologielehrer einer H i g h s c h o o l , erklärte i h n e n , es solle
der Einfluss v o n Strafe i m Versuchszusammenhang getestet w e r d e n .
Der »Schüler« w u r d e i n einen R a u m gebracht, i n dem eine A r t »elek-
trischer Stuhl« stand. H i e r w u r d e er unter den A u g e n des »Lehrers«
festgebunden, a n den Handgelenken w u r d e n Elektroden angebracht.
Er sollte eine Reihe v o n W o r t p a a r e n lernen. Der »Lehrer« sollte i h n i m
Falle v o n F e h l a n t w o r t e n m i t Stromstößen wachsender Intensität be-
strafen. N u n w u r d e der »Lehrer« i n den H a u p t e x p e r i m e n t i e r r a u m ge-
bracht. Er n a h m v o r einem eindrucksvollen Schockgenerator Platz.
Dieser verfügte über 30 Schalter, die v o n 15 V o l t i n 15-Volt-Stufen bis
zu 4 5 0 V o l t (= tödlicher Stromschlag) führten. Der »Schüler« (der
selbstverständlich n i c h t an den Generator angeschlossen w a r ) sollte bei
75 V o l t m u r r e n , sich bei 120 V o k beklagen, bei 150 V o l t bitten, das Ex-
periment abzubrechen. Seine Reaktionen w u r d e n v o n Stufe zu Stufe
heftiger, bis bei 2 8 5 V o l t n u r noch ein qualvolles Schreien ertönte.
W e n n der »Lehrer« den Versuch abbrechen w o l l t e , befahl i h m der Ver-
suchsleiter (der über keinerlei M a c h t m i t t e l verfügte) i n steigender
Dringlichkeit fortzufahren.

Unter diesen läppischen Bedingungen w a r e n


- w e n n keine akustische u n d optische V e r b i n d u n g z u m Opfer bestand,
65 % der »Lehrer« bereit, den Schüler zu töten.
- Bei lediglich akustischer Rückkoppelung (Schläge gegen die trennen-
de W a n d ) w a r e n es i m m e r h i n noch 62,5 % .

12 Stanley M i l g r a m , Das M i l g r a m - E x p e r i m e n t ; v g l . auch R. Lay, D i e M a c h t der M o r a l ,


S. 4 6 - 4 9 .
48 I. Die Cliarakterlosigkeit - 1 . Wenn das Innere IVloralgesetz versagt

- W e n n akustische und optische Rückkoppeking bestand (»Raum-


n ä h e « ) , w a r e n noch 40 % u n d
- bei Berührungsnähe noch 30 % der »Lehrer« bereit, ihren »Schüler«
zu töten.
I m m e r h i n brachen bei heftigen protestierenden Schlägen gegen die
T r e n n w a n d 12 % der »Lehrer« ihre Quälereien ab. Bei voller akusti-
scher V e r b i n d u n g (verzweifeltem Brüllen, Stöhnen) quälten 20 % der
»Lehrer« das O p f e r n i c h t weiter. Aber i m m e r h i n 60 % w a r e n auch
dann bereit, auf Befehl zu töten.

Wären wir N u n lautet die stereotype Behauptung der meisten, die m i t diesem Er-
anders? gebnis k o n f r o n t i e r t w e r d e n : » M i r könnte das n i c h t passieren!« Diese
Behauptung zeugt v o n erheblicher A r r o g a n z , denn w o h e r nehmen
Menschen das Recht zu behaupten, sie seien moralisch besser als der
Bürger N e w Yorks m i t einem Telefonanschluss.' Gehen w i r also einmal
v o n der Tatsache aus, dass die weitaus meisten Menschen, wenn sie u n -
ter psychischen D r u c k gestellt werden, v o n außen gesteuert sind (bis
hin zum Töten auf Befehl). W o r i n besteht n u n das moralische Versagen
solcher Menschen? Z u m Ersten sicher d a r i n , dass sie sich selbst niemals
über das M a ß ihrer Verführbarkeit ein realitätsgerechtes U r t e i l bilde-
ten, sondern dem V o r u r t e i l R a u m gaben, sie würden auch unter Belas-
t u n g ihrer W e r t e o r d n u n g treu bleiben. Z u m Z w e i t e n aber auch d a r i n ,
dass sie niemals autonomes Verhalten (etwa i n der Realisierung der
Primärtugenden, s. S. 109 ff.) einübten. Viele Menschen, die i n der ge-
nannten Weise »pflegeleicht« sind, w e i l sie sich an Vorgesetzten wie an
V o r b i l d e r n orientieren, haben - w e n n es n i c h t u m die Besetzung v o n
Spitzenpositionen geht - durchaus beruflichen E r f o l g .

Fallbeispiele

Soldaten und Zivis 'i^ N i c h t wenige Soldaten sind bereit, i m Kriegsfall auf Befehl Z i v i l i s -
ten zu töten, auch ohne eine aktuelle individuelle oder k o l l e k t i v e N o t -
w e h r s i t u a t i o n . Daraus folgt keineswegs, dass Soldaten als Mörder de-
nunziert werden dürften, sondern ausschließlich, dass sie - wie die
Milgram-Versuche zeigten - Menschen sind wie w i r alle oder doch wie
die meisten v o n uns. Verächtlich auf Soldaten herabzuschauen ist bare
A r r o g a n z . A l l e r A c h t u n g w e r t sind daneben zweifellos Menschen, die
sich n i c h t i n eine solch gefährliche Situation bringen lassen w o l l e n , i n
der sie bereit sind, auf Befehl zu töten. Ich meine die Zivildienstleisten-
den. N i c h t selten wissen sie u m die Gefahr, v o n außen gesteuert zu
werden.
Das »So-what-Syndrom« 49

Gehorsam ' i ^ Die Steuerung v o n aul?en (heteronome Steuerung) kann sehr ver-
schiedene Ursachen haben. O f t ist der Gehorsam die verbreitetste F o r m
der H e t e r o n o m i e . I c h Icenne viele junge Menschen, die i n einem Unter-
nehmen versuchen, ihren Vorgesetzten »den Wunsch v o n den Augen
abzulesen«. Ein m i r bekannter junger M a n n w a r so versessen darauf,
Karriere zu machen, dass er jeden H i n w e i s oder Wunsch seines Vorge-
setzten möglichst vollständig u n d o p t i m a l zu realisieren versuchte. Da-
bei setzte er so viel Z e i t u n d Energie ein, dass er anderes, was man nicht
ausgesprochen v o n i h m erwartete, nicht mehr leisten k o n n t e . Er w u r d e
noch während der Probezeit entlassen.

»Es kommt nicht ' i ^ E i n H e r r A wählte die Lebensparole: »Es k o m m t nicht auf mich
auf mich an!« a n ! « u n d brachte sich d a m i t i n eine so extrem heteronome Lebens-
organisation, dass er sich selbst tötete. Er stellte alles höher als seine ei-
genen Werteinstellungen, Bedürfnisse u n d E r w a r t u n g e n : sein Unterneh-
men, seine Familie u n d die Interessen seiner Freunde. Er k a m i n seinem
eigenen Leben k a u m mehr vor. Dass er sich für nahezu heiligmäßig
hielt, begründete er aus seiner Religiosität, die ihn - es sei nebenbei
angemerkt - auch zu solcher w a h n a r t i g e n Lebenmaxime führte. M i t
etwa 4 0 Jahren e r k r a n k t e er schwer. D a m i t t r a t eine Situation ein, i n
der es n u r noch auf i h n u n d seine Interessen u n d Bedürfnisse a n k a m . Er
fand sich in eine Welt geschleudert, in der er sich nicht mehr orientieren
k o n n t e . Er fand sich überflüssig. D i e Uberzeugung v o n der eigenen
Wertlosigkeit führte i h n zum Selbstmord.

Das »So-what-Syndrom«

Wozu ist das Wer seinem Leben niemals v e r a n t w o r t e t O r i e n t i e r u n g gab u n d nie ei-
alles gut? nem Stern folgte, der dem Leben seine R i c h t u n g wies, der w i r d sich i n
Phasen, i n denen er sich nicht ablenken k a n n , die Frage stellen, o b sich
denn das Leben gelohnt habe. Ein Leben, das ausgefüllt w a r m i t dem
Streben nach G e l d , nach Einfluss, nach A n e r k e n n u n g . . . etc., muss i r -
g e n d w a n n einmal leer erscheinen. Die Frage nach dem »Was soll denn
alles das, was d u da tust?« u n d die Frage: »Das also soll es gewesen
sein?« sind die beiden w i c h t i g s t e n Varianten des So-what-Syndroms.
Solche Fragen stellen sich e i n d r i n g l i c h u n d lassen sich nicht in einem i r -
gendwie gearteten Vergessen zum Schweigen bringen. N u r ein M e n s c h ,
der seinem Leben ein sittlich verantwortetes Z i e l setzt, w i r d nicht
d u r c h diese Fragen bedroht. Wer sich das Z i e l gesetzt hat, d u r c h sein
T u n u n d Lassen eigenes u n d fremdes personales Leben eher zu meh-
ren als zu m i n d e r n , der sein Leben also unter die M a x i m e »Liebe das
Leben!« (das Biophilie-Postulat) stellte - ein solcher Mensch k a n n nie-
50 I. Die Cinaral<terlosigl<eit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

mals desorientiert sein, auch w e n n die W e h ihren Sinn verloren hat.


Diese Orientierungslosigkeit ist insofern ein Charaktermangel, als es je-
dem Menschen möglich ist, eine sittlich verantwortete Lebensorientie-
r u n g zu finden u n d zu versuchen, sein Leben danach einzurichten. Dass
aber desorientierte Menschen nicht selten beruflichen E r f o l g haben, ist
zu belegen: Viele beruflich erfolgreiche Menschen leiden unter dem
»So-what-Syndrom«. A u f eine o f t nahezu zwanghafte Weise versuchen
sie, i m beruflichen E r f o l g die Frage nach dem »So-what« z u m Schwei-
gen zu bringen.

Fallbeispiele

Arbeitsopfer 'i^ Ein erfolgreicher Manager kannte nur sein Unternehmen. I h m op-
ferte er 60 u n d mehr Stunden i n der Woche. Seine Partnerschaft ging,
da er sie an die zweite Stelle in seinem Leben setzte, nach wenigen Jah-
ren zugrunde. Er selbst instrumentalisierte sich so sehr, dass er die eige-
ne V e r a n t w o r t u n g für die sittliche Gestaltung sein Lebens übersehen
lernte. Es k a m dazu, dass er sich z u m N u t z e n seines Unternehmens m i t
falschen Angaben Subventionen auszahlen ließ. Als er deshalb einen
Strafprozess erwartete, brach sein Selbstbild zusammen. D i e Frage:
»Was hatte das eigentlich für einen Sinn, dass ich m i c h für mein Unter-
nehmen aufopferte?« beherrschte wochenlang sein Denken u n d blo-
ckierte sein Fiandeln. Erst jetzt erkannte er, dass allein eine lebendige
Ehe einem Menschen helfen k a n n , m i t V e r a n t w o r t u n g menschlich zu
leben.

Leben voller Sinn ' i ^ Eine ältere Frau, die sich aufs Sterben vorbereitete, erzählte m i r ihr
Leben, aus dem i c h einige Episoden hier vorstelle. Sie sei als junges
Mädchen eine Langschläferin gewesen. Als sie geheiratet hatte, musste
sie jedoch jeden M o r g e n vor fünf U h r aufstehen, da i h r M a n n u m sechs
U h r auf der Baustelle sein musste. Es galt, i h m sein Frühstück zu berei-
ten u n d den »Henkelmann« fürs Mittagessen fertig zu machen. I m L a u -
fe der Jahre stellten sich zwei K i n d e r ein. »Beide sind gut geraten!« ver-
kündete sie m i r voller Stolz. U n d nach einer längeren Pause fragte sie:
»Aber, H e r r Pfarrer, w o ist mein Leben geblieben? Ich w a r i m m e r n u r
für andere da, für andere gut genug, aber dabei habe ich mich selbst
verloren!« Es folgten mehrere Gespräche, ehe sie bereit w a r zu akzep-
tieren, dass sie ein Leben voller Sinn gelebt habe. Sie habe sich keines-
wegs verloren, sondern in einer Weise gefunden, die es ihr ermöglichte,
vor allem auf das W o h l anderer zu achten.
Der Unehrliche 51

Der Unehrliche

Die bewusste Dass U n e h r l i c i i k e i t einen M a n g e l an Charakter demonstriert, ist k a u m


Lüge zu hezweifeln. Dennoch g i b t es unehrliche Menschen, die einen schein-
bar erheblichen Lebenserfolg hatten. E h r l i c h ist eine Person d a n n ,
w e n n sie n i c h t bewusst oder g r o b fahrlässig täuscht. W i r unterscheiden
zwei Formen der U n e h r l i c h k e i t . Menschen, die sich selbst gegenüber
unehrlich sind {sich selbst belügen), u n d Menschen, die anderen ge-
genüber u n e h r l i c h sind u n d sie z u täuschen trachten. Liier soll es nur
u m diese zweite F o r m der U n e h r l i c h k e i t g e h e n D i e Täuschung k a n n
sich a u f Waren w i e Dienstleistungen beziehen, auf Qualitäten w i e
Quantitäten, Fähigkeiten u n d Fertigkeiten, Profanes w i e Religiöses,
N a c h r i c h t e n wie A n t w o r t e n , Fehler u n d Versagen . . . Die Liste der Cha-
rakterfehler, welche a u f U n e h r l i c h k e i t zurückgeführt werden können,
ist sehr lang u n d b e t r i f f t nahezu alle menschlichen Eigenschaften,
Handlungen u n d P r o d u k t e . Einen charakterlichen Defekt zu ver-
decken, u m einen V o r t e i l zu erlangen, ist sicherlich schon eine F o r m der
Unehrlichkeit.
Die U n e h r l i c h k e i t w u r d e i n der Politik in einer Weise institutionalisiert,
dass viele Menschen (meist n i c h t zu Unrecht) davon ausgehen, dass sie
v o n ihren P o l i t i k e r n , was die politische Gegenwart u n d die politische
Z u k u n f t b e t r i f f t , belogen w e r d e n . D i e politische Lüge ist zur p o l i t i -
schen I n s t i t u t i o n geworden. Alles - so scheint es - ist erlaubt, was dem
M a c h t e r h a l t oder dem M a c h t e r w e r b dienlich ist.

Fallbeispiele

Fehler im 'i** Eine S o f t w a r e f i r m a vertreibt eine Software, die offensichtlich feh-


Programm lerhaft ist. D a dieser Fehler aber n u r bei bestimmten selteneren A n w e n -
dungen a u f t r i t t , entschließt sich die F i r m a , den Fehler zu verschweigen,
da dessen Behebung recht aufwändig gewesen wäre. Sie hat m i t dem
P r o d u k t einen Riesenerfolg. K u n d e n , die sich über den genannten Feh-
ler beschweren, werden auf ein bald kommendes Back-up vertröstet,
das diesen Fehler behebe u n d dazu noch eine erhebliche Leistungsstei-
gerung des Programms b e w i r k e . E i n K u n d e , der so vertröstet w u r d e ,
w a r t e t i m m e r noch auf das k o r r i g i e r t e P r o g r a m m .

Vorgetäuschte ' i * E i n M a n a g e r verstand es, den Führungskräften seines Hauses den


Kontakte E i n d r u c k zu v e r m i t t e l n , er habe Freunde m i t erheblichem politischem

13 D a s C h a r a k r e r p r o b l e m der » N e u e n U n r e d l i c l i k e i t " , die einen M e n s c h e n dazu b r i n g t ,


sich u n d seine H a n d l u n g e n n i c h t m e h r r e d l i c h zu bedenken, sondern sich sogar i n w i c h -
tigen Fragen selbst zu täuschen, w e r d e ich i n einem folgenden Buch b e h a n d e l n .
52 I. Die Charakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

Einfluss. Seine Karriere ging schnell nach oben. Als dem Unternehmen
jedoch eine E r w e i t e r u n g der P r o d u k t i o n s a b t e i l u n g d u r c h die zuständi-
ge Behörde verweigert w u r d e , sollte der so einflussreiche M i t a r b e i t e r
bei der entsprechenden Behörde oder an noch höherer Stelle Überzeu-
gungsarbeit leisten. Es stellte sich heraus, dass seine Beziehungen zu
Ämtern eher unerfreulicher A r t w a r e n . Schreiben der Geschäftsleitung,
die sich auf i h n beriefen, w u r d e n u n w i r s c h beantwortet.

Bestätigtes Eine angesehene deutsche Z e i t u n g verbreitete einseitig antiserbi-


Vorurteil sche N a c h r i c h t e n . M a n vermutete, dass ein Blatt m i t solchem Renom-
mee seine Behauptungen auf solide Recherchen stützen könnte. Das
w a r jedoch nicht der Eall. Es hatte jedoch, da es die öffentliche M e i -
nung i n Deutschland weitgehend herausgebildet hatte, erheblichen
wirtschaftlichen E r f o l g . W e n n ein V o r u r t e i l erst einmal etabliert ist,
werden die meisten Menschen die Z e i t u n g kaufen, die dieses V o r u r t e i l
verstärkt oder wenigstens bestätigt.

Unqualifizierte In einer Ansprache berichtet ein Geistlicher v o n seinen E r f a h r u n -


Äußerung gen i m U m g a n g m i t Jugendlichen. Er lässt k a u m ein gutes H a a r an i h -
nen. Er sieht i n ihnen zukünftige Nichtstuer, Ausbeuter, Asoziale. Als
i h m ein anwesender Sozialarbeiter w i d e r s p r i c h t , beruft er sich auf seine
qualifizierteren Erfahrungen, da i h m als Geistlichem mehr Türen offen-
ständen als einem Sozialarbeiter m i t einer sechssemestrigen A u s b i l -
dung. M i t dieser Selbstdarstellung schlug jedoch die S t i m m u n g gegen
ihn u m . Etliche Zuhörer verließen protestierend den R a u m .

Blühende 'i' Ein Bundeskanzler (Dr. H e l m u t K o h l ) versprach seinen potentiellen


Landschaften Wählern, dass die Beitrittsgebiete z u m Geltungsbereich der eigenen
Verfassung bald blühende Landschaften sein w e r d e n . N a c h drei Jahren
gab es solch blühende Inseln i n einer ansonsten trostlosen Landschaft
tatsächlich. Er behauptete, dass der B e i t r i t t aus der Portokasse bezahlt
werden könne. Dass er jedoch 2 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 D M kosten werde,
verschwieg er. Er behauptete 1988, die Arbeitslosenzahl binnen k u r z e m
halbieren zu können. Dass sie aber stetig - m i t Schwankungen - an-
wuchs, verschwieg er. Das Verschweigen einer Prognose, die keine be-
sonderen v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e n Kenntnisse voraussetzt, ist eine fatale
F o r m der U n e h r l i c h k e i t . Sie hatte zur Folge, dass K o h l zwar 1994 wie-
d e r u m zum Kanzler gewählt w u r d e , danach aber eine nie gekannte
Politikverdrossenheit die Bürger überfiel u n d er 1998 die W a h l u n d
d a m i t sein A m t verlor.
Der Kriecher 53

Der Kriecher

Dem Chef Der Kriecher ist eine Person, die bewusst oder unbewusst die eigenen
gefallen um jeden Werteinstellungen, E r w a r t u n g e n , Bedürfnisse u n d Interessen hintan-
Preis stellt, u m anderen zu gefallen, u m anderen Recht zu geben, auch w e n n
sie offensichtlich Unrecht haben u n d vertreten. Er ist bereit, moralische
Vorgaben zu vertreten, w e n n dieser Verrat l o h n e n d erscheint. N u n
w i r d jedermann einen Kriecher dieser A r t ablehnen, besonders d a n n ,
w e n n er selber wie ein Blindschleiche i m Sande k r i e c h t . Dennoch wäre
es falsch, die Menge der Kriecher u n d die Gefahr, die v o n ihnen aus-
geht, zu unterschätzen. Schwache (und d a m i t weitgehend ungeeignete)
Vorgesetzte halten Menschen, die ihren Vorstellungen stets gerecht
w e r d e n , für gute M i t a r b e i t e r . Das ist ein klassisches V o r u r t e i l u n d w i r d
jeden Vorgesetzten, der die Stufe v o n einer Führungskraft zu einer
Führungspersönlichkeit überschritt, skeptisch machen. Einen Kriecher
i n der Unternehmenshierarchie weiter nach oben zu befördern, das
w i r d dem Unternehmen m i t ziemlicher Gewissheit schaden. Es ist m i r -
o b w o h l ich i n n i c h t wenigen Unternehmen eine Aufsichtsratsposi-
t i o n w a h r n e h m e - ein Rätsel, wieso Kriecher sich in Unternehmen bis
zu Vorstandspositionen heraufschlängeln können. O f f e n b a r sind auch
manche Aufsichtsräte n i c h t gegen die Gefahr i m m u n , Kriecher u n d
Intriganten (eine o f t enge Partnerschaft zwischen zwei Charakterdefek-
ten) für besonders geeignete Vorstandsmitglieder zu halten.

Fallbeispiele

Vorstands- ' i ^ I n einem der größten deutschen Industrieunternehmen besetzen we-


mitglieder nigstens zwei M i t g l i e d e r des Vorstands Positionen, i n die sie n u r d u r c h
kriecherisches Verhalten gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden ge-
k o m m e n sind. Weder ihre fachliche noch ihre soziale Kompetenz be-
fähigt sie zu den A u f g a b e n , die sie zu lösen hätten. I h r charakterlicher
M a n g e l , der sich vordergründig i n mangelnder Ich-Stärke manifestiert,
führte sie zu ökonomischen Führungspositionen. Dass das Unterneh-
men einen erheblichen M i s s e r f o l g m i t solchen Fehlbesetzungen i n K a u f
nehmen musste u n d d a m i t der Aufsichtsrat seiner elementaren Ver-
p f l i c h t u n g gegenüber d e m U n t e r n e h m e n n i c h t n a c h k a m , w u r d e ei-
gentümlicherweise keinem der Beteiligten bewusst.

Radfahrer ' i ^ I m A m e r i k a n i s c h e n g i b t es ein entlarvendes S p r i c h w o r t : »You can


not See a monkey's ass, t i l l he climbs up a f l a g s t a f f . « D i e s e r Satz ent-
14 G e m e i n t ist m i t diesem etwas ordinären Satz, dass m a n n u r d a n n den w a h r e n C h a r a k t e r
eines M e n s c h e n e r k e n n e n k ö n n e , w e n n er K a r r i e r e m a c h t .
54 I. Die Charal<terlosigl<eit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

hüllt manche W a h r h e i t . Ich habe i m Verlauf meines Lebens i m O r d e n


und während meiner Beratungstätigkeit i n Unternehmen, i n Parteien
und Vereinen nicht wenige Menschen kennengelernt, deren c h a r a k t e r l i -
che Defizite erst ersichtlich w u r d e n , w e n n sie Karriere gemacht hatten.
Man könnte sie als »Radfahrer« bezeichnen, die nach oben buckeln
und nach unten treten. Als Beispiel möchte ich einen meiner nach oben
kriechenden Vorgesetzten nennen, der m i c h , k a u m ernannt, m i t der Be-
m e r k u n g erfreute: »Privat b i n i c h eine Seele v o n M e n s c h . I m Dienst
aber b i n ich ein Schwein. U n d für Sie b i n ich immer i m Dienst!« Sicher-
lich ist diese Redewendung der Militärsprache e n t n o m m e n , doch ent-
spricht sie mancher E r f a h r u n g . Der Satz, den einer meiner O r d e n s m i t -
brüder verwandte, ist nicht ganz uncharakteristisch für Menschen, die
nach M a c h t streben, ohne ihr charakterlich gewachsen zu sein. Wenn
Sie einmal i n I h r e m persönlichen Erfahrungsschatz schnuppern, w i r d
Ihnen die Weisheit dieses scheinbar d u m m e n Satzes nicht entgehen.

Der Ausbeuter

Was meinte Gemeinhin bezeichnet man als Ausbeuter einen Menschen, der andere
Marx? benutzt, u m materielle Güter zu erwerben. V o r M a r x bezeichnete Aus-
beutung die A n e i g n u n g u n d V e r w e r t u n g fremder unbezahlter Arbeits-
k r a f t . So würden Besitzende (von G r u n d u n d Boden, v o n Geld u n d Ka-
pital) v o n den Menschen, die diesen Besitz nutzen, Geld verlangen,
ohne selbst irgendetwas d a z u z u t u n . Erst K a r l M a r x bereitete dieser bis
heute noch demagogisch vertretenen Theorie ein Ende: Z i n s , Profit u n d
Rente seien besondere Eormen des M e h r w e r t s , des M e h r p r o d u k t s oder
der M e h r a r b e i t . A u s b e u t u n g sei folglich die A n e i g n u n g v o n M e h r a r b e i t
(Sklaverei), des M e h r p r o d u k t s (naturale Renten i m Feudalismus) oder
des M e h r w e r t s (Zinsen, Gewinne, Renten i m K a p i t a l i s m u s ) . I n jedem
Fall ist A r b e i t die Quelle des Angeeigneten. D i e Aneignungsformen
sind bestimmt d u r c h historische gesellschaftliche Bedingungen - sie
sind kein Diebstahl. M a r x sieht das Problem der A u s b e u t u n g i m K a p i -
talismus vielmehr i n der Tatsache begründet, dass die A r b e i t selbst zu
einer Ware gemacht u n d d a m i t entpersonalisiert w i r d . Das führt dazu,
dass auch der Arbeiter als Ware gesehen w i r d u n d sich oft genug auch
so sieht.

Ausbeutung von D o c h hier w o l l e n w i r n i c h t den Ausbeuter behandeln, der innerhalb der


Menschen kapitalistischen O r d n u n g s s t r u k t u r a u f g r u n d des Besitzes an K a p i t a l
fremde A r b e i t einkauft u n d sie rentabel verwertet, sondern vielmehr
jenen Ausbeuter, der andere e m o t i o n a l und/oder sozial ausbeutet oder
ihnen ihre Z e i t stiehlt.
Der Ausbeuter 55

Besonders beliebt ist die emotionale A u s b e u t u n g anderer bei M e n -


schen, die d a d u r c h i n egoistischer M a n i e r ihre eigenen emotionalen Be-
dürfnisse, E r w a r t u n g e n oder Interessen realisieren. Es ist überraschend,
dass n i c h t wenige Menschen m i t erheblichen beruflichen Erfolgen sich
genötigt sehen, sich der emotionalen Z u w e n d u n g , A n e r k e n n u n g , Be-
w u n d e r u n g anderer zu vergewissern. O f t w o l l e n sie geliebt sein, ohne
selbst lieben zu können. I n nahezu allen Fällen ist aber das Bedürfnis,
e m o t i o n a l anerkannt zu w e r d e n , die wesentliche Grundlage der Selbst-
akzeptanz. Diese Verwiesenheit auf andere verweist auf eine schwach
ausgebildete Ich-Stärke.
Ganz ähnlich steht es m i t Menschen, die die soziale Ausbeutung d u r c h
andere brauchen, was aufs Erste p a r a d o x k l i n g t . Sie benötigen soziale
K o n t a k t e , die ihnen ein B i l d zurückspiegeln, das i h r e m Selbstbild,
i h r e m Selbstkonstrukt, entspricht. Flaben sie einmal solche Menschen
gefunden, können sie lästige K l e t t e n w e r d e n , die sich an ihre Bezugs-
person b i n d e n u n d v o n i h r e r w a r t e n , ihnen allezeit i h r Selbstbild zu be-
stätigen.

Eine ganz besonders lästige F o r m der A u s b e u t u n g ist die I n a n -


spruchnahme fremder Z e i t . Sie k a n n sehr verschiedene Formen anneh-
men: I n manchen Unternehmen w i r d fremde Z e i t m i t Sitzungen u n d
Konferenzen sinnlos verbraucht. Andere Menschen versuchen, ihren
M i t m e n s c h e n m i t langen Telefonaten ihre Z e i t zu stehlen, ohne zu be-
denken, dass für die meisten Bestohlenen Z e i t ( u n d n i c h t etwa Geld)
die knappste Ressource ist. Diese Zeitdiebe, die M i c h a e l Ende i n sei-
nem R o m a n » M o m o « so hervorragend als die grauen Gestalten v o n
der Zeitsparkasse schilderte, sind n i c h t n u r lästig, sondern sie gaukeln
oft genug auch vor, dass es grausam sei, ihnen n i c h t Z e i t z u »schen-
k e n « , dass es zumindest aber unhöflich sei, ihren Ergüssen n i c h t gedul-
dig zuzuhören. Das Telefon ist zu einem I n s t r u m e n t geworden, u m auf
raffinierte Weise - w e i l i n der Regel ohne vorhergehende Terminab-
sprache - Menschen v o n A r b e i t oder E r h o l u n g abzuhalten, ihnen ihre
Z e i t zu stehlen. Z e i t ist i m m e r Lebenszeit. V o n i h r besitzen w i r alle n u r
eine begrenzte M e n g e . U n d so ist der Z e i t d i e b s t a h l die hinterhältigste
F o r m des Diebstahls u n d die gemeinste. Solchen Zeitdieben zu sagen,
w e n n sie nichts zu t u n hätten, sollten sie es bitte n i c h t bei m i r t u n , w i r d
meist als grobe Unhöflichkeit abgewiesen.

Fallbeispiele

Telefonieren ' i ^ I c h kenne eine junge D a m e , die, w e n n sie m i t sich allein ist, diesen
Z u s t a n d zu beenden versucht, i n d e m sie z u m Telefon greift. Aus einem
Repertoire v o n zwei oder drei Menschen wählt sie einen an u n d beläs-
56 I. Die Cliarakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

tigt i h n m i t einem langen Gespräch. Es interessiert sie k a u m , was der


Angerufene i m A u g e n b l i c k z u t u n hat oder bei welcher A r b e i t sie i h n
unterbrach. Vielmehr versucht sie, A u f m e r k s a m k e i t u n d Z u w e n d u n g
zu erzwingen, i n d e m sie v o n ihren körperlichen Leiden redet, u m d a n n
auf die Überforderung d u r c h A r b e i t zu sprechen zu k o m m e n . Ein zarter
H i n w e i s , dass m a n viel zu arbeiten habe u n d sich gestört fühle, w i r d als
unpassende Unterbrechung abgetan. Er führt n u r dazu, dass ein neues
Thema präsentiert w i r d , dessen D r i n g l i c h k e i t geradezu existentiell sei.
Es ist m i r ein Rätsel, wie ein solcher Mensch erheblichen beruflichen
E r f o l g haben k a n n , es sei denn, sie verhält sich sonst sehr diszipliniert
u n d lädt ihre ganze ündisziplin i m Telefonieren ab.

Besuche ' i ^ I n einem anderen Fall neigt ein durchaus erfolgreicher Manager
dazu, zu allen möglichen Z e i t e n u n d Unzeiten bei Personen, die er auf-
g r u n d ihrer Geduld u n d Höflichkeit (sie weisen i h n n i c h t ab) für seine
Freunde hält, »hereinzuschauen« u n d m i t ihnen die nebensächlichsten
Probleme seiner Ehe u n d seiner Gesundheit zu besprechen. Gerne sei
zugegeben, dass er sich für eine gewisse Dauer einen Therapeuten er-
spart.

. . .
Rat und Hilfe ' i * Einer meiner ehemaligen N a c h b a r n w a n d t e sich stets a n m i c h ,
w e n n er i n irgendeiner Sache R a t oder H i l f e zu benötigen meinte. Das
f i n g an beim Aufstellen u n d Festhalten einer Leiter, u m die D a c h r i n n e n
v o m L a u b z u säubern, u n d endete bei langen Krankheitsgeschichten,
bei denen er meinen therapeutischen R a t wünschte. Dazwischen lagen
Probleme m i t der Einkommensteuererklärung, d e m Ausleihen v o n
Werkzeug, der Reparatur seines Rasenmähers u n d den meist bösartigen
Erzählungen über die übrige Nachbarschaft. W e r vermuten würde,
dieser H e r r sei i m Beruf n i c h t erfolgreich, i r r t , denn es handelt sich u m
einen V o r s t a n d eines keineswegs kleinen Unternehmens. Aus irgend-
einem G r u n d hielt er m i c h für seinen Freund, o b w o h l i c h keinerlei
freundschaftlichen Gefühlen A u s d r u c k gab.

Schnee von ' i ^ I n einem U n t e r n e h m e n , das i c h beraten sollte, herrschte eine be-
gestern merkenswerte, w e n n auch recht verbreitete U n k u l t u r . Es w u r d e n häufig
- ohne Wissen der meisten Beteiligten - Sachverhalte diskutiert, die
schon längst vorentschieden w a r e n . Die elementarsten Regeln der K o n -
ferenzkultur w u r d e n n i c h t berücksichtigt. D e n n auf solchen Veranstal-
tungen, sollten sie denn schon einmal nötig sein, müssen zu jedem ent-
scheidungserheblichen Sachverhalt zunächst die schon entschiedenen
Rahmenbedingungen genannt u n d danach die noch offenen Fragen be-
sprochen w e r d e n . Dass ich solche Unternehmen n i c h t berate, sondern
ihnen einen anderen Berater empfehle, werden Sie sicher verstehen.
Der Besessene 57

Der Besessene

Sein und Haben Die Besessenheit gehört zu den E r k r a n k u n g e n des Suchttyps. W i r spre-
chen v o n einer Sucht, w e n n ein M e n s c h sich i n eine lebensmindernde
(nekrophile) E o r m der Abhängigkeiti^ derart einlebt, dass sie zu einem
Strukturelement seiner Persönlichkeit w i r d . Menschen können v o n
allen möglichen lebensmindernden Möglichkeiten des Menschlichen
besessen sein. Es g i b t Abhängigkeit v o m A l k o h o l , v o n Z i g a r e t t e n , v o n
Kaffee, v o n A r b e i t , v o m schnellen A u t o f a h r e n . . . Früher sprach man
solchen Besessenen einen bösen Geist z u , den es auszutreiben gelte.
Fleute ist das n i c h t mehr üblich. Es handelt sich vielmehr u m einen
k r a n k e n Geist.
Menschen definieren sich selbst heute n i c h t mehr v o n dem her, der sie
sind, sondern v o n dem her, was sie haben. Viele wissen n i c h t mehr, wer
sie sind, sondern n u r n o c h , was sie haben oder haben w o l l e n . D a dieses
Flaben keine Grenzen kennt, ist eine Erfüllung dieser Selbst-Definition
nicht möglich, sie kennt kein Resultat. W i r Psychologen bezeichnen
Menschen, die grundsätzlich Strategien einsetzen, die keinesfalls z u m
angestrebten Z i e l führen können, als neurotisch gestörte Persönlich-
keiten. Dieser A b s c h n i t t behandelt eine der am weitesten verbreiteten
Neurosen. O b w o h l i h r K r a n k h e i t s w e r t hoch ist, werden sie k a u m v o n
einer Krankenkasse als therapiebedürftig akzeptiert.
Es scheint sich also u m eine K r a n k h e i t zu handeln, die so verbreitet ist,
dass viele Menschen sie n i c h t mehr als K r a n k h e i t erkennen. Der eigent-
liche G r u n d der K r a n k h e i t w u r d e schon (auf S. 3 9 - 4 2 ) behandeh:
N i c h t selten handelt es sich u m »frühe Störungen« (etwa u m eine ge-
störtes U r v e r t r a u e n , eine misslungene Selbstdefinition, ein gebrochenes
Verhältnis z u m eigenen K ö n n e n ) . Gelegentlich w i r d auch eine K o m -
pensation früherer Kränkungen (etwa des Selbstwertgefühls oder ande-
rer Dimensionen des narzisstischen Gleichgewichts) zur Ursache der
k r a n k h a f t e n E n t a r t u n g . Die K r a n k h e i t besteht i m Verlust des eigenen
Seins, das n u n d u r c h F o r m e n des Flabens kompensiert werden soll -
ohne dass dieses Z i e l je erreichbar wäre, denn H a b e n k a n n niemals
Sein ersetzen.
N i c h t wenige i m Beruf erfolgreiche Menschen sind schwer am Geist des
Habens, an Besessenheit e r k r a n k t . Sie sind besessen v o n solch bösen
Geistern w i e E r f o l g , Ansehen, M a c h t , Einfluss, R e i c h t u m . . . A l l dieses

15 Selbstredend g i b t es auch lebensmehrende F o r m e n der Abhängigkeit. Fiierzu mögen


e t w a zählen die A b h ä n g i g k e i t v o n einem gewissen M a ß v o n A n e r k e n n u n g , v o n sozialem
K o n t a k t , v o n Essen u n d T r i n k e n , v o n B e w e g u n g . . . Sie unterscheiden sich jedoch v o n
l e b e n s m i n d e r n d e n F o r m e n der A b h ä n g i g k e i t d a r i n , dass sie Freiheit ( d . h . die M ö g l i c h -
k e i t u n d Fähigkeit, s e l b s t v e r a n t w o r t e t sein Leben zu gestalten) n i c h t einengen, sondern
fördern oder erst e r m ö g l i c h e n .
58 Die Charakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

zu besitzen mag recht g u t sein, w e n n es auch z u m M i s s b r a u c h ver-


führen Icann. Aber d a v o n besessen zu w e r d e n , bedeutet, n i c h t mehr sein
eigenes Leben zu leben, sondern es i n die H a n d eines D ä m o n s gelegt zu
haben, der seine vernichtende Herrschaft ausüben k a n n . Besessene zu
heilen galt als eine der Wundertaten Jesu. U n d es ist auch heute noch
eine schwierige Aufgabe für einen Therapeuten, diese besondere F o r m
einer Sucht erfolgreich zu behandeln.

Fallbeispiele

Machterhalt ^ i ^ Ich kenne einige sehr erfolgreiche Manager, die derart v o n M a c h t ,


Ansehen u n d Einfluss besessen sind, dass sie bereit sind, nahezu alle
möglichen Formen sozialunverträglichen Verhaltens auszuüben, w e n n
sie ahnen, dass ein anderes Verhalten ihre M a c h t beschränken, ihren
Einfluss u n d ihr Ansehen m i n d e r n könnten. Es sind m i r i n meinem Le-
ben Vorstände begegnet, die etwa über Intrigen versuchten, die Verlän-
gerung ihrer Verträge zu erreichen.

Politische 'i* Was für die W i r t s c h a f t gilt, ist der P o l i t i k n i c h t f r e m d . Der K a m p f


Positionen u m hohe Positionen etwa i n der Ministerialbürokratie w i r d keineswegs
i m m e r v o n sittlichen Lebensorientierungen bestimmt. Er ist nichts an-
deres als der K a m p f u m M a c h t , Einfluss u n d Ansehen.

Besitz 'i^ Besonders anfällig für die K r a n k h e i t der Besessenheit scheinen die
Menschen zu sein, die i h r H e r z an den materiellen Besitz hängen. N i c h t
selten sind sie bereit, diesem Götzen nahezu i h r ganzes Leben, ihre Fa-
m i l i e n , ihre Freundschaften, ihre Gesundheit zu o p f e r n . Das k a n n bis-
weilen paradoxe Formen annehmen. I c h las vor einiger Z e i t i n einer
Z e i t s c h r i f t v o n einem M a n n , der - u m seinen materiellen Besitz zu er-
halten - einen bewaffneten u n d i h m zudem körperlich w e i t überlege-
nen Einbrecher m i t bloßen Fäusten anging. A m anderen Tag w a r e n
nicht n u r eine Menge seiner Schätze verloren, sondern die Polizei muss-
te sich auch m i t seiner Leiche beschäftigen.

Geschwindigkeit ' i ^ E i n bekannter Unternehmer ist ein rasanter A u t o f a h r e r , der sich


erst bei Geschwindigkeiten über 2 0 0 km/h w o h l fühlt. Erst i m Verlauf
einer therapeutischen Gespächsfolge gelang es i h m einzusehen, dass der
eigentliche G r u n d seiner Raserei n i c h t die pure Freude an der Ge-
schwindigkeit sei. Er brachte sich vielmehr unbewusst i n Lebensgefahr,
da er sich n u r dann v o l l existentiell akzeptierte. G i b t es ärmere M e n -
schen als solche, die sich u n d anderen i n so törichtem T u n beweisen
müssen, dass sie wenigstens i m Rasen besser sind als andere?
Der Besessene 59

Nikotin ^ i ^ Eine der m i r unverständliclisten Formen der Besessenheit ist das


Rauchen. Dabei weiß ein n o r m a l e r Raucher durchaus, dass seine A b -
hängigkeit sein Leben voraussichtlich u m viele Jahre verkürzt u n d dass
die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu e r k r a n k e n , sich mehr als verdop-
pelt. M a n c h e Raucher sind eher besonnene Menschen, w e n n auch vie-
len H e k t i k e r n der häufige G r i f f zur Zigarette das Natürlichste v o n der
Welt zu sein scheint. I c h kenne Raucher, die i n einer selbstzynischen
Weise ihr Rauchen verteidigen m i t dem H i n w e i s , d u r c h ihren voraus-
sichtlich früheren T o d sparten sie der Rentenversicherung mehr ein, als
die K r a n k h e i t s k o s t e n , die sich i m Gefolge des Rauchens einstellen wer-
den, betrügen. Rauchen sei also so etwas w i e ein soziales W o h l v e r h a l -
ten. Ganz abgesehen d a v o n , dass diese Rechnung statistisch gesehen
falsch ist, so schädigen Menschen, die i n geschlossenen Räumen rau-
chen, meist ohne jede Gewissenbisse die Passivraucher.

Klettenexistenz ' i ^ Eine verbreitete F o r m des lebensmindernden Habens macht sich


und Kollusion erfahrbar i n dem vermeintlichen Recht, über die Z e i t anderer M e n -
schen gegen deren W i l l e n verfügen zu dürfen. Gemeint ist eine k r a n k -
hafte F o r m der sozialen Abhängigkeit, die zwei Ausprägungen kennt:
das Sich-Ankletten an einen anderen Menschen u n d die K o l l u s i o n . W i r
alle kennen v e r m u t l i c h solche Kletten u n d wissen d a r u m , w i e lästig sie
werden können. Dass aber gerade dieses Sich-Ankletten sozial desori-
entierten oder schwachen Menschen H a l t gibt, der es ihnen erlaubt,
sich v o n dem anderen her zu definieren, w i r d meist weder v o m einen
noch v o m anderen gesehen. Der v o n einer solchen Klette Befallene weiß
zumeist n i c h t , dass die Klette nach einem Therapeuten schreit, der ihre
Selbstdefinition v o m sozialen H a b e n her erhört. Anderseits ist es dem
Befallenen n i c h t z u z u m u t e n , ohne jede therapeutische A u s b i l d u n g oder
E r f a h r u n g diese Z w e i s a m k e i t zuzulassen. Er w i r d sie i n der Regel zer-
stören w o l l e n .
Ganz ähnlich liegt diese pathologische F o r m des sozialen Gehabtwer-
dens i n der K o l l u s i o n . D e r Unterschied zwischen der Klettenexistenz
und der eines Partners i n einer K o l l u s i o n besteht d a r i n , dass i m zweiten
Fall beide i h r soziales H a b e n w o l l e n i m jeweils anderen realisieren.
KoUusionen sind i n scheinbar i n t a k t e n privaten Partnerschaften nicht
selten: D i e beiden Partner übernehmen konstant komplementäre
R o l l e n : Richter-Missetäter, Helfer-Hilfloser, Lehrer-Schüler, Herrscher-

16 Ich plädiere dafür, S c h a d e n e r s a t z a n s p r ü c h e i n A u s d e h n u n g des § 8 2 3 , 1 BGB n i c h t n u r


als streng bewiesene K a u s a l k e t t e n v o n Schadensverursacher u n d Geschädigtem z u z u -
lassen, s o n d e r n auch den »statistischen S c h a d e n « , w e n n er zureichend plausibel d u r c h
Passivrauchen zustande k o m m t . Ähnliches w ä r e auch für das Strafrecht zu bedenken,
u m den T a t b e s t a n d der Körperverletzung (gemäf^ § 2 2 3 StGB) n i c h t n u r a u f K a u s a l -
z u s a m m e n h ä n g e zu b e s c h r ä n k e n .
60 Die Charakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

Sklave . . . Z e r b r i c h t eine K o l l u s i o n , versuchen beide Partner, sie mög-


lichst m i t einem anderen Opfer zu erneuern, oder sie vereinsamen. Die
Rolle, welche sie i n der K o l l u s i o n übernahmen, gab ihnen eine zwar
lebensmindernde, aber doch wenigstens vorübergehend befriedigende
A n t w o r t auf die Frage, w e r sie denn eigentlich seien. KoUusionen sind
leicht daran zu erkennen, dass beide Partner sich i n emotionalen wie
sozialen Lebensbereichen eher zurückentwickeln oder m i n d e r n als
mehren.

Der Desorientierte

Vielfalt der Werte W i r leben nach dem Zerbrechen der festen Stützpfeiler der Neuzeit i n
einer W e l t , i n der plötzlich die Menge der Möglichkeiten sich bis z u m
Unverständlichen h i n öffnet. Unzählbar sind heute die Möglichkeiten
der Freizeitgestaltung (Fernsehen, Sport, Reisen) bis h i n zur Gestaltung
der Partnerschaft (institutionalisiert - frei; heterosexuell - homosexu-
ell; Z w e i e r b i n d u n g - M e h r f a c h b i n d u n g ; zusammenlebend - getrennt
lebend; K i n d e r oder keine). V o n der Berufswahl (es tauchen jährlich i n
der B R D mehr als 50 neue Berufsbilder auf) bis h i n zur M o r a l (in der
jeder seine eigenen N o r m e n festlegt) haben w i r alle ständig die W a h l .
W i r sagen, dass unsere Welt multioptional geworden sei.
Wer keinen k o n k r e t e n Lebensplan v e r f o l g t , landet n i c h t selten i n der
Desorientierung. Solche Desorientierung ist meist leicht auszumachen:
In ihr verbindet sich eine o f t tief beängstigende Ratlosigkeit m i t plötz-
lichen, aber aufs Ganze gesehen ungerichteten Entscheidungen. Desori-
entierte Persönlichkeiten können durchaus beruflichen E r f o l g haben,
w e n n sie ihre Entscheidungen an der »normativen K r a f t des F a k t i -
schen« orientieren. D a sich aber i n unserer Z e i t der Multioptionalität
diese N o r m e n des Faktischen schnell u n d ständig ändern, sind die Ent-
scheidungen eines desorientierten Menschen meist ohne konkretes, i h m
bewusstes Z i e l .

Fallbeispiele

Studienwechsel ' i ^ Desorientierungen finden sich n i c h t selten bei Studenten, die o f t


mehrmals i h r Studienfach wechseln. M i r ist ein Fall i n deutlicher E r i n -
nerung, i n der ein Student zehn Semester Theologie studierte, ein
durchaus passables D i p l o m hinlegte, u m dann ein S t u d i u m der B W L zu
beginnen. Dieses brach er nach vier Semestern ab u n d studierte - dies-
mal erfolgreich w i e d e r u m bis zum D i p l o m - Psychologie. Dennoch
wusste er, o b w o h l schon i n den Dreißigern, i m m e r noch n i c h t , welchen
Der Gelähmte 61

Beruf er wählen sollte. Schließlich entschied er sich, Pastoralreferent i m


k i r c h l i c h e n Dienst z u w e r d e n . D a die anstellende kirchliche Behörde
i h m einige Schwierigkeiten machte, begann er zu kämpfen, u n d er er-
hielt seine Stellung. Er w u r d e i n i h r recht erfolgreich tätig - wusste aber
nach mehreren Jahren i m m e r noch n i c h t , o b er sich r i c h t i g entschieden
hatte.

Neue Zielsetzung 'i^ Es sei hier einmal ein Beispiel angeführt, bei dem kein c h a r a k t e r l i -
cher D e f e k t den G r u n d zu einem Lebenserfolg legte, sondern die Über-
w i n d u n g einer Desorientierung. Eins der tragischsten Menschenleben,
die ich ein Stück begleiten d u r f t e , w a r geprägt v o n der Ansicht, es gebe
keine Möglichkeit mehr, das Leben völlig neu zu orientieren. D a der
Betroffene schon 5 1 war, glaubte er, n i c h t die K r a f t zu einem solchen
N e u b e g i n n a u f z u b r i n g e n . Als einzige A l t e r n a t i v e , die i h m einfiel, k a m
für i h n n u r ein Selbstmord i n Frage. Es gelang m i r , i h m i n einer N i c h t -
erwerbsarbeit eine Stellung zu besorgen, die m i t großer V e r a n t w o r t u n g
für andere Menschen verbunden war. Als ich i h m einige M o n a t e später
begegnete, w a r er ein anderer Mensch geworden: Er ging aufrecht, sein
Gesicht strahlte innere Z u f r i e d e n h e i t aus, sein Blick w a r w a c h u n d auf-
merksam g e w o r d e n . Er hatte seinem Leben eine O r i e n t i e r u n g gegeben.

Entschlusslose ' i ^ W e n n v o r den Bundestagswahlen i m September 1998 zwei Tage vor


Wähler der W a h l mehr als 2 0 % aller W a h l w i l l i g e n noch n i c h t wussten, welche
Partei sie wählen sollten, k a n n m a n durchaus v o n einer politischen
Desorientierung sprechen, unverhältnismäßig viele v o n den u n e n t -
schiedenen wählten d a n n SPD, v e r m u t l i c h w e i l sie sich e m o t i o n a l v o n
der C D U u n d dem Kanzler Dr. H e l m u t K o h l (möglicherweise d u r c h de-
ren lange Regierungszeit) abgestoßen fühlten. O b sie i n ihrer Desorien-
tierung unter dem Z w a n g , sich zu entscheiden, das für sie politisch
Richtige taten, w i r d sich erst Jahre nach der W a h l herausstellen.

Der Gelähmte

Wer arbeitet. D i e Multioptionalität kennt noch einen zweiten negativen Ausgang: die
macht Fehler Lähmung vor der Fülle der sich eröffnenden Möglichkeiten. Diese Läh-
m u n g ist n i c h t zu verwechseln m i t der Handlungslähmung, die v o n de-
pressiven Stimmungen ausgehen k a n n . Es ist vielmehr die Unfähigkeit
gemeint, einen bestimmten Entschluss zu fassen, da m a n niemals wis-
sen könne, ob er v o r der Fülle der möglichen o p t i m a l sein werde. Viele
Menschen, die sich für die N u l l - O p t i o n entschieden haben, sind nahezu
k r a n k h a f t darauf bedacht, keine Fehler zu machen. Der fatale M a n g e l
an Entscheidungen k a n n i n einem Unternehmen zu größeren Schäden
62 I. Die Charakterlosigl<eit - 1 . Wenn das innere IVloralgesetz versagt

führen als gelegentliche Fehlentscheidungen. K a n n - muss aber n i c h t .


U n d so k a n n es dazu k o m m e n , dass vor dem A n s p r u c h der M u l t i o p t i o -
nalität (also n i c h t u n m i t t e l b a r i m Charakter begründet) entscheidungs-
schwache Vorgesetze einigen E r f o l g haben können. Bei einem meiner
Kollegen sah ich eine Skizze an die W a n d geheftet, auf welcher der m i t -
unter zutreffende Spruch stand: »Wer arbeitet, macht Fehler; wer keine
Fehler macht, ist ein fauler Flund!«

Fallbeispiele

Fahne im Wind ' i ^ I n einem größeren Unternehmen stieg ein M a n n i n den V o r s t a n d


auf, der sich praktisch jeder Entscheidung, die er allein zu v e r a n t w o r -
ten hatte, entzog. W e n n jedoch bei Vorstandssitzungen abgestimmt
w u r d e , stimmte er stets m i t dem Vorsitzenden. D a das Unternehmen
keine M a t r i x kannte (der betreffende V o r s t a n d n i c h t also auch über ei-
nen operativen Sektor, eine operative Sparte oder A b t e i l u n g Verant-
w o r t u n g zu übernehmen hatte), w a r er v o n seinen Kollegen gelitten.
Wie aber k o n n t e er i n eine solche Position gelangen? Sein T r i c k w a r
ebenso einfach wie erfolgreich. W e n n es n i c h t u m reine R o u t i n e ging,
sondern etwa u m Projekte, entschied er stets zusammen m i t der M e h r -
heit. Bei Stimmengleichheit enthielt er sich. A u f diese Weise w u r d e
er niemals für einen M i s s e r f o l g selbst v e r a n t w o r t l i c h . Diese M e t h o d e ,
i n einem sozialen System (einer Partei, einem U n t e r n e h m e n , einer K i r -
che ...) E r f o l g zu haben, ist keineswegs selten.

Peter-Prinzip 'i^ Andere Menschen wählen die N u l l - O p t i o n aus reiner Bequemlich-


keit, da jede Entscheidung für irgendeine O p t i o n einen psychischen
oder sozialen oder finanziellen A u f w a n d bedeutet. M a n möchte n u n
meinen, solche Menschen seien z u m beruflichen M i s s e r f o l g bestimmt.
Aber auch das wäre ein I r r t u m . Ein m i r bekannter Geistlicher w a r die-
ser F o r m der Bequemlichkeit i n einer beachtenswerten Weise verfallen.
Er w a r de facto für keine F u n k t i o n brauchbar. Das bedeutete, dass i h n
seine Vorgesetzten bewusst so lange beförderten, bis er die Stufe seiner
Inkompetenz (nach dem Peter-Prinzip)'^ erreicht hatte - u n d hier nie-
m a n d mehr v o n i h m irgendwelche Entscheidungen erwartete. I m Ge-
genteil: Hätte er sich aufgerafft, irgendetwas zu entscheiden, hätte er
d a m i t die Sorge seiner Vorgesetzten a k t i v i e r t . D e n n seine Unerfahren-
heit auf diesem Gebiet hätte Fehlentscheidungen außerordentlich w a h r -
scheinlich gemacht.

17 D a s P r i n z i p besagt, dass Personen, solange sie fachliche u n d soziale K o m p e t e n z bewei-


sen, b e r u f l i c h aufsteigen, bis h i n zu jener P o s i t i o n , i n der sie f a c h l i c h ( u n d meist auch so-
zial) i n k o m p e t e n t s i n d .
Der Schwätzer 63

Der Schwätzer

Viel reden = Schwätzer sind Menschen, die u m des Redens w i l l e n reden u n d jeder-
viel hören? zeit bereit sind, die A b f a l l p r o d u k t e ihrer Großhirnrinde v o r anderen -
meist recht unzensiert - auszubreiten. W e i l sie selten i n der Lage sind,
einen v e r t r a u l i c h erfahrenen Sachverhalt auch vertraulich z u behan-
deln, sind sie alles andere als vertrauenswürdig. Wer würde schon frei-
w i l l i g einem Schwätzer ein Geheimnis anvertrauen? W i e aber k a n n es
dazu k o m m e n , dass Menschen, die an dieser schweren F o r m einer »Lo-
goröe« (einem Sprechdurchfall) leiden, beruflichen E r f o l g haben? N u n ,
es g i b t Vorgesetzte, die solche Schwätzer dann als M i t a r b e i t e r schätzen,
w e n n sie n i c h t selbst v o n deren Geschwätz überfallen, belästigt, behin-
dert, ihrer Z e i t beraubt w e r d e n . Der G r u n d ist relativ einfach. Schwät-
zer verfügen über manch vertrauliches Wissen, da sie sich m i t allen
ihnen bekannten Menschen, die ihnen begegnen u n d sich n i c h t auf i r -
gendeine Weise wehren (»Ich habe i m A u g e n b l i c k w i r k l i c h keine Z e i t ;
darüber müssen w i r uns ein anderes M a l austauschen!«), unterhalten
u n d n i c h t selten über die Gabe des Aushorchens verfügen. W e n n dieses
Wissen abgefragt w i r d , fühlen sie sich geschmeichelt.

Fallbeispiele

Wichtigtuerei 'i^ Eine junge F r a u , die zudem über eine extrem lebhafte Fantasie ver-
fügte, ging regelmäßig zu einem meiner Vorgesetzten, der sie ebenso re-
gelmäßig »abschöpfte«. Was er a u f diese Weise erfuhr, akzeptierte er
ohne Prüfung, w e n n es n u r seinen V o r u r t e i l e n entspräche. Hätte er sein
Pseudowissen für sich behalten, wäre die ganze Sache auf den charak-
terlichen D e f e k t der Leichtgläubigkeit hinausgelaufen. D a er aber das
Gehörte »von A m t s wegen« weiter meldete, führte sein Verhalten zu
mancher menschlichen Katastrophe.

Richter-Monolog "i" Bei einer Begegnung m i t einem Vorsitzenden Richter eines Landge-
richts k a m keine der beiden Parteien ernsthaft zu W o r t . Die Gerichts-
v e r h a n d l u n g bestand aus langen M o n o l o g e n , die sich n u r vordergrün-
dig an die Parteien richteten, eigentlich jedoch den jungen Juristen galt,
die sich i m Saale aufhielten. Als ich m i c h nach dem Ansehen des Rich-
ters e r k u n d i g t e , w a r e n alle - t r o t z seines unglaublichen Verhaltens, das
er auch anderswo als n u r i n den v o n i h m geleiteten Prozessen zeigte -
zutiefst beeindruckt über die Fülle seines Wissens (weniger die des Ju-
risten als des allgemeinen). N u r so hat er v e r m u t l i c h eine doch beacht-
liche Position erreichen können. Der M a n g e l an Charakter w u r d e i h m
nicht zum Handicap.
64 I. Die Charakterlosigi<eit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

Coaching 'i^ Ein V o r s t a n d eines großen Unternehmens, der sich v o r Jahren ein-
m a l v o n m i r coachen ließ, pflegte sich nach einer kurzen Begrüßung i n
seinen Sessel fallen zu lassen. D a n n begann er zu reden. U n d das 50 M i -
nuten lang (das ist die gewöhnliche Dauer einer solchen Veranstaltung),
ohne auch n u r die geringste U n t e r b r e c h u n g . Er hatte i r g e n d w a n n ein-
m a l gelernt, dass derjenige d o m i n a n t ist, der a m längsten ungestraft
sprechen darf. Dass er dabei vielen Menschen die G e d u l d raubte, inte-
ressierte i h n n i c h t . A u f g r u n d seiner D o m i n a n z prüfte er sie unbewusst
ständig ab, d u r c h langes, o f t nichts sagendes Gerede. Er hatte irgend-
w a n n einmal die triviale Tatsache verlernt, dass n u r der etwas erfährt,
der zuhört. N u n k a n n er nicht zu mir, u m zu hören, was i n dieser Si-
t u a t i o n nicht a n o r m a l ist, sondern u m zu sprechen. N a c h 50 M i n u t e n
erhob er sich m i t der abschließenden Bemerkung: »Ich danke I h n e n ,
H e r r Lay, denn jetzt weiß ich, was zu t u n ist!« Diese F o r m des Ge-
schwätzes dient dazu, sich selbst über Sachverhalte k l a r zu w e r d e n , die
i m Vorsprachlichen n i c h t greifbar w u r d e n . E i n solches Vorgehen ist
verständlich. M a n sollte es aber n u r dann t u n , w e n n die gesamte Situa-
t i o n (etwa i m Coaching) solches erlaubt.

