Weltgeschichte
und Heilsgeschehen
Die theologischen Voraussetzungen
des Geschichtsphilosophie
1682 J.B.METZLER
Karl Löwith
Weltgeschichte und
Heilsgeschehen
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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ISBN 978-3-476-02010-9
ISBN 978-3-476-02944-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-02944-7
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Inhalt
9 Vorwort
11 Einleitung
30 Burckhardt
42 II Marx
61 III Hege!
69 IV Fortschritt contra Vorsehung
71 1. Proudhon
78 2. Comte
101 3. Condorcet und Turgot
114 V Voltaire
125 VI Vico
150 VII Bossuet
158 VIII Joachim
173 IX Augustin
187 X Orosius
196 XI Die biblische Auslegung der Geschichte
205 Beschluß
218 Nachwort
222 Anhang I: Verwandlung der Lehre Joachims
228 Anhang Il: Nietzsches Wiederholung der Lehre
von der ewigen Wiederkehr
241 Editorisches Nachwort. Von Bernd Lutz
Zum Andenken an meine Mutter
Vorwort
Der englische Text des von Dr. H. Kesting übersetzten und vom Verfas-
ser neu durchgesehenen Buches erschien 1949 beim Verlag der Chicago
Universität unter dem Titel Meaning in History. Das eigentliche Anlie-
gen dieser historischen Darstellung unseres geschichtlichen Denkens ist
der Versuch, eine Antwort zu finden auf die vor zehn Jahren gestellte
Frage: »Bestimmt sich das Sein und der >Sinn< der Geschichte überhaupt
aus ihr selbst, und wenn nicht, woraus dann?<< (Von Hege/ zu Nietz-
sche, Vorwort). Am Ende führt der Nachweis des theologischen Sinnes
unseres geschichtsphilosophischen Denkens über alles bloß geschichtli-
che Denken hinaus.
Eine gewisse Lockerheit der Darstellung ergab sich wie von selbst
daraus, daß diese Arbeit ursprünglich im Blick auf amerikanische Leser
geschrieben und in einer Sprache gedacht wurde, die sich der Verfasser
erst selbst zu eigen machen mußte. Manches wird infolgedessen betont
und ausführlich behandelt, was sich für den deutschen Leser wahr-
scheinlich kürzer und mit weniger Nachdruck hätte sagen lassen. Der
Verfasser hofft, daß dieser Mangel an Kürze und Strenge durch leichte-
re Verständlichkeit aufgewogen werden möchte. Er selbst hat es als
förderlich empfunden, daß er sich in eine Sprache einzuleben hatte, die
sich nicht zu begrifflichen Subtilitäten und verbalem Tiefsinn hergibt,
aber auf ihre eigene Weise genau und reich ist.
Im Text wurde einiges gekürzt und manches frei übersetzt. Im
Anmerkungsteil war es nicht immer möglich, alle Zitate aus englischen
Übersetzungen in den entsprechenden deutschen festzustellen.
dogmatische Glaube an den absoluten Wert der Geschichte als solcher ihren
eigentlichen Maßstab.
Einleitung 13
gerade deshalb ihre Bedeutung, weil keine Antwort sie zum Schweigen
bringt. Es gäbe gar kein Fragen nach dem Sinn der Geschichte, wenn
dieser in den geschichtlichen Ereignissen schon selbst offensichtlich
wäre. Andererseits kann aber die Geschichte auch nur im Hinblick auf
einen letzten Sinn als sinn-los erscheinen. Enttäuschungen gibt es nur,
wo etwas erwartet wird. Daß wir aber überhaupt die Geschichte im
ganzen auf Sinn und Unsinn hin befragen, ist selbst schon geschichtlich
bedingt: jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage
ins Leben gerufen. Nach dem letzten Sinn der Geschichte ernstlich zu
fragen, überschreitet alles Wissenkönnen und verschlägt uns den Atem;
es versetzt uns in ein Vakuum, das nur Hoffnung und Glaube auszufül-
len vermögen.
Die Griechen waren bescheidener. Sie maßten sich nicht an, den
letzten Sinn der Weltgeschichte zu ergründen. Sie waren von der sicht-
baren Ordnung und Schönheit des natürlichen Kosmos ergriffen, und
das kosmische Gesetz des Werdens und Vergehens war auch das Vor-
bild ihres Geschichtsverständnisses. Nach griechischer Weltanschau-
ung bewegt sich alles in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, wobei
der Hervorgang in seinen Anfang zurückkehrt. Diese Anschauung ent-
hält ein natürliches Verständnis des Universums, das die Erkenntnis
zeitlicher Veränderungen mit der von periodischer Regelmäßigkeit,
Beständigkeit und Unveränderlichkeit vereinigt. Das Unveränderliche,
wie es vor allem an der geordneten Bewegung der Himmelskörper
erscheint, war für sie von größerem Interesse und von tieferer Bedeu-
tung als alle progressive und radikale Veränderung. Die >>Revolution<<
ist ursprünglich ein natürlicher, kreisförmiger Umlauf, aber kein Bruch
mit einer geschichtlichen Überlieferung.
In diesem geistigen Klima, das von der Anschauung der natürlichen
Welt beherrscht war, konnte der Gedanke der weltgeschichtlichen Be-
deutung eines einzigartigen Ereignisses nicht aufkommen. Die Griechen
frugen zuerst und zuletzt nach dem Logos des Kosmos, aber nicht nach
dem Herrn der Geschichte. Selbst der Erzieher Alexanders des Großen
hat der Geschichte keine einzige Schrift gewidmet und schätzte sie
gegenüber der Dichtung gering, weil die Geschichte nur vom Einmali-
gen und Zufälligen handelt, Philosophie und Dichtung aber vom Im-
mer-so-Seienden. Für die griechischen Denker wäre eine ••Philosophie
der Geschichte<< ein Widersinn gewesen. Geschichte ist politische Ge-
schichte und als solche ein Anliegen von Staatsmännern und politischen
Historikern.
Einleitung 15
sal vorausgesagt hatte, was 150 Jahre nach Alexanders Eroberung des
persischen Reiches eintraf.
>>Denn wenn du nicht zahlloseJahreoder viele Generationen ins
Auge faßt, sondern nur diese letzten fünfzig Jahre, wirst du in ihnen
die Grausamkeit des Schicksals lesen. Ich frage dich, hältst du es für
möglich, daß vor fünfzig Jahren entweder die Perser oder der persi-
sche König oder die Mazedonier oder der König von Mazedonien,
wenn ein Gott ihnen die Zukunft vorausgesagt hätte, jemals ge-
glaubt hätten, daß zu der Zeit, in der wir leben, sogar der Name der
Perser gänzlich ausgelöscht sein würde- der Perser, die Herrscher
nahezu über die ganze Welt waren- und daß die Mazedonier, deren
Name vorher fast unbekannt war, jetzt die Herren des Ganzen sein
würden? Aber nichtsdestoweniger läßt dieses Schü;ksal, das niemals
mit dem Leben paktiert, das immer unsere Berechnungen durch
neue Schläge über den Haufen wirft, dieses Schicksal, das seine
Macht dadurch zu beweisen pflegt, daß es unsere Hoffnungen zu-
nichte macht, auch jetzt, so scheint mir, da es die Mazedonier mit
dem ganzen Reichtum Persiens ausgestattet hat, allen Menschen
offenbar werden, daß es ihnen diese Segnungen nur geliehen hat, bis
es sich entschließt, sie anders zu verteilen.<< (Polyb. hist. XXIX,21.)
Diese Wandelbarkeit des Schicksals stimmte die Alten nicht resi-
gniert, sondern wurde in mannhafter Zustimmung anerkannt. Im
Nachdenken über das Geschick gewann Polybios die Einsicht, daß alle
Völker, Städte und Autoritäten vergehen müssen, so wie auch die
einzelnen Menschen. Er berichtet Scipios Ausspruch nach dem Fall von
Karthago, daß nämlich das siegreiche Rom einst dem gleichen Schicksal
anheimfallen werde, und er fügt hinzu, es würde schwer halten, eine
Äußerung zu finden die »staatsmännischer und tiefsinniger<< wäre. Im
Augenblick des größten Triumphes an den möglichen Umschlag des
Schicksals zu denken, gezieme einem großen und vollendeten, des An-
denkens werten Manne. Polybios und sein Freund Scipio wiederholen
nur jene klassische Stimmung, wie sie schon Homer im Hinblick auf das
Schicksal von Troja ausgesprochen hatte. Und wo immer klassisches
Empfinden lebendig ist, bleibt dies die letzte Weisheit des Historikers 5 •
Die moralische Lehre, die sich aus der geschichtlichen Erfahrung
sehen des Künftigen für uns aber auch nicht wahrscheinlich. Vor
allem stehen ihm die Irrungen der Erkenntnis durch unser Wün-
schen, Hoffen und Fürchten im Wege, sodann unsere Unkenntnis
alles dessen, was man latente Kräfte, materielle wie geistige, nennt,
und das Unberechenbare geistiger Kontagien, welche plötzlich die
Welt umgestalten können.<< 6
Der letzte Grund indessen, weshalb »für uns<< die Zukunft dunkel
bleibt, ist nicht schon die Kurzsichtigkeit unserer Erkenntnis, sondern
das Fehlen jener religiösen Voraussetzungen, die den Alten die Zukunft
durchsichtig machten. Die Antike glaubte, wie die meisten heidnischen
1\ulturen, daß kommende Ereignisse durch eine bestimmte Kunst der
Weissagung entschleiert werden können. Man kann sie vorherwissen,
weil sie vorherbestimmt sind. Von einigen Philosophen abgesehen,
bezweifelte im Altertum niemand die Wahrheit von Orakeln, ominösen
Träumen und Vorzeichen, durch die sich künftige Ereignisse ankündig-
ten. Für die Alten, die an ein vorherbestimmtes Fatum glaubten, waren
kommende Dinge und Schicksale nur durch einen leichten Schleier
verhüllt, den ein inspirierter Geist zu durchdringen vermochte. Daher
wurden im griechischen und römischen Leben Entscheidungen von
einer Befragung des künftigen Schicksals abhängig gemacht. Dieses
Vertrauen auf Weissagungen verlor an Ansehen erst, als die Kirche es
chen 13 • Sie schaffen eine neue Atmosphäre und eine neue Art von
Gesellschaft, nämlich eine universale Kirche gegenüber den herrschen-
den Minoritäten totaler Staaten.
Der Zerfall einer säkularen, heidnischen oder nominell christlichen
Kultur bereitet der Entstehung einer Universalreligion und dem Heils-
verlangen der Einzelseele den Boden; indirekt formt er auch die Gesell-
schaft um. Der Mensch lernt durch Leiden; und wen der Herr liebt, den
züchtigt er. So wurde das Christentum aus dem Todeskampf der helle-
nistischen Gesellschaft geboren.
"Wenn die Kulturen die historische Funktion haben, durch ih-
ren Niedergang Stufen zu sein für einen fortschreitenden Prozeß der
Offenbarung immer tieferer religiöser Einsichten und der Schen-
kung immer reicherer Gnade, diesen Einsichten gemäß zu handeln,
wohingegen es andererseits keineswegs die Funktion höherer Reli-
gionen ist, dem zyklischen Prozeß der Wiedergeburt von Zivilisatio-
nen zu dienen, dann haben solche Gesellschaften, die man Kulturen
nennt, ihre Funktion erfüllt, wenn sie eine reife Hochreligion gebo-
ren haben; und unter diesem Aspekt könnte unsere eigene nach-
christliche Kultur günstigstenfalls eine überflüssige Wiederholung
der vorchristlichen . griechisch-römischen sein, schlimmstenfalls
aber ein verderbliches Abgleiten vom Pfade des geistigen Fort-
schritts.<< 14
Folgt man Toynbees Schema des Zusammenbruchs von Kulturen
und der Entstehung von Religionen, so müßte man erwarten, daß eine
neue Religion am Horizont unserer Zukunft steht. Doch nichts derglei-
chen. Die wissenschaftliche Neutralität von Toynbees universaler
Theorie schlägt hier plötzlich um in ein Bekenntnis und in eine Gebun-
denheit, die nur »parochial<< genannt werden kann, wenn man sie nach
Toynbees eigenen Maßstäben wissenschaftlicher Universalität, Neutra-
lität und Objektivität beurteilen wollte. Als gläubiger Christ kann er die
historische Vergänglichkeit der römisch-katholischen Kirche, »mit dem
Speer der Messe, dem Schild der Hierarchie und dem Helm des Papst-
tums<< 15 nicht ins Auge fassen. Anstatt die Möglichkeit einer neuen
Religion und Kirche offen zu lassen, bemüht er sich zu zeigen, daß das
16 Ebda. S. 237.
17 Ebda. S. 238.
18 Ebda. S. 239.
26 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
geschehen, daß >>das Christentum als der geistige Erbe aller anderen
Hochreligionen [... ]und aller Philosqphien von Echnaton bis zu Hege!
übrig bleibt, und daß die christliche Kirche das soziale Erbe aller
übrigen Kirchen und Zivilisationen antreten wird<< 19 •
So mündet Toynbees Universalgeschichte von einundzwanzig Kul-
turen, im Widerspruch zu seiner Theorie von sich wiederholenden
Kreisläufen im profanen Schicksal der Menschen, in die ökumenische
Schau der fortschreitenden Verwirklichung einer ganz besonderen Kir-
che und Heilslehre. Man fragt sich, wie sich die natürlichen Zyklen in
diese fortschreitende religiöse Entwicklung einfügen und wie die fatalen
Ergebnisse des Historikers mit den zuversichtlichen Annahmen des
Gläubigen zusammenstimmen?
Toynbees christlicher Glaube ist für sein historisches Bewußtsein
ohne Tragweite. Als Historiker steht er viel mehr unter der Macht
naturalistischen und säkularisierten Denkens, als ihm selbst bewußt ist.
Hierauf vor allem ist es zurückzuführen, daß er ebensowenig wie
Spengler die christliche Zeitrechnung für seine historischen Untersu-
chungen akzeptieren kann. Er ersetzt den Gedanken der Einheit der
universalen Geschichte 20 durch einen Prozeß partieller Vereinheitli-
chung und gibt die traditionelle Konzeption eines »christlichen<<
Abendlandes preis. Infolgedessen muß er die christliche Einteilung der
ganzen geschichtlichen Zeit in eine alte und neue Ordnung, vor und
nach Christus, fallen lassen und damit auch die traditionelle Periodisie-
rung der abendländischen Geschichte 21 • Die Wissenschaftlichkeit for-
dert von ihm empirische Beweise und neutrale Distanz zu moralischen
,, Vorurteilen<<, besonders zu dem eigenen, zufällig abendländisch-
christlichen und sogar britischen Gesichtspunkt. Und doch kann er sich
auch als Historiker dem Einfluß abendländisch-christlichen Denkens
nicht entziehen. Seine eschatologische Perspektive ist klar vorgezeich-
net durch die drei Leitsätze, die er seinem Werk voranstellt. Hinter der
scheinbaren Neutralität seines wissenschaftlichen Bemühens, Katego-
rien zu finden, die universal anwendbar sind (Wachstum und Verfall,
Herausforderung und Antwort, Rückzug und Rückkehr, Abstandnah-
meund Verwandlung), steht das Interesse an den Zukunftsaussichten
unserer gegenwärtigen Gesellschaft 22 • Was zunächst eine verwirrende
19 Ebda. S. 240.
20 A Study of History, I, 339 ff.
21 Ebda. I, 34 und 169 ff.; vgl. Spengler, a.a.O.
22 Siehe den Plan des ganzen Werkes (Teil XII).
Einleitung 27
beendet er den sechsten Band von A Study of History mit einer offen-
bleibenden Frage und in der Hoffnung, das Geheimnis der Geschichte
werde sich noch öffnen und dann Antwort geben auf das Problem der
scheinbaren Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit so vielen Mühensund so
großen Leidens.
Polybios erkundete vergangene Ereignisse, die zu der Machtstellung
Roms geführt hatten. Moderne Historiker von gleichem Rang befassen
sich mit der Zukunft Europas, wenn sie zurückschauen und seine
Geschichte erforschen. Der klassische Historiker fragt: Wie kam es
dazu? Der moderne: Wie wird es weitergehen? 27 Der Grund für diese
moderne Sorge um die Zukunft ist der jüdische Prophetismus und die
christliche Eschatologie, die beide den klassischen Begriff von historein
futuristisch verkehrt haben.
>>Der Geschichtsbegriff ist eine Schöpfung des Prophetismus
[... ] Was der griechische Intellektualismus nicht hervorbringen
konnte, das ist ihm gelungen. Historie ist im griechischen Bewußt-
sein gleichbedeutend mit Wissen schlechthin. So ist und bleibt den
Griechen die Geschichte lediglich auf die Vergangenheit gerichtet.
Der Prophet dagegen ist der Seher [... ] Sein Seherturn hat den
Begriff der Geschichte erzeugt, als des Seins der Zukunft [... ] Die
Zeit wird Zukunft [... ] und Zukunft ist der vornehmliehe Inhalt
dieses Gedankens der Geschichte [... ] Der Schöpfer Himmels und
der Erde reicht nicht aus für dieses Sein der Zukunft. Er muß >einen
neuen Himmel und eine neue Erde< schaffen[ ... ] An die Stelle eines
goldenen Zeitalters in mythologischer Vergangenheit wird durch
die eschatologische Zukunft die wahre historische Existenz auf der
Erde gesetzt.<< 28
I Burckhardt
Kontinuität ist mehr als ein bloßes Weitergehen und weniger als
eine fortschrittliche Entwicklung, weil sie nicht auf der selbstgefälligen
Annahme beruht, daß der ganze Geschichtsverlauf den Zweck gehabt
habe, zu unserer gegenwärtigen Mittelmäßigkeit als seinem Ziel und
seiner Erfüllung zu führen. Nach Burckhardt sind Seele und Verstand
des Menschen längst »komplett<< gewesen. Kontinuität ist aber auch
mehr als ein bloßes Weitergehen, weil sie das bewußte Bemühen ist,
unser Erbe zu bewahren und es zu erneuern, anstatt das Herkömmliche
bloß hinzunehmen. Bewußte historische Kontinuität schafft Tradition
und befreit zugleich von ihr. Nur primitive und zivilisierte Barbaren
begeben sich dieses Vorteils historischer Bewußtheit. Geschichtliche
Kontinuität ist »ein wesentliches Interesse unseres Menschendaseins<<,
denn sie ist der einzige Beweis für die »Bedeutung seiner Dauer<<. Daher
müssen wir dringend wünschen, daß die Bewußtheit dieser Kontinuität
in uns lebendig bleibe. Ob diese Kontinuität außerhalb unseres ge-
schichtlichen Bewußtseins besteht, etwa in einem göttlichen Geist, der
sich der menschlichen Geschichte annimmt, vermögen wir weder zu
behaupten noch uns vorzustellen.
Die Bedeutung der Kontinuität besteht in der bewußten Fortsetzung
der geschichtlichen Überlieferung, und die Tradition muß bewahrt
werden gegen den revolutionären Willen zu ständigen Neuerungen.
Burckhardts Grunderfahrung war der rapide Traditionsverfall, in dem
Europasich seit der Französischen Revolution befindet, und die Furcht
vor einem drohenden Bruch mit allem, was an der europäischen Über-
lieferung kostbar ist, lag dem Selbstverständnis seiner historischen
Aufgabe zugrunde. Das persönliche Motiv seines Geschichtsstudiums
und seines beinahe verzweifelten Festhaltens an der Kontinuität war
eine leidenschaftliche Reaktion gegen den revolutionären Zug seines
Zeitalters. Er begriff, daß die Restauration von 1815 bis 1848 nur ein
>>Zwischenakt<< in einem noch unbeendeten »Zeitalter der Revolutio-
nen<< war, das mit der Französischen Revolution begann und in unseren
Tagen bis zu den bolschewistischen, faschistischen und nationalsoziali-
stischen Revolutionen fortschreiten sollte. Indem er die Mission des
historischen Bewußtseins verteidigte, versuchte er, die drohende Auflö-
sung wenigstens zu verzögern. Er hielt sein geschichtliches Glaubensbe-
kenntnis fest gegen die radikale Bewegung der vierziger Jahre, an der
Quarterly, XLIV und XLV (1929 und 1930) und R. E. Fitch, Crisis and Conti-
nuity in History. Review of Religion, Bd. VIII (März 1944).
Burckhardt 33
3 Siehe die Briefe vom 26. April1872; 13. April1882 und 14. Sept. 1890 an F.
vonPreen.
Burckhardt 35
Denn binnen einer sehr kurzen Zeit könnten sich alle geistigen Interes-
sen infolge einer allgemeinen Veränderung der Lebensbedingungen und
einer Reihe zu erwartender Kriege in einem furchtbaren Dilemma befin-
den. Und doch ließ gerade die Drohung kommenden Unheils Burck-
hardt hoffen, daß im zwanzigsten Jahrhundert eine frische Entschluß-
kraft großer Seelen in Erscheinung treten werde, »wenn einmal Zeiten
der Verarmung und Vereinfachung« dem materiellen Luxus und der
Verschwendung ein Ende bereiten werden 6 • Letzten Endes, glaubte er,
werde keine liberale Bildung, sondern nur die Religion imstande sein,
uns vor der im Gange befindlichen Schändung der menschlichen Seele
zu retten, »denn ohne einen transzendenten Drang, deralldas Geschrei
nach Macht und Geld überflügelt, wird nichts von Nutzen sein«.
Das historische Muster für diese überweltliche Mission war für
Burckhardt das ursprüngliche Christentum. Nach seiner Ansicht ist
wahres Christentum wesentlich »asketisch<<, sich dieser Welt enthal-
tend; seine Hoffnungen und Erwartungen liegen in einer anderen Welt.
In bezugauf die diesseitige Welt ist das Christentum eine Religion des
Leidens und des Verzichts. Durch diese Formen der Askese gelangte es
zu geistiger Freiheit und zur Überwindung des Lebens. Das moderne
Christentum, welches, um annehmbar zu bleiben, vom Kompromiß mit
der Welt lebt, stieß Burckhardt ab. Obgleich er selbst der Sohn eines
Pfarrers war, fühlte er sich zu diesem Beruf nicht hingezogen, sondern
gab das Studium der Theologie auf. In einigen seiner frühen Briefe an
einen theologischen Freund 7 legt er die Motive seiner Ansichten dar, an
denen er sein ganzes Leben lang festhielt. »Wie intensiv religiös<<,
bemerkt er, »waren die alten Häretiker, verglichen mit den modernen
Christen.<< In der religiösen Restauration der vierziger Jahre sah er eine
kraftlose Reaktion gegen »die gewaltige zeitlich-irdische Bewegung<<
und gegen die unvermeidlichen Folgen der historisch-kritischen Bibel-
auslegung. >>Die dogmatische Theologie ist jetzt im höchsten Grade
verächtlich<<, denn >>die ganze Reihe der möglichen theologischen
Standpunkte ist bereits ausprobiert worden[ ... ]. Wenn die Theologie
sich auf ihren eigenen Vorteil verstünde, würde sie für die nächsten
dreißig Jahre besser schweigen<<. Ein auf die Moral beschränktes und
seiner übernatürlichen und dogmatischen Grundlagen beraubtes Chri-
stentum ist keine Religion mehr. Ein »christlicher gentleman<< ist kein
Heiliger8 • Der moderne Mensch kann diese Verlegenheit auch nicht
durch den bloßen Willen zum Glauben lösen, denn der echte Glaube ist
nicht nur eine ethische Entscheidung, sondern auch eine gewaltige
Macht, die von sich aus über den Menschen kommt. Burckhardt war
davon durchdrungen, daß ein zu einer allgemeinen Menschenfreund-
lichkeit verwässertes Christentum, wo der Priester zuerst ein »Gebilde-
ter<<, dann ein philosophierender Theologe und schließlich so etwas wie
ein ängstlicher Mensch ist, daß solch ein Christentum die Welt nicht als
begeisternde Religion ansprechen kann. Die Kirche hat zwar noch eine
Mission, aber >>daß das Christentum seine großen Epochen hinter sich
hat, ist für mich so klar wie zwei und zwei vier sind<<, Für eine echte
Reformation sah Burckhardt keine Aussicht, weil dem modernen Zeit-
geist unbeschränkter Weltlichkeit, der Arbeit, des Geschäfts und Er-
werbs, das Seelenheil in einer künftigen Welt gleichgültig ist und er sich
gegen jede Art von geistlicher Disziplin und Kontemplation ablehnend
verhält. Die Moral hat sich von ihrem religiösen Fundament in einem
überweltlichen Glauben losgelöst. >>Der moderne Geist erstrebt eine
vom Christentum unabhängige Lösung des großen Lebensrätsels.<< Ein
schlagendes Beispiel für diese Trennung der weltlichen Moral von der
Religion ist die moderne Philanthropie, die von optimistischen und
aktivistischen Voraussetzungen ausgeht. Während das Christentum
unbedingte Nächstenliebe lehrte, wobei man sich seiner Besitztümer zu
entäußern hatte, ist die moderne Philanthropie vielmehr >>ein Korrelat
des Erwerbssinnes<<; sie bemüht sich, die Tätigkeit zu fördern und dem
Menschen in seiner irdischen Laufbahn zu einer besseren Anpassung zu
verhelfen. Das weltliche Leben und seine Interessen gehen jetzt über alle
anderen Erwägungen.
Das ursprüngliche Christentum steht in krassem Gegensatz zu den
Maßstäben dieser Welt. Es ist strenger und stellt höhere Anforderungen
als selbst >>das geschärfteste Christentum unserer Tage<< zuzugeben
bereit ist. >>Man liebt das demütige Sichwegwerfen und die Geschichte
von der rechten und der linken Backe nicht mehr.<< Die Leute wollen
ihre soziale Stellung und ihre Respektabilität behalten; sie müssen
arbeiten und Geld verdienen. Daher können sie nicht umhin zuzulassen,
daß die Welt auf mancherlei Art mit ihrer traditionellen Religion in
Konflikt gerät. >>In Summa: man will bei aller Religiosität doch nicht
auf die Vorteile und Wohltaten der neueren Kultur verzichten.<< So
haben die kalvinistischen Länder den anglo-amerikanischen Kompro-
miß zwischen religiösem Puritanismus und unaufhörlichem Geldverdie-
nen hervorgebracht, wohingegen in den lutherischen Ländern der Pa-
stor >>die falscheste Position, die es jemals unter der Sonne gegeben
hat<<, einnimmt. Infolgedessen arbeitet der moderne Protestantismus
vielleicht unbewußt der römisch-katholischen Kirche in die Hände.
Diesen modernen Menschen, die zu allererst an die Werte der fort-
schrittlichen Zivilisation glauben, fällt es sehr schwer zu glauben oder
auch nur sich vorzustellen, wie leidenschaftlich frühere Menschen und
Zeitalter unsichtbare Dinge tatsächlich für wahr gehalten haben. Heut-
zutage erfüllen die Menschen ihre Pflicht weit mehr aus Ehr- und
Anstandsgefühl als aus religiösen Gründen. Dem modernen Menschen
ist das Christentum kein Stein des Anstoßes und keine Torheit, sondern
ein wohltätiges Element der weltlichen Zivilisation.
Die moderne Christenheit möchte vergessen, daß das Christentum
stets dann auf seiner Höhe und am einflußreichsten war, wenn es sein
Anderssein gegenüber der weltlichen Kultur behauptete. Im Gegensatz
zu den polytheistischen Kulturen des klassischen Heidentums war und
ist die christliche Religion kein Kult, der eine nationale Kultur heiligt,
sondern ein transzendenter Glaube an eine künftige Erlösung. Sie stand
den heidnischen Naturgöttern und der heidnischen Kultur feindlich
gegenüber, wie sie ein Feind aller Idole moderner Zivilisation sein muß.
Die moralische Kraft der frühen Christen bestand nicht zum wenigsten
in ihrer Gleichgültigkeit gegen Natur und Kultur. >>Das Ende der Welt
und die Ewigkeit standen vor der Tür, und es fiel leicht, sich von der
Welt und ihren Freuden abzuwenden.<< Und selbst die Tatsache, daß
das Christentum bald in die Weltgeschichte eintrat, indem es die grie-
chische Kultur und die römische Staatskunst übernahm, löschte seinen
ursprünglichen und ständigen Konflikt mit dem saeculum nicht aus. Es
wäre erledigt, falls es je vergäße, daß es ein Glaube an die Glorie des
Kreuzes ist, eine siegreiche Religion des Leides, ein Glaube für Leiden-
de. Burckhardt war überzeugt, daß es sich irgendwie >>auf seine Grund-
idee vom Leiden dieser Welt<< zurückziehen müsse, statt sich dem Staat,
der Gesellschaft, der Zivilisation anzupassen. >>Wie sich damit das
Leben- und Schaffenwollen auf die Länge ausgleichen wird, ahnen wir
noch nicht<<, und man mag sich fragen, >>ob nicht der wahre Lebensbe-
Burckhardt 41
weis einer Religion doch darin liegt, daß sie sich auf eigene Gefahr
jederzeit kühn mit der Kultur verflechte<< 9 • Solch eine Verbindung
wurde aufs glänzendste im Mittelalter erreicht, wo Architektur, Musik,
Wissenschaft, Kunst und Literatur der christlichen Religion Ausdruck
in den mannigfachen Formen der Kultur verliehen. Dieses Meisterwerk
einer christlichen Kultur kam jedoch nicht etwa dadurch zustande, daß
die Kirche die Welt lehrte, was die Welt schon selber besser weiß,
sondern weil die Kirche der Welt die Überlegenheit eines überweltlichen
Glaubens nahebrachte.
