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Jan Loheit
Die Erfindung des ›ästhetischen Kapitalismus‹
Andreas Reckwitz und die Schicksale von Ästhetik und Sozialkritik1
Nicht anders als ›die Kultur‹, die einem »Betriebssystem« gleicht, »auf dem alle
widerstreitenden Programme der Gesellschaft laufen« (Haug 2011, 7), bildet die
aus ihrer philosophischen Tradition entbundene ›Ästhetik‹ eine Kategorie, die
eine unendliche Mannigfaltigkeit von Stoffen aufgesogen hat. In den Kulturwis-
senschaften nimmt sie eine Schlüsselrolle ein. Mit den Umbrüchen, die seit den
1970er Jahren die westlichen Industriegesellschaften kennzeichnen, ist sie, in ihrer
ursprünglichen Bedeutung von sinnlicher Wahrnehmung, zu einem Grundbegriff
der Alltagskultur aufgestiegen. Ihr Statuswechsel beschreibt, wie Karlheinz Barck
konstatiert, eine »Öffnung des Geltungsbereichs der Ästhetik«, die »über Kunst und
Künste« hinaus auch »andere Bereiche von Wissen, Alltag, Politik, Ökonomie und
Natur« umfasst (ÄG 1, 309). Mit dieser Öffnung, die der Begriff der ›Ästhetisierung‹
anzeigt, verbindet sich die Transformation einer Reihe von theoretischen Feldern.
Eines dieser Felder ist die Kultursoziologie. Zu ihren einflussreichsten Expo-
nenten gehört Andreas Reckwitz. Er schlägt vor, die Frage nach dem Ästhetischen
zum Angelpunkt für eine »Revision des soziologischen Blicks« (2015, 21) zu
machen. Er tut dies im Namen einer »Gesellschaftskritik«, in der die Frage danach,
was er »ästhetische Praktiken« nennt, ins Zentrum der Theoriebildung gerückt wird.
Die Blickwendung soll ermöglichen, die »Transformation der modernen […] Gesell-
schaften vom 19. Jahrhundert bis heute als eine Sequenz von gesellschaftlichen
Ästhetisierungsformen und Ästhetisierungsschüben« zu untersuchen (31). Aber was
bedeutet dies für das Schicksal von Kritik und Ästhetik? Die folgende Untersuchung
nimmt sich dieser Frage an, indem sie der operativen Grammatik und dem inneren
Zusammenhang der Ausdrücke nachgeht, die Reckwitz in Verwendung bringt.
Die Ausgangslage
Die Revision der Kultursoziologie, die Reckwitz vorschlägt, steht im Zeichen jener
Neugründung, die mit dem Namen Bruno Latours verbunden ist. Mit Furor kassiert
sie die moderne Soziologie und betreibt die Dekomposition ihres begrifflichen
Universums. Wie Latour die »Purifizierungsbemühungen der Moderne« zu über-
1 Für ihre weitertreibenden Anregungen möchte ich den Mitgliedern der Heftredaktion danken.
Dank gilt auch Martin Sexl und Martin Küpper, die mich auf neue Spuren geführt haben.
winden strebt, die »klare Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen, zwischen
Kultur und Natur/Technik« geschaffen habe, so Reckwitz die »moderne Separie-
rungstechnologie«, die einen »Dualismus« zwischen »dem Ästhetischen und dem
Rationalen« erzeugt habe (2012, 28).2
Die unterstellte Ausgangslage ist verblüffend. War es nicht der Namensgeber
der Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten, der von der sinnlichen Erkenntnis als
dem »Analogon der Vernunft« gesprochen hat, das gegenüber dem »streng logischen
Denken« nicht vernachlässigt werden könne, ohne letzterem zu schaden (1750/58,
§9, 7)?3 Nicht anders dachte Kant, als er in seiner Kritik der reinen Vernunft nach der
Möglichkeit synthetischer Urteile fragte, die ihn den Vermittlungen von sinnlicher
Erfahrung und transzendentaler Vernunft nachspüren ließ. Die Frage durchzieht
die kantsche Erkenntnistheorie ebenso wie die Kritik der Urteilskraft. Seit alters
beschäftigt sie die Philosophie. Vollends unsinnig aber erscheint der Vorwurf, sobald
man Hegel zu Rate zieht, erklärte er es doch für den »Grundmangel« eines jeden
»dualistischen Systems«, durch Inkonsequenz »das zu vereinen, was einen Augen-
blick vorher als selbständig, somit als unvereinbar erklärt worden ist« (W8, §60,
143).4 Die Dialektik, zumal in der materialistischen Gestalt, die Marx ihr gegeben
hat, durchquert den Gegensatz, der hier in Rede steht. Wogegen also soll sich die
Dualismus-Kritik richten?