Der Aggressor

Revier- Aggression bezeichnet ein Verhalten oder eine Einstellung, die offen-
verteidigung sichtlich auf einen physischen oder verbalen A n g r i f f auf Sachverhalte
(hier interessiert uns vor allem der A n g r i f f auf Personen) abzielt. Das
Z i e l ist k l a r : Die Personen sollen überwunden oder ihnen Schaden zu-
gefügt werden. Es gilt sehr verschiedene Formen v o n Aggressivität zu
unterscheiden. Die erste ist die Revierverteidigungs-Aggressivität, die
uns angeboren ist. Über viele J a h r m i l l i o n e n k o n n t e n Menschen u n d
ihre A h n e n n u r überleben, w e n n sie i n der Lage w a r e n , i h r - meist ter-
ritoriales - Revier vor E i n d r i n g l i n g e n zu schützen. Dieser uns angebo-
rene (instinktoide) Mechanismus ist n u n keineswegs sinn- oder f u n k -
tionslos geworden. D e n n so verteidigen w i r die für uns notwendigen
Regionen, w e n n w i r uns angegriffen fühlen.
Welches sind n u n solche Regionen? Es k a n n sicher unser Ansehen, u n -
ser privates oder berufliches Einflussgebiet sein. Es können aber auch
unsere M e i n u n g e n sein, w e n n w i r sie für existentiell halten, w e n n w i r
also d a v o n ausgehen, sie erst gäben unserem T u n u n d H a n d e l n , unse-
rem Leben gar, Sinn, Z w e c k u n d Z i e l . Das Abstecken unserer t e r r i t o -
rialen oder mentalen, sozialen oder psychischen Claims ist ein angebo-
rener G r u n d für unsere Aggressionen. U m unsere Claims mental zu
sichern, bilden w i r m i t u n t e r erhebliche Vorurteilsbereiche aus, die -
w e i l es sich u m V o r u r t e i l e handelt - uns v o n der Realität ablösen.
Der Aggressor 65

Fallbeispiele

Falsch dosierter 'i^ E i n M e n s c h sieht sich d u r c h die aktive Intoleranz etwa seiner K i r -
Widerstand ehe, seiner Vorgesetzten, seiner Nachbarschaft bedroht. Diese Intole-
ranz h a t stets den C h a r a k t e r aktiver Aggressivität m i t sich. W i e soll er
etwa unter dem A n s p r u c h der B i o p h i l i e - M a x i m e »Liebe das Leben!«
reagieren? I c h vermute, dass er vor dem A n s p r u c h dieser M a x i m e - u n -
ter Beobachtung der Verhältnismäßigkeit i n der W a h l seiner M i t t e l -
reaktiv i n t o l e r a n t sein muss, u m erfolgreich abwehren zu können. Jedes
andere Verhalten wäre lebensmindernd, w e i l Toleranz anders keine
Chance hätte zu überleben. N i c h t jede E o r m der Intoleranz wider-
spricht also dem B i o p h i l i e - K r i t e r i u m , es k a n n sie sogar zwingend ein-
f o r d e r n . Eine m i r recht gut bekannte Persönlichkeit akzeptierte nicht
die aktive Intoleranz der K i r c h e , reagierte gegen manche ihrer F u n k t i o -
nen u n d I n s t i t u t i o n e n d u r c h reaktive Intoleranz - u n d w u r d e umge-
hend d u r c h die Systemagenten eliminiert, w e i l seine Aktivitäten als
k o n t r a p r o d u k t i v systemgefährdend angesehen w u r d e n . Was hatte er
falsch gemacht? Er überschätzte sich selbst i n seinen Möglichkeiten.
Seine reaktive Intoleranz w a r n i c h t einflussreich genug, u m m i t der i n -
stitutionalisierten a k t i v e n Intoleranz fertig zu werden oder sie gar zu
überwinden. A n dem Problem der Verhältnismäßigkeit sind so viele
Ketzer u n d Rebellen gescheitert. Es wäre weiser gewesen, sich n i c h t m i t
einer I n s t i t u t i o n anzulegen, sondern m i t einigen ihrer F u n k t i o n e n ge-
genüber einzelnen Menschen. A u c h die A r b e i t i m Kleinen k a n n Großes
bewirken.

Konferenz-Verlauf ' i ^ Viele Konferenzen sind Anwendungsfälle der archaischen Revier-


verteidigungs-Aggression. Rechthaberei, C l a i m v e r t e i d i g u n g , der K a m p f
u m C l a i m e r w e i t e r u n g u n d Durchsetzungswille sind A u s d r u c k s f o r m e n
solch archaischer Aggressivität. D a solche Konferenz- oder Sitzungsab-
läufe gar n i c h t selten sind, mag m a n sie als jene Bereiche sehen, i n de-
nen w i r unser p r i m i t i v - i n s t i n k t o i d e s Verhalten ausleben. Es gibt Unter-
nehmen, i n denen v o n den leitenden M i t a r b e i t e r n erwartet w i r d , dass
sie bis z u einem Viertel der Z e i t für solch ritualisiertes Verhalten zur
Verfügung stellen: sei es d u r c h V o r b e r e i t u n g , sei es d u r c h Sitzungen, sei
es d u r c h N a c h a r b e i t .
Eines ist jedoch unbestreitbar: Die meisten Konferenzen sind subjektive
Optimierungsspiele. Das Subjekt k a n n eine Person, eine A b t e i l u n g oder
eine G r u p p e sein. Ohne K o o p e r a t i o n machen Konferenzen eine o p t i -
male Lösung des angeblich zur V e r h a n d l u n g stehenden Themas u n -
möglich. D r i n g e n d e r f o r d e r l i c h wäre die Beherrschung v o n Diskurs-
techniken, die n i c h t i n Begründungen denken (»Das können w i r
n i c h t ! « ) , die n i c h t i m Entgegen-Satz, sondern i n A l t e r n a t i v e n denken
66 I. Die Ciiaral<terlosigl<eit - 1 . Wenn das innere IVloralgesetz versagt

(»Das können w i r lernen!«).'** D o c h ohne spezifisches T r a i n i n g ist m i r


in zahllosen Konferenzen, die ich beobachten konnte (an solchem U n -
sinn teilzunehmen habe ich m i c h stets geweigert), noch niemals die Be-
herrschung v o n Diskurstechniken begegnet. Sie erfolgreich anzuwen-
den setzt die Fähigkeit voraus, i n Bedingungen u n d alternativ zu
denken u n d zu argumentieren. Ferner w i r d selbstverständlich voraus-
gesetzt, dass kein Teilnehmer »Dogmatiker« ist, d . h . seine M e i n u n g
für frei hält v o n I r r t u m u n d Täuschung, u n d alle als Z i e l eine Lösung
akzeptieren, i n der Irrtümer u n d Täuschungen eine möglichst geringe
Rolle spielen.

Faire und unfaire 'i* Z w e i Unternehmen k o n k u r r i e r e n miteinander. K o n k u r r e n z ist eine


Konkurrenz F o r m der Revierverteidigungs- oder Reviervergrößerungs-Aggressivi-
tät. Hier gilt es zu unterscheiden zwischen Gegneraggressivität u n d
Feindaggressivität. D i e erste w i l l siegen, die zweite vernichten. D i e
Gegneraggressivität ist eine notwendige Voraussetzung des menschli-
chen Beisammenseins. W i r können kein Schach, keinen Fußball spielen,
ohne gewinnen zu w o l l e n . Selbst i n einer Ehe w i r d das Oszillieren z w i -
schen Nähe u n d Distanz n i c h t n u r durch Liebe, sondern auch d u r c h
Aggressivität bestimmt, die i n keiner Weise einer reifen Liebe w i d e r -
sprechen muss. Diese Gegneraggressivität sollte die Grundlage eines
faireren Wettbewerbs sein. Problematisch ist jedoch die Feindaggressi-
vität. Sie k a n n , unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit, eingefordert
werden, w e n n der Wettbewerber seine Strategien auf Feindaggressivität
ausdehnt. Diese k a n n dann - da sich das soziale System i n einer A r t
N o t w e h r s i t u a t i o n befindet - m i t geeigneten M i t t e l n abgewehrt w e r d e n .
D a z u gehört auch die Feindaggressivität, bei deren Einsatz der G r u n d -
satz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Das Z i e l solcher Aggressi-
vität d a r f nicht die V e r n i c h t u n g des Wettbewerbers sein, sondern die
A b w e h r seines feindaggressiven I n s t r u m e n t a r i u m s , die zur m i t t e l b a r e n
Folge - den Regeln der N o t w e h r folgend - bis h i n zu seinem Untergang
führen k a n n .

Quelle Frustration ' i * Jeder a k t i v e n Aggressivität liegt, w e n n sie n i c h t den archaischen


Revierverteidigungs-Mechanismus realisiert, eine pathologische Sozia-
lität zugrunde. Die Aggressionsneigung ist vor allem dann als k r a n k -
haft anzusehen, w e n n sie eine bloße R e a k t i o n auf Vergeblichkeitserfah-
rungen (= Frustrationen) darstellt. Es gab einmal eine psychologische

18 G e m e i n h i n denlcen w i r adversativ, w e n n w i r m i t einer B e h a u p t u n g n i c h t einverstanden


s i n d . Das bedeutet, w i r h a k e n sie für falsch u n d sagen das a u c h . Sehr viel k r e a t i v e r wäre
es, w e n n w i r statt dessen a l t e r n a t i v denken würden. Das wäre der F a l l , w e n n w i r v o n
uns e r w a r t e n , dass, w e n n w i r schon eine P o s i t i o n n i c h t akzeptieren k ö n n e n , w i r uns so-
lange u m eine B e d i n g u n g s f o r m u l i e r u n g b e m ü h e n , bis alle z u s t i m m e n k ö n n e n .
Das Mittelmaß 67

Theorie, nach der Aggressivität stets i n Frustrationen gründe (Frustra-


tion-Aggression-Theorie). Sie dürfte heute als widerlegt gelten, denn
n i c h t wenige Menschen können aggressives Potential bereitstellen,
ohne dass eine bewusste (oder auch n u r unbewusste) F r u s t r a t i o n zu-
grunde liegt. Andererseits g i b t es Menschen, die t r o t z o f t vielseitiger
Frust-Erlebnisse n i c h t etwa i n die Aggression flüchten, sondern i n die
Resignation (die m a n allerdings auch als eine A r t v o n Autoaggression
verstehen k a n n ) . M a n c h e Menschen, die a n depressiven Störungen lei-
den, erlebten oder erleben eine Z e i t v o n F r u s t r a t i o n e n . Ich denke hier
an eine Frau, die - sehr sensibel u n d a t t r a k t i v - annehmen musste, dass
sie v o n i h r e m M a n n »hintergangen« w u r d e . Dabei w u r d e i h r Selbst-
wertgefühl so sehr geschädigt - sie glaubte, sie könne keinen M a n n
mehr a n sich binden - , dass sie sich i n die autoaggressive R e a k t i o n der
Resignation zurückzog. O b w o h l i h r M a n n , den sie nach wie vor sehr
liebte, i h r seit Jahr u n d Tag treu war, k o n n t e sie sich selbst nicht aus
dem autoaggressiven Getto der Resignation befreien. Das hatte zur Fol-
ge, dass es zwischen beiden Partnern zu erheblichen Differenzen k a m ,
die z u m Scheitern der Beziehung beitrugen.

Das Mittelmaß

Heute regiert das »Nicht der Schuft ist der Schurke, sondern das M i t t e l m a ß . « Dieser o f t
Mittelmaß zitierte Satz hat heute mehr Berechtigung als zuvor. Z u m einem fördert
die F o r m der D e m o k r a t i e , der w i r derzeit huldigen, keineswegs Leis-
tungseliten, sondern das M i t t e l m a ß . Jedes V o l k verdient die Regierung,
die es h a t (oder v o n der es gehabt w i r d ) . Der Z u s t a n d der deutschen
oder österreichischen Bundesrepublik belegt diese V e r m u t u n g als stim-
m i g . D a die Wahlbürger i m statistischen Sinne das Mittelmaß verkör-
p e r n , w e r d e n sie k a u m etwas anderes wählen als eben dieses. K e i n
M e n s c h fühlt sich v o m M i t t e l m a ß besser verstanden als das M i t t e l m a ß .
Solche Mittelmäßigkeit b e t r i f f t keineswegs n u r die Intelligenz, sondern
auch die charakterlichen Begabungen der Herrschenden. Franz Josef
Strauß w i r d das böse W o r t zugeschrieben, Dr. K o h l sei deshalb ein g u -
ter Kanzler, w e i l selbst i m dümmsten Deutschen die Überzeugung reifen
könne, bei i h m reiche es auch z u m Kanzler. Das W o r t ist deshalb böse,
w e i l es n i c h t heißen darf: »Selbst dem dümmsten Deutschen«, sondern:
»Selbst dem bürgerlichen M i t t e l m a ß « . W o w i r auch hinschauen: I m
Staat, i n K i r c h e n , i n Parteien, i n Gewerkschaften, i n Schulen u n d U n i -
versitäten h a t das M i t t e l m a ß das Sagen. Der Masse ist jeder, der zu
Recht einer Leistungselite zugerechnet w i r d , unverständlich u n d - w e i l
unverständlich - w e n i g geheuer, u n d w e r möchte schon gerne v o n
einem Menschen beherrscht w e r d e n , der i h m n i c h t geheuer ist?
68 I. Die Charakterlosigkeit - 1. Wenn das innere Moralgesetz versagt

Fallbeispiele

Anerkannter ' i ^ A n einer Hochschule w u r d e ein außerhalb der Hochschule über-


Wissenschaftler d u r c h s c h n i t t l i c h anerkannter Professor v o n seinen Kollegen anlässlich
einer Veröffentlichung massiv angegriffen, o b w o h l eine sachliche Dis-
kussion der v o n i h m vertretenen Thesen durchaus angebracht gewesen
wäre. H i e r begegnen w i r einem Sachverhalt, der schon i m vorhergehen-
den P u n k t behandelt hätte werden können: Alles, was sich nicht an das
herrschende M i t t e l m a ß anpasst, w i r d aggressiv besetzt. Bietet sich n u n
ein Anlass, dieser aggressiven Besetzung A u s d r u c k z u verleihen, so
bricht sie sich m i t U r g e w a l t ihren n e k r o p h i l e n , lebensmindernden Weg.
I n diesem Fall k a m es zu einem L e h r v e r b o t des unbeliebten Kollegen.

Kein Kronprinz 'i^ I n einem Unternehmen duldete ein führender M a n a g e r n u r M i t a r -


beiter u m sich, die i n keinem P u n k t sachverständiger sein d u r f t e n als er
selbst. Dass er d a m i t seinem Unternehmen erheblich schadete, interes-
sierte i h n n i c h t . W e n n er n u r solche u n m i t t e l b a r e n M i t a r b e i t e r gewählt
hätte, die i n wenigstens einem unternehmensrelevanten Bereich besser
w a r e n als er selbst, hätte er seinem Unternehmen d u r c h bessere Ent-
scheidungen sehr genutzt. Er befürchtete, dass ein M i t a r b e i t e r , der fä-
higer sei als er selbst, an seinem Stuhl sägen würde. U n d so k a m u n d
k o m m t es bis heute noch i n vielen Unternehmen dazu, dass das M i t t e l -
m a ß herrscht. W ä r e das i n k o n k u r r i e r e n d e n Unternehmen anders, wür-
de unser Unternehmen k a u m länger i m Wettbewerb bestehen.

Parteivorsitz I n einer bundesdeutschen Partei w u r d e ein heftiger Streit u m den


Parteivorsitz ausgefochten. Es gab zwei K a n d i d a t e n : einen p o p u l i s t i -
schen, das Mittelmaß a n Charakter u n d Intelligenz verkörpernden Po-
l i t i k e r u n d einen blitzgescheiten, w e n n auch ideologisch etwas einseiti-
gen K o n k u r r e n t e n . Sie wissen sicher, w i e die W a h l ausging: Natürlich
zugunsten des Mittelmaßes. V o n den Kohlmeisen erzählt m a n sich,
dass eine Meise, der m a n a m Hals einen schwarzen P u n k t angebracht
hatte, v o n den anderen t o t g e p i c k t w u r d e . Es ist also gefährlich, auf je-
dem Fall der Karriere h i n d e r l i c h , v o m M i t t e l m a ß , v o n der » N o r m a -
lität« abzuweichen.

Der Gutmensch

Gut, gutmütig M a n möchte meinen, ein Gutmensch, also ein M e n s c h , der hehre Idea-
oder gut gemeint le v e r t r i t t , sei n i c h t m i t einem charakterlichen H a n d i c a p belastet. Das
ist leider n i c h t so, denn Gutmenschen w o l l e n z w a r das Gute (oder das,
was sie dafür halten), bedenken aber n i c h t den Schaden, den sie m i t der
Der Gutmensch 69

Realisierung ihres Zieles anrichten (können). Für sie gilt das etwas zy-
nische W o r t : »Gut ist das Gegenteil v o n gut gemeint!« Gutmenschen
verfolgen irgendwelche Ideale, die - aus i h r e m realen K o n t e x t gerissen
- sehr w o h l gut sind, aber i n einer realen Welt zumeist sehr üble Folgen
haben können. Gutmenschen folgen einer unverfälschten Gesinnungs-
e t h i k , nach der eine H a n d l u n g schon d a n n gut ist, w e n n sie einer edlen
Gesinnung folge. Sie halten sich selbst meist für gute Menschen, verges-
sen dabei aber die Folgen ihrer gut gemeinten Taten. Einige G u t m e n -
schen machen einen einzigen relativen W e r t z u m absoluten: etwa die
Gerechtigkeit, die i n t a k t e U m w e l t , die Ausländerfreundlichkeit. Sicher
sind alle diese Werte an u n d i n sich g u t , aber sie sind n i c h t absolut gut.
Sie k o n k u r r i e r e n m i t anderen W e r t e n . D a sich viele dieser Menschen
für c h a r a k t e r l i c h w e r t v o l l halten, w i r d ihnen i h r Charakter zu einem
Handicap.

Fallbeispiele

Michael Kohlhaas 'I^ H e i n r i c h v o n Kleist g r i f f 1810 i n seiner N o v e l l e »Michael K o h l -


haas« das Schicksal des a m 2 2 . M ä r z 1540 hingerichteten K a u f m a n n s
H a n s Kohlhase auf, der einen w a h n k r a n k e n (»realitätsabgelösten«)
Gerechtigkeitssinn entwickelte. Er w a r zweier Pferde wegen m i t dem
kursächsischen Junker Günter v o n Z a s c h w i t z i n Streit geraten. D a er
v o r Gericht verlor, verfasste er 1534 einen Fehdebrief gegen den Junker
u n d ganz Kursachsen. I m M ä r z 1535 eröffnete er die Fehde. Er überfiel
einen kurmärkischen L a n d s m a n n , w u r d e i n Berlin verhaftet u n d z u m
Tode v e r u r t e i l t . Er w o l l t e sein vermeintliches Recht durchsetzen - u n d
w e n n es i h n das Leben kostete.

Umweltschutz 'i^ Es g i b t n i c h t wenige Menschen, denen der Schutz der U m w e l t z u m


höchsten G u t geworden ist. Sie sind u m dieses Gutes w i l l e n bereit, den
T o d anderer Menschen i n K a u f zu nehmen. O b es sich dabei u m die
Versenkung einer B o h r p l a t t f o r m i n der Nordsee handelte oder u m den
T r a n s p o r t v o n allenfalls leicht strahlenden Castor-Behältern, ob es da-
r u m g i n g , ein Stück W a l d vor R o d u n g zu bewahren (etwa beim geplan-
ten Bau der Startbahn West des F r a n k f u r t e r Flughafens) oder u m das
Wohngebiet einer seltenen A m p h i b i e - i n jedem Fall h a t die U m w e l t
v o r den technischen Ansprüchen des Menschen V o r r a n g . Es sei hier
n u n keineswegs geleugnet, dass Vereine wie Greenpeace ihre Berechti-
gung haben (gäbe es sie n i c h t , müsste m a n sie gründen). Schließlich
sind sie es, die das Bewusstsein u m den W e r t einer i n t a k t e n U m w e l t
aufrecht halten u n d i m m e r wieder anmahnen. Dass dabei m i t u n t e r der
i n t a k t e n U m w e l t ein absoluter W e r t zugesprochen w i r d , ist ein Denk-
70 I. Die Charakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

fehler, denn es handelt sich hierbei - w e n n m a n n i c h t die globale Siche-


r u n g der U m w e l t i m Blick hat - n u r u m einen relativen W e r t . D e n n : I n
einer v e r a n t w o r t e t e n Güterabwägung k a n n m a n zu dem Schluss k o m -
men, dass der der U m w e l t zugefügte Schaden geringer ist als der den
Menschen zugefügte. Dass eine solche verantwortete Güterabwägung
voraussetzt, dass der Abwägende über ein sittliches Prinzip verfügt
(etwa die B i o p h i l i e ) , ist unbestritten. Unbestritten ist auch, dass die
Menschen u n d I n s t i t u t i o n e n , die heute tatsächlich i n Fragen der U m -
weltbelastung entscheiden, nicht über ein solches Prinzip verfügen.
Dieser M a n g e l w i r d ganz zu Recht v o n Greenpeace u n d v e r w a n d t e n
Bewegungen kompensiert. D e r M a n g e l an Charakter (als einer sittli-
chen Tugend verstanden) w i r d i n manchen Entscheidungen zu einem
die N a t u r überlastenden Flandicap.

Einwanderer ' i ^ M a n c h e Gutmenschen maskieren ihre scheinbare Güte m i t einer


mehr oder m i n d e r verkappten Ausländerfeindlichkeit. Das böse W o r t
v o m »vollen B o o t « , das einige Schweizer prägten, u m den aus N a z i -
Deutschland flüchtenden Juden die Z u w a n d e r u n g zu verbieten, ist heu-
te - der Sache nach - noch eine o f t geäußerte private u n d politische
M e i n u n g . A b e r auch das Gegenteil w i r d v o n manchen Gutmenschen
vertreten. Sie sind der Ansicht, dass m a n alle Menschen, die über einen
vernünftigen G r u n d verfügen (etwa H u n g e r oder Verfolgung) i n der
Bundesrepublik aufnehmen solle. Beide Parteien machen wieder ein
einziges Prinzip z u m absoluten G u t : Die einen behaupten, m a n müsse
die derzeitigen Bewohner der Bundesrepublik v o r weiterer Z u w a n d e -
r u n g schützen, die anderen sind der A n s i c h t , dass jeder vernünftige
G r u n d die Z u w a n d e r u n g rechtfertige. Beide Parteien, die sich gegensei-
tig die besten Absichten zutrauen, stehen sich u n e r b i t t l i c h gegenüber.
Sie machen einen Denkfehler: Beide vertreten ein relatives G u t . Wiede-
r u m k a n n i n einer v e r a n t w o r t e t e n Güterabwägung, die einem sittlich-
verantworteten Prinzip gehorcht, n u r i m Einzelfall entschieden w e r d e n .
Da es n u r wenige Personen gibt, die z u einer solchen Güterabwägung
fähig sind, muss der Gesetzgeber versuchen, eine möglichst dem Prinzip
der Biophilie verpflichtete O r d n u n g (etwa über ein Einwanderungsge-
setz nach dem V o r b i l d der USA, Kanadas, Australiens ...) zu erlassen.
Bestandsaufnahme 71

Bestandsaufnahme

Verhalte ich mich manchmal ähnlich wie ein Systemagent (s. S. 23-25),
Egoist (s. S. 25-28) oder Feigling (S. 28 ff.)?

Welche Form (s. S. 29-46) nimmt bei mir die Feigheit an?

Zeigt sich bei mir die Mangelnde Autonomie (s. S. 47-49) oder das »So-What-Syndrom«
(s. S. 49/50)?

Bin ich ein Unehrlicher (s. S. 51/52), ein Kriecher (s. S. 53/54), ein Ausbeuter (s. S. 54-56),
ein Besessener (s. S. 57-60), ein Desorientierter (s. S. 60/61), ein Gelähmter (s. S. 61/62),
ein Schwätzer (s. S. 63/64), ein Aggressor (s. S. 64-67), Mittelmaß (s. S. 67/68) oder
ein Gutmensch (s. S. 68-70)?
72 I. Die Charakterlosigkeit - 1 . Wenn das innere Moralgesetz versagt

In welchen Situationen zeigt sich das?

Wie kann ich es ändern?

Was gewinne ich dabei?

Was kann ich dabei verlieren?

Wie will ich vorgehen?

Erster Schritt wäre ...

Der zweite Schritt könnte sein ...


Bestandsaufnahme 73

Als dritten Schritt nehme ich mir vor...

Von welchem dieser auf S. 71 noch einmal genannten Mängel fühle ich mich frei?

Das zeigt sich zum Beispiel, wenn ...

Es bringt mir folgende Vorteile:

Es bringt mir folgende Nachteile:

Will ich es ändern?

Wie kann ich das tun?


2. Wenn das äußere Moralgesetz
fehlt oder nicht beachtet wird

Wechselnde Ebenso wie früher das innere Moralgesetz religiös oder doch d u r c h ge-
Maßstäbe seilschaftliche T r a d i t i o n e n begründet w u r d e , so basierte das äußere auf
der öffentlichen Meinung. Diese stellt fest, w a n n Moralversagen v o r -
liegt u n d w a n n n i c h t . E r k e n n t sie auf Moralversagen, w i r d sozial be-
straft. D a der Staat meist dann a k t i v d u r c h Gesetze tätig w i r d , w e n n die
öffentliche M e i n u n g auf Moralversagen erkennt, u n d w e i l er solches
Moralversagen d u r c h Gesetze zu u n t e r b i n d e n versucht, k a n n i n m a n -
chen Fällen auch die strafende Sanktion des Staates das Übertreten der
N o r m e n der exogenen M o r a l zur Folge haben.
Die öffentliche M e i n u n g unterliegt einer D r i f t . Als vor noch n i c h t ein-
mal zehn Jahren v o n einem Unternehmen betriebsbedingt einige t a u -
send M i t a r b e i t e r entlassen w u r d e n , erkannte die öffentliche M e i n u n g
auf Moralversagen. Der Staat verschärfte den Kündigungsschutz.
W e n n dagegen heute, i m Zeitalter des Shareholder Value, viele tausend
Arbeiter entlassen w e r d e n , u n d das allein, u m das Betriebsergebnis
d u r c h Senken der Arbeitskosten zu verbessern, dann erkennt die öffent-
liche M e i n u n g keineswegs mehr auf Moralversagen. Wer andererseits
heute ein A u t o fährt, dessen A u s p u f f n i c h t m i t einem Katalysator aus-
gestattet ist, gilt als sozialer Schädling u n d w i r d den Repressionen der
Staatsgewalt u n t e r w o r f e n .
Dass ein M e n s c h , der sich u n k r i t i s c h dem U r t e i l der öffentlichen M e i -
nung aussetzt, über eine n i c h t unproblematische C h a r a k t e r s t r u k t u r
verfügt, ist offensichtlich. H i e r w i r d auch i n besonders schöner Weise
das Paradoxon des Titels dieses Buches deutlich: Charakterlosigkeit
w i r d als Sozialverträglichkeit verstanden, während eine realistische,
durchaus nicht sozialunverträgliche Sicht der Dinge als sozialunver-
träglich interpretiert werden k a n n .
Der Naive 75

Der Naive

Realitätsblind Gemeint ist hier keineswegs jede F o r m der Naivität. Naivität k a n n als
»Ursprünglichkeit« verstanden w e r d e n , d a n n ist sie kein Zeichen eines
charakterlichen Defizits. I m Gegenteil. A b e r auch eine andere F o r m der
Naivität w i r d eher belohnt als bestraft. Wer etwa Sachverhalte u n d de-
ren W e r t u n g bezweifelt, die i n einer bestrenommierten Tageszeitung
standen, w i r d i n bestimmten Kreisen als Kritikaster, als Störenfried, als
D u m m k o p f abgetan, w e i l er n i c h t zureichend naiv ist, das für w a h r zu
halten, was da geschrieben stand. Gemeint ist hier eine andere F o r m
von Naivität: Jene nämlich, die einen Sachverhalt n i c h t nach den
N o r m e n der öffentlichen M e i n u n g beurteilt. Das ist gefährlich, w e i l die
öffentliche M e i n u n g eine reale M a c h t darstellt. Der N a i v e erscheint
realitätsblind. Solche F o r m der Naivität zeugt wegen erheblicher Rea-
litätsablösung daher n i c h t n u r v o n einem C h a r a k t e r d e f i z i t , sondern
auch v o n einem i n t e r a k t i o n e i l e n H a n d i c a p .

Fallbeispiel

Technik vs. Moral ' i ^ I n einem C h e m i e w e r k geschieht eine technische Panne, die dazu
führt, dass eine ganze O r t s c h a f t m i t einer durchaus n i c h t ungefährli-
chen Substanz belastet w i r d . Der V o r s t a n d des Unternehmens beurteilt
den V o r g a n g als technische Panne, die niemals ganz auszuschließen ist,
w e n n w i r Menschen m i t C h e m i k a l i e n umgehen. Die öffentliche M e i -
n u n g dagegen beurteilt den Vorgang als Moralversagen. D a der Vor-
stand nahezu eine Woche benötigt, u m z u erkennen, dass es sich hier
nicht u m eine technische Panne handelte, sondern u m ein M o r a l v e r s a -
gen, hatte sich die V o r s t e l l u n g v o n einem sozialunverträglichem Ver-
halten des Unternehmens i n den Köpfen der meisten eingenistet. D i e
Stadt verschärfte als Folge die Umweltschutzauflagen. Das Werk büßt
daher n i c h t allein viel G e l d , sondern auch einen Teil seines Rufes ein.
Was hätte anders gemacht werden müssen? Möglichst noch ehe irgend-
ein Meinungsmacher den U n f a l l näher als Folge eines Moralversagens
hätte darstellen können, musste ein V o r s t a n d i n Fernsehen v o n dem
Sachverhalt berichten. Er hätte zu erläutern gehabt, welchen w i c h t i g e n
Z w e c k die ausgetretene Substanz gehabt hätte u n d dass er a u f g r u n d ei-
ner Güterabwägung zu dem Schluss gekommen sei, der N u t z e n des
Produktes sei unverhältnismäßig groß gegenüber einem recht u n w a h r -
scheinlichen technischen Ventilversagen. Er habe sich i n dieser Sache
offensichtlich getäuscht u n d übernehme die V e r a n t w o r t u n g für den
V o r f a l l . D a m i t wäre das Pulver der öffentlichen M e i n u n g so feucht ge-
w o r d e n , dass m a n d a m i t keine K u g e l mehr hätte abschießen können.
76 I. Die Charakterlosigkeit - 2. Wenn das äußere Moralgesetz fehlt oder nicht beachtet wird

Frühe Sexualität

Alte und neue Dass die weitaus meisten Menschen unseres K u h u r r a u m s p r a k t i z i e r t e


Normen Sexuahtät n i c h t mehr unter die Gehote u n d Verbote einer endogenen
M o r a l stellen, ist offensichtlich. M i r ist i n den letzten Jahren k a u m ein
M e n s c h begegnet, der auch n u r ernsthaft befürchtete, wegen seiner
nicht innerhalb der Ehe p r a k t i z i e r t e n Sexualität i n die Hölle zu k o m -
men oder auch n u r ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Das be-
t r i f f t v o r allem jüngere Menschen (Jugendliche, junge Erwachsene).
Unter N o r b e r t Kluge untersuchte ein Forschungsteam das Sexualver-
halten jugendlicher Frauen i n Deutschland, u n d zwar nach Konfessio-
nen unterschieden.19 Das Ergebnis w a r einigermaßen überraschend:

katholisch konfessionslos evangelisch andere Konfession


a) Mädchen vom 36 % 27 % 23 % 20 %
14.-17. Lebensjahr, die
öfter als 50-mal Ge-
schlechtsverkehr hatten

b) Völlig unvorbereitet 5% 2% 3% 13%


auf den ersten Verkehr

Besonders auffällig war, dass 26 % der katholischen jungen M ä d c h e n


v o n ihrer ersten M e n s t r u a t i o n überrascht w u r d e n (bei den »strenggläu-
bigen« gar 49 % ) . 39 % der K a t h o l i k i n n e n gaben an, beim ersten Ver-
kehr n i c h t verhütet zu haben (bei den »strenggläubigen« gar 50 % ) .
Das Ergebnis ist n i c h t einfach zu deuten. Sicherlich sollte die A u f -
klärungsquote höher liegen u n d die Aufklärung offener geschehen.
Z u m anderen mag eine Protesthaltung der jungen Frauen gegen eine als
repressiv empfundene Sexualmoral eine gewisse Rolle spielen. Eines
aber scheint sicher: Die N o r m e n der »alten M o r a l « regulieren n u r noch
sehr begrenzt das Sexualverhalten - u n d je rigider die N o r m e n v e r m i t -
telt w u r d e n , u m so weniger. E i n o f t gehörter E i n w a n d : »Wenn es uns
beiden doch n u r Spaß macht, was soll denn d a r a n Sünde sein?« Die
goldene Regel der T h o r a oder der Bergpredigt: »Alles, was i h r v o n den
anderen erwartet, das t u t auch ihnen!« ( M t 7.12) w i r d ja nicht verletzt.
Die goldene Regel k a n n m i t einigen A n m e r k u n g e n als Grundlage einer
exogenen M o r a l gewertet w e r d e n . Wer n u r das t u t , was er auch v o n
anderen erwartet, verhält sich sozialverträglich, u m n i c h t sozial be-

19 Ursula O t t , i n : D i e Woche v o m 8. 1 . 99, S. 2 5 .


Der Fanatiker 77

straft zu w e r d e n . Eine endogene oder gar religiöse strafende Instanz


k o m m t hier n i c h t vor. N u n w i r d i n der Pubertät u n d frühen Adoleszenz
die Grundlage für die personale Einstellung zur Sexualität gelegt. D i e
erwähnten Z a h l e n lassen auf eine möglicherweise lebenslang i n f a n t i l f i -
xierte Sexualität schließen. Diese k a n n durchaus ein i m Charakter be-
gründetes H a n d i c a p bedeuten.

Fallbeispiele

Keine Sünde ' i ^ N i c h t wenige junge Menschen, die, durchaus tief religiös, regel-
mäßig zur Beichte k o m m e n , denken gar n i c h t daran, sexuelles H a n -
deln, das v o n den Beteiligten als lustvoller Lebensvollzug w a h r g e n o m -
men w i r d , zu beichten. Das hat halt nichts m i t Sünde zu t u n .

Papstworte " i ' * Als der Papst Johannes Paul I I . 1 9 9 7 anläßlich seines Besuchs i n
F r a n k r e i c h i n Paris für die Jugend einen Gottesdienst hielt, fuhr ich zu-
sammen m i t zahlreichen Studenten m i t der M e t r o z u m Campus der
Universität zurück. Die S t i m m u n g der jungen Leute w a r ausgelassen.
A l l e w a r e n begeistert v o m Papst - als einem tollen Entertainer. »Was er
sagt, ist natürlich Quatsch« - w a r die unwidersprochene M e i n u n g al-
ler, die sich zu diesem Thema äußerten.

Clintons Meineid ' i ^ B i l l C l i n t o n , v o n 1 9 9 3 - 2 0 0 1 Präsident der USA, entwickelte ein


Verhältnis zur Sexualität, das völlig unreif war. Gelegenheitssexualität
ist typisch für Pubertierende u n d Frühadoleszenten. D a sie bei E r w a c h -
senen n i c h t selten zu peinlichen Situationen führt, w i r d der Betroffene
versucht sein, sie psychisch u n d sozial abzuwehren. Das k a n n durchaus
dazu führen, dass n i c h t n u r p r i v a t e , sondern auch öffentliche Meineide
geschworen w e r d e n . W e n n das kein H a n d i c a p ist, was dann?

Der Fanatiker

Die Religions- A u f den ersten Blick mag es erstaunlich erscheinen, Fanatiker hier sie-
stifter dein zu lassen. Es g i b t sicherlich auch religiösen Fanatismus, der sich
selbst als religiös legitimiert erfährt. Für i h n ist Fanatismus eine F o r m ,
seinem religiösen Gewissen zu folgen. D e n n o c h ist jeder Fanatismus so-
zialunverträglich u n d d a m i t s o w o h l m o r a l i s c h als auch ethisch ver-
w e r f l i c h . Es ist erstaunlich, w i e wenige der großen Religionsstifter Fa-
n a t i k e r w a r e n : Weder Buddha noch Esra u n d Nehemia (die Stifter des
institutionalisierten Jahwekultes), weder Jesus noch M u c h a m m a d , we-
der Laotse noch Zoroaster - u n d dennoch gab es i n allen v o n ihnen ge-
78 I. Die Cl-iarakterlosigkeit - 2. Wenn das äußere Moralgesetz fehlt oder nicht beachtet wird

gründeten Religionsgemeinschaften erhebHche Perioden des Fanatis-


mus. Dass solcher Fanatismus n i c h t sozialverträglich ist u n d somit je-
der M o r a l u n d E t h i k entbehrt, ist selbst d a n n u n d v o r allem d a n n ,
w e n n er sich auf ein M a n d a t des Göttlichen b e r u f t , offensichtlich.

Fallbeispiele

Allein selig ' i ^ Dass das C h r i s t e n t u m i n seinen verschiedenen Erscheinungsformen


machend fanatisch sein k a n n , belegen für den katholischen R a u m v o r allem die
Kreuzzüge, die Ketzer- u n d Flexenverbrennungen - aber auch K o n z i l s -
beschlüsse. Das K o n z i l v o n Florenz f o r m u l i e r t e gegen die M i t t e des
15. Jahrhunderts i m Jakobitendekret: »Selbst w e n n jemand sein Blut
für Jesus h i n g i b t , gehört aber n i c h t zur katholischen K i r c h e , so ist er
auf ewig verdammt.« Dieser A n s p r u c h auf das Allein-selig-Machend
w i d e r s p r i c h t - insoweit i n t o l e r a n t - jeder exogenen M o r a l u n d gilt als
sozialschädlich. Wer dennoch seine Selbstdefinition v o n der Zugehörig-
keit zu einer solchen Gemeinschaft herleitet, handelt n i c h t n u r sozial-
unverträglich, sondern muss schon ein erhebliches charakterliches De-
fizit m i t b r i n g e n , das er auf solche Weise zu kompensieren versucht.

Islamischer ' i ^ I n unserer Z e i t erleben w i r i n einigen Ländern einen fundamentalis-


Fundamentalismus tischen Islam. So i m I r a n , i n L i b y e n , i n Saudi-Arabien, i n A l g e r i e n . D a -
bei ist v o m A n s p r u c h her der Islam sehr viel toleranter als das Chris-
t e n t u m . Als die Christen Spanien »zurückeroberten«, f l o h e n die unter
der Fahne des Propheten i n Frieden lebenden Juden v o r ihnen nach
N o r d a f r i k a . Dass manche Vertreter des Islam sich v o r der ideologi-
schen Globalisierung z u bewahren versuchen, ist durchaus verständ-
l i c h , denn diese Globalisierung ist charakterisiert d u r c h eine f u n d a m e n -
tale G o t t l o s i g k e i t u n d Unmenschlichkeit. Aber w i r d hier der Teufel
nicht m i t Beelzebub ausgetrieben? G i b t es nicht andere, humanere M e -
t h o d e n , sich der fundamentalen Diesseitigkeit zu entziehen, als die
Flucht i n eine Z w i n g b u r g voller Zwänge?

Hindus und ' i ^ N a c h der Teilung der einst britischen K o l o n i e »Indien« i n Indien
Muslime u n d Pakistan entstanden zwischen den Religionsgruppen der H i n d u s
u n d der M u s l i m e erbittere, hasserfüllte Kämpfe, o b w o h l gerade der
H i n d u i s m u s Toleranz groß u n d über lange Jahrhunderte überzeugend
auf seine Fahnen geschrieben hatte. H i e r w i r d ein Phänomen deutlich,
das unsere Z e i t i n einigen Regionen des B a l k a n , des nahen Ostens u n d
Z e n t r a l a f r i k a s zu bestimmen scheint: Religiöse Überzeugungen verbin-
den sich m i t ethnischer Elite-Überzeugung z u einem grausigen Ge-
misch, das stets i n der Gefahr ist zu explodieren.
Der Asoziale 79

Unternehmens- ' i * Es wäre n u n falsch, die Intoleranz als Wesen des Religiösen zu se-
sanierer hen. A b e r eine Gefahr hat das Religiöse i n so mancher A u s d r u c k s f o r m
an sich: Es führt zur A u s b i l d u n g ideologischer E l i t e n , das sind Eliten,
die ihren elitären A n s p r u c h aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Glaubensgemeinschaft, Ethnie, Berufsgruppe . . . herleiten. Ich kenne ei-
nige (ökonomisch) sehr erfolgreiche Unternehmenssanierer, die ihrem
Gewerbe m i t geradezu fanatischem Eifer n a c h k o m m e n - gleichgültig,
welche u n d wie viele Menschen da auf der Strecke bleiben.

Kollegenneid ' i ^ N i c h t selten ist Intoleranz i n manchen Berufsgruppen besonders


verbreitet. So g i b t es Regionen, i n denen Ärzte alle anderen als Scharla-
tane a b t u n . Ebenso ist die invidia dericalis (der N e i d der K l e r i k e r ge-
geneinander) e i n verbreitetes Phänomen. W e n n jemand erfolgreich
neue Wege i n der Seelsorge beschreitet, k a n n er ziemlich sicher sein,
dass er den N e i d (der ja i m m e r auch Intoleranz i n sich birgt) mancher
seiner Kollegen auf sich zieht. Es ist durchaus verständlich, dass M e n -
schen m i t schwacher I c h - B i l d u n g ihr Ich v o m beruflichen E r f o l g her zu
interpretieren versuchen. W i r d diese I n t e r p r e t a t i o n i n Frage gestellt,
soll sie d u r c h intolerante D i s k r e d i t i e r u n g des/der anderen gerettet wer-
den. A u c h i n diesem Fall liegt ein sozial schädigendes Verhalten vor. Es
ist s t r u k t u r e l l p a r a d o x , w e i l der Betreffende versucht, sein öffentliches
Image zu verbessern, o b w o h l gerade dieses leidet.

Der Asoziale

Nur der eigene Asozial w e r d e n Umgangs- u n d rechtssprachlich Personen oder soziale


Vorteil zählt Systeme genannt, deren Verhalten über längere Z e i t u n d meist regel-
geleitet den moralischen M i n d e s t a n f o r d e r u n g e n ihres sozialen U m f e l -
des n i c h t entspricht. Solche Asozialität hat zwei recht unterschiedliche
Ausprägungen: die Antisozialität u n d die Anomie, das n i c h t gesell-
schaftskonforme Verhalten. I m letzteren Fall k a n n ein M e n s c h sich auf-
g r u n d anläge- und/oder u m w e l t b e d i n g t e r Vorgaben moralisch u n d so-
zial n i c h t i n ein soziales System eingliedern. V o n der A n o m i e soll hier
nicht die Rede sein, denn sie ist z w a r charakterprägendes Schicksal, u n -
tersteht jedoch i n keiner Weise der moralischen Zuständigkeit des Be-
troffenen.

Die Antisozialität, das bewusste Flandeln gegen moralische u n d soziale


N o r m e n m i t dem Z i e l , sich einen V o r t e i l zu verschaffen, folgt - w e n n
überhaupt - einer exogenen M o r a l . Der Antisoziale schaut n u r auf den
meist vordergründigen eigenen N u t z e n u n d sucht i h n d u r c h H a n d l u n -
gen oder Unterlassungen herbeizuführen. W ä h r e n d die meisten M e n -
80 I. Die Charakterlosigkeit - 2 . Wenn das äußere Moralgesetz fehlt oder nicht beachtet wird

sehen zur Grundlage ihres sozialen Verhaltens den eigenen langfristigen


N u t z e n machen u n d deshalb unter Umständen auf naheliegende Vor-
teile verzichten können, gilt das n i c h t für A n t i s o z i a l e . Sie handeln be-
wusst gegen den N u t z e n anderer, u m den eigenen z u mehren. Diese
Verhalten verbindet charakterneurotische Elemente m i t primärprozess-
lichen v o n Symptomneurosen.
Andererseits ist der Z w a n g , sich antisozial zu verhalten, keineswegs
so erheblich, dass er einen entgegengesetzten freien Willensentscheid
grundsätzlich ausschlösse. I n gewissem U m f a n g u n d unter bestimmten
Umständen können Pubertierende Phasen solcher Antisozialität d u r c h -
laufen, ohne dass eine pathologische D i s p o s i t i o n befürchtet werden
muss. W e n n ein solcher M e n s c h sich überhaupt sozialverträglich ver-
hält, also seinem exogenen Gewissen f o l g t , dann allenfalls u m des au-
genblicklichen Vorteils w i l l e n . Dass sich diese Charakterlosigkeit auf
die Dauer n i c h t auszahlt, dürfte evident sein. D e m antisozialen Ver-
halten liegt eine mehr oder m i n d e r bewusste Entscheidung zugrunde.
Z u m e i s t s t i m m t e n die Grundzüge der Sozialisierung. D a n n aber traten
soziale oder psychische Situationen ein, i n denen alles, was i m H o r i -
zont der Sozialisationen v e r m i t t e l t w u r d e , abgelegt w i r d - aus Enttäu-
schung, aus Protest, aus Rache . . .

Fallbeispiele

Der Trainer ' i ^ E i n Management-Trainer fragt sich bei jeder Anfrage nach seinen
Diensten an erster Stelle: »Was nützt es mir?« K o m m t er zu einem posi-
tiven Ergebnis, ist er fähig u n d bereit, Techniken z u v e r m i t t e l n , deren
A n w e n d u n g längst als überholt, ja als sozial u n d ökonomisch schädlich
g i l t . Die Hauptsache ist i h m das schnelle G e l d . Das Merkwürdige a n
der Sache ist: Er leidet keinesfalls a n einem M a n g e l an Aufträgen. A n -
dererseits ist es selten, dass er z w e i m a l ins gleiche U n t e r n e h m e n gerufen
wird.

Der Vertreter ' i ^ Ich kenne einen Versicherungsvertreter, der sich bewusst u n d vor-
sätzlich die Unerfahrenheit seiner K l i e n t e l z u m eigenen V o r t e i l zunutze
m a c h t . 2 0 Es hat d a m i t erheblichen persönlichen finanziellen E r f o l g u n d
ist bei seinem Bereichsleiter, der o f f e n s i c h t l i c h v o r den M a n i p u l a t i o n e n
seines M i t a r b e i t e r s O h r e n u n d A u g e n verschließt, recht angesehen. Er
passt sich den N o r m e n seines sozialen Feldes (scheinbar oder gar an-

2 0 Das z u m Vertragsabschluss n o t w e n d i g e R e c h t s g e s c h ä f t ist g e m ä ß $ 1 3 8 B G B z w a r n i c h -


t i g , der Versicherungsvertrag k o m m t also gar n i c h t erst zustande, d o c h weiß der Betrof-
fene o f t nichts d a v o n u n d zieht erst recht n i c h t die r e c h t l i c h e n K o n s e q u e n z e n .
Der sittliche iVlensch in einem faschistoiden System 81

scheinend?) an. Dass sein i m Charakter begründetes sozial schädliches


Verhalten vorübergehend belohnt w i r d , hält i h n frei v o n sozialen
Strafen u n d ist i n s o w e i t für i h n gerechtfertigt. Dass er wie auf einem
rauchenden V u l k a n lebt, der jederzeit ausbrechen k a n n , ist i h m nicht
bewusst.

Der Rächer " i " * V o r Jahren begegnete ich einmal einem jungen M a n n , der unschul-
dig Jahre i n einer Justizstrafanstalt verbringen musste. Erst einige Z e i t
nach seiner regulären Strafverbüßung w u r d e der w a h r e Schuldige er-
m i t t e l t . Er schwor sich Rache a n einer Gesellschaft, die Unschuldige
einsperrt, ohne ihnen w i r k s a m e M i t t e l zur Verfügung z u stellen, sich
ihrer H a u t zu w e h r e n . Zunächst w a n d t e er jene Techniken an, die er i m
Knast gelernt hatte: Er brach i n A u t o s u n d Häuser ein. Er raubte auf
offener Straße Handtaschen. E n d l i c h vergewaltigte er mehrere Frauen.
Eine dieser Vergewaltigungen führte tatsächlich zur A n k l a g e , u n d er
w u r d e , w e i l er vorbestraft (sie!) war, z u vier Jahren Freiheitsstrafe
(ohne Bewährung) v e r u r t e i l t . D i e anderen Straftaten w u r d e n n i c h t
entdeckt. A b e r hier w u r d e ein M e n s c h i n die Antisozialität getrieben,
sicher wegen seiner Ich-Schwäche, v o r allem aber wegen des Versagens
des gesellschaftlichen Umfeldes. Sein A n t r a g auf eine psychotherapeuti-
sche Behandlung, u n m i t t e l b a r nach der ersten Haftentlassung gestellt,
w u r d e v o n der Krankenkasse negativ beschieden.

Der sittliche Mensch in einem faschistoiden System

Das soziale Es geht hier u m den Mitläufer i n einem faschistoiden sozialen System.
System und sein Das k a n n ein Staat, eine Partei, ein U n t e r n e h m e n , eine Kirche etc. sein.
Zweck »Faschistoid« nennen w i r ein soziales System, dass sich selbst z u m
höchsten p o l i t i s c h e n , ökonomischen und/oder religiösen G u t macht.
D a alle sozialen Systeme der Menschen wegen existieren u n d n i c h t
etwa u m g e k e h r t , ist die inhumane S t r u k t u r eines solchen Systems of-
fensichtlich. Es macht die Menschen z u m M i t t e l , z u m I n s t r u m e n t seiner
eigenen Ziele. D i e Selbstzwecklichkeit sozialer Systeme ist n u n keines-
wegs etwas, das einem sozialen System a n sich f r e m d wäre. Solange
dem n i c h t bewusst entgegengesteuert w i r d , entartet jedes soziale Sys-
tem faschistoid. Menschen, die sich den N o r m e n eines solchen Systems
anpassen, w e r d e n o f t erheblichen E r f o l g haben. O f t entschuldigen,
n e i n ! idealisieren sie i h r Verhalten m i t Sätzen w i e : »Du bist nichts, dein
V o l k ist alles!« - »Es k o m m t d a r a u f an, dass die Kirche wächst, m e i n
Schicksal ist da unerheblich!«
82 I. Die Cliarakterlosigkeit - 2. Wenn das äußere Moralgesetz fehlt oder nicht beachtet wird

Fallbeispiele

Kontaktsperre- Das sogenannte Kontaktsperregesetz (§§ 3 1 - 3 8 E G G V G ) der


gesetz B R D ^ i erlaubt es der Exekutive (Landesbehörden, Justizminister),
Menschen mehrmals für je 14 Tage i n ein »Schweigelager« einzusper-
ren, ohne dass je ein Richter m i t der Sache befasst w i r d . N i c h t einmal
die Angehörigen oder ein Wahlverteidiger (ein Pflichtverteidiger w u r d e
später zugestanden) weiß, w o die Eingesperrten sich befinden. Erst
recht w i r d ihnen jede F o r m der mündlichen oder schriftlichen K o n t a k t -
aufnahme untersagt. Dieses Gesetz ist zweifelsfrei faschistisch, denn
es stellt den Staat u n d seinen Bestand als höchstes Rechtsgut vor (und
nicht etwa die Würde des Menschen, w i e es das Grundgesetz ver-
langt).22

Unternehmens- ^ i ^ U n t e r n e h m e n , deren »Faktorenverantwortung« sich ausschließlich


erfolg auf die Produktionsbedingung Kapital beschränkt u n d die alle anderen
Faktoren wie Arbeit, Umwelt, Kreativität, Unternehmenskultur etc. an
die zweite oder an gar keine Stelle stellen, sind faschistoid. Sie machen
sich u n d ihren kapitalbezogenen unternehmerischen E r f o l g z u m ein-
zigen anzustrebenden G u t . Die deutsche Version des Shareholder Value
ist eine mögliche Umschreibung für solchen betrieblichen Faschismus.

Dogmatik ^ i ^ A b e r auch K i r c h e n können sich selbst z u m höchsten religiösen G u t


machen. Z w e i f e l s f r e i u n d theologisch wie religiös unbestritten, haben
sie das Recht u n d die Pflicht, seelsorgliche H a n d l u n g e n vorzunehmen
und auf andere Weisen das v o n Jesus verkündete Gottesreich z u reali-
sieren. A b e r m i t z u m Teil d e s t r u k t i v aggressivem Verhalten verfolgen
sie alle, die anders oder gar - noch schlimmer - anderes glauben. A l l e
Glaubensbekenntnisse u n d alle D o g m e n w u r d e n v o n der K i r c h e , nicht
von Jesus v o n Nazaret verkündet, v o r allem u m ihre eigene Identität zu
definieren u n d zu stabilisieren. Die K i r c h e n entdeckten d a m i t eine M e -
thode, die ihren Bestand über die Jahrhunderte sicherte. N u r der H i n -
duismus u n d der Buddhismus, das J u d e n t u m u n d der Konfuzianismus
w a r e n d a r i n bei deutlich größerer Toleranz erfolgreicher. Der Verzicht

2 1 § 3 1 E G G V G b e s t i m m t unter a n d e r e m : »Besteht eine gegenwärtige Gefahr für Leben,


L e i b oder Freiheit einer Person, begründen b e s t i m m t e Tatsachen den V e r d a c h t , dass die
Gefahr v o n einer t e r r o r i s t i s c h e n V e r e i n i g u n g ausgeht, u n d ist es zur A b w e h r dieser Ge-
f a h r geboten, jedwelche V e r b i n d u n g v o n Gefangenen u n t e r e i n a n d e r u n d m i t der Auf?en-
w e l t einschhe(?Uch des schriftHchen u n d mündlichem Verkehrs m i t d e m Verteidiger z u
u n t e r b r e c h e n , so k a n n ( v o n der L a n d e s r e g i e r u n g oder einer v o n i h r b e s t i m m t e n Landes-
b e h ö r d e ) eine entsprechende Feststellung g e t r o f f e n werden.« D i e Länder t r e f f e n d a n n
diese M a ß n a h m e n , die zur K o n t a k t s p e r r e nötig s i n d .
2 2 »Die W ü r d e des M e n s c h e n ist unantastbar. Sie zu achten u n d z u schützen ist V e r p f l i c h -
t u n g aller staatlichen G e w a l t . « ( G G A r t . 1)
Der sittliche Mensch in einem faschistoiden System 83

auf eine straffe O r g a n i s a t i o n m i t den d a m i t verbundenen Gefahren fa-


schistoider E n t a r t u n g sind also keineswegs überlebenswichtig. Für die
katholische K i r c h e i n Deutschland zählt z. B. auch ein aus steuerlichen
Gründen vollzogener A u s t r i t t aus der Körperschaft öffentlichen Rechts
Katholische Kirche als K i r c h e n a u s t r i t t ( A f k K R 138 (1969) 558) -
selbst d a n n , w e n n p r o t o k o l l i e r t w u r d e , dass der Betroffene eben n u r
dieser Körperschaft Ade sagen w o l l t e , keineswegs aber der Glaubens-
gemeinschaft. Wer also keine Kirchensteuer zahlt, o b w o h l er dazu
verpflichtet wäre, w o h l aber der Glaubensgemeinschaft der Kirche an-
gehören w i l l , sündigt w i d e r den Glauben u n d ist ausgestoßen ( e x k o m -
m u n i z i e r t ) . Katholisch ist j e m a n d n u r d a n n , w e n n er - w e n n dazu ver-
pflichtet - Kirchensteuer zahlt, unabhängig v o n seinen Glaubens- u n d
M o r a l v o r s t e l l u n g e n . Selbstverständlich mag m a n sich auch hier fragen,
ob ein solches Verfahren faschistoid ist.
84 I. Die Charakterlosigkeit - 2 . Wenn das äußere Moralgesetz fehlt oder nicht beachtet wird

Bestandsaufnahme

Verhalte ich mich manchmal ähnlich wie ein Naiver (s. S. 75), Fanatiker (s. S. 77-79)
oder Asozialer (S. 79-81)?

Manifestiert sich meine Sexualität in unreifer Weise (s. S. 76/77)?

Habe ich Ähnlichkeit mit einem sittlichen Menschen, der sich einem faschistoiden
System unterwirft (s. S.81-83)?

In welchen Situationen zeigt sich das?

Wie kann ich es ändern?

Was gewinne ich dabei?

Was kann ich dabei verlieren?


Bestandsaufnahme 85

Wie will ich vorgehen?

Erster Schritt wäre ...

Der zweite Schritt könnte sein ...

Als dritten Schritt nehme ich mir vor...

Von welchem dieser auf S. 84 noch einmal genannten Mängel fühle ich mich frei?

Das zeigt sich zum Beispiel, wenn ...

Es bringt mir folgende Vorteile:

Es bringt mir folgende Nachteile:

Will ich es ändern?

Wie kann ich das tun?


3. Wenn jede Sittlichkeit fehlt

Was ist Sittlich- Bisher hahe ich Ihnen Verhaltensweisen vorgesteüt, die - o f t unbewusst
keit? S. S. 15 f. u n d n i c h t reflektiert - i n einer sittlichen G r u n d o r i e n t i e r u n g gründen.
Jetzt sollen Verhaltensweisen vorgestellt w e r d e n , die weder m i t einem
inneren noch m i t einem äußeren Moralgesetz verträglich sind, denen
eine solche G r u n d o r i e n t i e r u n g fehlt. Dabei geht es keineswegs u m eine
moralische V e r u r t e i l u n g . Mögen Menschen sich auch noch so sozial
unverträglich verhalten - w i r wissen n i c h t , aus welchen M o t i v e n sie
sich eben so verhalten. I n aller Regel spielen bei solchem Verhalten
auch pathologische Mechanismen eine Rolle, i n die w i r uns schwer h i n -
eindenken können.