Zu einer Zeit, als der liberale optimistische Protestantismus auf dem
Kontinent in voller Blüte stand, nannte Burckhardt den Optimismus
des neunzehnten Jahrhunderts »ruchlos<< und sagte voraus, daß er
verschwinden werde, wogegen er an der unüberwindlichen Stärke eines
echten Glaubens gegenüber den weltlichen Gewalten festhielt. >>Im[ ... ]
zwanzigsten Jahrhundert werden dann auch jene erstaunlichen Karika-
turen von sogenannten Reform-Pastoren und -Professoren nicht mehr
vorhanden sein [... ] All dies wird in Staub zerstieben[ ... ], sobald eine
rechte Not über die Menschen kommt.<< Andererseits könnten die
regierenden Verfolger >>auf einen Widerstand der seltensten Art ·von
seiten christlicher Minderheiten stoßen, die selbst das Märtyrertum
nicht fürchten würden<<.
Es ist bezeichnend für Burckhardts Redlichkeit, daß er keine eigen-
händige Lösung anbot, sondern nur das Problem aufzeigte. Er war ganz
frei von modernen Vorurteilen, besonders demjenigen Hegels, der in
der Geschichte einen Prozeß fortschreitender Entwicklung sah, durch
die sich die Idee des Christentums immer mehr in der Welt der Ge-
schichte verwirklichen sollte. An Stelle einer solchen progressiven Ent-
wicklung erkannte Burckhardt im >>modernen<< Christentum einen Wi-
derspruch in sich selbst, weil der böse Genius des modernen Lebens,
sein >>Erwerbssinn<< und sein >>Machtsinn«, dem freiwilligen Leiden
und der Selbstverleugnung entgegengesetzt sind.
II Marx
tet die Dunkelheit. Da aber Marx selbst schon mit der »deutschen
Ideologie<< der nachhegelschen Philosophie abgerechnet hatte, nahm er
zuversichtlich die künftige Philosophie vorweg, die die Einheit von
Vernunft und Wirklichkeit, von Wesen und Existenz herstellt, so wie
Hege! es postuliert hatte. Wenn aber die Vernunft im gesamten Bereich
der materiellen Wirklichkeit tatsächlich realisiert wird, dann ist die
Philosophie als solche aufgehoben. Sie wird zu einer Theorie der Praxis.
Während durch Hege! die Welt philosophisch, ein Reich des Geistes
geworden war, muß jetzt, durch Marx, die Philosophie weltlich, politi-
sche Ökonomie, Marxismus werden.
Dieses ••Jetzt<< ist der entscheidende >>Augenblick<<, um einen Aus-
druck Kierkegaards zu gebrauchen, der alle sinnvolle Geschichte spal-
tet, aber nicht mehr in ein heidnisches >>Vor<< und ein christliches
>>Nach<< Christus, sondern, nicht weniger radikal, in eine >> Vorge-
schichte<< und eine künftige Geschichte. Die Diktatur des Proletariats
leitet aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit von allen
vorgeschichtlichen Antagonismen hinüber. Denndie gegenwärtige ka-
pitalistische Gesellschaft ist die >>letzte<< antagonistische Form des ge-
sellschaftlichen Produktionsprozesses und sie entwickelt in ihrem eige-
nen Schoß die Bedingungen für die endgültige Lösung dieses Antagonis-
mus von Kapital und Arbeit, von Unterdrückern und Unterdrückten.
Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft >>schließt die Vorgeschichte
der menschlichen Gesellschaft ab« 2 •
In einer frühen Skizze der kommenden Gesellschaft beschreibt
Marx dieses irdische Reich Gottes. In der bisherigen Geschichte ist es
eine unbestreitbare Tatsache, daß die Individuen mit derweltgeschicht-
lichen Ausdehnung ihrer Tätigkeit immer mehr unter eine fremde
Macht versklavt worden sind, d.h. unter das Kapital, oder genauer,
unter die kapitalistische Produktionsweise, die in der modernen Welt so
etwas wie das Schicksal in der Antike darstellt. Diese schicksalhafte
Macht ist immer massenhafter geworden, und man kann sich ihr nicht
entziehen.
>>Aber ebenso empirisch begründet ist es, daß durch den Um-
sturz des bestehenden gesellschaftlichen Zustandes, durch die kom-
munistische Revolution, [... ] und durch die damit identische Aufhe-
bung des Privateigentums, diese [... ] Macht aufgelöst wird und
2 Ein Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie; wir zitieren nach der
Volksausgabe, Berlin 1947, S. 14.
Marx 45
Wir für unseren Teil mißkennen den schlauen Geist (Hegels >List der
Vernunft<) nicht, der rüstig fortfährt, alldiese Gegensätze herauszu-
arbeiten. Wir wissen, daß die neuen Kräfte der Gesellschaft, um
gutes Werk zu verrichten, nur(!) neue Menschen brauchen.« 4
Man fragt sich, ob Marx sich jemals die menschlichen, moralischen
und religiösen Voraussetzungen seiner Forderung: durch die Umschaf-
fung des Menschen eine neue Welt zu schaffen, klar gemacht hat. Er
scheint für die Bedingungen einer möglichen Wiedergeburt völlig blind,
und dogmatisch befriedigt gewesen zu sein mit der abstrakten Formel,
daß der neue Mensch der das Gemeinwesen hervorbringende Kommu-
nist ist, das zoon politikon, das gesellschaftliche >> Gattungswesen << der
modernen >>Kosmopolis«,
Der Keim dieses neuen Menschen ist nach Marx das elendeste
Geschöpf der kapitalistischen Gesellschaft, der Proletarier, der bis zum
Äußersten sich selbst entfremdet ist, da er sich um Lohn an den kapitali-
stischen Besitzer der Produktionsmittel verkaufen muß. Von einem
allzu menschlichen Mitleid mit dem Einzelschicksal des Proletariats
weit entfernt, sieht Marx im Proletariat das weltgeschichtliche Instru-
ment zur Erreichung des eschatologischen Zieles aller Geschichte durch
eine Weltrevolution. Das Proletariat ist gerade darum das auserwählte
Volk des historischen Materialismus, weil es von den Privilegien der
herrschenden Gesellschaft ausgeschlossen ist. Ebenso wie Sieyes vor
dem Ausbruch der Französischen Revolution proklamiert hatte, der
Bürger sei nichts und gerade deshalb berechtigt, alles zu werden, so
proklamiert Marx, fünfzig Jahre nach dem Sieg der bürgerlichen Gesell-
schaft, die universale Mission des Proletariats, das sich aus ihr entwik-
kelt hatte. Das Proletariat hat einen totalen Anspruch, weil es total
entfremdet ist. Als eine Ausnahme von der bestehenden Gesellschaft, an
ihrem Rande lebend, ist es die einzige Klasse, die in sich die Möglichkeit
birgt, normativ zu werden. Denn obwohl der Zusammenbruch der
bestehenden Gesellschaft gleichermaßen in der Bourgeoisie und im
Proletariat zum Ausdruck kommt, hat allein das letztere eine uni'versale
Sendung und eine erlösende Funktion, weil seine Einzigartigkeit in der
totalen Entbehrung der bürgerlichen Vorrechte besteht. Das Proletariat
ist nicht eine Klasse innerhalb, sondern außerhalb der bestehenden
Gesellschaft und eben darum die Möglichkeit einer absoluten, klassen-
4 Die Revolution von 1848 und das Proletariat, in K. Marx als Denker,
Mensch und Revolutionär, Berlin 1928, S. 41.
Marx 47
Unterdrückung geschaffen. Und doch ist nach Marx diese Epoche der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht wie die anderen. Sie
zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht
hat, indem sie die Gesellschaft in >>zwei feindliche Lager<< aufspaltet, die
einander direkt gegenüberstehen, zur endgültigen Auseinandersetzung
zwischen Bourgeoisie und Proletariat.
Diese letzte und entscheidende Epoche ist charakterisiert durch die
Entwicklung der modernen Industrie und der industriellen Armeen der
Bourgeoisie, die während ihrer Herrschaft von kaum einhundert Jahren
kolossalere Produktionskräfte geschaffen hat als alle vorangegangenen
Generationen zusammen:
ten. Sie hat zwischen Mensch und Mensch kein anderes Band übrigge-
lassen als das nackte Interesse, die gefühllose bare Zahlung:
>>Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der
ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Demut in dem eis-
kalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persön-
liche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der
zahllosen verbrieften und wohl erworbenen Freiheiten die eine ge-
wissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die
Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Aus-
beutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung ge-
setzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer
Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie
hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der
Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.<<
In diesem Stadium ihrer Entwicklung kann die moderne Gesell-
schaft nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente und Produk-
tionsverhältnisse fortwährend zu revolutionieren:
>>Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war
dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen
Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die unun-
terbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die
ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche
vor allen anderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit
ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauun-
gen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknö-
chern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heili-
ge wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre
Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Au-
gen anzusehen.<<
Und während das Bedürfnis nach einem immer ausgedehnteren
Absatzmarkt die Bourgeoisie über die ganze Erde jagt und selbst die
entlegensten und barbarischsten Nationen in die Zivilisation mit hin-
einreißt, indem sie sie zwingt, sich die kapitalistische Produktionsweise
anzueignen, zaubert die abendländische Zivilisation so gigantische Pro-
duktions- und Verkehrsmittel hervor, daß sie dem Hexenmeister
gleicht, der die unterirdischen Gewalten, die er heraufbeschworen hat,
nicht mehr zu beherrschen vermag. Die Geschichte der Industrie und
50 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
des Handels wird immer mehr eine Geschichte der Empörung der
modernen Produktionskräfte gegen die gesellschaftlichen und ökono-
mischen Produktionsverhältnisse. Es entwickelt sich >>eine Epidemie
der Überproduktion«, weil die bürgerlichen Verhältnisse zu eng gewor-
den sind, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen und kontrol-
lieren zu können. Die Waffen, mit denen die Bourgeoisie den Feudalis-
mus zu Boden geschlagen hat, richten sich jetzt gegen sie selbst. Unter
diesen selbstgeschaffenen tödlichen Waffen, die die Niederlage der
Bourgeoisie herbeiführen, steht die Arbeiterklasse an erster Stelle.
wälzt sich der ganze Überbau juristischer und politischer, religiöser und
philosophischer Bewußtseinsformen langsamer oder rascher um. Eine
solche Umwälzung aus ihrem eigenen Bewußtsein zu beurteilen, sagt
Marx,"würde so oberflächlich sein, wie wenn man ein Individuum nur
nach dem beurteilen wollte, was es sich selbst zu sein dünkt'.
Wenn wir diese Unterscheidung zwischen bewußten Sein und wirk-
lich antreibender Kraft auf das Kommunistische Manifest anwenden,
so ergibt sich ein seltsames Resultat. Zugestanden nämlich, daß die
juristische, politische und geistige Geschichte in den ökonomischen
Bedingungen ihre >>geheime Geschichte<< hat, die mit ihren ideologi-
schen Spiegelungen nicht übereinstimmt, so gilt dasselbe umgekehrt
von Marx' Materialismus. Denn die geheime Geschichte des Kommuni-
stischen Manifestes ist nicht sein bewußter Materialismus und was
Marx selbst darüber denkt, sondern der Geist des Prophetismus. Das
Kommunistische Manifest ist in erster Linie ein prophetisches Doku-
ment, ein Urteilsspruch und ein Aufruf zur Aktion, keineswegs aber
eine rein wissenschaftliche, auf empirische Gegebenheiten gegründete
Analyse 8 • Die Tatsache, daß >>die Geschichte aller bisherigen Gesell-
schaft<< mannigfache Formen von Gegensätzen zwischen einer herr-
schenden Minderheit und einer beherrschten Mehrheit aufweist, recht-
fertigt nicht ihre Auslegung und Bewertung als >>Ausbeutung<< und noch
weniger die Erwartung, daß, was bisher eine allgemeine Tatsache war,
in Zukunft notwendigerweise keine mehr sein werde. Mag Marx auch
die Tatsache der Ausbeutung durch seine Mehrwert-Theorie >>wissen-
schaftlich<< erklären, so bleibt »Ausbeutung<< nichtsdestoweniger ein
moralisches Urteil; sie ist, wenn an einer bestimmten Idee von Gerech-
tigkeit bemessen, ein absolutes Unrecht. In Marx' Darstellung der
Weltgeschichte ist sienichts Geringeres als das radikal Böse der » Vorge-
schichte<< oder biblisch gesprochen, die Erbsünde dieses Äon. Und wie
die Erbsünde korrumpiert sie nicht nur die moralischen, sondern auch
die geistigen Fähigkeiten des Menschen. Die ausbeutende Klasse kann
von ihrem eigenen Lebenssystem nur ein >>falsches<< Bewußtsein haben,
wohingegen das Proletariat, das von der Sünde der Ausbeutung frei ist,
die kapitalistische Illusion zugleich mit seiner eigenen Wahrheit durch-
7 A.a.O. S. 13 f.
8 Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik,
Tübingen 1924, S. 505 ff.; A.]. Toynbee, A StudyofHistory, London 1934-39,
V, 178f., 581 ff.; N. Berdjajew, The Russian Revolution. Vital Realities. New
York 1932, S. 105 ff.
Marx 53
schaut. Als das radikale und alles infizierende Böse ist die Ausbeutung
weit mehr als ein ökonomisches Faktum.
Selbst wenn wir annehmen, die ganze Geschichte sei eine Geschichte
von Klassenkämpfen, so kann die wissenschaftliche Analyse nicht dar-
aus folgern, daß der Klassenkampf der wesentliche, alles Übrige >> be-
dingende<< Faktor sei. Für Aristoteles wie für Augustin war die Sklaverei
eine Tatsache unter vielen anderen. Für jenen war sie eine natürliche
Gegebenheit und keineswegs verwerflich; für diesen war sie ein soziales
Faktum, das durch Nächstenliebe gemildert werden soll, aber nicht
entscheidend für das ewige Heil oder die Verdammnis. Erst mit dem
Heraufkommen der emanzipierten bürgerlichen Gesellschaft wurde
das Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten als Ausbeu-
tung empfunden und auch so bezeichnet, aus dem Verlangen nach
Befreiung. Wenn Marx darauf besteht, durch keinerlei moralische Vor-
urteile und Wertungen beeinflußt zu sein, und doch seine Aufzählung
der verschiedenen Formen sozialer Gegensätze in die herausfordernden
Worte »Unterdrücker und Unterdrückte<< zusammenfaßt, so ist dies
eine seltsame Fehlinterpretation seiner selbst. Die grundlegende Vor-
aussetzung des Kommunistischen Manifestes ist nicht der Antagonis-
mus von Bourgeoisie und Proletariat als zweier einander gegenüberste-
hender Klassen, der Antagonismus liegt vielmehr darin, daß die eine
Klasse Kinder der Finsternis und die andere Kinder des Lichtes sind.
Ebenso ist die Endkrise der bürgerlich-kapitalistischen Welt, die Marx
in Form einer wissenschaftlichen Voraussage prophezeit, ein letztes
Gericht, wenngleich es durch das unerbittliche Gesetz des Geschichts-
prozesses gefällt werden soll. Weder die Begriffe >>Bourgeoisie<< und
>>Proletariat<<, noch die allgemeine Auffassung der Geschichte als eines
sich zunehmend verschärfenden Kampfes zwischen zwei feindlichen
Lagern, und erst recht nicht die Vorwegnahme seines dramatischen
Höhepunktes, können auf rein empirischem Wege nachgewiesen wer-
den. Nur in Marx' >>ideologischem Bewußtsein ist die ganze Geschichte
eine Geschichte von Klassenkämpfen. Die wirklich treibende Kraft
hinter dieser Konzeption ist ein offenkundiger Messianismus, der unbe-
wußt in Marx' eigenem Sein, in seiner Rasse wurzelt. Wenn er auch
emanzipierter Jude des 19. Jahrhunderts, entschieden antireligiös und
sogar antisemitisch war, so war er doch ein Jude von alttestamentli-
chem Format. Der alte jüdische Messianismus und Prophetismus, den
zweitausend Jahre ökonomischer Geschichte vom Handwerk bis zur
Großindustrie nicht verändern konnten, und das jüdische Bestehen auf
54 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Aber, fährt Marx fort, die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verste-
hen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Ent-
wicklungsformen gebunden sind; die Schwierigkeit ist vielmehr, daß sie
für uns überhaupt noch eine Quelle des Genusses sind und in gewisser
Beziehung ein unerreichbares Muster blieben. Wenden wir die gleiche
Frage auf unseren eigenen Versuch an, das Kommunistische Manifest
von seinem religiösen Hintergrund aus zu erhellen, so würde sie lauten:
wie kann der alte Messianismus immer noch wirksam und das religiöse
Vorbild des historischen Materialismus sein, wenn die materielle Pro-
duktionsweise, die sich seit Jesaja völlig verändert hat, der bestimmen-
de Faktor aller Bewußtseinsformen sein soll? Marx' Antwort auf diese
Frage ist keineswegs überzeugend. Er stellt einfach fest, daß die griechi-
sche Kultur trotz des primitiven Charakters ihrer materiellen Voraus-
setzungen einen >>ewigen Reiz« ausübe, weil wir uns in der Phantasie
gern in die schöne >>Kindheit<< zurückversetzen. Man fragt sich, ob die
griechische Tragödie und der jüdische Prophetismus ihren bleibenden
Reiz ihrer Kindlichkeit verdanken? Die richtige Antwort auf Marx'
falsch gestellte Frage dürfte wohl die sein, daß ein einziger >>Faktor<<,
wie die ökonomischen Bedingungen, niemals die Geschichte als Ganzes
>>bedingen<< kann und daß eine Interpretation des ganzen Geschichts-
prozesses eines Konstruktionsprinzips bedarf, das in neutralen Tatsa-
chen niemals zu finden ist.
Die Religionskritik
10 Siehe L. Feuerbachs Vorwort zur ersten Auflage von Das Wesen des Chri-
stentums, SW. Bd. 7, Leipzig 1883; Briefwechsel und Nachlaß, hrsg. v. K. Grün,
Leipzig 1884, I, 406 ff.; F. Engels, L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen
Philosophie, Wien und Berlin 1927, S. 39ff.; S. Kierkegaard, Angriff auf die
Christenheit. Agitatorische Schriften und Aufsätze. Hrsg. v. A. Dornerund Chr.
Schrempf, Stuttgart 1896, Bd. 1.
11 Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., 1/1, S. 246 f.
Marx 57
III Hegel
16 Für eine genauere Analyse von Marx und Hege! siehe K. Löwith, Von Hege/
zu Nietzsche, Stuttgart 1950; vgl. S. Hook: From Hege/ to Marx, New York
1935; H. Marcuse, Reason and Revolution, Oxford University Press, 1941.
62 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
4 Briefe von und an Hege/, Brief vom Januar 1795 und vom 30. August 1795
an Schelling. Philosophie der Weltgeschichte, a.a.O.; Einleitung zu den Vorle-
sungen über die Philosophie der Religion.
Hege! 65
Entzweiung zwischen dem lnnern des Herzens und dem Dasein aufge-
hoben.<< Alle Opfer, die je am Altar der Erde gebracht wurden, sind um
dieser letzten Versöhnungwillen gerechtfertigt. Als die Verwirklichung
und Verweltlichung des christlichen Geistes ist die Geschichte der Welt
die wirkliche Theodizee, die Rechtfertigung Gottes im Geschehen der
Welt.
Mit dieser Verweltlichung des christlichen Glaubens oder, wie He-
gel zu sagen vorzieht, mit dieser Verwirklichung des Geistes, glaubte er
dem Geist des Christentumstreu geblieben zu sein und das Reich Gottes
auf Erden zu explizieren. Und weil er die christliche Erwartung einer
letzten Erfüllung in den geschichtlichen Prozeß als solchen verlegte,
betrachtete er die Weltgeschichte als sich selber rechtfertigend. >>Die
Weltgeschichte ist das Weltgericht.<< Dieser Satz ist in seiner ursprüngli-
chen Motivierung- wonach er bedeutet, daß die Welt am Ende aller
Geschichte einem Gericht entgegengeht - ebenso religiös, wie er in
seiner weltlichen Umwendung- wo er bedeutet, daß sich das Gericht im
geschichtlichen Prozeß als solchem vollzieht- irreligiös ist.
Hege! ist sich der tiefen Zweideutigkeit seines großen Versuches, die
Theologie in Philosophie umzusetzen und das Reich Gottes weltge-
schichtlich zu realisieren, nicht bewußt gewesen. Er empfand keine
Schwierigkeit, die »Idee der Freiheit<<, deren Verwirklichung der End-
zweck der Geschichte ist, mit dem »Willen Gottes<< gleichzusetzen,
denn als »Priester des Absoluten<<, »von Gott dazu verdammt ein
Philosoph zu sein<<, glaubte er diesen Willen und seinen Plan zu kennen.
Er kannte ihn als ein umgekehrter Prophet, der die Wege des Geistes
nach Maßgabe der geschichtlichen Folgen und Erfolge im Ganzen
übersieht und rechtfertigt.
Leicht könnte man, hundert Jahre nach Hege!, die Grenzen seiner
historischen Sicht aufzeigen und die Wunderlichkeit einiger ihrer An-
wendungen, z. B. auf die preußische Monarchie und den liberalen Pro-
te~tantismus, hervorheben 8 . Hegels Welt war noch das christliche
Abendland, das alte Europa. Amerika und Rußland, denen er nur
wenige Seiten von hervorragendem Weitblick widmete, lagen am Ran-
de seines lnteresses 9 • Ferner sah er die Auswirkungen der technischen
IV Fortschrittcontra Vorsehung
1 J. B. Bury, The Idea ofProgress, New York 1932, S. 22, 73; vgl. W. R. Ioge,
The Idea of Progress, Oxford 1920 und The Fall of the Idols, London 1940; A.
Salomon, The Religion of Progress, Social Research, New York, Dezember
1946.
2 Siehe R. A. Knox: »Diejenigen, die das Gefühl der religiösen Gewißheit
verloren hatten, sammelten sich unter dem Banner des Optimismus; ihre Gedan-
ken beschähigten sich mit der Zukunft der Welt, anstatt mit einer künftigen
Welt, und in einer Art von verkehrtem Konfuzianismus verfielen sie in die
Anbetung ihrer Großenkel. Zu dieser optimistischen Bewegung gesellten sich
allzu bereit die religiösen Führer selber<< (God and the Atom, New York 1945,
S. 59). Vgl. Reinhold Niebuhrs Feststellung: •Das moderne Christentum war
allzu eifrig bei der Hand, die am meisten bezeichnenden Einsichten des bibli-
schen Glaubens zu verleugnen, um den Glauben der weltlichen Kultur an die
Idee des Fortschritts zu teilen. Dieser Glaube gerät nun ins Wanken, und die
Desillusion folgt dem Erwachen. Das liberale Christentum ist in diese Desillusio-
nierung verstrickt. Nachdem es aus der biblischen Geschichte eines gekreuzigten
Erlösers eine Erfolgsgeschichte zu machen trachtete, [... ] sieht es sich jetzt
außerstande, den tragischen Erfahrungen unserer Tage standzuhalten.<< (The
Impact of Protestantism Today, Atlantic Monthly, Februar 1948).
Fortschrittcontra Vorsehung 71
Bei Condorcet, Comte und Proudhon wird die Frage, ob die Modernen
das Altertum übertroffen haben, nicht mehr ernst genommen. Für sie
besteht das Problem vielmehr darin, ob die Hauptlehren und das soziale
System der christlichen Kirche ersetzt und abgelöst werden können.
Zugleich waren sie sich bewußt, daß der Fortschritt des modernen
revolutionären Zeitalters nicht einfach eine unmittelbare Folge der
neuen Erkenntnisse in Naturwissenschaft und Geschichte ist, sondern
vermittelt durch das Christentum, welches über das klassische Heiden-
tum hinwegschritt, indem es überhaupt erst die Idee des Fortschritts,
nämlich vom Alten zum Neuen Testament, in die abendländische Ge-
schichte eingeführt hat. Infolge dieser ursprünglichen Abhängigkeit der
Fortschrittsidee vom Christentum ist der moderne Fortschrittsgedanke
zweideutig: er ist seinem Ursprung nach christlich, und seiner Tendenz
nach antichristlich. Während der Ausgangspunkt der modernen Port-
schrittsreligion die eschatologische Erwartung einer künftigen Erfül-
lung ist, in deren Licht gesehen die bisherige Menschheit im Zustand
der Verderbtheit lebt, findet sich bei den klassischen Schriftstellern,
wenn sie den Verfall von Athen oder Rom beschreiben, keine ähnliche
Verzweiflung und Zuversicht. Die fortschrittlichen und verfallsge-
schichtlichen Konstruktionen der Geschichte von Voltaire und Rous-
seau bis zu Marx und Sore! sind das späte, aber immer noch machtvolle
Ergebnis der biblischen Heils- und Verfallslehre. Dem klassischen Den-
ken über Geschichte kam eine solche eschatologische Auslegung des
Geschehens auf ein letztes Gericht und Erlösung hin nicht in den Sinn.
1. Proudhon
sehung. Die Aufgabe der modernen Revolution ist nach Proudhon die
defatalisation der Vorsehung. Der Mensch und die menschliche Ge-
rechtigkeit müsse die Leitung aller menschlichen Angelegenheiten nun
selbst in die Hand nehmen. Der Mensch werde Gott ersetzen und der
Glaube an den menschlichen Fortschritt den Glauben an die Vorse-
hung.
Zunächst scheint es freilich unmöglich, das Wirken Gottes auf die
Arbeit des Menschen zu reduzieren, denn alles überlieferte Geschichts-
verständnis ist abhängig von der Unterscheidung eines göttlichen und
eines menschlichen Willens, verborgener Pläne und sichtbarer Anstren-
gungen, vorantreibender Notwendigkeit und persönlicher Wahlfrei-
heit4. In der Geschichtstheologie wurden die verborgenen Pläne, die
sich mit providentieller Notwendigkeit in den Entscheidungen und
Leidenschaften der Menschen auswirken, auf Gott bezogen oder, wie in
Kants Geschichtsphilosophie, auf einen verborgenen Plan der» Natur<<.
Proudhon versucht diesen Gegensatz ins Soziologische umzusetzen und
ihn dadurch aufzulösen. Er unterscheidet den Menschen als soziales
oder kollektives Wesen vom Menschen als Individuum. Während der
letztere bewußt, mit rationaler Überlegung, frei handelt, scheint die
Gesellschaft der Einwirkung unwillkürlicher Antriebe ausgesetzt und
von einem höheren, scheinbar übermenschlichen Ratschluß geleitet zu
sein, der die Menschen mit unwiderstehlicher Macht einem unbekann-
ten Ziel zutreibt. Daher der religiöse Brauch der Orakelbefragung, der
öffentlichen Gebete und Opfer zur Sicherung geschichtlicher Entschei-
dungen. Daher die philosophische Erklärung der Geschichte (Proudhon
verweist aufßossuet, Vico, Herder und Hege!) durch ein providentielles
Schicksal, das alles menschliche Tun im voraus bestimmt. Gegen diese
religiösen oder halbreligiösen Geschichtsauslegungen wendet Proud-
bon ein, es sei ein Vorrecht des Menschen, die scheinbare Schicksalhaf-
tigkeit als >>sozialen Instinkt<< zu begreifen, seine Eingebungen zu
durchschauen und ihn zu beeinflussen. Die göttliche Vorsehung sei
nichts anderes als der >>Kollektiv-Instinkt<< oder die >>universale Ver-
nunft<< des Menschen als eines sozialen Wesens. Der Gott der Geschich-
te ist des Menschen eigene Schöpfung und der Atheismus, d. h. der
Humanismus, die bislang verborgene Grundlage jeder Theodizee. Der
4 Siehe Kants Aufsatz von 1784, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht, und seine Besprechung von Herders Ideen zur Phi-
losophie der Geschichte der Menschheit; vgl. auch R. G. Collingwood, The Idea
of History, Oxford 1946, S. 93 ff.
Fortschrittcontra Vorsehung 73
>>humanitäre Atheismus<< ist die letzte Stufe in der geistigen und morali-
schen Befreiung des Menschen, und er dient zugleich der wissenschaftli-
chen Bewährung und Rechtfertigung all jener Dogmen, die durch die
rationale Analyse, den >>Unermüdlichen Satan<<, der unablässig forscht,
zerstört worden sind 5 •
Die Geschichte wird nicht durch die Vorsehung geleitet, sondern
vorwärts getrieben durch revolutionäre Krisen, die neue Ansichten von
der Gerechtigkeit hervorbringen. Die erste Krise hat Jesus hervorgeru-
fen, als er die Gleichheit aller Menschen vor Gott verkündete. Die
Reformation und Descartes leiteten die zweite ein; sie stellte die Gleich-
heit vor dem Gewissen und der Vernunft her. Die dritte begann mit der
Französischen Revolution und setzte die Gleichheit vor dem Gesetz
durch. Die kommende Revolution, die ökonomisch und sozial sein
wird, macht dem Zeitalter der Religion, der Aristokratie und der Bour-
geoisie ein Ende. Sie wird die endgültige Gleichheit zustande bringen
durch die »Gleichsetzung des Menschen mit der Menschheit<<. Um
diesen letzten Schritt zu erreichen, muß der Mensch den ewigen Kampf
zwischen Mensch und Gott aufnehmen und zur Entscheidung bringen.