Es scheint, als ginge es darum, die »große Entmischungsarbeit« (Haug 1993,
140), die im Gefolge der Aufklärung zur Maßgabe von Kritik und begrifflicher
Unterscheidung wurde, wieder rückgängig zu machen. Kants kritisch-rationale
Ausarbeitung des Wahren, Guten und Schönen zu einem je eigenen Begründungs-
zusammenhang unterminierte den kirchlichen Autoritätsanspruch und stärkte den
innerweltlich handelnden Menschen. Das scheint bei Reckwitz vergessen, dem
es um die »unreinen Kombinationen«, um »Mischpraktiken« geht, »in denen
Zweck- und Normorientierung mit relativ eigengewichtigen sinnlichen Wahrneh-
mungsakten und Empfindungen kombiniert sind« (2012, 28f). Die Gegenstände der
Theorie vervielfältigen sich dabei auf üppigste Weise. Die »ästhetischen Elemente«
durchziehen die »Spekulation an der Börse«, »freundschaftliche Interaktionen«,
»kriegerische Aktivitäten« ebenso wie das »Sich-Bewegen im öffentlichen Raum«
oder den »Pflanzenbau« (29). Wie dem König Midas alles, was er berührte, zu Gold
wurde, so werden Reckwitz sämtliche Phänomene der Alltagskultur zu Gegen-
ständen der Ästhetik: »Der Besuch des Fußballstadions kann ebenso als ästhetische
Praktik verstanden werden wie touristisches Reisen, das Streifen durch die Shopping
Mall, das Arbeiten an einer Werbekampagne, einem Musikstück oder einem gastro-
nomischen Erlebnis, die ›quality time‹ von Paaren und Familien, das Volksfest einer
Dorfgemeinschaft oder das Treffen von Furries.« (2015, 26)
Reckwitz handelt sich folgendes Dilemma ein: Um den Begriff der
›Ästhetisierung‹ bilden zu können, muss er von sozialen Praktiken ausgehen, die
selber nicht ›ästhetisch‹ sind. Das zwingt ihn zu einer Abstraktion, die er zuvor
mit Latour als »Purifizierungsbemühung« verworfen hat. Entsprechend besitzt der
»spezifische Begriff des Ästhetischen« (2012, 22), den er seiner Untersuchung
zugrunde legt, alle Eigenschaften, die, um in seiner Sprache zu sprechen, einen
›Dualismus‹ bilden. Denn für ihn ist der »Gegenbegriff zum Ästhetischen« gerade
das, was der von ihm supponierten Vorstellung der modernen Soziologie eigen ist.
Das Ästhetische, erklärt er, besitze eine dem zweckrationalen Handeln gegenüber
selbständige Eigendynamik, in der die sinnliche Wahrnehmung ihren Selbstzweck
verfolgt. »Idealtypisch lassen sich so ein rationalistischer Weltbearbeitungsmodus,
der zielgerichtetes und normatives Handeln umfasst, und ein ästhetischer Selbstver-
arbeitungsmodus der sinnlichen Wahrnehmung einander gegenüberstellen.« (25f)
Wieso glaubt er also, sich im Gegensatz zu jenem ›Dualismus‹ zu befinden, den
er kritisiert? Schließlich bedarf es theoretischer Unterscheidungen, um überhaupt
Bestimmungen eines Objekts begrifflich herausarbeiten zu können. Freilich sind
dabei die »Ansichten über die Dinge«, wie Brecht lehrt, »keineswegs im Verstand
so angeordnet und so verknüpft wie die Dinge« (GA 22.1, 97). Weil der Unter-
schied, den das Denken macht, um auf einem bestimmten Feld handlungsfähig zu
werden, kein empirisches Konkretum abbildet, glaubt Reckwitz, gegen den Diskurs
der Moderne betonen zu müssen, dass »rein zweckrationale Handlungsformen«
und solche, die »ausschließlich an Sinnen und Affekten orientierte Aktivitäten«
darstellen, »Extrempunkte eines Kontinuums« sind (28). Aber war dies aller bishe-
rigen Soziologie nicht ebenso gegenwärtig wie der modernen Philosophie?