Der Einzelgänger

Es gibt viele Zunächst soll festgehalten w e r d e n , welche A u s d r u c k s f o r m e n des Ein-


Formen zelgängerseins hier nicht gemeint sind.
- Zunächst einmal alle Menschen, die ein ausgesprochen großes Ein-
samkeitsbedürfnis haben u n d sich, soweit als möglich, w e n n n i c h t
akzeptierte Pflichten es e i n f o r d e r n , aus menschlicher Gesellschaft
zurückziehen.
- D a n n aber alle Menschen, deren Niedergeschlagensein es ihnen zeit-
weise schwer macht, m i t anderen u n d ihren »Nichtigkeiten« zusam-
men zu sein.
- Gemeint sind ferner nicht jene Menschen, die sich, v o m Leben ent-
täuscht, aus menschlicher Gesellschaft zurückziehen.
- Ebensowenig rede i c h hier v o n Menschen, die sich v o n niemandem
verstanden wissen u n d deshalb die Einsamkeit suchen, u m d o r t sich
selbst zu finden.
Gemeint sind hier vielmehr Menschen, die i n vermeintlicher Suche nach
Unabhängigkeit keine sozialen Beziehungen eingehen w o l l e n , w e i l diese
ihnen zeitliche, emotionale, soziale, finanzielle . . . V e r p f l i c h t u n g e n auf-
Der Einzelgänger 87

erlegen könnten. Die Flucht v o r der verpflichtenden B i n d u n g lässt sie


allenfalls n i c h t verpflichtende Bindungen oder n u r oberflächliche, je-
derzeit schmerzlos z u beendende eingehen. Diese Menschen können
durchaus beruflichen E r f o l g haben. Ich kenne Vorstände großer Unter-
nehmen, die entweder schon solche Vereinsamung m i t b r a c h t e n oder sie
i m A m t e r w o r b e n haben. So bleibt ihnen n u r der v o n ihnen jederzeit zu
k o n t r o l l i e r e n d e K o n t a k t i m Subordinationsverhältnis.
A u c h hier handelt es sich u m ein charakterliches D e f i z i t . Als Sozial-
wesen sind w i r Menschen darauf angewiesen, m i t anderen i n
Gemeinschaften (das heißt: e m o t i o n a l gebundenen Systemen) zusam-
menzuleben. N u r aus der A r t , wie w i r m i t anderen u n d ihren Inter-
aktionsangeboten umgehen, können w i r herausfinden, wer w i r sind.
Wenn w i r darauf verzichten u n d uns i n eine splendid Isolation zurück-
ziehen, i n der w i r v o r uns selbst stets groß erscheinen, w i r d solch
scheinbare, realitätsabgelöste Größe z u einem Verhalten führen, das
andere als arrogant w a h r n e h m e n .

Fallbeispiele

lonely wolf ' i ^ N i c h t wenige Vorstände großer Unternehmen entwickelten das so


beschriebene Einsamkeitsbedürfnis, das sie schließlich wie ein lonely
ivolf die. Steppe durchstreifen ließ. Die i m m e r wieder genannte Begrün-
d u n g lautet: »Im Unternehmen d a r f ich keine Freundschaft zulassen,
w e i l i c h d a m i t e m o t i o n a l ausbeutbar, sozial befangen werde; außerhalb
des Unternehmens k a n n ich keine Freundschaft aufbauen, w e i l m i r zu
deren K u l t u r die Z e i t fehlt.«

Ich bin der ^i^ Ich kenne einen Kollegen, der sein Einzelgängertum aus A r r o g a n z
Größte! ganz einfach d a m i t begründet, dass er m i t keinem Menschen beruflich
zusammenarbeiten könne, w e i l alle weniger gut seien als er selbst. Ein
ähnliches S y m p t o m e n t w i c k e l n auch manche Manager, die zutiefst
d a v o n überzeugt sind, dass sie alles besser machen könnten als ihre
M i t a r b e i t e r . M i t a r b e i t e r muss m a n haben (a) des Prestiges w i l l e n u n d
(b) w e i l der Tag n u r 24 Stunden hat. Sie sind also n u r Folge kategoria-
1er Unzulänglichkeiten. Es wäre n u n falsch anzunehmen, dass diese
Personen ein befriedigendes Familienleben führten. M i t u n t e r erwarten
sie v o n i h r e m Partner jene Perfektion, die sie bislang nur bei sich fan-
den, oder es fehlt ihnen a u f g r u n d ihrer Fehleinstellung die Z e i t , die für
die K u l t u r jeder Partnerschaft aufzubringen ist.

Menschenhass "i"» Besonders problematisch sind misanthropische Einzelgänger. Pia-


t o n berichtet - psychologisch gut beobachtend - i m Phaidon: Misan-
88 I. Die CInarakterlosigkeit - 3. Wenn jede Sittlicinkeit felilt

t h r o p i e (»Menschenhass«) entstehe, w e n n m a n früher einmal M e n -


schen zu großes Vertrauen entgegenbrachte u n d dieses Vertrauen miss-
braucht oder anderswie enttäuscht w u r d e . Wer diese subjektive E r f a h -
r u n g , die w o h l keinem Menschen erspart bleibt, verallgemeinert, bildet
die V e r m u t u n g aus, es gebe überhaupt keine zuverlässigen Menschen,
denen m a n trauen dürfe. Es k o m m t z u einer gekränkten A b w e n d u n g
v o n allen Menschen. I n den Nonioi (»Gesetze«) stellt Piaton die These
dar, dass i n der Erziehung »eine zu strenge u n d harte U n t e r w e r f u n g die
Jungen zu Schwächlingen, U n f r e i e n u n d Menschenfeinden u n d für das
Zusammenleben u n t a u g l i c h m a c h t « . 2 3 M i s a n t h r o p e n mögen Men-
schen nicht leiden, w e i l sie v o r allem deren Fehler, Grenzen u n d M ä n g e l
sehen. Für sie ist der M e n s c h eine A r t F e h l p r o d u k t der E v o l u t i o n . Sie
folgen einer selbstgeschaffenen M o r a l .

Menschen- ^i^ Es ist m i r ein Jurist (Strafrichter) bekannt, der alle Menschen ver-
verachtung achtet wegen ihrer Unfähigkeit, k l a r zu denken. Recht v o n Unrecht zu
unterscheiden, Emotionalität u n d Rationalität voneinander zu trennen.
Die glasklare Vernünftigkeit w a r für i h n das, was einen Menschen z u m
Menschen m a c h t . Ich v e r m u t e , dass auch er - w e m ginge das anders? -
diese H a l t u n g i n seine Urteile einfließen ließ. Z u diesem Z u s a m m e n -
hang findet sich manche Weisheit bei den Revolutionären i n Frankreich
nach 1 7 8 9 . Sie setzten i n N o t r e Dame eine D i r n e auf den A l t a r - als
Göttin der V e r n u n f t . Vielleicht erkannten sie als erste, dass die Ver-
n u n f t keine absoluten N o r m e n kennt u n d dass das, was vernünftig ist,
sich n i c h t absolut u n d allgemein v e r b i n d l i c h ausmachen lässt. Die Ver-
n u n f t b u h l t vielmehr m i t jedem, der genügend dafür zu zahlen bereit
ist. U n d i h r Preis ist h o c h : Es ist die A r r o g a n z , die n i c h t zu sehen u n d
erst recht n i c h t z u akzeptieren v e r m a g , dass w i r Menschen sehr viel
mehr v o n unserer Emotionalität u n d Sozialität geleitet w e r d e n als v o n
unserer Rationalität.

Der Unangepasste

Jedes System Der M e n s c h , der sich n i c h t an sozial akzeptierten, religiös oder sozial
fordert vorgegebenen Normen o r i e n t i e r t , gilt als unangepasst. Anpassung
Anpassung bezieht sich i m m e r auf ein meist größeres. N o r m e n setzendes soziales
System, das selbst definiert, was i n i h m als r i c h t i g gilt u n d was n i c h t .

23 D e r einzige m i r bekannte P h i l o s o p h , der das Wesentliche des C h r i s t e n t u m s i n der M i -


s a n t h r o p i e sieht, ist Soren K i e r k e g a a r d . Für i h n ist » C h r i s t e n t u m i m N e u e n Testament
( i m U n t e r s c h i e d z u m gelebten C h r i s t e n t u m ) G o t t lieben i m Menschenhass, i m Fiass
gegen Vater u n d M u t t e r der stärkste A u s d r u c k für die q u a l v o l l s t e Vereinzelung«.
(Samlede V s r k e r , 14, 1 9 6 )
Der Unangepasste 89

Es gibt Formen solcher Anpassungsverweigerung aus Gewissensgrün-


den. U m die geht es hier n i c h t . Ausgeschlossen w i r d also i n der folgen-
den Untersuchung des Unangepassten:
- die N i c h t - A n p a s s u n g an die N o r m e n eines faschistoiden oder gar
faschistischen (oder anderswie nekrophilen) Systems,
- die mangelnde Anpassung an ein System voller aktiver Intoleranz,
dem der M e n s c h durchaus i n reaktiver (meist unangepasst scheinen-
der) Intoleranz begegnen sollte,
- die Abweisungen v o n Forderungen, die dem eigenen v e r a n t w o r t l i c h
gebildeten Gewissen widersprechen,
- die Weigerung, das für w a h r zu halten, was andere für w a h r halten,
o b w o h l es n u r wahrscheinlich sein k a n n ,
- die Realisierung primärer Tugenden.
Alle diese F o r m e n der N i c h t - A n p a s s u n g werden w i r i m folgenden Ka-
pitel (auf S. 1 0 9 - 1 1 6 ) ausführlicher behandeln, soweit sie i n orientier-
ter u n d orientierender Sittlichkeit gründen.
Gemeint ist hier vielmehr die N i c h t - A n p a s s u n g a u f g r u n d einer I c h -
Schwäche. N i c h t selten sind es gruppendynamische Prozesse, die einen
Menschen seine A u t o n o m i e verlieren lassen, ohne dass, wie i m Fall der
Überanpassung, heteronome Steuerungen diesen Verlust kompensier-
ten. Unangepasste Menschen müssen nicht ins Asoziale oder Antisozia-
le abgleiten. Sie sind meist einsam, w e n n sie sich nicht m i t ähnlich u n -
angepassten Menschen assoziieren.

Fallbeispiele

Bindungs- ' i * M i r begegnete einmal auf einer W a n d e r u n g an der Südwestküste


Unfähigkeit Fuerteventuras ein jüngerer M a n n , der - auf seinem H a n d t u c h sitzend
und aufs M e e r starrend - einen sehr verlorenen E i n d r u c k machte. Weit
u n d breit w a r kein anderer M e n s c h zu sehen. Ich setzte m i c h neben i h n ,
er rückte einen M e t e r ab. D o c h nach einer guten Viertelstunde begann
er zu sprechen. Aus seiner heiseren Stimme u n d seiner gelegentlichen
Schwierigkeit, die W o r t e zu f i n d e n , die er sagen w o l l t e , schioss ich, dass
er schon längere Z e i t keinen Gesprächspartner mehr gefunden hatte.
Was er m i r erzählte, w a r die Geschichte einer verzweifelten Einsamkeit
u n d eines - wie er sagte - verpfuschten Lebens. I m Elternhaus k a m er
nicht zurecht, w e i l er die A n o r d n u n g e n seiner Eltern als repressiv erleb-
te. A u f der Schule k a m er n i c h t zurecht, w e i l er der M e i n u n g war, dass
alles, was die Lehrer lehrten (besser: zu lehren versuchten), überflüssig
w a r fürs Leben. Ohne Hauptschulabschluss verließ er die Schule. Eine
Lehre brach er wegen w i e d e r h o l t e r Meinungsverschiedenheiten m i t sei-
nem Meister ab. Er jobbte gelegentlich (meist schwarz), w e n n sich i h m
90 I. Die Ciiaral<terlosigl<eit - 3. Wenn jede Sittlicinl<eit felnit

etwas bot. Nirgends aber hielt es i h n für längere Z e i t . Es w a r i h m u n -


möglich, irgendwelche N o r m e n oder auch nur Regeln gegen sich u n d
seine vermeintlichen Bedürfnisse gelten zu lassen. V o r drei Jahren ver-
ließ er Deutschland u n d schlug sich einsam d u r c h die Welt. Viele Län-
der hatte er gesehen, aber nirgends H e i m a t gefunden. N u n hatte er sich
aus allerlei Angeschwemmtem unter überhängenden Eelsen eine Hütte
gebaut. Er ernährte sich v o n den Abfällen, die Touristen hinterließen -
auch bettelte er sie schon einmal u m N a h r u n g an. I n den Bergen fand er
eine alte Zisterne, die i h n m i t Trinkwasser versorgte. Ich hörte i h m lan-
ge zu, ohne etwas zu sagen. N u r meinen Proviant ließ ich i h m zurück.
I m folgenden Jahr suchte ich lange nach i h m , ohne i h n zu finden. Er
hatte nie die Gelegenheit gefunden, so etwas wie »Charakter« auszubil-
den. Das w u r d e i h m zum H a n d i c a p .

Noch einmal: ' i ^ Ein Topmanager w a r - v e r m u t l i c h über das Peter-Prinzip, s. S. 62 -


Peter-Prinzip z u m Abteilungsleiter aufgestiegen. A r b e i t , solange sie anerkannt u n d
erfolgreich war, machte i h m Spaß. Aber m i t der neuen Position w a r
i h m der Spaß vergangen. E r f o l g u n d A n e r k e n n u n g w u r d e n zu Fremd-
wörtern. Er fühlte sich d u r c h den A n s p r u c h der neuen Aufgaben t o t a l
überfordert. N u n hätte jeder Mensch v o n einigem Selbstbewusstsein
hier entsprechende Konsequenzen gezogen. Seine Konsequenz w a r je-
doch, sich immer weniger an Weisungen u n d A n o r d n u n g e n »von oben«
zu halten. M i t keinem seiner neuen Kollegen k o n n t e er einen stabilen
K o n t a k t aufbauen. M i t seinen ehemaligen Kollegen verband i h n zwar
eine A r t v o n Kameraderie, aber die befriedigte i h n weder e m o t i o n a l
noch sozial. Bald schon galt er i m Unternehmen n i c h t n u r als Fehlbe-
setzung (die er w a r ) , sondern auch als unangepasst. D a eine Kündigung
dem Unternehmen z u teuer geworden wäre, k a m es zu einem syste-
matischen M o b b i n g . Diesen dauernden A n f e i n d u n g e n u n d Beleidigun-
gen w a r er auf die Dauer nicht gewachsen - u n d er kündigte. D a er
i m m e r h i n schon 52 Jahre a l t war, w a r e n seine Chancen gering, i n ei-
nem Industrieunternehmen wieder i n eine Top-Position h i n e i n z u k o m -
men. Z u d e m entwickelte er ein ausgesprochenes Burn-out-Syndrom,
das n i c h t n u r Menschen m i t H e l f e r s y n d r o m befallen k a n n , sondern
auch Menschen, die lange Z e i t über, nach erfolgreichen Jahren, m i t
erheblichen Frustrationen (Vergeblichkeits-Erfahrungen) k o n f r o n t i e r t
w u r d e n . A u c h i h m w u r d e das Fehlen eines Charaktermerkmals (Erken-
nen u n d Akzeptieren der eigenen Grenzen) z u m H a n d i c a p .

Verändertes ' i * Was unter Anpassung verstanden w i r d , w u r d e v o m sozialen System


System definiert. Soziale Systeme aber unterliegen einem autodynamischen
Trend, der v o n keinem Menschen bewusst gesteuert w i r d u n d seine
N o r m e n verändern k a n n . Daher ist es möglich, dass ein gut angepasster
Der Überangepasste 91

M e n s c h i n die Außenseiterrolle des Unangepassten gerät, ohne es zu


m e r k e n . Das b e t r i f f t vor allem jene i n einem sozialen System lebenden
Menschen, die n i c h t regelmäßig m i t der M e h r z a h l v o n systemisch ge-
bundenen u n d angepassten Menschen interagieren u n d daher nicht
m e r k e n , dass ihre N o r m e n für diese M e h r z a h l n i c h t mehr gültig sind.
D a sie selbst nichts v o n ihrer Unangepasstheit erfahren, sind sie m i t u n -
ter überrascht, wie heftig aggressiv die Angepassten über sie herfallen.
M i r selbst sind aus den fast 50 Jahren meiner Ordenszugehörigkeit eine
Reihe solcher Fälle bekannt. Die anfangs latente u n d k a u m zu bemer-
kende Aggressivität dem Unangepassten, dem n i c h t mehr Angepassten
gegenüber b r i c h t sich früher oder später Bahn u n d führt dann - für den
Betroffenen nahezu unerklärlich - zu einer E x k o m m u n i k a t i o n aus einer
Gemeinschaft. Er hatte die N o r m e n i n i h r e m Wandel n i c h t erkannt
oder missverstanden. Charakter, der sich n i c h t einfachhin einem N o r -
mentrend ausliefert, w u r d e z u m H a n d i c a p .

Der Überangepasste

Die unbemerkte Überangepasste Menschen, die bereit sind, ihre eigenen Wertvorstel-
Schwäche lungen aufzugeben, n u r u m dazuzugehören, gibt es wie Sand am Meer.
V e r m u t l i c h ist das Fehlen eines gültigen inneren u n d äußeren M o r a l -
gesetzes für diese Charakterlabilität v e r a n t w o r t l i c h . Das Problem be-
steht d a r i n , dass die weitaus meisten dieser Menschen sich für ausge-
sprochen c h a r a k t e r v o l l halten u n d glauben, moralischen N o r m e n zu
folgen. D o c h dieses Wahngebäude bricht unter geringer Belastung zu-
sammen. Andererseits haben viele überangepasste Menschen beruf-
lichen u n d privaten E r f o l g . Charakter, zu dem eine stabile u n d belast-
bare sittliche O r d n u n g gehört, würde ihnen z u m H a n d i c a p .

Fallbeispiele

Noch einmal: ' i ^ Das klassisch gewordene Beispiel für solche Überangepasstheit
Das Milgram- stellt das M i l g r a m - E x p e r i m e n t (s. S. 4 7 f.) vor. Sein Ergebnis ist klar:
Experiment O f f e n s i c h t l i c h sind w i r Menschen, sobald w i r i n ein soziales System (in
unserem Fall ein aus den I n t e r a k t i o n e n dreier Personen k u r z f r i s t i g k o n -
struiertes System) eingebunden sind, bereit, viele unserer moralischen
Überzeugungen über B o r d zu w e r f e n . Es steht also durchaus zu v e r m u -
ten, dass die meisten Menschen überangepasst sind.

Herdentrieb ' i ^ Schlecht geleitete gruppendynamische Übungen führen ebenfalls zu


Verhaltensweisen, zu denen viele Menschen außerhalb der durch diese
92 I. Die Ciiaral<terlosigl<eit - 3. Wenn jede Sittliclil<eit fehlt

D y n a m i k reduzierten A u t o n o m i e nicht bereit gewesen wären. Ich habe


i n den 60er Jahren verschiedentlich an einwöchigen Sensitivity Trai-
nings teilgenommen. Es w a r nahezu die Regel, dass alle Teilnehmer
jede N a c h t m i t jeweils anderen Partnern verbrachten. Wer sich davon
ausschloss, w u r d e v o n der Gruppe unter D r u c k gesetzt, bis er/sie sich
vorübergehend assoziierte.

Gegen den ' i ^ Es wäre n u n aber falsch anzunehmen, dass solche g r u p p e n d y n a m i -


Herdentrieb sehen Prozesse nur innerhalb v o n Trainings stattfinden würden. D i e
Teilnahme an einem solchen T r a i n i n g ist aus zwei Gründen durchaus zu
empfehlen. Die Teilnehmer erkennen die Grenzen der eigenen A u t o n o -
mie u n d lernen in Situationen, in denen nicht i m T r a i n i n g , sondern i m
A l l t a g G r u p p e n d y n a m i k w i r k s a m w i r d , in sinnvoller Weise W i d e r s t a n d
zu leisten. Es ist erstaunlich, wie wenige Menschen über die Beschrän-
k u n g ihrer A u t o n o m i e innerhalb sozialer Systeme i n f o r m i e r t sind, vor
allem w e n n diese u n d ihre Grundüberzeugungen stark verinnerlicht
und d a m i t z u m Teil des inneren Moralgesetzes w u r d e n . Ich verbinde i n
meinen Trainings stets gruppendynamische Elemente m i t solchen, i n
denen die Teilnehmer in k o m m u n i k a t i v e n Übungen A u t o n o m i e e n t w i -
ckeln.

Phantombild ' i ^ Eine besonders destruktive F o r m können gruppendynamische Pro-


zesse annehmen, w e n n es d a r u m geht, über Abwesende z u sprechen.
Dabei w i r d o f t ein - meist negatives - k o m m u n i k a t i v e s P h a n t o m b i l d
aufgebaut. Das ist sogar die Regel, w e n n ein M i t g l i e d etwa eines Unter-
nehmens besondere Erfolge hat oder auf andere Weise positiv auffällt.
D a n n neigen viele G r u p p e n dazu, i h n klein zu machen - wenigstens so
klein wie eines der schwächsten Gruppenmitglieder. D a das nicht i m -
mer - etwa d u r c h I n t r i g e n , Legen v o n Fußangeln, Zurückhalten w i c h t i -
ger I n f o r m a t i o n e n oder andere Formen des M o b b i n g - zu realisieren
ist, k o n s t r u i e r t man solch ein negatives k o m m u n i k a t i v e s P h a n t o m b i l d ,
d a m i t der andere wenigstens i n dieser K o m m u n i k a t i o n s g e m e i n s c h a f t
als absolut m i n d e r w e r t i g erscheint. Es ist das Schicksal nicht weniger
Vorgesetzter, die sich zu w e n i g u m k o n s t r u k t i v e K o m m u n i k a t i o n m i t
ihren M i t a r b e i t e r n kümmern, dass solche Bilder entstehen. Wer nicht
weiß, dass nicht er führt, sondern das P h a n t o m , w i r d seine Führungs-
i n t e r a k t i o n e n s u b o p t i m a l organisieren. Sein P h a n t o m b i l d zu kennen ist
also w i c h t i g . Der A u t o r musste selbst i n einer ziemlich dramatischen Si-
t u a t i o n erleben, dass man in einer Gruppe während seiner Abwesenheit
d u r c h mehrere Jahre ein k o m m u n i k a t i v e s P h a n t o m b i l d aufbaute. Die-
ses Bild unterschied sich derart weit v o n dem in den I n t e r a k t i o n e n m i t
anderen Menschen erfahrbaren u n d verifizierbaren Selbstbild, dass
eine T r e n n u n g v o n dieser Gruppe unausweichlich w u r d e .
Der Spielverderber 93

Wes' Brot ich " i " Eine traurige E r f a h r u n g machte ich beim A u f b a u einer auf Sittlich-
ess ... keit gründenden U n t e r n e h m e n s k u h u r i n einer F i r m a , deren Geschäfts-
führer dieses Vorhaben stark unterstützte. N a c h d e m er aus Altersgrün-
den ausgeschieden war, t r a t ein anderer an seine Stelle, der seine - rein
ökonomisch orientierten - Vorstellungen durchzusetzen versuchte. Sol-
che Vorstellungen richten sich b e k a n n t l i c h m o n o p o l a r an ökonomi-
schen Größen aus u n d haben nichts m i t K u l t u r zu t u n . Es w a r für m i c h
erschütternd zu sehen, wie i n k a u m zwei Jahren die gesamte Führungs-
mannschaft sich seinem Stil u n d seinen Vorstellungen anpasste. M a n
könnte hier natürlich auch v e r m u t e n , dass es u m die Angst ging, an
Einfluss zu verlieren, vielleicht gar entlassen zu w e r d e n . D o c h dies w a r
- soweit ich es beurteilen k a n n - n i c h t der eigentliche G r u n d der K e h r t -
wende, sondern einfach der charakterliche Defekt deS' Überangepasst-
seins. Er scheint sich zu rentieren. Charakter zu zeigen wäre hier ein
Flandicap gewesen.

Der Spielverderber

Regeln Das W o r t Spielverderber m a g sich etwas harmlos anhören, da w i r alle


müssen sein gelegentlich als Spielverderber tätig w e r d e n . Gemeint sind hier aber
Menschen, die Spielverderber sind, w e i l sie sich nicht an den N o r m e n
des äußeren Moralgesetzes orientieren. M a n mag das k o m p l i z i e r t e Ge-
flecht menschlicher I n t e r a k t i o n e n , die das soziale System aufbauen,
durchaus als eine A r t des Spielens begreifen. D e r Spielverderber - i m
hier gemeinten Sinn - hält sich nicht an die v o n einem sozialen System
bewusst oder unbewusst e n t w i c k e l t e n Regeln. Das k a n n dazu führen,
dass sensible Systeme (wie F a m i l i e n , kleinere Vereine, Gemeinden) zer-
stört w e r d e n . D a d u r c h werden selbst weniger sensible Systeme (wie grö-
ßere U n t e r n e h m e n , Parteien, Kirchen) erheblich beeinträchtigt, sodass
ihnen k a u m etwas anderes übrig bleibt, als den Spielverderber zu ex-
k o m m u n i z i e r e n . W e n n ein soziales System d u r c h die streng regelgeleite-
ten I n t e r a k t i o n e n z. B. des Fußballspiels gebildet w i r d , dann w i r d der,
der auf dem Feld während des Fußballspiels H a n d b a l l spielt, sehr bald
des Feldes verwiesen w e r d e n , u m das System Fußballspiel zu retten.
Sicher sind manche Spielverderber psychisch k r a n k e Menschen, die
ihre K r a n k h e i t meist u . a. als Q u e r u l a n t e n t u m darstellen. Diese M e n -
schen sind hier n i c h t gemeint. Z u Spielverderbern werden vielmehr
Menschen aus F r u s t r a t i o n , E r f a h r u n g e n fehlenden Erfolges oder feh-
lender A n e r k e n n u n g oder d u r c h die E r f a h r u n g , dass m a n n u r i m
Schwimmen gegen den Strom A u f m e r k s a m k e i t a u f sich ziehen k a n n .
W e i l sie sich selbst als unfähig erkennen, p r o d u k t i v mitzuspielen, sollen
andere auch n i c h t ungestört spielen dürfen.
94 I. Die Charal<terlosigkeit - 3. Wenn jede Sittlichkeit fehlt

Fallbeispiele

phrase killing ' i ^ E i n junger M a n n - jenseits der Pubertät - brach i n nahezu jedes
Gespräch, das andere miteinander führten, ein, u n d versuchte d u r c h
seine keineswegs als k o n s t r u k t i v z u bezeichnenden I n t e r a k t i o n e n das
Gespräch zu stören (phrase killing). M i t u n t e r brach er d u r c h scheinbar
geistvolle Bemerkungen ins Gespräch ein, ein anderes M a l versuchte
er die N i c h t i g k e i t des Gesprächsthemas aufzuzeigen, wieder ein ande-
res M a l erzählte er irgendeine U n b i l l , die i h m w i d e r f a h r e n sei. Einige
Spielverderber haben sich auf eine dieser M e t h o d e n spezialisiert: D u r c h
scheinbar interessante Wortspielereien beenden sie das Gespräch. Das
w i r d man einige M a l verzeihen, w e i l Wortspielereien durchaus w i t z i g
sein können - auf die Dauer aber w i r d der Spielverderber aus der G r u p -
pe ausgeschlossen.

Abendritual 'i^ I n einigen Familien hat es sich zu einer A r t allabendlichen Rituals


e n t w i c k e l t , darüber zu streiten, welches Spiel gespielt werden soll: E i -
ner w i l l Sport, ein anderer einen K r i m i i m Fernsehen sehen, der dritte
möchte sich unterhalten, ein vierter einmal m i t allen zusammen über
sich u n d seine Sorgen reden. A n s t a t t abzuwägen, welches Spiel hier das
wichtigste ist, versuchen Spielverderber ihre Interessen - ohne solche
Abwägungen - durchzusetzen. H i e r w i r d möglicherweise ein junger
Mensch m i t seinen Sorgen allein gelassen, d a m i t Vater Fußball schauen
k a n n . Diese F o r m des Spielverderbens k a n n dazu führen, dass M e n -
schen i n die Einsamkeit abgedrängt w e r d e n : »Niemand interessiert sich
für mich!« N i c h t wenige Fälle jugendlichen Suizids sind auf solche U n -
fähigkeiten, die zu spielenden Spiele r i c h t i g zu w e r t e n , zurückzuführen.
Früher oder später w i r d der junge Mensch die Frage, wie es i h m gehe,
nur noch m i t einer Floskel b e a n t w o r t e n . Er ist aus der Spielgruppe sei-
ner Familie ausgestoßen w o r d e n oder h a t sich ausstoßen lassen, w e i l
i h m die K r a f t fehlte, sich zu einem entscheidenden Z e i t p u n k t einmal
Gehör zu verschaffen.

Meckern ^i^ Eine besonders gehässige F o r m des Spielverderbens besteht d a r i n ,


dass m a n - n u r u m das Spiel zu stören - einen Konsens über die posi-
tive Qualität einer Leistung (einer künstlerischen etwa) m i t harscher,
offensichtlich i n dieser F o r m unbegründeter K r i t i k d u r c h b r i c h t u n d so
ein k o m m u n i k a t i v e s Spiel zerstört, zumindest aber nicht unerheblich
stört. Solche Menschen gelten als Nörgler, Miesmacher u n d Störer u n d
werden zumeist abgelehnt.
Der zirkulär Streitende 95

Der zirkulär Streitende

Kein Ende in Sicht Zirkulär (Icreisförmig) nennt man ein Streiten d a n n , w e n n immer das-
selbe w i e d e r h o l t w i r d , ohne auf Einwände oder andere Formen der Ein-
lassungen ernsthaft einzugehen. D e r zirkulär Streitende macht jeden
Versuch, ein k o m m u n i k a t i v e s Spiel aufzubauen, i n dem m a n gewinnen
oder verlieren k a n n , zunichte. Er reduziert die k o m m u n i k a t i v e Situati-
o n , die an sich dialogisch aufgebaut ist, auf einen M o n o l o g . Der Part-
ner h a t zuzuhören. Jede Bemerkung, jeder E i n w a n d gar gilt als Stör-
größe oder gar als A u f f o r d e r u n g , die ganze Geschichte - meist m i t
ähnlichen W o r t e n - noch einmal zu beginnen. Die Prozedur verstößt
gegen die Regel des äußeren Moralgesetzes, denn das geht - m i t u n t e r
fälschlich - d a v o n aus, dass i m Prinzip alle Meinungsverschiedenheiten
entweder gütlich oder streitig beizulegen sind. Es gilt jedoch, bevor
m a n den zirkulär Streitenden h a r t beurteilt, auch z u bedenken, dass
solch zirkuläres Streiten i h m dazu dient, sein Selbstbild (Selbstkon-
strukt) zu stabilisieren. Er w i r d dieses Vorgehen deshalb besonders gern
p r a k t i z i e r e n , w e n n sein Selbstbild schwankend w u r d e oder seine K o n -
turen zu verlieren d r o h t .

Fallbeispiele

Eifersucht ' i ^ Besonders beliebt ist diese F o r m der K o m m u n i k a t i o n i n Eifer-


suchtssituationen. D e r oder die Eifersüchtige w i e d e r h o l t - unbeein-
flusst v o n den Reaktionen des »Partners« - immer wieder dieselbe
Geschichte. Es werden Episoden berichtet, welche die Eifersucht als be-
rechtigt erscheinen lassen. Es werden A n k l a g e n - meist der Untreue -
vorgebracht. Es k o m m e n Vorwürfe zur Sprache. Wenn der Eifersüchti-
ge »ausgelaufen« ist, beginnt nach kurzer Z e i t - bestenfalls leicht n u a n -
ciert - dieselbe Geschichte v o n v o r n . Das k a n n stundenlang so gehen.

Olle Kamellen ' i * Zirkuläre Streitereien sind aber auch i n anderen Sozialgebilden
oder U n t e r n e h m e n durchaus n i c h t selten. Es werden etwa einem M i t a r -
beiter i m m e r wieder dieselben V o r h a l t u n g e n über o f t längst vergangene
Sachverhalte gemacht. Ich beriet einmal ein U n t e r n e h m e n , i n dem sol-
che k o m m u n i k a t i v e n S t r u k t u r e n i n die Unternehmensführung einge-
gangen w a r e n . Fast jede Konferenz endete i n Vorwürfen oder A n k l a g e n
über Sachverhalte, die schon längst v o n der n o r m a t i v e n K r a f t des Fak-
tischen a u f den M i s t h a u f e n der Unternehmensgeschichte geschaufelt
w o r d e n w a r e n . So ging es z. B. i n einer Bank u m einen faulen u n d
schließlich abzuschreibenden K r e d i t . Der für diese Kreditvergabe Ver-
a n t w o r t l i c h e w u r d e i n zahlreichen Fällen, i n denen er eine Kreditver-
96 I. Die Cliaral<terlosigl<eit - 3. Wenn jede Sittliclnl<eit felilt

gäbe befürwortete, auf diese schon Jahre zurüclciiegende Panne ange-


sprochen. Gelegentlich machte ihn sein V o r s t a n d darauf aufmerksam,
dass es für die G r o ß m u t u n d Toleranz der Bank spreche, i h n n i c h t aus
dem Kreditgeschäft abgezogen zu haben.

Treppenhaus- ' i ^ A u c h manche Nachbarschaften können i n den Strudel zirkulärer


gespräch K o m m u n i k a t i o n geraten. Verschiedene Themen bieten sich an: (a) das
Schimpfen über einen gemeinsamen N a c h b a r n , w o b e i dieses Gerede
h i l f t , das k o m m u n i k a t i v e P h a n t o m b i l d d u r c h ständige W i e d e r h o l u n g
zu stabilisieren, (b) das Gerede über irgendwelche Behörden ( v o m Bau-
rechtsamt bis zur F i n a n z v e r w a l t u n g , die einem das Leben schwer ma-
chen, (c) das eifrige Gerede über das Gedeihen v o n Pflanzen, welches
den eigenen »grünen Daumen« über alles l o b t . . .

Der verdeckt Kommunizierende

Gemeintes und V o n verdeckter Kommunikation sprechen w i r , w e n n die Oberflächen-


Gesagtes Struktur des Sprechenden n i c h t m i t der T i e f e n s t r u k t u r seines Denkens,
Wissens, Wollens übereinstimmt. Der verdeckt K o m m u n i z i e r e n d e ver-
sucht dem Partner eine I n f o r m a t i o n zu v e r m i t t e l n , die dieser n i c h t zu-
reichend richtig verstehen k a n n , w e i l die signalerzeugenden Aktivitäten
des Sprechenden seine tatsächlichen Wertvorstellungen, Bedürfnisse,
Interessen u n d E r w a r t u n g e n eher maskieren denn deutlich machen.
Das äußere Moralgesetz f o r d e r t jedoch ein bestimmtes M a ß an k o m -
m u n i k a t i v e r E h r l i c h k e i t (wie alle seine »Tugenden« interaktionelP^
sind). E i n M e n s c h , der i n der Regel u n d beim Sprechen über wichtige
Sachverhalte verdeckt k o m m u n i z i e r t , verletzt die Regeln einer exoge-
nen M o r a l .

Fallbeispiele

Unverhoffte ' i ^ E i n Vorgesetzter lässt einen M i t a r b e i t e r zu sich k o m m e n , v o n dem


Versetzung er weiß, dass seine Kollegen i h n des unkollegialen Verhaltens verdäch-
tigen. O b w o h l eben dieses Gegenstand einer offenen Kommunikation

2 4 D a m i t ist n i c h t eine i n t e r a k t i o n e i l e Tugendlehre g e m e i n t , nach der M e n s c h e n Tugenden


n i c h t besitzen, s o n d e r n diese n u r i n I n t e r a k t i o n e n z u sich k o m m e n , real w e r d e n . A c h -
t u n g v o r f r e m d e r W ü r d e , T a p f e r k e i t , Freiheit . . . sind kein Besitz eines M e n s c h e n , son-
dern ereignen sich i n seinen I n t e r a k t i o n e n m i t anderen. E i n solches Sich-Ereignen setzt
i n der Regel eine sittliche L e b e n s o r i e n t i e r u n g v o r a u s . Fehlt diese, sollte m a n n i c h t ei-
g e n t l i c h v o n »Tugenden« sprechen. I m K o n t e x t einer rein exogenen M o r a l h a n d e l t es
sich n i c h t u m solche i n t e r a k t i o n e i l e n T u g e n d e n , s o n d e r n u m Verhaltensweisen, die ge-
wählt w e r d e n , u m n i c h t sozial bestraft zu w e r d e n .
Der Gaffer 97

sein müsste, fragt der Vorgesetzte, o b sich der Betroffene an seinem


Arbeitsplatz w o h l fühle. Das könnte natürlich auch geschehen, u m sich
auf diese Weise dem eigentlichen Thema zu nähern. Statt dessen aber
spricht der Vorgesetzte - ohne die A n t w o r t des M i t a r b e i t e r s ernstlich
zu Kenntnis zu nehmen - derart weiter, als w e n n er sich an seinem A r -
beitsplatz n i c h t w o h l fühle, u n d bietet i h m deshalb m i t einer Bedenk-
zeit v o n 14 Tagen eine Versetzung i n einen anderen Geschäftsbereich
an. Der M i t a r b e i t e r verlässt recht desorientiert das Gespräch. Er weiß
nicht, was der Vorgesetzte tatsächlich w i l l . Das verunsichert i h n , macht
ihm Angst.

Unausgespro- ^ i ^ Ein Ehemann unterhält sich m i t seiner Erau über die gemeinsamen
chene Ängste Kinder. Er ist der A n s i c h t , dass sie die schulischen Aufgaben der K i n d e r
zu w e n i g begleite. So eröffnet er das Gespräch m i t der Erage, ob sie sich
überfordert fühle. Sie v e r m u t e t , er w o l l e w o h l einmal wieder das The-
ma ihrer Halbtagsbeschäftigung zur Sprache bringen, u m i h r dieses
Feld der S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g zu nehmen. Deshalb reagiert sie entspre-
chend heftig u n d verteidigt ihre Halbtagsbeschäftigung. E i n Streit ist
die Folge, w e i l beide Partner ihre tatsächlichen Interessen einander
nicht m i t t e i l e n : Er spricht n i c h t v o n der mangelnden Sorge u m die
schulischen Leistungen ihrer K i n d e r u n d sie n i c h t über die Bedeutung
ihrer außerhäuslichen A r b e i t für ihr Selbstwertgefühl.

Indirekter Tadel " i " Ein Lehrer tadelt einen Schüler, w e i l der i h n d u r c h sein ständiges
und neugieriges Fragen aus dem K o n z e p t b r i n g t . A b e r er tadelt n i c h t
eben dieses, sondern seine Leistungen i n Englisch, die i n keiner Weise
erwarten ließen, dass sie sich ernsthaft verbessern würden. I n seinem
Z o r n greift er also zur verdeckten K o m m u n i k a t i o n u n d w i r d dabei de-
m o t i v i e r e n d ungerecht.

Der Gaffer

Warum Menschen D e r Gaffer ist ein M e n s c h , der unbedingt zuschauen muss, w e n n i r -


gaffen g e n d w o irgendetwas - meist Unerfreuliches - geschieht. Er gafft etwa
bei einem A u t o u n f a l l , statt zu helfen oder H i l f e herbeizuholen. D i e
Gründe, w a r u m manche Menschen z u m Gaffen neigen, sind vielfältig
untersucht w o r d e n . Z u m e i s t werden hier drei genannt: (a) w e i l der
Gaffer ( i m Gegensatz z u m Feigling, der sich seiner V e r a n t w o r t u n g be-
wusst ist, sich i h r aber n i c h t stellt) meist n u r a u f t r i t t , w e n n viele M e n -
schen beieinander sind u n d die V e r a n t w o r t u n g a u f alle verteilt w i r d .
Der verbleibende Bruchteil v o n Verantwortungsgefühl reicht nicht aus,
u m etwa H i l f e zu leisten oder a n z u f o r d e r n , (b) Gaffer entschuldigen
98 Die Charal<terlosigl<eit - 3. Wenn jede Sittlichl<eit felilt

sich zumeist d a m i t : Wenn die anderen nichts t u n , brauche i c h auch


nichts zu t u n . U n d (c) haben sie nicht selten Angst, sich vor den M i t -
gaffern zu blamieren. H i e r bringt Charakterlosigkeit den V o r t e i l der
Befriedigung v o n Sensationslust u n d Neugier. Die Wahrscheinlichkeit
einer sozialen Strafe (etwa wegen unterlassener Hilfeleistung) ist denk-
bar gering.

Fallbeispiele

Autounfall ' i ^ N i c h t selten werden auf A u t o b a h n e n lange Staus gemeldet, w e i l


nach einem U n f a l l eine A n s a m m l u n g v o n G a f f e r n die Unfallstelle sehr
langsam passiert oder gar aussteigt, u m »zuzuschauen«. Dass sie sich
o f t genug des Straftatbestandes der unterlassenen Hilfeleistung (gemäß
§ 323c StGB) schuldig machen, w i r d d u r c h die Neugier verdrängt. Das
gilt n i c h t nur für die Fahrbahn, auf welcher der U n f a l l geschah, son-
dern o f t genug auch für die Gegenfahrbahn.

Naturkatastrophe ' i ^ A u c h auf N a t u r k a t a s t r o p h e n folgt n i c h t selten ein Katastrophen-


tourismus, der sich in keiner Weise der H i l f e verpflichtet weiß, sondern
ausschließlich die eigene Neugier befriedigen w i l l . O f f e n b a r reicht das
Fernsehen n i c h t aus, solche Neugier zu befriedigen - es geht doch
nichts über eine optisch selbst registrierte Katastrophe. M a n k a n n dann
sagen, man sei dabei gewesen (wie einst Johann W o l f g a n g v o n Goethe
bei der Kanonade v o n Valmy am 2 9 . 9. 1792).

Beerdigung 'i" Ich kenne einige Zeitgenossen, die - meist schon aus dem Berufsle-
ben ausgeschieden - gern zu Beerdigungen auch v o n unbekannten
Menschen gehen, u m das Leid der Angehörigen zu begaffen. D a z u
k o m m t m i t u n t e r noch ein w e n i g Schadenfreude, w e i l ein Mensch i n
jüngeren Jahren sterben musste, als m a n selbst inzwischen erreicht hat.

Der Betroffene

Solidarität ohne Es scheint Brauch geworden zu sein, sich betroffen zu fühlen. Diese Ge-
Folgen fühlsäußerung b r i n g t soziale A n e r k e n n u n g m i t sich u n d scheint somit
dem H o r i z o n t des sozialen Gewissens angemessen zu sein. Tatsächlich
steht dahinter weder der A n s p r u c h eines inneren noch eines äußeren
Moralgesetzes. Bestenfalls ist es eine Spur v o n M i t l e i d , welche Betrof-
fenheit auslöst. O f t ist es jedoch n u r eine A r t v o n R i t u a l , das zu a k t i -
vieren, »was sich gehört«. So sind n i c h t wenige Menschen betroffen
über das Schicksal der Menschen i m Südsudan, v o n den Menschen, die
Der Betroffene 99

dem »Holocaust« z u m O p f e r fielen, v o n den E l t e r n , deren K i n d e r miss-


braucht u n d getötet w u r d e n . . .
Was ist das Gegenteil v o n solcher entschuldigender Betroffenheit? Es ist
die Solidarisierung u n d der W i l l e zu helfen, sofern dies möglich ist. Sich
m i t Unterdrückten, Ausgebeuteten, E r m o r d e t e n u n d ihren Angehöri-
gen z u solidarisieren f o r d e r t H a n d l u n g e n e i n - v o r allem solche, die
das, was betroffen macht, nach Möglichkeit ausschließen. Solidarität
erfordert neues D e n k e n , u n d das gegen alle geistige Trägheit. Solida-
rität f o r d e r t Überwindung v o n V o r u r t e i l e n , w e n n sie Menschen gilt, die
unser V o r u r t e i l eher negativ besetzten. Solidarität f o r d e r t i n jedem Eall
mentale u n d physische Aktivität. V o n a l l diesem dispensiert sich der Be-
troffene. Er k a u f t sich bestenfalls frei m i t einer Spende an das Rote
Kreuz.

Fallbeispiele

Alt-neue " i * N i c h t wenige Menschen sind betroffen, w e n n sie an die Gräuel-


Vorurteile taten der Nazis gegenüber Juden, Sintis, F r e i m a u r e r n , K o m m u n i s t e n . . .
erinnert w e r d e n . Ein Gespräch aber lässt bald erkennen, dass sich bei
ihnen die V o r u r t e i l s s t r u k t u r e n der Nazis n u r verschoben haben: Sie
verachten jetzt etwa Türken oder Polen. Sie werden ebenso ausge-
grenzt, wie bei den Nazis Juden, Sintis, Freimaurer u n d K o m m u n i s t e n
ausgegrenzt w a r e n . Dass ihre Betroffenheit gegenüber den M o r d e n der
Nazis reine Heuchelei ist, die dem allgemeinen C o m m e n t folgt, werden
sie k a u m zugestehen. U n d da sie genügend Zeitgenossen f i n d e n , die i h -
rer A n s i c h t sind, sind sie zudem noch der M e i n u n g , ihre Einstellungen
seien sozialverträglich u n d somit moralisch gut.

Prügelnde Eltern 'i^ Betroffenheit gak auch den O p f e r n v o n Sexualmördern, die K i n d e r


töteten, nachdem sie sie missbraucht hatten. Solche Betroffenheit führ-
te sogar z u einem allgemeinen A u f s c h r e i , der den Gesetzgeber veran-
lasste, die Bestrafung v o n Kindesmissbrauch massiv zu verschärfen.
M i r sind solche »Betroffene« bekannt, die ihre eigenen K i n d e r - o f t we-
gen N i c h t i g k e i t e n - w i n d e l w e i c h schlagen. Dass auch solche H a n d l u n -
gen strafbar sind, w i l l ihnen n i c h t i n den K o p f . I c h erinnere m i c h an ei-
nen Freund aus Japan, der m i r sagte, die Deutschen gälten i n Japan als
das »Volk, das seine K i n d e r schlägt!« W i e k a n n m a n n u r das schlagen,
was m a n w i r k l i c h liebt? W i e k a n n solche Liebe d u r c h kindliches oder
jugendliches Aufbegehren n u r die Prügelhemmung aufheben? Vielleicht
haben jene Leute Recht, die behaupten, die Prügelhemmung sei aufge-
hoben w o r d e n , als die heutigen Eltern selbst v o n ihren Eltern oder Leh-
rern verprügelt wurden?
100 I. D i e C h a r a l < t e r l o s i g l < e i t - 3. W e n n j e d e S i t t l i c i i l < e i t f e h l t

Der Dumme

Wer es besser Dumm ist nicht der M e n s c h , der w e n i g weiß, sondern jener, der über
wissen könnte die Qualität seines tatsächlichen oder vermeintlichen Wissens i r r t .
D u m m ist also ein M e n s c h , der etwa die primäre Redlichkeitsregel
nicht beherrscht u n d so seine Gewissheiten m i t W a h r h e i t verwechselt.
Diese Unfähigkeit beruht auf einer Unfähigkeit, zwischen psychischen
Zuständen (Gewissheiten) u n d semantischen Qualitäten (einer Aussa-
ge, die frei ist v o n I r r t u m u n d Täuschung) zu unterscheiden. D u m m h e i t
ist also insofern eine Charaktereigenschaft, w e i l sie in einer f u n d a m e n -
talen U n r e d l i c h k e i t gründet. Sie w i r d zu einem persönlichen u n d gesell-
schaftlichen H a n d i c a p , w e n n sie zu fixen Ideen (realitätsabgelösten
K o n s t r u k t b i l d u n g e n ) führt u n d so das persönliche, aber auch das w i r t -
schaftliche u n d politische Geschehen maßgeblich m i t b e s t i m m t .
M i t dem Thema Dummheit haben sich viele Dichter u n d Denker he-
rumgeschlagen. So schreibt F r i e d r i c h Schiller i n der »Jungfrau v o n O r -
leans«: » M i t der D u m m h e i t kämpfen Götter selbst vergebens«. Johann
N e p o m u k N e s t r o y vergleicht die D u m m h e i t m i t einem Felsen, »der u n -
erschüttert dasteht, w e n n auch ein M e e r v o n V e r n u n f t i h m seine Wogen
an die Stirn schleudert«. I m m a n u e l K a n t definiert D u m m h e i t als einen
M a n g e l an U r t e i l s k r a f t , dem n i c h t abzuhelfen sei.2' Robert M u s i l hielt
am 1 1 . M ä r z 1 9 3 7 einen gewagten V o r t r a g , i n dem er v o n dem Uberle-
genheitsgefühl sprach, das die D u m m h e i t d o r t verleihe, w o der Mensch
»im Schutz der Partei, N a t i o n , Sekte oder K u n s t r i c h t u n g a u f t r i t t u n d
W i r statt Ich sagen darf.« E. Gürster interessiert sich für die D u m m h e i t
als das verbreitetste aller menschlichen Phänomene, w e i l sie »unter den
verschiedensten weltanschaulichen Vorzeichen den Begriff der freien
selbstverantwortlichen Person als dem Zeitalter der industriellen M a s -
sengesellschaft n i c h t mehr angemessen preiszugeben beginnt«.26
Offensichtlich ist D u m m h e i t an erster Stelle eine V e r d u n k l u n g der Er-
kenntnis, die schicksalhaft unserer Z e i t anhaftet. D e n n o c h ist sie inso-
w e i t ein C h a r a k t e r d e f i z i t , als es möglich ist, sich ihrer zu entledigen.
Selbstverständlich sind die Beispiele für die k o l l e k t i v e w i e die i n d i v i d u -
elle D u m m h e i t unzählbar, dennoch seien einige wenige hier angeführt.

Fallbeispiele

Newtons Gesetze ' i ' D i e Newtonschen Fallgesetze sind eine Fortsetzung u n d Präzisie-
rung der spätmittelalterlichen Impetus-Theorie, nach der die Fallge-

25 A A 7 , 2 0 4 .
26 M a c h t u n d G e h e i m n i s der D u m m h e i t , 1 9 6 7 , 122.
Der Dumme 101

schwindigkeit eines Körpers v o n seiner schweren Masse abhängt. D o c h


k o n n t e n schon die Schüler Galileis demonstrieren, dass leichte u n d
schwere Körper gleich schnell fallen. I n der T a t ist auch nach dem
N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetz (K = G - M - m / r ^ ) die »Fallkraft« K
p r o p o r t i o n a l zur Masse m des fallenden Körpers. U m die Unabhängig-
keit der Fallgeschwindigkeit v o n der Masse zu erklären, blieb N e w t o n
nichts anderes übrig, als eine magische zweite K r a f t einzuführen, die
»Trägheitskraft«, die ebenfalls p r o p o r t i o n a l der Masse ist (K = m - b )
und so besorgt, dass i n der Vereinigung v o n G r a v i t a t i o n s - u n d Träg-
heitskraft i m freien Fall sich die Masse heraushebt und die Beschleuni-
gung b u n d d a m i t die Geschwindigkeit v o n i h r unabhängig w i r d . Z w a r
zeigten alle Experimente, dass die schwere Masse ( i m Gravitationsge-
setz) u n d die träge Masse ( i m Trägheitsgesetz) immer einander gleich
sind, doch erst Einstein erkannte die Bedeutung dieser Tatsache. Er
machte sie z u m Ausgangspunkt seiner Allgemeinen Relativitätstheorie,
und diese räumt endlich m i t der Zweikräftetheorie auf. Bis dahin w u r -
de das Zweikräftemodell j a h r h u n d e r t e l a n g u n k r i t i s c h weitergegeben.
Die Newtonsche Theorie w u r d e z u m Paradigma eines mechanistischen
Weltbildes gemacht, einer »Weltanschauung«, die lange Z e i t das eu-
ropäische Denken beherrschte u n d zu einem verstellten W e l t b i l d führte,
unter dem heute noch viele leiden.

Lohn und ' i ^ M a n c h e Gewerkschaftler u n d Führungskräfte i n Unternehmen


Leistung (letztere beziehen diesen d u m m e n I r r t u m allerdings nur auf die eigene
Arbeitszeit) sind der A n s i c h t , der gerechte L o h n korreliere m i t Arbeits-
zeit statt m i t dem Beitrag der A r b e i t zur Wertschöpfung. Der ökonomi-
sche W e r t eines Produkts (einer Ware oder einer Dienstleistung) w i r d
zudem idealtypisch (real gibt es deutliche Verwerfungen) ausschließlich
d u r c h die Nachfrage bestimmt. Die A r b e i t ist also abzubilden auf die
Nachfrage nach dem A r b e i t s p r o d u k t . Die Tatsache, dass in einem Pro-
d u k t sehr viel A r b e i t steckt, k a n n also weder erheblich sein für die Ent-
l o h n u n g noch für den Preis. Befindet sich das Anlagevermögen (etwa
der M a s c h i n e n p a r k ) i n einem schlechten Z u s t a n d , sinkt entweder die
Qualität ( u n d d a m i t die Nachfrage), oder es steigt bei gleichartiger
Wertschöpfung die Z e i t , i n der das P r o d u k t erzeugt w u r d e . Es hat so-
m i t entweder einen geringeren M a r k t w e r t , oder es w u r d e überteuert
hergestellt. Die Theorie, der W e r t eines Gutes richte sich nach der i n
i h m steckenden A r b e i t , ist eine verbreitete F o r m der D u m m h e i t , die i m
A r b e i t s k a m p f zu den eigentümlichsten A r g u m e n t e n führen k a n n . De-
nen ist eines gemeinsam: Sie sind A u s d r u c k v o n D u m m h e i t . U n d diese
D u m m h e i t erweist sich als ein H a n d i c a p , das den Bestand der deut-
schen W i r t s c h a f t gefährden könnte.
102 Die Charal<terlosigkeit - 3. Wenn jede Sittliclikeit fehlt

Rassismus ' i ' Der deutsche Nationalsozialismus w a r der eigentümlichen A u f f a s -


sung, A r i e r (mit Ausnahme der Sinti u n d Roma) seien den Semiten (mit
Ausnahme der Araber) charakterlich u n d i n ihren kulturellen u n d intel-
lektuellen Fähigkeiten überlegen. Abgesehen d a v o n , dass die Genies
des 2 0 . Jahrhunderts meist Juden w a r e n (Erich M e n d e l s o h n , M a x Lie-
bermann, Boris L . Pasternak, A l b e r t Einstein, Sigmund Freud, M a r c
Chagall, George G e r s h w i n , L e o n a r d Bernstein, M a r t i n Buber ...) hätte
schon die Aufzählung der Ausnahmen misstrauisch machen sollen. Der
deutsche Nationalsozialismus w a r eine E r u p t i o n der D u m m h e i t , w i e sie
die Geschichte k a u m ein zweites M a l erzählt. H i e r v o n einem H a n d i c a p
zu sprechen würde diese Ideologie in unzulässiger F o r m verniedlichen.

Ökologie und ' i ^ Eine gefährliche F o r m der D u m m h e i t ist die Diskussion u m die
Ökonomie Globalisierung der Industrie u n d der L a n d w i r t s c h a f t . W e n n dieser ö k o -
nomischen Globalisierung nicht eine ökologische vorausgeht (wie es
die längst vergessene Konferenz v o n R i o deutlich zur Sprache brachte),
dann werden große Teile der Menschheit vor einer ökologischen Kata-
strophe stehen. H i e r überlagert die ökonomische Raffgier die ökolo-
gische V e r n u n f t i n einer Weise, die erstere n u r i n der Kategorie der
D u m m h e i t w i e d e r f i n d e n lässt. D i e D u m m h e i t e n t p u p p t sich als ein
H a n d i c a p , dem große Teile der Menschheit z u m Opfer fallen können,
w e n n sie nicht sehr bald endet. Aber die Geschichte kennt n u r wenige
Beispiele v o n D u m m h e i t , die bewusst überwunden w u r d e , aber zahlrei-
che, i n denen die D u m m h e i t sich selbst liquidierte.

Shareholder Value ' i ^ Fast jeder, der sich etwas gründlicher m i t Fragen der Ö k o n o m i e be-
schäftigte, weiß, dass für den nachhaltigen ökonomischen E r f o l g we-
nigstens sechs Faktoren erheblich sind: 1 . die menschliche A r b e i t , 2.
das betriebsnotwendige K a p i t a l , 3. eine zureichend intakte U m w e l t (sie
ersetzt weitgehend den klassischen Faktor »Grund u n d B o d e n « ) , 4 . die
geistige u n d lokale M o b i l i t ä t , 5. die Unterstützung v o n Kreativität ( =
das p r o d u k t i v e Denken gegen Selbstverständlichkeiten) u n d I n n o v a -
tionsvermögen u n d 6. die Unternehmenskultur, die neben der ö k o n o -
mischen V e r a n t w o r t u n g auch eine ethische kennt (etwa das innere und
äußere Beziehungsmanagement, die E n t f a l t u n g der fachlichen u n d so-
zialen Begabungen der M i t a r b e i t e r i m Führungsgeschehen, die Team-
fähigkeit). Dennoch redet m a n auf so mancher H a u p t v e r s a m m l u n g
v o m Shareholder Value ( m i t u n t e r falsch verstanden als Verbesserung
des Bilanzgewinns) als dem wichtigsten Unternehmensziel. Diese ein-
seitige Betrachtung, wie sie i n der F i x i e r u n g a u f den Faktor K a p i t a l
deutlich w i r d , zeugt - wie jede Einengung des Blickfeldes - v o n einer
beachtlichen D u m m h e i t . Auch hier w i r d wieder deutlich, dass die
D u m m h e i t ein wirtschaftliches H a n d i c a p ist.
Bestandsaufnahme 103

Bestandsaufnahme

Verhalte ich mich manchmal wie ein Einzelgänger (s. S. 86-88),


Unangepasster (s. S. 88-91) oder Überangepasster (S. 91-93)?

Gehöre ich zu den zirkulär Streitenden (s. S. 95/96) oder verdeckt Kommunizierenden
(s. S. 96/97)?

Habe ich Ähnlichkeit mit dem, was in diesem Buch als Spielverderber (s. S. 93/94), Gaffer
(s. S. 97/98), Betroffener (s. S. 98/99) oder Dummer (s. S. 100-102) beschrieben wird?

In welchen Situationen zeigt sich das?

Wie kann ich es ändern?

Was gewinne ich, wenn ich mich ändere?

Was kann ich dabei verlieren?


104 I. Die Cliarakterlosigkeit - 3. Wenn jede Sittlichkeit fehlt

Wie will ich vorgehen?

Erster Schritt wäre ...

Der zweite Schritt könnte sein ...

Als dritten Schritt nehme ich mir vor...