Denn Gott oder das Absolute ist das eine große Hindernis für den
menschlichen Fortschritt und die eine große Quelle aller Absolutismen
ökonomischer, politischer und religiöser Art.
Während Voltaire und Condorcet antiklerikal, aber Deisten waren,
rühmt sich Proudhon, radikal >>antitheistisch« zu sein. >>Die wahre
Tugend, durch die uns das ewige Leben zuteil wird, besteht in dem
Kampf gegen die Religion und gegen Gott selbst«, denn >>Gott ist das
Böse<<. Als providentieller Schöpfergott beraubt der christliche Gott
den Menschen der eigenen Schöpferkraft und Voraussicht. Statt mit
Voltaire zu sagen: >>Wenn Gott nicht existierte, so müßte man ihn
erfinden<<, sagte Proudhon, daß >>es die erste Pflicht jedes intelligenten
und freien Menschen ist, sich den Gottesgedanken unablässig aus Kopf
und Gewissen zu schlagen<<. Denn wenn Gott existiert, dann ist er
unserer Natur seinem Wesen nach feindlich. >>Wir gelangen zur Wissen-
schaft trotz seiner, zu Wohlstand trotz seiner, zur Gesellschaft trotz
seiner: jeder Fortschritt ist ein Sieg, der die Gottheit zerschmettert.<< 6
Allmählich wird der Mensch Herr der Schöpfung und Gott gleich
sein. Der Mensch ist nicht geschaffen nach dem Bilde Gottes, sondern
5 Systeme des contradictions economiques ou philosophie de Ia misere (1846),
Einleitung.
6 Ebda. Kap. VIII.
74 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Gott ist nach dem Bilde menschlicher Voraussicht und Vorsorge gebil-
det. »Nimm diese Vorsehung weg, und Gott hört auf, menschlich zu
sein.<< Der ewige Gott und der endliche Mensch sind entschieden Riva-
len in einem Wettkampf ohne Versöhnung, dessen Preis der Fortschritt
in der Beherrschung des Universums durch rationale Voraussicht ist. In
diesem jahrhundertelangen Kampf der Menschheit gegen die Gottheit
und um die Meisterung des menschlichen Schicksals hat sich Gott nicht
eingemischt; er hat die Qual des Menschen nichtverkürzt, sondern ihn
wie Hiob gepeinigt. Gott ist >>das Gespenst unseres Gewissens<<, und
alle die Attribute der göttlichen Vorsehung, wie Vater, König und
Richter, sind nichts als eine Karikatur der Humanität, unvereinbar mit
der selbstherrlichen Zivilisation und von den Katastrophen der Ge-
schichte widerlegt. Gott ist seinem Wesen nach >>anticivilisateur, anti-
liberal, antihumain<<,
>>Man sage uns nicht: >Die Wege Gottes sind unerforschlich<!
Wir haben sie erforscht und in blutigen Lettern den Beweis seiner
Ohnmacht, wenn nicht seiner Böswilligkeit gelesen [... ] Ewiger
Vater, Jupiter oder Jehova, wir kennen Dich: Du bist, warst und
wirst ewig auf Adam neidisch und der Tyrann des Prometheus
sein.<< 7
Gott ist des Menschen Widersacher, so wie Jehova derjenige Israels
ist. Es ist deshalb falsch, mit Feuerbach die Theologie auf >> Anthropolo-
gie« zurückzuführen und die Menschheit zu vergöttlichen. Vielmehr
muß bewiesen werden, daß die Menschheit ihrem Wesen nach nicht
göttlich und daß Gott, falls er existiert, der Feind ges Menschen ist. Es
ist das Vorrecht des Menschen, eine endliche und mit Voraussicht
begabte Vernunft zu besitzen und >>der Prophezeiung seiner Zukunft<<
fähig zu sein, wohingegen vollkommene Heiligkeit der fortschreitenden
Vervollkommnung widerspricht.
»Wie wir es heute tun, so versuchte vor achtzehnhundert Jahren
ein Mensch, die Menschheit zu erneuern. Der Genius der Revolu-
tion (Lucifer), der Widersacher des >Ewigen<, glaubte in diesem
Menschen wegen seines heiligen Lebens, seiner überragenden Intel-
ligenz und Einbildungskraft seinen eigenen Sohn zu erkennen. Er
begab sich zu ihm, zeigte ihm die Reiche der Welt und sagte zu ihm:
>Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.<
7 Ebda.
Fortschrittcontra Vorsehung 75
»Nein<, antwortete der Nazarener, >ich bete nur Gott an[ ... ]< Der
inkonsequente Reformator wurde ans Kreuz geschlagen. Nach ihm
kamen Pharisäer, Zöllner, Priester und Könige, despotischer, raub-
gieriger und ruchloser als je zuvor, und die Revolution wurde zwan-
zigmal begonnen und wieder aufgegeben und blieb ein ungelöstes
Problem.« 8
Um dieses Problem zu lösen, erklärte sich Proudhon bereit, das
Werk Luzifers auszuführen, ohne irgendeinen Lohn von ihm zu verlan-
gen. Ein zeitgenössisches Symbol für Proudhons radikalen Entschluß,
den gefallenen Engel als Gottvater anzuerkennen, ist die berühmte Zeile
Baudelaires: >>Race du Cain, au ciel monte et sur Ia terre jette Dieu.«
Trotz seiner Blasphemien war Proudhon, wie Baudelaire, in seinem
Innersten vom Christentum gezeichnet. Was immer sein >>Antitheis-
mus « an Rhetorik, Pose und Übertreibung enthält, er ist doch inspiriert
von der Leidenschaft und dem Ernst einer religiösen Seele, die eine
gewaltsame Anstrengung machte, um ihre Unabhängigkeit zu behaup-
ten. Er war einer der wenigen großen Schriftsteller des 19. Jahrhun-
derts, der Hebräisch lernte und die Bibel kommentierte 9 • Seine Sprache,
seine Phantasie und Geistesrichtung sind unverkennbar theologisch. Er
brauchte in der Tat, wie er im Prolog zum System der ökonomischen
Widersprüche sagt, die>> Hypothese eines Gottes«, um seine ungewöhn-
liche Behandlung wirtschaftlicher Probleme zu rechtfertigen 10 • Er hatte
nicht ganz unrecht, wenn er sagte: »Es ist nun an uns, die Theologie zu
belehren, denn wir allein setzen die Tradition der Kirche fort, wir allein
verstehen die Schriften, die Konzilien und die Kirchenväter.« 11 Und so
16 Correspondance, Paris 1875, X, 187f. und 205f. (Briefe vom 27. und
29. Oktober 1860; vgl. De Ia creation de /'ordre dans l'humanite, Kap. I,
Abschn. 3 und Kap. II, Abschn. 4.
78 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
2. Comte
17 In dem »Persönlichen Vorwort<< von 1842 zu dem letzten Buch seines Cours
de philosophie positive gibt Comte zu, daß er es vermieden habe, Vico, Kant,
Hege! und Herder zu lesen, um den Zusammenhang und die Reinheit seiner
eigenen Konzeption zu wahren. Nachdem er sich zwanzig Jahre lang diese
»geistige Hygiene« auferlegt hatte, fand er sie »zeitweilig unbequem, aber weit
öfters gesund<<.
18 Dieses Werk gründet sich auf eine Folge von Vorlesungen zwischen 1826
und 1829. Später wünschte Comte seinen Titel in den angemesseneren eines
»Systems« der positiven Philosophie abzuändern. Wir zitieren die deutsche
Übersetzung von V. Dorn, Soziologie, 3 Bde. (1911); (zitiert Soz.). Da diese
Ausgabe nur die Kapitel 46-60 umfaßt, mußte öfters auf Die positive Philoso-
phie, im Auszug von Jules Rig, Bezug genommen werden, deutsch von J. H.
v. Kirchmann, 2 Bde., Leipzig 1884, zitiert K. Beide Übersetzungen mußten
manchmal revidiert und ergänzt werden aus der vollständigen französischen
Ausgabe in 6 Bänden von E. Littre (Paris 1864). Unter den vielen Büchern über
Comte siehe besonders die theologische Studie von H. de Lubac in Le Drame de
/'humanisme athee, Paris 1945, S. 135 ff.
Fortschritt contra Vorsehung 79
>> Tout concilier sans concession <<, die Welt mit Gott in der Geschichte
und durch sie zu versöhnen, das ist die gemeinsame Absicht von Comte
wie von Hege!. Beide verwandeln das verwirrende Schauspiel von
scheinbar einander widersprechenden Systemen des Gedankens und
des Geschehens in >>eine Quelle der sichersten Übereinstimmung« unter
dem Gesichtspunkt einer kontinuierlichen>> Evolution<<, die einem Ziele
zustrebt. Sie ist weit davon entfernt ein biologischer Begriff zu sein; sie
bedeutet vielmehr eine Teleologie, welche in der christlichen Konzep-
tion eines von Anfang an zweckvollen Heilsgeschehens angelegt ist.
Die geschichtliche Entwicklung der Menschheit ist nicht in einem
verschwommenen Sinne universal, sondern sie hat ihren einheitlichen
und bestimmten Ausgangspunkt in der weißen Rasse im christlichen
Okzident. Nur die westliche Zivilisation ist dynamisch, progressiv und
universal in ihrem missionarischen Anspruch. Aber während Hege! den
Vorrang des Abendlandes noch auf die absolute Religion des Christen-
tums gründet, versucht Comte ihn durch die physikalische, chemische
und biologische Eigenart der weißen Rasse >>positiv<< zu erklären 19•
Beider Denken ist nachrevolutionär, d. h. angetrieben durch den
19 Soz. I!, 16. Von diesem Versuch einer naturalistischen Erklärung abgesehen,
übernimmt Comte jedoch von Bossuet dessen Beschränkung der Universalge-
schichte auf die Geschichte des christlichen Abendlandes, trotz seiner Kritik an
Bossuets theologischen Voraussetzungen:»(, .. ] der Genius des großen Bossuet,
obgleich ohne Zweifel durch das rein literarische Prinzip der Einheit der Kompo-
sition geleitet, scheint mir doch instinktiv die durch die Natur des Gegenstandes
auferlegten logischen Bedingungen vorausgeahnt zu haben, als er seine histori-
sche Betrachtung spontan nur auf die Prüfung einer homogenen und geschlosse-
nen, und dennoch mit Recht als universell bezeichneten Stufe beschränkt hat.
Diejenigen, die ihr ganzes Kapital an Gelehrsamkeit zur Schau stellen und die
Geschichten solcher Völker betrachten, die wie diejenigen von Indien, China
usw. nichts zum Prozeß der Entwicklung beigetragen haben, mögen Bossuet
wegen seiner Begrenzungen tadeln: aber nichtsdestoweniger ist- für philosophi-
sche Betrachter- sein Plan wahrhaft universal.<< »Wenn wir gelernt haben, was
der Elite der Menschheit eignet, werden wir die Rolle erkennen, die die Höheren
zum Vorteil der Niederen spielen sollen; und auf keine andere Weise können wir
diese Tatsache oder die daraus folgende Mittlerrolle verstehen: denn die Sicht
gleichzeitig bestehender Zustände der Ungleichheit kann uns nicht helfen. Unse-
re erste Einschränkung besteht aber darin, daß wir unsere soziologische Analyse
auf die historische Untersuchung der am weitesten fortgeschrittenen sozialen
Entwicklung konzentrieren<< (Soz. I!, 4 f.). Diese bemerkenswerte Einsicht in den
methodischen Vorrang derjenigen Zivilisation, die im Prinzip >>fortschrittlich<<
(weil christlich) ist, schließt einen Angriff auf Voltaires Kritik an Bossuet ein
(siehe Kap. V).
80 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
20 K. I, 4; II, 58 ff.
21 Soz. I, 264, 27 5 ff.
Fortschrittcontra Vorsehung 81
Tatsache oder von Überlegung und Beobachtung frei hin und her zu
bewegen, würde für einen wissenschaftlich ungebildeten Geist zu
schwierig sein. Er muß daher seine Untersuchung mit einer einfacheren
Methode beginnen und Übernatürliches für die letzte und direkte Ursa-
che beobachtbarer Wirkungen voraussetzen. Wenn der Mensch nicht
von einer übertriebenen Einschätzung seiner Erkenntnisfähigkeit und
seiner eigenen Bedeutung im Weltall ausgegangen wäre, würde er nie-
mals alles, was er tatsächlich wissen und tun kann, gelernt und getan
haben. Die theologische Philosophie bot genau die Anregung, die not-
wendig war, um den menschlichen Geist zu der mühseligen Arbeit zu
veranlassen, ohne die er keine Fortschritte hätte machen können 29 • Um
indessen von der übernatürlichen Spekulation zur Naturphilosophie
fortzuschreiten, war ein Zwischensystem nötig. In ihm waren die meta-
physischen Vorstellungen nützlich und notwendig. Als man die überna-
türliche Lenkung von Natur und Geschichte durch entsprechende We-
senheiten ersetzte, wurde der Blick freier für die Tatsachen, bis endlich
die metaphysischen Ursachen aufhörten mehr zu sein als abstrakte
Bezeichnungen. Heute (im 19. Jahrhundert) sind die besten Köpfe Eu-
ropas einig, daß die theologische, metaphysische und literarische Bil-
dung durch eine >>positive« abgelöst werden muß, die im gleichen Maße
fortschreitet, wie die älteren Formen höherer Bildung unvermeidlich
untergehen 30 •
Der allgemeine Zielpunkt von Comtes Universalgeschichte ist die
offene Zukunft eines geradlinigen Fortschritts von primitiven zu ent-
wickelteren Stadien. Dieser Fortschritt tritt im intellektuellen Bereich
deutlicher hervor als im moralischen und hat sich in den Naturwissen-
schaften entschiedener durchgesetzt als in den Sozialwissenschaften.
Letztes Ziel und Aufgabe jedoch ist die Anwendung der Ergebnisse der
Naturwissenschaften auf die soziale Physik oder Soziologie 31 zum
Zwecke der gesellschaftlichen Neugestaltung.
29 Ebda. I, 6.
30 Comtes Glaube an den fortschrittlichen Positivismus wird zwar in der Alten
Welt nicht mehr von den "führenden Geistern<< geteilt, herrscht aber noch
immer in der Neuen Welt vor, deren politische Verfassung aus dem 18. Jahrhun-
dert stammt.
31 Das Wort »Soziologie<< wurde zum erstenmal von Comte unter Berufung auf
Condorcets Werk verwendet, um die »soziale Physik<< als die positive Wissen-
schaft zu kennzeichnen, die sich mit den Grundgesetzen dersozialen Phänomene
beschäftigt. »Positive Philosophie<< ist somit gleichbedeutend mit »soziologi-
scher Philosophie« (K. II, 54; Soz. I, 184, Anm.; vgl. Franz. Ausg. IV, 185 Anm.).
84 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Die große politische und moralische Krise, in der sich jetzt die
höchstzivilisierten Nationen 32 befinden, hat ihren Grund in einer geisti-
gen Anarchie. Der Mangel an Stabilität der grundlegenden Maximen
und der sozialen Ordnung ist auf das verwirrende Nebeneinander der
drei verschiedenen Philosophien zurückzuführen: der theologischen,
der metaphysischen und der positiven. Jede von ihnen allein könnte eine
Art sozialer Ordnung sichern, aber ihr gleichzeitiges Bestehen neutrali-
siert jede einzelne und verhindert jede Ordnung. Die Aufgabe besteht
deshalb darin, >>das weitgreifende geistige Unternehmen zu Ende zu
bringen, das Baco, Descartes und Galilei begonnen haben, und die
revolutionären Erschütterungen, die uns quälen, werden beseitigt
sein<< 33 .
Um ein Gegengewicht zu dem anarchischen Zug nach bloßer Steige-
rung individueller Rechte (statt gemeinsamer Pflichten), abstrakter
Freiheit (statt freiwilliger Unterordnung) und Gleichheit (statt Rang-
ordnung)34 zu schaffen und die revolutionäre Periode der letzten Jahr-
hunderte zu beenden, muß die stabilisierende Kraft der Ordnung wie-
derhergestellt werden. Denn nur ein System, das konservative Ordnung
und revolutionären Fortschritt vereinigt, kann den Zustand, der seit der
Auflösung der mittelalterlichen Ordnung für die europäische Geschich-
te charakteristisch ist,· seinem letzten und positiven Ziel zuführen.
Ordnung und Fortschritt, die nach älterer Ansicht einander ausschlie-
ßen, bilden in der modernen Zivilisation zwei Bedingungen, die gleich-
zeitig erfüllt sein müssen. Ihre Vereinigung ist die grundlegende Schwie-
rigkeit und das Fundament jedes echten politischen Systems. >>Keine
gesellschaftliche Ordnung kann sich jetzt aufrichten und dauern, wenn
sie sich nicht mit dem Fortschritt verträgt. Kein Fortschritt kann sich
vollziehen, wenn er sich nicht auf Befestigung der Ordnung richtet. In
der positiven Philosophie sind Ordnung und Fortschritt die beiden
untrennbaren Seiten desselben Prinzips.<< 35 Während historisch gese-
hen die katholische Kirche die große Bewahrerio von Tradition, Hierar-
chie und Ordnung war, wogegen der Protestantismus den kritischen
32 Nach Comte sind dies Frankreich, Italien, Deutschland, England und Spa-
nien. Die Erlösung durch den Positivismus wird sich indes später auf die ganze
weiße Rasse und mit der Zeit auf die ganze Menschheit ausdehnen (K: II, 430,
376, 28; Soz, III, 248, 754).
33 K. I, 17; vgl. Franz. Ausg. IV, 17.
34 K. II, tOff.; vgl. Franz. Ausg. IV, 514. Über die Grenzen der Toleranz.
35 K. II, 4ff.; vgl. Franz. Ausg. IV, 17.
Fortschrittcontra Vorsehung 85
Geist des Fortschritts gefördert hat, wird die neue progressive Ordnung
weder katholisch noch protestantisch sein, sondern einfach >>positiv<<
und >>natürlich<<, wie die Naturgesetze der Sozialgeschichte.
Comte erklärt den relativ geringen sozialen Fortschritt vor der
Heraufkunft des Positivismus durch den unentwickelten Zustand der
positiven Wissenschaften und die ärmliche Kenntnis von Tatsachen, die
hingereicht hätten, die Naturgesetze der sozialen Phänomene zu enthül-
len. Aristoteles' Politik, die einer >>positiven<< Anschauung näher
kommt als seine anderen Werke, läßt weder eine fortschrittliche Ten-
denz noch den blassesten Schimmer von den Naturgesetzen der Zivili-
sation36, d.h. dem Gesetz der Evolution, erkennen. Dem klassischen
Altertum erschien der Gang der Geschichte überhaupt nicht als ein
Fortgang, sondern als eine zyklische Folge sich wiederholender Phasen;
ihm fehlte die Erfahrung einer auf ein künftiges Ziel gerichteten Umfor-
mung.
Die erste Ahnung menschlichen Fortschritts vermittelte das Chri-
stentum. Indem es die Überlegenheit des evangelischen Gesetzes über
das mosaische verkündete, veranlaßte es den Gedanken einer fort-
schreitenden Entwicklung der Geschichte zu ihrer Erfüllung. Das Chri-
stentum konnte es jedoch zu keiner wissenschaftlichen Theorie des
sozialen Fortschritts bringen, denn eine solche wäre sofort mit seiner
Behauptung, das Endstadium des menschlichen Geistes zu sein, in
Widerspruch geraten.
Die erste befriedigende Lehre eines allgemeinen Fortschritts wurde
von einem christlichen Gläubigen vorgetragen, der zugleich ein großer
Wissenschaftler war. Pascal betrachtete die ganze geschichtliche Gene-
rationenfolge im Ablauf der Zeitalter wie >>einen einzigen Menschen,
der beständig hinzulernt<< 37 . Den bedeutendsten Schritt zu einem rech-
ten Verständnis der Sozialgeschichte machten Montesquieu und Con-
dorcet, dessen Einleitung zu seinem Werk über den Fortschritt des
menschlichen Geistes die Einsicht in den kontinuierlichen Fortschritt
des Menschengeschlechts vorweg nahm. >>Diese wenigen unsterblichen
Seiten<<, sagt Comte, >>lassen [... ] nichts Wesentliches zu wünschen
übrig in allem, was die ganze Stellung der soziologischen Frage betrifft,
die nach meiner Ansicht für alle Zukunft auf jener bewunderungswür-
digen[ ... ] Erklärung beruhen wird.<< 38
36 K.II,48,51;Soz.I, 176f.
37 Pascal, Penseeset opuscules, hrsg. v. Leon Brunschvigg, Paris 1909, S. 80.
38 K. II, 54; Soz. I, 185 f.
86 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
39 Franz.Ausg.V,231.
40 Siehe über Bossuet: ebda. IV, 204; V, 8, 187, 418; VI, 251. Über de Maistre:
ebda. IV, 64, 135, 138. Über Comtes Identifizierung der katholischen Philoso-
phie mit der von de Maistre und Bonald vgl. auch H. de Lubacs kritische
Bemerkungen in Le Drame de l'humanisme athee, Zweiter Teil.
41 K. II, 216ff.; Franz. Ausg. V, 241.
Fortschrittcontra Vorsehung 87
42 K. li, 254; Soz. li, 361; vgl. K. II, 254. In seinemAlterversuchte Comte in der
Tat eine Allianz mit dem Katholizismus herzustellen, indem er dem Jesuitenge-
neral bestimmte Vorschläge machte.
43 Vgl. die Studien von Fustel de Coulanges, La Cite antique, und von H.].
Maine, Ancient Law.
88 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
44 K. II, 227.
45 Ebda. S. 242 ff.; vgl. Franz. Ausg. V, 8 und 247 f.
Fortschrittcontra Vorsehung 89
46 Ebda. S. 152.
47 K.ll, 374.
48 Soz. I, 169, Anrn. und 285; vgl. Franz. Ausg. V, 243 f.
90 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
49 K. II, 270.
Fortschrittcontra Vorsehung 91
Schlußbetrachtung
Er unterzog sich sogar der Mühe, alle Einzelheiten für die zukünftige
Verwaltung der neuen westlichen Gesellschaft auszuarbeiten, ein-
schließlich einer neuen Flagge, eines neuen Kalenders, neuer Feste, der
Anbetung neuer positiver Heiliger und neuer Kirchen. Zunächst jedoch
werde die Menschheitsreligion noch von den christlichen Kirchen Ge-
brauch machen, sobald diese nach und nach frei werden, wie ja auch der
christliche Gottesdienst ursprünglich in verlassenen Heidentempeln
abgehalten wurde. In einem Brief von 1851 verstieg sich Comte zu der
Prophezeiung, daß er noch vor 1860 das Evangelium des Positivismus,
die »einzig wirkliche und vollkommene Religion«, in Notre-Dame
predigen werde! Obgleich er in seiner Jugend an Saint-Simons Entwurf
eines neuen Christentums Anstoß nahm, endete er selbst damit, aus
dem Positivismus eine »endgültige Religion« zu machen. Gleich Feuer-
bach, dessen Wesen des Christentums, d.h. eines auf Humanismus
reduzierten Christentums, im gleichen Jahre wie Comtes System er-
schien, war er ein »frommer Atheist<<, der Gott als Subjekt verwarf,
aber seine traditionellen menschlichen Prädikate, wie Liebe und Ge-
rechtigkeit, beibehielt69 • Die Lehre des Positivismus ist ein Glaube an
den Fortschritt der Menschheit, für den die Menschlichkeit des Men-
schen kein Problem ist. Wie Feuerbach war auch Comte von massiver
Ehrlichkeit. Er besaß die Gabe der Vereinfachung, aber er war weder
tief noch subtiF 0 •
Heute, nach hundert Jahren, erscheinen Comtes Allgemeine Grund-
züge des Positivismus von 1848 nicht positiv, sondern illusorisch. Diese
Schrift enthält eine populäre Zusammenfassung seiner Ideen über den
europäischen Wiederaufbau auf der Grundlage der auf das Studium der
Menschheit konzentrierten positiven Wissenschaft. Sie soll die Führung
der »großen westlichen Republik<< übernehmen, die sich aus den fünf
fortgeschrittensten Nationen (der französischen, italienischen, spani-
schen, britischen und deutschen) zusammensetzt, >>die seit der Zeit
Karls des Großen immer ein politisches Ganzes gebildet haben<<. Wenn
Comte wirklich auf rein positiver Basis vorgegangen wäre, d. h. mit der
Sachlichkeit des Wissenschaftlers, der sich von der Überschätzung der
Bedeutung des Menschen im Weltall fernhält, so hätte er weder das
Gesetz des Fortschritts >>entdeckt<<, noch sich mit der endgültigen Ge-
69 Siehe L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, SW. Bd. 7, Leipzig 1883,
Einleitung, Kap. II.
70 Vgl. de Lubac, Le Drame de l'humanisme athee, S. 277.
Fortschrittcontra Vorsehung 101
Comte war ein Schüler Condorcets, der unter anderem eine Biographie
Voltaires, des Lehrers und Freundes von Turgot, geschrieben hat. Die
meisten von Comtes Gedanken können auf Saint-Simon, Condorcet
und Turgot zurückgeführt werden; seinen Vorgängern überlegen ist
Comte nicht durch Originalität, sondern durch die ausgebreitete Voll-
ständigkeit seines geschichtsphilosophischen Systems. Sein Prinzip der
>>Ordnung<< und des >>FortschrittS<< war schon von Condorcet ausge-
sprochen worden, und als Dreistadiengesetz von Saint-Sirnon und Tur-
got. Diese drei vollzogen die entscheidende Umformung der Ge-
schichtstheologie in die Geschichtsphilosophie, wie sie mit Voltaire
beginnt.
Die Umstände, unter denen Condorcet 1793 seine Esquisse d'un
tableau historique des progres de I' esprit humain 71 verfaßte, sind außer-
gewöhnlich. Er schrieb diese begeisterte Skizze ohne die Hilfe eines
einzigen Buches, als Geächteter und Flüchtling, kurz bevor er ein Opfer
der Französischen Revolution wurde, der er so hochherzig gedient
hatte. Durch seinen Tod gab er, mit Comte zu sprechen, eines der
großen Beispiele >>ergreifender Selbstverleugnung, verbunden mit einer
ruhigen und unerschütterlichen Festigkeit des Charakters, die angeb-
lich nur die Religion hervorbringen und erhalten kann«.
Condorcets Fortschrittsidee unterscheidet sich von Comtes >>positi-
vem<< Entwicklungsbegriff durch das, was Comte selbst Condorcets
>>chimärische und absurde Erwartungen<< in bezugauf die Perfektibili-
tät des Menschen nannte. Aber gerade dieser übertriebene weltliche
Glaube an Fortschritt und Perfektibilität verbindet Condorcet, enger
als Comte, mit der christlichen Hoffnung auf eine künftige Vollkorn-
71 Wir zitieren aus der franz. Ausgabe Condorcets Esquisse d'un tableaudes
progres de l'esprit humain, Paris 1883,2 Bde.
102 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
menheit, denn auch der christliche Glaube ist seiner ionersten Natur
nach enthusiastisch und extrem. Bei Männern wie Condorcet, Turgot,
Saint-Sirnon und Proudhon entfachte die Leidenschaft des 18. Jahrhun-
derts für Vernunft und Gerechtigkeit eine Art religiösen Eifers.
Gegenstand von Condorcets Untersuchung ist die Entwicklung der
menschlichen Fähigkeiten im Verlauf der menschlichen Geschichte; er
will ihre Ordnung und zugleich ihre Veränderungen herausstellen. Das
natürliche Ziel dieses geordneten Fortschritts ist die Vervollkommnung
des Wissens und dadurch des Glücks. Unser Beitrag zu dem natürlichen
Fortschrittsverlauf besteht darin, ihn sicher zu stellen und zu beschleu-
nigen. Sowohl Überlegungen wie Tatsachen zeigen, daß die Natur
unserem Fortschreiten keine Grenzen gesetzt hat. >>Die Perfektibilität
des Menschen ist faktisch unbegrenzt<< und >>kann niemals rückläufig
sein<< 72 • Ihre einzige Grenze ist der Fortbestand unseres Planeten und
die Unveränderlichkeit der Gesetze des Universums. Wenn wir anneh-
men, daß die Erde ihre Stellung beibehält und das Menschengeschlecht
auf ihr dieselben Fähigkeiten auszuüben in der Lage ist, so dürfen wir
bestimmte Hoffnungen auf unsere zukünftigen Fortschritte in Wissen-
schaft, Moral und Freiheit aussprechen. Wir können voraussehen, wie
die Segnungen der Zivilisation
>>verschmelzen und eins werden müssen, wenn das Licht der Aufklä-
rung in einer größeren Zahl von Nationen zugleich einen bestimm-
ten Höhepunkt erreicht hat und die gesamte Masse eines großen
Volkes durchdringt, dessen Sprache universal werden 73 und dessen
Handelsverkehr die ganze Erdoberfläche umfassen wird. Wenn sich
diese Vereinigung einmal in der ganzen Klasse aufgeklärter Men-
schen vollzogen hat, dann wird man diese als die Freunde des
Menschengeschlechts betrachten, die sich gemeinsam bemühen,
Besserung und Glück der menschlichen Spezies zu beschleu-
nigen<<74.
gen, auf die wir rechnen können, werden auch auf unsere moralischen
und physischen Eigenschaften einwirken, und dann wird der Augen-
blick kommen, »wo die Sonne auf der Erde nur freie Menschen be-
scheint, die keinen anderen Herrn als ihre Vernunft anerkennen, wo
Tyrannen und Sklaven, Priester und ihre [... ] Werkzeuge nur noch in
den Geschichtsbüchern und auf der Bühne existieren werden« 77 • Nach-
dem einmal der religiöse Aberglaube und die politische Tyrannei end-
gültig abgeschafft sind, werden sich die Bedürfnisse und Fähigkeiten
der Menschen mitten in der Vervollkommnung von Industrie und
Wohlfahrt ausgleichen.