Gegenüber der abstrakten Unmittelbarkeit, in der sich, wie Hegel sagt, die sinn-
lichen Bestimmungen präsentieren, muss die Wissenschaft die Anstrengung des
Begriffs pflegen.5 Von dieser Anstrengung entbindet keine Theorie, solange sie den
Namen der Kritik beansprucht. Doch mehr noch, als nur den Namen reklamierend,
fordert Reckwitz, die Frage nach dem Ästhetischen zum »kritischen Maßstab […]
für eine kritische Gesellschaftstheorie« zu machen (2015, 15f). Sie soll in die Lage
versetzen, den Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung zu begreifen. Was aber soll
nun ›Ästhetisierung‹ bedeuten? Reckwitz meint damit zunächst nichts anderes, als
»dass sich etwas ausdehnt und an Komplexität gewinnt: dieses Etwas ist das Ästhe-
tische« (2012, 21).
5 »Mühe und Anstrengung des Begriffs sind unmetaphorisch«, wie es bei Adorno heißt. Denn
die »Verhaltensweise des Denkens« ist »Eingriff, kein bloßes Empfangen« (GS 5, 268).
geschichte« (MEW 40, 541f). Der Begriff der ›ästhetischen Praktiken‹ hat daher,
für sich genommen, keine schlagende Evidenz. Eine Wahrnehmung, die alles, was
nicht bloße Sinnlichkeit ist, aus sich ausschließt – »Sinnlichkeit um der Sinnlichkeit
willen«, die »ästhetische Wahrnehmung« (2012, 23) –, ist keine Wahr-Nehmung,
wenn ihr nicht, wie mit Kant eingewandt werden muss, die »Recognition im
Begriffe« zur Verfügung steht. Ihre Gegenstände gehen notwendigerweise durch den
Filter der »gesellschaftlichen Erfahrungs-Kumulation« (Holzkamp 2006, 152), die
sich im Begriff repräsentiert.
Die Schwierigkeit, die sich für Reckwitz ergibt, besteht darin, dass seine
Begriffsbildung der Binarität verhaftet bleibt, deren Überwindung er verkündet.
Da das ästhetische Wahrnehmen »zu allen Zeiten und in allen Räumen auftauchen«
könne, ob beim »landwirtschaftlichen Arbeiten oder im Labor« – selbst in »Not- und
Zwangslagen« –, will Reckwitz seinen Gegenstand einkreisen, indem er den Aspekt
›ästhetischer Praktiken‹ heraushebt, und zwar solcher, die sich »in einer sozial regu-
lierten Form« geltend machen (2015, 25f). Wieder stößt er auf das Hindernis, das
ihm, wie er glaubt, die Grundbegrifflichkeit der modernen Philosophie und ihre Fort-
wirkung in der Soziologie in den Weg legen. Denn die »moderne Soziologie« habe
das »leibliche Erleben«, die »affektive Gestimmtheit« und den »offenen Umgang mit
Interpretationen und ihren Mehrdeutigkeiten« aus ihrem Diskurs ausgeschlossen,
indem sie es »dem Psychischen, dem Körperlichen oder dem Individuellen zuge-
schrieben« und als »das Andere des Sozialen« gefasst habe (19). Reckwitz beklagt
deshalb, unter Berufung auf Wolfgang Eßbach, eine »antiästhetische Haltung« der
modernen Soziologie. Aber wie hätte ein Norbert Elias dem Prozess der Zivilisation
nachgehen können, wenn er die Frage der individuellen Affektimpulse, die ihre
Kultivierung in bestimmten Sozialformen erhalten, nicht zum Gegenstand seiner
Figurationssoziologie gemacht hätte? Wie hat sich etwa Pierre Bourdieu, der seine
Feldtheorie des Geschmacks in der von Reckwitz geschmähten Tradition entwickelt,
den Fragen von Affektivität und Leiblichkeit nähern können?