Von welchem dieser auf S. 103 noch einmal genannten Mängel fühle ich mich frei?

Das zeigt sich zum Beispiel, wenn ...

Es bringt mir folgende Vorteile:

Es bringt mir folgende Nachteile:

Will ich es ändern?

Wie kann ich das tun?


n DAS L E B E N
• AUS ERSTER HAND

»Liebe das Wie eingangs (s. S. 14 f.) schon erläutert, hat sich der sittlich orientier-
Leben!« - Was te Mensch a u f g r u n d einer v e r a n t w o r t e t e n ethischen Reflexion für ein
heißt das im höchstes sittliches G u t entschieden, v o n dem er seine obersten h a n d -
Alltag? lungsleitenden Werte herleitet und versucht, diese i n seinem H a n d e l n
praktisch zu machen. M i t den meisten wissenschaftlichen Vertretern
ethischer Reflexionen hatten w i r uns für die B i o p h i l i e m a x i m e »Liebe
das Leben« u n d d a m i t für das »personale Leben u n d dessen Sicherung
u n d Entfaltung« als höchstes sittliches G u t entschieden.

Dieses G u t b r i c h t sich i n k o n k r e t e n H a n d l u n g s w e l t e n in bestimmten


handlungsleitenden W e r t e n .
Solche Werte können sein:
• I n einem U n t e r n e h m e n : das innere u n d äußere Beziehungsmanage-
ment, d u r c h das i m Innen u n d Außen des Unternehmens Vertrauens-
felder aufgebaut w e r d e n . Das so aufgebaute Vertrauen gründet nicht
etwa i n der A n w e n d u n g bestimmter Techniken, sondern in einer f u n -
damentalen Lebensorientierung eines Menschen. Sie w i r d so zur Tu-
gend, also einer sittlichen G r ö ß e .
• I n einem Unternehmen: ein völlig undogmatischer Führungsstil, der
z u m einen sicherlich die ökonomische V e r a n t w o r t u n g beachtet -
zum anderem aber, dieser gleichwertig u n d gleichgeordnet, die sozia-
le. Diese V e r a n t w o r t u n g führt zur Förderung der sozialen und fach-
lichen Kompetenz des Führenden und seiner M i t a r b e i t e r . Diese
Förderung ist zudem auch ökonomisch e i n z u f o r d e r n , w e i l sie - zu-
mindest langfristig - die Aufwandsgrößen (etwa des finanziellen, des
emotionalen u n d sozialen Aufwandes) senkt.
• I n einem Unternehmen ferner: die A u s b i l d u n g v o n Teams. Teams
sind i m m e r da vonnöten, w o es sich u m die kreative und innovative
Lösung v o n Problemen - u n d nicht u m die Praxis der Unter-
nehmensroutine - handelt. Teamfähig ist ein M i t a r b e i t e r oder sein
Vorgesetzter nur d a n n , w e n n er (a) die Techniken des Diskurses be-
106 II. Das Leben aus erster Hand

herrscht^-'und (b) kein Dogmatiker^S ist. So sehr i n der Routinear-


beit Fach- u n d Erfahrungswissen nötig ist, so w e n i g braucht m a n es
o f t i n der Teamarbeit. Ich habe schon i n Teams gearbeitet, bei denen
ein gerade vorbeilaufender Trainee bessere u n d erheblichere Beiträge
zu Problemlösung beigebracht hat als der Abteilungsleiter.
• I n einem Unternehmen: das Selbstverständnis des Vorgesetzten als
Dienstleister gegenüber seinen u n m i t t e l b a r e n M i t a r b e i t e r n . N u r so
k a n n sein Beitrag zur gesamtbetrieblichen Wertschöpfung e r m i t t e l t
w e r d e n . A u c h fällt es i h m m i t dieser Grundeinstellung leichter, u m
sich herum ein Vertrauensfeld aufzubauen. Der » B o s s « , der »Chef«
w i r d sonst eher gefürchtet oder geachtet denn als ein Z e n t r u m eines
Vertrauensfeldes gesehen.
• I n einer privaten Partnerschaft: der A u f b a u eines Vertrauensfeldes.
Jede F o r m des Misstrauens m i n d e r t Leben u n d ist m i t der B i o p h i l i e -
M a x i m e »Liebe das Leben!« keineswegs verträglich. M e h r noch
als i m Beruflichen sind der A u f b a u u n d das Erhalten eines V e r t r a u -
ensfeldes v o n der Beziehungsarbeit abhängig. Wer g l a u b t , sich da-
v o n dispensieren zu können, dessen Ehe w i r d m i t ziemlicher Sicher-
heit k a u m ernsthafte Belastungen aushalten. Solche Belastungen
bestehen in der Regel aus langwährenden Differenzen der Interessen,
Werteinstellungen, Bedürfnisse u n d E r w a r t u n g e n . Solche D i f f e r e n -
zen können sich - auch ohne objektiven G r u n d - i n wahnähnli-
chen Vorstellungen (etwa Eifersuchtswahn, A r m u t s w a h n ...) nieder-
schlagen.

2 7 D i e Dislcursrecliniken versuchen, über die e i n v e r n e h m l i c h e B e s t i m m u n g n o t w e n d i g e r


Bedingungen u n d die P r i j f u n g , o b diese Bedingungen alle e r f i j l l t sind, eine eigen- oder
fremdgestellte A u f g a b e zu lösen. Das setzt z u m einen v o r a u s , dass m a n n i c h t in Begrijn-
d u n g e n d e n k t (das können w i r alle n i c h t logisch e i n w a n d f r e i ) , sondern in n o t w e n d i g e n
Bedingungen. Z u m anderen w i r d die Fähigkeit u n d Bereitschaft vorausgesetzt, n i c h t i m
Entgegensatz der N e g a t i o n (adversativ) zu d e n k e n , sondern a l t e r n a t i v . Das bedeutet,
w e n n ich m i t einer B e d i n g u n g n i c h t einverstanden h i n , dass ich A l t e r n a t i v e n anbiete -
u n d das so lange, bis eine der angebotenen A l t e r n a t i v e n v o n allen a k z e p t i e r t w i r d . D a b e i
ist auch die Streichung einer B e d i n g u n g eine mögliche u n d erlaubte A l t e r n a t i v e .
28 E i n D o g m a t i k e r ist ein M e n s c h , der seine Gewissheiten für w a h r , das heißt: frei v o n I r r -
t u m u n d T ä u s c h u n g v e r m u t e t oder gar behauptet. Er hat sich die t r i v i a l e sokratische U n -
terscheidung nie zu eigen gemacht, dass »Gewissheiten« i m m e r n u r einen psychischen
Z u s t a n d bezeichnen, der das Ich n i c h t mehr a m Z u t r e f f e n seiner M e i n u n g s i n n v o l l z w e i -
feln lässt. Das schließt - außer i n ganz augenscheinlichen Fällen - I r r t u m u n d T ä u s c h u n g
niemals völlig aus, hat also m i t W a h r h e i t nichts zu t u n . » W a h r h e i t « ist nämlich kein psy-
chischer Z u s t a n d , sondern die Eigenschaft eines Satzes, frei v o n I r r t u m u n d T ä u s c h u n g
das zu sagen, was ist. Gewissheit u n d W a h r h e i t spielen also auf zwei so verschiedenen
Ebenen, dass uns - seit Sokrates auf deren r a d i k a l e Verschiedenheit verwiesen hatte - die
europäische Philosophie bislang noch kein akzeptiertes K o n z e p t zur Verfügung stellte,
w i e m a n beide m i t e i n a n d e r v e r b i n d e n k ö n n t e .
II. Das Leben aus erster Hand 107

• I n der Erziehung v o n K i n d e r n : die rechte M i s c h u n g v o n Fordern und


Fördern i n einem Feld der w a h r g e n o m m e n e n Liebe. Die Elternliebe
sollte - u m eine religiöse M e t a p h e r zu verwenden - ein A b b i l d der
Liebe des Göttlichen zu uns Menschen sein: unbedingt u n d Gebor-
genheit v e r m i t t e l n d .
• I n der Pflege v o n Freundschaft: der Versuch, sie u m ihrer selbst w i l -
len zu leben, u n d n i c h t zu fragen: »Was nützt sie mir?« Die Unfähig-
keit zur Freundschaft ist n i c h t selten charakterneurotisch (vor allem
etwa i n einer narzisstischen Neurose oder i m Borderline-Syndrom)
begründet.
Die Freundschaftsfähigkeit w i d e r s p r i c h t dem »ökonomischen Prin-
zip«, angewandt auf das private Leben: m i t einem M i n i m u m an A u f -
w a n d einen möglichst großen Ertrag zu erwirtschaften. Wer so etwas
versucht, w i r d k a u m verlässliche Freunde haben. Freundschaft w i r d
i m m e r bereit sein. Aufwände zu erbringen, denen kein anderer Er-
trag gegenübersteht als die V e r t i e f u n g der Freundschaft. Das setzt al-
lerdings voraus, dass sich der Freund d u r c h den erbrachten A u f w a n d
nicht i n irgendeine Pflicht genommen fühlt. Freundschaft muss et-
was Selbstzweckliches bleiben, das seinen Bestand n u r aus sich selbst
bezieht.

Worauf es A l l e n diesen Darstellungsformen v o n Biophilie ist gemeinsam, dass sie


ankommt sich i n persönlicher V e r a n t w o r t u n g praktisch realisieren. Sie geben
niemals irgendwelche »Patentrezepte«, sondern setzen eine Verinnerli-
chung des Prinzips voraus. D a n n können die Menschen es i n verschie-
denen Situationen sehr verschieden befolgen.
Die w i c h t i g s t e n Differenzen, die es zu beachten gilt, sind etwa:
• D i e richtige A k z e n t u i e r u n g v o n direktiven (»weisenden«, »anwei-
senden«) u n d n i c h t - d i r e k t i v e n I n t e r a k t i o n e n .
• Die richtige K o m b i n a t i o n v o n Zuhören u n d Sprechen. Viele M e n -
schen - vor allem, w e n n sie uns u m Rat fragen - sind denkbar wenig
an unserem Gerede interessiert. Sie benötigen einen Menschen, der
ihnen geduldig u n d ohne Ratschläge zu geben zuhört. Ein Ratschlag
(auch er ist ein »Schlag«) sollte n u r gegeben werden, w e n n er sehr
nachdrücklich erbeten oder gar eingefordert w i r d .
• Der Verzicht aufs L o b e n . Gelobt w i r d immer n u r der E r f o l g einer
A r b e i t . A n die Stelle des Lobens sollte das Anerkennen stehen. »An-
erkennung« schließt immer auch den Menschen ein, der eine aufge-
tragene A r b e i t erfolgreich abgeschlossen hat.
• D e r Verzicht a u f irgendwelche Formen v o n Abhängigkeitsfeldern.
N u n ist sicher ein M i t a r b e i t e r , ein K i n d oder ein privater Partner in
vielen Dimensionen seines Lebens v o m Vorgesetzten, v o n seinen El-
t e r n , v o n seinem Ehepartner abhängig. Diese F o r m der Abhängigkeit
108 Das Leben aus erster Hand

sollte jedoch niemals die personale Freiheit^'* begrenzen, sondern sie


fördern. Jede andere F o r m , Abhängigkeiten bewusst zu machen oder
gar auszunutzen, m i n d e r t eher Leben, als dass sie es m e h r t .

Es gibt kein Leben W i e der charakterlose oder charakterschwache Mensch nicht sein Le-
ohne Bindung ben lebt, sondern v o n inneren und/oder äußeren Zwängen gelebt w i r d ,
so ist das entscheidende K r i t e r i u m für einen Menschen, der die Bildung
seines Charakters verantwortungsbewusst k u l t i v i e r t e , die Fähigkeit
und Bereitschaft, sein Leben, ein Leben aus erster F l a n d , zu leben. Dazu
gehört unabdingbar die E i n b i n d u n g i n soziale Felder der Partnerschaft,
Familie, Berufswelt, U m w e l t . . . Dass n u r ein solches Leben für sich den
A n s p r u c h erheben k a n n , dem B i o p h i l i e p o s t u l a t zu gehorchen, ist offen-
sichtlich. Ein Mensch, der gelebt w i r d , entfaltet n i c h t sein eigenes Le-
ben, sondern w i r d z u m Sklaven äußerer oder innerer Gegebenheiten
und Z w ä n g e .
Die für unsere Überlegungen zentrale Frage lautet n u n : W i r d ein sol-
cher Mensch seinen Charakter als H a n d i c a p erfahren, oder ist Charak-
ter gar - unabhängig v o n aller subjektiven W a h r n e h m u n g - ein o b j e k t i -
ves Handicap?

Schon eingangs w u r d e deutlich, dass Charakter, i n einem sittlichen Sin-


ne verstanden, stets A u s d r u c k v o n Tugenden ist oder sich i n Tugenden
manifestiert (s. S. 1 2 - 1 6 ) . W i r unterscheiden - wie schon auf S. 22 aus-
geführt - zwei A r t e n v o n Tugenden: die primären u n d die sekundären.
Als erstes seien hier die primären behandelt. Die sekundären Tugenden
werden heute zumeist i n den R a u m des allenfalls sozialen Gewissens
verbannt, d . h . n u r realisiert, u m nicht sozial bestraft zu w e r d e n , son-
dern eher soziale A n e r k e n n u n g , soziale Geborgenheit, soziale Sicher-
heit . . . zu erhalten.

29 Es g i b t sehr verschiedene G e s t a l t u n g s f o r m e n v o n Freiheit. D i e sogenannte W i l l e n s f r e i -


heit k ö n n t e m a n d e f i n i e r e n als die Fähigkeit, etwas zu t u n oder n i c h t zu t u n (libertas
c o n t r a d i c t i o n i s ) , w e n n m a n aber sich entschließt, etwas zu t u n , dieses oder jenes zu t u n
(libertas c o n t r a r i e t a t i s ) . I m späten M i t t e l a l t e r bis h i n zur beginnenden N e u z e i t spielte
diese D e f i n i t i o n eine gewisse R o l l e . H e u t e ist m a n in Philosophenkreisen überwiegend
der M e i n u n g , dass es so definierte W i l l e n s f r e i h e i t n i c h t g i b t . Unser W o l l e n ist in be-
s t i m m t e n U m f a n g e n f r e i , w e n n es u m die Realisierung der »personalen Freiheit« geht.
Sie ist d e f i n i e r t als »die Fähigkeit u n d Bereitschaft, s e l b s t v e r a n t w o r t e t sein Leben zu ge-
stalten.« Sicherlich w i r d solche Freiheit v o n vielen Seiten bedrängt, welche die Selbst-
v e r a n t w o r t u n g einengen. D a g i b t es äußere F a k t o r e n (die »normative K r a f t des F a k t i -
s c h e n « ) , aber auch innere Z w ä n g e , die aus der v o n uns n i c h t oder n u r äußerst begrenzt
zu steuernden A u t o d y n a m i k (= in psychischen und/oder sozialen d y n a m i s c h e n Prozes-
sen) unserer erkenntnismäßigen u n d w e r t e n d e n psychischen F u n k t i o n e n s t a m m e n . So
w i r d etwa das erkenntnisleitende Interesse i m A u f b a u v o n E r k e n n t n i s o f t n i c h t w a h r g e -
n o m m e n , u n d - w e n n w a h r g e n o m m e n - n i c h t als h a n d l u n g s e r h e b l i c h r e l a t i v i e r t .
1. Die primären Tugenden

ü b e r sie w u r d e schon i n A n d e u t u n g e n gehandelt (s. S. 2 2 ) . H i e r sollen


sie ausgeführt u n d an Anwendungsbeispielen entfaltet w e r d e n . Z u den
primären Tugenden - nach Aristoteles sind sie alle A u s d r u c k s f o r m e n
der Tugend »Tapferkeit« - zählen v o r allem folgende:
- Die Zivilcourage
- D i e Konfliktfähigkeit
- D i e E p i k i e oder der k o n s t r u k t i v e Ungehorsam

Die Zivilcourage

Gegen den Strom Sie zeigt sich v o r allem, w e n n ein M e n s c h seine begründete M e i n u n g
selbst d a n n vorträgt, w e n n sie unpopulär sein sollte. Unpopulär ist eine
M e i n u n g d a n n , w e n n sie den k o l l e k t i v e n Überzeugungen eines sozialen
Systems w i d e r s p r i c h t , vielleicht Inhalte des allgemeinen Bewusstseins
oder Selbstverständlichkeiten systemischer S t r u k t u r e n i n Frage stellt.
Sicherlich muss Z i v i l c o u r a g e beachten, o b überhaupt eine Chance be-
steht, selbstverständliche Überzeugungen oder S t r u k t u r e n zu labilisie-
ren oder gar zu verändern. Beim Bedenken der Folgen ist jedoch eher
an die O p t i m i e r u n g (= H u m a n i s i e r u n g ) der systemstiftenden Interak-
t i o n e n z u denken als a n die eigene Angst, sich ins Abseits z u stellen.
Andererseits k a n n Z i v i l c o u r a g e zu D o n q u i c h o t t e r i e entarten, w e n n sie
n i c h t die Verhältnismäßigkeit u n d die möglichen negativen Folgen für
den Couragierten m i t b e d e n k t . I n unserem mitteleuropäischen Denken
w i r d hier jedoch die Verhältnismäßigkeit des M i t t e l s des Widerspruchs
i n seinen Folgen meist überschätzt. M a n c h e Menschen halten auch da
den M u n d , w o sie sprechen sollten u n d nach den Forderungen der Bio-
p h i l i e - M a x i m e auch sprechen müssten. Z i v i l c o u r a g e n i m m t nichts für
selbstverständlich, sondern fragt nach Optimierungstrategien jenseits
aller Selbstverständlichkeiten. Sie ist bereit, auch eigenen Schaden i n
K a u f zu nehmen, w e n n i h r Bemühen erfolgreich sein w i r d . H i e r gilt es
110 II. Das Leben aus erster Hand - 1 . Die primären Tugenden

zu beachten, dass der möghche persönhche Schaden in einem sinnvol-


len Verhältnis zu dem möglichen systemischen oder personalen N u t z e n
der Interventionen steht. Die Angst vor persönlichem Schaden allein,
etwa in Gestalt der sozialer Strafe, ist jedoch stets ein schlechter Ratge-
ber. Sie zeugt eher v o n Feigheit denn v o n Tapferkeit.

Fallbeispiele

DVU oder PDS 'i^ Der ehemalige Bundespräsident v o n R i c h a r d v o n Weizsäcker sagte


i m M a i 1998, nachdem die rechtslastige Partei D V U in das Landespar-
lament v o n Sachsen-Anhalt eingezogen war, er halte es fijr richtiger, die
links stehende PDS statt einer Rechtspartei wie der D V U neben der SPD
in die Regierungsverantwortung zu nehmen. C D U u n d CSU jaulten, si-
cher z u m Teil w a h l k a m p f b e d i n g t , auf, als sei Herr v o n Weizsäcker ein
übler Nestbeschmutzer. Charakter erwies sich i n den A u g e n der Füh-
renden innerhalb der »christlichen Parteien« als H a n d i c a p .

Kritik an der ' i ' A u c h das berühmte Interview, das der ehemalige Bundespräsident
Regierung R i c h a r d v o n Weizsäcker dem Stern gab, w a r ein solcher Ausweis v o n
Z i v i l c o u r a g e , die i h m H e r r Dr. H e l m u t K o h l nicht vergessen mochte.
Weizsäcker g r i f f d a r i n die Machtversessenheit u n d Machtvergessen-
heit der führenden Politiker der damals herrschenden liberal-konser-
vativen Regierung K o h l a n . Selbstverständlich w a r e n die angegriffe-
nen Parteifunktionäre u n d Regierungsmitglieder nicht i n irgendeinem
weltanschaulichen Sinne liberal-konservativ, sondern allein orientiert
am M a c h t e r h a l t , den sie bereit w a r e n , auch m i t sozial-unverträglichen
M i t t e l n zu sichern.

Katholische ledige 'i^ I n einem Fernsehinterview des W D R stellte ich fest: »Ich halte alle
Mütter Bischöfe einschließlich des Bischofs v o n R o m für widerliche Heuchler,
w e n n sie ledige M ü t t e r aus dem k i r c h l i c h e n Dienst entlassen!« Diese
Worte zogen ihre Kreise. A b e r sie hatten einigen E r f o l g : Es w u r d e n i m
deutschen Sprachraum k a u m noch ledige Mütter, die etwa i h r D i p l o m
in Theologie bestanden hatten, aus dem k i r c h l i c h e n Dienst entlassen.
H i e r erwies sich Charakter, o b j e k t i v gesehen, n i c h t als H a n d i c a p , o b -
w o h l m i r einige meiner M i t m e n s c h e n bitterböse Briefe schrieben.

Kann es Dogmen 'i' Ich schrieb 1997 ein Buch über »Nachkirchliches Christentum«, i n
geben? dem ich nach dem heutigen Stand unseres soziologischen u n d h i r n p h y -
siologischen Wissens die unschwer zu begründende These vertrat, dass
es i m nicht empirisch fassbaren Bereich keine D o g m e n geben könne.
Ein D o g m a ist ein w a h r e r Satz, frei v o n Täuschung u n d I r r t u m . D a sol-
Die Konflil<tfäliigkeit 111

ehe n i c h t - t r i v i a l e n Sätze nachweislich v o n allen Menschen anders ver-


standen w e r d e n , k a n n n u r gelten, dass alle Menschen unabweislich u n d
zwingend irgendwelche Irrtümer und/oder Täuschungen i n i h r Ver-
ständnis eines Dogmas einbauen. Somit k a n n es zwar an sich D o g m e n
geben, n i c h t aber i m k o n k r e t e n Verstehen v o n Menschen. Diese suchen
sich ein Verstehen aus, das m i t i h r e m Vorwissen u n d ihren V o r e r f a h -
rungen i n einem sehr persönlichen K o n t e x t steht. I n diesem Sinne sind
einige D o g m e n für das Glauben h i l f r e i c h . Sie geben O r i e n t i e r u n g . Ge-
gen Ende der 60er-Jahre schrieb einmal eine meiner Studentinnen in ei-
ner Seminararbeit: «Dogmen sind wie Laternen in der N a c h t . Sie be-
leuchten den Weg. A b e r n u r Betrunkene halten sich an ihnen fest.« Sie
hatte sicherlich i n i h r e m Anliegen Recht - dennoch musste ich i h r die
A r b e i t zurückgeben, w e i l ein solcher Spruch nicht i n eine wissenschaft-
liche A r b e i t gehört. Prüfen w i r hier einmal wieder, ob Charakter eher
ein H a n d i c a p ist oder n i c h t . I c h bewunderte damals die Z i v i l c o u r a g e
der T h e o l o g i e s t u d e n t i n , da sie auch in Seminaren keinen H e h l aus ihrer
Einstellung machte u n d die angeforderte leichte K o r r e k t u r s c h l i m m -
stenfalls eine halbe Stunde in A n s p r u c h n a h m . W i e aber w a r es m i t mei-
ner eigenen Z i v i l c o u r a g e bestellt? Zunächst einmal führte meine These,
dass es keine D o g m e n geben könne, zu inadäquaten Reaktionen vor al-
lem der theologischen D o g m a t i k e r . Sie brachten m i r ein Verbot ein,
Vorlesungen zu halten. Andererseits erhielt ich mehrere hundert begeis-
terte Besprechungen u n d Briefe. Menschen, die Christen sein w o l l e n ,
das aber außerhalb der K i r c h e , fanden sich i n ihrem Mühen bestätigt.
W e n n ich n u n die ganze Szene aus einigen Jahren E n t f e r n u n g betrachte,
bin ich sicher, dass meine Z i v i l c o u r a g e n i c h t den Rahmen der Verhält-
nismäßigkeit sprengte. Also w a r alles i n allem gesehen Charakter kein
Handicap.

Die Konflil<tfähigkeit

Konflikte lieben Sie beweist sich vor allem i n der Eähigkeit u n d Bereitschaft, n o t w e n d i -
lernen? ge K o n f l i k t e unter V e r w e n d u n g verhältnismäßiger M i t t e l anzugehen
u n d nach Möglichkeit zu beheben. N o t w e n d i g sind vor allem K o n f l i k -
te mit einem K o n f l i k t p a r t n e r , der d u r c h sein H a n d e l n oder Unterlassen
anderen und/oder sich selbst schadet. Diese wichtigste F o r m der K o n -
fliktfähigkeit setzt voraus, dass man den rechten Z e i t p u n k t wählt, den
K o n f l i k t anzusprechen u n d i h n - w e n n möglich - zu allgemeinem N u t -
zen löst. Der rechte Z e i t p u n k t ist dann g e k o m m e n , w e n n beide Partner
i n einem e m o t i o n a l u n d sozial ausgeglichenen Feld miteinander spre-
chen können. O f t g i l t es dieses Feld etwa d u r c h vertrauensschaffende
u n d angstlösende H a n d l u n g e n erst aufzubauen.
112 II. Das Leben aus erster Hand - 1 . Die primären Tugenden

Es sei jedoch zugestanden, dass Iceineswegs alle K o n f l i k t e lösbar sind.


Manche entziehen sich wegen der psychischen und/oder sozialen
Voraussetzungen eines der K o n f l i k t p a r t n e r jeder Lösung. Das sollte
keineswegs ein zwingender G r u n d sein, die konfliktbesetzte Beziehung
aufzugeben. Häufiger beruhen K o n f l i k t e auf abweichenden Wertein-
stellungen, E r w a r t u n g e n , Bedürfnissen u n d Interessen. Solche K o n f l i k -
te sind i n aller Regel lösbar. Sehr viel schwerer u n d oft k a u m zu lösen
sind K o n f l i k t e , die i n einem dauerhaften A n t i p a t h i e f e l d w u r z e l n . K o n -
fliktunfähig sind dagegen Menschen, die notwendige K o n f l i k t e zu ver-
meiden suchen, sei es aus Harmoniebedürfnis oder aus Angst vor der
eigenen u n d der fremden Aggressivität oder auch aus der Sorge, der
K o n f l i k t könnte i m Lösungsversuch eher eskalieren als geschlichtet
werden. Konfliktunfähigkeit k a n n ein Charakterdefekt sein, sie k a n n
aber auch ihre Ursache in der schlichten Unfähigkeit haben, K o n f l i k t -
lösungstechniken sinnvoll anzuwenden.

Fallbeispiele

Konfliktgespräch 'i^ Ein Manager führte m i t einem seiner M i t a r b e i t e r , der d u r c h erheb-


liche Fehlzeiten auffiel und seine Kollegen d a m i t belastete, ein K o n -
fliktgespräch. Zunächst versuchte er einmal herauszufinden, was der
objektive (z. B. K r a n k h e i t ) und/oder subjektive G r u n d für die häufigen
Fehlzeiten war. Dabei w a r zu bedenken, dass der Manager das Interes-
se, die Bedürfnisse und E r w a r t u n g e n des Unternehmens vertrat, wäh-
rend der M i t a r b e i t e r ganz andere Interessen, E r w a r t u n g e n , Bedürfnisse
oder Werteinstellungen m i t b r a c h t e . Dauerhafte Differenzen zwischen
beiden Interessen etc. führen zu erheblichem M a n g e l an Selbstmotivati-
on beim M i t a r b e i t e r (gelegentlich auch beim Vorgesetzten). Ist einmal
ein geeigneter Z e i t p u n k t für ein Konfliktgespräch gefunden, i n das der
M i t a r b e i t e r angstfrei eintreten k a n n , dann gilt es die unterschiedlichen
E r w a r t u n g e n , Bedürfnisse, Interessen u n d Werteinstellungen zur Spra-
che zu bringen. Was erwartet der M i t a r b e i t e r v o n seiner A r b e i t , seinen
innerbetrieblichen Chancen, dem Verhalten seiner Vorgesetzten u n d
Kollegen? Was ist sein Interesse an der A r b e i t , die er zu verrichten hat?
Wie steht es m i t seinem Vermögen, Vertrauensfelder aufzubauen oder
doch wenigstens sich in solchen einzunisten? M i t u n t e r w i r d der Vorge-
setze erkennen, dass es i h m n i c h t gelang, in seinen Führungsaktivitäten
das handlungsleitende Interesse, die Bedürfnisse und E r w a r t u n g e n des
Unternehmens deutlich zu machen. Öfter noch w i r d der M i t a r b e i t e r die
Differenzen i n Interessen, E r w a r t u n g e n u n d Bedürfnissen (bei v o r h a n -
dener U n t e r n e h m e n s k u l t u r : auch der Werteinstellungen) erkennen. Der
Vorgesetzte muss in dieser Situation die E r w a r t u n g e n , Interessen u n d
Die Konflil<tfähigl<eit 113

Bedürfnisse des Unternehmens als ökonomisch u n d sittlich vertretbar


vorstellen können. Gelingt es i h m , den M i t a r b e i t e r v o n den Interessen,
Bedürfnissen u n d E r w a r t u n g e n zu überzeugen, ohne dass der M i t a r b e i -
ter seine eigenen Interessen, Bedürfnisse u n d E r w a r t u n g e n verleugnen
müsste - d a n n w a r das Konfliktgespräch erfolgreich. D i e K o n f l i k t -
fähigkeit des Vorgesetzten erwies sich als alles andere als ein H a n d i c a p .

Misstrauen aus ' i ^ E i n sehr konfliktscheuer Vorgesetzter ( K o n f l i k t s c h e u ist ein cha-


Konfliktscheu rakterliches H a n d i c a p , w e i l es keinem Teilnehmer bei einem n o t w e n d i -
gen Konfliktgespräch h i l f t , sein Leben o p t i m a l zu organisieren) ver-
mied jedes offene Konfliktgespräch, sondern baute ein emotionales
Feld des Misstrauens gegenüber seinem M i t a r b e i t e r auf. Seine K o n -
fliktsscheu gründete i n einem übertriebenen Harmoniebedürfnis. Sein
Verhalten hatte n i c h t n u r zur Folge, dass sich der K o n f l i k t i n die psy-
chische S t r u k t u r des M i t a r b e i t e r s eingrub, sondern auch, dass das Lei-
den unter dem K o n f l i k t bei allen Beteiligten zu Demotivationserschei-
nungen führte. Das übergroße Harmoniebedürfnis (ein charakterliches
Defizit) w u r d e zu einem H a n d i c a p für alle u n m i t t e l b a r oder m i t t e l b a r
a m K o n f l i k t Beteiligten.

Schweigende 'i^ I n R a h m e n meiner therapeutischen Tätigkeit begegne ich gelegent-


Eheleute lieh Paaren, die unfähig sind, K o n f l i k t e z u lösen, w e i l sie sinnvolle
Techniken zur Konfliktlösung n i c h t beherrschen u n d fürchten, dass je-
der Versuch, den K o n f l i k t zu lösen, i h n eskalieren lassen würde. Also
schweigen sich beide über ihren K o n f l i k t aus. Eine genauere Analyse
ihrer I n t e r a k t i o n e n zeigt, dass offene oder versteckte Schuldzuweisun-
gen u n d F o r m e n verdeckter K o m m u n i k a t i o n die I n t e r a k t i o n e n beider
beherrschen. M i t u n t e r gelingt es i m Verlauf der Therapie der Partner-
schaft, solche Schuldzuweisungen p r i n z i p i e l l z u vermeiden. Das ge-
schieht etwa d u r c h kleine Selbstbestrafungen: Jede Schuldzuweisung
b r i n g t eine Geldbuße v o n D M 5 , - ein. Ist die Summe groß genug, steht
ein gemeinsames Abendessen i n einem guten Restaurant an. Diese M e -
thode führte zu dem Ergebnis, dass allenfalls noch gestritten w u r d e , o b
eine bestimmte K o m m u n i k a t i o n s f o r m Schuldzuweisungen enthielt
oder n i c h t . I n solchen Fällen galt ich beiden als akzeptierter Schieds-
richter.
N o c h etwas müssten die Partner lernen: offen über ihre Bedürfnisse,
ihre Interessen u n d ihre E r w a r t u n g e n , soweit sie den Partner oder die
Partnerschaft betrafen, zu sprechen. D a w i r dieses systematisch i n den
Therapiesitzungen einübten, w a r e n auch hier die Bedingungen geschaf-
fen, die Partnerschaft zu sanieren. Es ging also i n der Therapie u m die
Behebung charakterlicher Defizite, die sich bei der w e n i g biophilen A r t
114 II. Das Leben aus erster Hand - 1. Die primären Tugenden

der Partner, miteinander umzugehen, eingeschHchen hatten oder auch


schon i n die Partnerschaft mitgebracht w u r d e n . E i n solcher Versuch ist
i n aller Regel jedoch n u r erfolgreich, w e n n der K o n f l i k t sich noch nicht
als Strukturelement der Partnerschaft (als ein soziales System verstan-
den) verfestigt hat. Die charakterlichen Defizite müssen also eher v o m
Typ Episode als v o m T y p Neurose sein.

Wenn nur ein ' i ' K o n f l i k t e können auch einseitig sein. Einer der Partner m e i n t , alles
Partner leidet sei i n O r d n u n g , der andere aber leidet unter irgendeinem i n t e r a k t i o n e l -
len D e f i z i t so sehr, dass m a n sicherlich v o n einem K o n f l i k t sprechen
k a n n . Solche m o n o p o l a r e n K o n f l i k t e sind m i t u n t e r sehr schwer auszu-
machen, vor allem d a n n , w e n n der nicht-leidende K o n f l i k t p a r t n e r sehr
d o m i n a n t ist u n d die M e i n u n g v e r t r i t t , er mache alles r i c h t i g u n d wer-
de allen gerecht. - I n der Therapie w a r jedes v o n vier Paaren gehalten,
einen K o n f l i k t vorzustellen. Eine Erau sah ihren wesentlichen K o n f l i k t
d a r i n , dass i h r M a n n sie niemals d u r c h W o r t e dafür anerkannt hatte,
dass sie de facto allein ihren gemeinsamen Sohn großgezogen habe.
Dieser K o n f l i k t saß z u m Entsetzen des männlichen Partners so tief,
dass seine Frau, u n m i t t e l b a r auf diese Erzählung h i n , i n Tränen aus-
brach u n d f l u c h t a r t i g den Seminarraum verließ. Es dauerte Stunden,
bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dieser K o n f l i k t - w i e jeder m o n o p o -
lare - zeigt, dass die Partner allenfalls sehr oberflächlich u n d auf Baga-
tellen f i x i e r t miteinander über ihre unterschiedlichen Bedürfnisse, I n -
teressen, Werteinstellungen, E r w a r t u n g e n an den Partner u n d die
Partnerschaft gesprochen hatten. Leider k o n n t e ich das Paar n i c h t w e i -
ter begleiten, aber ich h o f f e , dass sie i h r ängstliches Schweigen u n d Ver-
schweigen überwinden k o n n t e n . Die Charaktere beider Partner w a r e n
s u b o p t i m a l e n t w i c k e l t : Der des M a n n e s , w e i l er niemals daran dachte,
dass seine Bedürfnisse, E r w a r t u n g e n , Interessen u n d Werteinstellungen
wesentlich u n d grundsätzlich anders sein könnten als die seiner Partne-
r i n . Der der Frau, w e i l sie niemals den M u t f a n d zu sagen, was i h r e x i -
stentiell w i c h t i g war. Der M a n g e l i n den charakterlichen S t r u k t u r bei-
der erwies sich als erhebliches Flandicap.

Die Epil<ie oder der konstrul<tive Ungehorsam

Normen sind Epikie bezeichnet nach Aristoteles die »Tugend«, gegen eine N o r m
veränderlich (Gesetzesnorm, Gehorsamsnorm, Standesnorm, moralische N o r m . . . )
zu verstoßen, w e n n i n der k o n k r e t e n H a n d l u n g s s i t u a t i o n ein »vernünf-
tiger Normgeber« die N o r m anders festgestellt hätte, u m ein bestimm-
tes Z i e l z u erreichen: W e n n also die Beobachtung der N o r m dazu
geführt hätte, dass das Z i e l , das d u r c h die Beobachtung der N o r m an-
Die Epikie oder der konstruktive Ungehorsam 115

gestrebt w u r d e , n u r m i t erheblichem A u f w a n d oder gar n i c h t erreicht


werden könnte.

Fallbeispiele

Die rote Ampel ' i * Es ist das Z i e l eines vernünftigen N o r m g e b e r s , den Straßenverkehr
so z u regeln, dass d a m i t Schaden v o m G e m e i n w o h l abgewendet u n d
auch die U m w e l t n i c h t mehr als z u m Erreichen dieses Zieles n o t w e n d i g
belastet w i r d . Wer nachts v o r einer auf R o t geschalteten A m p e l anhält
u n d sie w i e ein Stoppschild behandelt, o b w o h l er sicher sein k a n n , dass
beim vorsichtigen E i n f a h r e n i n die K r e u z u n g kein Verkehrsteilnehmer
auch n u r behindert w i r d , handelt der Tugend der Epikie zuwider. Er
ist ein (zwar gesetzestreuer) Eeigling, w e i l er den Gesetzeswillen eines
»vernünftigen Gesetzesgebers« d u r c h sein Verhalten a d a b s u r d u m
führt.
Als ich einmal i n A t h e n bei durchaus lebhaftem Straßenverkehr vor ei-
ner r o t e n A m p e l hielt, k a m ein Polizist auf m i c h zu u n d ermahnte m i c h ,
m i c h dem Verkehrsfluss einzupassen u n d i h n n i c h t d u r c h m e i n H a l t e n
zu behindern. M e i n e n H i n w e i s auf die rote A m p e l erledigte er m i t der
Bemerkung, Verkehrszeichen hätten n u r dem Z w e c k , den Schuldigen
festzustellen, falls es z u einem U n f a l l käme. Der M a n n hatte die v o n
seinem L a n d s m a n n Aristoteles vorgestellte Epikie internalisiert. ( V g l .
S. 30/31, Sinnloser Gehorsam)

Kreativer vs. 'i^ Bitte lesen Sie noch einmal das Fallbeispiel v o n dem A b t u n d dem
Kadavergehorsam Löwen auf S. 3 8 . Was hat das m i t Epikie zu tun? Der unweise N o r m e n -
geber muss d a m i t rechnen, dass die Beobachtung der N o r m gegen i h n
selbst ausgeht. W e n n sich tatsächlich alle Menschen a n der gegebenen
N o r m orientieren würden, würde jedes soziale System binnen k u r z e m
k o l l a b i e r e n . D e r p r o d u k t i v e u n d kreative Ungehorsam muss also als
wichtiges Element des Überlebens sozialer Systeme interpretiert wer-
den. N u r faschistoide Systeme w e r d e n kreativen Ungehorsam k a u m zu-
lassen. Sie sind auch deshalb stets d u r c h die Starre ihrer S t r u k t u r e n i n
i h r e m Bestand gefährdet.

Kleinliche " i ^ I n einem m i r bekannten U n t e r n e h m e n w u r d e der »Führungsstil«


Vorschriften Management by objectives eingeführt, d . h . ein Führen über Z i e l v o r g a -
ben, w o b e i das M a ß der Z i e l e r r e i c h u n g permanent k o n t r o l l i e r t w i r d .
Jedem M i t a r b e i t e r w u r d e n i c h t allein eine Zielvorgabe gegeben, son-
dern auch A n w e i s u n g e n , wie dieses Z i e l zu erreichen sei. D e n n es ist ein
wesentliches Element dieses Führungsstils, dass der Vorgesetzte auch
den Weg der Lösung m i t v e r f o l g t . Der M i t a r b e i t e r ist also gehalten, u m
116 II. Das Leben aus erster Hand - 1 . Die primären Tugenden

das »Verfolgen« zu sichern, den i h m vorgegebenen Weg z u gehen. I n


mehreren Fällen k a m es zu K o n f l i k t e n m i t dem Vorgesetzten, w e i l der
M i t a r b e i t e r andere Wege zur Erfüllung der Z i e l v o r g a b e n einschlug.
K r i t i s i e r t w u r d e selbst d a n n , w e n n der v o m M i t a r b e i t e r gewählte Weg
eine deutliche V e r m i n d e r u n g der Aufwandgrößen nach sich zog. I n ei-
nem Fall k a m es m i t der Begründung offensichtlichen Ungehorsams zu
einer A b m a h n u n g . Solches Vorgesetztenverhalten ist keineswegs selten.
E i n Vorgesetzter k l a m m e r t sich an die Vorgaben einer scheinbaren
»Unternehmenskultur«, u m seinen sozialen Aufstieg n i c h t z u gefähr-
den. Das C h a r a k t e r d e f i z i t dieses Vorgesetzten ist so offensichtlich, dass
- nachdem die Geschäftsführung ausgetauscht w o r d e n w a r - er sich
sehr bald nach einer neuen Stellung umsehen musste.

Ausnahmen ' i ^ I n einem Elternhaus w u r d e sehr genau darauf geachtet, dass die
zulassen einmal ausgehandelten Spielregeln unter A n d r o h u n g materieller u n d
sozialer Strafen auch v o n allen eingehalten w u r d e n . N u n w a r e n die
Eltern so weise zu erkennen, dass Spielregeln wie alle anderen Regeln
auch Ausnahmen zulassen, w e n n diese zureichend begründet sind. Eine
der Spielregeln lautete: U m 23.00 U h r haben alle K i n d e r (Alter: 14, 16,
17) zu Hause zu sein, w e n n n i c h t ausdrücklich eine Ausnahme gewährt
w o r d e n war. N u n hatte der Älteste sich m i t seinem Freund so ins C o m -
puterspielen verliebt, dass der Blick auf die U h r vergessen w u r d e . K u r z
nach 23.00 U h r rief er zu Hause an, er möchte bei seinem Freund über-
nachten. Der Vater w a r so weise, hier eine Ausnahme v o n der Regel an-
zuerkennen u n d die entsprechende Erlaubnis zu erteilen. Das Beispiel
verdeutlicht, dass Menschen, die disziplinäre N o r m e n aufstellen, da-
r u m wissen, dass solche N o r m e n Regeln sind, die w i e alle regelartigen
Aussagen Ausnahmen zulassen (die Statistik spricht hier v o n Beta-Feh-
lern). Das Praktizieren einer solchen N o r m e n d y n a m i k - wie i n unserem
A n w e n d u n g s f a l l vorgestellt - ist sicherlich ein Zeichen v o n zureichen-
der Ich-Stärke u n d zureichender Souveränität i m Führen v o n M e n -
schen. Charakter ist hier keinesfalls ein H a n d i c a p . Er wäre n u r z u ei-
nem solchen entartet, w e n n die Erlaubnis n i c h t erteilt u n d eine Strafe
verhängt w o r d e n wäre.
Bestandsaufnahme 117

Bestandsaufnahme

Wie steht es mit meiner Zivilcourage (s. S. 109-111)?

Wie steht es mit meiner Konfliktfähigkeit (s. S. 111-114)?

Wie steht es mit meiner Epikie oder dem konstruktiven Ungehorsam (s. S. 114-116)?

In welchen Situationen zeigen sich meine Stärken?

In welchen Situationen zeigen sich meine Schwächen?


118 II. Das Leben aus erster Hand - 1. Die primären Tugenden

Will ich es ändern?

Was gewinne ich, wenn ich mich ändere?

Was kann ich dabei verlieren?

Wie kann ich es ändern?

Wie will ich vorgehen?

Erster Schritt wäre ...

Der zweite Schritt könnte sein ...

Als dritten Schritt nehme ich mir vor.


2. Die sekundären Tugenden

Ausdruck von I m Bereich der sekundären Tugenden g i b t es erhebliche Unterschiede.


Freiheit Neben solchen, die systematisch (etwa i n faschistoiden Systemen) miss-
braucht werden können (wie etwa Gehorsam, Pünktlichkeit, Sauber-
keit ...) stehen solche, die sich als M i s c h f o r m e n v o n primären Tugen-
den m i t den sekundären v e r b i n d e n . H i e r soll allein v o n den letzteren
die Rede sein. W i e unterscheidet man diese Tugenden v o n den leicht
missbrauchbaren? W i r stehen vor der A l t e r n a t i v e , ein Leben aus erster
H a n d zu leben oder d u r c h Zwänge gleich welcher A r t (auch manche se-
kundären Tugenden können zwangsartig missbraucht werden) ein Le-
ben aus zweiter H a n d zu leben, ein dem Selbst fremdes Leben. H i e r
geht es also u m Tugenden, die A u s d r u c k v o n Freiheit sind, die zumeist
sogar v o n personaler Freiheit u n d deren sozialverträglichem Verhalten
eingefordert w e r d e n .

Die Weisheit

Beispiel, Weisheit w i r d definiert als eine F o r m des Lebenswissens, die es einem


nicht Ratschlag Menschen erlaubt, b i o p h i l zu leben u n d diese Biophilie an seine U m -
w e l t w e i t e r z u g e b e n . ' " Diese Weitergabe geschieht nicht etwa durch
Ratschläge, sondern d u r c h ein überzeugendes Vorleben. W i r d ein Wei-
ser u m Rat gebeten, w i r d er sich eine Regel aus der psychoanalytischen
Praxis z u eigen machen: »Gib niemals einen Rat, sondern weise auf
A l t e r n a t i v e n h i n , die dem Fragenden i n einer bestimmten Lebenssitua-
t i o n offen stehen.« Er w i r d helfen, w e n n er helfen k a n n , aber auch die
H i l f e anderer i n A n s p r u c h nehmen. Das verhindert die A u s b i l d u n g des
Burn-out-Syndroms. Er w i r d wissen, dass er ebenso sehr auf Menschen
angewiesen ist wie sie auf i h n .

30 M ö c h t e n Sie m e h r über »Weisheit« e r f a h r e n , lesen Sie bitte in m e i n e m beim E C O N - V e r -


lag erschienenen Buch n a c h : »Weisheit für Unweise« (199S).
120 I. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sel<undären Tugenden

Dass Weisheit heute auszusterben d r o h t , mag daran Hegen, dass solches


Wissen nicht f u n k t i o n a l verwertbar ist. Soweit i n unserer Z e i t Wissen
überhaupt eine Rolle spielt, gilt das Interesse der rein f u n k t i o n a l e n Ver-
w e r t b a r k e i t des Wissens, stehen Sach- u n d Erfahrungswissen i m Vor-
d e r g r u n d . Es ist erfreulich zu bemerken, dass manche Unternehmen
u n d Unternehmensberaterfirmen auch - vielleicht gar besonders - W e r t
auf ein gut ausgebildetes Allgemeinwissen legen. Dieses hat zwar noch
nichts m i t Weisheit zu t u n , k a n n aber bei manchen Menschen zur Aus-
b i l d u n g v o n Weisheit hilfreich sein. Allgemein gilt jedoch, dass Weis-
heit als Anlage bereits vorhanden sein muss. Sie k a n n wachsen u n d sich
differenziert ausbilden m i t dem Erfahrungswissen, das ein Mensch sich
i m Laufe seines Lebens aneignet.

Fallbeispiele

Alternative ' i ^ Ein Freund r u f t an, er w o l l e sich selbst töten, denn nach Verlust des
Arbeitsplatzes u n d nachdem die K i n d e r flügge geworden seien habe
sein Leben keinen Sinn mehr. Er habe sich schon alles zurecht gelegt:
ein E l e k t r o k a b e l u n d einen Stuhl. A l s O r t seiner H a n d l u n g habe er
ein Heizungsrohr i m Keller gefunden, das i n der Lage sei - wie auspro-
biert - , sein G e w i c h t zu tragen. Was w i r d ein weiser Mensch jetzt tun?
Er w i r d seinem Freund sagen, dass er u m der Freundschaft w i l l e n sei-
nen Besuch a b w a r t e n solle, u m m i t i h m seine Lebensbilanz (da es sich
u m einen geplanten Bilanzsuizid handelt) durchzusprechen. Es sei doch
denkbar, dass er den einen oder anderen P u n k t vergessen habe. D a n n
w i r d er sich so schnell wie möglich zu seinem Freund aufmachen, u m
i h m A l t e r n a t i v e n zu der geplanten Selbsttötung aufzuzeigen - ohne sie
i h m ausreden zu w o l l e n . So biete der A r b e i t s m a r k t doch eine Menge
v o n sinnstiftenden N i c h t - E r w e r b s - A r b e i t e n an. Es gebe in jedem K r a n -
kenhaus Menschen, die unendlich einsam seien. H i e r könne er durch
Krankenbesuche u n d geduldiges Hinhören Menschen helfen. - Es f o l g -
te noch der A u f w e i s andere A l t e r n a t i v e n . I c h habe nur diese eine er-
wähnt, weil mein Freund diese ausgewählt hat. Als er m i c h wieder ein-
m a l besuchte, sagte er mir, er habe noch niemals i n seinem Leben etwas
Sinnvolleres getan. Der Gedanke, dass so viele i h n u n d seine Besuche
benötigten, ließ i h n bald seinen geplanten Selbstmord als depressive
Episode erkennen u n d aufarbeiten. H i e r w u r d e i m Charakter schlum-
merndes Potential freigesetzt. Charakter w u r d e zu etwas völlig ande-
rem als einem H a n d i c a p .

Verpflichtung 'i' Die Frau eines Freundes w a r tödlich verunglückt. Er betrachtete es


n u n als selbstverständlich, dass seine noch sehr rüstige M u t t e r zu i h m
Die Weisheit 121

zog u n d für die K i n d e r sorgte. N u n hatte die k n a p p über 50-jährige


O m a m i t viel M ü h e und Fleiß über ein Fernstudium ihr D i p l o m in B W L
absolviert u n d - u m es zu nutzen - zusammen m i t einer Freundin eine
kleine Boutique eröffnet, die nach zwei verlustreichen Jahren endlich
G e w i n n einbrachte. Die Frau k a m n u n , u m sich Rat zu holen. Zunächst
müssten viele Fragen geklärt werden (Alter der K i n d e r ; finanzielle
Möglichkeit, eine LIaushälterin anzustellen; die Möglichkeit, n u r vor-
mittags in der Boutique tätig zu sein, u m sich nachmittags u m die K i n -
der zu kümmern . . . ) . Die entscheidende Frage w a r die nach der v o n
i h r e m Sohn behaupteten V e r p f l i c h t u n g . Diese bestand ganz offensicht-
lich n u r i n der Vorstellungswelt des v e r w i t w e t e n Vaters. Also galt es
n u n zu prüfen, welche der beiden A l t e r n a t i v e n b i o p h i l e r für alle Betei-
ligten, besonders aber für sie sei: entweder die Boutique aufgeben oder
sich u m die Enkel zu kümmern. I h r moralisches Gewissen sagte i h r : »Es
gehört sich, dass d u dich u m die K i n d e r kümmerst!« Aber diese F o r m
des Gewissens, das nicht i n einer sittlichen Grundentscheidung w u r z e l t ,
sondern i n einem reinen: »Das t u t m a n ! « , k a n n ein schlechter Ratgeber
oder eine schlechte, faschistoiden Gehorsam einfordernde Instanz sein.
Sie entschloss sich für die Weiterführung ihrer Boutique. I h r Sohn muss-
te diese Entscheidung unter mancherlei M u r r e n akzeptieren. Er löste
sein Problem so, dass er eine Frau, m i t der er während seiner Ehe schon
ein erotisch-sexuelles Verhältnis unterhielt, zu sich ziehen ließ u n d sie
nach deren Scheidung heiratete. Die K i n d e r nahmen ihre neue M u t t e r
schon bald an. W ä r e es weiser (»biophiler«) gewesen, der Forderung
des moralischen Gewissens zu folgen? N u r die k o n k r e t e Lebenspraxis
k o n n t e diese Frage entscheiden. War es weise, die Großmutter darauf
hinzuweisen, dass das »Das t u t m a n ! Eine Großmutter hat für ihre En-
kel dazusein!« keinerlei V e r p f l i c h t u n g m i t sich b r i n g t , sondern zu prü-
fen ist? Es galt zu sehen, welche der beiden möglichen Entscheidungen
langfristig die biophilere war. Das Ergebnis gab ihr Recht. Charakter,
der sich v o n dem a n o n y m e n »Das t u t man!« befreit, ist i n den meisten
Fällen keineswegs ein H a n d i c a p , sondern h i l f t zu leben.

Entscheidung ' i ^ Das Finanzamt forderte einen m i r recht gut bekannten Menschen
auf, i n n e r h a l b v o n einer Frist v o n k n a p p fünf Wochen für sechs Jahre
eine M e h r w e r t s t e u e r - , eine K i r c h e n - u n d Einkommenssteuererklärung
abzugeben. Der Versuch, eine Fristverlängerung zu erreichen, scheiter-
te. N u n w a r es weder dem Bekannten noch seinem Steuerberater mög-
l i c h , i n solch kurzer Frist die geforderten Steuererklärungen abzugeben.
Das Finanzamt schätzte. Es k a m zu einer Steuerschuld, der er in keiner
Weise gewachsen war. Er beschloss n u n , persönlichen K o n k u r s anzu-
melden u n d seine freiberufliche Tätigkeit - er w a r i m m e r h i n weit über
60 - einzustellen, u m i n Z u k u n f t v o n der Sozialhilfe zu leben. - H i e r
122 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

k a m es bei der Beratung darauf an, i h m nachzuweisen, dass es auch an-


dere Möglichkeiten der weiteren Lebensgestaltung gebe. W e n n i h m sein
Beruf Erfüllung bringe, sei es auch dann nützlich, i h m nachzugehen,
w e n n ein Großteil seines Einkommens v o n den Finanzbehörden ge-
schluckt werde. A u c h könne er den Bescheid des Finanzamtes aus m a n -
cherlei Gründen anfechten, wenn i h n das auch nicht v o n der augen-
blicklichen Steuerschuld frei stellen würde. Ferner könne er ja v o n
einem anderen L a n d aus - in dem die deutschen Steuerbehörden keinen
Z u g r i f f auf sein E i n k o m m e n hätten - seiner beruflichen A r b e i t nachge-
hen. Des Weiteren sei zu bedenken, o b n i c h t doch d u r c h gemeinsames
Bemühen seiner Freunde ein Darlehen i n der n o t w e n d i g e n Flöhe aufge-
bracht werden könne. Er entschloss sich. Letzteres zu versuchen - u n d
hatte E r f o l g . N a c h d e m sein W i d e r s p r u c h gegen die Steuerbescheide
v o m Finanzamt abgewiesen w o r d e n war, entschloss er sich, vor dem Fi-
nanzgericht zu klagen. U n d er hatte d a m i t E r f o l g . Das Gericht gab i h m
i m Wesentlichen Recht. Die anfangs angedachte Lösung des Problems
wäre eher eine Kurzschlusshandlung als eine in seinem Charakter ange-
legte Problemlösung gewesen. Auch hier erwies sich, dass ein Flandeln
u n d Entscheiden gemäß der charakterlichen Vorgabe es i h m erlaubte,
eine bessere Lösung zu finden.

Die Tapferl<eit

Die Tugend des Tapferkeit bezeichnet jene Tugend, die es einem Menschen ermöglicht,
Widerstands sich furchtlos u n d z u m W i d e r s t a n d bereit m i t tatsächlichen oder mögli-
chen Gefahren u n d Schwierigkeiten auseinanderzusetzen.'' W i e schon
gesagt: Aristoteles rechnet die Primärtugenden (s. S. 109) zu Aus-
drucksformen der Tapferkeit. Furchtlosigkeit hat nichts oder n u r sehr
wenig m i t dem Fehlen v o n Ängsten zu t u n . M a n kann Ängste haben
und zugleich furchtlos sein. V e r m u t l i c h ist es n u r möglich, einer sittli-
chen M a x i m e (etwa der der Biophilie) zu folgen, w e n n m a n tapfer ist.
Das sittliche Verhalten unterscheidet sich gerade darin v o m nur m o r a l i -
schen, dass das moralische sich stets a n den N o r m e n eines k o n k r e t e n
äußeren Moralsystems o r i e n t i e r t , das sittliche aber transsystemisch ist.
Sittliches Verhalten k a n n also durchaus auf den W i d e r s t a n d v o n sozia-
len Systemen stoßen, vor allem d a n n , w e n n die N o r m e n dieser Systeme

.31 D i e zweite Bedeutung v o n » T a p f e r k e i t " m e i n t eine psychische h j n s t e l l u n g , die einen


M e n s c h e n dazu b r i n g t , Schmerzen u n d seelische Regungen u n d Gefühle ohne i r g e n d -
welche Klagen zu verbergen. Diese F o r m v o n T a p f e r k e i t sei hier n i c h t behandelt. Sie ist
keine T u g e n d , s o n d e r n eine v e r m e i n t l i c h nützliche, meist m ü h s a m erlernte T e c h n i k , sich
in sozialen Feldern u n v e r w u n d b a r erscheinen zu lassen. Z u d e m k a n n sie A u s d r u c k einer
neurotischen F e h l o r i e n t i e r u n g sein.
Die Tapferl<eit 123

den moralischen N o r m e n widersprechen. Tapferkeit ist transsystemisch


u n d p r o v o z i e r t daher keineswegs selten den W i d e r s t a n d sozialer Sys-
teme, als da etwa sind: U n t e r n e h m e n , K i r c h e n , Staaten, Parteien, Ge-
werkschaften oder auch Partnerschaften u n d Familien.
Es liegt i n der N a t u r der Tapferkeit, dass Charakter kein Flandicap ist.
Das w i r d daher n i c h t bei jedem der folgenden Fallbeispiele ausdrück-
lich erwähnt.

Fallbeispiele

Die Angst des 'i^ Als erstes Beispiel sei hier eine militärische Geschichte erzählt, die
Generals recht gut den Unterschied zwischen Tapferkeit u n d Angstlosigkeit deut-
lich macht: Ein General besuchte seine F r o n t t r u p p e n . Feindliches Feuer
aus Maschinengewehren u n d der Einschlag gegnerischer Granaten be-
s t i m m t e n die Szene. E i n junger Leutnant w u r d e a b k o m m a n d i e r t , den
General zu begleiten u n d zu führen. Bald zitterte der General vor Angst
u m sein Leben. Der Leutnant fragte: »Herr General haben doch keine
Angst.'« Der General erwiderte i h m : »Wenn Sie die gleiche Angst hät-
ten wie ich, stünden Sie v e r m u t l i c h nicht mehr hier.« Der General w a r
tapfer, der L e u t n a n t n u r verwegen. Das Beispiel zeigt, dass sich Tapfer-
keit durchaus n i c h t in der Praxis primärer Tugenden erschöpft.