>>Ein immer kleineres Stück Land wird dann eine Fülle von sehr
viel nützlicheren und wertvolleren Lebensmitteln hervorbringen;
bei geringerem Aufwand wird ein größeres Quantum an Genuß
verfügbar sein; das gleiche Industrieprodukt wird mit niedrigeren
Rohmaterialkosten produziert und dauerhafter sein; aller Boden
wird für Erzeugnisse nutzbar gemacht, die mit geringer Arbeitskraft
eine größere Anzahl von Bedürfnissen befriedigen.<< 78
Schließlich wird die Perfektibilität des Menschengeschlechts auch
die natürliche Konstitution des Menschen beeinflussen und den Tod
hinauszögern, wenn nicht überhaupt abschaffen. Condorcet zweifelte
nicht daran, daß der Fortschritt im Gesundheitswesen, zuträglichere
Nahrung und bequemere Wohnverhältnisse, zwangsläufig die normale
Dauer des menschlichen Lebens verlängern werden. Und so sei es nicht
absurd, anzunehmen, >>daß eine Zeit kommen muß, wo der Tod nichts
weiter als das Ergebnis eines ungewöhnlichen Unfalls oder der langsa-
men Abnahme der Lebensenergien sein wird, und wo die durchschnitt-
liche Lebensdauer keine angehbare Grenze haben wird. Der Mensch
wird zwar nicht unsterblich werden, aber die Zeitspanne zwischen dem
ersten Atemzug und dem letzten wird, wenn er, ohne Krankheit und
Unfall, eines Tages von Natur aus nicht mehr länger leben kann,
notwendigerweise immer mehr hinausgeschoben werden<< 79 •
Schließlich könnte auch die moralische und geistige Konstitution
auf natürlichem Wege, durch Anhäufung von Erbmasse, Fortschritte
machen. Denn warum sollten unsere Eltern, die uns ihre Vorzüge,
80 Ebda.
81 Ebda. II, 88; siehe auch I, 14 2 ff.
82 Ebda. II, 93.
83 Ebda. I, 153 ff.; siehe auch S. 167, VIII Epoche.
106 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
84 Vgl.]. Morley, Critical Miscellanies. First Series. New York 1897, S. 88 ff.
85 Schon Condorcet bedachte gelegentlich die Möglichkeit einer neuen zivili-
sierten Barbarei, verursacht durch eine zu starke Bevölkerungsvermehrung; als
eine Gegenmaßnahme empfahl er Geburtenkontrolle (ll, 81 ).
Fortschrittcontra Vorsehung 107
ehe die klügsten Europäer selbst nicht mehr glauben, während sie von
den Russen sklavisch kopiert werden, als sei die Komödie der bürgerli-
chen Ordnung die normale Form der menschlichen Gesellschaft?
Anstatt an die Erlösung der nichteuropäischen Völker durch die
westlichen Nationen zu glauben, fällt Tolstoi das Urteil, Europa sei
nicht nur dabei, sich selbst zu zerstören, sondern gehe auch daran,
Indien, Afrika, China und Japan durch die Verbreitung und Durchset-
zung seiner fortschrittlichen Zivilisation zu korrumpieren.
>>Die mittelalterliche Theologie oder die römische Sittenver-
derbtheit vergifteten nur ihre eigenen Leute, also einen kleinen Teil
der Menschheit; heute verderben Elektrizität, Eisenbahnen und Te-
legraphen die ganze Welt. Alle eignen sich diese Dinge an, können
nicht umhin, sie sich anzueignen, und alle leiden in gleicher Weise,
sind in gleicher Weise gezwungen, ihre Lebensweise zu ändern. Alle
werden in die Notwendigkeit versetzt, an dem für ihr Leben Wich-
tigsten Verrat zu üben: an dem Begreifen des Lebens selbst, an der
Religion. -Maschinen, um was zu verfertigen? Telegraphen, um
was zu befördern? Schulen, Universitäten, Akademien, um was zu
lehren? Versammlungen, um was zu erörtern? Bücher, Zeitungen,
um was für Nachrichten zu verbreiten? Eisenbahnen, um zu wem
und wohin zu reisen? Zusammengetriebene und einer höchsten
Macht unterworfene Millionen von Menschen, um was zu vollbrin-
gen? Spitäler, Ärzte, Apotheken, um das Leben zu verlängern -
wofür?[ ... ] Wie leichteignen sich einzelne sowohl wie ganze Völker
das an, was sich Zivilisation nennt! Die Universität absolvieren, die
Nägel reinhalten, die Dienste des Schneiders und Friseurs brauchen,
das Ausland bereisen- und der höchst zivilisierte Mensch ist fertig.
Und hinsichtlich der Völker: möglichst viele Eisenbahnen, Akade-
mien, Fabriken, Dreadnoughts, Festungen, Zeitungen, Bücher, Par-
teien, Parlamente- und das höchst zivilisierte Volk ist fertig. Des-
halb sind genug Einzelne sowohl wie Völker für die Zivilisation,
nicht aber für die wahre Aufklärung zu gewinnen; die erste ist leicht,
bedarf keiner Anstrengung und findet Beifall; die zweite jedoch
erfordert Anspannung .der Kräfte und findet daher bei der großen
Mehrheit nicht nur keinen Beifall, sondern immer nur Verachtung
und Haß, denn sie deckt die Lüge der Zivilisation auf.« 87
92 Ebda. S. 594.
93 Ebda. S. 595.
Fortschrittcontra Vorsehung 113
94 Ebda. S. 633.
95 Ebda. S. 632; vgl. (S. 58, 118 ff., 133 f.) die entsprechenden Beschreibungen
bei Hegel, Vico und Bossuet.
114 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
V Voltaire
Er wurde dabei von seinem Freund Voltaire unterstützt, der den Ver-
such unternahm, das alte religiöse System und insbesondere die christli-
che Geschiehtsauffassung zu Fall zu bringen. Beide waren sich bewußt,
eine große Revolution vorwärtszutreiben, indem sie die Fundamente
des politischen Gebäudes und des ••alten Palastes des Betrugs«, der ••vor
1775 Jahren<< erbaut worden war, untergruben<< 4 •
>>Die Axt ist an die Wurzel des Baumes gelegt [... ] und die
Nationen werden in ihren Annalen schreiben, daß Voltaire der
Beweger jener Revolution im menschlichen Geiste war, die im
19. Jahrhundert stattfand.<< 5 ••Schon macht man sich über des Ma-
giers Zauberbuch lustig; der Stifter der Sekte wird mit Schmutz
beworfen; man predigt Toleranz; alles ist verloren. Nur ein Wunder
könnte die Kirche wieder herstellen[ ... ] Der Engländer Woolstone
hat ausgerechnet, daß die Infamie wenigstens noch zweihundert
Jahre bestehen werde; er konnte nicht einkalkulieren, was sich
jüngst ereignet hat; es kommt darauf an, das Vorurteil zu zerstören,
das diesem Gebäude als Fundament dient. Es bricht in sich selbst
zusammen und sein Sturz wird um so jäher sein.<< 6
Als Voltaire seinen Essai sur les mceurs et l'esprit des nations et sur
les principaux faits de l'histoire depuis Charlemagne jusqu'a Louis
XIII. schrieb, hatte er Bossuets Discours sur l'histoire universelle im
Sinn. Dieses Werk ist eine neue, auf den zeitgemäßen Stand gebrachte
Fassung von Augustins Geschichtstheologie. Es beginnt mit der Er-
schaffung der Welt und endet mit Kar! dem Großen. Voltaire nahm es
an dieser Stelle auf und setzte es bis zu Ludwig XIII. fort, nachdem er
bereits ein Buch über das Zeitalter Ludwigs XIV. veröffentlicht hatte.
Obgleich sein Werk zunächst als Fortsetzung von Bossuets Arbeit beab-
sichtigt war, wurde es eine Widerlegung der herkömmlichen Ge-
schichtsauffassung, im Prinzip sowohl wie nach Methode und Inhalt.
Voltaire beginnt seinen Essai mit China, worin ihm Hege! folgte.
China war damals gerade am Horizont des christlichen Abendlandes
aufgetaucht durch die Berichte französischer Missionare, die von dem
Alter und der Höhe der chinesischen Kultur wie von der Ethik des
Konfuzius tief beeindruckt waren. Es entstand die Frage, ob sich die
8 Essai sur /es moeurs et /'esprit des nations (Oeuvres compl. 1877, XXI,
121 f.).
9 Essai([ ... ] (Oeuvres, XXI, 166). Vgl. in Voltaires Dictionnaire philosophi-
que den Artikel >>Juifs«.
10 Essai[ ... ] (Oeuvres, XXI, 3 u.a.).
11 Dictionnaire philosophique, Artikel "Histoire<<.
12 Essai[ ... ] (Oeuvres, XXI, 3f., 104ff.). Nach Voltaire hatte nur Gibbon
einen ähnlich weit reichenden Einfluß auf die Emanzipation der Historie von der
Theologie.
118 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
willen gemacht. Bei dieser Rede schüttelt sich der himmlische Reisende
vor nicht endenwollendem Gelächter.
In der philosophischen Erzählung Candide sind es besonders die
christliche Lehre von der Vorsehung und die Theodizee von Leibniz, der
in der Erzählung in der Gestalt des Herrn Pangloß auftritt, die Voltaire
seiner satirischen Kritik unterzieht. Pangloß beweist, daß in dieser Welt
alles einen bestimmten menschlichen Zweck hat und letzten Endes den
besten aller Zwecke. >>Beachtet wohl, daß die Nase gemacht ist, um eine
Brille zu tragen, und so gibt es Brillen. Unsere Beine sind offenbar
bestimmt für Schuhe und Strümpfe und deshalb haben wir Schuhe und
Strümpfe. Steine sind geschaffen, damit man sie behauen und Schlösser
daraus bauen kann, und so haben seine Gnaden ein schönes Schloß[ ... ]
Da die Schweine geschaffen sind, um gegessen zu werden, so essen wir
das ganze Jahr hindurch Schweinefleisch.<< Auf die Frage, ob er an die
Erbsünde glaube, antwortet Pangloß, daß der Sündenfall und der nach-
folgende Fluch notwendigerweise in das Schema der besten aller mögli-
chen Welten eingehe. »>hr glaubt also nicht an den freien Willen,
Herr?<< >>Entschuldigt<<, sagt Pangloß (und er könnte auf Augustin
verwiesen haben), >>der freie Wille ist mit der absoluten Notwendigkeit
vereinbar, denn es ist notwendig, daß wir frei sind.« Für einen anderen
Mitreisenden indessen, der so viele außerordentliche Dinge erlebt hat,
daß ihm nichts mehr ungewöhnlich erscheint, ist der Zweck, zu dem die
Welt geschaffen wurde, >>uns rasend zu machen<<. Gegen Ende des
Abenteuers trifft Candide während des Karnevals in Venedig auf einem
Maskenfest zufällig sechs Fremde. Sie sind wohl bekannte, entthronte
Könige, die von ihrem Schicksal berichten und die Zwecklosigkeit und
Armseligkeit der menschlichen Geschichte bezeugen. Nachdem ihnen
mancherlei Unglück zugestoßen ist, lassen sich Candide und seine
philosophischen Freunde auf einem kleinen Bauernhof in der Nähe von
Konstantinopel nieder, wo sie gelegentlich ihre Dispute über die morali-
sche und metaphysische Philosophie fortsetzen. Einmal holen sie sich
Rat bei einem berühmten Derwisch, dem besten Philosophen der Tür-
kei. >>Meister, wir bitten Euch, uns zu sagen, warum ein so seltsames
Tier wie der Mensch erschaffen worden ist.<< >>Was kümmert's Dich<<,
fragte der Derwisch, »Ist das Deine Sache?<< >>Ehrwürdiger Vater<<,
sagte Candide, >>es gibt doch so schrecklich viel Böses in der Welt.<<
>>Was bedeutet es schon<<, erwiderte der Derwisch, >>ob es Böses oder
Gutes gibt? Wenn seine Hoheit ein Schiff nach Ägypten schickt, küm-
mert er sich darum, ob die Mäuse an Bord sich wohl oder übel befin-
120 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
16 Vgl. Dictionnaire philosophique, Artikel •Bien, tout est bien<<, Das Argu-
ment des Candide kehrt wieder in D. Humes Dialogues concerning Natural
Religion, Teil X.
17 Siehe Kants Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vor-
fälle des Erdbebens (1756), die durch das von Lissabon veranlaßt war.
18 Vgl. Kants Aufsatz Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in
der Theodizee. Was diese klassische Zurückweisung tatsächlich beweist, ist
jedoch nur die Unmöglichkeit, auf philosophischem Wege eine Theodizee zu
begründen. Auf religiösem Grund mag das Problem einer Theodizee vielleicht
auch unlösbar sein, kann aber nicht als sinnlos abgetan werden (vgl. T. Haecker,
Schöpfer und Schöpfung, Leipzig 1934, Kap. 1).
Voltaire 121
19 Siehe Essai[ ... ] (Oeuvres, XXI, Avantpropos, 157ff.) und Remarques pour
servir de supp/ement (Oeuvres, XXIX, 543ff.); vgl. den Artikel >>Histoire<< im
Dictionnaire philosophique.
20 Artikel »Histoire<<, Bd. 19,355.
122 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
und mit der Annahme, daß diese etwas »Neues<< bringt. Falls ein
Astronom uns überzeugen könnte, daß unser Planet im Jahre 2000
unbewohnbar sein wird, so würde unsere Fortschrittlichkeit jeden Sinn
verlieren. Denn warum sollten wir uns damit befassen, bessere Autos,
bessere Wohnungen und bessere Nahrung zu produzieren und für
bessere Gesundheit zu sorgen, wenn sich die Zeit des möglichen Fort-
schritts alsbald erschöpft und alle Verbesserungen schließlich zum bit-
teren Ende kommen? Aber selbst wenn wir voraussetzen, daß sich die
Fortschrittsidee von der christlichen Hoffnung herleiten läßt, so muß
man doch fragen: wie konnte das Christentum antichristliche Folgen
zeitigen? Ist es in sich selber schon fortschrittlich gesinnt und deshalb
imstande, den weltlichen Glauben an Fortschritt als sein illegitimes
Kind zu erzeugen, oder ist es fortschrittlich in einem ganz anderen Sinn
als die nachchristliche Welt?
Die Frage, ob das Christentum "fortschrittlich<< ist oder nicht, kann
nur beantwortet werden, wenn wir zwischen der modernen Fort-
schrittsreligion, dem Fortschritt der Religion und dem religiösen Fort-
schritt22 unterscheiden. Beginnen wir mit dem letzteren, so kann kein
Zweifel bestehen, daß die Evangelien aus dem Vertrauen auf das eigene
und gemeinsame Fortschreiten zumJüngsten Gericht und zur Erlösung
leben, nicht aber aus dem Glauben an eine bessere irdische Welt,
obwohl der weltliche Fortschritt unter Augustus und seinen Nachfol-
gern eindrucksvoll gewesen sein muß. Was die Evangelien verkünden,
sind ja keineswegs künftige Verbesserungen unserer irdischen Verhält-
nisse, sondern das plötzliche Kommen des Reiches Gottes, im Gegen-
satz zu dem Reich dieser Welt. Die innere Vorbereitung, durch Buße
und Reue, auf Jüngstes Gericht und Erlösung, ist die einzig wahre
>>religiöse Erziehung<<, deren Fortschritt an dem Ernst und dem Zielbe-
wußtsein dieser seelischen Umkehr gemessen werden muß. Die Erlö-
sung läßt sich nicht durch eine allmähliche Entwicklung unserer natür-
lichen Anlagen erreichen, sondern nur vorbereiten durch eine entschie-
dene Bekehrung. Und so hat die Mahnung des Paulus, nicht zurück zu
sehen, sondern >>voran zu drängen<<, nichts mit modernem Aktivismus
und Futurismus zu tun; ihm geht es um eine Verwandlung und Voll-
endung, die sich in einer noch fernen, aber bevorstehenden Zukunft
22 Ein typisches Beispiel für die Verwechslung des religiösen Fortschritts mit
der Religion des Fortschritts ist E. F. Scotts Kapitel über den Fortschritt in
seinem Buch Man and Society in the New Testament, New York 1946.
124 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
ereignen wird. Das Christentum hat nicht, wie die moderne Fort-
schrittsreligion, den Horizont einer unbestimmten Zukunft eröffnet,
sondern die Zukunft endgültig vorweg genommen und dadurch den
Ernst des entscheidenden »Augenblicks<< vertieft und betont. Die gläu-
bige Erwartung einer künftigen Herrlichkeit und des Jüngsten Gerichts
setzt nicht voraus, daß die Geschichte, sei es durch ein natürliches
Gesetz der Entwicklung oder infolge beständiger menschlicher Bemü-
hungen, ins Endlose weitergeht, sondern daß sie mit Christus ihr Ziel
schon erreicht hat. Der christliche Fortschritt vom alten Adam zu einem
neuen Geschöpf ist zwar der Fortschritt schlechthin, doch ist er völlig
unabhängig von den geschichtlichen Veränderungen der sozialen und
ökonomischen, kulturellen und politischen Verhältnisse. The Pilgrim's
Progress ist wesentlich der gleiche für Paulus, Franziskus und Bunyan.
Das Christentum hat eben darum keinerlei Fortschritte gemacht, weil
der religiöse Fortschritt eines Christen in der Nachfolge Christi besteht,
und Christus sorgte nicht für weltliche Reformen. Seine göttliche Voll-
kommenheit kann von menschlichen Nachfolgern nicht übertroffen
werden 23 •
Etwas anderes als der Fortschritt im Glauben ist der Fortschritt der
Religion. Es gibt keine historische Religion, die am Geschichtsprozeß
nicht zwangsläufig teilhätte, einem Prozeß, der sowohl fortschrittlich,
wie auch rückschrittlich ist, je nach dem Maßstab, womit man ihn
bemißt. Es würde sehr naiv sein, sich die Geschichte der christlichen
Religion etwa so vorzustellen, als sei sie vom ••primitiven << Christentum
über die Kirche des Mittelalters zur Reformation beständig vorange-
schritten, um ihre Vollendung in den letzten Formen des liberalen
23 Siehe W. Solovieff, Die Rechtfertigung des Guten, Ausgew. Werke, Bd. Il,
übersetzt von H. Köhler, Jena 1916, S. 211ff. Hier wird der Mangel eines
geistigen Fortschritts gerade aus der Vollendung bewiesen, die in Christus
erreicht worden ist. Niemand kann bezweifeln, so argumentiert Solovieff, daß es
ein erstaunlicher Fortschritt war, der in der kurzen Periode von Sokrates' natür-
licher Weisheit bis zu Christus führte. Wer würde dagegen wagen, einen ähnli-
chen geistigen Fortschritt in der viellängeren Periode seit Christus zu konstatie-
ren, und z. B. Spinoza und Kant oder Luther und Fox mit Christus zu verglei-
chen? Die Tatsache indes, daß die Geschichte keine noch vollkommeneren
Persönlichkeiten hervorgebracht hat, beweist, daß die Vollendung Christi nicht
als das natürliche Produkt der geschichtlichen Entwicklung verstanden werden
kann. Nur die Offenbarung eines Gottmenschen, nur eine absolute, aber keine
relative Vollendung kann es erklären, warum es seit Christus einen Fortschritt
auf allen Gebieten des Lebens gibt, nur nicht auf dem grundlegenden Gebiete
persönlicher geistlicher Macht (a.a.O., S. 213).
Voltaire 125
VI Vico
salgeschichte, in der jeder Teil von neuem mit den Prinzipien des
Ganzen beginnt. Es enthält daher Wiederholungen und Dunkelheiten,
aber von jener Art, die dem leidenschaftlichen Suchen eines genialen
Forschers zukommt.
Die Scienza Nuova erschien in erster Auflage 1725, in ihrer voll-
ständigen Fassung 1730 und in einer neu durchgesehenen 1744, also
vier Jahre vor Montesquieus L'Esprit des Lois, zehn Jahre vor Voltaires
Essai, hundert Jahre vor Schellings Philosophie der Mythologie und der
Offenbarung, und fast zwei Jahrhunderte, ehe sie wiederentdeckt und
als der erste Schritt zu einer Philosophie der Geschichte erkannt wurde.
Sie ist die Frucht eines lebenslangen Eindringens in die Tiefen der
geschichtlichen Menschheit. Sie nimmt nicht nur grundlegende Gedan-
ken Herders und Hegels, Diltheys und Spenglers vorweg, sondern auch
die besonderen Entdeckungen Niebuhrs und Mommsens im Bereich der
römischen Geschichte, die Theorie Wolfs über Homer, die Interpreta-
tion der Mythologie durch Bachofen, die Rekonstruktion des antiken
Lebens durch die Grimmsehe Etymologie und die historische Auffas-
sung des Rechts von Savigny, die Cite Antique von Fustel de Coulanges
und die Klassenkampflehre von Marx und SoreP.
Zu seinen Lebzeiten war Vico kaum bekannt. Er war seiner Zeit zu
weit voraus, um unmittelbaren Einfluß auszuüben. Das kluge Urteil
Wir beziehen uns gelegentlich auf die erste Ausgabe (La Scienza nuova
prima), zitiert als •SN I•, und gewöhnlich auf die letzte Ausgabe (La Scienza
nuova seconda), zitiert als •NS•. Beide sind von F. Nicolini herausgegeben
worden (Bari 1931, 3. Aufl. 1942). Die Seitenangaben beziehen sich auf die
(gekürzte) deutsche Übersetzung der Scienza nuova seconda von E. Auerbach,
München 1924 (zitiert » A •). Gelegentlich beziehen wir uns auf die vollständige
deutsche Übersetzung von W. E. Weber, Leipzig 1824 (zitiert »W<<). Die beste
Gesamtdarstellung von Vicos Gedanken gibt B. Croce, Die Philosophie Giam-
battista Vicos, nach der 2. Aufl. übersetzt von E. Auerbach und Th. Lücke,
Tübingen 1927. Zwei andere wertvolle Arbeiten stammen von R. Peters: Der
Aufbau der Weltgeschichte bei Vico, Berlin 1929, und Augustinus und Vico in
der Reihe Geistund Gesellschaft, Bd. III: Vom Denken über Geschichte, Breslau
1928. Englische Monographien über Vico schrieben R. Flint, Vico, London
1884, und H. P. Adams, The Life and Writings of Vico, London 1935. Über
weitere Literatur siehe Croces Buch, Anhang III. Ein erweiterter und verbesserter
Kommentar von F. Nicolini ist in Vorbereitung.
2 Marx, der die Scienzia Nuova kannte, erkannte in ihr die Keime zu Wolfs
Homer, zu Niebuhrs römischer Geschichte und zur Begründung der vergleichen-
den Philologie. Vgl. M. Lifshitz über Vico und Marx in Philosophy and Pheno-
menological Research, März 1948.
Vico 127
eines Zensors lautete: die Neue Wissenschaft sei ein Werk, »das eine
höchst unglückselige Krise in der europäischen Geschichte kennzeich-
ne<<3. Vico war sich als treuer Katholik des revolutionären Charakters
seiner Neuen Wissenschaft kaum bewußt, und seine Behauptung, daß
man weder Wissenschaft noch Weisheit ohne Frömmigkeit besitzen
könne, war sicherlich nicht, wie moderne Interpreten wahrhaben
möchten, eine Konzession an die Kirche, sondern ganz aufrichtig ge-
meint. Als er sein Werk in Neapel veröffentlichte, erwies es sich als das
Gegenteil eines bestsellers. In einem Brief an einen Freund schrieb er:
>>Mir ist wahrhaftig, als hätte ich in dieser Stadt mein Werk in die Wüste
gesandt; ich fliehe alle öffentlichen Plätze, um keinem zu begegnen, dem
ich es geschickt habe; wenn sich aber das Zusammentreffen nicht
umgehen läßt, so grüße ich ohne zu halten; niemand gibt mir bei dieser
Gelegenheit auch nur das geringste Zeichen, daß er es erhalten habe,
wodurch ich in der Meinung bestärkt werde, daß ich mein Buch in einer
Wüste herausgab.<< Und doch wußte er, daß er etwas Bleibendes und
Neues vollbracht hatte: die erste empirische Konstruktion der Men-
schengeschichte - der Religion, der Gesellschaft, der Herrschaftsfor-
men, der Rechtsinstitutionen und der Sprachen - aus dem philosophi-
schen Prinzip eines ewigen Gesetzes providentieller Entwicklung, die
weder fortschrittlich-historisch noch zyklisch-kosmologisch gefaßt ist.
Gegen Ende seines Buches 4 sagt Vico, er habe sich nicht enthalten
können, dem Werk den »neiderregenden<< Titel einerNeuen Wissen-
schaft zu geben, »denn das wäre ein allzu ungerechtes Verhehlen seines
Anspruchs und Rechtes gewesen, die einem so universalen Thema
zukommen, wie es »die gemeinschaftliche Natur der Völker ist« -so
nämlich lautet der Untertitel seiner »Prinzipien einer neuen Wissen-
schaft«. Welches sind die Prinzipien und worin besteht die neue Metho-
de seiner Wissenschaft?
Bei der Erörterung ihrer »Hauptgesichtspunkte<< 5 gibt Vico die
folgenden Definitionen: Die Neue Wissenschaft ist 1. »eine rationale
7 Für eine eingehende Untersuchung von Vicos Theorie des Wissens vgl.
Croces Werk, Kap. I und II und Anhang I und F. Amerio, Introduzione allo
Studio di Vico, Torino 1947.
8 SN I,§ 40.
Vico 131
der, der die Dinge schafft, sie auch erzählt. So verfährt diese Wissen-
schaft gerade so wie die Geometrie, die die Welt der Größen, wäh-
rend sie sie ihren Grundsätzen entsprechend aufbaut und betrachtet,
selbst schafft; doch mit um so mehr Realität, als die Gesetze der
menschlichen Angelegenheiten mehr Realität haben als Punkte, Li-
nien, Flächen und Figuren. Und dies wieder ist ein Grund, daß
solche Beweise von göttlicher Art sind und dir, o Leser, ein göttliches
Vergnügen gewähren müssen; denn in Gott ist Erkennen und Tun
dasselbe Ding.<< 12
Durch die im Verstehen von Geschichte vollzogene Vertauschung
des Wahren und des Geschaffenen befreite sich Vico vom Ausgangs-
punkt des Descartes und gelangte zu der philosophischen Wahrheitall
jener >>philologischen« Gewißheiten, die in der menschlichen Welt der
Sprachen, Bräuche, Gesetze und Institutionen auftreten. Im Grunde
wiederholt Vico weder das Cartesische Ideal der geometrischen Gewiß-
heit auf der Ebene des historischen Wissens, noch verzichtet er auf die
wissenschaftliche Wahrheit zugunsten des bloß Wahrscheinlichen. Sein
eigentliches Bemühen gilt vielmehr der Überwindung der ganzen Carte-
sischen Unterscheidung von theoretischer Wahrheit und sinnlich-prak-
tischer Wahrscheinlichkeit durch eine Dialektik des Wahren und Ge-
wissen, die Hegels »Wahrheit der sinnlichen Gewißheit« vorweg-
nimmt. Er erhebt die ,, Philologie<<, d. h. die äußerliche historische Infor-
mation, die von Descartes mit so großer Verachtung behandelt wurde,
zum Rang einer philosophischen Wissenschaft 13 • Er führt den Primat
der >>Philosophie des Geistes<<, wie wir sie seit Hegel nennen, durch die
Kritik des Primats der modernen Naturwissenschaft ein.
Die physische Natur ist nur eine Hälfte der Wirklichkeit, und zwar
die weniger bedeutsame. Daher die merkwürdige Stellung des Globus
auf der allegorischen Darstellung, mit deren Erklärung Vico in den
Grundgedanken seines Werkes einführt. Das Bild zeigt in der oberen
linken Ecke das Auge Gottes (die Vorsehung), auf der rechten Seite eine
Frau (die Metaphysik), die Gott betrachtet, während sie auf dem Him-
melsglobus (der physischen Welt) steht, der von einem Altar (Symbol
der ältesten Himmelsopfer) nur auf einer Seite gestützt wird. An der
linken Seite befindet sich eine Statue Homers (des theologischen Poe-
ten) als Sinnbild der ältesten Weisheit der Heiden. Ein Strahl der göttli-
chen Vorsehung verbindet das Auge Gottes mit dem Herzen der Meta-
physik und ein zweiter führt von da zu Homer. Der göttliche Strahl der
Vorsehung ist also durch die Metaphysik mit Homer verbunden, d.h.
mit der geschichtlichen Welt der Heiden, geht aber an der Welt der
Natur vorbei. In Vicos Erläuterung wird darauf hingewiesen, daß die
Metaphysik Gott betrachte >>Über die Ordnung der natürlichen Dinge
hinweg<<, in deren Medium die Philosophen Gott bisher gesehen haben.