Reckwitz scheint zu ahnen, dass er unter dem schematischen Rigorismus, mit dem
er über ein ganzes Jahrhundert soziologischer Forschung und Theoriebildung urteilt,
auch alle Traditionen begräbt, deren Werke die Fußnoten seiner Arbeit zieren. Er
behilft sich, indem er vom ›Mainstream‹ eine »Peripherie soziologischen Denkens«
unterscheidet, in der er »Tendenzen einer Kulturkritik der Moderne« vermutet (2015,
20). Es sind Namen wie Adorno, Marcuse, Bataille und Debord, die er mit seiner
›rettenden Kritik‹ ins soziologische Exil schickt. Sie dienen ihm als Ressource, der er
Begriffe wie »Entfremdung«, »Vergesellschaftung«, »Subjekt«, »Kapitalismus« u.a.
entnimmt, um sie in die Grammatik seiner ›ästhetischen Kritik‹ einzuarbeiten, die all
diese Elemente aus ihrer ursprünglichen Kritikfunktion herauslöst. Dies macht seine
Theorie für alle Seiten verführerisch. Sie lässt von Kapitalismus sprechen und führt
auch den Namen der Kritik mit sich. Doch nimmt sie die Gestalt einer Ȋsthetischen
Gesellschaftskritik« (2015, 42) an, die ihren Gegenstand in einen »affektiven und
ästhetischen Kapitalismus« (38) verwandelt.
7 »Wenn mit dem Interesse am ästhetischen Reiz«, fragt Siebel, »nicht nur eine Dimension der
Gesellschaftsanalyse benannt sein soll, sondern wirklich das Dispositiv dieser Gesellschaft,
müssten dann nicht Not und Ungleichheit aus der Welt geschafft sein?« Dagegen gibt er zu
bedenken, dass die »Utopie eines vom Arbeitszwang befreiten Lebens«, in der »ein Interesse
an rein ästhetischen und gebrauchswertfreien Neuheiten in einer Gesellschaft bestimmend
werden«, ihre Verwirklichung erst noch vor sich hat (2015, 282).
8 Das Wörterbuch entsteht Mitte der 1980er Jahre in Reaktion auf einen gesellschaftlichen
Umwälzungsprozess. Die »kulturellen Umbrüche und Funktionsveränderungen der
Gegenwart«, heißt es zur Konzeption, hätten das »ästhetische Denken und den Begriff
der Ästhetik« (Barck u.a. 1989, 10) auf eine Weise verändert, die traditionelle Theorien zu
»schlechter Abstraktheit« habe verkommen lassen (12).
gesagt werden, ist die ›Kreativökonomie‹ eine »ebenso enthüllende wie verhüllende
Bezeichnung«. »Von Informationen allein kann man nicht leben«, auch von ›Ideen‹
und ›Symbolen‹ nicht (1988, 77).