Der Einsatz eines ' i ^ E i n Erlebnis i n der F r a n k f u r t e r S-Bahn a m späten A b e n d : Z w e i


Kindes Fahrgäste versuchten, einem anderen Fahrgast seinen K o f f e r zu rauben.
Ein vielleicht 13-jähriger Junge bemerkte das - u n d g r i f f i m Gegensatz
zu den wenigen erwachsenen M ä n n e r n , die sich i n Sichtweite aufhiel-
ten, ein. Er brüllte die Räuber an u n d versuchte sie auch m i t physischer
K r a f t a n s t r e n g u n g v o n i h r e m Unternehmen abzubringen. Er hatte Er-
f o l g . D i e Räuber flüchteten i n den letzten Wagen u n d verließen den
Z u g an der nächsten Haltestelle. N u n hätte der Junge unbedingt diesen
V o r f a l l der Z u g b e g l e i t u n g oder den nächst erreichbaren Polizisten m i t -
teilen müssen. D a aber die erwachsenen Fahrgäste hilflos u n d beschämt
taten, als hätten sie nichts gesehen, traute er sich v e r m u t l i c h nicht. Der
Junge w a r tapfer, die erwachsenen M i t f a h r e r feige. Solche A r t der Feig-
heit ist weit verbreitet. Sich n u r n i c h t einmischen, möglichst nichts be-
merken. H i e r begegnen w i r einer neuen F o r m der Tapferkeit, die jetzt
einfordert, bei Beachtung der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten
M i t t e l u n d der Chance eines wahrscheinlichen Erfolges sich einzumi-
schen, w e n n Unrecht geschieht.

Die Lebensrettung ' i ^ Einer meiner Freunde, n i c h t gerade ein hervorragender Schwimmer
(mit M ü h e hatte er »Bronze« bei der D L R G geschafft) sprang, nach-
124 i Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären T u g e n d e n

dem er seine Scliuhe abgestreift hatte, ohne langes N a c h d e n k e n i n den


M a i n , u m ein K i n d zu retten, das ins Wasser gefallen w a r u n d n i c h t
s c h w i m m e n k o n n t e . Da das K i n d i n P a n i k r e a k t i o n unberechenbar rea-
gierte, brachte er sich i n einige Gefahr. Aber die wenigen Befreiungs-
griffe, die er i m Rahmen seiner D L R G - A u s b i l d u n g gelernt hatte, führ-
ten dazu, dass er das K i n d einigermaßen beruhigen u n d seinen K o p f
über Wasser halten k o n n t e . Es gelang i h m , sich langsam a u f dem
Rücken s c h w i m m e n d dem Ufer zu nähern, w o er an einem Busch festen
G r i f f h a l t f a n d . H i e r begegnen w i r w i e d e r u m dem Prinzip des feigen
Sich-nicht-Einmischens, denn das etwa zehn Meter v o m Ufer entfernt
treibende K i n d w u r d e v o n mindestens sechs oder sieben Personen gese-
hen, die neugierig dem Geschehen zuschauten. I m m e r h i n w a r einer da-
bei, der bereit war, das gerettete K i n d ins nächste Krankenhaus u n d den
nassen M a n n nach Hause zu fahren. H i e r w i r d deutlich, dass H i l f s -
bereitschaft n i c h t immer m i t Tapferkeit verbunden ist. Der Retter w a r
tapfer, der Eahrer w a r hilfsbereit, o b w o h l er sich zuvor als Gaffer
betätigte. Das w a r i m m e r h i n besser als nichts. I c h vermute, dass viele
A u t o f a h r e r n i c h t bereit wären, zwei Personen m i t t o t a l durchnässter
K l e i d u n g f r e i w i l l i g i n i h r e m besten Stück zu befördern.

Die Gerechtigl<eit

Rechtsstaat und Gemeint ist hier Gerechtigkeit als Tugend (also i n einem subjektiven
Menschenrechte Sinn'^). Sie w u r d e durch den römischen Juristen U l p i a n definiert als
»der feste W i l l e , einem jeden sein Recht z u k o m m e n zu lassen.« Er
kannte schon drei Quellen solchen Rechts: (a) das Gesetz (das etwa die
Erbfolge sichert), (b) den Vertrag (in dem sich die vertragschließenden
Parteien verpflichten, wechselseitig bestimmte Leistungen zu erbringen)
und (c) die Rechte, die ein römischer Bürger hat, da er römischer Bür-
ger ist (etwa vor Gericht i m Strafverfahren zu schweigen). Während die

32 I n einem o b j e k t i v e n Sinn bezeichnet »Gerechtigkeit« m i t P i a t o n ein P r i n z i p zur A u f s t e l -


l u n g u n d B e u r t e i l u n g v o n R e c h t s n o r m e n . Eine R e c h t s n o r m ist n u r d a n n gerecht, w e n n
sie a u f g r u n d einer s i t t l i c h e n G ü t e r a b w ä g u n g zustande k a m : Es g i l t gegeneinander a b z u -
wägen die B e s c h r ä n k u n g der H a n d l u n g s f r e i h e i t v o m Ciesetz betroffener Personen gegen
die Q u a l i t ä t des Schadens, den die B e f o l g u n g der R e c h t s n o r m a b w e n d e t . H i e r w i r d
d e u t l i c h , dass der Staat als Recht setzende. Recht v e r w a l t e n d e u n d Recht durchsetzende
Ciewalt n u r d a n n gerecht ist, w e n n er d u r c h seine E i n g r i f f e m bestehenden Gesellschaf-
ten schweren Schaden v o m G e m e i n w o h l a b w e n d e t . D i e M e h r u n g des G e m e i n w o h l s
d u r c h staatliche I n t e r v e n t i o n e n gehört zur Ideologie des M a r x i s m u s . D i e subjektive Be-
d e u t u n g v o n »Gerechtigkeit« w u r d e i n bislang n i c h t verbesserter F o r m v o n D o m i t i u s
U l p i a n u s ( 2 2 3 i n R o m e r m o r d e t ) f o r m u l i e r t : »Justitia est v o l u n t a s Stabiiis u n i c u i q u e ins
suum tribuendum« - Ubersetzung s. o.
Die Gerechtigkeit 125

beiden erstgenannten Rechtsquellen auch heute unveränderte Geltung


beanspruchen, ist die dritte den »Menschenrechten« (= den Rechten,
die ein Mensch hat, w e i l er Mensch ist) gewichen. Während noch i n
den Jahren zwischen den Weltkriegen das Vertragsrecht i m M i t t e l p u n k t
des allgemeinen Interesses stand, sind es heute die allgemeinen (d. h .
nicht kulturspezifischen) Menschenrechte (dazu gehört etwa das Recht
zu leben, persönliches Eigentum zu erwerben, nicht versklavt zu wer-
den . . . ) . Dass i n der modernen Rechtsphilosophie deutlich gemacht
werden muss, dass die Rechtsprechung k a u m etwas m i t Gerechtigkeit
zu t u n hat, entspricht v e r m u t l i c h der E r f a h r u n g der meisten, die einen
Zivilprozess verloren haben.

Falibelsplele

Noch einmal: ' i ^ Das klassische Beispiel eines Menschen, der v o n der Rechtspre-
Michael Kohlhaas c h u n g zu Unrecht Gerechtigkeit erwartet, w a r Hans Kohlhase ( f 1540)
dessen Schicksei schon weiter oben (s. S. 69) berichtet w u r d e . ' - ' Der Be-
r i c h t macht deutlich, dass Gerechtigkeit keine absolute Tugend ist, ja
zur U n t u g e n d werden k a n n , w e n n sie der B i o p h i l i e - M a x i m e wider-
spricht. Das gilt i n entsprechender Weise auch für die i m Folgenden
vorgestellten »Tugenden« wie etwa Pünklichkeit.

Schulische 'i^ I c h w a r einmal Zeuge eines eigentümlichen Geschehens an einem


Leistung p r i v a t geführten G y m n a s i u m . Die Schulleitung hatte den Schülern der
M i t t e l s t u f e deutlich gemacht, dass die Benotung von Klassenarbeiten
auch einen pädagogischen Z w e c k verfolge und daher nicht n u r die
Z a h l der Fehler die N o t e bestimmte, sondern auch das Lernengage-
ment des Schülers. So geschah es denn, dass ein i m Fach M a t h e m a t i k
sehr begabter Schüler n u r die N o t e 4 erhielt, während ein anderer m i t
gleichartigen Fehlern eine 2 unter seiner A r b e i t w i e d e r f a n d . Das hielt
der erstgenannte Schüler für ungerecht, und er nannte seinen Lehrer
»schwule kleine R a t t e « . Wenn die Benotung sich nicht auf das Versetzt-
werden a u s w i r k t , k a n n i n der gymnasialen M i t t e l s t u f e eine solch
pädagogische Benotung durchaus gerecht sein. Der sich ungerecht be-
handelt fühlende Schüler hätte - auch i m altersgemäßen Aufbegehren -
in aller Ruhe m i t seinem Lehrer sprechen müssen. Das aber tat er nicht.
Ein charakterliches Defizit (das Aufbegehren gegen bekannte und selbst
anerkannte Spielregeln) w u r d e z u m H a n d i c a p .

.33 I h m setzte H e i n r i c h v o n Kleist in seiner N o v e l l e » M i c h a e l K o h l h a a s « ( 1 8 1 0 ) ein Denk-


mal.
126 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Staatliche 'i"» Ein überzeugendes Beispiel v o n objektiver Ungerechtigkeit bietet


Lenkung Deutschland i n manchen seiner Gesetze, die etwa i n der Arbeits-, So-
zial-, Subventions- und Steuerpolitik nach marxistischem V o r b i l d ver-
suchen, das G e m e i n w o h l zu mehren. Dieser Versuch setzt jedoch eine
allgemeine u n d ideologietranszendente D e f i n i t i o n v o n Gemeinwohl vo-
raus. Diese aber gibt es n i c h t . Ein M a r x i s t , ein C h r i s t , ein Liberaler . . .
werden ideologieverhaftet über jeweils andere D e f i n i t i o n e n v o n Ge-
meinwohl verfügen, während, das, was dem G e m e i n w o h l schadet, u n -
umstritten sein k a n n . E i n liberalem Denken verpflichteter Staat w i r d
also k a u m solche Gemeinwohl fördernden Gesetze erlassen. W i r müs-
sen uns d a m i t abfinden, dass die Grenze zwischen liberalen u n d mar-
xistisch-orientierten P o l i t i k e r n quer durch alle Parteien läuft. N u n ist
Unwissenheit n i c h t unbedingt ein Charaktermangel, w o h l aber die U n -
wissenheit v o n P o l i t i k e r n über die Rechte u n d Pflichten eines Gesetz-
gebers.

Die Besonnenheit

Selbst- Besonnenheit ist eine Tugend, die es erlaubt, eine H a l t u n g einzuneh-


beherrschung men, welche sich durch Selbstbeherrschung u n d differenziertes, abwä-
und Ich-Stärke gendes u n d r a t i o n a l geleitetes Bedenken aller das H a n d e l n und/oder
Entscheiden bestimmenden Faktoren auszeichnet. Besonnenheit ist heu-
te eine der am wenigsten praktizierten Tugenden. Fehlt sie, dann k a n n
durchaus der unbesonnene Charakter z u m H a n d i c a p werden. Beden-
ken w i r zunächst einmal die wesentlichen Elemente dieser D e f i n i t i o n :
• Besonnenheit setzt Selbstbeherrschung voraus. Selbstberrschung
kann n u r v o n einem Menschen b i o p h i l v e r w i r k l i c h t w e r d e n , der
über ein zureichendes M a ß v o n Ich-Stärke verfügt, verbunden m i t
dem N i c h t - G e h a b t w e r d e n v o m Selbst (= v o n sich selbst). H i e r liegt
sicher eine der psychologischen Schwierigkeiten, sich selbst zu be-
herrschen u n d v o n nichts besessen zu w e r d e n , nicht einmal v o m
Selbst. Es gibt Menschen, die zwar alle möglichen Formen des Beses-
senseins (etwa v o n Geld, M a c h t , Einfluss, A n e r k e n n u n g , Aggressi-
vität ...) überwunden haben, nicht aber das Besessensein v o n ihrem
Selbst, genauer v o m Selbstkonstrukt, das i m Selbstbewusstsein zu
sich k o m m t . Ein ausgeprägtes Selbstkonstrukt verführt in aller Regel
Menschen dazu, sich v o n i h m besitzen, ja tyrannisieren zu lassen.
Ihre Welt baut sich auf u m das Selbstkonstrukt, v o n dem der Besitzer
glaubt, es sei identisch m i t dem Selbst. Z u i h m haben w i r jedoch kei-
nen u n m i t t e l b a r e n Z u g a n g . Aus diesem G r u n d b e t r i f f t die Selbstbe-
herrschung die Beherrschung des Selbstkonstruktes. Der selbstbe-
herrschte Mensch w i r d also d a r u m wissen, das sein Selbst n u r i n
Die Besonnenheit 127

seinem Erkenntnissystem voriianden ist, nicht aber i n erfassbarer


R e a h t ä t . Der w e n i g selbstbeherrschte Mensch aber w i r d Selbstkon-
s t r u k t u n d Selbst miteinander verwechseln u n d glauben, dieses
Selbst könne sich o p t i m a l i n der eigenpsychischen u n d sozialen Welt
orientieren. Selbstbeherrschung m e i n t also, sich v o n den Zwängen
des Selbstkonstruktes zu befreien u n d dieses zu beherrschen, n i c h t
aber v o n i h m beherrscht zu w e r d e n .

Konstrukte und • Differenziertes, abwägendes und rational gesteuertes Bedenken von


Erfahrungen personalen Sachverhalten steht v o r ähnlichen Schwierigkeiten wi e
die Selbstbeherrschung. Was w i r erkennen, w e n n es sich u m Perso-
nen u n d die Beziehungen zwischen ihnen handelt, ist n i c h t das So-
Sein v o n Personen u n d deren Beziehungen zueinander, sondern bloß
das Da-Sein, das ohne das So-Sein absolut leer ist a n M e r k m a l e n .
Das gilt i n ganz ähnlicher Weise auch für die Erkenntnis sozialer Sys-
teme, deren Elemente I n t e r a k t i o n e n sind, also Beziehungen zwischen
Personen. Das I c h , andere Personen u n d Beziehungen zwischen Per-
sonen sowie soziale Systeme we rd e n über die K o n s t r u k t b i l d u n g auf-
g r u n d einer stets subjektiven Erkenntnisfähigkeit erschaffen.
- Differenziertes Bedenken w i r d also vor allem v o n der Tatsache aus-
gehen, dass w i r die W e lt der Menschen (Personen u n d Beziehungen
zwischen Personen) n u r als K o n s t r u k t e w a h r n e h m e n . Ein weiterer
Aspekt, der i m differenzierten Bedenken erheblich ist, ist der V o r r a t
an K o n s t r u k t bildenden Elementen, die sich ein Mensch in der Ent-
w i c k l u n g seines Erfahrungswissens sammelte. Es gilt dabei aus der
Menge der vorhandenen Elemente ein Ganzes, eben ein K o n s t r u k t ,
zu f o r m e n . Einige Elemente lernen w i r schon i m Säuglingsalter ken-
nen (etwa D o m i n a n z u n d Subdominanz, Z u w e n d u n g u n d A b w e n -
d u n g , A n e r k e n n u n g u n d Tadel, Fürsorglichkeit und Vernachlässi-
gung), andere i m Kindergartenalter (Besitz u n d Verlust, Gefahr u n d
Geborgenheit, Vertrauen u n d M i s s t r a u e n ) , andere i m Schulkindalter
(Gerechtigkeit u n d Ungerechtigkeit, E r f o l g u n d M i s s e r f o l g , physi-
sche Stärke u n d Schwäche). W i r können d a v o n ausgehen, dass jeder
M e n s c h über etwa 50 solcher Versatzstücke z u m A u f b a u e n v o n K o n -
strukten verfügt. Ist die Z a h l verhältnismäßig k l e i n , werden K o n -
trukt-Stereotype ausgebildet, die zu einem Schachteldenken führen
und Menschen in wenige Schablonen (oder Schubladen) einordnen.
Ist die Z a h l dieser Versatzstücke groß genug, w i r d differenziertes Be-
denken u n d d a m i t Besonnenheit möglich w e r d e n . - Die Fähigkeit zu
differenziertem U r t e i l , Flandeln u n d Verhalten als wesentliche Be-
d i n g u n g u n d A u s d r u c k s f o r m der Besonnenheit scheint sich heute auf
dem Rückzug zu befinden. D i e meisten Menschen haben ein sehr
plakatives Bild v o m anderen, v o n I n t e r a k t i o n e n u n d sozialen Syste-
128 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären T u g e n d e n

men. Wer mag schon differenzieren zwischen W a h r u n d Falsch, z w i -


schen G u t u n d Böse, zwischen Angemessen u n d Unangemessen?
Dass zwischen G u t u n d Böse, Wahr u n d Falsch, Angemessen u n d
Unangemessen ganze Welten liegen, f o r d e r t die Fähigkeit zu k o n -
s t r u k t i v kritischem Denken heraus. Es gibt k a u m etwas Törichteres
als das Etiketten-Verteilen, w o die Unwissenheit am größten ist. Ich
habe n u r sehr wenige Menschen getroffen, die m i r sagen k o n n t e n ,
was die Begriffe Marxismus, Christentum, Liberalismus, Würde,
Freiheit u n d Gerechtigkeit besagen, o b w o h l sie zu allen genannten
W o r t e n eine feste emotionale B i n d u n g eingegangen w a r e n , die sie
streng u n d unnachsichtig zwischen G u t u n d Böse unterscheiden lie-
ßen.

A b w ä g e n und - Abwägendes Bedenken setzt die Fähigkeit u n d Bereitschaft voraus,


Vernunft eigenen u n d fremden N u t z e n gegen eigenen u n d fremden Schaden zu
taxieren, bevor eine H a n d l u n g folgen k a n n . Wer H a n d l u n g e n , die
nicht einer einmal sittlich verantworteten R o u t i n e folgen, sittlich
rechtfertigen w i l l , braucht ein K r i t e r i u m , das die sittlich v e r a n t w o r -
tete H a n d l u n g v o n der sittlich n i c h t v e r a n t w o r t e t e n oder sittlich
nicht v e r a n t w o r t b a r e n zu unterscheiden ermöglicht.
- Last but n o t least soll das besonnene Bedenken rational geleitet sein.
Besonnenheit und U n v e r n u n f t schließen einander aus. Eine unver-
nünftige Besonnenheit ist an sich ein paradoxes Begriffspaar. D a n u n
aber nach K a r l M a r x die V e r n u n f t i m Dienst des Interesses u n d nach
Sigmund Freud i m Dienste der Psyche steht, die stets versucht, ihre
Selbstwertigkeit (= die narzisstische Homöostase des Selbst) zu
sichern, ist die Vernünftigkeit ein bloß subjektives K r i t e r i u m zur
V e r w i r k l i c h u n g v o n Besonnenheit. Dass besonnene Menschen über
einen ausgeprägteren Charakter verfügen, scheint offensichtlich zu
sein - vorausgesetzt, ihre Besonnenheit beruht nicht auf Trägheit
und K o n f l i k t s c h e u , sondern w i r d als Tugend realisiert, vor allem i n
jenen Situationen, in denen die hier vorgestellte F o r m der Besonnen-
heit praktisch w i r d . Ein besonnener Charakter ist in aller Regel kein
lebensminderndes H a n d i c a p .

Fallbeispiele

Umgang mit ' i ' K a u m w a r mein Buch über das »Nachkirchliche Christentum« er-
Empörung schienen, besuchte mich i m Z u s t a n d empörter Erregung ein ansonsten
auf Ausgleich bedachter M i t b r u d e r und machte m i r eine Szene, i n der
es seinerseits recht laut u n d beschimpfend einherging. Ich fühlte mich
v o n keinem seiner Vorwürfe betroffen, a n t w o r t e t e n u r r u h i g u n d gelas-
Die Besonnenheit 129

sen u n d machte mich daran, eine Studie v o n unbeherrschter Aggres-


sivität zu erleben. D a dieses Verhalten das aggressive Potential meines
Gesprächspartners weiter anheizte, h o f f t e ich den K o n f l i k t d u r c h »Aus-
laufen« zu beenden. Die H o f f n u n g aber t r o g . N o c h am A b e n d des glei-
chen Tages m o d i f i z i e r t e er vor einem größeren P u b l i k u m seine Aggres-
sivität, i n d e m er behauptete, i c h löge bei der Verteidigung meines
Buches. - Ich trage dieses Beispiel vor, u m zu zeigen, dass es Situationen
g i b t , i n denen Selbstbeherrschung latente K o n f l i k t e zum A u s b r u c h
k o m m e n lässt. Selbstbeherrschung ist also niemals Selbstzweck, son-
dern muss unter das Postulat der Biophilie gestellt w e r d e n . Das ist m i r
in der vorgestellten Szene n i c h t gelungen. Wer einem Menschen begeg-
net, der seine Selbstbeherrschung verlor, braucht - w e n n der Prozess
b i o p h i l ablaufen u n d enden soll - mehr als bloße Selbstbeherrschung,
vielmehr eine A n t w o r t auf die Frage: »Wie k a n n ich d u r c h mein Ver-
halten den Prozess b i o p h i l enden lassen?« N u n gebe ich gerne zu, dass
in unserem Beispiel ein anderes Verhalten vor dem A n s p r u c h der Bio-
philie eher angebracht gewesen sein mag. Es ist m i r bislang jedoch kei-
nes eingefallen.

Cholerischer ' i ^ M e i n Fahrlehrer w a r ein ausgesprochen aggressiver M e n s c h , der je-


Fahrlehrer den Fahrfehler m i t aggressiven Ausbrüchen k o m m e n t i e r t e . H i e r wurde
nicht eine an sich aggressive Episode vorgeführt, sondern ein aggressi-
ver Charakter. Sein Z o r n , ja seine W u t richteten sich nicht gegen sich
selbst, sondern gegen seine M i t m e n s c h e n . Gelassen versuchte ich, seine
Eskapaden über mich ergehen zu lassen. Als ich ihn fragte, ob er denn
auf alle seine Schüler so aggressiv reagiere, antwortete er, dies sei die si-
cherste M e t h o d e , Fahrneulinge zu verkehrsgerechtem Verhalten anzu-
leiten. Als ich seine Ausführungen k o m m e n t i e r t e , ich könne m i r sehr
gut vorstellen, dass ein r u h i g ausgesprochener Tadel hilfreicher sein
könne, behandelte er m i c h fürderhin recht h u m a n . Die Unbesonnenheit
meines Fahrlehrers w a r also v e r m u t l i c h nicht i n seinem Charakter be-
gründet, sondern in seiner »Lebenserfahrung«.

Streitendes Paar ^ i ^ Aggressivität w i r k t ansteckend. Das gilt es zu vermeiden. Ich erin-


nere m i c h an ein Ehepaar, bei dem diese wechselseitige Aggressivität,
nachdem sie einmal v o n einem der Partner ausgelöst w o r d e n war, zu
den eigentümlichsten aggressiven Reaktionen führte. D a w u r d e nicht
nur das wechselseitige Anbrüllen geübt, sondern auch die Vernich-
t u n g v o n Gegenständen, die dem anderen etwas bedeuteten. Von Be-
sonnenheit w a r nichts auch n u r zu erahnen. I n beratenden Gesprächen
versuchte ich zu verdeutlichen, dass ein v o n aggressiven E m o t i o n e n be-
herrschter Mensch n i c h t zurechnungsfähig sei, da er sich i n einem Z u -
stand befinde, der einen freien Willensentscheid ausschließe. E m o t i o -
130 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

nen zu haben, auch aggressive, sei gut, doch v o n seinen aggressiven


E m o t i o n e n beherrscht zu werden bedeute, n i c h t das eigene Leben zu
leben, sondern das v o n der Aggressivität bestimmte. U n d das sei ein
typisches Leben aus zweiter H a n d . Beide lernten i m Verlauf der Ge-
spräche, ihre eigene Aggressivität zu betrachten u n d ihr nicht ihre Er-
wachsenenstrategien zur Verfügung zu stellen. Es zog zwar i n diese
Partnerschaft nicht die Tugend der Besonnenheit ein, w o h l aber eine
notwendige Vorstufe: M a n solle u n d könne auch aggressive E m o t i o n e n
e n t w i c k e l n , töricht aber sei es, ihnen irgendwelche verbalen oder n o n -
verbalen Erwachsenenaktivitäten zu leihen.

Wissen, wovon 'i^ I n meinen Managerseminaren prüfe ich die Fähigkeit, differenziert
man redet zu denken, regelmäßig nach. O b w o h l nahezu alle Manager den M a r -
xismus ablehnen, wusste n i e m a n d , was er da ablehnte. Ganz ähnlich
erging es dem C h r i s t e n t u m , o b w o h l dieses W o r t i n der Regel positiv
besetzt war, oder anderen W e r t w o r t e n (Würde, Freiheit, Gerechtig-
keit . . . ) . Sind Menschen w i r k l i c h nur bereit, für Werte zu sterben, die
ihnen zureichend u n k l a r sind, wie G . B. Shaw einmal meinte? H a t sich
denn die v o n Aristoteles geforderte Redlichkeitsregel, welche die Fähig-
keit e i n f o r d e r t , sagen zu können, worüber man redet, noch nicht ins
allgemeine Bewusstsein eingenistet? Ich b i n noch keinem Manager be-
gegnet, der zureichend differenzierte, was a m M a r x i s m u s b i o p h i l sei
und was n i c h t . Ebensowenig konnte die analoge Frage nach biophilen
und n e k r o p h i l e n Aspekten i m gegenwärtigen mitteleuropäischen Chris-
t e n t u m auch nur halbwegs zutreffend b e a n t w o r t e t w e r d e n .

Interessen 'i^ Nahezu ebenso kläglich ist es nicht selten u m ein abwägendes U r -
abwägen teilen bestellt. D o g m a t i k - o f t verbunden m i t dem beharrlichen W i l l e n ,
sich durchzusetzen u n d seinen Einflussbereich zu sichern oder Recht zu
behalten - bestimmt die Szene so vieler Konferenzen u n d Sitzungen.
Das Abwägen allein zwischen den f u n k t i o n a l e n Interessen eines Unter-
nehmens ( M i n i m i e r u n g etwa der Aufwandsgrößen) u n d seinen perso-
nalen ( E n t w i c k l u n g der M i t a r b e i t e r v o r allem i n ihren sozialen u n d
fachlichen Begabungen) gelingt selbst bei größeren Betrieben recht sel-
ten. Die Fähigkeit, Wertigkeiten gegeneinander abzugrenzen, ist weit-
gehend verschwunden - d a m i t ein w i c h t i g e r Aspekt der Tugend der Be-
sonnenheit. Abwägen bedeutet zusätzlichen emotionalen u n d sozialen
A u f w a n d , u n d den gilt es möglichst klein zu halten. D a ist es doch sehr
viel einfacher, v o n den fünf Faktoren, die den Stil eines Unternehmens
prägen ( K a p i t a l , A r b e i t , U m w e l t , Kreativität u n d Innovationsfreude
sowie eine humane U n t e r n e h m e n s k u l t u r ) , n u r einen noch zu berück-
sichtigen: den des K a p i t a l s , meist eingebunden i n eine Shareholder-
Value-Ideologie.
Die Geduld 131

Seinen Platz ' i ' Z w a r ist ein weiser M e n s c h stets auch hesonnen, aber n i c h t jeder
finden Besonnene ist weise. I c h erinnere m i c h an einen meiner Lehrer, der
offensichtlich u m Besonnenheit bemüht war. Sein M ü h e n , ein differen-
ziertes u n d abwägendes Verhalten n i c h t n u r zu leben, sondern auch leh-
rend zu v e r m i t t e l n , scheiterte an den Auffassungen der M e h r h e i t einer
Lehrerkonferenz, zu der er n i c h t einmal geladen w u r d e , u m seine V o r -
stellung zu erläutern, dass das V e r m i t t e l n v o n Wissen ohne c h a r a k t e r l i -
che B i l d u n g der Schüler für i h n n i c h t zu v e r a n t w o r t e n sei. Er wurde
z u m Schuljahresende a n eine andere Schule versetzt, da er sich i n die
»Chemie« seiner Kollegen n i c h t einpassen könne. A b e r a n der neuen
Stelle geschah i h m nach n u r zweijähriger Lehrtätigkeit genau dasselbe.
Er f a n d eine p r i v a t geführte Schule, in der er plötzlich einer der belieb-
testen Lehrer w u r d e - n i c h t n u r bei den Schülern, sondern auch bei sei-
nen Kollegen. Besonnen, aber unweise w a r der Lehrer, dass er nicht
erkannte, dass die meisten öffentlichen Schulen sich als A u s b i l d u n g s i n -
stanz ( u n d n i c h t der B i l d u n g verpflichtet) begreifen - es sei denn, i n
schönen W o r t e n anlässlich v o n A b i t u r f e i e r n u n d ähnlichen Veranstal-
tungen. Er hätte unbedingt schon sehr viel früher an eine geeignete Pri-
vatschule umsiedeln müssen, w e n n auch Weisheit i m K a t a l o g der v o n
i h m vertretenen Tugenden Platz gehabt hätte.

Die Geduld

Die unmoderne M i t der G e d u l d ist es heute bei vielen n i c h t gut bestellt. Das k a n n
Tugend wenigstens zwei Gründe haben, (a) Es k a n n sich u m eine zeittypische
R e a k t i o n handeln: Alles, was dem heutigen Menschen i m A u g e n b l i c k
wünschenswert erscheint, muss sich auch n o t w e n d i g ereignen. Das be-
t r i f f t o f t n i c h t allein das K a u f v e r h a l t e n , sondern auch die E r w a r t u n g e n
i m p r i v a t e n u n d beruflichen Bereich. Dieses k i n d l i c h e Verhaltensmuster
scheint i n manchen Bereichen die Erwachsenenwelt zu bestimmen,
(b) Z e i t ist für n i c h t wenige die knappste aller Ressourcen geworden.
Wer diese Ressource missbraucht, w i r d als unzuverlässig abgestempelt.
Das »Pünklichkeit ist die Höflichkeit der Könige« w i r d z u m P r o g r a m m
und erhält den Charakter einer M a x i m e .
Geduld bezeichnet eine Tugend, die Aristoteles zur Tapferkeit rechnete.
Das christliche A l t e r t u m verstand sie als ein Beharren im Guten trotz
äußerer U n b i l l u n d V e r f o l g u n g . Viele moderne A u t o r e n verstehen Ge-
duld i n A n l e h n u n g an Dulden als die Fähigkeit u n d Bereitschaft, r u h i g ,
beherrscht u n d nachsichtig ein Ereignis zu ertragen oder a b z u w a r t e n .
Dieses Ereignis k a n n das K o m m e n eines Menschen oder das Sich-Ereig-
nen einer Lebenschance sein, auch die Begegnung m i t einem Menschen,
m i t dem m a n Freundschaft u n d Liebe teilen k a n n . . . I m Gegensatz zur
132 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Geduld steht die U n g e d u l d . Diese Bestimmungen sind typisch für eine


Epoche, i n der das A b w a r t e n eher als störend u n d zeitraubend verstan-
den w i r d . V e r m u t l i c h w i r d Geduld erst dann zu einer Tugend, die zu
b i o p h i l e m H a n d e l n u n d Entscheiden befähigt, w e n n das stets auch i m -
mer m i t U n g e d u l d verbundene geduldige Abiuarten ersetzt w i r d d u r c h
ein Envarten. Dieser Unterschied mag auf den ersten Augenschein ge-
r i n g u n d unerheblich erscheinen, ist aber f u n d a m e n t a l . Während das
»geduldige Abwarten« A u s d r u c k einer Welt ist, i n der Aktivität über-
wiegt, ist E r w a r t e n eine Tugend, die das lästige A b w a r t e n d u r c h ein
positives freudiges E r w a r t e n ersetzt. E r w a r t e n ist A u s d r u c k passiver
Aktivität (wie das N a c h d e n k e n , das M e d i t i e r e n , das Zuhören, das Ver-
zeihen). Solche passive Aktivität k a n n v e r m u t l i c h n u r i n regelmäßigem
M e d i t i e r e n erlernt w e r d e n . M e d i t i e r e n bedeutet eben auch passive A k -
tivität. Z u m einen ist sie passiv, da sie geschehen lässt u n d n i c h t in Ge-
schehen eingreift. Z u m anderen ist sie aktiv, da sie das Geschehen k o n -
zentriert beobachtet.

Fallbeispiele

Pünktlichkeits- ' i ' Ein V o r s t a n d eines großen deutschen Unternehmens hatte es sich
fanatiker zur Regel gemacht, dass Menschen, die n i c h t z u m vereinbarten Z e i t -
p u n k t erschienen, i n seinem V o r z i m m e r auf einen neuen T e r m i n festge-
legt w u r d e n . Seine U n g e d u l d zog weite Kreise, denn er erwartete auch
von seinen M i t a r b e i t e r n absolute Pünktlichkeit u n d ließ p r i n z i p i e l l kei-
ne Entschuldigungen (wie: »Ich habe den Z u g nicht mehr erreichen
k ö n n e n « , »Mein A u t o ist i m Schnee stecken geblieben«, »Ich musste
die K i n d e r zur Schule fahren, w e i l meine Frau e r k r a n k t ist« ...) gelten.
Da er für sich i n A n s p r u c h n a h m , unbedingt pünktlich z u sein, es sei
denn, die Verspätung wäre zuvor vereinbart gewesen, machte er die
Pünktlichkeit zur höchsten Tugend, die selbst höhere Gewalt nicht ge-
gen sich gelten ließ. H i e r begegnen w i r wieder einer Situation, i n der
eine sekundäre Tugend pervertiert, w e n n sie n i c h t unter die B i o p h i l i e -
M a x i m e gestellt w i r d . So w i r d d a n n ein negatives C h a r a k t e r m e r k m a l
zum H a n d i c a p .

Erziehungsterror ^ i ' Ungeduldige Eltern werden selten gute Erzieher ihrer K i n d e r sein.
M i t ist ein Fall bekannt, i n der selbstverschuldete Unpünktlichkeit zu
den M a h l z e i t e n z u m Z e i t p u n k t des abendlichen Zuhauseseins etwa
durch Prügel oder durch Aussperren extrem h a r t bestraft w u r d e n . Die-
se K i n d e r hatten die Möglichkeit, die Zwangsneurose ihrer Eltern
zunächst zu akzeptieren, m i t der Gefahr, sie früher oder später sich
selbst zu eigen zu machen, oder offen zu opponieren. Solche O p p o s i t i o n
Die Geduld 133

stellte einen weiteren »Straftatbestand« dar, der w i e d e r u m m i t Aus-


sperrung und/oder Prügel bestraft w u r d e . Wieder w i r d das Fehlen eines
positiven C h a r a k t e r m e r k m a l s (der Geduld) z u m H a n d i c a p .

Hektischer Chef 'i*» Ein Vorgesetzter ist bei seinen M i t a r b e i t e r n bekannt wegen seiner
H e k t i k . Jede Besprechung lässt i h n vor dem Konferenzzimmer h i n und
her laufen w i e einen gemütskranken Löwen i n seinem Käfig. Wenn sei-
ne Sekretärin i n einem P r o t o k o l l oder einem Brief auch n u r ein Satz-
zeichen vergisst oder es an falscher Stelle setzt, sind Strafen fällig. Die
harmloseste w a r noch eine A r t v o n Anbrüllen, die bei D r i t t e n (leider
meist n i c h t dem Betroffenen) gewisse Assoziationen z u animalischem
Verhalten a u f k o m m e n lässt. D a G e d u l d u n d H e k t i k unvereinbare
M e r k m a l e sind, handelt es sich hier w i e d e r u m u m ein C h a r a k t e r m e r k -
m a l , das z u m H a n d i c a p w i r d .

Geduldiger Chef ' i ^ A b e r es g i b t auch positive Beispiele, die aufzeigen, dass die Geduld
eine Tugend sein k a n n , die eng m i t Primärtugenden (s. S. 109 f f . ) liiert
ist. Der Chef der Deutschlandsektion einer großen Unternehmensbera-
t u n g scheint m i r ein positives Beispiel für die i m Charakter wurzelnde
Tugend Geduld zu sein. Er strahlt innere Ruhe aus u n d vermittelt so ein
Feld v o n Ausgeglichenheit bei M i t a r b e i t e r n u n d K u n d e n . D a n u n eine
der w i c h t i g s t e n Begabungen, welche ein b i o p h i l e r u n d erfolgreicher
Vorgesetzer besitzen muss, gerade das Aus- u n d A b s t ra h l e n v o n ruhiger
Sicherheit ist, verfügt der Betreffende s o w o h l bei den K u n d e n wi e bei
seinen M i t a r b e i t e r n über hohes Ansehen. Er w i r d auch dann n i c h t u n -
geduldig, w e n n er einen Sachverhalt z u m d r i t t e n oder vierten M a l
einem K u n d e n oder einem M i t a r b e i t e r erläutern muss. Er w i r d nicht
u n g e d u l d i g , w e n n seine M i t a r b e i t e r einen Fehler machen u n d i h n ein-
gestehen. Gemeinsam versucht er m i t seinem M i t a r b e i t e r den eigentli-
chen U r s p r u n g des Fehlers auszumachen: H a t der M i t a r b e i t e r etwa
nicht die E r w a r t u n g e n , die Interessen u n d Bedürfnisse des K u n d e n r i c h -
tig eingeschätzt? Sind die Interaktionsangebote, die der M i t a r b e i t e r sei-
nen K u n d e n macht, zureichend klar (dem Verstehenkönnen des K u n -
den angepasst), oder v e r k a u f t er seine Hinweise u n d Vorschläge i m
Jargon der Unternehmensberater? Akzeptiert der M i t a r b e i t e r , dass sein
Gehalt zwar juristisch v o m Unternehmen gezahlt w i r d , de facto aber
v o m Kunden? Versteht er seine A r b e i t als Dienstleistung, die er dem
K u n d e n e r b r i n g t - u n d dass i h n letztlich der K u n d e bezahlt?

Unerreichbarer 'i^ Ungeduldige Verantwortungsträger sind meist f e h l o ri e n t i e rt , denn


Chef beides scheint k a u m miteinander verträglich zu sein. N u r G e d u l d w i r d
einen M i t a r b e i t e r dazu br ing e n , Vertrauen zu seinem Vorgesetzten zu
e n t w i c k e l n . N u r ein geduldiger Vorgesetzter w i r d seine M i t a r b e i t e r
134 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

nicht n u r f o r d e r n , sondern auch fördern. Ein geduldiger Umgang m i t -


einander w i r d die Distanz zwischen M i t a r b e i t e r u n d Vorgesetzten auf
das optimale M a ß einpendeln. Ein ungeduldiger Vorgesetzter vermittelt
seinen M i t a r b e i t e r n den fatalen E i n d r u c k , er habe nie Z e i t für ein
außerordentliches Mitarbeitergespräch. N u n kenne ich eine ganze Rei-
he v o n ungeduldigen Verantwortungsträgern, die wegen ihrer N i c h t -
Erreichbarkeit das Betriebsklima vergiften. Sie sind offensichtlich der
Aufgabe der Mitarbeiterführung n i c h t gewachsen.
In einem großen Unternehmen, das ich einmal beriet, w u r d e das z u -
nächst sehr zarte Pflänzchen einer veränderten (verbesserten) Unter-
nehmenskultur d u r c h die Ungeduld des Vorstandes fast niedergetreten.
Gerade die N e u o r i e n t i e r u n g am H o r i z o n t der U n t e r n e h m e n s k u l t u r
braucht ein gehöriges M a ß an G e d u l d , denn sie k a n n o f t erst nach meh-
reren Jahren u n d nur über eine gezielte Personalauswahl v o n Menschen
erreicht w e r d e n , die i n der Lage sind, sich die Werte dieser K u l t u r zu ei-
gen zu machen. Geduld ist vonnöten, w e i l die U n g e d u l d i m Gedeihen
und Werden einer veränderten K u l t u r (manche Vorstände setzten hier
völlig falsche, nie realisierbare Zeitvorgaben) alle Mühen u m eine ver-
änderte U n t e r n e h m e n s k u l t u r scheitern lässt.

Die Toleranz

Wissen wir, was Toleranz ist eine Tugend, die den anderen Menschen gelten lässt. Sie er-
Gut und Böse ist? streckt sich auf religiöse, soziale, politische, wissenschaftliche, philoso-
phische Überlegungen sowie N o r m e n u n d Werte eines anderen M e n -
schen oder v o n Menschen anderer sozialer System, zu denen m a n selbst
keine eigene Beziehung aufbauen k a n n oder w i l l . Der tolerante Mensch
lässt alle N o r m e n , Werte etc. als gleichberechtigt''* gelten, solange ihre
Realisierung nicht zu sozialschädlichem Verhalten führt. Jede Toleranz
hat zur Voraussetzung die Überzeugung, dass auch die eigene Position
nicht frei ist v o n Täuschungen und Irrtümern. Sie w i r d i n der Begeg-
nung m i t dem Fremden die Chance erkennen, diese eigenen Irrtümer
u n d Täuschungen zu m i n d e r n oder doch zu relativieren.

34 D i e A k z e p t a n z der G l e i c h b e r e c h t i g u n g ist n i c h t identisch m i t der Überzeugung, dass die


F r e m d o r i e n t i e r u n g der eigenen auch gleichwertig sei, denn w i r alle o r i e n t i e r e n unser Le-
ben an ganz b e s t i m m t e n Überzeugungen u n d N o r m e n . W i r haben n i c h t n u r das Recht,
sondern die P f l i c h t , diese Fföherwertigkeit k o m m u n i k a t i v zu v e r m i t t e l n , w e i l n u r i m
k o m m u n i k a t i v e n Cieschehen auch W e r t i g k e i t e n l a b i l i s i e r t w e r d e n k ö n n e n u n d aus dem
existentiellen Bestand an Überzeugungen u n d N o r m e n n i c h t die N o t w e n d i g k e i t abgelei-
tet w e r d e n k a n n , sie seien frei v o n I r r t u m u n d T ä u s c h u n g e n (selbst w e n n es u n v e r z i c h t -
bar n o t w e n d i g ist, diesen A s p e k t n i c h t i n den V o r d e r g r u n d des Selbstkonstruktes zu
rücken).
Die Toleranz 135

Toleranz als Tugend ist relativ spät ins allgemeine Bewusstsein des eu-
ropäischen Denkens eingedrungen. Dabei hat bereits Sokrates (in den
platonischen Dialogen) auf die Toleranz als eine zentrale Begabung h i n -
gewiesen, die allein den menschlichen U m g a n g der Menschen m i t e i n a n -
der erlaube. N i c h t zufällig sieht das i n jüdischer T r a d i t i o n stehende
Denken in der Intoleranz die Quelle alles zwischenmenschlichen Übels
(= der Erbsünde). D a h i n t e r steht der folgende Gedankengang: G o t t
allein ist das Wissen über G u t u n d Böse vorbehalten. Das w i r d i n
der fatalen, w e n n auch mythischen Verheißung der Schlange deutlich:
»Wenn i h r v o n den Früchten i n der M i t t e v o n Eden esst, werdet i h r sein
w i e G o t t u n d erkennen, was G u t u n d Böse ist.« (Gen 3, 5)^-^ Dieses si-
chere Wissen, was sittlich gut u n d böse ist, ist die Grundlage mancher
Intoleranz. D e r charakterfeste Mensch w i r d niemals sittlich r i c h t e n .
D e n n das, was m a n erkennen k a n n , ist allenfalls die Sozialverträglich-
keit oder auch Sozialunverträglichkeit menschlichen Flandelns u n d
Verhaltens. Menschliches H a n d e l n u n d Verhalten aber sind stets syste-
misch, a m Systeminteresse o r i e n t i e r t , u n d deshalb nie v o n allgemeiner
Gültigkeit, wie das sittlich Gute u n d Böse. A u f g r u n d unerforschlicher
Vorurteile halten sich manche Menschen - vor allem, w e n n sie einer
ideologischen Elite-'^ angehören - für etwas Besseres, für bessere M e n -
schen gar.

Fallbeispiele

Religion und ' i ^ Ganz besonders auffällig ist die religiöse Intoleranz der K i r c h e n
Kirche u n d mancher Christen, die v o n sich annehmen, sie seien i n besonderer
Weise der Jesusbotschaft nahe. Das sittliche Verurteilen gehört zu den
zentralen A u f g a b e n c h r i s t l i c h - k i r c h l i c h e r I n s t i t u t i o n e n . Wer eine der
zentralen Lehraussagen der Kirche ablehnt, w i r d m i t Ausschluss be-
straft, o b er n u n C h r i s t sein w i l l oder n i c h t . I n Deutschland k a n n ein

35 Jesus v o n N a z a r e t h a t dieses V e r b o t des s i t t l i c h e n Richtens i n der so genannten Bergpre-


d i g t n o c h e r w e i t e r t u n d v e r d e u t l i c h t : » R i c h t e t n i c h t , d a m i t i h r n i c h t gerichtet w e r d e t .
D e n n w i e i h r r i c h t e t , so w e r d e t auch i h r gerichtet werden« ( M t 7, 1 - 2 ) .
36 I d e o l o g i s c h ist eine Elite genau d a n n , w e n n die Z u g e h ö r i g k e i t zu einer elitären Gesell-
schaft einen M e n s c h e n dazu b r i n g t , sich den anderen menschlich für überlegen zu hal-
t e n . So halten sich etwa manche Juden für etwas Besseres, w e i l aus ihrer Ethnie einmal
der Messias h e r v o r t r e t e n w e r d e . So halten sich e t w a manche C h r i s t e n für etwas Besse-
res, w e i l n u r d u r c h sie dieser W e l t H e i l z u k o m m e . W a r u m hielten die N a z i s A r i e r ( m i t
A u s n a h m e der » Z i g e u n e r « ) für etwas Besseres als etwa Slawen, Juden oder Franzosen?
V o n solchen ideologischen E l i t e n , deren Grenzen zumeist religiös oder ethnisch gezogen
s i n d , sind die »Leistungseliten« sehr sorgsam zu unterscheiden. Z u einer Leistungselite
gehört jeder, der - sozial a n e r k a n n t - d u r c h sein W i r k e n etwas Erhebliches z u m N u t z e n
der M e n s c h h e i t oder deren U m w e l t e r b r a c h t h a t .
136 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Steuerpflichtiger n i c h t e inm a l aus der Gemeinschaft der Kirchensteuer


Zahlenden austreten, ohne gleichzeitig die Glaubensgemeinschaft zu
verlassen. D i e M i t g l i e d s c h a f t i n einer Kirche richtet sich n i c h t nach
dem W i l l e n , der Botschaft u n d dem Leben Jesu nachzufolgen, sondern
nach der Bereitschaft, die v o m Finanzfiskus eingetriebene Kirchensteu-
er zu bezahlen - mag einer n u n glauben, was immer er w i l l . FFier haben
w i r ein Beispiel v o n t o t a l verdrehter Toleranz vor A u g e n . M a n k a n n
sich zwar C h r i s t nennen - nahezu unangefochten v o n der Frage der
persönlichen Glaubensinhalte, solange m a n diese, so w e i t die Kirche sie
festgelegt, n i c h t öffentlich bestreitet - , w e n n m a n n u r Kirchensteuer be-
zahlt. Toleranz w i r d n u r gegen den geübt, der zur Körperschaft öffent-
lichen Rechts gehört. Die Frage nach der Zugehörigkeit zur Glaubens-
gemeinschaft spielt dann keine Rolle mehr. M i r sind einige h u n d e r t
Menschen bekannt, die aus der Körperschaft »Kirche« ausgetreten
sind, sich aber der Glaubensgemeinschaft zugehörig fühlen. U n d da be-
ginnt die Intoleranz: Ein solcher Mensch steht außerhalb der k i r c h l i -
chen Gemeinschaft.
Die ärgerlichste Folge solcher institutionalisierter Intoleranz ist die Tat-
sache, dass die säkular verstandene Toleranz e i n f o rd e rt , das Anders-
Sein des anderen zu akzeptieren, während die v o n Jesus verkündete
Botschaft der Nächstenliebe das Anders-Sein und das Anders-Glauben
v o m Menschen nicht n u r als akzeptiert voraussetzt, sondern den M e n -
schen i n seinem Anders-Sein u n d Anders-Glauben gänzlich akzeptiert.
Während die Toleranz die A k z e p t a t i o n des Handelns f o r d e r t , fordert
die Nächstenliebe die A k z e p t a t i o n eines Menschen i n seinem Anders-
Sein. H i e r w i r d ein charakterlich begründetes Defizit der für diesen
absurden Z u s t a n d V e r a n t w o r t l i c h e n offenbar.

Deutsche Muslime 'i^ Ein klassisches Beispiel v o n Intoleranz erleben w i r derzeit, w e n n es


u m Türken geht, die in ihrer M e h r z a h l bekanntlich M u s l i m e sind. Die
christlichen Parteien wollen diesen (nicht etwa auch anderen Personen
wie etwa den Bürgern vieler anderer Staaten) für eine befristete Z e i t
keine doppelte Staatsangehörigkeit gestatten. H a b e n sie Angst v o r dem
Islam (= der »Güte G o t t e s « , denn das bedeutet Islam)? W a r u m reagie-
ren so viele Deutsche e m o t i o n a l verunsichert bis ablehnend auf M e n -
schen, die sich z u m Islam bekennen, etwa auf jene Frauen, die ein
K o p f t u c h tragen? W a r u m suchen sie sich, abends die S-Bahn benut-
zend, Abteile aus, i n denen sich auch Deutsche aufzuhalten scheinen?
Das C h r i s t e n t u m w a r in seiner Geschichte sehr viel intoleranter als der
Islam, der niemals Christen verfolgt, w e i l sie Christen sind!

Jugoslawien ' i ' Intoleranz gründet zumeist i n einer Ich-Schwäche, die - u m das
eigene Ich zu schützen - fremdes oder auch n u r f r e m d a r t i g Erscheinen-
Die Toleranz 137

des abweist. So sind viele Serben gegenüber anderen Ethnien der ehe-
maligen Sozialistischen V o l k s r e p u b l i k Jugoslawien i n t o l e r a n t , w e i l sie
sich diesen Ethnien ihres ehemaligen Staatsgebietes für überlegen hal-
ten.

Sachliche 'i^ Die Intoleranz k a n n n i c h t allein i m religiösen oder ethnischen A l l -


Überlegenheit tag das Geschehen bestimmen, sondern auch i m Betrieb. So reagieren
nicht wenige Vorgesetzte i n t o l e r a n t auf Menschen, welche die primären
Tugenden realisieren. M i r ist ein ziemlicher A u s b r u c h v o n Intoleranz
bekannt g e w o r d e n , der zur Entlassung eines w e r t v o l l e n (= erheblich
d u r c h seine A r b e i t zur Wertschöpfung des Unternehmens beitragenden)
M i t a r b e i t e r s führte. Er w a r der A n s i c h t , dass seine Vorgesetzten n u r ein
begrenztes M a ß a n betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen hatten. Er
machte ausgiebig v o n der Primärtugend der Z i v i l c o u r a g e Gebrauch,
indem er versuchte, manche betrieblichen Defizite aufzudecken. So
wusste das C o n t r o l l i n g des Unternehmens, das m i t großem Eifer Be-
triebsabrechnungsbögen p r o d u z i e r t e , selbst denkbar w e n i g (das ist die
höfliche Umschreibung v o n »gar nichts«) m i t dem Terminus Prozess-
kostenrechnung anzufangen - w e n n überhaupt jemand i m Unterneh-
men i n der Lage gewesen wäre, eine solche Rechnung zu erstellen. Es
k a m beim »Gesundschrumpfen« u n d der sogenannten K o n z e n t r a t i o n
auf das Kerngeschäft dazu, dass die P r o d u k t e , die am stärksten z u m
Unternehmenserfolg beigetragen hatten, aus der Produktionspalette
ausgegliedert w u r d e n . Das Unternehmen ist inzwischen i n L i q u i d a t i o n
gegangen. »Das haben w i r noch nie gemacht!« - »Das haben w i r schon
i m m e r so gemacht!« - »Das ist ganz unmöglich!« u n d ähnliche Flos-
keln regulierten den betrieblichen A l l t a g , o b w o h l , darauf angespro-
chen, die weitaus meisten M a n a g e r v o n sich behaupteten, das sei ei-
gentlich gar n i c h t ihre Auffassung - es sei halt die Unternehmenskultur,
der m a n sich zu beugen habe.

Parteienzank 'i^ Ganz besonders faule Früchte bringt die zwischenparteiliche I n -


toleranz z u Stande. Das M i t g l i e d einer anderen Partei muss Unrecht
haben, w e i l es eben n i c h t M i t g l i e d der eigenen ist. So werden durchaus
w i c h t i g e R e f o r m e n n i c h t i n Gang gesetzt, w e i l entweder der K o a l i t i o n s -
partner oder der Bundesrat dagegen sind - u n d vor allem, w e i l sie nicht
i m Mistbeet der eigenen Partei großgezogen w u r d e n .

Verzicht auf 'i^ I c h habe bislang n u r Beispiele v o n Intoleranz angeführt, bei denen
Kontrolle ganz offensichtlich bei den Entscheidungsträgern charakterliche D e f i -
zite zutage t r a t e n . Hier soll einmal auch ein Beispiel angeführt w e r d e n ,
in dem deutlich w i r d , dass das Verfügen über Toleranz keineswegs ein
Flandicap darstellt. I n einem m i r bekannten Unternehmen (Flewlett-
138 II. Das Leben aus erster Hand ~ 2. Die sekundären Tugenden

Packard), das sich v o r allem m i t der H e r s t e l l u n g u n d dem Vertrieb v o n


C o m p u t e r n u n d entsprechenden D r u c k e r n i n Deutschland einen N a -
men gemacht hat, w i r d bewusst Toleranz geübt. M i t a r b e i t e r unterlie-
gen einem M i n i m u m an K o n t r o l l e d u r c h die Geschäftsleitung. Es w i r d
nur v o n ihnen erwartet, dass sie i n der vorgegebenen Z e i t ein vorgege-
benes P r o d u k t i n überdurchschnittlicher Qualität herstellen. W i e sie
das machen, ist ihre Sache. Das Unternehmen hat m i t dieser Tole-
ranz n u r geringe Fehlzeiten (die zu bestimmen n i c h t ganz einfach ist,
da Stechuhren i m Unternehmen u n b e k a n n t sind), die Ausschuss-
p r o d u k t i o n beträgt k a u m die Hälfte vergleichbarer Unternehmen, u n d
betrieblich unerwünschte M i g r a t i o n e n k o m m e n n u r selten vor. Die
Unternehmenskultur ist bestimmt d u r c h ein erhebliches Vertrauen der
Vorgesetzten i n seine M i t a r b e i t e r - aber auch der M i t a r b e i t e r unter-
einander. Der A u f b a u v o n Vertrauensfeldern setzt ein gerütteltes M a ß
an Toleranz voraus.

Die Alterozentrierung

Egozentrik Alterozentrierung ist ein W o r t , das i n der Sprache der Gegenwart aus-
kennt jeder gestorben ist. W i r kennen zwar das Begriffspaar egoistisch u n d altru-
istisch u n d verstehen darunter, dass ein Mensch überwiegend den eige-
nen N u t z e n bzw. den des anderen sucht. W i r kennen ferner das W o r t
egozentrisch, w o m i t w i r Menschen bezeithnen, deren Interesse u m das
liebe Ich kreist. H i e r aber fehlt uns die Bezeichnung des Gegenteils,
das alterozentrisch heißen müsste. Das ist a u f f a l l e n d , denn ein Begriff
wie Egozentrik hat eigentlich n u r i n einem polaren Spannungsfeld eine
sinnvolle Bedeutung. Er braucht ein logisches Gegenstück, wie etwa
der Egoismus den A l t r u i s m u s .
Was für einen Sachverhalt bezeichnet n u n Alterozentrik} Genau den:
dass der andere Mensch i m M i t t e l p u n k t meines Interesses steht. Unser
Leben spielt sich immer i m Dazwischen v o n Egoismus u n d A l t r u i s m u s
ab. Das Dazwischen schließt keineswegs aus, dass manche Menschen
sich dem einen oder dem anderen Pol nähern. M a n c h e Menschen sind
d o m i n a n t Egoisten. Ihre zentrale Frage lautet stets: »Was nützt es
mir?« Andere sind d o m i n a n t A l t r u i s t e n , deren Frage lautet: »Was nützt
es dir?« oder »Was nützt es uns?« Dabei ist keineswegs n u r der ö k o n o -
mische N u t z e n gemeint, sondern auch der soziale, emotionale etc.
Wie alterozentrisch sind die Menschen i n Ihrer Umgebung? U n d wie
steht es, H a n d aufs H e r z , m i t Ihrer eigenen Alterozentrik? Es gibt ver-
gleichsweise einfache H i l f s m i t t e l , u m das herauszufinden. Ich möchte
Ihnen zunächst einige Aspekte vorstellen, die sich i n dem k o m m u n i k a -
tiven M i t e i n a n d e r unseres Alltags finden. Sie w i r k e n sich auf sehr ver-
Die Alterozentrierung 139

sehiedenen Ehenen menschhchen M i t e i n a n d e r s aus. Unsere K o m m u n i -


kationsfähigkeit r u h t auf festen Fundamenten. Ihre Sockel, ohne die
w i r gar n i c h t miteinander umgehen könnten, sind das Floren, das Spre-
chen u n d der Einpassung i n das soziale System, das d u r c h die k o m m u -
n i k a t i v e n I n t e r a k t i o n e n erzeugt w i r d . ^ ^ N i e m a n d bezweifelt, dass die
Fähigkeit zu hören, zu sprechen, sich einzupassen - wie nahezu alle an-
deren alterozentrischen O r i e n t i e r u n g e n - c h a r a k t e r l i c h positiv zu wer-
ten sind. O b w o h l sie also an sich alles andere als ein Flandicap darstel-
len, g i b t es dennoch Situationen, i n denen sie z u m H a n d i c a p werden
können.