Die wahre Philosophie schaut in Gott die Welt des menschlichen Gei-
stes, um seine Vorsehung in der Welt des Menschen, die eine zivile Welt
der Völker ist, zu erweisen. Der Globus wird nur auf einer Seite von dem
Altar getragen, >>denn bis jetzt haben die Philosophen, indem sie die
Vorsehung nur in bezugauf die Ordnung der Natur betrachteten, nur
den einen Teil von ihr gezeigt [... ] Sie haben versäumt, die göttliche
Vorsehung von der Seite zu betrachten, die dem Menschen eigentüm-
lich ist, dessen geschichtliches Wesen darin besteht, daß er von Natur
aus gesellig ist 14 •
Der hervorragende Platz, den die Vorsehung auf dem allegorischen
Bilde wie in dem ganzen Werke Vicos einnimmt, zeigt, daß das Prinzip
verum = factummißverstanden wäre, wollte man es so auslegen, als ob
Vico hätte sagen wollen, daß die geschichtliche Welt des Menschen
lediglich das Produkt seiner spontanen Schöpferkraft sei 15 • In der ersten
wie in der zweiten Ausgabe der Neuen Wissenschaft beeilt sich Vico,
sobald er sein Prinzip aufgestellt hat, hinzuzufügen, daß die Wiederent-
deckung der geschichtlichen Ursprünge durch unseren Geist und seine
Fähigkeit, mit der eigenen Vergangenheit zu verkehren, eine Philoso-
phie des menschlichen Geistes begründet, >>Um uns zu Gott als der
ewigen Vorsehung zu führen«.
Der letzte Abschnitt des ersten Buches der Neuen Wissenschaft
handelt dann ausdrücklich von der Vorsehung als der Vollendung aller
Prinzipien der Neuen Wissenschaft. Bezeichnenderweise wird die Vor-
sehung als die >>Methode« der Neuen Wissenschaft eingeführt, als der
gesetzmäßige Weg, auf dem die Geschichte ihre Richtung und Ordnung
gewinnt. Nach Vico gibt es keine geschichtliche Welt, die auf Atheismus
aufgebaut ist 16 . Alle Zivilisationen, Gesetze und Einrichtungen, insbe-
14 NS,A44.
15 Siehe Croce, a.a.O., S. 97ff.
16 SN I,§ 8; NS, A 426.
134 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
17 NS, § 12. Sakrale Eheschließung und Bestattung sind nach Vico die am
meisten humanisierenden Einrichtungen. Nach Vicos Etymologie ist humanitas
von humando (begraben) abzuleiten.
18 NS, A 103.
19 Ebda. A 88 f. und A 426.
20 Ebda. A 131, A 157, A 160.
21 Ebda. A 132, A 158.
Vico 135
schaften der Menschen, deren jede ihre eigene Befriedigung sucht, aus
Wildheit, Habgier und Ehrgeiz, schafft die Vorsehung als göttliche
Gesetzgebung die Tugenden des Soldaten, des Kaufmanns und der
Regierenden und das Naturrecht der Völker. Die Vorsehung verwan-
delt die natürlichen Laster der Menschen, die die ganze Menschheit von
der Erdoberfläche hinwegfegen würden, in ein ziviles Glück, »denn
vermöge ihrer bloß natürlichen Ordnung kommen die Dinge nicht zur
Ruhe und dauern nicht<< 22 • Das sogenannte »Natur«-Recht ist von
Anfang an ein ziviles, in der civitas begründetes Recht, das auf einer
zivilen Theologie beruht.
Trotz ihres übernatürlichen Ursprungs wirktjedoch die Vorsehung,
wie sie Vico versteht, auf so >>natürliche« und >>einfache« Weise 23 , daß
sie fast mit den zivilen Gesetzen der geschichtlichen Entwicklung iden-
tisch ist. Sie wirkt ausschließlich durch mittelbare Ursachen in der
»Ökonomie der zivilen Dinge«, wie sie, weniger durchsichtig, auch in
der physischen Welt tätig ist. Sie entfaltet ihre Ordnungen auf dem
leichten Wege über die natürlichen Gewohnheiten der Menschen 24 •
>>Die Neue Wissenschaft ist deshalb gewissermaßen ein Aufweis und
Nachweis der Vorsehung als einer historischen Tatsache [... ]. Sie er-
zählt die Geschichte der Ordnungen, die jene Vorsehung, ohne vom
Menschen bemerkt und beraten zu sein, und oft entgegen dem Vorha-
ben der Menschen, der großen Gemeinde des Menschengeschlechts
mitgegeben hat« 25 • Wenn diese Ordnungen einmal durch die göttliche
Vorsehung eingesetzt sind, »mußte, muß und wird der Lauf der Angele-
genheiten der Völker so sein müssen<<, wie ihn die Neue Wissenschaft
vernünftig erschließt 2 6.
Angesichts dieser Feststellung sind die Kritiker von Vicos Begriff der
Vorsehung in der Tat berechtigt zu sagen, daß bei Vico die Vorsehung
so natürlich, weltlich und geschichtlich geworden sei, als wenn sie
überhaupt nicht existierte 27 • In Vicos >>Demonstration« der Vorsehung
bleibt nichts übrig von dem überweltlichen und wunderbaren Walten,
das den Glauben an die Vorsehung von Augustin bis Bossuet kennzeich-
22 Ebda. A 132ff.
23 Ebda. A 265.
24 Ebda. A 135.
25 Ebda. A 134.
26 Ebda. A 138.
27 Siehe Peters, a.a.O., Kap. VII.
136 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
net. Sie wird bei Vico auf ein Ordnungsschema reduziert, dessen we-
sentlicher Inhalt nichts anderes ist als die universale und beständige
Ordnung des Geschichtsverlaufs selber. Vicos Gott ist so allmächtig,
daß er sich besonderer Eingriffe enthalten kann. Im natürlichen Verlauf
der Geschichte wirkt er ausschließlich durch deren natürliche Mittel:
Umstände und Gelegenheiten, primitive Notwendigkeiten und Nütz-
lichkeiten. Wer diese natürliche Sprache der geschichtlichen Vorsehung
in der sozialen Geschichte des Menschen lesen kann, für den ist die
Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite das offene Buch eines
bewunderungswürdigen Planes.
Errichtet auf dem Prinzip der zivilen Theologie, ist die Neue Wissen-
schaft daher imstande, die >>ideale ewige Geschichte« zu beschreiben,
die die Geschichte jedes Volkes zeitlich durchläuft. Indem der Mensch
dieses typische Geschichtsmodell in der ganzen Weite seiner Räume,
Zeiten und Mannigfaltigkeiten betrachtet, empfindet er >>göttliches
Vergnügen<< und Befriedigung, nämlich die Befriedigung über die von
Gott gewollte und vorgesehene Notwendigkeit. Denn ohne solche gött-
liche Lenkung ist der selbstsüchtige Wille des Menschen allein zu
schwach und zu verderbt, um die Anarchie in Ordnung und das Laster
in Segen zu verwandeln.
Vicos Hervorhebung der Vorsehung ist verbunden mit einer Pole-
mik gegen den Schicksals- und Zufallsglauben der Stoiker und Epiku-
räer28, sowohl der alten (Zeno und Epikur) wie der modernen (Spinoza,
Hobbes und Machiavelli). Stoiker wie Epikuräer leugnen die Vorse-
hung, weil sie als >>klösterliche«, einsame Denker sich der providentiel-
len Ökonomie der zivilen Dinge nicht bewußt waren. Der Unterschied
zwischen dem Glauben an die Vorsehung und dem an Schicksal oder
Zufall besteht darin, daß die göttliche Vorsehung sich für die Errei-
chung ihres universalen Zieles des freien, wenn auch verderbten
menschlichen Willens bedient. Die Lehre vom blinden Schicksal über-
sieht die Dialektik von providentieller Notwendigkeit und Willensfrei-
heit, wohingegen die epikuräische Zufallslehre die Freiheit zu bloßer
Launenhaftigkeit herabsetzt. Die Prinzipien der Vorsehung und der
Freiheit sind jedoch beide gleich wahr und bedeutsam 29 . Doch ist es
auffällig, daß sie in Vicos Darstellung nicht das gleiche Gewicht haben.
Die bloße Tatsache, daß er die Vorsehung für nachweisbar hält, setzt
voraus, daß sie mit unbedingter Notwendigkeit lenkt, was ein Produkt
der Willkür und des Zufalls zu seinscheint 30 •
30 Vgl. Vico, De antiquissima Italarum sapientia (Opere, Bd. I., Bari 1914),
Kap. VIII, in dem es scheint, als seien Glück, Zufall und Fatum allesamt auf die
Vorsehung zurückzuführen.
31 Croce, a.a.O., S. 28 f. und 97 ff.
138 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Gottes der alten Lehre vom Zufall und Schicksal doch insofern überle-
gen ist, als sie überhaupt in der freien, schöpferischen Tätigkeit die
letzte Quelle des Geschichtsverlaufs sieht, ist es nach Croce nur natür-
lich, daß >>man [... ] aus Dankbarkeit gegen diese tiefere Ansicht [... ]
dazu kam, der Rationalität der Geschichte den Namen Gottes und der
göttlichen Vorsehung zu geben« 32 • >>So aufgefaßt, hat die Vorsehung
den zweifachen Wert einer Kritik der individualistischen Illusionen (als
ob die individuellen Interessen die ganze Realität der Geschichte wären)
und einer Kritik der Transzendenz des Göttlichen.<< Jeder mit histori-
schem Sinn Begabte muß, nach Croce, diesen Standpunkt einnehmen
und die Frage, was Geschichte ist, aus ihr selbst beantworten, ohne zu
Schicksal und Zufall, oder zu Gott und Vorsehung seine Zuflucht zu
nehmen.
Es ist jedoch klar, daß dies nicht der Standpunkt Vicos war. Er
begriff den Lauf der Geschichte sehr viel sachgemäßer, nämlich als eine
vom Menschen geschaffene Welt, die aber zugleich überspielt wird
durch etwas, das der Notwendigkeit des Schicksals näher ist als der
freien Wahl. Die Geschichte ist nicht nur freie Tat, Entscheidung und
Handlung, sondern auch und vor allem Ereignis und Geschehen. Sie ist
darum nicht eindeutig, sondern zweideutig.
Vicos Darstellung dieser Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit
im Geschehen ist höchst eindrucksvoll und stimmt viel besser zu der
allgemeinen Erfahrung und dem unvoreingenommenen Sinn für ge-
schichtliche Ereignisse als Croces philosophischer Liberalismus. Vico
macht den entscheidenden Punkt gleich zu Anfang klar, bei der Erläute-
rung des allegorischen Bildes. Die Metaphysik betrachtet die geschicht-
liche Welt des menschlichen Geistes >>in Gott<<, d. h. im Lichte der
Vorsehung, und ein Altar für Anbetung und Opfer steht im Mittelpunkt
des Bildes, weil Gott uns durch unsere gesellige Natur eine menschliche
Existenz gegeben und uns durch sie erhalten hat. Gottes Vorsorge und
Vorsehung hat die menschlichen Dinge so angeordnet, >>daß die Men-
schen, nach ihrem Abfall von der reinen Gerechtigkeit durch die Erb-
sünde, fast immer etwas ganz anderes und oft geradezu Gegenteiliges
beabsichtigen als ihnen frommt - so daß sie zur Befriedigung ihrer
egoistischen Bedürfnisse einsam leben würden wie wilde Tiere -, aber
auf ihren verkehrten widerspenstigen Wegen durch eben diese natürli-
chen Bedürfnisse selbst dahin gebracht werden, mit Gerechtigkeit zu
32 Ebda. S. 98.
Vico 139
Menschen glaubten sich vor dem Zorn des blitzenden Himmels dadurch zu
retten, daß sie ihre Frauen in Höhlen brachten, um ihre tierische Wollust dort,
vor Gottes Blick geschützt, zu befriedigen; und damit, daß sie sie dort einge-
schlossen hielten, gründeten sie die ersten keuschen Beilager und die ersten
Gesellschaftswesen, nämlich die Ehen und die Familien. Sie verschanzten sich in
geeigneten Orten, in der Absicht, sich selbst und ihre Familien zu verteidigen;
und in Wirklichkeit machten sie dadurch, daß sie sich an bestimmten Orten
verschanzten, ihrem Nomadenleben, ihrem tierischen Umherschweifen ein Ende
und erlernten den Ackerbau. Die schwachen und zügellosen, durch Hunger und
gegenseitige Mordtaten zur äußersten Verzweiflung getriebenen Menschen
suchten, um ihr Leben zu fristen, in jenen befestigten Landstrichen Schutz,
indem sie sich zu famulider Heroen machten; und so erweiterten sie, ohne es zu
wissen, die Familien aus solchen, die nur aus Söhnen bestanden, zu Familien, in
denen es auch famuli gab, und aus diesen zu aristokratischen und feudalen
Gemeinwesen. Die Aristokraten, Feudalherren oder Patrizier glaubten ihr quiri-
tarisches Eigentum an Grund und Boden damit zu verteidigen und zu erhalten,
daß sie äußerste Strenge gegenüber denfamulioder den Plebejern walten ließen,
die ihn bebauten; doch auf diese Weise veranlaßten sie die famuli, sich zu ihrer
Verteidigung zusammenzuschließen, weckten das Bewußtsein der eigenen Kraft
in ihnen und machten aus den Plebejern Menschen; und je hochmütiger die
Patrizier ihr Patrizierturn als solches herauskehrten und zu erhalten suchten,
desto wirksamer arbeiteten sie an der Zerstörung des patrizischen und an der
Bildung des demokratischen Zustandes.«
37 NS,A263.
Vico 141
41 Ebda.A91(W217);A154ff.;A163.
42 Ebda. A 160 und NS, § 948; Kursivierung vom Verf.
43 Ebda. A 399 ff.; A 404 ff.
Vico 143
3. Das Zeitalter der Menschen, in dem alle von der Gleichheit ihrer
menschlichen Natur überzeugt sind und in freien Republiken und Mo-
narchien leben 4 9.
Das göttliche Zeitalter ist streng theokratisch, das heroische ein
Zeitalter der Mythologie, das menschliche Zeitalter ist rational. Die
ersten beiden Epochen sind »poetisch<< im eigentlichen Sinne des Wor-
tes, d.h. schöpferisch durch Einbildungskraft. Im Einklang mit diesen
drei Arten menschlicher Natur und Herrschaft, unterscheidet Vico drei
Arten von Sprachen und Schriftzeichen (heilige, symbolische und profa-
ne) sowie drei Arten des Naturrechts, der politischen Gemeinschaft und
der Rechtsprechung. Alle sind in ihrer Aufeinanderfolge geeinigt und
geformt durch die göttliche Vorsehung. Dieser regelmäßige und typi-
sche Lauf der Menschheit ist insofern fortschrittlich, als er von der
Anarchie zur Ordnung und von wilden und heroischen Bräuchen zu
rationalisierteren und zivilisierteren führt. Er ist jedoch kein Fortschritt
zu immer zivilisierteren Zuständen. Sein wirklichestelosist Verfall und
Untergang, wonach der ganze Lauf (corso) in einem Rücklauf (ricorso)
zu einem neuen Barbarentum, der zugleich ein Wiederaufstieg ist, von
vorne beginnt. Solch ein Rücklauf hat sich schon einmal, nämlich nach
dem Untergang Roms, in der schöpferischen Wiederkehr barbarischer
Zeiten im Mittelalter ereignet. Ob sich ein ähnlicher ricorso am Ende
des gegenwärtigen corso, der ja schon ein ricorso ist, einstellen wird, ist
bei Vico selbst eine unbeantwortete Frage. Sie muß jedoch bejaht
werden in Übereinstimmung mit seinem Grundsatz, daß alles, was in
der Vergangenheit geschehen ist, auf ähnliche Weise auch in Zukunft
geschehen werde, entsprechend dem ewigen Schema geschichtlicher
Entwicklung 50 • Croce hat daher recht, wenn er sagt, daß Vico den
Begriff des Fortschritts nicht haben konnte, obgleich er im Unrecht ist,
wenn er diesen Mangel aus den Grenzen erklärt, die die göttliche
Vorsehung Vicos Denken gesetzt habe. Der Grund, weshalb es Vico
unterläßt, seine vorsehende Gottheit zu einer fortschreitenden zu erhe-
ben 5 \ liegt vielmehr an seiner Auffassung von der Immanenz der göttli-
chen Vorsehung im Kreislauf des natürlichen Geschehens. Ein natürli-
cher Geschichtsverlauf des Hervor- und Rückgangs läßt sich nicht auf
ein telos hin im Sinne einer >>fortschreitenden Bereicherung<< 5 2 trans-
49 Ebda. A 64 f.
50 Ebda. A 164.
51 A.a.O., S. 113 und 121f.
52 Ähnlich dem Kompromiß von Croce zwischen Wiederkehr und Fortschritt
146 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
zendieren. Dies wird indirekt durch die Tatsache bewiesen, daß Vico
aufhört, mit sich selbst übereinzustimmen, wo er gegen Ende seines
Werkes die Möglichkeit eines letzten Zieles und Endes des Geschichts-
verlaufs in Erwägung zieht. In einem Überblick über die Gegenwartsla-
ge Europas, Rußlands und Asiens erkühnt er sich zu sagen, daß sich
jetzt eine »vollendete« Humanität bei allen Völkern zu verbreiten
scheint, weil einige wenige christliche Monarchien über diese ganze
Völkerwelt herrschen, wenn auch noch einige barbarische Völker über-
leben 53. Souveräne Mächte haben Bündnisse miteinander geschlossen,
die mit der antiken Regierungsform unter souveränen Stammeskönigen
zu vergleichen sind.
Mit diesem Versuch eines Ausblicks auf einen christlichen mondo
civile als der Erfüllung der gesamten Geschichte ist das eigentliche
Thema seines Werkes nicht vereinbar, denn er stellt mit Nachdruck fest,
daß die Geschichte keine Erfüllung und keine Lösung kennt, sondern in
ihrem Fortgang von Rückläufigkeit beherrscht wird. Der normale Ver-
lauf ist so natürlich wie geschichtlich. »Zuerst empfinden die Menschen
das Notwendige, dann achten sie auf das Nützliche, darauf bemerken
sie das Bequeme, weiterhin erfreuen sie sich am Gefälligen, später
verdirbt sie der Luxus, schließlich werden sie toll und verbrauchen ihre
SubstanZ.<< 54 Manchmal findet die Vorsehung noch ein Heilmittel in
den inneren Kräften des Volkes, in Gestalt eines Herrschers wie Augu-
stus, oder von außen her, indem sie das Volk erobert und einem anderen
untertänig werden läßt, wenn es sich nicht mehr selbst regieren kann.
>>Doch wenn die Völker in jenem äußersten politischen Unglück verfau-
len, daß sie sich weder einem einheimischen Monarchen fügen, noch
tüchtigere Völker kommen, sie zu erobern und zu erhalten, dann greift
die Vorsehung bei diesem schlimmsten Übel zu ihrem letzten Heilmit-
tel.«55 Dieses letzte ist der ricorso in die Einfalt und religiöse Scheu des
primitiven Barbarentums.
Der ricorso ist nicht eine rein naturhafte kosmische Wiederkehr,
sondern eine natürliche Struktur der Geschichte mit der juridischen
ist die marxistische Lösung von M. Lifshitz (a.a.O., S. 414), der überzeugt ist,
daß im Prozeß der kommunistischen Revolution die Wiederkehr menschlicher
Dinge einfach •der natürliche Pulsschlag des sozialen Organismus« sein wird.
53 NS,A416ff.
54 Ebda. A 101; vgl. auch A 102.
55 Ebda. A 422.
Vico 147
keit sind, sowie die Gnade und Schönheit der ewigen Ordnung
Gottes.<< 57
Wenn Vico dieses radikale Heilmittel für eine radikale Krankheit
beschreibt, steht ihm das Ende des römischen Kulturkreises vor Augen.
Aber er gab seinem Gedanken einen so allgemein gefaßten Ausdruck,
daß er sich sowohl auf das Ja~r 500 wie auch auf das Jahr 2000
beziehen könnte. Dieser Abschluß der Geschichtslehre enthält die letzte
und endgültige Weisheit Vicos wie auch der Vorsehung selber. Was er
in den eintausendeinhundertundzwölf Paragraphen der Neuen Wissen-
schaft überschaut, das ist die halb schöpferische Welt des gefallenen
Menschen. Sie hat zum Gottesstaat der Geschichtstheologie keine sub-
stantielle Beziehung, es sei denn dadurch, daß sie das ebenso natürliche
wie geschichtliche Gesetz der Völker >>Vorsehung« nennt. Vicos An-
schauung ist daher eher antik als christlich. Wie die Alten interessiert er
sich vorzüglich für Ursprünge und uralte Gründungen, nicht aber in
Hoffnung und Glauben für eine künftige Erfüllung. Die Geschichte
wiederholt sich, wenn auch mit Variationen und auf verschiedenen
Ebenen, und der Kreislauf von corso, Verfall und ricorso ist für ihn
nicht »hoffnungslos«, wie für Augustin, sondern die natürliche und
vernünftige Form geschichtlicher Entwicklung. Mit Polybios' Lehre
vom Kreislauf verglichen, ist Vicos ricorso dennoch halbchristlich. Der
zyklische Rücklauf sorgt nämlich für die »Erziehung«, sogar für das
»Heil« der Menschheit, durch die Wiedergeburt ihrer geselligen Natur.
Er »rettet« den Menschen, indem er ihn überhaupt erhält 58 • Dies allein,
nicht aber die Erlösung von der heillosen Geschichte der civitas terrena
ist das ursprüngliche Ziel und der providentielle Sinn der Geschichte.
Die Wiederkehr der Barbarei rettet die Menschheit vor zivilisierter
Selbstzerstörung.
Vico ersetzt weder, wie Voltaire, die Vorsehung durch einen vom
Menschen vorgesehenen Fortschritt, noch führt er, wie Bossuet, die
Orthodoxie in die Geschichte ein. Seine Leitidee ist weder der histori-
sche Fortschritt zu einer letzten Erfüllung noch der kosmische Kreislauf
eines bloß natürlichen Entstehens und Vergehens, sondern der natür-
lich-geschichtliche Fortgang von corso zu risorso, worin dem Kreislauf
selbst providentielle Bedeutung zukommt, weil er ein letztes Heilmittel
gegen die verderbte Natur des Menschen ist. Die Rückkehr zu einem
57 NS,A422.
58 SN I,§§ 41 und 8.
Vico 149
neuen Barbarenturn erlöst zwar nicht die irdische Geschichte von sich
selbst, aber sie heilt den Menschen von der überzivilisierten Barbarei
der Reflexion.
Vicos Perspektive ist noch theologisch, aber die Mittel der rettenden
Vorsehung sind geschichtlich-natürliche. Die Geschichte hat einen prä-
historischen Anfang, aber kein Ende und keine Erfüllung, und ist doch
von der Vorsehung gelenkt, um der Menschheit willen.
So ist sein ganzes Werk weder eine Theologie der Geschichte im
Sinne von Augustin noch eine Geschichtsphilosophie in dem polemi-
schen Sinn von Voltaire, dem die Trennung von sakraler und profaner
Geschichte zur Herabsetzung der ersteren dient. Sie ist eine »vernünftig
erschlossene zivile Theologie<<, halben Wegs zwischen Bossuet und
Voltaire, indem sie die göttliche Vorsehung anerkennt, aber mit der
Geschichte ineins setzt. Sie liegt auf der Grenze zwischen der kritischen
Umwandlung der Geschichtstheologie in Geschichtsphilosophie und ist
daher zutiefst doppeldeutig. Diese Doppeldeutigkeit seines Werkes
zeigte sich sofort daran, wie verschieden es aufgenommen wurde. Eine
Besprechung im Journal der Leipziger Akademie vertrat die Ansicht,
daß der Verfasser ein Jesuit und sein Werk der reaktionäre Versuch
einer Apologetik im Dienste der römisch-katholischen Kirche sei. Die
konservativen italienischen Katholiken 5 9 griffen die Neue Wissenschaft
an, weil sie sahen, daß eine Vorsehung, die der Geschichte als deren
natürliches Gesetz immanent ist, die biblische Auffassung von Gottes
transzendentem Walten untergräbt und daß Vicos scharfe Unterschei-
dung von Heilsgeschehen und Weltgeschichte zu einem rein menschli-
chen Verständnis von Ursprung und Verlauf der Zivilisation, mit Ein-
schluß der Religion, führen könne. Die italienischen antiklerikalen
Sozialisten gaben die Neue Wissenschaft neu heraus und propagierten
sie am Ende des 18. Jahrhunderts als eine Waffe in der bevorstehenden
Revolution. Vico selbst war sich wohl kaum bewußt, daß seine Lehre
implicite eine Kritik der biblischen Geschiehtsauffassung enthielt, die
nicht weniger radikal war als die >>neue Kunst der Kritik«, die er bei
seiner Interpretation von Homer angewendet hatte 60 •
VII Bossuet
Bossuets Geschiehtsauffassung steht und fällt mit der These, daß der
ganze Gang der menschlichen Geschichte von der Vorsehung gelenkt
wird, eine These, die schon zu seiner Zeit von den Freidenkern geleug-
net wurde. >>Die Freidenker erklären der göttlichen Vorsehung den
Krieg, und sie finden kein besseres Argument gegen sie als die Vertei-
lung des Guten und des Schlechten, die ungerecht und unregelmäßig zu
sein scheint, da sie keinen Unterschied macht zwischen den Guten und
den Bösen. Hier verschanzen sich die Gottlosen wie in einer uneinnehm-
baren Festung; von hier aus schießen sie dreist ihre Pfeile auf die
Weisheit, die die Welt regiert, und sie sind fälschlich überzeugt, die
scheinbare Unordnung der menschlichen Angelegenheit sei ein Beweis
gegen eben diese Weisheit.« 1 Bossuet war überzeugt, daß die Lehre von
der Vorsehung das mächtigste Hemmnis der Unmoral sei. »Sie wollten
das Joch der Vorsehung abschütteln, um in Unabhängigkeit eine unbe-
lehrbare Freiheit zu behaupten, die sie ein Leben nach eigenem Gutdün-
ken, ohne Furcht, Zucht und Schranken, führen läßt.« 2 Wie Hegel
leugnet auch Bossuet nicht, daß man beim ersten Blick auf die Geschich-
te in ihr weder Vernunft noch Gerechtigkeit erkennt, denn die Ge-
schichte der Welt unterscheidet nicht zwischen frommen und gottlosen
Menschen. Sie ist ein Feld der Leidenschaften und Interessen, wo das
Böse Erfolg hat und die Gerechtigkeit scheitert. Aber indem Bossuet die
Argumente der Freidenker widerlegt, stellt er weiter fest, daß dieser
unmittelbare Eindruck scheinbarer Unordnung von einem Blickpunkt
aus entsteht, der seinem Gegenstand zu nahe ist. Wenn wir Abstand
nehmen und aus größerer Entfernung auf die Geschichte sehen, von
einem ewigen Gesichtspunkt aus, d.h. mit »den Augen des Glaubens«,
oder, wie Hege! sagt, mit »den Augen der Vernunft«, so ändert sich das
ganze Bild, und in der scheinbaren Sinnlosigkeit offenbart sich eine
verborgene Gerechtigkeit. »Wenn ihr den Punkt zu finden wißt, von wo
aus die Dinge betrachtet werden müssen, so werden alle Ungerechtig-
keiten berichtigt sein, und ihr werdet nur Weisheit sehen, wo ihr zuvor
nur Unordnung saht,<< 3
Die einzig vernünftige Schlußfolgerung aus der Tatsache, daß zur
Zeit eine gerechte Ordnung in der Geschichte noch nicht besteht, ist,
daß der Mensch noch etwas von der Zukunft, oder richtiger, von der
Ewigkeit, zu erwarten hat. Das Jüngste Gericht vor Augen, müssen wir
in ständiger Ungewißheit, in Furcht und Hoffnung leben, bis alles durch
eine letzte und unwiderrufliche Entscheidung entwirrt ist. Gott hat
unendlich viel Zeit, seine Absicht zu erreichen, und so sollten wir, was
die Wirrnis aller irdischen Dinge betrifft, nicht ungeduldig werden. Der
Glaube an die Vorsehung gibt uns im Hinblick auf alle irdischen Ange-
legenheiten zwei zueinander gehörige Gemütsverfassungen: keinerlei
irdische Größe zu bewundern und keinerlei irdisches Elend zu befürch-
ten. Christus, der Herr der Geschichte, der allein die letzten Belohnun-
gen und Strafen verteilen wird, läßt sogar zu, daß ein ganzes christliches
Reich Ungläubigen, wie den Moslems, zeitweilig anheimfällt, wie er
auch die Versklavung der Kinder Abrahams zuließ. Während alle be-
sonderen Pläne der politischen Weltmächte unvermeidbar auf Wider-
stand stoßen und durch die Pläne anderer Mächte umgeworfen werden,
kann der allumfassende Plan Gottes auf keinen Fall gestört werden.
Unwillkürlich und unbewußt wirken alle weltlichen Begebenheiten
letzten Endes zusammen zur Erfüllung seines ewigen Zweckes. Und so
wird, wer an die Vorsehung glaubt, niemals verzweifeln. Was immer in
der wirklichen Geschichte sich ereignen möge, es wird ihn erschrecken
wie auch trösten, denn es ist das verborgene Geheimnis der Geschichte,
daß sie ebenso viele coups de grflce wie coups de rigueur et de justice
offenbart. Auf dem Gipfel des geschichtlichen Glücks wird der Christ
eingedenk sein, daß die Dinge sich plötzlich und vollständig ändern
können und daß er in der äußersten Not in Gottes Hand ist.