Gesellschaft im Kern entästhetisierend« wirke (2012, 31). Marx soll sogar, offenbar
weniger stillschweigend, in seinen Pariser Frühschriften eine »Entästhetisierungs-
kritik« (32) geleistet und ein »normatives Modell der gesellschaftlichen Praxis«
entwickelt haben, das sich am »Künstler als Modell einer schöpferischen Existenz«
inspiriert (80). Aber das Reich der Freiheit, in der »die freie Entwicklung eines jeden
die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4, 482), erspart die Mühen
nicht, die im Reich der Notwendigkeit warten. »Wie der Wilde mit der Natur ringen
muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu repro-
duzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen
und unter allen möglichen Produktionsweisen.« (MEW 25, 828)
Die Zerstörung der Grundbegrifflichkeit, die sich dem Erbe moderner Philoso-
phie verdankt, wird nicht ohne rhetorische Versicherungen betrieben. Die Fragen
der Soziologen seien, wie Reckwitz betont, weiterhin »zukunftsweisend und
notwendig«; es gelte nur, ihre ›Eindimensionalität‹ durch »Rehabilitierung des
sinnlichen, affektiven und leiblichen Erlebens sowie des expressiven Handelns«
zu durchbrechen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn das Ästhetische selbst
nicht, wie Reckwitz vorschlägt, »als Grundlage des Sozialen« angenommen werden
sollte (2015, 20). So entsteht ein bizarrer Gegenabsolutismus, in dem sich das
phantasmatische Bild, das sich Reckwitz von der modernen Philosophie macht,
bloß zu spiegeln scheint. Die Kategorien der Ästhetik bilden das enzyklopädische
Kompendium, aus dem er die Strukturmerkmale des Kapitalismus ableitet. Doch
mit der Preisgabe der in der Philosophie ausgebildeten Unterscheidungsfähigkeit
geht das Fehlen von Kriterien einher, die das überwältigende Material organisieren
helfen könnten. Die Ambivalenz wiederholt sich im synkretistischen Verfahren,
das Reckwitz die Berufung auf disparate Positionen erlaubt und alle Türen offen
lässt. Die »Kriterien des Ästhetischen«, die er zur Relativierung des »Kreativitäts-
dispositivs« einfordert, bleiben auf diese Weise im Dunkeln. Auch deshalb mündet
seine Kritik der ›ästhetischen Ökonomie‹, deren Standpunkt und Perspektive den
Mangel der Selbstreflexion leiden, in der Privat-Selbständigkeit des Individuums,
dem er »Strategien der Selbstbegrenzung« empfiehlt. Den »Ästhetisierungsüberdeh-
nungen« soll mit »Stärkungen der Moralität« und »gezielten Verlangsamungen und
Konzentrationen« begegnet werden (2012, 367f). Indem Reckwitz das Theorem der
Ästhetisierung aus seiner »begriffshistorischen Brisanz« löst (2012, 29),9 fällt ihm
jenes »Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse« aus dem Blick, das in
der Ästhetisierung, wie Walter Benjamin in seiner Faschismuskritik darlegte, einen
»Ausdruck in deren Konservierung« erhielt (GS 1, 467). Die Kritik verflüchtigt sich
stattdessen in die Unverbindlichkeit einer Konsumkritik, die halb im Banne der
eigenen Begeisterung steht.
9 Neben Benjamin verweist Reckwitz auf den für ihn ebenso ›brisanten‹ Carl Schmitt. Dass
er beide Namen in einem Atemzug nennt, vereinfacht es ihm, die »von ›rechts‹ […] wie von
›links‹« entwickelte Kritik der Ästhetisierung, die »auf ein als problematisch wahrgenom-
menes Phänomen« verwies, zu desartikulieren (2012, 29, Fn. 14). Faschistische Artikulation
und antifaschistische Kritik bringt er so in einen gleich-gültigen Zusammenhang.
Indes kann die »Ästhetisierung der menschlichen Existenz«, die auch Terry
Eagleton als den utopischen Kern der kritischen Theorie begreift, nicht vermittels
einer »Vernunft« vorweggenommen werden, »die sich ganz und gar dem Spieleri-
schen und Poetischen, dem Gleichnis und der Intuition überantwortet«. Vielmehr
bedürfe es einer »analytischen Rationalität, um die Widersprüche aufzulösen, die
uns daran hindern, einen Zustand zu erreichen, in dem der Instrumentalismus seine
unangenehme Herrschaft verlieren kann« (1994, 239). Eine Theorie aber, die, mit
Rücksicht auf die realen Vermischungen, alle Unterschiede kassiert, die das Instru-
mentelle vom Nicht-Instrumentellen scheiden lassen, hat die Rationalität nicht nur
getilgt, sondern sich auch des »Gespürs für ›Unterscheidung‹« beraubt, das Gramsci
zur Voraussetzung einer Weltauffassung erklärte, die kritisch und kohärent genannt
werden darf (H. 11, § 12, 1384). Die Frage nach der Dialektik des Ästhetischen, die
auf den Widerspruch zwischen Herrschaft und Befreiung geführt hätte, steht damit
außerhalb ihres Horizonts. Der auf Handlungsfähigkeit angelegte Sinn kritischer
Theorie, »im Ästhetischen«, wie Wolfgang Fritz Haug schreibt, »möglichst viel
Raum für gemeinwesensorientiertes Handeln zu gewinnen« (1993, 150), ist mit dem
von Reckwitz präsentierten Instrumentarium nicht zu haben.