Das alterozentrierte Hören

Hören Sie, was E i n egozentrischer M e n s c h w i r d das Hören fremder Sätze als eine V o r -
man Ihnen sagt? bereitung des eigenen Redens verstehen. Er hört n u r so lange zu, bis
i h m etwas zu dem Gehörten eingefallen ist. V o n diesem Z e i t p u n k t an
w i r d er sehr ungenau zuhören, w e i l er das Sprechen des anderen vor al-
lem als Störgröße w a h r n i m m t , die i h n daran h i n d e r t , das W i c h t i g e , das
er selbst zu sagen hat, auszusprechen. Je länger er scheinbar zuhört, u m
so ungeduldiger w i r d er, u m so mehr w i r d das Gehörte bedeutungslos,
u m so mehr wächst die Sorge, dass das, was er selbst an so W i c h t i g e m
zu sagen hat, entweder n i c h t mehr z u m Thema passt oder gar aus sei-
nem Gedächtnis verschwände. I m Gegensatz dazu w i r d ein alterozen-
trierter Hörer den letzten Satz des Gesprochenen so w i c h t i g nehmen
wie den ersten, denn er weiß, dass n i c h t selten erst die letzten Sätze des
Sprechers das ausdrücken, was dem Sprecher w i c h t i g ist. Hören ist i h m
eine eigenwertige Tätigkeit, u n d zwar als V o r b e r e i t u n g auf das eigene
Sprechen. V o r vielen Jahren setzte ich einige Studenten auf ein Projekt
an, das i n zwei großen U n t e r n e h m e n (eines aus der Chemie-, das ande-
re aus der Baubranche - also m i t sehr verschiedenartig begabten M e n -
schen, wie sie i n diesen Unternehmen tätig sind) herausfinden sollte,
welche Eigenschaften eines Vorgesetzten s i g n i f i k a n t korrelieren m i t
dem M e r k m a l »gutes Betriebsklima«. Neben vielen andere positiven
K o r r e l a t i o n e n (wie gutes Verhältnis zu den Kollegen, Z u f r i e d e n h e i t am
Arbeitsplatz, Z u f r i e d e n h e i t m i t der A r b e i t ...) w a r e n n u r zwei K o r r e l a -
t i o n e n auf dem 5 - % - L e v e l s i g n i f i k a n t : 1 . »Er hat Z e i t für mich!« u n d
»Ich k a n n i h m vertrauen!« Beide M e r k m a l e werden n u r den Vorgesetz-
ten zuerkannt, die zuhören können.

37 V g l . dazu R. Lay, Führen d u r c h das W o r t , M ü n c h e n ( L a n g e n - M ü l l e r ) 1978, 206-267;


oder als Taschenbuch i n mehreren Verlagen.
140 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Das alterozentrierte Sprechen

Wiederholbarkeit Der egoistische Sprecher betrachtet nicht selten das eigene Gerede als
als Kriterium lustvollen Selbstvollzug. O f t w i l l er gar - meist ohne es zu wissen - sei-
nen sozialen Status definieren. D i e gruppendynamische Regel lautet:
»Wer a m längsten ungestraft reden k a n n , ist dominantes Alpha.« U n d
dieser Test ist i h m w i c h t i g . M i t dieser d o m i n a n t e n Grundeinstellung
w i r d zugleich alles, was andere sagen, vergleichsweise unerheblich.
Sprechen dient i h m als A u s d r u c k u n d M i t t e i l u n g des eigenen Sach- u n d
Erfahrungswissens einerseits u n d der eigenen Werteinstellungen, Be-
dürfnisse, E r w a r t u n g e n u n d Interessen andererseits. I m Gegensatz dazu
w i l l der alterozentrierte Sprecher die Werteinstellungen, Bedürfnisse,
E r w a r t u n g e n u n d Interessen des anderen erkennen. Er w i l l herausfin-
den, wie der andere M e n s c h i m H o r i z o n t eben seiner eigenen Wertein-
stellungen, E r w a r t u n g e n u n d Interessen einen Sachverhalt w a h r n i m m t ,
um a u f diese Sicht des anderen eingehen zu können. Egozentrische
Sprecher sind meist leicht zu entlarven: Sie sind gewöhnlich n i c h t i n der
Lage, i n h a l t l i c h zutreffend das Gesagte z u w i e d e r h o l e n . Viele M e n -
schen neigen dazu, ihre M e i n u n g ohne sonderliche Rücksicht auf den
Zuhörer k u n d z u t u n . Sie halten es für selbstverständlich, dass die Z u -
hörer auch nicht-triviale Sachverhalte verstehen. Dieses Verstehen ist
leicht zu überprüfen, i n d e m der Hörer dem Sprecher vorträgt, was er
verstanden hat. Die W i e d e r h o l b a r k e i t ( i m Gespräch unschwer auszu-
machen) ist ein k a u m zu überschätzendes K r i t e r i u m , u m zu prüfen, ob
das Gesprochene so verstanden w u r d e , wie der Sprechende es verstan-
den haben w o l l t e . Das ist keineswegs i m m e r der Eall. Es ist eine der
wichtigsten E r f a h r u n g e n , die meine Seminarteilnehmer machen, dass es
keineswegs einfach ist, dieses Z i e l zu erreichen. W i r d es n i c h t erreicht,
k o m m t keine eigentliche K o m m u n i k a t i o n zustande. D i e Anschluss-
beiträge w i r k e n desorientiert. Das, w o r a u f es dem Sprechenden a n k a m ,
w u r d e n i c h t zutreffend erkannt. Es gibt viele Gründe für Missver-
stehen: Sie beginnen m i t persönlicher A b n e i g u n g u n d enden n i c h t ein-
mal bei der V e r k e n n u n g der Wertvorstellungen, Interessen, Bedürfnisse
und E r w a r t u n g e n des Hörenden. Sicherlich verfügen beide Gesprächs-
partner auch nach einem noch so umfangreichen Diskurs n i c h t über
identische I n f o r m a t i o n e n , w e i l alle erzeugten I n f o r m a t i o n e n v o n Le-
benserfahrungen, v o n H o f f n u n g e n u n d Sorgen, v o n Vertrauen u n d
M i s s t r a u e n , v o n E r w a r t u n g e n u n d Interessen, v o n den Vorstellungen
von D o m i n a n z u n d Subdominanz bestimmt w e r d e n . U n d i n diesem
Bereich v o n Lebenserfahrungen ist kein Mensch auch n u r einem ande-
ren ähnlich genug, u m Missverständnisse zu vermeiden.
Die Alterozentrierung 141

Das alterozentrierte Sich-Einstellen

Das Ich, das Der egozentrische M e n s c h schHeßt i n allem v o n sich auf andere. Er
Zentrum? geht d a v o n aus, dass das soziale System m i t a l l seinen Systemelemen-
ten^s weitgehend v o n seinen persönlichen Interessen, E r w a r t u n g e n u n d
Bedürfnissen bestimmt w i r d . Der egozentrische Mensch w i r d daher
k a u m auf die sinnstiftende Anschlussfähigkeit seiner Beiträge ( k o m m u -
n i k a t i v e n I n t e r a k t i o n e n ) achten, sondern diese als selbstverständlich
voraussetzen.
Die gelungene soziale Passung setzt aber i n der Regel ein gewisses M a ß
an Empathie (= Einfühlungsvermögen) voraus, die dem Egozentriker
abgeht. Deshalb w i r d er es schwer haben, über längere Z e i t innerhalb
eines k o m p l e x e n Themenbereichs m i t anderen sinnvoll zu k o m m u n i -
zieren. Er w i r d U n g e d u l d zeigen, sich zurückziehen aus dem k o m m u n i -
k a t i v e n Geschehen, andere Themen anzuschneiden versuchen (um so
das Systemende herbeizuführen).
Das k a n n zwei Folgen haben: Entweder w i r d m a n seine Ausführungen
n i c h t ernsthaft zur Kenntnis nehmen, oder er ist a u f g r u n d seiner hie-
rarchischen Stellung, seines aggressiven Potenzials so stark, dass er das
alte Spiel enden lassen k a n n , u m ein neues m i t anderen k o l l e k t i v i e r t e n
Interessen, E r w a r t u n g e n , Werteinstellungen u n d Bedürfnissen der Be-
teiligten zu beginnen.

38 »Soziale Systeme« sind K o n s t r u k t e , die w i r uns machen, w e n n M e n s c h e n m i t e i n a n d e r


i n t e r a g i e r e n . Diese I n t e r a k t i o n e n sind die einzigen Elemente des Systems. D i e S t r u k t u r
des Systems w i r d m a ß g e b l i c h b e s t i m m t d u r c h die systemtypischen W e r t e i n s t e l l u n g e n ,
Interessen, Bedürfnisse u n d E r w a r t u n g e n . D i e innere U m w e l t des Systems b i l d e n die i n -
teragierenden M e n s c h e n . W e n n ihre I n t e r a k t i o n s a n g e b o t e oder die A u f n a h m e fremder
I n t e r a k t i o n s a n g e b o t e den S t r u k t u r e l e m e n t e n des Systems w i d e r s p r e c h e n , w i r d der Be-
treffende zumeist aus dem System ausgeschlossen, w e i l sein i n t e r a k t i v e s V e r h a l t e n ent-
w e d e r n i c h t an das anderer anschließt oder seme I n t e r a k t i o n s a n g e b o t e n i c h t anschluss-
fähig s i n d , e t w a w e i l sie n i c h t den k o l l e k t i v e n Interessen, E r w a r t u n g e n , Bedürfnissen
u n d W e r t e i n s t e l l u n g e n entsprechen. Soziale System müssen keineswegs sehr langlebig
sein. Sie k ö n n e n wenige Sekunden w ä h r e n , w e n n z w e i M e n s c h e n i n einem k u r z e n Frage-
A n t w o r t s p i e l m i t e i n a n d e r i n t e r a g i e r e n . W i r d die I n t e r a k t i o n s f o l g e abgebrochen oder
u n t e r b r o c h e n , d a n n ist es andererseits sehr w o h l denkbar, dass sich, falls die k o l l e k -
t i v i e r t e n W e r t e i n s t e l l u n g e n , Interessen, Bedürfnisse u n d E r w a r t u n g e n w e i t e r bestehen,
M e n s c h e n w i e d e r ein ganz ähnliches System erzeugen. Dieserart sind e t w a K i r c h e n , Par-
teien, U n t e r n e h m e n - o f t auch F a m i l i e n - solche sozialen Systeme, die sich, sobald m a n
w i e d e r i n t e r a g i e r t , a u t o p o i e t i s c h (= sich selbst schaffend) erzeugen u n d i h r e m Vorgän-
gersystem sehr ä h n e l n . Anderseits zeigt diese zeitliche D i s k o n t i n u i t ä t bei ähnlicher
S t r u k t u r auf, dass soziale Systeme sich a u f g r u n d eigener D y n a m i k ständig verändern,
o h n e dass die M e n s c h e n der i n n e r e n U m w e l t dieses Systems dieses erkennen oder gar
wollen.
142 II. Das Leben aus erster Hand - 2 . Die sekundären Tugenden

Fallbeispiele

Themawechsel ^ i ^ E i n bekannter Management-Trainer w a r k a u m i n der Lage z u -


als System zuhören, w e n n i h m das Thema n i c h t passte. Seine Eloquenz erlaubte es
i h m , m i t einer meist witzigen Bemerkung das Sprachspiel z u beenden
und ein anderes soziales System aufzubauen, das seinen Wünschen u n d
Vorstellungen entsprach. Dieses D o m i n i n a n z v e r h a l t e n brachte i h m
manche Gegnerschaft ein. Andererseits w a r er auch ungewöhnlich er-
folgreich, denn die v o n i h m erzeugten Sprachspiele w a r e n s o w o h l i m
Privaten wie i m Beruflichen durchaus p r o d u k t i v . N u r i n Lebenssitua-
t i o n e n , i n denen andere sich i h m a u f g r u n d hierarchischer oder natürli-
cher D o m i n a n z überlegen fühlten, k a m es zu ausgeprägten u n d zumeist
für beide Parteien destruktiven M a c h t k ä m p f e n .

»Sprechdurchfall« ' i ' Eine Dame l i t t unter einer F o r m nahezu k r a n k h a f t e r »Logorhöe«


(= »Sprechdurchfall«). Sie redete ohne U n t e r b r e c h u n g . U n d w e i l i h r
F l o r i z o n t begrenzt war, redete sie m a n c h m a l ein halbes D u t z e n d M a l
über den selben Sachverhalt. N u r m i t einigem Glück w a r es möglich, i n
einer Atempause selbst ein paar W o r t e zu sagen. Das w a r allerdings ein
völlig erfolgloser A u f w a n d , da sie genau an der Stelle f o r t f u h r , an der
sie sich u n f a i r unterbrochen vermutete. Selbst ihre eigenen Fragen oder
Bitten u m R a t beantwortete sie selbst. D a m i t w a r jedes Gespräch u n -
möglich. Eine genauere Anamnese ergab, dass sie aus eben diesem
G r u n d z w e i m a l geschieden w u r d e u n d vielfach ihren Arbeitsplatz
wechseln musste, bis niemand mehr sie einstellen w o l l t e . D a sie selbst
keineswegs unter i h r e m zwanghaften Verhalten l i t t , w a r es auch u n -
möglich, i h r therapeutisch zu helfen. Flier w u r d e der eklatante M a n g e l
an A l t e r o z e n t r i e r u n g zusammen m i t einer w e i t übersteigerten Egozen-
t r i e r u n g zu einem charakterbedingten Flandicap.

Vorstands- ^i' Ein V o r s t a n d (Alter: M i t t e 40) eines größeren Unternehmens hatte


monolog es sich zu eigen gemacht, den Gesprächspartner zwar gelegentlich zu
W o r t k o m m e n zu lassen - ohne i h m jedoch zuzuhören, denn er schioss
seine Rede an das vorher v o n i h m selbst Gesagte nahtlos an. Das hatte
zur Folge, dass der Aufsichtsratsvorsitzende i h n nach zahlreichen Be-
schwerden u n d einer f o r m e l l e n A b m a h n u n g freistellen musste, u m
überhaupt dem Unternehmen einen funktionstüchtigen V o r s t a n d zu er-
halten. Die Unfähigkeit zur bipolaren K o m m u n i k a t i o n hatte sich bei
i h m zurückentwickelt bis zur m o n o p o l a r e n K o m m u n i k a t i o n (die kei-
nen menschlichen K o m m u n i k a t i o n s p a r t n e r kennt oder benötigt).
Selbst i m Verlauf eines Coaching, das den Z w e c k hatte, das Floren w i e -
der z u erlernen u n d das Gehörte i n h a l t l i c h zutreffend wiederzugeben,
brauchte dieser M a n n ungewöhnlich lange, die Fähigkeit z u einer an-
Die Alterozentrierung 143

schlussfähigen k o m m u n i k a t i v e n Folge zu erwerben. N a c h etwa zwei


Jahren w a r er dazu i n der Lage. Er übernahm eine Geschäftsführer-
p o s i t i o n u n d hatte - t r o t z verschiedentlicher Rückfälle - einigen E r f o l g .

Guter Zuhörer 'i^ Der geschäftsführende Gesellschafter eines Unternehmens m i t 4 0 0


M i t a r b e i t e r n w a r ein ausgesprochen guter Zuhörer. Das setzt unter an-
derem - w i e schon gesagt - die Fähigkeit u n d Bereitschaft des Vorge-
setzten voraus, Z e i t zu haben für seine M i t a r b e i t e r u n d u m sich h e r u m
ein Vertrauensfeld aufzubauen. Dass beides v o m Vorgesetzten (als not-
wendige Bedingung) verlangt, ein guter Zuhörer zu sein, ist offensicht-
lich.^9 Bei i h m vereinigte sich eine vorhandene Begabung m i t dem
Ergebnis eines wissenschaftlichen Projekts zu einer erfolgreichen Ver-
b i n d u n g . Charakter w a r die Voraussetzung seines Erfolges u n d keines-
wegs ein H a n d i c a p .

Ungesagtes ' i ^ Anlässlich einer Beiratssitzung stellte der Geschäftsführer die a n -


hören! genblickliche finanzielle S i t u a t i o n des Unternehmens vor. O b w o h l die
v o n i h m angeführten D a t e n den Wochen z u v o r zugestellten schriftli-
chen Unterlagen entsprachen, w u r d e n sie v o n allen Beiratsmitgliedern
anders verstanden. D i e Unterlagen erzeugten den E i n d r u c k , dass der
Unternehmensbestand ernsthaft gefährdet sei, da der H a u p t s c h u l d n e r -
eine Gemeinde - ihre Aui^enstände v e r t r a g s w i d r i g monatelang nicht
bezahlte. D i e M e n g e der weiteren n i c h t beglichenen Forderungen aus
Lieferungen u n d Leistungen w a r so erheblich, dass das Unternehmen
der L i q u i d a t i o n tatsächlich recht nahe war. Der Geschäftsführer zeich-
nete indessen ein B i l d des Unternehmens, das v o r w i e g e n d bestimmt
w a r d u r c h die durchaus gute A u f t r a g s s i t u a t i o n . M e i n e Frage nach der
Ausschöpfung des K r e d i t r a h m e n s der Banken zeigte jedoch ein sehr be-
denkliches B i l d des Unternehmens. Es befand sich i n ziemlicher, ja
beängstigender N ä h e z u r Zahlungsunfähigkeit. D e r Beirat hatte n u n
die A u f g a b e , beim M e i s t e r n dieser kritischen Situation m i t z u h e l f e n . Es
gelang tatsächlich, den H a u p t s c h u l d n e r - die erwähnte Gemeinde -
a u f g r u n d der v o m Beirat empfohlenen Strategien zur baldigen Z a h l u n g
zu bewegen. Hätte ich m i c h ausschließlich auf die mündlichen Einlas-

39 D i e Q u a l i t ä t des Führenden messen w i r a n z w e i Begabungen: (a) Er muss i n der Lage


sein, die f u n k t i o n a l e n A u f w a n d s g r ö ß e n z u m i n i m i e r e n u n d die personalen zu o p t i m i e r e n
( d . h . i m Sinne der B i o p h i l i e - M a x i m e die eigene fachliche u n d soziale K o m p e t e n z u n d
die der M i t a r b e i t e r i m Führungsgeschehen zu verbessern), (b) Er muss i n der Lage sein,
I n t e r a k t i o n s k o s t e n zu v e r r i n g e r n . Diese w e r d e n i m ersten A n s a t z e r m i t t e l t über d i e
K o s t e n v o n Fehlzeiten, A u s s c h u s s p r o d u k t i o n u n d n i c h t w ü n s c h e n s w e r t e r W a n d e r u n g s -
b e w e g u n g (etwa d e m Ausscheiden einer w i c h t i g e n F a c h k r a f t aus d e m U n t e r n e h m e n
u n d der k o s t s p i e l i g e n E i n s t e l l u n g u n d Einpassung eines entsprechend begabten N a c h -
folgers).
144 II. Das Leben aus erster Hand - 2 . Die sekundären Tugenden

sungen des Geschäftsführers verlassen, bestünde das Unternehmen


nicht mehr. H i e r begegnen sich zwei Fähigkeiten: Es gilt die Lücken des
Sprechenden w a h r z u n e h m e n (durch genaues Hinhören) u n d so zu spre-
chen, dass diese n i c h t verschleiert w e r d e n . M i t u n t e r sind Beiräte näm-
lich i h r Geld w e r t .

Ersatz für die 'i^ Ein Unternehmer verwandte einen sehr elaborierten Sprechcode'"'.
Sprache Das hatte zur unvermeidlichen Folge, dass er v o n seinen M i t a r b e i t e r n ,
die zumeist einen restringierten Code a k t i v wie passiv beherrschten,
nur unzureichend verstanden w u r d e . Deshalb kamen k a u m I n t e r a k t i o -
nen i n K o o r d i n a t i o n (also die zwischenmenschliche Gleichheit realisie-
rend) zustande. I n solchen Fällen ist es d r i n g e n d angeraten, den u n m i t -
telbaren K o n t a k t zu seinen M i t a r b e i t e r n d u r c h n i c h t - k o m m u n i k a t i v e
I n t e r a k t i o n e n (wie Dabeisein, Freundlichkeit, möglichste Zurücknah-
me v o n d i r e k t i v e m u n d d o m i n a n t e m Verhalten) zu k u l t i v i e r e n . D i e
K u l t u r des u n m i t t e l b a r e n Kontaktes sollte unbedingt d u r c h eine dazu
begabte Führungspersönlichkeit erfolgen.

Unverstandene ' i ^ I m Verlauf eines Forschungsprojekts versuchten w i r herauszu-


Leitsätze finden, w i e bestimmte, v o n einer Unternehmensberatungsfirma ent-
wickelte Unternehmensleitsätze verstanden w u r d e n . Dieser auf Kunst-
druckpapier jedem M i t a r b e i t e r u n d vielen K u n d e n u n d Lieferanten
ausgelieferte Text enthielt zwar eine Menge v o n wünschenswerten E i -
genschaften des Unternehmens, aber sie w a r e n eben n u r wünschens-
w e r t u n d v o m A l l t a g des Unternehmens meilenweit entfernt. W i r zogen
aus den M i t a r b e i t e r n des Unternehmens, die v o n sich behaupteten, die-
ses Elaborat gelesen z u haben (21,2 % der gewerblichen u n d t a r i f l i c h
angestellten M i t a r b e i t e r ) eine Stichprobe u n d baten diese M i t a r b e i t e r ,

4 0 W i r unterscheiden i n der H a u p t s a c h e zwei Sprechcodes v o n e i n a n d e r : den e l a b o r i e r t e n


(EC) u n d den restringierten Sprechcode ( R C ) . Diese Codes s i n d unabhängig v o m I Q e i -
nes M e n s c h e n . I h r e G r u n d l a g e w i r d i n der H a u p t s a c h e i n der primären Sozialisation ge-
legt. I m E C ist der A u s d r u c k ( v o r a l l e m die Gestik) sparsamer; er w i l l Sachverhalte u n -
terstreichen. Nicht selten werden Distanzfloskeln ( w i e dürfen, mögen, können)
v e r w a n d t : » D a r f ich Sie b i t t e n . . . ? « - » M ö c h t e n Sie darlegen?!« - »Ich m ö c h t e Sie bit-
t e n . . . ! « . I m Ganzen w i r k t die Sprache d i f f e r e n z i e r t e r u n d w e n i g e r stereotyp. D e r Code
v e r w e n d e t häufiger Beziehungen bezeichnende W o r t e . So w i r d es möglich, i n d i v i d u e l l e
A n s i c h t e n , M e i n u n g e n u n d W e r t u n g e n sozial z u r e l a t i v i e r e n . A u c h w e r d e n i n diesem
Code logische u n d sachliche Beziehungen durch Verwendung v o n Konjunktionen
und/oder S a t z k o n s t r u k t i o n e n vorgestellt. Über- u n d U n t e r o r d n u n g s b e z i e h u n g e n w e r d e n
auch s p r a c h l i c h d e u t l i c h . Ganz anders i m R C . H i e r sind der Gestus u n d die M i m i k eher
d e u t e n d , erklärend. D i e Person, die einen R C v e r w e n d e t , setzt also auch körpersprachli-
che Elemente ein, u m sich verständlich zu m a c h e n . Der R C versucht, eine K o m m u n i k a -
t i o n i m K o o r d i n a t i o n s v e r h ä l t n i s m i t dem Partner a u f z u b a u e n . Lange u n d k o m p l i z i e r t e
Sätze w e r d e n v e r m i e d e n . D i e B e n u t z u n g eines R C hat zur Eolge, dass der Sprecher v o n
allen verstanden w i r d . ( V g l . dazu R. Lay, Eühren d u r c h das W o r t , 2 4 2 - 2 4 6 ) .
Die Alterozentrierung 145

möglichst ohne A b s t i m m u n g m i t anderen die zehn wichtigsten Ideale


niederzuschreiben. N u r ein einziger Satz, der zudem noch ausgespro-
chen schwachsinnig war, k a m in fast allen (etwas unter 90 % ) N e n n u n -
gen vor, w e n n auch k a u m je wörtlich zitiert: »Unsere M i t a r b e i t e r sind
unsere wichtigste Ressource, u n d deshalb w i r d i n unserem Unterneh-
men k o o p e r a t i v geführt!« I m m e r h i n w a r eine deutliche M e h r h e i t der
Befragten (78,2 % ) der A n s i c h t , dass dieser Führungsstil keineswegs i m
Unternehmen vorherrschte. O f f e n s i c h t l i c h interpretierten u n d selek-
tierten alle die Unternehmensleitsätze anders. Entweder nahmen sie die
zentralen, dem Text vorangestellten Sätze gar nicht wahr, oder sie be-
schrieben etwas, das k a u m v o n den Verfassern der Leitsätze gemeint
w o r d e n war. H i e r werden die Grenzen einer Sprache deutlich, die nicht
die der Leser eines Textes ist. Der O r t des charakterlichen Defizits ist in
solchen Fällen leicht auszumachen: Es w a r e n die Unternehmensberater,
die solche unternehmensfernen Leitsätze verordneten - übrigens m i t
kleinen Varianten nahezu identisch i n allen v o n ihnen beratenen Unter-
nehmen. Sie orientierten sich nicht an einer sauber erhobenen IST-Ana-
lyse des Unternehmens und seiner I n t e r a k t i o n e n nach innen u n d außen,
sondern an irgendwelchen Idealen, die zwar die Begeisterung (und wer
ist n i c h t begeistert über eine D a r s t e l l u n g einer o p t i m a l e n K u l t u r , wenn
er dafür w e i t mehr als 1 0 0 0 0 0 0 D M bezahlt hat?) des Vorstandes fan-
den, aber ohne jede Veränderung v o n Wertschöpfungsprozessen i m U n -
ternehmen ihre unerhebliche Runde machte.

Horizontales ' i ' Wechselseitige I n t e r a k t i o n e n bauen, wenn sie anschlussfähig sind,


Schisma ein soziales System auf. Ich habe i m Laufe v o n etwa 20 Jahren k a u m
einen Managementberater kennen gelernt, der diesen Sachverhalt zur
Kenntnis genommen oder gar sich i n seinen k o m m u n i k a t i v e n Äußerun-
gen diesem Sachverhalt angepasst hätte. V o r allem w a r auffällig die
schon erwähnte Verallgemeinerung eigener Interessen, W e r t v o r s t e l l u n -
gen, Bedürfnisse u n d E r w a r t u n g e n . Es gehört offensichtlich n i c h t zum
selbstverständlichen Wissen, dass ein solches soziales System eigene
Regeln u n d N o r m e n a u f b a u t u n d die Menschen, o b sie w o l l e n oder
nicht, i n den Bereichen Werteinstellungen, Bedürfnissen u n d Interessen
weitgehend gleichschaltet. Diese Gleichschaltung ist jedoch äußerst dy-
namisch. D i e vier n u n oftmals erwähnten Strukturelemente können
sich d u r c h einen k o m m u n i k a t i v e n Beitrag erheblich ändern, sobald
Werteinstellungen, Bedürfnisse, E r w a r t u n g e n u n d Interessen sich k o l -
lektiv ändern. Die Unfähigkeit, sich an die D y n a m i k der Systemevolu-
t i o n anzupassen, ist vor allem dann v o n Bedeutung, w e n n diejenige
Instanz, die eigentlich für eine stabile Unternehmensidentität verant-
w o r t l i c h ist (Vorstand, Geschäftsführung), nicht dynamisch zu denken
in der Lage ist.
146 I. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Ich erinnere m i c h hier eines Vorstandes, der Iconkrete E r w a r t u n g e n u n d


Werteinstellungen i n seinem Unternehmen möglichst lange konstant
halten w o l l t e . Er ist i n seinem Bemühen t o t a l gescheitert. D i e Eigen-
d y n a m i k des sozialen Systems Unternehmen hatte diese C o r p o r a t e
Identity, die weitgehend v o n der S t r u k t u r des Systems bestimmt w i r d ,
längst hinter sich gelassen. W e n n n u n gar der Gesamtvorstand m i t U n -
kenntnis u n d konservativem Denken den i m Unternehmen ablaufenden
interaktiven Prozessen begegnet, k o m m t es zu einem horizontalen
Schisma. I n solchem Z u s t a n d k a n n der V o r s t a n d beschließen, was auch
immer er w i l l - nichts d a v o n geschieht.
Solche h o r i z o n t a l e n Schismen sind vor allem dann häufig, w e n n zwei
Unternehmen m i t verschiedenen K u l t u r e n verschmelzen. So k o n n t e es
v o r k o m m e n , dass i n Paderborn w e i t e r h i n N i x d o r f - C o m p u t e r gebaut
w u r d e n , o b w o h l alle Vorstände v o n der Siemens A G gestellt w u r d e n .
Sie brachten den Siemens-Standard m i t u n d verfügten über E r f a h r u n g
m i t den v o n Siemens gebauten PCs, u n d t r o t z d e m w u r d e n i n den bei-
den Werken w e i t e r h i n unterschiedliche C o m p u t e r gebaut, für die es
nicht einmal gemeinsame Ersatzteile gab. Die ziveite Führungsschicht
legte fest, was gebaut w u r d e - u n d dabei kümmerte sie sich k a u m
u m irgendwelche Vorstandsbeschlüsse. D i e Nixdorf-Vorstände - ver-
m u t l i c h v o n M ü n c h e n aus gesteuert - k o n n t e n n i c h t so tief i n M a r k t -
erschließungs-, P r o d u k t p l a n u n g s - , Produktionsplanungs- u n d Absatz-
prozesse eingreifen, w i e sie w o l l t e n (oder sollten). Die Unfähigkeit, die
Eigendynamik der Identität eines sozialen System z u erkennen, w u r d e
offensichtlich. Sollten die Nixdorf-Vorstände tatsächlich ihrer eigenen
Überzeugung gefolgt sein u n d n i c h t nach außerbetrieblichen Weisun-
gen gehandelt haben, liegt hier insoweit ein Charakterdefizit vor, als
der Charakter starre Strukturen einforderte u n d dynamische n u r be-
grenzt oder gar n i c h t zuließ. Charakter w u r d e zu einem Flandicap.

Doppelpass- ' i ^ Bei den Landtagswahlen i n Hessen v o m 7. 2 . 1999 startete die


Kampagne C D U unter Anführung der CSU eine Unterschriftensammlung gegen
das v o n dem Schröder-Kabinett beschlossene Einwanderungsgesetz.
Sowohl die Presse als auch das K a b i n e t t Schröders w a r e n offensichtlich
der M e i n u n g , dass diese A k t i o n eindeutig gegen die bislang i n Hessen
regierende rot-grüne K o a l i t i o n gerichtet, für den W a h l e r f o l g des Hans
Eichel aber ohne besonderen Belang sei. H i e r w u r d e eine k o m m u n i k a -
tive Situation falsch eingeschätzt. Der Wahlsieg der CDU/FDP w a r die
Folge. Sie versäumten darauf hinzuweisen, dass dank der bestehenden
Gesetzgebung, die m i t der Z u s t i m m u n g des Bundeskabinetts K o h l bei-
behalten w o r d e n sei, bereits etwa zwei M i l l i o n e n i n Deutschland leben-
der Menschen eine doppelte Staatsangehörigkeit ( u n d d a m i t das Recht
auf zwei Pässe) besäßen. Sie versäumten es darauf hinzuweisen, dass
Die Hilfsbereitschaft ohne Helfersyndrom 147

ihre Gesetzesvorlage v o m neuen Bürger mehr I n t e g r a t i o n verlangte als


das bestehende Einbürgerungsgesetz. Das alte Gesetz verlangte gar kei-
ne, das neue aber eine ganze M e n g e , wie z u m Beispiel, dass einer der
Elternteile schon i n Deutschland geboren sei oder Arbeitsfähigkeit u n d
A r b e i t s w i l l e nachgewiesen werden müssten. Die realitätsabgelöste Poli-
t i k der Schröder-Regierung machte sich ein falsches B i l d v o m W a h l -
bürger, das v o n dessen Selbstbild sehr entfernt war. Die charakterfeste
M e i n u n g , solch demagogisches Gehabe werde den mündigen Bürger
n i c h t i n seinem Wahlentscheid beeinflussen, verkennt bei einem hoch
emotionalisierten Thema reale Sachverhalte. Charakter w u r d e z u m
Handicap.

Die Hilfsbereitschaft ohne Helfersyndrom

Die Vernunft- Hilfsbereitschaft steht i m Gegensatz z u Betroffenheit (s. S. 98 f f . ) . Sie


geleitete Tugend bezeichnet die Bereitschaft z u helfen, w e n n H i l f e möglich, z u m u t b a r
u n d effizient ist. Hilfsbereitschaft ist eine Tugend, die durchaus i m Z u -
sammenhang m i t der A l t e r o z e n t r i e r u n g (s. S. 138 ff.) interpretiert wer-
den sollte. H i l f s b e r e i t ist n u r derjenige, der auch zur Empathie, zur Ein-
fühlung i n den der H i l f e Bedürftigen fähig ist. Hilfsbereitschaft ist eine
E o r m des M i t l e i d e n s , die sich - w e n n irgend möglich - i n tätiger H i l f e
äußert. I n ihrer pathologischen E o r m ist sie ein T u n , das u n m i t t e l b a r
v o m Schmerz des M i t l e i d e n s bestimmt w i r d . 4 1 Als Tugend ist sie, wie
jede Tugend, jedoch auch vernunftgeleitet. Der z u m M i t l e i d unfähige
M e n s c h g i l t nicht zu Unrecht als h a r t u n d unmenschlich. Die Fähigkeit
z u m M i t l e i d e n m i t einem anderen Menschen ist also eine conditio hu-
mana (eine Bedingung, unter der allein M e n s c h l i c h k e i t möglich ist). Je-
doch erschöpft sich Hilfsbereitschaft nicht i m M i t l e i d . N i c h t n u r der
M e n s c h , der leidet, bedarf fremder H i l f e , sondern jeder Mensch, inso-
fern er a n die Grenzen des i h m physisch, psychisch, sozial, e m o t i o n a l ,
i n t e l l e k t u e l l , m o r a l i s c h . . . Möglichen gerät - stets vorausgesetzt, es g i b t
einen Menschen i n seiner N ä h e , der i h m helfen k a n n . Insoweit w i d e r -
spricht die Fähigkeit u n d Bereitschaft, fremde H i l f e anzunehmen, der

4 1 B e i m p a t l i o l o g i s c h e n M i t l e i d l ; a n n sich das Gefühl gegenüber der H a n d l u n g verselbst-


ständigen, sodass es zu einem passiven v e r h a r r e n d e n M i t l e i d e n (zu einer blo(?en, w e n n
a u c h tiefen B e t r o f f e n h e i t ) k o m m t . P i a t o n stellt diese F o r m des M i t l e i d s i n den W i d e r -
s p r u c h zu V e r n u n f t u n d G e r e c h t i g k e i t . Dieses M i t l e i d k a n n i n G r a u s a m k e i t umschlagen
(P. C h a r r o n , 1 6 0 1 ) . I . K a n t hält das M i t l e i d für »schwach u n d jederzeit blind« u n d des-
h a l b für ungeeignet, eine E t h i k zu begründen. A r t h u r Schopenhauer erhebt das M i t l e i d
(»als ganz u n m i t t e l b a r e T e i l n a h m e a m L e i d e n eines anderen« w o b e i »das L e i d e n eines
anderen u n m i t t e l b a r m e i n M o t i v w i r d « ) dagegen z u m F u n d a m e n t jeder E t h i k . D i e Iden-
t i f i k a t i o n m i t d e m a n d e r e n , das » t a t - t w a m - a s i « (dies bist d u ) des B u d d h i s m u s , sei als
realistische M y s t i k der reale A u s d r u c k der E r k e n n t n i s des Wesens aller I n d i v i d u e n .
148 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

O h n m a c h t u n d Einsamkeit erzeugenden E i n b i l d u n g , nicht hilfsbedürf-


tig z u sein. A l l e Menschen bedürfen fremder H i l f e u n d sollten bereit
sein, sie auch anzunehmen. Die Wechselseitigkeit des Helfens ist kei-
neswegs selbstverständlich. Es gibt nicht wenige Menschen, die - o f t i n
ganz entwickelter F o r m - bereit sind z u helfen, andererseits aber zu
stolz sind zuzugeben, dass auch ihnen andere Menschen helfen müssen.
Dieser pathologische M a n g e l an passiver Hilfsbereitschaft w i r d z u -
meist m i t dem Helfersyndrom gleichgesetzt, dem viele Menschen ver-
fallen, die sich v o n Berufs wegen m i t dem H e l f e n beschäftigen (Ärzte,
Krankenschwestern, Psychotherapeuten, Sozialhelfer, Behindertenbe-
treuer, Bewährungshelfer, Geistliche . . . ) . Aber auch Menschen i n ganz
anderen Berufen (darunter Manager) werden i m Laufe der Z e i t zu
»Beichtvätern« u n d H e l f e r n ihrer M i t a r b e i t e r .

Fallbeispiele

Wenn es nur ^ i ' Einer meiner Freunde hat stets eine Menge Münzen bereit. Er gibt
einem hilft... jedem, der i h n m i t t e l b a r oder u n m i t t e l b a r (wie ein a m Boden sitzender
Geiger auf der F r a n k f u r t e r Z e i l ) u m Geld angeht, eine M a r k . A u f die
Frage, w a r u m er das tue, o b w o h l auch er wisse, dass die meisten das
Erbettelte i n A l k o h o l oder D r o g e n anlegen würden, antwortete er:
»Wenn auch nur einem Prozent der Bettler d u r c h meine kleine Gabe et-
was geholfen werden k a n n , würde i c h m i c h selbst verachten müssen,
w e n n i c h vergebens u m H i l f e fragen ließe u n d nicht geholfen hätte!«
W u r d e hier Charakter z u m Handicap? Ließ sich hier - wie der nicht
selten gehörte V o r w u r f lautete - ein Mensch missbrauchen, w e i l er gut-
mütig war? N u n ist sicherlich Gutmütigkeit (aus Schwäche) nicht das-
selbe wie Güte, die stets zumindest nicht der V e r n u n f t w i d e r s p r i c h t .
Biophilie, die sich m i t Weisheit gepaart z u m höchsten sittlichen G u t
entfaltet hat, w i r d v o n einem Menschen auch verlangen, gut zu sein.
Güte bezeichnet die V e r b i n d u n g v o n M e n s c h u n d W e r t i m H a n d e l n . Er
w i r d nicht n u r i n solchem H a n d e l n v o m Wert geführt, sondern die
Güte erfüllt i h n u n d sein verantwortetes H a n d e l n v o n innen her (und
nicht wie durch ein äußeres Gebot verlangt) (Seneca).

Sterbebegleitung ' i ^ Ich wachte bei einer Frau, die an einem damals inoperablen M a -
g e n k a r z i n o m l i t t u n d dem Tode sehr nahe war. M e i n Bemühen, ihre
Stirn zu kühlen, i h r die H a n d zu halten u n d ihrem o f t schon unver-
ständlichen Sprechen zuzuhören, w u r d e beschämt v o n einer k a t h o l i -
schen Krankenschwester, die i h r H a b i t ablegte u n d sich zu der entsetz-
lich stinkenden Frau, sie i n die A r m e nehmend, ins Bett legte. D i e
K r a n k e beruhigte sich sehr bald u n d k a m zu einer A r t innerem Frieden,
Die Hilfsbereitschaft ohne Helfersyndrom 149

den i c h n i c h t hatte v e r m i t t e i n Icönnen. Sie ist nach gut einer Stunde i n


Ruhe gestorben. I c h b i n m i r n i c h t sicher, o b ich auch zu solch einem
H a n d e l n fähig gewesen wäre, die Einsamkeit des Sterbens i n tiefem
M i t l e i d e n zu e m p f i n d e n . O b w o h l die Ordensschwester v o n ihren M i t -
schwestern als Außenseiterin abgelehnt w u r d e , vermute ich, dass i c h
hier dem begegnet b i n , was heilig sein bedeutet.

Bewährungshilfe 'i^ I n meinen A u f b a u s e m i n a r e n für M a n a g e r versuche ich i n aller Re-


gel deutlich zu machen, dass erst d u r c h die Bereitschaft, auch i m nicht-
erwerblichen Bereich zu helfen, w i r k l i c h e menschliche Reife erreicht
werden k a n n . Je nach der Begabung des Einzelnen mag m a n sich vor-
stellen, für straffällig gewordene - auf Bewährung freigelassene - j u -
gendliche Straftäter als Bewährungshelfer u n d o f t genug auch als V o r -
m u n d tätig z u w e r d e n . Das Bemühen, dass der Jugendliche einen
Arbeitsplatz u n d ein U n t e r k o m m e n n i c h t n u r erhält, sondern v o r allem,
dass er beides auch behält, k a n n mancherlei Wege u n d Bitten u m Ver-
stehen m i t sich b r i n g e n . A b e r v o n zehn Wegen ist sicherlich einer erfol-
greich. A u c h hier w i r d Charakter n i c h t z u m H a n d i c a p , sondern ermög-
licht eine o p t i m a l e personale E n t f a l t u n g , die sich i m Beruf u n d i n der
familiären R o u t i n e selten erlangen lässt. D e r N u t z e n ist beiderseitig:
beim H e l f e n d e n w i e beim H i l f l o s e n .

. . . .
Burn-out- ' i ^ M i r ist ein Sozialhelfer bekannt, der täglich sicherlich mehr als
Syndrom zwölf Stunden als Streetworker tätig ist. Er bemüht sich u m O b d a c h l o -
se w i e u m rauschgiftabhängige Jugendliche, u m Betrunkene wie u m
Stadtstreicher. Sein Eamilienleben ist zerbrochen, w e i l seine Partnerin -
w o h l n i c h t ganz zu Unrecht - forderte, dass er auch seiner Familie hel-
fe. Er w a r k a u m 4 0 Jahre alt, als er unter den Symptomen eines »Burn-
out-Syndroms« z u leiden begann. Das erste bedenkliche Anzeichen ei-
nes solchen Syndroms ist zumeist, dass der Betroffene sich n i c h t selbst
helfen lassen m ö c h t e . Er versteht sich ausschließlich als Helfer, n i c h t
aber als einen, der der H i l f e bedarf. So weigerte er sich, gegen den W i l -
len seiner Vorgesetzten, U r l a u b zu nehmen, u m wieder aufzutanken. So
versuchte er eine rheumatische E r k r a n k u n g seines Kniegelenkes z u
verleugnen, o b w o h l i h m sein Beruf manche Gänge abverlangte. D i e
nächste Stufe des B u r n - o u t - S y n d r o m s w a r erreicht, als i h m seine A r b e i t
keine Freude mehr machte, sondern das Pflichtgefühl die Rolle des
wichtigsten Selbstmotivators übernahm. A m Ende stand eine A r t des
Ausgebranntseins, die es i h m nahezu unmöglich machte, seinem Beruf
auf der Straße n a c h z u k o m m e n . Eine Versetzung i n die V e r w a l t u n g
stand an. Er akzeptierte sie aber erst nach einiger therapeutischer H i l f e .
H i e r w u r d e eine charakterliche Schwäche z u m H a n d i c a p .
150 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Samariter heute ^ i ^ Dass Hilfsbereitschaft ihre Grenzen haben k a n n , erlebte ich i n ge-
radezu dramatischer F o r m , als i c h Zeuge eines schweren Verkehrs-
unfalls w u r d e . Ein M e n s c h , den die herumstehenden Gaffer als »Tür-
ken« identifiziert hatten, ließ keinerlei Hilfsbereitschaft a u f k o m m e n .
Erst als ich einem der Herumstehenden sein H a n d y gleichsam a b n a h m ,
u m H i l f e u n d Polizei herbeizutelefonieren, k a m etwas Bewegung i n die
träge M e n g e . Tatsächlich gab es einen Helfer, der m i c h dabei unter-
stützte, den Verunglückten i n die stabile Seitenlage zu drehen, seinen
M u n d v o n Erbrochenem zu säubern u n d andere Erste-Hilfe-Maßnah-
men durchzuführen. Es blieb aber bei einem - u n d der w a r jung u n d
hatte seine Haare i m Irokesenschnitt grün gefärbt. Als ich später über
den Z w i s c h e n f a l l nachdachte, bemerkte ich die Lebensnähe eine Jesus-
Gleichnisses. Es erzählt v o n einem Juden, der unter die Räuber fiel. Ein
v o r b e i k o m m e n d e r jüdischer Priester u n d ein ebenso vorübergehender
Levit halfen i h m n i c h t , w o h l aber ein v o n den rechtgläubigen Juden
verachteter Samariter (vgl. L u k 10, 3 0 - 3 7 ) . Eine ganz ähnliche U n -
fähigkeit zur H i l f e erlebte i c h i n der berüchtigten Pogromnacht a m
9. 1 1 . 1938, der so genannten K r i s t a l l n a c h t . Ich stand am Fenster u n d
sah, w i e SA-Männer das Textilhaus des jüdischen Mitbürgers Lenne-
berg i n Olpe plünderten u n d niemand - sonst seines Christseins stolz -
i h m aus Angst v o r den Nazis zur H i l f e eilte.

Pannenhilfe •'i'* Als i c h m i r auf dem Wege z u einem Seminar an einer scharfen
Bordsteinkante den Reifen meines A u t o s aufgeschlitzt hatte u n d eini-
germaßen hilflos a m Straßenrand stand, hielten innerhalb weniger M i -
nuten vier A u t o f a h r e r a n , die m i r H i l f e anboten. Z w e i wechselten i n
wenigen M i n u t e n den Reifen - eine A r b e i t , zu der ich sicher eine halbe
Stunde benötigt hätte. Die Hilfsbereitschaft der M i l t e n b e r g e r Fahrer ei-
nem F-Kennzeichen gegenüber beschämte m i c h , denn i c h erinnerte
m i c h , an so manchem Pannenauto vorbeigefahren zu sein, selbst w e n n
der Fahrer allein u n d hilflos neben seinem A u t o stand.

Unerbetene Hilfe, Unerbetene Hilfsbereitschaft k a n n merkwürdige F o r m e n anneh-


ein Bumerang men. Vielleicht kennen Sie die folgende A n e k d o t e aus dem Leben eines
Pfadfinders, der b e k a n n t l i c h gehalten ist, täglich wenigstens eine gute
Tat zu leisten. Er bringt eine an der Bordsteinkante stehende alte Dame
auf die andere Straßenseite. Die fragt n u r : »Und wie k o m m e ich wieder
zurück?« Sie hatte nämlich i n keiner Weise die A b s i c h t , die Straße z u
überqueren. Das Beispiel macht deutlich, dass helfende Menschen, u n d
das gilt v o r allem auch für die pathologischen F o r m e n des Helfens,
gern ihren W u n s c h nach H i l f e i n den anderen Menschen h i n e i n p r o j i -
zieren, ohne dass dieser sich i m entferntesten nach H i l f e sehnte. E i n
Hauptabteilungsleiter eines großen pharmazeutischen Unternehmens
Die Hilfsbereitschaft ohne Helfersyndrom 151

hatte an einem w e n i g nützlichen Managerseminar teilgenommen u n d


d o r t »gelernt«, dass Hilfsbereitschaft eines Vorgesetzten eine gute H i l f e
bei der Selbstmotivation der M i t a r b e i t e r sei. N u n ist das Gelernte nicht
ganz falsch. W e n n Hilfsbereitschaft verstanden w i r d als Selbstverständ-
lichkeit in einem Vertrauensfeld, dann w i r d sie dem Vorgesetzten auch
abverlangt. I n diesem Fall aber w u r d e der Hauptabteilungsleiter v o n
nicht wenigen M i t a r b e i t e r n e m o t i o n a l u n d sozial nicht akzeptiert. Sei-
ne Versuche, hilfsbereit zu sein, w u r d e n als M a n i p u l a t i o n v o n M e i n u n g
und Einstellung erfahren. So gab er einem M i t a r b e i t e r frei für den Tag,
an dem sein Sohn das mündliche A b i t u r ablegen musste. Der M i t a r b e i -
ter w o l l t e n i c h t , traute sich aber auch n i c h t abzulehnen. Der E r f o l g des
unerbetenen Urlaubs w a r dementsprechend. Den ganzen Tag lang w a r -
teten er u n d seine Frau auf die H e i m k e h r ihres Sohnes. Der aber w a r
u m elf U h r abends noch nicht zu Hause. Das Ehepaar steigerte sich,
d u r c h das lange W a r t e n zermürbt, i n psychotische Vorstellungen etwa
der A r t : I h r Sohn sei durchgefallen u n d w o l l e Selbstmord begehen. Ei-
nen A n r u f bei der Schule wagten die Eltern n i c h t , weil sie fürchteten,
ihr Sohn würde sich beschweren: Seine Dinge gingen n u r i h n etwas a n .
Der eigentliche G r u n d des jungen Mannes, noch n i c h t nach Hause zu
k o m m e n , w a r t r i v i a l . M i t seinem A b i t u r j a h r g a n g w a r er i n einer Knei-
pe eingekehrt. H i e r treffen drei charakterliche Defekte zusammen: (a)
der Sohn hätte unschwer zu Hause anrufen können, (b) die Eltern stei-
gerten sich i n paranoider K o m m u n i k a t i o n i n grundlose Wahnvorstel-
lungen h i n e i n , u n d (c) der Vorgesetze hätte wissen müssen, dass solche
kritischen Situationen leichter i m Unternehmen m i t seinen ablenkenden
Pflichten bewältigt w e r d e n können als zu Hause, w o keine A b l e n k u n g
zur Verfügung steht.

Gefahr: 'i*- Ein anderer M a n a g e r sah gerade i n der Hilfsbereitschaft ein w i c h -


Besserwisserei tiges Element der personalen V e r a n t w o r t u n g . Sicher gilt das für erbe-
tene u n d r a t i o n a l begründete Formen der Hilfsbereitschaft. H i e r ent-
artete jedoch die Hilfsbereitschaft i n kurioser Weise, die selbst den
»Kleinen Prinzen« v o n St. Exupery zu Staunen bewogen hätte. ( A u f sei-
ner Reise, erzählt der kleine Prinz, habe er einen Menschen gefunden,
der bei seinem A n b l i c k voller Begeisterung ausrief: » D a k o m m t ein
Hilfloser. D e m muss ich helfen.«) Er kümmerte sich u m alles, was seine
M i t a r b e i t e r i m Unternehmen taten: Er belästigte nahezu alle m i t seinen
Hilfsangeboten, die n i c h t selten zu gut gemeinten, aber keineswegs gu-
ten Ratschläge entarteten. Er kümmerte sich weniger u m das Betriebs-
k l i m a als u m das, was der Meister an seiner Maschinen machte. D a
wusste er alles besser: Welcher H a n d g r i f f effizienter sei, w i e er m i t
seinen M i t a r b e i t e r n umzugehen habe, auf welche Schule er seine K i n -
der schicken sollte . . . D a auch gutes Z u r e d e n nicht b e w i r k t e , dass der
152 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

M a n n seine Hilfsbereitschaft a u f die reale Hilfsbedürftigkeit seiner


M i t a r b e i t e r reduzierte, galt er bald i m Unternehmen als Störgröße, die
bei nächster Gelegenheit zu entlassen sei. Der unausgesprochene G r u n d
der Entlassung w a r ein Charakterdefekt, der i h n ständig zwanghaft
Situationen w a h r n e h m e n ließ, i n denen seine H i l f e verlangt w u r d e .

Neue Mitarbeiter ^ i ^ Es gibt selbstverständlich auch Situationen, i n denen H i l f s b e r e i t -


schaft i m Unternehmen (möglichst a u f g r u n d einer tatsächlich realisier-
ten Unternehmenskultur) eingefordert w i r d . N i c h t selten begegne i c h
frisch eingestellten M i t a r b e i t e r n , bei deren A u s w a h l man sich unend-
lich viel M ü h e gemacht h a t , u m den Richtigen zu finden. E i n m a l i m
Unternehmen, kümmerte sich keiner mehr ernsthaft d a r u m , die Neuer-
w e r b u n g einzuführen. Die Neuen sind darauf verwiesen, über die Ver-
s u c h s - I r r t u m - M e t h o d e die Weisen u n d Regeln kennen zu lernen, die
das M i t e i n a n d e r - U m g e h e n und die A r t der Erledigung v o n Aufgaben
kennzeichnen. I n allen v o n m i r beratenen Unternehmen hängt eine Lis-
te m i t potentiellen Coachs aus, v o n denen sich die neu eingestellten
M i t a r b e i t e r in ihre Tätigkeit u n d die U n t e r n e h m e n s k u l t u r begleiten las-
sen. Sie erfahren, wie sie inoffiziell v o n den Kollegen u n d Vorgesetzten
gesehen w e r d e n . Sie lernen die Formen der Zusammenarbeit m i t ande-
ren, etc. D i e Hilfsbereitschaft u n d -fähigkeit eines solchen Coachings
sind sicherlich positiv zu w e r t e n . V o m Gelingen dieser etwa ein Jahr
währenden Coaching-Zeit hängt es ab, ob eine positive Selbstmotiva-
t i o n aufgebaut w i r d . Sicher ist es Aufgabe der Vorgesetzten, ein Ver-
trauensfeld aufzubauen, aber neue M i t a r b e i t e r e n t w i c k e l n sehr o f t
noch keine Antenne, u m diese ihnen zugedachten Signale r i c h t i g zu i n -
terpretieren.

Jeder gegen ' ' i " I n manchen Unternehmen ist die Hilfsbereitschaft einer Unterneh-
jeden? mensberatung zum Opfer gefallen, m i t dem nahezu ausschließlichen
Z i e l , die Kosten-Leistungsrechnung d u r c h M i n d e r u n g der Personal-
kosten zu o p t i m i e r e n . Alle sind n u r noch daran interessiert, dass m a n
ihnen möglichst n i c h t kündigt. Der M o t i v a t o r Angst t r e i b t sie dabei
m i t u n t e r - w e n n auch recht vorübergehend - zu erheblichen Leistun-
gen a n . Hilfsbereitschaft m i n d e r t die Chancen des eigenen Überlebens
i m Unternehmen. Wer sollte unter diesen Umständen noch hilfsbereit
sein? Es k o m m t darauf a n , i m H o r i z o n t innerbetrieblichen Wettbe-
werbs ein besseres Bild abzugeben. U n d da ist Helfen ebenso wett-
bewerbswidrig wie H i l f e für seinen außerbetrieblichen Wettbewerber,
seinen K o n k u r r e n t e n . D o c h darf man diesen recht verständlichen M e -
chanismus nicht verallgemeinern. Ich kenne Unternehmen, i n denen bei
»betriebsnotwendigen Entlassungen«42 auch u n d v o r allem auf die
soziale Intelligenz und die sozialen Begabungen der verbleibenden M i t -
Das Vertrauen 153

arbeitet hoher W e r t gelegt w i r d . I n diesen Unternehmen ist Charakter


kein H a n d i c a p .

Eine Hand wäscht ' i ^ »Jeder ist sich selbst der Nächste« ist sicherlich eine der Lieblings-
die andere parolen v o n Menschen, die n u r dann hilfsbereit sind, wenn es sich
l o h n t . I c h habe i m Verlauf meiner unternehmensberatenden Tätigkeit
nicht wenige Menschen kennen gelernt, die Hilfsbereitschaft n i c h t als
Tugend verstanden, sondern als Strategie, u m Karriere zu machen. Sie
waren hilfsbereit - aber ausschließlich aus Gründen der beruflichen Le-
bensökonomie. Solchen Menschen k a n n man schnell ihren defizitären
Charakters verdeutlichen. Wenn Hilfsbereitschaft nichts an A n e r k e n -
n u n g , an gutem Ruf, an sozialen Erfolgen e i n b r i n g t , w i r d sie nicht er-
heblich. So etwa i m Familienleben oder in der Gestaltung der Partner-
schaft. Solche c h a r a k t e r l i c h geschädigten Menschen sind keineswegs
selten.

Das Vertrauen

Sich selbst Vertrauen bezeichnet die feste Überzeugung v o n der Verlässlichkeit und
und anderen Zuverlässigkeit eines Menschen."*' Dieser Mensch k a n n der Vertrauen-
vertrauen de selbst sein (»Selbstvertrauen«) oder ein anderer. Die Fähigkeit zum
Vertrauen ist eine Folge des schon erwähnten Uruertrauens, das ein
Mensch i m Verlauf des ersten Lebensjahres e n t w i c k e l t . W i r d es nicht
e n t w i c k e l t , spricht man v o n Urmisstrauen. In beiden Fällen geht es also
zunächst n i c h t u m ein C h a r a k t e r m e r k m a l , sondern u m eine psychische
D i s p o s i t i o n . D o c h k a n n sich die psychische D i s p o s i t i o n des U r v e r t r a u -
ens zu dem charakterlichen M e r k m a l des Vertrauens entfalten. V e r m u t -
lich sind auch als charakterliche M e r k m a l e die Fähigkeit, sich selbst
und anderen Menschen zu vertrauen, eng miteinander v e r w o b e n . Sich
selbst vertrauend ist ein Mensch, der seinen Fähigkeiten, seinen intel-

4 2 Solche »betriebsbedingten Entlassungen« w e r d e n v o n U n t e r n e h m e n sehr unterschied-


lich g e h a n d h a b t . U n t e r n e h m e n , die - b a r aller K u l t u r - ausschließlich den U n t e r n e h -
m e n s w e r t oder den B i l a n z g e w i n n vergrößern w o l l e n (deren V o r a n t w o r t u n g s t r i i g e r sich
v o r a l l e m der V e r a n t w o r t u n g gegenüber der P r o d u k t i o n s b e d i n g u n g »Kapital« i n einer
S h a r e h o l d e r - V a l u e - I d e o l o g i e verschrieben haben), w e r d e n sehr viel früher an betriebs-
bedingte Entlassungen denken als jene U n t e r n e h m e n , die n i c h t m o n o p o l a r k a p i t a l -
o r i e n t i e r t d e n k e n , sondern auch die übrigen F a k t o r e n ( A r b e i t , U m w e l t , Mobilität,
Kreativität, U n t e r n e h m e n s k u l t u r ) einbeziehen. Ein z i e m l i c h hoher A n t e i l der hohen Er-
w e r b s l o s e n z a h l e n i n D e u t s c h l a n d ist auf m o n o p o l a r e s D e n k e n u n d H a n d e l n zurückzu-
führen. D a s aber ist ein d e u t l i c h e r D e f e k t i n der C h a r a k t e r s t r u k t u r des Entscheiders.
43 Es g i b t auch ein V e r t r a u e n in eine Sache. So k a n n m a n der Fahrtüchtigkeit oder der re-
l a t i v e n Pannensicherheit seines A u t o s v e r t r a u e n . D o c h dieses V e r t r a u e n i n eine Sache
oder die Eigenschaften einer Sache ist hier n i c h t gemeint.
154 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

lektuellen wie ciiarakterlichen, seinen physischen wie psychischen Be-


gabungen zureichend t r a u t , u m nicht n u r m i t den Gegebenheiten des
Alltags (biophil) fertig zu w e r d e n , sondern auch neue Gegebenheiten zu
schaffen, v o n denen er vermutet, dass er auch ihnen gewachsen sein
w i r d . Diese Aktivität, neue Situationen i m Vertrauen auf sein eigenes
Vermögen zu schaffen, ist ein wichtiges Element des Selbstvertrauens.
Sicherlich gibt es auch einen Charakterdefekt, der Menschen dazu
b r i n g t , i n Überschätzung ihrer eigenen Eähigkeiten u n d Eertigkeiten Si-
tuationen zu erzeugen, denen sie n i c h t gewachsen sind. M a n spricht
dann gemeinhin v o n Selbstüberschätzung.
Das Vertrauen in andere Menschen setzt sicher, w e n n es ein Charakter-
m e r k m a l sein soll, eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten
und Fertigkeiten des anderen voraus. Es ist sicher kein Zeichen v o n
Vertrauen, w e n n m a n einen Menschen m i t einer Aufgabe betraut, der
er voraussichtlich nicht gewachsen ist. Andererseits ist jedoch auch der
Fall zu bedenken, dass m a n i n der Frage nach der Vertrauenswürdigkeit
nicht allzu sehr abhängig w i r d v o m U r t e i l Dritter. Es gehört also ein ge-
sundes M a ß an einem an E r f a h r u n g geschultem Urteilsvermögen dazu,
einem Menschen zu vertrauen. Sonst k a n n das vermeintliche Vertrauen
zur Vertrauensseligkeit degenerieren.