Unter dieser Voraussetzung, daß eine Vorsehung waltet, verfaßte
Bossuet seine Universalgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zur
Errichtung des neuen abendländischen Christenreiches durch Kar! den
Großen, wobei er die Überzeugung vertrat, daß die französische Mo-
narchie die Erbin des römischen und des Heiligen Römischen Reiches
sei. Dieses Werk diente der Belehrung seines königlichen Schülers, des
Sohnes Ludwigs XIV. Mit Augustins Gottesstaat verglichen, zeigt Bos-
suets Discours sur l'histoire universelle mehr historisches Verständnis
3 Ebda.
152 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
für die Größe der politischen Geschichte und stärkeres Interesse für die
pragmatische Verkettung von Ursache und Wirkung 4 • Andererseits ist
Bossuet mehr Kirchenpolitiker als Augustin. Sein Werk ist nicht ein
Gottesstaat, sondern eine Geschichte der triumphierenden Kirche nach
dem Vorbild des Eusebius, welcher der Ratgeber Konstantins war.
Der erste Teil des Discours zeichnet den allgemeinen Umriß der
Aufeinanderfolge von zwölf Epochen und sieben Zeitaltern der Welt,
ohne zwischen heiligen und weltlichen Geschehnissen zu unterschei-
den. Das Kapitel über die sechste Epoche leitet er z. B. folgendermaßen
ein: >>Um das dreitausendste Jahr der Welt, 488 Jahre nach dem Auszug
aus Ägypten, und - um die Zeiten der sakralen Geschichte denen der
profanen anzupassen -180 Jahre nach der Eroberung Trojas, 250 vor
der Gründung Roms und 1000 Jahre vor Jesus Christus, vollendete
Salomon dieses wunderbare Bauwerk.« Die Zeitalter sind durch Jesus
Christus getrennt, dessen Gt;burtstag von der Vorsehung festgelegt und
von Daniel genau prophezeit worden war5 • Die drei bedeutendsten
Daten sind 4004 (oder 4963, denn Bossuet war nicht sicher, welches
von diesen beiden Daten das richtige sei): das Datum der Schöpfung;
754: die Gründung Roms; und das Jahr 1. Es versteht sich von selbst,
daß das siebente Zeitalter, das mit der Geburt Jesu Christi beginnt, auch
das letzte ist, denn Reiche mögen entstehen und vergehen, aber die
Kirche Christi ist ewig. Die christliche Religion ist nicht nur auf die
älteste und daher maßgeblichste Urkunde begründet, sondern sie hat
auch eine ununterbrochene Tradition.
Der zweite Teil erläutert die Geschichte der Religion, die sich im
Schicksal der Juden konzentriert. Der dritte Teil handelt von der Ge-
schichte der weltlichen Reiche. Die Civitas Dei reicht von Abraham bis
zur siegreichen Kirche, die Civitas Terrena vom ägyptischen bis zum
römischen Reich. Diese Unterscheidung von heiliger und weltlicher
Geschichte ist notwendig zum Verständnis dessen, was beiden eigen-
tümlich ist, aber sie schließt ihre Wechselbeziehung nicht aus. >>Diese
beiden großen Themen schreiten zusammen voran in der großen Bewe-
gung der Jahrhunderte, wo sie gleichsam denselben Kurs nehmen.<< 6
Letzten Endes muß nicht nur die sakrale Geschichte, sondern auch
4 Vgl. Discours, Teil III, Kap. V, über Alexander den Großen; und III, VI, über
römische Tugend.
5 Ebda. I, X; II, XXIII; vgl. auch Eusebius, Dem. evang. VIII, 2.
6 Discours I, XII; S. 122.
Bossuet 153
Iieheren Licht<< betrachten, so läßt sich aus diesem Schauspiel die >>schö-
ne Lektion<< von der Eitelkeit menschlicher Größe lernen. Reiche ster-
ben genau so wie ihre Herrscher. Denn was sollte der schreckliche
Trümmerhaufen aller menschlichen Mühen uns lehren, wenn nicht die
grundsätzliche Unbeständigkeit und Unruhe aller menschlichen Dinge,
die ihnen eingeborene Vergänglichkeit und unabänderliche Gebrech-
lichkeit.
Nachdem Bossuet die besonderen Ursachen von Roms Größe und
Niedergang beschrieben hat, wirfter im letzten Kapitel noch einmal die
Frage nach der Vorsehung auf. Das Auf und Nieder der geschichtlichen
Ereignisse erscheint nur unserer kurzsichtigen, in Einzelheiten ver-
strickten Unwissenheit als bloßer Zufall und Schicksal. Richtig gese-
hen, liegt dieser Mischung von Zufall und Schickung eine planvolle
Ordnung zugrunde, wobei das Endergebnis schon in den entferntesten
Ursachen vorbereitet ist. Dieses Ergebnis ist aber den Agenten der
Geschichte selbst unbekannt.
>>Daher kommt es, daß sich alle Regierenden einer höheren
Macht unterstellt fühlen. Sie tun faktisch mehr oder weniger, als sie
beabsichtigen, und ihre Ratschläge haben immer unvorhergesehene
Wirkungen. Sie sind weder Herren derjenigen Verfügungen, die
vergangene Zeiten den menschlichen Angelegenheiten vorgezeich-
net haben, noch können sie voraussehen, welchen Kurs die Zukunft
einschlagen wird, und noch weniger sind sie imstande, ihn zu er-
zwingen [... ]. Alexander konnte nicht wissen, daß er für seine
Feldherrn arbeiten oder sein Herrscherhaus durch seine Eroberun-
gen ruinieren würde. Als Brutus das römische Volk zu grenzenloser
Freiheitsliebe begeisterte, träumte ihm nicht, daß er dadurch den
Samen zu jener unbändigen Zügellosigkeit säen würde, durch wel-
che die Tyrannei, die er zu vernichten meinte, eines Tages schreckli-
cher wiederhergestellt werden sollte als unter den Tarquinern. Als
die Cäsaren ihren Soldaten schmeichelten, beabsichtigten sie nicht,
sie zum Herrn ihrerNachfolgerund des Reiches zu erheben. Kurz, es
gibt keine menschliche Macht, die nicht, gegen ihren Willen, andere
Pläne als ihre eigenen fördert. Gott allein weiß, wie er alles nach
seinem Willen zuwege bringt; deshalb ist alles, auf Einzelursachen
hin betrachtet, überraschend, und hat doch im Ganzen einen geord-
neten Verlauf.<< to
10 Ebda. III, Kap. VIII, S. 451.
156 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Die Lehre, die Bosuet aus der Tatsache zieht, daß der Menschen-
sohn und Sohn Gottes ohne sichtbare Zeichen göttlichen Schutzes
stirbt, ist die, daß der gewöhnliche Mensch in seiner Not nichts fordern
solle, was Christus nicht gewährt worden ist.
Eben dieses Fehlen eines jeden sichtbaren Zeichens der Vorsehung
in der Geschichte der Welt ist es, was die Notwendigkeit des Glaubens
an Unsichtbares erweist und Glauben erweckt. Der Glaube beruht nicht
auf objektiv demonstrierbarer Gewißheit oder fünfzigprozentiger
Wahrscheinlichkeit, sondern auf deren Fehlen. Er verlangt Hingabe
und Wagnis, den Mut zur Ungewißheit. Er ist ein Glaube an das, was
ohne ihn unglaublich ist. Die Vorsehung post festurn in der politischen
Weltgeschichte verständlich und durchsichtig machen zu wollen, ist der
Versuch von Ungläubigen, die, wie der Teufel zu Jesus, sagen: >>Bist du
Gottes Sohn, so stürze dich hinab.«
Für den Nachfolger Christi gibt es nur ein Zeichen der Auserwählt-
heit: das Kreuz, und nur unter diesem Zeichen gibt es auch eine Bewäh-
rung des Christentums in der Geschichte der Welt.
>>Wenn Richter jemand ächten und menschlicher Ehren für un-
würdig erklären wollen, so pflegen sie seinen Körper mit einem
schmachvollen Zeichen der Unehre zu brandmarken, das seine
Schande jedermann kundtut[ ... ]. Gott hat auf unsere Stirn[ ... ] ein
Zeichen eingeprägt, glorreich vor ihm, aber schändlich vor den
Menschen, um uns davor zu bewahren, auf dieser Erde irgendwel-
che Ehren zu empfangen. Dies bedeutet nicht, daß wir, als gute
Christen, weltlicher Ehre unwürdig sind, sondern vielmehr, daß
weltliche Ehren unserer unwürdig sind. Nach weltlicher Meinung
sind wir ehrlos, weil das Kreuz, unser Ruhm, an weltlichen Maßstä-
ben gemessen der Inbegriff aller Schande ist[ ... ]. Unsere Vorfahren
glaubten, ein Herrscher wäre kaum wert, ein Christ zu sein. Das hat
sich geändert: Jetzt meint man, daß christliche Frömmigkeit einer
Person von hoher Stellung nicht würdig sei: die Niedrigkeit des
Kreuzes flößt uns Entsetzen ein; wir haschen nach Beifall und wol-
len geachtet sein.« 14
Wenn aber das Kreuz das einzigartige Zeichen der Nachfolge Chri-
sti ist, so kann nicht erwartet werden, daß die Welt Christus jemals
nachfolgen wird. Eine Welt, die sich selbst eine christliche nennt, ist ein
VIII Joachim
6 II. Kor. 3,17; Röm. 8, 1-11; Gal. Kap. 4. Es ist ein weiter Weg von den
griechischen Worten für »Geist<< und »Freiheit« zu den neutestamentlichen
Begriffen und von da zu ihren modernen Bedeutungen. Für Paulus ist »pneuma<<
eine geheimnisvolle Eingießung der Gnade, die den Menschen in ein geistiges
Wesen verwandelt; »eleutheria« ist die Freiheit eines solchen begnadeten We-
sens von Tod und Sünde- durch freiwilligen Gehorsam. Daher kann christliche
Freiheit niemals in einem Gegensatz zu Autorität und Gehorsam stehen. Die
Frage ist nur, welche Autorität und welcher Gehorsam wirklich frei macht. Auch
Joachim bezweifelt nicht die Autorität des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
Geistes. Aber im Unterschied zu Augustin, für den eine vollendete Freiheit
innerhalb des irdischen Lebens undenkbar war, erwartete Joachim die völlige
Freiheit des Geistes innerhalb der letzten Phase der Geschichte.
7 I. Kor.13, 9-10; vgl. Röm.l3,12; I. Kor.13,12;Joh.16,12.
Joachim 163
den einer jeden Ordnung sind jedoch nicht nach Jahren zu berechnen,
sondern nach Generationen, die nicht nach ihrer Dauer, sondern nach
ihrer Zahl übereinstimmen und deren jede sich etwa über dreißig Jahre
erstreckt. Die Zahl 30 hat keine natürliche Begründung, sondern eine
spirituelle. Sie bezieht sich auf die Vollkommenheit der Trinität der
einen Gottheit und auf Jesus, der dreißigJahrealt war, als er seine ersten
filii spirituales gewann. Nach Joachims Berechnungen, die sich haupt-
sächlich auf Offenbarung 11,3 und 12,6 sowie auf Matth. 1,17 stützen,
ist seine eigene Generation die vierzigste, und seine Nachfolger nahmen
an, daß nach einer Periode von zwei weiteren Generationen, d. h. um
das Jahr 1260, der Höhepunkt erreicht sein wird. Friedrich II. wird sich
dann als der Antichrist offenbaren, und die Franziskanischen Spiritua-
len als die von der Vorsehung bestimmten Führer der neuen und letzten
Ordnung, die mit der schließliehen Vollendung der Geschichte durch
Jüngstes Gericht und Auferstehung enden wird. Ziel und Sinn des
Heilsgeschehens ist innerhalb der geschichtlichen Zeit die kompromiß-
lose Befolgung der Gebote und Ermahnungen des Evangeliums, insbe-
sondere der Bergpredigt.
Was an Joachims Interpretation der Heilsgeschichte neu und revo-
lutionär ist, entspricht seiner prophetisch-historischen Methode der
allegorischen Auslegung. Soweit sie allegorisch und typologisch ist, ist
sie nicht neu, sondern nur eine einheitliche Anwendung der traditionel-
len patristischen Exegese 9 • Diese Exegese diente der fruchtbaren Phan-
tasie Joachims nicht zu moralischen und dogmatischen Zwecken, son-
dern zu einem Verständnis der Offenbarungaufgrund der wesenhaften
Wechselbeziehung zwischen Schrift und Geschichte und ihren Ausle-
gungen. Die eine muß die andere erhellen, wenn die Geschichte einer-
seits wirklich voll religiöser Bedeutung und andererseits das Evange-
lium der rotulus in rota oder die Mittelachse des Weltgeschehens ist.
9 Siehe E. Benz, Die Kategorien [... ], S. 100, mit Ecclesia spiritualis, S. 434
und 460 ff., wo Benz auf das Bestreben der Joachiten hinweist, die Kirchenge-
schichte streng religiös als eine Erläuterung der wesentlichen Gestalten und
Ereignisse des Neuen Testaments zu verstehen; vgl. H. Grundmanns Analyse
vonJoachims exegetischer Methode und ihrer geschichtlichen Vorläufer (a.a.O.,
S. 18-55; Buonaiuti, a.a.O., S. 189ff.). Das Erstaunliche an Joachims Interpre-
tation ist nicht der Höhenflug allegorischer Auslegung und apokalyptischer
Phantasie, sondern der Grad an Disziplin, mit der es ihm gelingt, eine christliche
Logik der Geschichte auszudenken, indem er die bedeutendsten Ereignisse der
Kirchengeschichte mit der literarischen Abfolge der Gestalten und Visionen des
Neuen Testaments zusammendenkt.
Joachim 165
lutionären, indem sie den heiligen Franziskus, sich selbst und die Ge-
schehnisse ihrer Zeit als Erfüllung der ProphezeiungJoachims deuteten.
Ihr Missionseifer versuchte in der Tat das Unmögliche: die Gesetze des
Reiches Gottes ohne Kompromiß im gegenwärtigen saeculum zu erfül-
len. Dadurch wurden sie in schwere Konflikte verwickelt, erstens mit
den rivalisierenden Bestrebungen der Dominikaner, zweitens mit dem
imperialen Messianismus Friedrichs 11. 10, und drittens mit der römisch-
katholischen Kirche. Die Kirche war in ihrem Kampf mit den Joachiten
unnachgiebig und klug genug, die Gegensätze zu mildern und die
Einverleibung der gefährlichen Bewegung als einer neben anderen aner-
kannten Sekte in ihre Institution herbeizuführen. Die Bewegung brach
so vollständig zusammen, wie ihr Ziel radikal gewesen war. Bemer-
kenswert ist jedoch, daß noch im 19. Jahrhundert ein Positivist wie
Comte die Franziskanische Bewegung ''die einzig wirkliche Verheißung
einer christlichen Reform<< nannte.
Im 14. Jahrhundert erregte in Italien eine klägliche Karikatur der
politisch-religiösen Eschatologie für kurze Zeit die Gemüter, als der
römische Tribun Cola di Rienzo sich selbst als novus dux, wenn auch
nicht des imperium mundi, so doch Italiens, bezeichnete und den mes-
sianischen Anspruch Friedrichs II. von neuem erhob. Er war wie die
Franziskanischen Spiritualen davon überzeugt, daß die Ausgießung des
Heiligen Geistes kein einmaliges Geschehnis der Vergangenheit war,
sondern etwas, das sich wiederholen werde, und er hielt sich für den
politischen Partner des heiligen Franziskus, dazu ausersehen, ein fallen-
des Reich zu stützen und zu erneuern, so wie der heilige Franziskus eine
auseinanderfallende Kirche gestützt und erneuert hatte 11 • Er hatte den
10 Siehe E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich II., 3. Auf!., Berlin 1931; dieses
Werk war unter der deutschen Jugend der zwanziger Jahre weit verbreitet, weil
es sie der messianischen Mission des >>geheimen Deutschland« versicherte, bis
das Geheimnis in Hitlers Drittem Reich entschleiert und profaniert wurde.
Friedrich, durch die Kirche exkommuniziert, krönte sich selber inJerusalem und
nahm den messianischen Titel eines •dominus mundi<< an.
11 Siehe E. Benz, Ecclesia spiritualis, S. 387 f., und die Biographien des Cola di
Rienzo von Gabriete d'Annunzio, La vita di Cola di Rienzo, Mailand 1912,
sowie P. Piur, Cola di Rienzo, Wien 1931. Die Interpretation des Heiligen
Franziskus als des »novus dux<< leitet sich von. Joachim her. Der geistliche
Ursprung des Titels •dux<< findet sich bei Matt. 2, 3-6. Die Übertragung des
geistlichen Titels auf einen politischen Führer dauert in Italien bis zum »Duce<<
unserer Zeit. In den zwanziger Jahren veröffentlichte ein katholischer Priester
über Franziskus und Mussolini eine faschistische Flugschrift, in der er die
Übereinstimmung der Erneuerungsbestrebungen beider zu erweisen versucht.
168 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Die Botschaft Mussolinis sei ein >> messaggio francescano •! Die Wiedergabe
eines Gemäldes von Giotto, den Hl. Franziskus bei der Vogelpredigt darstellend,
und eine Photographie von Mussolini, wie er eine Löwin streichelt, illustrieren
diese Konkordanz!
12 Siehe Benz, Ecclesia spiritualis, S. 404 und 432ff., über die Geschichtstheo-
logie des Petrus Aureoli.
13 Durch Joachim wurde die Auferstehung eine geschichtstheologische Katego-
rie. Weil Leben, Tod und AuferstehungJesu Christi das Muster seines Leibes in
Joachim 169
der Kirche sind, muß auch die historische Kirche leben, sterben und wieder
auferstehen.
14 Indem die Kirche diesen Grundsatz auf die Streitfrage über Armut und Besitz
anwandte, argumentierte sie gegen die franziskanischen Spiritualen, daß der
gegenwärtige Stand der Dinge zwar in der Tat dem Gesetz des Fortschreirens
widersprechen würde, wenn das Urchristentum die völlige Armut als den Stand
der Vollendung gefordert hätte, aber der Besitz von »temporalia<< sei auch im
Urchristentum rechtmäßig gewesen.
170 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
17 E. Renan bemerkt einmal, daß es eine völlig überraschende Tatsache ist, daß
der Protestantismus nicht schon drei Jahrhunderte früher geboren wurde
(Joachim de Flore et /'evangile eterne/, Revue des deux mondes, 1866). In
gewisser Hinsicht bedeutete die von den Joachiten beabsichtigte Reform sogar
einen weit radikaleren Bruch mit der herrschenden Kirche als Luthers Reforma-
tion, denn dieser zog niemals den Schriftsinn in Zweifel, sondern verschärfte
vielmehr die buchstäbliche Bedeutung.
172 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
18 Siehe Kierkegaards Vorwort zu Der Einzelne, in: Die Schriften über sich
selbst, Gesammelte Werke, 33. Abt., Düsseldorf/Köln 1951.
19 Siehe Anhang I, S. 222ft.
Weltgeschichte und Heilsgeschehen 173
IX Augustin
keinen Übergang. Mit leiblichen Augen beurteilt, ist der Glaube in der
Tat »blind<<. Die griechische theoria ist wirklich eine Welt-Schau oder
Kontemplation des Sichtbaren und kann daher aufgewiesen oder ge-
zeigt werden, wohingegen der christliche Glaube, die pistis, eine gewis-
se Zuversicht oder ein unbedingtes Vertrauen in Unsichtbares und
daher Unbeweisbares ist. Geglaubtes läßt sich nicht theoretisch erken-
nen, man muß sich praktisch zu ihm bekennen. Zu dem christlichen
Gott eröffnet keine natürliche Theologie einen Zugang. Da Gott an Sein
und Macht unendlich über seiner Schöpfung steht, kann er nicht von
der Welt her begriffen werden. Die biblisch verstandene Welt kann als
eine Schöpfung sein und auch nicht sein; sie existiert nicht wesenhaft
von Natur aus. Der einzige authentische Zeuge der sichtbaren Welt ist
der unsichtbare Gott, der dem Menschen sein Schöpferturn in der
Schrift bezeugt.
Nur in zweiter Linie und als Antwort auf heidnische Einwände, die
die Ewigkeit der Welt ohne Anfang und Ende voraussetzen, argumen-
tiert Augustin weiter, daß die Welt als solche bereits den Charakter des
Geschaffenseins beweise, selbst wenn die Stimmen der Propheten
schweigen. Daß die Welt geschaffen ist, bezeugt sie durch ihre eigene
Veränderlichkeit, deren wohlgeordneten Verlauf und die Schönheit
aller sichtbaren Dinge 2 • Weit davon entfernt, dieses zweite, kosmologi-
sche Argument als das entscheidende zu gebrauchen und also die Exi-
stenz eines ordnenden und unveränderlichen Gottes von dem zweckmä-
ßigen Bau und der Veränderlichkeit der Welt abzuleiten, hebt Augustin
hervor, daß alle Größe, Ordnung und Schönheit des Universums
>>nichts« bedeuten und man nicht einmal sagen könne, daß sie über-
haupt >>sind« -verglichen mit der unsichtbaren Größe, Weisheit und
Schönheit des ewigen Gottes, der Himmel und Erde aus dem Nichts
erschuf3. Eine aus dem Nichts geschaffene Welt ist von vornherein eines
eigenen, eigentlichen Seins beraubt. Diese Entwertung der natürlichen
Welt gilt nicht nur für die Genesis, sondern auch für die Psalmen und für
die Lobpreisungen des heiligen Franziskus 4 • Die biblische Welt ist zwar
voller Schönheit und Wunder und wie Bruder und Schwester, aber nur
weil sie den gemeinsamen Schöpfer von Mensch und Welt, nicht aber
weil sie sich selbst als schön, geordnet und göttlich offenbart 5 • Was das
Universum der Alten an göttlicher Selbständigkeit verliert, gewinnt es
in christlicher Sicht durch überweltliche Abkunft.
Mit der Welt wurde gleichzeitig die Zeit geschaffen, denn es ist
unmöglich, sich eine Zeit »vor<< der Schöpfung dessen, was sich bewegt
und verändert, vorzustellen 6 , wogegen Gott unveränderlich und zeitlos
ist. Gott schuf das Universum nicht in der Zeit, sondern gleichzeitig mit
ihr, als eine zeitliche Welt. >>Denn was in der Zeit geschieht, das ge-
schieht nach und vor einer Zeit, nach einer vergangeneo und vor einer
kommenden; allein eine vergangene Zeit ist hier undenkbar, weil es
kein Geschöpf gab, an dessen wandelbarer Bewegung sie dahingeflos-
sen wäre. Dagegen ist die Welt zugleich mit der Zeit erschaffen, wenn
bei ihrer Erschaffung die Wandel erzeugende Bewegung geschaffen
worden ist, worauf auch hinzuweisen scheint jene Gliederung in sechs
oder sieben erste Tage.<< 7 Wenn daher heidnische Philosophen die
Ansicht vertreten, daß die Welt mit ihrer immer wiederkehrenden
Bewegung ewig, d. h. ohne Anfang und Ende sei, so täuschen sie sich.
Aber nicht so sehr aus Mangel an Verstand, als vielmehr durch >>den
Wahnsinn des Unglaubens<<. Sie schreiben der Welt zu, was nur von
Gott gesagt werden kann, der von der Welt unendlich verschieden ist.
Anstatt aber den heidnischen Irrtum mit theoretischen Gründen zu
widerlegen, verweist Augustin auf die Autorität der Heiligen Schrift,
deren Wahrheit ihm durch die Erfüllung ihrer Weissagungen als bewie-
4 Vgl. Matthes Arnolds Aufsatz über Pagan and Christian Religious Senti-
ment, Essays Literary and Critical, Everyman's Library, S. 127ff.
5 Vgl. Cicero, De nat. deor., ll, 2, 5, 7, 8, 11-15, 17, wo die Göttlichkeit der
Welt direkt aus ihrer eigenen kosmischen Natur und Struktur erschlossen wird.
6 Augustins Verständnis der Zeit aus ihrem Bezug zur Bewegung und Verän-
derung (Gottesstaat, XI, 6) ist eine griechische Entdeckung (Aristoteles, Physik,
IV, 10-14). Die christliche Revolution in der Zeitauffassung taucht mit Augu-
stins Frage auf, >>WO« die Zeit ursprünglich zu Hause ist. Seine Antwort lautet: in
der unsichtbaren Ausdehnung des menschlichen Geistes (in seiner Aufmerksam-
keit, die die Gegenwart vorstellt; in seiner Erinnerung, die die Vergangenheit
vergegenwärtigt; in seiner Erwartung, die die Zukunft vorwegnimmt), aber
nicht außerhalb im Universum, d.h. nicht in den Bewegungen der Himmelskör-
per, die das sichtbare Vorbild für die klassische Konzeption von Bewegung und
Zeit sind. (Augustin, Bek. XI, 24 und 28 ff.).
7 Gottesstaat, XI, 6, a.a.O., Bd. 2, S. 151 f.; vgl. Bek. XI, 13.
176 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
sen gilt. Nach der biblischen Überlieferung hat die Welt nicht nur einen
Anfang, sondern dieser Anfang liegt auch genau fest: noch keine sechs-
tausend Jahre sind seit der Schöpfung vergangen 8 ! Aber auch wenn wir
die Dauer der Welt auf sechshunderttausend Jahre berechnen, so hätte
das nichts zu bedeuten, denn jede vorstellbare Dauer der endlichen Zeit
ist wie nichts, verglichen mit der unendlichen Ewigkeit eines ewigen,
zeitlosen Schöpfers. Eine Zeitstrecke, die an einem Punkte beginnt und
durch ein Ende begrenzt ist, mag sie auch noch so lang sein, ist unver-
gleichlich kurz oder vielmehr nichts im Vergliech zu Gott, der weder
Anfang noch Ende hat9 •
Was das Menschengeschlecht betrifft, von dem einige antike Phi-
losophen glaubten, es habe immer bestanden, da die Erfahrung lehrt,
daß es überhaupt keine menschliche Existenz gibt, die nicht schon
durch Menschen erzeugt worden ist, so entgegnet Augustin, daß diese
Philosophen »sagen, was sie denken, aber nicht, was sie wissen«. Augu-
stin »Weiß<<, daß der Mensch einen von anderen Menschen unabhängi-
gen Anfang hat, weil er durch die Augen des Glaubens weiß, daß der
Mensch nicht das bloße Erzeugnis der Zeugung, sondern eine einmali-
ge, absolute Schöpfung ist. Das Primäre der menschlichen Existenz ist
nicht die Zeugung und nicht die Identität durch Generationen, sondern
die Tatsache, daß jeder einzelne Mensch und jede Generation schwach
und unwissend, dem Verfall ausgesetzt und sterblich, aber der Erneue-
rung durch geistliche Wiedergeburt fähig ist. In dem kurzen Intervall
menschlicher Existenz geht es darum, für ewig selig oder aber für ewig
verdammt zu werden. Zwar sprechen auch heidnische Philosophen von
einer Erneuerung, aber in bezugauf die Natur und ihre sich wiederho-
lenden Kreisläufe. Sie behaupten, daß diese Zyklen sich endlos wieder-
holen, wie Sonnenaufgang und -untergang, Sommer und Winter, Zeu-
gung und Verfall, und diese Theorie von der ewigen Wiederkehr des
Gleichen, in der sich für den griechischen Geist auf natürliche Weise
eine unveränderliche Ordnung offenbarte, nach der sich zeitliche Ver-
änderungen regeln, gab ihnen die Gewißheit, daß der Kosmos verläß-
lich ist 10 • Für Augustin bedeutet der Wechsel in der ewigen Wiederho-
8 Augustin folgt der Chronologie des Eusebius, der 5611 Jahre von der Schöp-
fung bis zur Einnahme Roms durch die Goten ansetzte.
9 Gottesstaat, XII, 10 und 12. Die folgende Auseinandersetzung gründet sich
auf XII, 10-13 und 17-20; XI, 4 und 6.
10 In der christlichen Sicht kann keine wesentliche Zuverlässigkeit des Kosmos
angenommen werden, es sei denn mittelbar durch die Zuverlässigkeit von Gottes
Augustin 177
lung des Gleichen nichts anderes als eine sinnlose >>Abwechslung<<, die
um so weniger anerkannt werden kann, als sie auch die unsterbliche
Seele und das Schicksal des Menschen nicht ausnimmt.
Das entscheidende Argument gegen den klassischen Zeitbegriff ist
demnach ein moralisches: die heidnische Lehre ist hoffnungslos, denn
Hoffnung und Glaube sind ihrem Wesen nach auf die Zukunft bezogen,
und eine wirkliche Zukunft kann es nicht geben, wenn vergangene und
künftige Zeiten gleichwertige Phasen innerhalb einer zyklischen Wie-
derkehr ohne Anfang und Ende sind. Auf der Grundlage eines immer-
währenden Ablaufs bestimmter Zyklen könnten wir nur eine blinde
Rotation von Elend und Glück, d.h. von trügerischem Glück und
wirklichem Elend, nicht aber ewige Seligkeit erwarten, eine endlose
Wiederholung des Gleichen, aber nichts Neues, Erlösendes, Endgülti-
ges. Der christliche Glaube verspricht wahrheitsgemäß Erlösung und
ewige Seligkeit für die, welche Gott lieben, während die gottlose Lehre
von nutzlosen Kreisläufen Hoffnung und Liebe lähmt. Wenn alles
immer wieder in festliegenden Zeiträumen geschähe, dann würde die
christliche Hoffnung auf ein neues Leben nichtig sein.