Literatur
Adorno, Theodor W., Drei Studien zu Hegel, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt/M 2003
(zit. GS)
Altvater, Elmar, »Entbettung«, in: HKWM 3, Hamburg 1997, Sp. 438-44
Barck, Karlheinz, Martin Fontius u. Wolfgang Thierse, »Historisches Wörterbuch ästhetischer
Grundbegriffe«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 32, 1989, 7-33
ders., »Ästhetik/ästhetisch«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, hgg. v. ders. u.a., Stuttgart
2000/2010, 308-17 (zit. ÄG)
Baudrillard, Jean, Der symbolische Tausch und der Tod (1976), Berlin 2009
Baumgarten, Alexander Gottlieb, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der
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Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Erste
Fassung, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M 1974, 431-69 (zit. GS)
Brecht, Bertolt, Schriften 2, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.1,
Berlin-Weimar-Frankfurt/M 1993 (zit. GA)
Eagleton, Terry, Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart-Weimar 1994
Florida, Richard, The Rise Of The Creative Class. Revisited, New York 2012
Gramsci, Antonio, Gefängnishefte, kritische Ausgabe in 10 Bde., hgg. v. K. Bochmann,
W. F. Haug u. P. Jehle, Hamburg 1991-2002 (zit. Gef.)
Haug, Frigga, »In Computernetzen gefangen? Zum Verhältnis von Technik- und Gesellschafts-
kritik. Anmerkungen zu Kubicek und Rolfs Buch ›Mikropolis‹, in: Politik um die Arbeit, hgg. v.
Projekt Automation und Qualifikation, AS 167, Hamburg 1988, 77-88
dies., »Immaterielle Arbeit und Automation«, in: Das Argument 235, 42. Jg., 2000, H. 2, 204-14
Haug, Wolfgang Fritz, Elemente einer Theorie des Ideologischen, m. e. Nachw. v. J. Koivisto u.
V. Pietilä, AS 203, Hamburg 1993
Der Argument Verlag Hamburg und die Redaktion der Zeitschrift beglückwün-
schen Wolf Haug – Gründer, Autor, Ideengeber und beharrlicher Vorantreiber
dieser und weiterer kostbarer Projekte – zu seinem 80. Geburtstag. Wir freuen
uns, dass sein Werkstatt-Journal Jahrhundertwende zu diesem Anlass erscheint.
»Ein zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges.« Klaus Bochmann
Einsetzend im Juni 1990 zeigen die Aufzeichnungen u. a. die tägliche Auseinander-
setzung mit dem schrittweisen Zerreißen der Sowjetunion, der Abwicklung der
DDR, der Zerstörung Jugoslawiens, der ersten Welle von
Pogromen gegen ›Asylanten‹ und neonazistischem Vor-
dringen im wiedervereinigten Deutschland. Blitzartige
Einsichten gibt es viele, fertige Gewissheiten treten hin-
ter tastende Erkundungen zurück. Doch in der Notie-
rung zahlloser Einzelerscheinungen tritt der ungeheu-
re, Mensch und Natur durch Konsumismus und Krieg
verschleißende Welteroberungsschub des Kapitals ins
Bild – zugleich mit der technischen und auch politisch-
kulturellen Freisetzung neuer Handlungsmöglichkeiten.