Facetten des Das Vertrauen repräsentiert sich i n sehr verschiedenen Facetten, etwa:
Vertrauens • Das A n v e r t r a u e n eines Geheimnisses. Eine sehr intensive F o r m des
Vertrauen w i r d a k t i v i e r t , w e n n ein Mensch einem anderen ein Ge-
heimnis anvertraut. N u n gibt es sehr verschiedene A r t e n v o n Ge-
heimnissen:
- Betriebsgeheimnisse, die z. B. die A r b e i t der Forschungsabteilung be-
treffen,
- Beziehungsgeheimnisse, welche die eigenen oder fremden Beziehun-
gen zu Menschen berühren,
- Geheimnisse, welche die Eigenschaften u n d Versagen v o n Menschen
in einem sozialen System (etwa einem U n t e r n e h m e n , einer Partei, ei-
ner Kirche) beinhalten und endlich jene
- Geheimnisse, die den M i t t e i l e n d e n persönlich betreffen. Diesen letzt-
genannten Geheimnissen gilt unsere besondere A u f m e r k s a m k e i t . Die
F o r m des Vertrauens ist existentiell n o t w e n d i g , denn w i r alle benöti-
gen, u m psychisch u n d sozial gesund zu bleiben, wenigstens einen
Menschen, dem w i r unbedingt u n d ohne jede Einschränkung ver-
trauen können: Er w i r d niemals das A n v e r t r a u t e weitergeben (Ver-
schwiegenheit). Seine Einstellung zu dem, der Vertrauen erwartet,
k a n n durch nichts Anvertrautes erschüttert w e r d e n ( A c h t u n g vor der
Würde eines Menschen).
• Das Vertrauen auf Fertigkeiten u n d Begabungen.
Das Vertrauen 155

• Das Vertrauen, dass ein gegebenes W o r t (Zusagen u n d Versprechun-


gen) erfüllt w i r d .
• Das Vertrauen, das a n n i m m t , ein Mensch sei verlässlich, standhaft
u n d i n seinem M ü h e n , einen A u f t r a g zu erfüllen, ausdauernd.

Fallbeispiele

Blindes Ver- und ' i ^ Die meisten Menschen bringen anderen, w e n n sie ihnen n i c h t u n -
Misstrauen sympathisch sind, einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegen. I c h
erinnere m i c h an einen Fall, in dem ein V o r s t a n d seinem Assistenten i n
einem U m f a n g vertraute, dass er alle seine Probleme - auch die ver-
traulichen - m i t i h m besprach. Z w i s c h e n beiden baute sich ein enges
Sympathiefeld auf. Dieses zerbrach jedoch v o n einem Augenblick
auf den anderen, als der V o r s t a n d - übrigens zu Unrecht - vermutete,
sein Assistent habe ein i h m anvertrautes Geheimnis, welches ein beruf-
liches Versagen eines Kollegen betraf, weitererzählt. Das Sympathiefeld
wechselte i n ein A n t i p a t h i e f e l d , das u m so tief greifender w u r d e , als der
Assistent heftig den i h m vorgestellten Sachverhalt leugnete. Es k a m zu
einer A b m a h n u n g (einen anderen Sachverhalt betreffend) u n d endlich
zu einer Kündigung. W o lag hier der Charakterfehler? Sicherlich hätte
der V o r s t a n d n i c h t unbesehen einen solchen, n u r i n Sympathie w u r -
zelnden Vertrauensvorschuss leisten sollen, w e n n er auch in diesem Fall
durchaus gerechtfertigt war. Ferner ist ein so plötzliches Umspringen
v o n Sympathie i n A n t i p a t h i e eher ein Zeichen dafür, dass hier eine u n -
reife F o r m der Akzeptanz eines Menschen v o r l a g . Der Charakterfehler
lag zweifelsfrei beim V o r s t a n d , der sich keineswegs zureichende M ü h e
gab, den streitigen Sachverhalt aufzuklären. D a n n hätte er nämlich u n -
schwer erfahren, dass sein Kollege selbst die i h m unterlaufene Panne
erzählte. H i e r w u r d e ein Charakterfehler zu einem erheblichen H a n d i -
cap, denn der Verlust eines w e r t v o l l e n M i t a r b e i t e r s ist mehr als eine or-
ganisatorische Panne.

Fehlbesetzung ' i ^ Ein leitender M i t a r b e i t e r eines Unternehmens hatte sich i m Bereich


der P r o d u k t i o n als Führungskraft m i t personaler V e r a n t w o r t u n g sehr
bewährt. D e r V o r s t a n d des Unternehmens hielt i h n für geeignet, die
V e r a n t w o r t u n g für eine Sparte der v o m Unternehmen hergestellten
P r o d u k t e zu übernehmen. D e r neuen A r t der V e r a n t w o r t u n g w a r er
jedoch k a u m gewachsen. So w a r er der M e i n u n g , er müsse i n einer
bislang v o n i h m nie e n t w i c k e l t e n Genauigkeit n i c h t n u r Prozessabläu-
fe, sondern auch die Zuverlässigkeit der wichtigsten M i t a r b e i t e r i n der
A r b e i t s v o r b e r e i t u n g u n d -durchführung überprüfen. Dabei mischte er
sich i n bewährte Planungen u n d Abläufe ein - nicht etwa i m Sinne eines
156 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Reengineering seiner Sparte w i l l e n , sondern m i t dem Vorsatz, die beste-


henden Abläufe zu verbessern. Er betraute M i t a r b e i t e r m i t A u f g a b e n ,
die ihnen weder lagen noch für die sie sonderlich geeignet w a r e n . A n -
deren w i e d e r u m entzog er Kompetenzen, i n d e m er ihren V e r a n t w o r -
tungsbereich neu definierte u n d dabei beschnitt. Innerhalb eines halben
Jahres w a r das Spartenklima - sicherlich auch durch N e i d r e a k t i o n e n
von anderen Spartenmitgliedern, die sich übergangen fühlten, verur-
sacht - total vergiftet. D i e Interaktionskosten44 wuchsen s i g n i f i k a n t
an. Es blieb dem V o r s t a n d nichts anderes übrig, als dem erfolglosen
Spartenchef - übrigens m i t dessen Z u s t i m m u n g - eine andere, schlech-
ter honorierte Position in der Qualitätskontrolle zu übertragen. - H i e r
lag der Vertrauensfehler zweifelsfrei an erster Stelle beim V o r s t a n d . Ein
M e n s c h , der sich i n einer Position bewährt, ist lange noch nicht geeig-
net, eine andere m i t anderen Aufgaben u n d v o r allem m i t anderen
M i t a r b e i t e r n zu übernehmen. H i e r verbindet sich Vertrauen m i t m a n -
gelnder Weisheit. Ein Vertrauensfehler liegt jedoch auch bei dem M i t -
arbeiter, dessen Selbstvertrauen offenbar so geschönt war, dass er sich
der neuen Aufgabe gewachsen fühlte. A u f beiden Seiten können w i r ei-
nen Charakterfehler erkennen: Das Vertrauen des Vorgesetzten w a r
b l i n d , d . h . n i c h t v o n Weisheit geführt. Das Selbstvertrauen des Spar-
tenleiters w a r unrealistisch, auch w e n n es seinem Selbstkonstrukt ent-
sprochen haben mag.

Geheimnisverrat ' i ^ Besonders schwer k a n n die Vertrauensfähigkeit eines Menschen be-


schädigt werden, w e n n jemand, dem er persönliche Geheimnisse anver-
traute, diese w e i t e r g i b t oder auch n u r zur Grundlage seiner eigenen, für
den Vertrauenden schädlichen Entscheidungen macht. I c h erinnere
mich hier eines Vorstandes, der ein Geheimnis i n einer Aufsichtsratssit-
zung (zu der i n aller Regel die M i t g l i e d e r des Vorstands eingeladen
w u r d e n ) i n Abwesenheit des Vertrauenden weitergab. E i n Vorstands-
kollege hatte i h m , i m Vertrauen auf die gemeinsame Freundschaft, m i t -
geteilt, er sei H I V - p o s i t i v . Dieser V e r t r a u e n b r u c h hatte verheerende
Konsequenzen. N i c h t allein w u r d e der Vertrag des M i t v o r s t a n d e s n i c h t
mehr verlängert, sondern auch die Vertrauensfähigkeit des Verratenen
l i t t so erheblich, dass er sein Misstrauen nahezu allen Menschen ge-
genüber k u l t i v i e r t e . Erst eine längere gesprächstherapeutische Beglei-
t u n g konnte i h n dahin führen, wenigstens i n seinem Therapeuten einen
Menschen seines unbedingten Vertrauens zu sehen. Dass Vertrauens-
missbrauch zum eigenen N u t z e n i n manchen Kreisen häufig v o r k o m m t ,

44 Diese K o s t e n p o s i t i o n o p e r a t i o n a l i s i e r e n w i r i n m e i n e i n I n s t i t u t , i n d e m w i r (a) die K o -


sten für Fehlzeiten, (b) die K o s t e n für A u s s c h u s s p r o d u k t i o n u n d (c) die Kosten für i n n e -
re oder äußere unerwünschte Kündigungen v o n M i t a r b e i t e r n ( u n d andere M i g r a t i o n s -
kosten) e r m i t t e l n .
Das V e r t r a u e n 157

zeigt n u r die Uni<ultur dieser Kreise, in denen man meist niclits anderes
mehr schätzt als die Sicherung der eigenen Karriere. Andererseits kann
auch ein Charakterfehler beim Vertrauenden nicht ausgeschlossen wer-
den. Freundschaften auf der Vorstandsebene sind stets problematisch,
weil manche Menschen, n u r u m eine Vertragsverlängerung zu errei-
chen, zu jedem Verrat bereit sind.

Voreiliges ' i ^ M a n c h e Menschen geben i h r W o r t i n Situationen, die sie nicht


Versprechen überschauen. Der Leiter der A b t e i l u n g Forschung & E n t w i c k l u n g eines
größeren Unternehmens versicherte, ein geplantes Projekt werde i n
zwei M o n a t e n so w e i t e n t w i c k e l t sein, dass man entscheiden könne, o b
es in die P r o d u k t i o n gehen solle oder n i c h t . Die A b t e i l u n g P r o d u k t i o n s -
p l a n u n g & P r o d u k t i o n richtete sich auf diesen T e r m i n ein. D a das Pro-
jekt jedoch zu diesem Z e i t p u n k t keineswegs abgeschlossen war, son-
dern mehr als drei M o n a t e länger i m Bereich E n t w i c k l u n g zubrachte,
entstand dem Unternehmen durch die Selhst-Fehleinschätzung des A b -
teilungsleiters F & E ein erheblicher Schaden. Die Folgen w a r e n drama-
tisch: D e r Abteilungsleiter, der bislang für seine Zuverlässigkeit sehr
geschätzt w u r d e , erhielt - o b w o h l sich selbst v o n seiner wissenschaftli-
chen A r b e i t her definierend - eine andere Position in der Qualitätskon-
t r o l l e . D a er sich hier t o t a l u n t e r f o r d e r t fühlte, wechselte er bald darauf
das U n t e r n e h m e n . A u c h dieser Fall macht deutlich, dass c h a r a k t e r l i -
ches Versagen o f t beide einander streitig gegenüberstehende Personen
oder Parteien b e t r i f f t . Der Abteilungsleiter erkannte nicht die Grenzen
der Leistungsfähigkeit seiner A b t e i l u n g , Der i h n versetzende Vorstand
schioss aus einem einzigen, w e n n auch recht kostspieligen Fehler, der
Abteilungsleiter sei unfähig, die i h m anvertraute A b t e i l u n g zu führen.

Jasager ' i ^ Ein M a n n i n den besten Jahren, der s o w o h l i n seiner privaten wie
beruflichen U m w e l t sehr geschätzt w u r d e , passte sich der jeweiligen
sozialen Situation u n d den allgemeinen, hier geltenden Vorurteilen an.
Alles, was er sagte, stand also unter dem Vorbehalt der allgemeinen
Akzeptanz. Die Fähigkeit u n d Bereitschaft, die eigenen Überzeugungen
nur dann zu wechseln, wenn der Wechsel v o n außen her angezeigt war,
waren stark e n t w i c k e l t , u n d dank der Fähigkeit, den Z u s t a n d sozialer
Passung i n s t i n k t i v zutreffend zu bewerten, wurde der M a n n für jeder-
mann ein pflegeleichter Partner. Dass auch hier ein Charakterfehler das
Verhalten bestimmte, ist offensichtlich. Aber der Fehler führte zu E r f o l -
gen. Es gibt also soziale Situationen, i n denen die Charakterlosigkeit
kein H a n d i c a p ist. Diese Schnittstellen zwischen einer Person u n d ei-
nem System lassen o f t auf die i m System erheblichen und dieses System
definierenden S t r u k t u r m e r k m a l e schließen.
158 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Sportler- ^i^ Die Kameradschaftlichkeit k a n n auf der Basis v o n gegenseitigem


kameradschaft Vertrauen zwischen zwei Menschen eine Beziehung entstehen lassen,
die ausgesprochen b i o p h i l ist. H i e r seien n u r Bergkameraden, Taucher-
gruppen oder auch Soldaten i m Fronteinsatz erwähnt. I c h möchte
Ihnen ein selbst erlebtes Beispiel für solche Kameradschaftlichkeit be-
richten, bei der die Partner bereit sind, sich selbst i n Gefahr zu bringen.
Während eines Tauchgangs auf den M a l e d i v e n w a r die Gruppe i m Ver-
trauen auf die Kenntnis des Revierverhältnisse m i t einem 3-Punkte-
Taucher zum H a u s r i f f abgetaucht. Plötzlich setzte eine i m V a d o o k a n a l
nicht unbedingt häufige, starke Top-down-Strömung ein. U m die M a s -
ke n i c h t zu verlieren, musste man genau gegen die Strömung b l i c k e n .
Der Führer des Tauchgangs ließ sich v o n der für die meisten Taucher
u n g e w o h n t starken Strömung i n aller Ruhe m i t t r e i b e n . A n der Ober-
fläche bei Beachtung der erlaubten Auftauchgeschwindigkeit durch die
entgegengesetzte Down-Top-Strömung angekommen, konnte diese
Gruppe teils schnorchelnd, teils dicht unter der Wasseroberfläche t a u -
chend das sichere Ufer erreichen. N u r einer der Taucher versuchte m i t
erheblichen Luftreserven ein A u f t a u c h e n gegen die Strömung. Als er
das R i f f erreichte (Tiefe ca. 25 m ) , zeigte sein Barometer noch 30 bar
an. Er kletterte a m R i f f hoch u n d erreichte die sichere Oberfläche m i t
2 bar D r u c k auf seiner Pressluftflasche. Was w a r geschehen? Beide, die
Gruppe und der Einzeltaucher, brachten sich i n Lebensgefahr, u m die
Übrigen zu retten. Der allein Auftauchende hätte unschwer eine Suche
nach den Abtreibenden starten lassen k t m n e n . Ebenso hätte die Gruppe
- die zuerst wieder festen Boden unter den Füßen hatte - veranlassen
können, dass ein Hilfstaucher am R i f f abstieg, u m den Einzelnen m i t ei-
ner gefüllten Preßluftflasche zu versorgen. Der Kameradschaftlichkeit
stiftende Charakter beider w a r durchaus b i o p h i l .

Teamwork 'i' In Unternehmen ist wechselseitiges Vertrauen auf der gleichen Füh-
rungsebene eher selten anzutreffen. Bedeutet doch »Kameradschaft«
die Bereitschaft, sich für den anderen u n d sein Schicksal v e r a n t w o r t l i c h
zu wissen, u n d das bei vergleichsweise w e n i g emotionaler B i n d u n g
(etwa i m Gegensatz zur Freundschaft, bei der die B i n d u n g stärker u n d
die Bereitschaft, selbst sein Leben für den anderen einzusetzen, deutlich
geringer ist). Was bedeutet das für die alltägliche Praxis? Vor allem i m
T e a m w o r k , welches das Z i e l hat, durch M i n d e r u n g v o n Täuschungen
u n d Irrtümern eine optimale Lösung einer gestellten Aufgabe zu finden,
ist die Kameradschaftlichkeit die beste Voraussetzung, das erwünschte
Z i e l zu erreichen. In gut f u n k t i o n i e r e n d e n Teams ist die Bereitschaft,
eigene Interessen zurückzustellen, besser e n t w i c k e l t als die d u r c h per-
sonale Bindungen (Freundschaft, Liebe) bestimmte soziale Einheit. Die
Teamfähigkeit k o r r e l i e r t s i g n i f i k a n t m i t der Fähigkeit, ein kamerad-
Die Realisierung von Idealen in Werten 159

schaftliches Verhältnis miteinander aufzubauen. Dieser Sachverhalt


w i r d i n den wenigsten Unternehmen ernst genommen. Die hier zusam-
mengestellten »Teams« werden nach fachlicher Kompetenz zusammen-
gestellt. Dabei handelt es sich - i n der Sprache der Soziologie - in aller
Regel u m Primärgruppen, denen die O p t i m i e r u n g der Zielvorgabe we-
niger w i c h t i g ist als Herrschaftseigenschaften (Sich-Durchsetzen, Recht
behalten, das eigene C l a i m sichern . . . ) . D a m i t w i r d Teamarbeit unmög-
l i c h . Dass m a n Menschen, die zwar g r u p p e n - , aber nicht teamfähig
sind, zusammenstellt, ist einer der wichtigsten Führungsfehler der Ge-
g e n w a r t . Ein Team ist als soziales System o p t i m a l gesichert, solange je-
des M i t g l i e d darauf v e r t r a u t , dass die anderen sich jeder dogmatischen
Problemlösung verweigern.

Partnerproblem ' i ^ Sehr o f t w i r d mangelndes Vertrauen in privaten Partnerschaften


Misstrauen z u m Anzeichen für deren Ende. Der A u f b a u v o n Vertrauensfeldern ist
eine w i c h t i g e Voraussetzung für eine biophil-gelingende Partnerschaft.
N i c h t selten tauchen i n meinen Sprechstunden Paare auf, zwischen
denen das Vertrauensverhältnis massiv gestört ist. V o r allem die Eifer-
sucht ist der ärgste Feind jedes Vertrauens u n d jeder auf Vertrauen
aufbauenden Liebe (eine andere dürfte es k a u m geben). I n der Partner-
schaftstherapie w i r d sehr o f t der A u f b a u eines Vertrauensfeldes w i c h t i -
ger sein als jede Beschwörung ehelicher Treue. Das C h a r a k t e r m e r k m a l
»Vertrauen« ist offensichtliche Voraussetzung einer gelingenden Part-
nerschaft, in der beide Partner sich sozial u n d e m o t i o n a l weiter entfal-
ten. Charakter ist hier alles andere als ein H a n d i c a p .

Die Realisierung von Idealen in Werten

Ein M e n s c h , der versucht, sich an der B i o p h i l i e - M a x i m e zu orientieren,


findet d a d u r c h zu Idealen, die diese M a x i m e i n seiner alltäglichen Welt
ausformen. Ideale"*-^ bestimmen das Selbstkonstrukt der meisten M e n -
schen u n d vieler sozialer Systeme. Ideale sind also (oft n i c h t erreichba-
re) Ziele, an denen es sich so zu orientieren gilt, als seien sie erreichbar.
W i r unterscheiden drei Typen v o n Idealen.

4.5 Heute s p r i c l i t m a n w e n i g e r v o n Idealen als v o n » V i s i o n e n « . Dieser zunächst religiöse


T e r m i n u s w u r d e p r o f a n i s i e r t , ohne z u bedenken, dass »Visionen« i m Profanen nichts
anderes bedeuten als » H a l l u z i n a t i o n e n « . N i m d a r f m a n w e d e r einem Menschen noch
einem U n t e r n e h m e n oder einer Partei das Recht absprechen, sich v o n H a l l u z i n a t i o n e n in
ihrer O r i e n t i e r u n g für die Z u k u n f t leiten zu lassen. D o c h g i l t es i m m e r auch zu beden-
k e n , dass solche H a l l u z i n a t i o n e n realitätsabgelöst u n d i n s o w e i t neur^)tisch s i n d .
160 II. Das Leben aus erster H a n d - 2. Die sekundären T u g e n d e n

Soziale Ideale • Die sozialen Ideale. D a z u gehören:


- Die Hilfsbereitschaft.
- Der praktisch gemachte W i l l e , die Würde u n d die Freiheit des ande-
ren nicht zu m i n d e r n . Das setzt jedoch das Wissen um die Bedeutung
v o n Würde u n d Freiheit voraus.
- Die Bereitschaft, den Faktor Arbeit vor den Faktor Kapital zu stel-
len. Sicherlich gilt es das betriebsnotwendige K a p i t a l »gerecht« zu
bedienen, doch darf dabei niemals der gerechte Lohn'**' vergessen
werden.
- Die aktive Teilnahme am politischen Leben. Es gibt so viele Bürger,
welche die jeweils k o n k r e t e P o l i t i k , die i n den Gebietskörperschaf-
ten geschieht, m i t o f t bösartigen W o r t e n und W i t z e n zu erledigen
und als schlecht zu denunzieren versuchen. I c h vermute, dass das
Recht zu solchem Urteilen n u r Menschen zusteht, die selbst bereit
sind, politisch tätig zu w e r d e n .
- Die Fähigkeit u n d Bereitschaft, Vertrauensfelder aufzubauen.
- Die Gerechtigkeit.
- Die Verlässlichkeit.

Personale Ideale • Die personalen Ideale wie


- Die Selbsterkenntnis, verstanden als die Fähigkeit und Bereitschaft,
sein Selbstbild (Selbstkonstrukt) ständiger Überprüfung zu unterstel-
len, u m herauszufinden, ob es m i t dem realen Selbst wenigstens ent-
fernte Ähnlichkeiten aufweist. Den Griechen des A l t e r t u m s galt die
Selbsterkenntnis als wichtigstes religiöses u n d philosophisches Z i e l .
Deshalb schrieben sie über das Portal des A p o l l o - T e m p e l zu D e l p h i
das gnothi sauton (= erkenne dich selbst!). In der Tat ist ein gewisses
Maß an Selbsterkenntnis notwendig, u m die beiden folgenden
Selbst-Tugenden möglich zu machen.
- D i e Selbstannahme, verstanden als die Fähigkeit und Bereitschaft,
sich selbst m i t seinen Fähigkeiten und Begabungen samt deren Gren-
zen zu akzeptieren. Diese Fähigkeit macht es möglich, auch andere
Menschen i n ihrem So-Sein (also auch i n i h r e m Anders-Sein) zu ak-
zeptieren, solange dieses Anders-Sein nicht den N o r m e n der Sittlich-

46 Über das T h e m a , w e l c h e r L o h n denn n u n gerecht sei, ist inzwischen seit über 100 Jahren
gestritten w o r d e n . Tatsächlich g i b t es kein objektives K r i t e r i u m , sondern allenfalls das
subjektive, nach dem der L o h n so zu bemessen ist, dass die lohnabhängige A r b e i t einer
Familie erm<)glicht, ihre physischen (Fssen, T r i n k e n , W o h n e n ) , sozialen (Pflege v o n
Freundschaften, Besuche bei V e r w a n d t e n , B i l d i m g der eigenen K m d e r j , aber auch k u l t u -
rellen (Lesen, Fernsehen, K o n z e r t b o r e n . . . ) Bedürfnisse z u befriedigen. U m d e n n o c h
den Versuch zu w a g e n , den Begriff »gerechter L o h n « zu sich u n d zur Sprache zu b r i n -
gen, sei er hier e i n m a l v o n seinem M i n n n u m her d e f i n i e r t : Gerecht sei der N e t t o l o h n ,
der die Kosten der Sozialhilfe i n allen ihren M a ß n a h m e n u m wenigstens .50 % über-
steigt.
Die Realisierung von Idealen in Werten 161

keit w i d e r s p r i c h t . Die Selbstannahme ist die entscheidende Voraus-


setzung jeder personalen Toleranz, die den anderen Menschen ak-
zeptiert, solange sein H a n d e l n n i c h t sozialunverträglich ist. Die per-
sonale Toleranz ist also n i c h t identisch m i t der M e i n u n g s t o l e r a n z ,
die eine fremde M e i n u n g als der eigenen gleichberechtigt akzeptiert,
solange sie n i c h t zu sozialunverträglichem Verhalten führt. Die heu-
te i n der E U so verbreitete Unfähigkeit, das Anders-Sein des anderen
(etwa mancher Türken oder Polen) zu akzeptieren, w i r f t ein Schlag-
licht a u f die Unfähigkeit der vielen, sich u m Selbsterkenntnis zu
mühen.
- D i e S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g , verstanden als die Eähigkeit u n d Bereit-
schaft, die eigenen b i o p h i l e n Möglichkeiten u n d Eertigkeiten zu ei-
genem u n d f r e m d e m N u t z e n zu mehren. Selbstverwirklichung k a n n
sich niemals gegen andere Menschen r i c h t e n , w i e es die »Selbstver-
wirklichungswelle«, die i n den 70er Jahren v o n den USA auch a u f
die B R D überschwappte, behauptete. Selbstverwirklichung i m p l i -
ziert i m m e r auch die Fähigkeit u n d Bereitschaft, den fremden N u t -
zen zu m e h r e n , vielleicht gar das Selbstverwirklichungsmühen ande-
rer zu unterstützen.

Transzendente • Die transzendenten Ideale. Diese Ideale sollen transzendent heißen,


Ideale w e i l sie alle unsere menschlichen Erkenntnisgrenzen u n d Sprach-
grenzen überschreiten.47 M a n c h e Menschen v e r m u t e n , dass es jen-
seits unserer Erkenntnis- u n d Sprachmöglichkeiten nichts geben
k ö n n e . Diese A n n a h m e ist g r u n d f a l s c h . D e n n w i r leben m i t Bildern
v o n uns selbst, v o n anderen Menschen u n d v o n den Beziehungen
zwischen Menschen. Diese Bilder sind K o n s t r u k t e , d . h . keine A b b i l -
der einer erkenntnisunabhängigen Realität. A u c h w e n n w i r spre-
chen, bleiben w i r i n dem genannten Sachverhaltsbereich u n d gelan-
gen n i c h t über die Grenzen unseres Erkennens hinaus - es sei denn,
w i r lösen uns bewusst oder unbewusst v o n den Wirklichkeitsgrenzen
(etwa i n der Phantasie, i n W a h n v o r s t e l l u n g e n , i m T r a u m ) . Was aber
für alle k o n k r e t e n Bereiche des Menschlichen g i l t , gilt auch für eini-
ge seiner Ideale.
Ideale sind d a n n transzendent, w e n n w i r sie weder d u r c h unsere Er-
kenntnis n o c h d u r c h unsere Sprache adäquat einholen können, o b -
w o h l sie unser H a n d e l n m i t b e s t i m m e n . Was sind solche »Ideale«?
H i e r ist a n erster Stelle das Göttliche zu nennen. Es orientiert - we-
nigstens gelegentlich - das Verhalten u n d H a n d e l n jedes Menschen,

4 7 W i r f o l g e n tiier L u d w i g W i t t g e n s t e i n . Er schreibt i n seinem T r a c t a t u s l o g i c o - p h i l o s o p h i -


cus: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner W e l t « (5.6). »Es g i b t
allerdings Unaussprechliches. Dieses zeigt sich, es ist das M y s t i s c h e « ( 6 . 5 2 2 ) .
162 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

der religiös gebildet w o r d e n ist, unabhängig d a v o n , ob er sich (das


heißt: sein K o n s t r u k t v o n sich selbst) als theistisch oder atheistisch
orientiert zu verstehen versucht. A b e r es »gibt« auch eine Reihe
w e l t i m m a n e n t e r u n d erkenntnistranszendenter handlungsorientie-
render Ideale. Das können sein: die Menschheit, die Geschichte, die
V e r a n t w o r t u n g für die reale W e l t , die Liebe, soziale Systeme ...

Ideale zu haben ist i m m e r h i n ein erster Schritt. Sie aber auch zu leben
bringt Ideale erst zur Realität u n d d a m i t zu sich. Dieser Weg v o m M e i -
nen z u m Sein gelingt vielen Menschen n i c h t , denn er ist steinig. I h n zu
gehen f o r d e r t viel Tapferkeit u n d Redlichkeit ein. Es gibt viele M e n -
schen, die ganz besonders hehre Ideale ausmachten u n d ihre eigene
Existenz in einer A r t w a h n h a f t e r V e r k e n n u n g v o n Realität v o n diesen
nicht-realisierten Idealen her definieren (bzw. die Ideale als wesentliche
Elemente ihres Selbstkonstruktes betrachten). Das D e n k e n v o n Idealen
k a n n wie das Zusprechen v o n Idealen bedeuten, dass ich sie i n Sprache
eingekerkert habe, w o sie m i c h n i c h t mehr belästigen. K h a l i G i b r a n
fasste diesen Mechanismus, Ideale i n W o r t e einzusperren, u m sie n i c h t
leben zu müssen, i n die bekannten W o r t e : »Jeden Gedanken, den ich i n
Sprache eingekerkert habe, muss ich d u r c h meine Taten befreien! « 4 8
Ideale sind niemals real v o r h a n d e n . Ihre Welt sind die virtuellen Berei-
che des Denkens, des Erdenkens. Sie haben also K o n s t r u k t c h a r a k t e r .
Sie erreichen n u r dann die handlungsleitende So-Seins-Sphäre, w e n n sie
sich als Werte i n personalem H a n d e l n oder systemischem Entscheiden
vorstellen. Werte an sich gibt es n i c h t als Besitz, sondern n u r als Q u a -
litäten v o n H a n d e l n , Entscheiden, Unterlassen. Erst i n der Umsetzung
des idealen Gedankens i n wertbestimmte Taten erweist sich die ethische
O r i e n t i e r u n g eines Menschen oder eines Unternehmens, einer O r g a n i -
sation, etc. Die Verwechslung des K o n s t r u k t c h a r a k t e r s v o n Idealen m i t
Werten ist der häufigste G r u n d für das Fehlen einer Unternehmenskul-
tur. Die schweigenden Ideale u n d die passive Z u o r d n u n g v o n Werten
führen häufig zu einer »Unternehmenskultur«, die ausschließlich i n
Kunstdruckbroschüren i h r meist ungelesenes Dasein fristet.

Falibelsplele

Jugendkult ^i^ Es gibt i n unserem K u l t u r k r e i s das Ideal Jugend. Seine Quelle ist
ebenso schwer zur erschließen wie das Ideal Alter i m K o n f u z i a n i s m u s .
H i n t e r beiden Idealbildern stecken Elemente, die sich der Vordergrün-

48 Z . K h a l i G i b r a n (" 6. 12. 1883 i n Bsherri i m L i b a n o n , + 10. 4 . 1 9 3 1 i n N e w Y o r k ) ist


ein i n E u r o p a leider k a u m bekannter D i c h t e r u n d IVlaler.
Die Realisierung von Idealen in Werten 163

digkeit, der v o n uns i n ihrem So-Sein k u k u r s p e z i f i s c h konstruierten


Weh, n i c h t r a t i o n a l erklären lassen. Sie gründen i n den Bereichen des
»fühlenden W a h r n e h m e n s « , die erkenntnistranszendent sind. Ähnlich
wie früher dem K u l t des Göttlichen, so h u l d i g t man heute i n unserem
K u l t u r k r e i s dem K u l t der Jugend. Gemeint ist hier natürlich nicht das
einfache F a k t u m des Jungseins, sondern das Jungsein muss sich m i t
Elementen v e r b i n d e n , wie kreativ, belastbar, gesund, nach vorne schau-
end, veränderungsfreudig u n d anpassungsfähig. I n einem v o n m i r bera-
tenen Unternehmen erzählte m i r der für das Personalwesen Verant-
w o r t l i c h e , w i e er ältere M i t a r b e i t e r (das sind M i t a r b e i t e r ab 49) durch
jüngere ablöste. Er konstruierte für eine bestimmte Stelle ein P r o f i l , i n
das der bisherige Stelleninhaber n i c h t hineinpasste. Die Differenz w a r
so erheblich, dass selbst der Betriebsrat, ohne zu zögern, der Entlassung
zustimmte. Die Position w u r d e i n n e r h a l b weniger Wochen v o n einem
jungen M a n n besetzt, der gerade v o n der Universität k a m u n d v o m
F u n k t i o n i e r e n eines realen Prinzips auch n i c h t die geringste A h n u n g
hatte. O b w o h l er v o m scheidenden Stelleninhaber, so gut der es eben
vermochte, eingearbeitet w u r d e , zeigte sich b a l d , dass er i n keiner W e i -
se das fachliche u n d soziale Wissen u n d Können seines Vorgängers hat-
te. D a sich die Personalabteilung mancher Unternehmen niemals i r r t ,
behielt der junge M a n n gegen den offenen W i d e r s t a n d seiner Kollegen
u n d M i t a r b e i t e r die Stellung so lange, bis es beim besten W i l l e n nicht
mehr möglich w a r zu leugnen, dass es sich u m eine Fehlbesetzung han-
delte. Seine Stelle w u r d e m i t einem Endvierziger besetzt. Der junge M i t -
arbeiter w u r d e i m F i n a n z c o n t r o l l i n g sozialunschädlich untergebracht.
I n diesem Fall lag der Charakterdefekt i n der Unfähigkeit des Personal-
V e r a n t w o r t l i c h e n begründet, nicht strategische, sondern an den be-
trieblichen N o t w e n d i g k e i t e n orientierte Personalpolitik zu machen.

Diskrepanz ' i ^ Ein M a n a g e m e n t - T r a i n e r verkündete während seiner Kurse recht


Leben - Lehre hohe Ideale. So lehrte er (insofern zutreffend) etwa, dass i n unterneh-
menserheblichen Entscheidungen n u r eine sittliche V e r a n t w o r t u n g
neben der ökonomischen erlaube, eine Unternehmensphilosophie zu
e n t w i c k e l n . N u n ist jede Unternehmensphilosophie ein Ideal, das sich
selten rein v e r w i r k l i c h e n lässt. Es bedarf vielmehr der Einsicht, dass die
ideale Z i e l v o r g a b e i m Realen n u r i n langsamer Annäherung u n d auch
dann noch u n v o l l k o m m e n erreicht w i r d . Die normative Kraft des Fak-
tischen k a n n so erheblich w e r d e n , dass es unmöglich w i r d , irgendwel-
che sittlichen Ansprüche ausdrücklich zu realisieren. Aber das ist nicht
der primäre G r u n d , diese Geschichte zu berichten. Das eigentliche
Problem w a r der Trainer, der zwar hohe Ideale u n d diese recht glaub-
würdig lehrte, aber sie i n seiner Lebenspraxis weder lebte noch zu leben
versuchte. Seine Lehre w u r d e n i c h t v o n i h m gelebt, sondern w u r d e zur
164 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

gut sprudelnden finanziellen Quelle. H i e r liegt das Charakterdefizit i n


der Unfähigkeit, Lehre u n d Leben einander anzupassen.

Allmachtswahn ' i ' Es gibt nicht wenige Menschen, die d a v o n überzeugt sind, dass es
der Technik »über« ihnen keine Instanzen gibt, die ihnen Lebensorientierung ver-
m i t t e l n . Der A l l m a c h t s w a h n der Technik führte zu einem personalen
A l l m a c h t s w a h n , dem jeder Mensch z w i n g e n d verfallen muss, der keine
über i h m gebietende u n d N o r m e n gebende Instanz anerkennt. I n die-
sem Fall bleibt i h m nichts anderes übrig, als sich selbst an die Stelle des
»höchsten Wesens« z u setzen. N i c h t wenige erfolgreiche Unterneh-
menssanierer sind diesem W a h n verfallen. Wer daran zu rühren w a g t ,
verfällt dem V e r d i k t der Unfähigkeit oder der Aufsässigkeit. Einer der
bekanntesten deutschen Sanierer v e r t r i t t ebenso eigentümliche wie be-
triebswirtschaftlich problematische M e i n u n g e n . H i e r h i n gehören etwa:
• Ein Unternehmen sollte sich auf die Herstellung v o n P r o d u k t e n be-
schränken, die i n den eigentlichen Kernbereich seiner P r o d u k t i o n
gehören. A n die Stelle solcher Konzepte sollte unbedingt eine Pro-
zesskostenanalyse treten, die es erlaubt, den eventuell abzustoßen-
den Produktbereich i n seiner Bedeutung für die betriebliche Wert-
schöpfung auszumachen. Erst dann k a n n eine T r e n n u n g v o n diesem
Produktionsbereich (Schließen, V e r k a u f e n , Ausgliedern) als r a t i o n a l
und ökonomisch vernünftig vertreten werden.
• E i n Unternehmen solle an erster Stelle die Kosten-Leistungsrechnung
d u r c h M i n d e r u n g der Arbeitskosten (das bedeutet i n aller Regel
»betriebsnotwendige Entlassungen«) v o r dem A n s p r u c h der O p t i -
m i e r u n g des Shareholder Value verbessern. A u c h hier liegt ein Fehl-
schluss vor, denn die Kostenleistungsrechnung k a n n - w e n n auch
meist etwas aufwändiger als die Einsparung v o n Personalkosten -
durchaus o p t i m i e r t werden, w e n n es gelingt, die »Leistung« (die
Wertschöpfung) durch Veränderung der Unternehmensstruktur,
d u r c h Umbesetzungen, d u r c h Schaffung einer effizienten Unterneh-
menskultur zu verbessern.
Offensichtlich liegen i n der Persönlichkeit vor allem der i m Unterneh-
men strategisch Führenden charakterliche Defizite vor, w e n n sie i h r
H a n d e l n u n d Entscheiden hauptsächlich v o n der n o r m a t i v e n K r a f t des
Faktischen u n d nicht auch v o n Idealen abhängig machen, die i n Werte
übersetzt w u r d e n . Der Verlust v o n kreativem Denken u n d I n n o v a t i o n s -
freudigkeit ist i n aller Regel eine unausweichliche Konsequenz des rei-
nen Kosten-Minderungs-Denkens.

Unternehmens- ' i " ' Häufig gelingt es Unternehmen n i c h t , v o n den i n virtuellen Welten
Leitlinien siedelnden Idealen der Unternehmensphilosophie i n die realen, system-
stiftenden Werte der U n t e r n e h m e n s k u l t u r u n d d a m i t der realisierten
Die Treue 165

Formen des menschlichen M i t e i n a n d e r s zu gelangen. D i e Menge der


missgebildeten U n t e r n e h m e n , i n denen dieses Versagen v o r k o m m t , geht
in die L e g i o n . A n einem Beispiel möchte ich das Gemeinte verdeutli-
chen: I c h beriet einmal ein Unternehmen, das sich m i t besonderem
Stolz einer i n einer Flochglanzbroschüre vorgestellten Leitlinie ver-
pflichtet fühlte. Über die Ergebnisse der Untersuchung habe ich schon
auf S. 144/145 berichtet. Das Fazit w a r : D i e Ideale w u r d e n nicht i n
Werte übersetzt. U n d w e n n , d a n n w a r e n diese Werte nicht handlungs-
leitend. Flugo T s c h i r k y ließ sich v o n großen schweizerischen Unterneh-
men die Führungsgrundsätze zusenden, die sich meist i r g e n d w o i n
Unternehmensleitlinien oder auch i n anderen Darstellungen des Unter-
nehmens versteckten u n d n u r gelegentlich eigens f o r m u l i e r t w u r d e n .
W o es u m die das Unternehmen bestimmenden Ideale ging, standen
auch da gewöhnlich Sätze w i e »Unsere M i t a r b e i t e r sind unsere w i c h t i g -
ste Ressource, u n d deshalb w i r d bei uns k o o p e r a t i v (oder ähnlich) ge-
führt.« Eine Befragung i n einigen zufällig ausgewählten Unternehmen
ergab ein typisches Resultat: Der tatsächliche Führungsstil orientierte
sich n i c h t an den Führungsleitsätzen, sondern an der fachlichen u n d
sozialen Begabung der M i t a r b e i t e r u n d der Führungskräfte. W o liegt
hier ein charakterliches Versagen? Sicher z u m einen i n der V e r m u t u n g ,
dass ein erheblicher Teil der M i t a r b e i t e r diese Leitsätze überhaupt zur
Kenntnis genommen hatte. U n d z u m anderen d a r i n , dass eine Füh-
rungspersönlichkeit so führt, wie es ihren u n d der M i t a r b e i t e r sozialen
u n d fachlichen Begabungen entspricht, die v o r dem A n s p r u c h einer
Problemlösung erheblich w u r d e n .

Die Treue

Der Mensch will Die Treue k a n n mancherlei Objekte haben. M a n k a n n seinem Freund,
dazugehören seinem Partner, seinem U n t e r n e h m e n , seiner Partei, seiner Kirche, ei-
nem Versprechen u n d schließlich auch sich selbst treu sein. Ein Mensch
ist t r e u , w e n n er verlässlich u n d beständig die B i n d u n g an seine Treue-
Objekte i n seinem H a n d e l n , seinem Entscheiden, seinem Unterlassen
realisiert. Dabei ist w i e d e r u m zu beachten, dass Treue zwar i m Selbst-
k o n s t r u k t eines Menschen eine erhebliche Rolle spielen k a n n . D o c h
diese A r t abstrakter Treue ist hier n i c h t gemeint. Treue ereignet sich in
I n t e r a k t i o n e n zwischen Menschen. Treue verlangt nicht selten eine reife
F o r m der Internalisierung des Treueobjekts (s. S. 166), die keineswegs
die Regel zwischenmenschlichen Verhaltens ist. Treue k a n n durchaus
eine opferbereite u n d auf das Verzichten ausgerichtete Einstellung sein
(darin ähnlich der Freundschaft und der Liebe), die manche Menschen
nicht bereit sind, a u f z u b r i n g e n . Treue verbalisiert sich i n Zugehörig-
166 I. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

keitsformein. D a das Dazugehören ein wichtiges Bedürfnis nahezu aller


Menschen ist, ist die Treue stiftende In t e rn a l i s a t i o n v o n erheblicher Be-
deutung. Viele Menschen internalisieren andere Menschen oder Sys-
teme. Die Reife der Treue ist zumeist erkennbar an der A r t der Interna-
lisation eines Subjekts, dem Treue geschenkt w i r d . W i r kennen drei
Formen solcher Internalisierung.
- D i e Inkorporation. Hier w i r d das Anders-Sein des anderen i n das
eigene So-Sein hineingenommen, sodass die Differenz zwischen dem
Treue Gebenden u n d dem Treue Empfangenden weitgehend aufge-
hoben ist. Es ist die Treue kleiner K i n d e r gegenüber den E l t e r n . W i r d
diese F o r m der I n t e r n a l i s a t i o n auch noch i m Erwachsenenalter bei-
behalten, k a n n das ein recht aussagekräftiges Indiz für eine Charak-
terneurose die Typs Borderline-Syndrom sein. Typisch ist hier das
meist unvermittelte Umschlagen v o n Liebe i n Flass.
- Eine weitere F o r m der Internalisierung ist die Introjektion. Hier
w i r d das O b j e k t der Treue zumeist überaus verehrt u n d geachtet.
W i r d der solchermaßen Treue jedoch tief v o m Treuepartner ent-
täuscht, k a n n die Z u w e n d u n g - wi e bei Pubertierenden n i c h t selten
zu bemerken - i n Hass umschlagen.
- D i e reife F o r m der Internalisierung ist die Identifikation. W i r d ein
bestimmtes M a ß v o n Enttäuschungen überschritten, dann w i r d die
Treue aufgegeben zugunsten einer Gleichgültigkeit.

Fallbeispiele

Wenn Liebe zu ' i ^ Eine der wichtigsten Formen der Treue ist sicherlich die partner-
Hass wird schaftsbezogene (etwa die eheliche) Treue. Diese Treue gilt i n zwei
Richtungen. Die eine ist die Treue gegenüber dem e i n ma l feierlich gege-
benen W o r t (etwa v o r dem Standesbeamten oder einem Geistlichen),
die andere die Treue gegenüber der Person, der m a n sich zur Treue ver-
pflichtet weiß. Das Problem dieser F o r m der Treue ist die A r t der sie
schaffenden I n t e r n a l i s a t i o n . N i c h t selten setzt die gefährdete F o r m der
Treue die I n t r o j e k t i o n als Internalisierungsform voraus. D i e Partner-
schaft k a n n scheitern, d . h . der Partner w i r d aggressiv-emotional extra-
jiziert u n d aus dem Bereich der biophilen Emotionalität entlassen. Die
streitige Scheidung ist n i c h t selten Zeichen einer zerbrochenen Partner-
b i n d u n g , die auf I n t r o j e k t i o n (= den anderen z u m I n t r o j e k t machen)
beruht. Diese F o r m der Internalisierung ist eher biologisch als ethisch
begründet. Sie weist nicht Charakter aus, sondern eben dessen Fehlen
oder dessen Unreife.
Die Treue 167

Recht und Gesetz ' i ^ I n der Gesetzgebung u n d d a m i t auch i n der Rechtsprechung taucht
der Begriff der Treue i n der K o m b i n a t i o n Treu und Glauben auf. Ge-
meint ist hier ein Rechtsgrundsatz (der durchaus aus dem Bereich des
Funlctionalen i n den des Personalen wechseln k a n n ) , nach dem der
Rechtsprechende nicht starr einem Gesetz folgen darf, w e n n das Ergeb-
nis eines solchen Vorgehens dem allgemeinen Rechtsempfinden wider-
spricht oder allgemein als u n b i l l i g empfunden w i r d . Dass zu einem sol-
chen Verhalten Charakter gehört, ist unbestritten, denn starr u n d stur
dem W o r t l a u t des Gesetzes zu folgen ist sehr viel einfacher. I c h hielt
einmal für Richter ein K o m m u n i k a t i o n s - S e m i n a r ab. Als These stellte
ich den Satz auf: »Dasjenige U r t e i l ist o p t i m a l , das den potentiellen
Schaden, der aus dem U r t e i l erwachsen könnte, möglichst klein hält.«
Ich w o l l t e meine Zuhörer provozieren, aber das lief ins Leere, denn
nicht wenige Richter s t i m m t e n m i r z u . Andere hielten den erwähnten
Grundsatz n i c h t für generalisierbar u n d glaubten sich auf der revisions-
sicheren Seite, w e n n sie sich so w e i t als möglich an den W o r t l a u t des
Gesetzes hielten. I n dieser F o r m der Treue gegenüber dem Gesetz stan-
den sich zwei Positionen gegenüber: Für die erste Gruppe stand i m Vor-
d e r g r u n d der Sinn des Gesetzes, der sicherlich n i c h t erfüllt ist, w e n n
man, soweit als irgendmöglich, dem W o r t l a u t folgt. Die Beachtung der
Primärtugend Epikie (s. S. 114 ff.) w a r für diese Gruppe keine leere
Forderung.

Am Arbeitsplatz ' i ^ Aus einem Dienstvertragsverhältnis erwächst den vertragschließen-


den Parteien eine Treuepflicht. Flier handelt es sich u m eine Verpflich-
t u n g , die n i c h t u n m i t t e l b a r aus dem Dienstvertrag hergeleitet werden
k a n n oder auch - w e n n möglich - n u r sollte. So leitet sich aus dem Ver-
tragsverhältnis n i c h t u n m i t t e l b a r die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers
her. Der A r b e i t n e h m e r realisiert seine Treuepflicht, indem er sich für
die Interessent^ des Arbeitgebers nach innen u n d außen einsetzt u n d al-
les unterlässt, was diesem z u m N a c h t e i l gereichen könnte. M i r w u r d e
vor einigen Wochen ein Fall bekannt, i n dem ein Arbeitnehmer diese
Treuepflicht ganz offensichtlich verletzte. Er gab i n der Vorbereitung
eines Arbeitskampfes ein Presseinterview, i n dem er das Unternehmen
und die hier leitend Tätigen als »Schweinehunde« bezeichnete. In ei-
nem anderen Fall verriet ein M i t a r b e i t e r den Stand der Forschung u n d
E n t w i c k l u n g eines für das Unternehmen w i c h t i g e n Projekts. Gelegent-
lich verstoßen auch Vorgesetzte gegen ihre Treuepflicht. Ein offensicht-
lich überforderter M i t a r b e i t e r l i t t zunehmend - selbst für einen Laien
erkennbar - unter Depressionen. O b w o h l sein Vorgesetzter i h n mehr-
mals am Tage sah, sprach er i h n niemals auf diesen Sachverhalt hin an.

49 D a v o n w i r d n i c h t berührt das Interesse des A r b e i t n e h m e r s , seine eigenen Interessen, so-


w e i t sie n i c h t v o n Gesetz oder V e r t r a g eingegrenzt w e r d e n , zu v e r f o l g e n .
168 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Zerstörerischer ' i ^ E i n Ehepaar Icam häufiger z u m m i r u n d begehrte eine Partner-


Ehealltag Schaftstherapie. Der S t r e i t p u n k t , u m den sich alles drehte, w a r die Un-
zuverlässigkeit des männlichen Partners. Er hielt sich i n den meisten
Fällen nicht an getroffene Vereinbarungen u n d Regeln. Er w a r u n -
pünktlich, führte zugesagte Arbeiten i m Flaushalt nicht aus, w u r d e zu
einem V o r b i l d seiner K i n d e r i m Erzeugen v o n U n o r d n u n g . Das alles
hielt er für » n o r m a l « . Dass für seine Frau das Beachten v o n Verein-
barungen u n d ein gewisses M a ß v o n O r d n u n g wichtige Eigenschaften
eines »normalen« Menschen w a r e n , erklärte er für zwangsneurotisch.
N a c h einigen Gesprächen gab ich auf. Es w a r m i t n i c h t möglich, die
Ursachen des Partnerverhaltens dem anderen so weit verständlich zu
machen, dass zumindest keine aggressiven Ausbrüche mehr v o r k a m e n .
Es gelang m i r n i c h t , die Partnerin m i t der U n o r d n u n g ihres Mannes
und seiner Unfähigkeit, sich an Vereinbarungen zu halten, zu versöh-
nen. D u r c h das jahrelange Bemühen, allein die heimischen Zustände
auf ein für sie erträgliches M a ß zu normalisieren, w a r sie zu sehr ver-
w u n d e t , u m das Fehlverhalten ihres Mannes zu tolerieren. Der Charak-
ter ihres Mannes, w e n n man hier schon das W o r t »Charakter« gebrau-
chen möchte, w a r nicht verträglich m i t i h r e m . I h r Charakter w u r d e ihr
zu einem n i c h t lösbaren H a n d i c a p . Es w a r m i r n i c h t möglich, den Ehe-
partner d a v o n zu überzeugen, dass sein Verhalten an der unteren Gren-
ze der Normalität siedelte. I h m galt der Charakter seiner Frau als H a n -
dicap für eine gelingende Partnerschaft.

Der Erste 'i^ Es gibt auch eine Treue, die, weil völlig i r r a t i o n a l , lebensmindernd
Weltkrieg und daher abzulehnen ist. Gemeint ist hier nicht irgendeine F o r m v o n
Gaunertreue, sondern das, was - w e n n auch f o r m a l gesehen v o n Gau-
nertreue nicht allzu sehr entfernt - gemeinhin m i t Nibelungentreue be-
zeichnet w i r d . Als klassisches Beispiel solch einer n i c h t mehr rationalen
Treue gelten die Vorgänge, die z u m A u s b r u c h des Ersten Weltkriegs
führten. A m 2 8 . Juni 1914 w u r d e der österreichische T h r o n f o l g e r
Franz Ferdinand i n Sarajevo ermordet. Die österreichische Heereslei-
t u n g sah jetzt den günstigen Z e i t p u n k t gekommen, Serbien als Staat zu
vernichten. Dazu w a r es nötig, dass zumindest Russland nicht der ser-
bischen Seite beitrat. Das aber w i e d e r u m hing davon ab, o b Deutsch-
land den österreichischen Plan stützte. N u n setzte sich in der deutschen
Heeresleitung die Überzeugung d u r c h , dass ein Krieg gegen Russland
wünschenswert sei. A m 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den
Krieg. V e r m u t l i c h aus einer A r t v o n Treue erklärte n u n das Reich Russ-
land (am 1 . August) u n d Frankreich (3. August) den Krieg. Aus einem
Balkankrieg w u r d e ein zunächst europäischer, zuletzt ein W e l t k r i e g .
H i e r wäre es sicherlich einer v o n Weisheit getragenen Treue selbstver-
ständlich gewesen, m i t allen M i t t e l n einen europäischen Krieg zu ver-
Die Diskretion 169

meiden. Der Charalcter des deutsclien Kaisers w u r d e z u m H a n d i c a p der


halben W e l t . W i r begegnen hier einer Treue, die Leben m i n d e r t , u n d
d a m i t einer C h a r a k t e r s t r u k t u r , die falsch orientiert ist.

Der 20. Juli 1944 ' 1 ^ Eine vergleichbar problematische C h a r a k t e r s t r u k t u r führte z u m


Attentatsversuch v o n Claus G r a f Schenk v o n Stauffenberg auf A d o l f
H i t l e r a m 2 0 . Juh 1944. O b w o h l die politische O r g a n i s a t i o n Deutsch-
lands nach einem gelungenen A t t e n t a t halbwegs gesichert gewesen
wäre, w a r das A t t e n t a t selbst eher unprofessionell vorbereitet. Der Ver-
such Stauffenbergs w a r keineswegs strategisch wie taktisch o p t i m a l ge-
plant. Aber seine Treue gegenüber seinen militärischen u n d politischen
Freunden (besonders denen des Kreisauer Kreises) ließ i h n das anschei-
nend übersehen. Unweise Treue w u r d e auch hier z u m H a n d i c a p , das
Stauffenberg vor das Standgericht brachte. Stauffenberg w u r d e noch
am 2 0 . J u l i 1944 erschossen. Die ärgste Folge aber war, dass viele h u n -
dert Menschen i h r Leben lassen müssten, w e i l H i t l e r die Gelegenheit
w a h r n a h m , die weitgehend latente O p p o s i t i o n , die sich gegen i h n auf-
gebaut hatte, töten zu lassen.

Die Diskretion

Eine unzeit- Discretio bezeichnet i m Lateinischen die Fähigkeit zu unterscheiden,


gemäße Tugend? was i m A u g e n b l i c k angemessen, angebracht, rücksichtsvoll ist - u n d
was n i c h t . Diskretion bezeichnet heute zumeist die Tugend der Ver-
schwiegenheit, aber auch die K u n s t , Dinge so unauffällig zu behandeln,
dass dies v o n anderen n i c h t bemerkt w i r d . H i e r sei n u r die letztgenann-
te F o r m der D i s k r e t i o n behandelt. I m Zeitalter des u n v e r a n t w o r t e t e n
Geschwätzes, i n dem w i r leben, begegnet uns die D i s k r e t i o n , als Ver-
schwiegenheit verstanden, allenfalls noch i m Rahmen beruflicher
Tätigkeit. I n diesem Sinne ist die Verschwiegenheit das Gegenteil v o n
Geheimnisverrat. Solcher Verrat w i r d zumeist n u r d a n n beanstandet,
w e n n D i s k r e t i o n b e r u f l i c h erwartet werden k a n n . Sie ist dann nicht
mehr Sache des Charakters, auch n i c h t mehr Tugend, sondern unter-
liegt den Standards eines beruflichen oder standesdefinierten Ethos
(etwa i m Bereich der M e d i z i n oder der Forschungsabteilungen v o n U n -
ternehmen, oder dem des »Beichtgeheimnisses«). Vergleicht m a n aber
m i t dieser berufsbedingten Verschwiegenheit das, was unter dem Titel
der M e i n u n g s f r e i h e i t etwa v o n den Massenmedien angeboten w i r d , ist
Verschwiegenheit aus dem B l i c k w i n k e l eben dieser Massenmedien eher
eine verwerfliche Begrenzung der »Informationspflicht«, auf die sie
sich unter M i s s b r a u c h des Wortes Pflicht berufen, oder eine Beschrän-
k u n g der M e i n u n g s - oder Pressefreiheit. Die Tugend der Verschwiegen-
170 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

heit d r o h t auszusterben. Das Gerede, ja das Gerücht hat seine große


Z e i t . Diese Z e i t , jenseits der Neuzeit, Icennt keine N o r m e n mehr -
außer denen des öffentHchen Urteils. U n d so scheinen manche M e n -
schen ihre Einstellungen u n d i h r Verhalten nach der M a x i m e zu
bestimmen: »Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf vollständige I n f o r m a -
tion!« Das s t i m m t genau, insoweit sie das Recht h a t , möglichst v o l l -
ständig über alle erheblichen - ni c ht vertraulichen - Sachverhalte u n -
terrichtet zu w e r d e n , die eine realitätsdichte O r i e n t i e r u n g i n P o l i t i k ,
Ö k o n o m i e , Sozialleben u n d K u l t u r ermöglichen. Aber genau das ist
nicht der F a l l . Es w i r d selektiert. Es w e r d e n Sachverhalte (wie etwa
Prinzessin Dianas Tod) meist noch m i t Gerüchten oder Unterstellungen
verzerrt, lang u n d breit dargestellt. Es w i r d v o n allen Skandalen berich-
tet, die für die A u s b i l d u n g eines v e r a n t w o r t e t e n politischen oder ö k o -
nomischen Urteils n i c h t n u r bedeutungslos sind, sondern das real Be-
deutende m i t real Unbedeutendem verschütten.