»Ist das nicht unannehmbar, unglaublich, unerträglich? Selbst
wenn es wahr wäre, schwiege man klüger davon, ja man wäre
gescheiter, wenn man es nicht wüßte [... ],denn wenn wir im Jen-
seits dieses Schicksal nicht vor Augen haben und deshalb glückselig
sein würden, warum wird hienieden durch solches Wissen unser
Elend noch vermehrt? Wenn es uns aber im Jenseits nichtvorenthal-
ten bleiben kann, so sollten wir doch hienieden wenigstens von
solchem Wissen verschont bleiben, damit die Erwartung des höch-
sten Gutes hienieden beglückender sei als dort dessen Erlangung,
indem man hienieden ein ewiges Leben iu erlangen hofft, während
man im Jenseits inne wird, daß dieses Leben zwar glückselig, aber
nicht ewig ist, sondern einmal wieder verlorengeht. << 11
»Wird nämlich die Seele erlöst, um nie mehr zum Elend zurück-
zukehren, in einer Weise, wie sie vordem nie erlöst worden ist, so
tritt in ihr etwas ein, was nie vorher eingetreten ist, und zwar etwas
gewaltig Großes, nämlich ewiges Glück, das nie mehr aufhören soll.
Wenn sich nun aber an der unsterblichen Natur so etwas völlig
Neues ereignet, das keine Wiederholung im Kreislauf ist noch eine
solche haben wird, warum soll dann das nicht auch an den sterbli-
chen Dingen sich ereignen können?« 12
Von zweitrangiger Bedeutung ist Augustins weiteres Argument, daß
das Neue gewisser Geschehnisse nicht unvereinbar sei mit der >>Ord-
nung der Natur<<. Denn diese begreift er nicht als physis, sondern als
providentielle Ordnung, die von Gott gewollt ist, der die Natur und den
Menschen geschaffen hat. Die Gottheit hat die Macht, >>Dinge zu
vollbringen, die sie bisher nie vollbracht und gleichwohl stets vorherge-
sehen hat, neu nur für die Welt, nicht für sie«. Für eine wiedergeborene
christliche Seele sind Elend und Glück ganz neue Erfahrungen; das
erstere hat seinen Ursprung in der Sünde, das letztere in dem Streben,
von ihr erlöst zu werden. Und wenn der Prediger, der sagt, daß nichts
Neues unter der Sonne geschieht, die heidnische Wiederkehr des Glei-
chen gemeint hätte (eine Annahme, die Augustin verwirft), dann würde
auch er ein Ungläubiger und kein Weiser sein.
Augustin widerlegt die klassische Theorie der zyklischen Wieder-
kehr nicht auf ihrem eigenen Boden theoretisch. Obgleich er alle Waf-
fen seines Geistes anwendet, um sie in Stücke zu schlagen, beruft er sich
letzten Endes doch nicht auf die Einsicht: >>Auch wenn die Vernunft
dagegen nicht aufkommen kann, der Glaube muß diese Beweisführung
verlachen, mit der Gottlose unsere schlichte Gottseligkeit vom rechten
(d.h. geraden) Wege abzuziehen[ ... ] suchen.« 13 Er schließt seine pole-
mische Darlegung unvermittelt mit dem Ausspruch: »Es sei ferne von
uns, dies zu glauben! Denn da Christus einmal für unsere Sünden
12 Ebda. S. 239.
13 Ebda. XII, 17, a.a.O., S. 232. Eine theoretische Lösung des Widerstreits
zwischen der antiken Theorie einer ewigen Bewegung und der Schöpfungslehre
versuchte Thomas im Zuge seiner Bemühung, die aristotelische Physik mit der
Genesis zu vereinen, wohingegen die Averroisten die Ewigkeit der Weltbewe-
gung mit der Lehre von der Schöpfung für unvereinbar hielten (Summa theol. I
qu. 46; Summa contra gentiles, II, 34; De aeternitate mundi; vgl. auch Giles of
Rome, Errores Philosophorum, ed. by J. Koch, translated by J. 0. Riedl,
Milwaukee: Marquette University Press 1944).
Augustin 179
gestorben und von den Toten auferstanden ist, wird er nicht wieder
sterben.<< Es ist kein Zufall, daß die Erörterung der ewigen Wiederkehr
des Gleichen, die sich auf die Beständigkeit kosmisch-natürlicher Ge-
schehnisse bezieht, mit dem übernatürlichen Argument endet, das Auf-
treten Christi und seine Auferstehung seien beides einmalige Begeben-
heiten von universaler Bedeutung. Die Macht, die Toten zum ewigen
Leben zu erwecken, ist der stärkste Beweis für die Macht Gottes und
unendlich bedeutungsvoller als die Ewigkeit der Welt, wie sie griechi-
sche Philosophen lehrten. In dem Wunder der Auferstehung wird das
Wunder der Schöpfung erneut vollzogen und überhöht 14 • Die rechte
Lehre führt zu einem Ziel in der Zukunft, wohingegen >>die Bösen sich
im Kreise bewegen<< 15 • Der Kreis, nach Ansicht der Alten die einzig
vollkommene, weil in sich selbst beschlossene Bewegung, ist zwecklos
und verwerflich, wenn das Kreuz das Sinnbild des Lebens ist und dessen
Sinn in einem Ziel zur Erfüllung kommt.
Das moderne Denken zehrt noch immer von beiden Sinnbildern:
dem Kreuz und dem Kreis, und die Geistesgeschichte der abendländi-
schen Menschheit ist ein dauernder Versuch, Antike und Christentum
zu vermitteln. Dieser Versuch kann nicht gelingen, es sei denn durch
einen Kompromiß zwischen prinzipiell Unvereinbarem. Sowohl Nietz-
sche wie Kierkegaard haben gezeigt, daß die ursprüngliche Entschei-
dung zwischen Christentum und Heidentum nach wie vor wesentlich
ist. Denn wie könnte die antike Theorie von der Ewigkeit der Welt mit
dem christlichen Glauben an die Schöpfung, der Kreislauf mit einem
eschaton und die heidnische Anerkennung des Fatums mit der christli-
16 Röm. 8,24f. Die christliche Hoffnung, weit davon entfernt, die natürliche
Gabe eines heiteren Temperaments zu sein, ist eine religiöse Pflicht, besonders
wenn die Dinge hoffnungslos stehen. Sie ist wie der Glaube und die Nächstenlie-
be eine mystische Tugend der Gnade, während alle heidnischen Tugenden
vernunftgemäß sind (siehe G. K. Chesterton, Heretics, Kap. XII). Für eine
moderne Fassung der christlichen Lehre von der Hoffnung siehe das Gedicht
L'Esperance von C. Peguy.
17 Siehe H. Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte, Leipzig 1911;
E. Troeltsch, Augustin, die Antike und das Mittelalter, München und Berlin
1915; H. Grundmann, Studien über Joachim von Floris, Leipzig 1927, S. 74; W.
Kamlah, Christentum und Geschichtlichkeit, Stuttgart 1951; vgl. auch J. B.
Bury, The Idea of Progress, New York 1932, S. 21; Th. Mommsen, Augustin
and the Christian Idea ofProgress, in: Journal of the Historyofldeas,Juni 1951.
Augustin 181
18 Thomas, Summa theol. ll, 2, qu. 1 a. 7. Die articuli fidei können sich nicht
geschichtlich entwickeln, weil sie in sich selbst vollendet und zeitlos sind. Sie
können nur entfaltet werden.
19 Siehe W. Nigg, Das ewige Reich, Zürich 1944, S. 123 ff. und J. Taubes,
Abendländische Eschatologie, Bern 1947; vgl. auch den Hinweis Grundmanns,
a.a.O., S. ?Off., auf Joachims Einstellung zu dem traditionellen, besonders dem
augustinischen Geschichtsschema, und E. Lewalter, Eschatologie und Weltge-
schichte bei Augustin, Zeitschrift für Kirchengeschichte, Bd. LIII, 1934. Die
deutlichste Erörterung der Beziehung zwischen Geschichte und Eschatologie
findet sich in zwei Briefen Augustins (Nr. 197 und Nr. 199) an den Bischof
Hesychius.
182 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Staaten sind weder Teufelswerke, noch sind sie gut und durch ein
Naturrecht gerechtfertigt. Ihr Ursprung ist die Sünde des Menschen,
und ihre relative Bedeutung beruht auf der Erhaltung des Friedens und
der Gerechtigkeit.
Worauf es in der Geschichte ankommt, ist nicht die vergängliche
Größe von Reichen, sondern Erlösung und Verdammung in einer
eschatologischen Zukunft. Das feste Ziel für das Verständnis der gegen-
wärtigen und vergangenen Geschehnisse ist die letzte Vollendung:
Jüngstes Gericht und Auferstehung. Dieses Endziel bildet das Gegen-
stück zum ursprünglichen Beginn der Menschheitsgeschichte mit
Schöpfung und Sündenfall. Auf diese beiden überhistorischen, ersten
und letzten Geschehnisse bezogen, ist die Geschichte selber ein Interim
zwischen der ersten Offenbarung des Heilsgeschehens und dessen künf-
tiger Erfüllung. Nur in dieser Perspektive eines entscheidenden Heilsge-
schehens tritt die profane Geschichte überhaupt in den Gesichtskreis
von Augustin. Nur vier Bücher von zweiundzwanzig handeln teilweise
von dem, was wir »Geschichte<< nennen, wobei ihre Bedeutung auf der
Vor- und Nachgeschichte, dem transzendenten Anfang und Ende be-
ruht. Nur durch diese Bezogenheit auf einen absoluten Anfang und ein
absolutes Ende hat die Geschichte als Ganzes einen Sinn. Im Mittel-
punkt dieser begrenzten Geschichte steht das Erscheinen Jesu Christi,
das eschatologische Ereignis schlechthin.
Das eigentliche Geschehen der Geschichte, die universal ist, weil sie
von einem einzigen Gott zu einem einzigen Ziel gelenkt wird, ist der
Kampf zwischen der civitas Dei und der civitas terrena. Diese Reiche
sind nicht identisch mit der sichtbaren Kirche und dem Staat, sondern
zwei mystische, von entgegengesetzten Weisen menschlicher Existenz
gebildete Gemeinschaften. Auf Erden beginnt die civitas terrena mit
dem Brudermörder Kain, die civitas Dei mit Abel. Kain ist der >>Bürger
dieses saeculum<< und, durch sein Verbrechen, der Gründer der irdi-
schen Reiche. Abel ist in diesem saeculum der »peregrinans« auf der
Pilgerschaft nach einem überirdischen Ziel. Die geistigen Nachfahren
des Abelleben in hoc saeculo zwar auch in dem Reiche Kains, aber ohne
dessen Gründer und Siedler zu sein. Daher ist die Geschichte des Gottes-
staates nicht mit der des Menschenstaates koordiniert, sondern das
einzige wahre Heilsgeschehen und der geschichtliche Verlauf (procur-
sus) des Gottesstaates besteht in einer peregrinatio. In Augustins christ-
licher Denkweise ist der >>Fortschritt<< nichts anderes als eine unermüd-
liche Pilgerschaft zu einem letzten überirdischen Ziel. Als civitas pere-
184 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
zu beurteilen, die Gott den Frommen wie den Gottlosen gibt. Wir
können nur einige Bruchstücke der sinnvollen Ordnung wahrnehmen,
die Gott uns zu offenbaren beliebt. Die Geschichte ist ein von ihm
eingerichtetes Pädagogium, das hauptsächlich durch Leiden erzieht.
Auf dieser theologischen Grundlage unterscheidet Augustin sechs
Epochen, die den sechs Tagen der Schöpfung entsprechen. Die erste
reicht von Adam bis zur Sintflut, die zweite von Noah bis Abraham, die
dritte von Abraham bis David, mit Nimrod und Nimus als ihren Gegen-
spielern. Die vierte währt von David bis zur babylonischen Gefangen-
schaft, die fünfte von diesem Zeitpunkt bis zur Geburt Christi. Die
sechste und letzte Epoche endlich erstreckt sich vom ersten Erscheinen
Christi bis zu seiner Wiederkunft am Ende der Welt.
In dieser traditionellen Einteilung, die noch von Thomas vertreten
wurde, bleibt die Dauer der letzten, christlichen Epoche bei Augustin
unbestimmt. Lactantius hatte noch berechnet, daß die Welt um das Jahr
500 enden werde. Augustin enthält sich jeder apokalyptischen Berech-
nung der Dauer des letzten Zeitalters. Vom eschatologischen Gesichts-
punkt aus entscheidend ist nicht die geringfügige Differenz von ein paar
hundert oder ein paar tausend Jahren, sondern die Tatsache des Ge-
schaffenseins und der Vergänglichkeit der Welt. Neben der Einteilung
in sechs Epochen in Analogie zu den sechs Altersstufen des Menschen
(erste Kindheit, zweite Kindheit, Jugend, Jünglingsalter, Mannesalter,
Greisenalter) besteht noch eine andere in drei Epochen nach Maßgabe
des geistlichen Fortschritts: erstens vor dem Gesetz (Kindheit), zweitens
unter dem Gesetz (Mannesalter), drittens unter der Gnade (Greisenalter
oder mundus senescens, Hegels »Greisenalter des Geistes«).
Angesichts dieser streng religiösen Konzeption können wir von
Augustin kein besonderes Interesse für die weltliche Geschichte erwar-
ten. In seinem Werk verkörpern nur zwei Reiche das irdische Gesche-
hen: das der Assyrer im Osten und das der Römer im Westen- eine
Vorwegnahme von Hegels These, daß alle sinnvolle Geschichte von
Osten nach Westen fortschreite. Ägypten, Griechenland und Mazedo-
nien werden nur gestreift. Alexander der Große wird als ein großer
Räuber bezeichnet, der den Tempel vonJerusalem durch impia vanitas
entweiht hat. Jerusalem versinnbildlicht den Gottesstaat, Babylonien
und Rom (das zweite Babylon) den Menschenstaat.
Als ein an Vergil und Cicero gebildeter römischer Bürger war Augu-
stin für die Größe und Vorzüge Roms, dessen Geschichte ja gleichfalls
ein Mittel für Gottes Zweck war, nicht unempfänglich. Im Vergleich zu
186 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
22 Gottesstaat, V, 21.
23 Ebda. V, 17, a.a.O., Bd. I, S. 272f.
24 Siehe die Studie über Augustin von Scholz a.a.O.; John Figgis, The Political
Aspects of Augustine's City of God, London and New York 1921; F. W.
Loetscher, Augustine's City of God, Theology Today, Bd. I, Oktober 1944.
Augustirr 187
X Orosius
1 Wir zitieren aus der lateinischen Ausgabe Pauli Orosii Historiarum adver-
sum Paganos Libri VII, ed. C. Zangemeister, Leipzig 1889. Das Werk des
Orosius wurde offiziell durch eine päpstliche Bulle 494 anerkannt und diente
seitdem als ein Unterrichtsbuch der Geschichte und wurde während des ganzen
Mittelalters von Männern wie Bischof Otto von Freising zitiert (Ottonis {... ]
Historiade duabus Civitatibus, ed. Hofmeister, Hannover, Leipzig 1912). Al-
fred der Große verfaßte eine angelsächsische Versan des Orosius. Erst seit Dante
wurde die augustinische Konstruktion der Geschichte von Joachims Nachfol-
gern erschüttert.
2 Orosius, a.a.O., V. 2, 1 f., S. 143 f.
188 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
verbliebenen Römer wie Kameraden und Freunde, >>so daß unter ihnen
jetzt einige Römer anzutreffen sind, die es vorziehen, unter den Barba-
ren in Freiheit und Armut zu leben, anstatt unter den Römern in Angst
zu leben und Tribut zu zahlen<< 3 • Freilich waren die Barbaren IangeZeit
eine Drohung, aber statt zu nehmen, so viel sie konnten, als ihnen die
ganze Welt offenstand, forderten sie nur ein Bündnis mit Rom und
genügend Land, um eine kleine Siedlung zu errichten, und boten ihre
Dienste für den Schutz des Römischen Reiches an 4 • Überdies wurden
viele von ihnen (Hunnen, Sueven, Vandalen, Burgunder) treue Chri-
sten, und so scheint es, daß Gottes Gnade zu preisen sei, da durch die
Invasion der Barbaren so viele Völker die Wahrheit kennen lernten,
was, >>wenn auch unter Erschütterung unserer Macht<<, ohne diese
Gelegenheit, nicht der Fall gewesen wäre 5 • Wenn sie auch viel Unheil
über eine untergehende Welt gebracht haben,so mag eben dieses Unheil
sehr wohl zum Morgen einerneuen Welt werden, die den Segen der
römischen Zivilisation, ihre Romania, beibehält, wenn auch nicht die
römische Herrschaft 6 •
Für Orosius wie für Augustin ist die Geschichte gerade deshalb
Heilsgesehehen, weil sie die Geschichte eines sündigen Geschlechts ist,
das seine Freiheit gegen den Schöpfer mißbraucht hat. Da der Mensch
mit der Erbsünde befleckt ist, kann die Geschichte seiner Erlösung nur
aus Zucht und Strafe bestehen, was ebenso gerecht wie gnädig ist.
>>Jeder, der die Menschheit durch sich und in sich selbst widerge-
spiegelt sieht, nimmt wahr, daß diese Welt seit der Erschaffung des
Menschen durch abwechselnde Perioden guter und schlechter Zei-
ten erzogen worden ist. Dann wurde uns gelehrt, daß Sünde und
Strafe gleich mit dem ersten Menschen ihren Anfang nahmen. Fer-
ner haben sogar diejenigen, die mit der mittleren Periode beginnen
und die vorausgegangenen Zeitalter nicht erwähnen, nichts als Krie-
ge und Unglück beschrieben. Was sind diese Kriege anderes als Übel,
von denen die eine oder die andere Seite befallen wird? Jene Übel, die
es damals gab, wie es sie in gewissem Umfang heute gibt, waren
zweifellos entweder offenbare Sünden oder verborgene Bestrafun-
gen der Sünder.<<7
3 Ebda. VII, 41, 7; S. 296.
4 Ebda. I, 16, 2f.; S. 29.
5 Ebda. VII, 41, 8; S. 296f.
6 Vgl. G. Baissier, La Fin du Paganisme, Paris 1894, II, 397ff.
7 Orosius, a.a.O., I, 1, 10ff.; S. 4.
Orosius 189
se kennt nur eine Ausnahme: In den letzten Tagen dieser Welt, wenn der
Antichrist erscheinen und das Urteil gesprochen werden wird, »dann
wird Bedrängnis sein wie nie zuvor<< 10 • Die Leiden der Menschheit
widerlegen nicht die Herrschaft Gottes, sondern beweisen sie mit aller
Deutlichkeit. Nur die Heiden können nicht verstehen, warum die Chri-
sten sich der Züchtigung und Strafen erfreuen, die ihr liebender Vater
ihnen in Gerechtigkeit schickt, als notwendige Mittel zu einem gesegne-
ten Ende. »Wenn ein Mensch sich selbst, seine Handlungen und Gedan-
ken und auch das Urteil Gottes kennte, würde er dann nicht zugeben
müssen, daßallseine Leiden gerecht und sogar geringfügig sind?« In
diesem Leben um der ewigen Herrlichkeitwillen zu leiden, ist vernünfti-
ger als, wie die Heiden, um des irdischen Ruhmes willen Leiden zu
ertragen.
Daß Gott den Lauf der menschlichen Geschichte durch Leiden
lenkt, folgt aus der Tatsache, daß er der Herr der Schöpfung und der
Schöpfer des Menschen ist. Denn wenn wir von Gott erschaffen sind, so
sind wir auch der Gegenstand seiner Teilnahme, die er nicht zuletzt
durch seinen Tadel bekundet. Und wenn alle Macht im Grunde von
Gott herrührt, dann erst recht die Reiche, von denen alle anderen Kräfte
ausgehen. Sind jedoch die Reiche verfeindet, so ist es besser, daß ein
Reich die Herrschaft ausübt. So gab es im Anfang das Babylonische,
dann das Mazedonische, später das Afrikanische und schließlich das
Römische Reich. Diese vier Reiche, vorgesehen in Gottes unerforschli-
chem Plan, herrschten in aufeinanderfolgenden Zeiten an den vier
Hauptpunkten der Welt: das Babylonische im Osten, das Karthagische
im Süden, das Mazedonische im Norden und das Römische im Westen.
Das zweite und dritte dieser von der Vorsehung bestimmten Reiche
hatten nur vorübergehende Bedeutung, während die Geschichte von
Babyion und Rom, was Ursprung, Größe und Alter betrifft, eine deutli-
che Parallele aufweisen. »Es war, wie wenn das eine fiel und das andere
sich erhob«, so daß die Herrschaft des Westens auf die des Ostens
überging 11 • Diese bedeutungsvolle Nachfolge, die im christlichen Rom
ihren Höhepunkt erreicht, zeigt an, daß »ein Gott den Lauf der Zeiten
gelenkt hat, im Anfang zugunsten der Babylonier, am Ende zugunsten
der Römer«. Aber wie verschieden ist beider Untergang und Fall!
Während Babyion seine Herrschaft verlor, behält Rom die seine, weil in
bigen wie Augustin oder Orosius ist die profane Geschichte ohne eige-
nen Sinn. Sie ist bestenfalls eine fragmentarische Widerspiegelung ihrer
übergeschichtlichen Substanz, des Heilsgeschehens, das durch einen
heiligen Anfang, eine heilige Mitte und ein heiliges Ende festgelegt ist.
Das Äußerste, was im besten Fall über den Zusammenhang beider
gesagt werden kann, ist, daß für den Gläubigen auch die profane
Weltgeschichte Zeichencharakter haben kann, so wie etwa weltge-
schichtliche Katastrophen als ein sinnbildliches Vorzeichen eines letz-
ten Gerichts ausgelegt werden können. Leon Bloy war von dieser Idee
besessen, wenn er als Christ sah, was in seiner Zeit geschah. Wie es
Wunder nur für den Glauben gibt- und sei es auch nur das eine Wunder
der Offenbarung- so gibt es für ihn auch die prinzipielle Möglichkeit,
Offensichtliches auf Verborgenes hin zu deuten. Doch führen solche
Ausdeutungen in die Nähe willkürlicher Eindeutungen. Ein Beispiel:
Th. Haecker schreibt in seinem Tagebuch von 1939 bis 1945:
"Es kann für den Christen kein Zweifel bestehen, daß die Bedeu-
tung des äußeren Geschehens in einem erschreckenden Maße ver-
schieden sein kann. Unter Bedeutung ist hier verstanden die fernere
oder nähere Beziehung der Geschichte der Welt zur Geschichte des
Reiches Gottes. Der Christ kann nicht der Ansicht Rankes sein, daß
jede Zeit zu Gott gleich nahe steht. Oder kann er leugnen, daß Rom
unter Augustus, Judäa unter Herades und Pilatus, in entscheidende-
rer Beziehung zur Heilsgeschichte standen, als Europa unter Napo-
leon[ ... ]. Daß die heutige Geschichte eine solche nähere Beziehung
zur Heilsgeschichte hat, darüber werden viele mit mir einig sein.<<
Dazu wäre folgendes zu sagen: Die größere Nähe des Heilsgesche-
hens zu Rom unter Augustus ist nur weltgeschichtlich eine wirkliche
Nähe, heilsgeschichtlich aber ist diese wirkliche Nähe doch nur eine
scheinbare, denn die Beziehung des Heilsgeschehens zur Weltgeschichte
ist weltgeschichtlich unerweisbar und aus dem Glauben heraus nicht
fixierbar. Das faktische Zusammentreffen von »Rom unter Augustus<<
mit >>Christus<< schließt für das gläubige Denken nicht aus, daß sich
Gott tausend Jahre vorher oder zweitausend Jahre später, in Europa
unter Napoleon, oder in Rußland unter Stalin oder in Deutschland
unter Hit! er hätte offenbaren können, wenn er es so gewollt hätte. Und
da ferner das Heilsgeschehen zuerst und zuletzt überhaupt keine welt-
geschichtlichen Reiche, Nationen und Völker betrifft, sondern das Heil
einer jeden einzelnen Seele, so ist nicht einzusehen, warum das Chri-
196 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
2 Siehe die Interpretation des Römerbriefes, Kap. 9-11, von Erik Peterson,
Die Kirche aus Juden und Heiden, Salzburg 1933.
3 0. Cullmann, Königsherrschaft Christi und Kirche im Neuen Testament,
Zollikon-Zürich 1946, S. 35 f.; vgl. auch Christus und die Zeit, S. 99ff.
198 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
besteht aus Variationen des einen Themas: Gottes Ruf und des Men-
schen Antwort. Geschichte als >>Zwischenzeit<< zu erfahren bedeutet, in
einer äußersten Spannung zwischen zwei sich widerstreitenden Willen
zu leben, in einem Kampf, dessen Ziel weder ein unerreichbares Ideal
noch eine handgreifliche Realität ist, sondern das versprochene Heil.
Die christliche Behauptung, daß der ganze und einzige Sinn der
Geschichte vor und nach Christus auf dem geschichtlichen Auftreten
Jesu Christi beruhe, ist so seltsam und radikal, daß sie das normale
historische Bewußtsein alter und neuerer Zeiten nur vor den Kopf
stoßen kann. Für einen antiken Philosophen wie Celsus 4 ist die christli-
che Behauptung lächerlich anmaßend, weil sie einer unbedeutenden
Gruppe von Juden und Christen kosmische Bedeutung zuspricht. Für
einen modernen Philosophen wie Voltaire ist sie ebenso lächerlich, weil
sie eine besondere Geschichte des Heils und der Offenbarung von der
weltlichen und allgemeinen Geschichte der Zivilisation ausnimmt. So-
wohl Celsus wie Voltaire sind sich des skandalon eines Heilsgeschehens
bewußt. Sie hatten deshalb von ihm eine richtigere Auffassung als jene
liberalen Theologen, die die ''harten Tatsachen« der sozialen und öko-
nomischen Geschichte mit >>geistigen Werten<< von zweifelhafter Gül-
tigkeit ausschmückten und diese moderne Mischung von Tatsachen
und Werten eine »christliche<< Geschichtsdeutung nannten 5 • Die Mög-
lichkeit einer christlichen Geschichtsauslegung beruht weder auf der
Erkenntnis geistiger Werte noch auf der Einsicht, daß Jesus ein weltge-
schichtliches Individuum war, denn viele Individuen haben eine welt-
umfassende Wirkung gehabt und mehr als eines hat sich für einen
Erlöser ausgegeben. Die christliche Geschichtsauslegung steht und fällt
mit der Annahme, daß Jesus der Christus ist, d. h. mit der Lehre von der
Fleischwerdung Gottes.
Im Lichte des Glaubens betrachtet bilden die weltlichen Begeben-
heiten vor und nach Christus keine kontinuierliche Folge sinnvoller
Geschehnisse, sondern nur den äußeren Rahmen des Heilsgeschehens.
Ihre Wichtigkeit oder Unwichtigkeit bemißt sich an ihrer möglichen
Bedeutung für Gericht und Erlösung. Das historische Interesse des
Alten und Neuen Testaments hat daher eine ganz bestimmte Grenze; es
konzentriert sich auf die wenigen Personen und Ereignisse, welche die
9 Siehe C. H. Dodd, History and the Gospel, London 1938, S. 168; The
Apostolic Preaching and its Developments, London 193 6, Anhang über » Escha ·
tologie und Geschichte<<. Konsequenter als Dodd ist Bultmann, der die Entmy-
thologisierung nicht nur auf Anfang und Ende, sondern auf das ganze zeitliche
Gerüst des Neuen Testaments anwendet (Offenbarung und Heilsgeschehen,
1941, s. 28ff.).
10 Vgl. Cullmann, Christus und die Zeit, S. 81 ff.
11 Ebda. S. 115 ff.
12 Siehe R. Niebuhr, The Impact of Protestantism Today, Atlantic Monthly,
Februar 1948, S. 60.
Die biblische Auslegung der Geschichte 201
Alexander und Cäsar, Napoleon, Lenin und Hitler sind, ist Jesus Chri-
stus der Herr des Königreiches Gottes und der Weltgeschichte nur
insofern, als sie einen Bezug auf Gericht und Erlösung hat. Die einzel-
nen Geschichten der Welt gehören nur indirekt zu dem exklusiven, aber
universalen Heilsgeschehen und sind in sich selbst unvergleichlich mit
ihm. Nur als Hintergrund und als Werkzeuge eines göttlichen Vorha-
bens sind Reiche und weltgeschichtliche Individuen im Alten und Neu-
en Testament in den Gesichtskreis der biblischen Geschichtsauslegung
getreten.
Hinter den sichtbaren Personen und Ereignissen sind geheimnisvol-
le Mächte als ursprüngliche Kräfte oder archontes unsichtbar am Werk.