Fallbeispiele

Gefährlicher ' i ^ D i s k r e t i o n scheint n i c h t i n allen Branchen i n ähnlicher Weise ver-


Betriebsklatsch breitet. E i n Beispiel für I n d i s k r e t i o n mag ni c ht ganz untypisch sein. Ein
Abteilungsleiter w u r d e aus einem Unternehmen betriebsbedingt entlas-
sen. D a die meisten M i t a r b e i t e r seines Unternehmens die Kündigung
nicht verstanden, baute sich u m i h n h e r u m ein Feld v o n P h a n t o m -
bildungen auf: Er sei unzuverlässig, er k o m m e m i t seinem Vorgesetz-
ten n i c h t zurecht, er sei rechthaberisch u n d durchsetzungsschwach.
O b w o h l seine Vorgesetzten m i t einer w o h l r e n o m m i e r t e n Outplace-
ment-Unternehmensberatung-''0 zusammenarbeiteten, w a r seine Weiter-
v e r m i t t l u n g schwierig, da sich das k o l l e k t i v e P h a n t o m b i l d als so d u r c h -
setzungsstark erwies, das es i n nahezu allen U n t e r n e h m e n , i n die er
vermittelt werden k o n n t e , verbreitet w o r d e n war. Es blieb i h m nichts
anderes übrig, als sich bei einem Unternehmen i n den USA zu bewer-
ben. Diese Bewerbung hatte E r f o l g , wennschon seine Familie sehr dar-
unter l i t t . D i e Charakterlosigkeit seiner ehemaligen Kollegen richtete
argen Schaden a n .

50 » O u t p l a c e m e n t « bezeichnet eine w e i t g e h e n d ( o f t z. T. d u r c h die Arbeitsämter) oder aus-


schließlich v o m A r b e i t g e b e r f in an z i er te B e r a t u n g u n d Unterstützung eines zu entlassen-
den M i t a r b e i t e r s bei der Suche nach einem neuen A r b e i t s p l a t z . D i e bekanntesten deut-
schen U n t e r n e h m e n , die e r f o l g r e i c h diese V e r m i t t l u n g i n G a n g setzen, sind die F i r m e n
» R u n d s t e d t & Partner G m b h l « i n Dü s s el d or f u n d » D i e m e r U n t e r n e h m e n s b e r a t u n g « i n
Frankfurt.
Die Disl<retion 171

Erfolgsträchtige 'i^ Ein V o r s t a n d eines grö(?eren Unternelimens (ca. 1 5 0 0 Beschäftigte)


Diskretion hatte es sich - sittlich hegründet - v o r g e n o m m e n , niemals i n Gegen-
w a r t D r i t t e r m o r a l i s c h v e r u r t e i l e n d über andere Menschen z u spre-
chen. Dieser Vorsatz hatte sich i m Laufe seiner Tätigkeit zu einem Cha-
r a k t e r m e r k m a l verfestigt. Es gehörte zur S t r u k t u r seiner Persönlichkeit.
Als ich i m V e r l a u f einer Unternehmensberatung diese Fähigkeit be-
merkte, interessierte es m i c h , was seine Vorstandskollegen, aber auch
seine M i t a r b e i t e r d a v o n hielten. Das Ergebnis meines Ausforschens
überraschte m i c h sehr, denn es gibt Unternehmen ( m i t einer mangelhaft
entwickelten K u l t u r ) , i n denen die Verweigerung moralischer oder m o -
ralnaher Urteile dazu führte, dass m a n den Verweigerer für eine
führungsschwache u n d gutmütige Persönlichkeit hielt. Flier aber w a r
genau das Gegenteil der Fall. D e r Vorstand w u r d e v o n allen seinen
M i t a r b e i t e r n u n d Kollegen geachtet. Selbst w e n n es u m betriebsbeding-
te Kündigungen ging, fand er M e t h o d e n , die niemals die Persönlichkeit
des zu Kündigenden m i n d e r t e n . Die v o n i h m praktizierten »Abschieds-
gespräche« (so nannte er sie selbst) versuchten dem M i t a r b e i t e r deut-
lich zu machen, dass der Abschied für alle Beteiligten die beste Lösung
sei. Er gab sich redliche u n d meist auch erfolgreiche M ü h e , dem M i t a r -
beiter eine neue Anstellung zu v e r m i t t e l n . Ich vermute, dass er niemals
bei solchen Gesprächen die Würde eines anderen oder seine eigene
(durch u n w a h r e Aussagen oder verdeckte K o m m u n i k a t i o n ) verletzte.

Segensreiche ' i ^ Dass D i s k r e t i o n nicht n u r t a k t v o l l e oder sittlich begründete Ver-


Urteilskraft schwiegenheit, sondern auch die Fähigkeit zur eigenen U r t e i l s k r a f t be-
zeichnet, erlebte i c h i n einem anderen U n t e r n e h m e n . U r t e i l s k r a f t sei
hier verstanden als das Vermögen, komplexere Zusammenhänge zu be-
urteilen, die an der Schnittstelle v o n Menschen u n d Sachen (etwa M a -
schinen, anderen Elementen, Anlagevermögen, C o m p u t e r n ...) auftre-
ten. Es geht hier also u m die Schnittstelle zwischen rationaler, sozialer
u n d » e m o t i o n a l e r « ' ! Intelligenz, die einzusetzen ist, u m einen Sachver-
halt (etwa die Folgen eines Ungeschicks, einer U n a u f m e r k s a m k e i t , ei-
ner mangelnden K e n n t n i s , aber auch einer A r t i n t u i t i v e r Beherrschung
solcher »Sachen«) z u t r e f f e n d zu beurteilen.-^2 Dieses Vermögen ist nicht

51 Eine » e m o t i o n a l e Intelligenz« g i b t es ( t r o t z G o l e m a n u n d anderen) natürlich n i c h t . Ge-


m e i n t ist hier das V e r m ö g e n , die e m o t i o n a l e n Besetzungen, die d u r c h Sinneseindrücke
(verstanden als Signale) d u r c h das l i m b i s c h e System e m o t i o n a l i s i e r t s i n d , so v o n den
Z w a n g e n dieser E m o t i o n a l i s i e r u n g zu befreien, dass diese zu A u s b i l d u n g einer I n f o r m a -
t i o n führen, die n i c h t v o n diesem A u t o m a t i s m u s d i k t i e r t w i r d u n d so erst der r a t i o n a l e n
u n d sozialen Intelligenz R a u m schafft für n i c h t - d e t e r m i n i e r t e s E r k e n n e n .
52 D e r T e r m i n u s »Urteilskraft« w u r d e i m heutigen G e b r a u c h d u r c h die P h i l o s o p h i e Kants
b e s t i m m t . Er versteht die V e r m i t t l u n g s i n s t a n z zwischen E r k e n n t n i s - u n d Begehrungsver-
mögen als » G e f ü h l « : die zwischen dem V e r s t a n d (als d e m Vermögen, U r t e i l e zu bilden)
u n d der V e r n u n f t (als d e m V e r m ö g e n , etwas zu verstehen) stehende U r t e i l s k r a f t .
172 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären T u g e n d e n

nur erheblich für die sinnvolle personale Besetzung etwa i n einem U n -


ternehmen, sondern auch für die Fähigkeit, das Geschehen an den
Schnittstellen v o n Personalem u n d F u n k t i o n a l e m zutreffend zu erken-
nen. Diese Schnittstellen sind so häufig, dass die Frage nach der U r -
teilskraft als einem wesentlichen Element der Unterscheidungsfähigkeit
selten bewusst gemacht u n d noch seltener gefördert w i r d .
Eine besondere Begabung für die entwickelte U r t e i l k r a f t begegnete m i r
bei einem Meister, der seine A r b e i t i n einem Maschinenbauunterneh-
men gewissenhaft und erfolgreich verrichtete. Das heißt: Sein Beitrag
zur innerbetrieblichen Wertschöpfung lag erheblich über dem D u r c h -
schnitt der Kollegen m i t ähnlichen Verantwortungsbereichen. M i t einer
bewundernswerten Instinktsicherheit verband er seine M i t a r b e i t e r u n d
die keineswegs leicht zu bedienenden M a s c h i n e n . O b w o h l er seit vielen
Jahren i n seiner Position tätig war, gelang es i h m , Unfälle u n d Pannen
sowie die P r o d u k t i o n v o n Ausschuss zu vermeiden. M e i n e Frage, was
man machen müsse, u m dieses Z i e l - v o n dem andere nur träumen
konnten - zu erreichen, antwortete er etwas verlegen, dass es halt da-
rauf a n k o m m e , die richtigen M i t a r b e i t e r an den richtigen O r t u n d die
richtige Maschine zu bringen. A u f den ersten Blick schien dieser E r f o l g
k a u m etwas m i t Charakter zu t u n zu haben. U n d es bedurfte eines
ziemlich langen Prozesses wechselseitigen Kennenlernens, bis i c h he-
rausfand, dass es seine A c h t u n g vor dem M i t a r b e i t e r war, die zu sol-
chem Verhalten führte.

Die Authentizität

Im Einklang mit Authentisch interagiert ein M e n s c h , der sein Selbstkonstrukt unver-


sich selbst stellt in eine gelingende I n t e r a k t i o n e i n b r i n g t . Authentisch ist (und mei-
stens: w i r k t ) ein Mensch also zum einem genau d a n n , w e n n er sich
i m Interagieren genau so darstellt, dass er - innerhalb der i h m sozial
und e m o t i o n a l gezogenen Grenzen - er selbst ist u n d bleibt, u n d z u m
zweiten, w e n n er versucht, n u r das zu sagen, v o n dessen Gültigkeit er
überzeugt i s t . ' ' N i c h t authentisch und deshalb t r o t z allen möglichen
Scheins unglaubwürdig sind die I n t e r a k t i o n e n eines Menschen, der eine
Rolle zu spielen versucht, die nicht A u s d r u c k seines Selbstkonstruktes
ist, die also außerhalb seiner Selbstwahrnehmung liegt. Er spielt - oft
genug unbewusst - eine Rolle u n d die zugehörigen Episoden u n d sozia-
len Darstellungsformen, ohne sie in seinem personalen Fundament

5i Das W o r t »authentisch« ist schon der griechischen A n t i k e b e k a n n t . Ks h a t eine recht


bewegte Geschichte, in deren V e r l a u f es sehr verschiedene Begriffe bezeichnete. N a c h
C^. L.cvi-Strauss sind persönliche u n d d i r e k t e K o n t a k t e n u r i n »primitiven« K u l t u r e n
möglich, n i c h t aber i n m o d e r n e n Gesellschaften ( S t r u k t u r a l e A n t h r o p o l o g i e 1 969, 399).
Die Authentizität 173

w u r z e l n zu lassen. So spielt er E m o t i o n e n , ohne sie zu haben. Er ist ein


Schmierenkomödiant auf der Bühne des Lebens u n d kein Schauspieler,
denn der bleibt i m m e r er selbst, auch w e n n er sich rollengerecht ver-
hält. Das meist unbewusste Falschspiel, das der Authentizität entgegen-
steht, k a n n mancherlei Gründe haben:
- Es k a n n i n gruppendynamischen Prozessen w u r z e l n . Die Soziodyna-
m i k der Gruppe ordnet i h m eine bestimmte Position zu, die er sich
meist unbewusst z u eigen macht. W i r d eine Internalisation verwei-
gert, k o m m t es n i c h t selten zu folgenreichen soziodynamischen A b -
läufen, i n denen entweder der Protest der verweigerten Internalisa-
t i o n zur E x k o m m u n i k a t i o n führt oder aber - u n d das ist seltener -
die G r u p p e die soziodynamischen Prozesse selbstreferentiell über-
prüft u n d ändert.
- E i n M e n s c h k a n n m i t der der Authentizität verbundenen Offenheit
üble E r f a h r u n g e n gemacht haben. Solche V e r w u n d u n g e n versucht er
zu vermeiden, i n d e m er sich den an i h n gestellten E r w a r t u n g e n an-
passt. Er w i r d z u einem Schmierenkomödianten, dessen oberstes
Z i e l es ist, n i c h t v e r w u n d e t oder anderswie sozial bestraft zu wer-
den.
- I m V e r l a u f einer der verschiedenen Sozialisationen w u r d e ein be-
stimmtes Verhalten belohnt. Daraus k a n n ein ich-schwacher Mensch
schließen, dass das belohnte Verhalten allgemein sozial wünschens-
w e r t sei, u n d es zu reproduzieren versuchen.
- Es gibt m i n d e r w e r t i g e Trainingsseminare, i n denen einem Teilneh-
mer beigebracht w i r d , über die Körpersprache zu lügen. So lernt er
etwa, Sympathie z u signalisieren, o b w o h l das interaktioneile Feld
und/oder auch die eigenen E m o t i o n e n keineswegs »objektive Sym-
pathiebildung« bestimmen.

Fallbeispiele

Rhetorik ^ i ^ E i n guter Redner unterscheidet sich b e k a n n t l i c h n i c h t v o m schlech-


deutscher ten d a d u r c h , dass er alle Lehrbuchregeln der R h e t o r i k beherrscht u n d
Politiker ausübt. Genau das Gegenteil ist der F a l l : Je mehr Regeln beachtet wer-
den, u m so weniger authentisch w i r k t der Redner. D e r C D U - P o l i t i k e r
Rainer Barzel w a r i m Sinne der L e h r b u c h r h e t o r i k ein hervorragender
Redner. D o c h alles w i r k t e sehr gekonnt u n d so glatt, dass k a u m jemand
i n i h m den Menschen, den suchenden, den i m m e r auch irrenden, den
u m seine Grenzen wissenden, erkannte. A u f der anderen Seite: der
CSU-Politiker Franz-Josef Strauss. Er beachtete so gut w i e keine dieser
Regeln - u n d w a r ein guter Redner. Was aber macht denn einen guten
Redner aus? Ganz sicher seine Authentizität. D i e Zuhörer müssen
174 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

fühlen, dass der Redner genau das m e i n t , was er sagt, u n d dass er es so


sagt, dass sie verstehen, wie es gemeint ist. A u t h e n t i s c h aber ist ein
Redner n u r d a n n , w e n n bei i h m die drei Berührungsstellen m i t seiner
(sozialen) U m w e l t h a r m o n i s c h zusammenspielen: die Sozialität, die
Emotionalität u n d die Rationalität. N u n ist es sicher n i c h t z w i n g e n d ,
einem Menschen, der dieses Zusammenspiel so beherrscht, dass die ge-
nannten K o m p o n e n t e n zu einer Einheit verschmelzen, einen guten oder
schlechten Charakter zuzusprechen. Selbst ein M ö r d e r könnte, aus ei-
ner pervers entarteten Einheit dieser drei, erfolgreich sein. Es k a n n sich
hier also n u r u m eine notwendige Bedingung handeln, die unter ande-
ren einen »guten Charakter« ausmacht. A b e r eine notwendige (und
keineswegs hinreichende) Bedingung eines charakterstarken Menschen
ist die harmonische Verschmelzung v o n Emotionalität, Rationalität
und Sozialität. Keines dieser drei Elemente, die eine dialektische Einheit
bilden, darf desintegriert w e r d e n . D i e Desintegration v o n E m o t i o n a -
lität ist leicht zu bemerken an der mangelhaften Passung v o n dem Ge-
sagten u n d der emotionalen Besetzung des Gesagten. Die Desintegra-
tion v o n Sozialität ist leicht festzustellen, w e n n n i c h t e m o t i o n a l
erfahrb^r w i r d , dass der Redner eine Botschaft v e r m i t t e l n w i l l u n d was
der I n h a l t dieser Botschaft ist. I n diesem Sinne w a r e n Franz Josef
Strauss u n d der SPD-Politiker Flelmut Schmidt u n d sind Josef Fischer
v o n Bündnis 90/Die Grünen u n d Gregor Gysi v o n der PDS gute Redner.
Ihre tatsächliche u n d erlernte Authentizität (erlernt w u r d e das Vermö-
gen, rollengerechte E m o t i o n e n zu haben u n d n i c h t n u r zu spielen) w u r -
de zu einem C h a r a k t e r m e r k m a l , das alles andere w a r als ein Flandicap.
N u n möchte m a n einwenden, dass eine solche Begabung k a u m mehr
etwas m i t der Tugend der W a h r h a f t i g k e i t zu t u n habe. D o c h dieser Ein-
w a n d t r i f f t insoweit nicht den realen Sachverhalt, als hier nicht geheu-
chelt u n d auch kein sozialschädigendes Verhalten p r a k t i z i e r t w u r d e .

Sympathie- ' i ^ I n einem meiner Seminare versuchte ein Teilnehmer, Sympathie zu


Strategie gewinnen, i n d e m er sich mühte, den E r w a r t u n g e n der anderen Teil-
nehmer gerecht zu werde u n d d u r c h körpersprachliche Signale Sympa-
thie z u v e r m i t t e l n , selbst d a n n , w e n n Anzeichen v o n A n t i p a t h i e oder
Gleichgültigkeit n i c h t z u übersehen w a r e n . I n einer Rückspiegelungs-
übung w u r d e er ziemlich h a r t k r i t i s i e r t : Er verstecke sich hinter ange-
lernten M e t h o d e n u n d belaste so die soziodynamischen Prozesse n i c h t
unerheblich. K a u m eine Rückspiegelung w a r positiv, d . h . sein Verhal-
ten bejahend oder auch n u r akzeptierend. Sein d u r c h strategisches Ver-
halten geprägter Charakter w u r d e i h m z u m Flandicap.

Rollenverhalten ' i ^ Eine n i c h t ganz kleine Filiale einer Kreissparkasse (14 M i t a r b e i t e r )


erhielt einen neuen Filialleiter. Dieser glaubte n u n eine Chefrolle spie-
Die »Hohe Minne« 175

len zu müssen. Das misslang i h m gründlich, da die meisten sein Verhal-


ten als »unnatürlich« u n d »aufgesetzt« w a h r n a h m e n u n d beschrieben.
A u c h die K u n d s c h a f t fand seine Freundlichkeit künstlich und u n w a h r -
h a f t i g . Die mangelnde Authentizität w u r d e z u m Flandicap.

Die »Hohe Minne«

Strebend sich Die »Minne« w i r d uns in der Schule meist dargestellt als eine F o r m der
bemüh'n erotischen Liebe, die sich, keineswegs n o t w e n d i g sexuell, i m alterozen-
trischen'''' Interagieren realisieren müsse - i m Gegensatz zur niederen
M i n n e , als deren erster großer Minnesänger meist Walther v o n der Vo-
gelweide gilt. D o c h »Minne« bezeichnete i m M i t t e l h o c h d e u t s c h e n eine
Tugend, die den Weisen anhält, ein als w e r t h a f t erkanntes Z i e l (wozu
durchaus auch die E r l a n g u n g der Z u w e n d u n g eines anderen Menschen
gehören kann) unter personalem ( i m Gegensatz z u m f u n k t i o n a l e n ) u n d
v e r a n t w o r t e t e m Einsatz zu verfolgen. Insoweit ist die M i n n e durchaus
auch der Liebe (als gr. agape verstanden) v e r w a n d t .

Fallbeispiele

Der Lehrer ' i ^ Einer meiner Lehrer w a r tief ergriffen v o n seinem Beruf. Er nahm
sich selber so weit zurück, dass deutlich w u r d e , er w o l l e seine Schüler
u n d Schülerinnen nicht etwa n u r belehren, sondern i n ihren intellektu-
ellen, emotionalen und sozialen Begabungen entfalten. Das lateinische
educere (oder educare) bezeichnet das Herausführen eines Menschen
aus einem s u b o p t i m a l e m N i v e a u h i n auf ein höheres, menschlicheres.
Dieser Gedanke w u r d e i h m z u m K r i t e r i u m eines gelingenden Lebens.
Selbst w e n n manche Schüler sein Verhalten als Schwäche interpretier-
ten u n d so seine Einstellung gelegentlich auf eine harte Probe stellten,
w a r er bald der beliebteste v o n allen Lehrern. Er hatte m i t einem M i n i -
m u m an Bestrafungen den besten pädagogischen E r f o l g . Sein Charak-
ter sicherte i h m seinen beruflichen E r f o l g - er w a r alles andre als ein
Handicap.

54 »Alterozentrik« (s. S. 138 f f . ) bezeichnet den Gegensatz zu »Egozentrik« (= ich verstehe


m i c h als M i t t e l p u n k t meiner I n t e r a k t i o n e n m i t M e n s c h e n oder Sachen). D i e alterozen-
trische I n t e r a k t i o n versucht, Sachverhalte aus der i h n e n eigenen Perspektive zu betrach-
ten u n d danach das eigene H a n d e l n zu b e s t i m m e n . V o r allem die W e r t e i n s t e l l u n g e n , I n -
teressen, E r w a r t u n g e n u n d Bedürfnisse w e r d e n als O r i e n t i e r u n g des anderen bedacht
u n d berücksichtigt, w e n n die A l t e r o z e n t r i k einer Person g i l t . In m o d e r n e r Sicht w i r d das
W o r t a u c h v e r w a n d t , w e n n i m A g i e r e n v o n Personen ö k o l o g i s c h e , p o l i t i s c h e , k i r c h l i c h e
... Sachverhalte als »das andere« ins Spiel k o m m e n .
176 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

Der Geschäfts- ^ i ^ E i n angesteUter Geschäftsführer w a r v o n »seinem« Unternehmen


führer so begeistert, dass dieser Funice auch auf die meisten M i t a r b e i t e r über-
sprang, m i t denen er u n m i t t e l b a r zu t u n hatte. Unternehmen der
gleichen Branche erzeugten Interaktionskosten (vor allen d u r c h Fehl-
zeiten), die nahezu doppelt so groß w a r e n wie die seinen. Sein ö k o n o -
mischer E r f o l g gründete i n der »Minne« z u »seinem« Unternehmen
und seinen M i t a r b e i t e r n . Es wäre merkwürdig unlogisch, hier Charak-
ter als irgendein Flandicap zu verstehen.

Die Liebe

Das Anders-Sein Liebe bezeichnet i n der A n t i k e die einheitstiftende Beziehung zwischen


des Partners beseelten oder als beseelt gedachten Wesen. (Schon die griechische A n -
wollen tike unterschied drei Gestalten der Liebe: p h i l i a , eros u n d agape.) Liebe
ist eines der am häufigsten verwandten W o r t e . Dabei lässt es eine Fülle
von Begriffen u n d Sachverhalten anklingen. M i t u n t e r ist es auch frei
von aller Begrifflichkeit. D a m i t ist es sehr w o h l geeignet, persönliche
Befindlichkeiten sowie die A r t v o n zwischenmenschlichen Beziehungen
unscharf u n d unpräzise zu machen. V e r m u t l i c h entzieht sich der v o n
dem W o r t bezeichnete Inhalt jeder O b j e k t i v a t i o n . Der österreichische
Dichter H e i m i t o v o n Doderer bezeichnete die Liebe als Primzahl des
Lebens u n d meinte d a m i t : Jeder Mensch macht andere E r f a h r u n g e n ,
die m i t Liebe beschrieben w e r d e n . Stark unterschiedliche Gefühle wer-
den v o n dem W o r t Liebe eingeholt: die sexuelle, erotische, platonische,
klammernde (etwa die »Affenliebe« oder die infantile Liebe), n e u r o t i -
sche, käufliche, zwanghafte, auf Sachen gerichtete Liebe (etwa i n einer
Liebe, die der A r b e i t , dem A u t o , dem Pferd . . . g i l t ) , die Selbst- u n d die
Nächstenliebe. Die religiösen Schriften vieler Religionen legen i h r einen
hohen Stellenwert bei, etwa der Nächsten- oder Gottesliebe. So ver-
standen steht sie i n der Nähe der Flohen M i n n e .
H i e r soll eine Liebe bedacht w e r d e n , die - wie alle anderen Tugenden
auch - als eine Eigenschaft i n t e r a k t i o n e i l e n Geschehens verstanden
w i r d . W i r w o l l e n also v o n der Tugendgestalt der Liebe handeln. A l s
solche ist sie die Erfüllung der personalen Toleranz, die das Anders-Sein
des anderen akzeptiert, solange es nicht zu sozialschädlichen H a n d l u n -
gen oder Entscheidungen führt. Das Lieben (als Tugend) w i l l mehr. Es
akzeptiert n i c h t , sondern will ausdrücklich das Anders-Sein des ande-
ren. Es bejaht u n d verstärkt es, w e n n d a m i t ein b i o p h i l e r Prozess i n
Gang k o m m t oder aufrecht erhalten w i r d . Diese Liebe kennt keine Be-
dingungen oder Einschränkungen (es sei denn, sie hätte sozialschädli-
che Folgen oder wäre A u s d r u c k eines sozialschädlichen Verhaltens).
Der feste u n d zur Tat führende, andauernde wie nachhaltige W i l l e , den
Die Liebe 177

anderen Menschen zu sich selbst u n d zu seiner E n t f a l t u n g zu führen,


das eben ist das Wesentliche an der Tugend der Liebe. Liebe ist w i e
Spielen, Beten, M e d i t i e r e n selbstzwecklich u n d geschieht n i c h t , u m an-
deres zu erreichen. Wer liebt, liebt u m der Liebe w i l l e n . Sie kennt kein
W a r u m . Jede sich i n I n t e r a k t i o n e n ereignende Liebe, die dem anderen
g i l t , setzt voraus, dass ein Mensch sich selbst liebt. D o c h auch die
Selbstliebe ist, w e n n sie n i c h t Gefahr laufen w i l l , selbst i n narzissti-
schem Lieben unterzugehen, ein interaktionelles Geschehen. Sie k o m m t
n i c h t n u r zu sich, sondern ereignet sich n u r i n der Liebe z u m anderen
Menschen.

Fallbeispiele

Sich selbst lieben ' i ^ N i c h t selten begegnen m i r Menschen, die k a u m mehr liebesfähig
sind, w e i l sie sich selbst n i c h t lieben können. I c h denke etwa an einen
Manager, der so sehr i n seine A r b e i t verliebt war, dass er die Liebe zu
seinen K i n d e r n u n d z u seinem Partner nicht mehr darstellen k o n n t e .
Seine Geschenke etwa, die w i e alle Geschenke das Geschenk der Liebe
symbolisieren sollen, w u r d e n zum A u s d r u c k reiner Pflichterfüllung. Z u
Weihnachten, z u m Geburtstag . . . beschenkt »man« sich. Seine U n -
fähigkeit zu lieben machte i h n dermaßen einsam, dass er k a u m andere
als f u n k t i o n a l e Beziehungen zu anderen aufnehmen k o n n t e . Weil er
sich selbst n i c h t liebte, k o n n t e er nicht n u r n i c h t andere lieben, sondern
w u r d e auch v o n niemandem geliebt. Langsam steigerte er sich i n die
Mentalität eines »Oderint, d u m metuant« (= sie mögen m i c h hassen,
w e n n sie mich n u r fürchten - ein dem römischen Kaiser Caligula zuge-
schriebenes W o r t ) . Seine Entscheidungen zielten ausschließlich auf
f u n k t i o n a l e O p t i m i e r u n g - u n d w a r e n deshalb s u b o p t i m a l . Es fehlte
i h m ein C h a r a k t e r m e r k m a l , das allein auch den ökonomischen E r f o l g
langfristig sichern konnte - die O r i e n t i e r u n g an der personalen D i m e n -
sion seiner Entscheidungen. E i n i n der S t r u k t u r seines Charakters lie-
gendes D e f i z i t w u r d e i h m z u m H a n d i c a p .

Anderen ' i ^ Wer Menschen n i c h t liebt, sondern soziale personal-orientierte Bin-


misstrauen düngen als Grundlage für beruflichen M i s s e r f o l g betrachtet, w i r d sel-
ten o p t i m a l agieren. Wer Liebe als Zeichen v o n Charakterschwäche i n -
terpretiert, w i r d k a u m jemals i n der Lage sein, u m sich herum ein
Vertrauenfeld aufzubauen. Er z i m m e r t sich eine W e l t , i n der er allen
u n d allem zunächst einmal misstraut. D a er zu einem realitätsabgelös-
ten W e l t b i l d k o m m e n w i r d , ist - zumindest langfristig - beruflicher wie
privater M i s s e r f o l g z u e r w a r t e n . M i r sind n i c h t wenige Menschen be-
k a n n t , deren M i s s t r a u e n sie zur Liebe unfähig machte. Sie lebten ein
178 Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

letztlich einsames Leben. D a die Fähigkeit, tragfähige soziale Felder


aufzubauen, entweder nie erlernt oder wieder verloren gegangen ist,
steht w i e d e r u m privater u n d beruflicher M i s s e r f o l g zu e r w a r t e n . W i e -
der w u r d e ein charakterliches D e f i z i t , das i n der Unfähigkeit bestand,
aus mangelnder Liebe n i c h t vertrauen zu können, zu einem erheblichen
Flandicap.

Die Großmut

Wissen um die Großmütig ist nach Aristoteles ein M e n s c h , der w a h r h a f t i g u n d o f f e n ,


Schwäche des zur Freundschaft fähig u n d dennoch a u t a r k ist. Er ist wohltätig u n d
Menschen hilfsbereit, weder ehrgeizig noch geschäftig. D i e antike Philosophen-
schule der Stoa definierte die Großmut als »ein Wissen, das erhaben
macht über die D i n g e , die Guten wie Schlechten zustoßen«. Beide D e f i -
n i t i o n e n w u r d e n i n A n t i k e u n d M i t t e l a l t e r z u m Teil übernommen, z u m
anderen weitergeführt.
W i r w o l l e n hier G r o ß m u t verstehen als eine Tugend, die sich i n be-
stimmten I n t e r a k t i o n e n zeigt, nämlich da, w o Großzügigkeit u n d Tole-
ranz, Tapferkeit u n d Hilfsbereitschaft eine Rolle spielen. G r o ß m u t setzt
das Verzeihen-Können als selbstverständlich voraus. Der großmütige
Mensch weiß d a r u m , dass w i r Menschen ein Solidarverbund v o n
Schwachen sind - u n d dass die Schwächsten a l l jene sind, die ihre
Schwächen v o r anderen zu verbergen suchen. Es gibt religiöse Gemein-
schaften, i n denen die Bitte u m Verzeihung einen schlechten L e u m u n d
hat - denn es sei doch auch ohne Bitte selbstverständlich, dass verzie-
hen werde.

Fallbeispiele

Scheinbare ' i ^ Ein Abteilungsleiter eines großen Unternehmens der Chemiebran-


Unzuverlässigkeit ehe hatte einen M i t a r b e i t e r , der sich bei der Durchführung v o n Aufträ-
gen m i t u n t e r als unzuverlässig erwies. Das ist sicherlich ein erhebliches
H a n d i c a p . Der Abteilungsleiter versuchte, den G r u n d für solches Fehl-
verhalten ausfindig zu machen. Er stellte fest, dass der M i t a r b e i t e r geis-
tig o f t abwesend erschien. A u f freundliches Befragen h i n stellte sich
heraus, dass seine Frau A l k o h o l i k e r i n war. I h r galt die größte Sorge.
Bislang hatte der Abteilungsleiter diesen Sachverhalt in seinen Interak-
tionen m i t dem M i t a r b e i t e r nicht bedacht, w e i l er i h m unbekannt war.
Es gelang i h m , m i t d e m unzuverlässigen M i t a r b e i t e r ein Verhältnis
wechselseitigen Vertrauens aufzubauen, das es ermöglichte, über seine
Sorge zu sprechen. Er musste nicht mehr i n zwei Welten leben, sondern
Die Großmut 179

k o n n t e seine Probleme offen aussprechen. W e i l er sich n u n v o n seinem


Vorgesetzten i n besonderer Weise verstanden u n d auch m i t seinen Prob-
lemen akzeptiert fühlte, w u r d e der Betrieb n i c h t mehr zu einem frem-
den R a u m , i n dem er seine Ängste n i c h t o f f e n einbringen k o n n t e . D e n n
der Vorgesetzte begegnete i h m i n einer ganz anderen Weise, die i h m
zwar seine Nöte n i c h t n a h m , w o h l aber diese i n der A r t des M i t e i n a n -
der-Umgehens einbezog. Die scheinbar i m Charakter begründete Unzu-
verlässigkeit entpuppte sich als S y m p t o m einer schweren psychischen
Belastung. W e i l der Vorgesetzte diesen Sachverhalt berücksichtigte,
schwand die scheinbare Unzuverlässigkeit.

Diebstahl ^ i ^ Einer meiner Patienten w u r d e v o n einem Angestellten verschiedent-


lich bestohlen. Zunächst empörte er sich u n d dachte an fristlose Kündi-
gung. I n einem Konfliktgespräch, das er so führte, dass dem M i t a r b e i -
ter keinerlei Ängste i m Interagieren a u f k a m e n , gelang es i h m , den
G r u n d für die Diebstähle ausfindig zu machen. D e r M i t a r b e i t e r w a r
n i c h t i n der Lage, die Kosten für die Behandlung eines seiner Kinder,
das an Leukämie e r k r a n k t war, a u f z u b r i n g e n . Der Vorgesetzte erkann-
te, dass das unrechtmäßig angeeignete Geld (etwa 2 0 0 0 , - D M ) einem
Z w e c k zugeführt w u r d e , den er nachvollziehen k o n n t e . Er sah sich n u n
v o r eine Fülle v o n O p t i o n e n gestellt, wie er i n der Sache verfahren
könne: (a) Er k o n n t e Strafanzeige stellen u n d den M i t a r b e i t e r fristlos
entlassen, (b) er k o n n t e v o n der Strafanzeige absehen, sich m i t dem
M i t a r b e i t e r auf einen Enlassungsgrund einigen u n d nach erfolgter A b -
m a h n u n g eine fristgerechte Kündigung aussprechen, (c) er konnte sich
der Einsicht öffnen, dass i n einer solchen N o t l a g e das Verhalten des
M i t a r b e i t e r s z w a r n i c h t legal, w o h l aber i n gewisser Weise legitim war.
Der M i t a r b e i t e r benötigte das gestohlene Geld sicher sehr viel nötiger
als er selbst. Er entschied sich für den d r i t t e n Weg, da er erkannte, dass
es i h m n i c h t gelungen war, ein tragfähiges u n d i n Krisensituationen
auch belastbares Vertrauensverhältnis zu seinem M i t a r b e i t e r aufzubau-
en. Sonst hätte der u m ein Darlehen bitten können, über dessen Rück-
zahlung m a n sich schon einigen würde.

Ehebruch 'i*- Ein Ehemann erfuhr zufällig, dass seine Frau einen Freund hatte,
m i t dem sie ein gelegentlich recht intimes Verhältnis verband. Bei einem
m i n d e r großmütigen Menschen wäre entweder die Liebe gestorben,
oder sie hätte sich Eifersuchtsszenen vorgestellt. G i b t es doch i n der Tat
Menschen, welche das Verhalten der Frau als mangelnde Liebe inter-
pretieren u n d die Schuld ausschließlich beim anderen suchen (und we-
gen ihrer Selbstblindheit auch finden). Gelegentlich höre ich sogar das
abstruse A r g u m e n t : »Wer n i c h t eifersüchtig sein k a n n , der liebt auch
nicht.« Dabei ist das genaue Gegenteil der F a l l . Eine Liebe, die nicht
180 II. Das Leben aus erster Hand - 2. Die sekundären Tugenden

verzeihen kann, ist recht ärmHch i n den Vorhöfen des Liebens verhun-
gert. Der Ehemann tat das einzig Richtige: Er überlegte, was er selbst
falsch gemacht haben könnte, sodass seine Frau ihre erotische Erfül-
lung bei einem D r i t t e n suchte. Er entdeckte plötzlich, dass er m i t seiner
Frau selten - u n d i n den letzten Jahren gar n i c h t mehr - über ihre I n -
teressen, Bedürfnisse, E r w a r t u n g e n gesprochen hatte. Sie w a r e n i h m
unbekannt. Das führte z w i n g e n d dazu, dass die Beziehung i n die D i v e r -
genz führte. Als es i h m gelang, gegen anfängliche Widerstände seiner
Frau, diese Themen zu besprechen, konnte nach einigen M o n a t e n auch
die Freundschaft m i t einem D r i t t e n zu Sprache k o m m e n . W i e selbstver-
ständlich regenerierte sich die alte Beziehung. Die Freundschaft w u r d e
v o n der Frau als eine wichtige Lebensepisode gesehen, i n der sie viel ge-
lernt habe über Treue u n d Liebe.
Bestandsaufnahme 181

Bestandsaufnahme

Wie steht es mit meiner Weisheit (s. S. 119-122)?

... Tapferkeit (s. S. 122-124)?

... Gerechtigkeit (s. S. 124-126)?

... Besonnenheit (s. S. 126-131)?

... Geduld (s. S.131-134)?

... Toleranz (s. S. 134-138)?

... Alterozentrierung (s. S. 138-147)?

... Hilfsbereitschaft (s. S. 147-153)?

... Fähigkeit zum Vertrauen (s. S. 153-159)?

... Realisierung von Idealen in Werten (s. S. 159-165)?

... Treue (s. S. 165-169)?

... Diskretion (s. S. 169-172)?

... Authentizität (s. S. 172-175)?

... »Hohen Minne« (s. S. 175/176)?

... Liebe (s. S.176-178)?

... Großmut (s. S. 178-180)?

Welche dieser Tugenden spielen in meinem Leben eine bestimmende Rolle?


182 II. Das Leben aus erster Hand - 2 . Die sekundären Tugenden

Welche dieser Tugenden fehlen mir fast völlig?

In welchen Situationen zeigen sich meine Stärken?

In welchen Situationen zeigen sich meine Schwächen?

Will ich etwas ändern?

Was gewinne ich, wenn ich mich ändere?

Was kann ich dabei verlieren?

Wie kann ich es ändern?

Wie will ich vorgehen?


Erster Schritt wäre ...

Der zweite Schritt könnte sein ...

Als dritten Schritt nehme ich mir vor...


3. Weitere Charaktermerkmale, die
Lebenserfolg bedeuten können

Es gibt kein Sicherlich beantworten die Primärtugenden u n d die ihnen u n m i t t e l b a r


Patentrezept zugeordneten C h a r a k t e r m e r k m a l e n i c h t alle Fragen nach dem Lebens-
erfolg oder (bei i h r e m Fehlen) dem M i s s e r f o l g eines Menschenlebens,
die uns unser Thema a u f g i b t . Daher sollen hier noch einige Charakter-
merkmale genannt w e r d e n , die für die B e a n t w o r t u n g unserer Frage, o b
Charakter ein H a n d i c a p sei oder n i c h t , erheblich sind. Dabei muss je-
doch stets bewusst bleiben, dass eine vollständige Aufzählung unmög-
lich ist. Bewusst bleiben muss aber auch, dass sich alle »Tugenden«, die
hier eine Rolle spielen, v o n Mensch zu M e n s c h , v o n Situation zu Situa-
t i o n anders darstellen können u n d müssen. W i e alle »Tugenden« sind
sie f o r m a l zu verstehen. Das bedeutet, dass ihre Ubersetzung i n k o n k r e -
ten Anwendungsfällen sehr unterschiedlich ausfallen k a n n und muss.
Eine I n t e r a k t i o n , die i n einem Fall einer lebensfördernden »Tugend«
gehorcht, k a n n i n einem anderen personales Leben bei allen Beteiligten
mindern.

Die Demut

Sich selbst Die A n t i k e kennt keine Tugend der Demut. Erst i m apostolischen Z e i t -
annehmen alter bezeichnete das W o r t Demut eine Tugend. Erst durch I m m a n u e l
K a n t erhält Demut eine auch profane Bedeutung. Sie ist das »Bewusst-
sein u n d Gefühl der Geringfügigkeit seines moralischen Wertes in Ver-
gleichung m i t dem Gesetz.« Sie kennt keinen H o c h m u t , der z. B. i m
Vergleich m i t anderen Personen oder gar i m Versuch, sie zu übertreffen,
a u f k o m m e n könnte. Sie ist die Selbsteinschätzung der eigenen inneren
Würde als sittliches Wesen.-'-''
W i r w o l l e n hier Demut verstehen als die Bereitschaft u n d Fähigkeit,
sich selbst in seinem So-Sein m i t allen Möglichkeit u n d Grenzen anzu-

55 A A V I , 4 3 5
184 II. Das Leben aus erster Hand - 3. Weitere Charaktermerkmale, die Lebenserfolg

nehmen. Das soll nicht bedeuten, dass m a n auf das Weiten v o n Gren-
zen, insoweit dieses möglich ist, verzichtet. D e m u t weiß v o n den eige-
nen Möglichkeiten u n d Fähigkeiten, die es z u m eigenen u n d fremden
N u t z e n zu entfalten gilt. Sie kennt aber auch die eigenen Charakterfeh-
ler {= Fehler, die m a n m i t eigenen M i t t e l n n i c h t überwinden k a n n , wie
etwa bei manchen Menschen Ehrgeiz, Flabsucht, Trägheit) u n d ver-
sucht, sie aus i n t e r a k t i o n e l l e m Geschehen fernzuhalten. A l l e i n die
D e m u t verhindert, dass das Selbstkonstrukt realitätsabgelöst gebildet
w i r d . Insoweit ist die D e m u t das Gegenteil v o n H o c h m u t u n d A r r o -
ganz. Die D e m u t zeigt sich i m interaktioneilen Geschehen o f t - w e n n
auch n i c h t ausschließlich - als
• Bescheidenheit. Sie erscheint bei I m m a n u e l K a n t als »Mäßigung i n
Ansprüchen, das ist freiwillige Einschränkung der Selbstliebe eines
Menschen«^^. So sei sie auch hier verstanden. Sie setzt einen reifen
Narzissmus voraus. Das Verzichten-Können als freiwillige Beschrän-
k u n g der Selbstliebe setzt voraus, dass Selbstliebe auch ein Übermaß
kennt, auf das verzichtet w i r d . Dabei ist n i c h t der generelle Verzicht
auf die Selbstliebe gemeint, denn Selbstliebe gehört zur Vorausset-
zung jeder Fähigkeit, andere zu lieben. Gemeint ist vielmehr eine
Selbstliebe, die das Ego i n den M i t t e l p u n k t alles Geschehens stellt.
Wenn sich bei einem Menschen die Einstellung breit macht, dass
wohlenaorbene Besitzstände unantastbar sind, w e n n ein Mensch
nicht mehr bereit ist zu teilen, auch etwas v o n sich selbst m i t ande-
ren zu teilen, d a n n hat die Selbstliebe - nicht selten vorgestellt als
Bescheidenheit - perverse Gestalt angenommen.

Cargo-Kult • Verzichten-Können. Das Verzichten-Können auf Dinge, die man


leicht erwerben könnte, ist eine wichtige Voraussetzung, u m nicht
zum Sklaven v o n M a c h t , Ansehen, R e i c h t u m , K o n s u m zu w e r d e n . I n
unserer Konsumgesellschaft ist sie m i t u n t e r verpönt. N i c h t nur w e i l
sie - p r i v a t wie v o l k s w i r t s c h a f t l i c h gesehen - die K o n s u m q u o t e m i n -
dert, sondern w e i l sie sich gegen den allgemeinen T r e n d wendet, der
den K o n s u m zu einer A r t G o t t gemacht hat, der letztlich über das
Glücken oder Missglücken eines Menschenlebens entscheidet. Der
gilt als der Glücklichste, der, ohne Schulden zu machen, hemmungs-
los seinen Konsumwünschen folgen k a n n . I m Grunde frönen diese
Menschen einem p r i m i t i v e n , früher n u r i n Melanesien explizit geleb-
ten Cargo-Kult. I m 19. Jahrhundert fassten die E i n w o h n e r Melane-

56 M e t a p h y s i k der Sitten, Ethische Elementarlehre § 3 7 . I m Gegensatz dazu behauptet J.


W. v o n Goethe: » N u r die L u m p e sind bescheiden. Brave freuen sich der T a t . « A u c h A r -
t h u r Schopenhauer ist der M e i n u n g , Bescheidenheit k o m m e n u r d e m M i t t e l m a ß zu u n d
sei bei d e m T a l e n t i e r t e n nichts als H e u c h e l e i . Für M a x Scheler ist Bescheidenheit n u r das
Ergebnis eines Wettlaufes zwischen E i t e l k e i t u n d Scham, bei dem die Scham siegt.
Die Demut 185

siens die verlockenden Schiffsladungen, Cargos, der Weißen als Ga-


ben auf, die ihnen v o n den A h n e n zugedacht u n d d u r c h die jetzigen
Eigentümer heimtückisch v o r e n t h a l t e n würden. E i n ähnliches A n -
spruchsdenken ist heute an der Tagesordnung. N u r wenige M e n -
schen können noch verzichten. Sie sind schon stolz, w e n n sie etwa
während der Fastenzeit keinen A l k o h o l t r i n k e n . Das soll nicht
heißen, dass ein solcher Verzicht nicht anerkennenswert sei. Aber
das hier angesprochene Verzichten-Können geht weiter: Es betrifft
nicht irgendwelche außergewöhnlichen Situationen, sondern eine
Grundeinstellung z u m Efaben. Wer n i c h t verzichten k a n n , w i r d i n al-
ler Regel v o n den Sachverhalten, a u f die er n i c h t verzichten k a n n ,
besessen.
• Anspruchslosigkeit. Die Anspruchslosigkeit richtet sich nicht so sehr
auf das Verzichten, sondern geht diesem noch voraus. Der A n -
spruchslose verzichtet n i c h t , w e i l er seine Ansprüche an M a c h t , A n -
sehen, R e i c h t u m , K o n s u m n i c h t zu W o r t k o m m e n lässt. Er e n t w i -
ckelt erst gar n i c h t derartige Bedürfnisse. M a n könnte das fälschlich
- wegen der Ähnlichkeit der Symptome - auf eine ausgeprägte »Be-
dürfnisfaulheit« zurückführen oder gar als M a n g e l an gesunder Ei-
genliebe verstehen. Beides aber w i r d der Anspruchslosigkeit nicht
gerecht. Diese w u r z e l t vielmehr i n der Überzeugung, dass Ansprü-
che, die das Lebensnotwendige erheblich überschreiten, sich v o r
allem bei solchen Menschen e n t w i c k e l n , deren Selbstdefinition v o m
Lfaben her geschieht, die an Mindergefühlen leiden, die unfähig sind,
ihr Eigenbild v o m k i n d l i c h e n übergroßen Selbstideal abzulösen.

Fallbeispiele

Alles auf sich ' i ^ Eine schon ans Pathologische grenzende Eigenliebe finden w i r nicht
beziehen selten bei Menschen, bei denen D u m m h e i t u n d A r r o g a n z ständige
Llochzeit feiern. I c h erinnere m i c h an einen Vorstand eines großen
deutschen Unternehmens, dessen Eigenliebe so ausgeprägt war, dass er
jede kritische Bemerkung auf sich selbst bezog u n d entsprechend rea-
gierte. M a n hätte diese R e a k t i o n auf eine überstarke I d e n t i f i k a t i o n m i t
dem Kritisierten beziehen können. Das w a r aber n i c h t so. Als ich ein-
mal einen ganz offensichtlichen Fehler der Unternehmensleitung, den er
gar nicht z u v e r a n t w o r t e n hatte, zur Sprache brachte, reagierte er, als
hätte ich i h n einen Betrüger genannt. Andererseits plante er, das Unter-
nehmen aus einem n i c h t gekündigten Vertrag heraus zu verlassen. Sol-
che F o r m e n der Fehlbeziehung v o n K r i t i k , die i n einem Übermaß an
Selbstliebe w u r z e l t , finden sich keineswegs selten. Flier w i r d der M a n -
gel an Bescheidenheit zu einem offensichtlichen H a n d i c a p , das den Be-
186 II. Das Leben aus erster Hand - 3. Weitere Charaktermerkmale, die Lebenserfolg

troffenen unter Geschehnissen leiden lässt, die i h m gar n i c h t zugerech-


net werden.

Leben auf 'i^ Einem Unternehmer w a r das Verzichten zur charakterlichen Selbst-
kleinerem Fuß Verständlichkeit geworden, ohne dass sie etwa i m Geiz w u r z e l t e . Bei al-
ler Großzügigkeit des Gebens verzichtete er auf eine große W o h n u n g ,
als die K i n d e r flügge geworden w a r e n . Statt acht Z i m m e r n bewohnte er
n u r noch zwei. Statt eines großen Mercedes m i t Eahrer f u h r er einen
Mittelklassewagen ohne Eahrer. Statt seinen U r l a u b i n fremden Län-
dern zu verbringen, reiste er mittels öffentlicher Verkehrsmittel i n den
S c h w a r z w a l d , u m zu w a n d e r n . Statt Steaks zu essen, fand er Gefallen
an Salaten u n d Schnitzeln . . . I m Gegensatz zu seinem früheren Leben,
das v o n Verzicht nichts wissen w o l l t e , w u r d e er zu einem physisch, psy-
chisch u n d sozial gesunden Menschen, der sich noch a m Gesang der
Vögel freuen konnte u n d a m W i n d , der d u r c h die W i p f e l der Bäume
rauschte. Sein Charakter w a r i h m n i c h t mehr H a n d i c a p , sondern H i l f e
zu einem menschlichen Leben geworden.

Fehler der 'i^ Ein Geschäftsführer eines größeren Unternehmens w a r i n einer i h m


anderen selbstverständlichen Weise so anspruchslos geworden, dass er n i c h t
hinnehmen mehr unter den Fehlern seiner M i t a r b e i t e r (wie Unpünktlichkeit, U n -
sauberkeit, Unzuverlässigkeit ...) l i t t , sondern sich m i t der k o n k r e t e n ,
eigenen u n d fremden, menschlichen N a t u r versöhnt hatte, die n u n ein-
m a l n i c h t ohne Fehleinstellungen zu haben ist. Menschen sind keine
Roboter, sondern haben ihre i n G e w o h n h e i t oder Charakter w u r z e l n -
den Grenzen. Als er sich i m Verlauf eines therapeutischen Coachings
seiner eigenen Grenzen bewusst w u r d e u n d sich m i t diesen Grenzen
angenommen hatte, fiel es i h m n i c h t sonderlich schwer - nach einer
Z e i t der Eingewöhnung - , sich auch m i t den vielleicht anders gearteten
Grenzen seiner M i t a r b e i t e r abzufinden, w e n n sie n i c h t i n bösem W i l -
len oder Gleichgültigkeit w u r z e l t e n . Es gelang i h m , ein Betriebsklima
wechselseitigen Vertrauens aufzubauen, das auch den ökonomischen
E r f o l g sicherte.

Die IVIenschenführung

Führen ist eine Das Führen v o n Menschen bringt drei Elemente zu einer dialektischen
Dienstleistung Einheit: den Führenden, die Geführten u n d eine v o n beiden zu lösende
eigen- oder fremdgestellte A u f g a b e . G u t führt jeder, dem es gelingt,
f u n k t i o n a l u n d personal zu o p t i m i e r e n . F u n k t i o n a l o p t i m i e r t der, der
Aufwandsgrößen (psychische, soziale, zeitliche, finanzielle) m i n d e r t .
Personal führt gut, wer i n den Führungsinteraktionen - i m Sinne der
Die Menschenführung 187

B i o p h i l i e - M a x i m e - eigenes wie der Geführten personales Leben eher


m e h r t als m i n d e r t . I n jedem Fall aber ist Führen eine Dienstleistung, die
den Geführten erbracht w i r d . Wer sich als »Chef« oder »Boss« versteht
und n i c h t die v o n i h m gegenüber seinen M i t a r b e i t e r n zu erbringenden
Dienstleistungen in den V o r d e r g r u n d nicht nur seines Interesses, son-
dern auch seiner Flandlungen u n d Entscheidungen stellt, ist z u m
Führen ungeeignet. Die Qualität dieser Dienstleistung allein legitimiert
die m i t dem Führen verbundene Autorität.
•^^ ~ N u n ist Führen unter uns Menschen eine verbreitete Tätigkeit: Eltern
führen ihre Kinder, Lehrer ihre Schüler, Vorgesetzte ihre M i t a r b e i t e r ,
Unteroffiziere ihre R e k r u t e n , Bergführer ihre Seilschaften. Neben die-
ser ausdrücklichen A r t des Führens kennen w i r eine solche, die über
gruppendynamische Prozesse entsteht. Diese erzeugen ein oder mehrere
A l p h a - T y p e n , denen innerhalb der Gruppe eine fast durchgehend zu
verteidigende, w e i l stets in Frage gestellte D o m i n a n z zugestanden w i r d .
Führen verlangt die Begabung, subjektive N e i g u n g u n d objektive Bega-
b u n g zusammenzubringen. Der, dem die Führung v o n Menschen anver-
t r a u t ist, w i r d also versuchen, diese beiden K o m p o n e n t e n zusammen-
zubringen. I n einem Wirtschaftsunternehmen w i r d er v o r allem die
eigene soziale u n d fachliche Leistung u n d die seiner M i t a r b e i t e r zu
mehren suchen. I m Prinzip gilt folgende Regel:
Das Führen v o n Menschen hängt ab v o n den sozialen, emotionalen,
fachlichen . . . Begabungen des Führenden wie v o n denen der Geführten
vor dem A n s p r u c h einer zu lösenden Aufgabe. I n jedem Fall jedoch ist
erfolgreiches Führen n u r möglich i n einem Vertrauensfeld, i n dem der
Geführte wie der Führende stehen. Charakter - und der A u f b a u eines
Vertrauensfeldes ist nicht eine beherrschbare oder erlernbare Technik,
sondern A u s d r u c k einer charakterlichen Fähigkeit - ist alles andere als
ein Flandicap.

Fallbeispiele

Erfolgreicher ' i ^ I c h kenne eine außerordentlich erfolgreiche Führungspersönlich-


Chef, Typ I keit, die nahezu führt wie ein U v D auf dem Kasernenhof. U n d dennoch
gelingt es i h m , u m sich h e r u m ein Vertrauensfeld aufzubauen. Die M i t -
arbeiter sind bereit, für i h n durchs Feuer zu gehen. Bei einer Stichpro-
benbefragung waren es weniger als 10 % seiner ca. 800 M i t a r b e i t e r , die
nicht v o n i h m begeistert w a r e n . Die Interaktionskosten lagen in seinem
Bereich deutlich unter dem D u r c h s c h n i t t . Sein E r f o l g beruhte keines-
falls auf einer Angstbesetzung (etwa v o r Tadel oder Entlassungen), son-
dern allein auf dem Vertrauen, er werde für seine M i t a r b e i t e r eintreten,
selbst wenn sie erhebliche Fehler gemacht hätten.
188 I. Das Leben aus erster Hand - 3. Weitere Cliaraktermerkmale, die Lebenserfolg

Erfolgreicher " i " Eine andere FührungspersönHchkeit führte i n der genau entgegen-
Chef, Typ II gesetzten Weise - also i n K o o r d i n a t i o n . W e n n ich an einer Sitzung teil-
n a h m , w a r es aus der A r t des Miteinander-Umgehens unmöglich fest-
zustellen, wer hier der Chef war. I n diesem Unternehmen gab es keine
Stechuhren oder andere Weisen der Anwesenheitskontrolle. Eür A k q u i -
sitionen w a r jeder v e r a n t w o r t l i c h , der für ein Unternehmen einen A u f -
trag erfüllte u n d i h n präsentierte. Der Führende, i n unserem Eall ein
Geschäftsführer, hatte ausschließlich die Aufgabe, Verträge (Werkver-
träge m i t K u n d e n , Anstellungsverträge m i t M i t a r b e i t e r n ) zu unter-
schreiben - ansonsten w a r er einer v o n ihnen. M a n c h e n Führungskräf-
ten alten Stils werden sich bei diesem Bericht die Haare sträuben - aber
das Unternehmen w a r deutlich erfolgreicher als seine M i t b e w e r b e r .
Bestandsaufnahme 189

Bestandsaufnahme

Wie steht es mit meiner Demut (s. S. 183-186)

Wie steht es mit meiner IVIenschenführung (s. S. 186-188) ?

Welche dieser Tugenden spielt in meinem Leben eine bestimmende Rolle?

Welche dieser Tugenden fehlt mir fast völlig?

In welchen Situationen zeigen sich meine Stärken?

In welchen Situationen zeigen sich meine Schwächen?


190 II. Das Leben aus erster Hand - 3. Weitere Charaktermerkmale, die Lebenserfolg

Will ich etwas ändern?

Was gewinne ich, wenn ich mich ändere?

Was kann ich dabei verlieren?

Wie kann ich es ändern?

Wie will ich vorgehen?

Erster Schritt wäre ...

Der zweite Schritt könnte sein ...

Als dritten Schritt nehme ich mir vor.


Worte zum Schluss

Natürlich kennen w i r alle Beispiele v o n Menschen, die ihren ökonomi-


schen, politischen, sozialen, k u l t u r e l l e n E r f o l g ihrer Charakterlosigkeit
verdanken. Die vorgestellten Texte u n d Beispiele verfolgen n u r den
Z w e c k aufzuzeigen, dass solche »Schweine« eine Menge an Erfolgen
haben können, die i n Ängsten - ihren eigenen w i e denen der anderen -
gründen. Leider berichten manche M e d i e n vor allem v o n solchen ent-
arteten Weisen, m i t anderen Menschen umzugehen - w e n n sie denn
schon vorübergehenden E r f o l g hatten.
W i e wäre es, w e n n w i r deutlicher zwischen Führungskräften, die
durchaus solche »Schweine« sein können u n d unter erschwerten U m -
ständen zu solchen werden können, u n d wahren Führungspersönlich-
keiten unterschieden?
N u n hält sich v e r m u t l i c h jede Eührungskraft für eine solche Führungs-
persönlichkeit - u n d lügt sich so i n die eigene Tasche, u m die Selbst-
achtung n i c h t zu verlieren. D o c h über dieses Thema handelt mein
nächstes Buch, das z u m Thema jene F o r m der maskierten U n r e d l i c h -
keit haben w i r d , die Menschen dazu b r i n g t , u m ihrer Selbstachtung
w i l l e n sich selbst zu belügen u n d ihren T r o g m i t einer Festtafel zu ver-
wechseln.
Literatur

Wolfgang Detel, M a c h t , M o r a l , Wissen. Suhrkamp Verlag Frankfurt/


Main 1998
Eugen Gürster: M a c h t u n d Geheimnis der D u m m h e i t . A r t e m i s Verlag
Zürich u n d Stuttgart 1967
Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. H r s g . v o n der Königlich
Preussischen Akademie der Wissenschaften. Reimer Verlag (u. a.)
Berlin 1900 ff. (= A A )
Eckart Klobe: W a h r n e h m u n g , Werte u n d die D y n a m i k v o n sekundären
Tugenden. 1998
Rupert Lay: Führen d u r c h das W o r t . Langen-Müller Verlag München
1978
- : Die M a c h t der M o r a l . Econ Verlag Düsseldorf 1990
- : Nachkirchliches C h r i s t e n t u m . Econ Verlag Düsseldorf 1995
- : Weisheit für Unweise. Econ Verlag Düsseldorf 1997
Claude Levi-Strauss: Strukturale A n t h r o p o l o g i e . Suhrkamp Verlag
Frankfurt/Main 1992
Stanley Milgram, Das M i l g r a m - E x p e r i m e n t . R o w o h l t Verlag Reinbek
1982
Robert Musil: Über die D u m m h e i t . Alexander Verlag Berlin 1999
Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Suhrkamp Ver-
lag F r a n k f u r t / M a i n 1999

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