Seit Christus sind diese Kräfte bereits unterworfen und gebrochen;
trotzdem sind sie noch mächtig und wirksam. Unsichtbar hat sich die
Geschichte grundsätzlich gewandelt, aber sichtbar ist sie noch immer
dieselbe; denn das Königreich Gottes ist bereits erschienen, und den-
noch steht es noch aus als ein eschaton. Diese Zweideutigkeit ist we-
sentlich für alle Geschichte seit Christus: die Zeit ist schon erfüllt, aber
noch nicht vollendet 13 • Die Zeit zwischen Christi Auferstehung und
seiner Wiederkunft ist unwiderruflich die letzte; aber sie ist, solange sie
währt, die vorletzte Zeit vor der Vollendung des gegenwärtigen, wenn
auch verborgenen Reiches Christi in dem offenbaren Reich Gottes
jenseits aller geschichtlichen und historisch wißbaren Zeit. Infolge die-
ser tiefgründigen Zweideutigkeit der geschichtlichen Erfüllung, in der
alles »schon<< ist, was es »noch nicht<< ist, lebt der gläubige Christ in
einer radikalen Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft. Er hat
schon den Glauben und hofft noch. Er erfreut sich vertrauensselig
dessen, worauf er noch angstvoll wartet 14 •
Um die problematische Beziehung zwischen der >>realisierten Escha-
tologie« und ihrer künftigen Realität zu erhellen, verweisen wir auf 0.
Cullmanns Vergleich des eschaton mit dem Victory-Day. Im Verlaufe
eines Krieges kann die Entscheidungsschlacht lange vor dem tatsächli-
chen Kriegsende geschlagen worden sein. Nur wer den entscheidenden
Charakter dieser Schlacht erkennt, wird auch dessen gewiß sein, daß
von nun an der Sieg feststeht. Die meisten werden es nur glauben, wenn
der V-Day verkündet ist. So bringen Golgatha und die Auferstehung-
die entscheidenden Ereignisse des Heilsgeschehens - dem, der an den
Tag des Herrn glaubt, die Gewißheit der letzten Zukunft. Auf beiden
Ebenen, in der weltlichen und in der heiligen Geschichte, beruht die
Zukunftshoffnung auf dem Vertrauen in ein bereits geschehenes Ereig-
nis. Die Spannung zwischen der Entscheidungsschlacht und dem
schließliehen V-Day erstreckt sich über die ganze Zwischenperiode als
über die letzte, aber doch noch nicht endgültige Kriegsphase, denn das
Endziel ist ja der Friede. Das Ergebnis der Entscheidungsschlacht legt
nahe, daß das Ende schon da sei, und doch liegt es noch in unbestimm-
ter Ferne, denn niemand kann vorhersagen, welche Anstrengungen der
Feind noch machen mag, um seine endgültige Niederlage hinauszu-
schieben 15 •
das Ende der Geschichte ist aber der Glaube an die Tatsächlichkeit eines kom-
menden Reiches Gottes nicht unabhängig von der Frage nach der Zeit, und die
Unsicherheit des »Wann« vermag sehr wohl die Überzeugung zu erschüttern,
daß es überhaupt einen letzten Tag gibt. Das Vertrauen auf ein theologisches
eschaton steht und fällt mit dem Glauben allein. Und wenn Glaube und Hoff-
nung wirklich lebendig waren, dann waren sich die Gläubigen auch der sicheren
Nähe der letzten Dinge bewußt, während eine bloß hypothetische Bereitschaft
(»als ob« der letzte Tag täglich bevorstünde) einer Hoffnung entspricht, die
Althaus >> Fernerwartung« nennt, d. h. eine Hoffnung, die überhaupt keine echte
Erwartung ist.
16 Mark. 13,3ff. und 28ff.; Matth. 24,26f. und 36; Luk. 17,20f.; Apg. 1,6f.;
Thess. 5, 1 ff.
17 Vgl. Altbaus, a.a.O., S. 45 ff., über Glaube und Hoffnung; Kierkegaard,
Religiöse Reden, übersetzt von Th. Haecker, München 1922, S. 33 ff.
18 0. Cullmann, Die ersten christlichen Glaubensbekenntnisse, Zollikon-Zü-
rich 1943.
19 Bultmann überbetont mit Kierkegaard die jeweils gegenwärtige Möglich-
keit, von Jesus Christus hier und jetzt angesprochen und zu einer Entscheidung
aufgerufen zu werden. Diese »existentiale« Interpretation der christlichen
Eschatologie übersieht jedoch die Tatsache, daß die christliche »Entscheidung«
eben doch durch die Hoffnung auf eine künftige Erfüllung ermöglicht ist. Auch
204 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
für die Vorwegnahme des Todes, die Heideggers Analyse der endlichen Existenz
trägt, und die Bultmann zur Erläuterung der existenzialen Bedeutung des kom-
menden Reiches Gottes dient Oesus, Kap. Il, § 4), ist die Realitäteines künftigen
eschaton wesentlich. Heidegger und Bultmann behaupten beide, daß die ••ei-
gentliche<< Zukünftigkeit des menschlichen und göttlichen eschaton jeweils in
dem Augenblick unserer Entscheidung besteht. Sie verkennen die Tatsache, daß
weder der Bevorstand des Todes noch der eines Reiches Gottes eine Entschei-
dung veranlassen können, wenn sie nicht als wirkliche Ereignisse in der Zukunft
erwartet werden. Im Anschluß an Kierkegaards These von der >> Aneignung<< der
objektiven Wahrheit durch ein existierendes Individuum enteignet die existen-
zialphilosophische und existenzialtheologische Interpretation des Todes, bzw.
des Reiches Gottes, das eine wie das andere bis zur Unkenntlichkeit. Vgl. die
Kritik an Bultmanns existenzialer Eschatologie durch Althaus (a.a.O., S. 2ff.)
und Cullmanns Kritik an Kierkegaards existenzieller >>Gleichgültigkeit« (Chri-
stus und die Zeit, S. 128 und 148).
20 Luk. 3,1; 2,1.
Beschluß 205
Beschluß
Das Problem der Geschichte ist innerhalb ihres eigenen Bereiches nicht
zu lösen. Geschichtliche Ereignisse als solche enthalten nicht den min-
desten Hinweis auf einen umfassenden, letzten Sinn. Die Geschichte hat
kein letztes Ergebnis. Eine Lösung ihres Problems aus ihr selbst hat es
nie gegeben und wird es nie geben, denn die menschliche Geschichtser-
fahrung ist eine Erfahrung dauernden Scheiterns. Auch das Christen-
tum ist als historische Weltreligion gescheitert 1 • Die Welt ist noch
dieselbe wie zu Zeiten Alarichs; nur unsere Mittel der Vergewaltigung
und Zerstörung - wie auch des Wiederaufbaus - sind beträchtlich
vollkommener geworden.
21 Vgl. John Baillie, What is a Christian Civilization? New York, 1945. Für
eine extrem protestantische Beurteilung der Weltgeschichte s. Luther (Weim.
Ausg. XV, 370 und Briefe, V, 406).
22 Kol. 1,24.
1 Siehe N. Berdjajew, Der Sinn der Geschichte, deutsch von Taube, Tübingen
1950, S. 294f.; F. Overbeck, Christentum und Kultur, Basel1919, S. 72.
206 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Je weiter wir von der Geschichtsphilosophie des 19. und 18. Jahr-
hunderts zurückgehen zu ihrer ursprünglichen Entzündung am bibli-
schen Glauben, desto weniger finden wir - Joachim ausgenommen -
einen ausgearbeiteten Entwurf zu einem sinnvoll fortschreitenden Ge-
schehen. Hegel ist darin zuversichtlicher als Bossuet, Bossuet zuver-
sichtlicher als Augustin, Augustin zuversichtlicher als Paulus, und in
den Evangelien läßt sich nicht die geringste Andeutung einer Ge-
schichtsphilosophie entdecken, sondern nur die Botschaft von der Erlö-
sung durch Christus, und zwar von allem irdischen Geschehen. Die
Worte Jesu enthalten einen einzigen Hinweis auf die Weltgeschichte; er
trennt, was wir dem Kaiser und was wir Gott schuldig sind 2 • Der
hervorstechendste Zug an der christlichen Tradition ist gerade dieser
Dualismus: im alten Testament zwischen dem auserwählten Volk und
den Heiden, im Neuen Testament zwischen dem Reich Gottes und den
Maßstäben dieser Welt. Der eine ist ein Dualismus innerhalb der Ge-
schichte, während der andere die Welt einem übergeschichtlichen Reich
Gottes gegenüberstellt. Paulus kannte in gewisser Weise eine Theologie
der Geschichte, denn er verstand die Nachfolge der Heiden als Erfül-
lung der religiösen Geschichte der Juden. Doch auch er war an der
weltlichen Geschichte nicht interessiert. Augustin entwickelte die
christliche Geschichtstheologie mit Bezug auf die entgegengesetzten
Dimensionen der heiligen und der profanen Geschichte. Sie berühren
sich gelegentlich, im Prinzip sind sie jedoch geschieden. Bossuet erneu-
erte Augustins Geschichtstheologie, wobei er die relative Unabhängig-
keit der profanen Geschichte und ihre Wechselbeziehung zur sakralen
stärker betonte. Von der göttlichen Ökonomie in der Geschichte der
Welt wußte er viel mehr als Augustin und weniger als Hege!. Voltaire
und Vico emanzipierten die irdische Geschichte von der himmlischen,
indem sie die Religionsgeschichte der Geschichte der Zivilisation ein-
und unterordneten. Hegel verwandelte die christliche Geschichtstheo-
logie in ein spekulatives System. So bewahrte und zerstörte er zugleich
den Glauben an die Vqrsehung. Comte, Proudhon und Marx lehnten
die göttliche Vorsehung kategorisch ab und ersetzten sie durch den
Glauben an den Fortschritt. Sie verkehrten den religiösen Glauben in
das antireligiöse Unterfangen, voraussagbare Gesetze der profanen
nicht Individuen, sind das eigentliche Subjekt der Geschichte, und nur
ein heiliges Volk steht mit dem Herrn des Heilsgeschehens unmittelbar
in Verbindung.
Die Christen sind kein geschichtliches Volk. Ihre Zusammengehö-
rigkeit in der Welt gründet sich auf den Glauben allein. Die Heilsge-
schichte ist nach christlicher Auffassung nicht mehr an ein besonderes
Volk gebunden; sie ist international geworden, weil sie sich individuali-
siert hat. Im Christentum bezieht sich die Heilsgeschichte auf das Heil
der Einzelseele, gleichviel welcher rassischen, sozialen oder politischen
Zugehörigkeit. Der Beitrag der Nationen zum Reiche Gottes bemißt
sich an der Zahl der Auserwählten und nicht an gemeinschaftlicher
Leistung oder gemeinschaftlichem Versagen. Hieraus ergibt sich, daß
das geschichtliche Schicksal der christlichen »Völker<< unmöglich Ge-
genstand einer spezifisch christlichen Auslegung der politischen Ge-
schichte sein kann, wohingegen das Schicksal der Juden durchaus als
Gegenstand einer spezifisch jüdischen Interpretation denkbar ist. Selbst
wenn wir die traditionelle These übernehmen, daß die christliche Kir-
che aus Juden und Heiden die Nachfolgerindes auserwählten Volkes
ist, so bleibt sie doch der mystische Leib Christi, im Unterschied zum
geschichtlichen Charakter des auserwählten Volkes, das an ihm selbst
schon eine Kirche ist. Daraus folgt, daß eine jüdische Theologie der
Geschichte möglich und innerlich notwendig ist, während eine christli-
che Geschichtsphilosophie ein künstliches Gebilde darstellt. Sofern sie
wirklich christlich denkt, ist sie keine Philosophie, sondern ein Ver-
ständnis geschichtlichen Handeins und Erleidens im Zeichen des Kreu-
zes- ohne wesentliche Beziehung auf bestimmte Völker und welthisto-
rische Individuen- und sofern sie Philosophie ist, ist sie nicht christlich.
So ergibt sich die merkwürdige Situation, daß der Versuch einer Phi-
losophie der Geschichte zwar auf der biblischen Tradition beruht, daß
aber gerade diese Tradition den Versuch, das Wirken Gottes philoso-
phisch zu explizieren, vereitelt.
Die Behauptung, daß unser modernes historisches Bewußtsein sei-
nen Ursprung im biblischen Denken hat, indem es den Ausblick auf eine
künftige Erfüllung voraussetzt, bedarf jedoch einer Einschränkung. Es
muß unterschieden werden zwischen einer geschichtlichen Herkunft
und ihren möglichen Folgen. Gesetzt, daß jüdischer Messianismus und
christliche Eschatologie unserem nachchristlichen Verständnis der
Weltgeschichte den Horizont der Zukunft eröffnet haben, so dürfen wir
doch unser modernes, weltliches Denken nicht in das >>historische«
Beschluß 211
hens, dann ist eine >>christliche Geschichte« ein Nonsens. Die einzige,
obzwar gewichtige Rechtfertigung dieses widerspruchsvollen Kompo-
situms liegt in der Tatsache, daß die Weltgeschichte ihren heillosen Lauf
- trotz des eschatologischen Ereignisses, der eschatologischen Bot-
schaft und des eschatologischen Bewußtseins - fortgesetzt hat. Die
Welt nach Christushat sich die christliche Sicht auf ein Ziel und eine Er-
füllung angeeignet und zugleich den lebendigen Glauben an ein bevor-
stehendes eschaton verabschiedet. Wenn der moderne Geist, mit der
Erhaltung und dem Fortschreiten der gegenwärtigen Gesellschaft be-
schäftigt, nur die Nutzlosigkeit dieser eschatologischen Anschauung
sieht, so übersieht er, daß für die Gründer der christlichen Religion,
denen der Zusammenbruch der Gesellschaft als sicher und unmittelbar
bevorstehend erschien, die Konzentration auf letzte Fragen und eine
entsprechende Gleichgültigkeit gegen das, was inzwischen noch
geschehen mag, die vernünftige Konsequenz ihrer äußersten Erwartun-
gen war 6 •
Die Unmöglichkeit, ein progressives System der profanen Geschich-
te auf der Basis des Glaubens auszuarbeiten, hat ihr Gegenstück in der
Unmöglichkeit, einen sinnvollen Plan der Geschichte mittels der Ver-
nunft zu entwerfen. Dies bestätigt der gesunde Menschenverstand;
denn wer würde es wagen, ein endgültiges Urteil über Zweck und Sinn
zeitgenössischer Begebenheiten zu fällen? Tatsächlich stellen wir seit
Kriegsende Deutschlands Niederlage und Rußlands Sieg fest, Englands
Selbsterhaltung und Amerikas Machterweiterung, Chinas Revolution
und Japans Kapitulation. Aber was wir nicht sehen und nicht vorausse-
hen können, das sind die geschichtlichen Möglichkeiten, die in diesen
Fakten verborgen sind. Was 1943 möglich und 1944 wahrscheinlich
wurde, war 1942 noch nicht offenbar und 1941 höchst unwahrschein-
lich. Hitler hätte im Ersten Weltkrieg oder im November 1939 oder im
Juli 1944 umkommen können; er hätte auch Erfolg haben können,
zumal in der Geschichte oft das Unwahrscheinlichste wahr wird.
Die augenscheinliche Zufälligkeit geschichtlicher Ereignisse hat ei-
ne endlose Reihe von Beispielen. Das Christentum, das Tacitus und
Plinius für einen bedeutungslosen jüdischen Zank hielten, eroberte das
Römische Reich. Ein anderer Zank, nämlich der Luthers, spaltete die
christliche Kirche. Auch dann, wenn solche unvorhersehbaren Ent-
wicklungen zustande gekommen sind, sind sie keine unumstößlichen
nung einer höheren Macht'. Nur der erste sei mit dem christlichen
Glauben unvereinbar; der zweite könne durchaus mit ihm in Einklang
stehen, obwohl das Wortfatum ein unglücklicher Ausdruck für das
Gemeinte sei: sententiam teneat, linguam corrigat. Wenn »Schicksal«
eine höhere Macht bedeutet, über die wir nicht verfügen, sondern die
unsere Geschicke lenkt, dann ist das Fatum der göttlichen Providenz
vergleichbar 8 • Was immer die heidnische Antike vom Christentum
trennt, sie stimmen überein in der ehrfürchtigen Verehrung des Fatums
bzw. der Vorsehung und in der willigen Unterwerfung unter sie. Der
moderne weltliche Glaube an eine fortschreitende Beherrschbarkeit der
Welt wäre beiden als eine Gotteslästerung erschienen.
Weder das Christentum noch die Antike waren profan und fort-
schrittlich, wie wir es sind. Wenn das biblische und griechische Denken
über Geschichte irgendwo übereinstimmen, so in der Freiheit von der
Illusion des Fortschritts 9 • Der christliche Glaube an das unberechenba-
re Eingreifen der göttlichen Vorsehung, verbunden mit dem Glauben,
die Welt könne plötzlich an ihr Ende gelangen, hatte dieselbe Wirkung,
wie die griechische Lehre von wiederkehrenden Kreisläufen des Wach-
sens und Vergehens, nämlich die Wirkung, das Aufkommen eines Glau-
Geschichte in ein paradoxes Licht: sie ist christlich von Herkunft und
antichristlich im Ergebnis. Beide Aspekte ergeben sich aus dem weltli-
chen Erfolg des Christentums, und zugleich daraus, daß es ihm nicht
gelang, die Welt als Welt zum Christentum zu bekehren. Dieses Schei-
tern läßt sich auf zweierlei Weise erklären. Einmal materialistisch,
sofern es auf den >>ideologischen« Charakter der christlichen Botschaft
hinweist; zum anderen religiös, sofern es einen fundamentalen Satz des
Neuen Testaments bestätigt, nämlich den, daß das Reich Christi nicht
von dieser Welt ist. Keine dieser beiden Auslegungen erklärt jedoch den
merkwürdigen Zwiespalt unserer »christlichen Welt«, die ihre Hoff-
nung auf eine >>bessere Welt<< auf materielles Schaffen und Wohlerge-
hen setzt. Die zwei großen Triebkräfte der neueren Geschichte sind
nach Burckhardt das Streben nach Gewinn und der Wille zur Macht.
Beide sind an sich unersättlich, um so mehr, als sie von der eschatologi-
schen Hoffnung auf eine letzte Erfüllung genährt werden.
Die gesamte moralische und geistige, soziale und politische Ge-
schichte des Westens ist in gewissen Grenzen christlich, und doch
untergräbt sie das Christentum gerade dadurch, daß sie christliche
Grundsätze auf weltliche Dinge anwendet. Der Zerfall des orbis terra-
rum ist allenthalben das Werk des christlichen Okzidents. Europäer
entdeckten die alte östliche und die neue westliche Welt, sie verbreiteten
ihre Zivilisation mit missionarischem Eifer bis an die äußersten Enden
der Welt. Westliche Forscher und Reisende, Diplomaten und Geistli-
che, Ingenieure und Kaufleute entdeckten und erschlossen Amerika,
gründeten das Britische Weltreich, leiteten die Kolonialpolitik ein, lehr-
ten Rußland sich zu verwestlichen, und zwangen die Japaner, ihr Land
dem Westen zu öffnen. Und während der Geist des alten Europa verfiel,
stieg seine Zivilisation empor und eroberte die Welt. Es fragt sich, ob
dieser ungeheure Schwung westlicher Aktivität nicht mit dem ihr inne-
wohnenden religiösen Ferment zusammenhängt. Haben etwa der jüdi-
sche Messianismus und die christliche Eschatologie, wenn auch in ihren
verweltlichten Formen, jene Energien schöpferischer Tätigkeit ent-
facht, die den christlichen Okzident in eine weltumfassende Zivilisation
umgestalteten? Sicherlich war es keine heidnische, sondern die christli-
che Kultur, die diese Umwälzung hervorgebracht hat. Das Ideal der
modernen Wissenschaft 15, die Natur zu beherrschen, und die Port-
schrittsidee tauchten weder in der klassischen Welt noch im Osten auf,
sondern im Westen. Was aber setzte uns in Stand, die Welt nach dem
Bilde des Menschen neu zu gestalten? Hat sich etwa der Glaube, nach
dem Bilde eines Schöpfergottes geschaffen zu sein, die Hoffnung auf ein
künftiges Reich Gottes und das christliche Gebot, allen Völkern zu
ihrem Heil das Evangelium zu verkünden, in die weltliche Anmaßung
verwandelt, daß wir die Welt nach dem Bilde des Menschen in eine
bessere umformen und primitive Völker erlösen sollen?
Nachwort
1 Siehe K. v. Fritz, Pandora, Prometheus, and the Myth of the Ages, Review of
Religion, März 1947.
Nachwort 219
2 Vgl. Dante, Inferno, IV, 42; siehe auch W. R. lnge, The Idea of Progress,
Oxford 1920, p. 26 ff.
3 Röm. 8,24; Siehe die Analyse der Hoffnung bei G. Marcel, Homo viator,
Paris 1944, S. 39ff.; und Kierkegaard, Religiöse Reden, übersetzt von Th.
Haecker, S. 63 ff.
4 Siehe W. G. Kümmels Kritik an Dodds und Bultmanns Umdeutung des
eschatologischen Realismus im Neuen Testament, in: Verheißung und Erfül-
lung, Basel1945, S. 86 ff.; vgl. auch R. N. Flew, Jesus and His Church, 1938, S.
32, und 0. Cullmann, Christus und die Zeit, Zürich 1946, S. 33 ff., 82 f.
220 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Anhang I
1 Vgl. Donoso Cortes, a.a.O., über Häresie und Revolution, S. 306ff. Wie
Comte leitet Donoso Cortes die modernen Revolutionen von der >>großen Häre-
sie des Protestantismus<< ab, erkennt jedoch an, daß die besondere Radikalität
und die Zerstörerische Kraft dieser neuzeitlichen Revolutionen von einer Aneig-
nung christlicher Prinzipien abstammt: sie alle sind »in das Gewand des Evange-
liums gehüllt<<. Sie sind deshalb so gefährliche Häresien, weil sie sich aus dem
Glauben an eine endgültige Lösung und Erlösung nähren.
2 F. Schlegel, Athenäumsfragmente, Nr. 222.
224 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
3 Vgl. vom Verf., Von Hege/ zu Nietzsche, Stuttgart 1950, S. 49ff., 179ff.,
351 ff.
4 Siehe Anm. 4 zu Kap. III. Eine vergleichende Analyse von Hegels Philoso-
phie des >>Geistes<< und Joachims Prophetie findet sich bei]. Taubes, Abendlän-
dische Eschatologie, Bern 1947, S. 90ff.
5 Werke, II. Abt. IV., 294ff.; siehe auch E. von Hartmann, Religion des
Geistes.
Anhang! 225
Anhang II
1 Siehe] ohn N. Figgis, The Will to Freedom or the Gospel of Nietzsche and the
Gospel of Christ, New York 1917, S. 309 ff.
2 Nietzsches Jugendschriften, Ausgabe Musarion 1923, I, 60.
3 Vgl. in Nietzsches späteren Schriften das Sinnbild des Columbus: Die Mor-
genröte, § 575; das Gedicht Der Neue Columbus; Der Wille zur Macht, § 957.
230 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
vielleicht nur das »Zifferblatt<<, das auf die sich immer wiederholende
Bewegung eines Uhrzeigers verweist, der in keiner inneren Beziehung zu
den angezeigten Ereignissen steht? Oder gibt es einen Ring der Welt, der
die menschlichen Entscheidungen so gut wie die Naturereignisse um-
faßt? Können wir die Menschheit als deninnerstenKreis auffassen im
Kreise einer kosmischen Notwendigkeit, so daß die verborgene Feder in
der >>großen Uhr des Daseins<< 4 die Menschheit wäre? Um jedoch eine
solche Synthese zwischen dem freien, Geschichte schaffenden Willen
und dem universalen Fatum oder der Notwendigkeit alles Seienden zu
erfassen, müßte der Philosoph den allzu menschlichen Standort hinter
sich lassen, und die Dinge von einem übermenschlichen Standort aus
sehen. Es ist der Standpunkt, den Nietzsche in seiner Konzeption des
,, Übermenschen<< im Zarathustra gefunden hat, >> 6000 Fuß jenseits von
Mensch und Zeit<<. Zunächst stellt er jedoch die Antinomie zwischen
Wille und Fatum fest. >>In der Willensfreiheit liegt für das Individuum
das Prinzip der Absonderung, der Lostrennung vom Ganzen, der abso-
luten Unbeschränktheit; das Fatum aber setzt den Menschen wieder in
organische Verbindung mit der Gesamtentwicklung, und nötigt ihn,
indem es ihn zu beherrschen sucht, zur freien Gegenkraftentwicklung;
die fatumlose absolute Willensfreiheit würde den Menschen zum Gott
machen, das fatalistische Prinzip zu einem Automaten.<< 5 Dieses Pro-
blem könnte nur gelöst werden, wenn der freie Wille >>die höchste
Potenz des Fatums<< wäre.
Ein Jahr später verfaßte Nietzsche den Entwurf einer Autobiogra-
phie, in dem er erneut die Frage stellt, die er später mit dem Willen zur
ewigen Wiederkehr beantwortet hat. Nach einer S~hilderung seiner
christlich-protestantischen Herkunft bespricht er die Stufen, durch die
der Mensch all dem entwächst, was ihn einst behütet hat, um am Ende
die Frage zu stellen: >>Und wo ist der Ring, der ihn endlich noch umfaßt?
Ist es die Welt? Ist es Gott?<< Mit den Worten des reifen Nietzsche
bedeutet diese Alternative: Ist das oberste Maß unseres Daseins das Sein
der Welt oder der christliche Gott, der dieWeltaus dem Nichts erschuf?
Ist das höchste Sein ein göttlicher Kosmos, in dem alles immer wieder-
kehrt, oder ein persönlicher Gott, der sich einmal für immer in der
Menschheit und für sie im Zeichen des Kreuzes offenbart hat?
13 Ebda. S. 14.
14 Ebda. S. 278.
15 Ebda. S. 348 ff.
16 Ebda. S. 214ff.
234 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
17 Ebda. S. 410.
18 Ruhm und Ewigkeit, Teil4.
19 Zarathustra, S.. 166; vgl. Ecce Homo über Zarathustra; Götzendämmerung,
Nr. 49; Lieder des Prinzen Vogelfrei: An Goethe. Dementsprechend beschreibt
Nietzsche zusammentreffende Ereignisse in seinem eigenen Leben, z. B. die
Vollendung des Zarathustra und den Tod Richard Wagners, als »sublime Zufäl-
le«, die von einem notwendigen Schicksal zugeschickt sind.
Anhang Il 23 5
Verkünder der ewigen Wiederkehr 20 • Und wie das kritische Motiv des
Willens zur Macht die Umwertung aller christlichen Werte ist (der
»Antichrist<< ist das erste Buch des Willens zur Macht), so ist der
Zarathustra im Ganzen und in allen Einzelheiten eine Umkehrung der
christlichen Verkündigung und ihrer theologischen Voraussetzungen.
Die Lehre von der ewigen Wiederkunft verkehrt die Lehre von der
Schöpfung mit allen ihren Konsequenzen 21 • Dionysos und Zarathustra
sind beide gegen Christus. Die Freunde Zarathustras feiern sein Anden-
ken beim Fest des Esels 22 , der in seiner Einfalt nur immerzu »I-A<< sagen
kann.
Die Ewigkeit als das ewige Ja des Seins, das sich selbst im Kreislauf
wiederholt, bleibt das Leitmotiv von Nietzsches geistiger Passion. In
einem nach dem Ausbruch seiner Krankheit verfaßten Briefe an J.
Burckhardt bekennt Nietzsche, er hätte zwar vorgezogen, ein Basler
Professor zu bleiben, habe aber keine andere Wahl gehabt, als sich
selbst zu opfern, als >>der Narr der neuen Ewigkeiten<<. Die neue Ewig-
keit, die Nietzsche als Antichrist wiederentdeckte, ist die alte des kosmi-
schen Kreislaufs der Heiden.
Wenn es so etwas wie eine >>Ideengeschichte<< gibt, dann ist Nietz-
sches Wiederholung dieser klassischen Idee nach zweitausend Jahren
christlicher Tradition ein erstaunliches Beispiel für sie 23 • Es ist der
Widerwille gegen das zeitgenössische Christentum, der in ihm die Wie-
derholung einer Idee hervorrief, die die Grundlage des heidnischen
Denkens war. Am Ende eines ausgelaugten Christentums mußte er nach
>>neuen Quellen der Zukunft<< suchen, und er fand sie im klassischen
Altertum. Der Tod des christlichen Gottes weckte in ihm das Verständ-
nis für die antike Welt. Es ist von zweitrangiger Bedeutung, daß ihm
diese Welt durch seine beruflichen Studien als klassischer Philologe
bekannt war. Viele Forscher waren mit der Lehre der ewigen Wieder-
kehr vertraut, wie sie bei Heraklit und Empedokles, Platon und Aristo-
teles, Eudemos und den Stoikern vorkommt, aber nur Nietzsche er-
kannte in ihr schöpferische Möglichkeiten für die Zukunft im Gegen-
zug gegen ein Christentum, das auf Moral reduziert war 24 • Indem er die
Idee der ewigen Wiederkehr wiederholte, bewährte er seine eigene
Einsicht 25 , daß die Geschichte des Denkens ein Grundschema von
möglichen Philosophien immer wieder ausfüllt und im Banne einer
Notwendigkeit in einen uralten »Gesamt-Haushalt der Seele« zurück-
kehrt.
Nietzsche wußte nicht, daß sein eigenes contra Christianos eine
genaue Wiederholung des contragentiles der Kirchenväter, mit umge-
kehrtem Vorzeichen war. Nicht nur die Lehre von der ewigen Wieder-
kunft, die von Justinus, Origenes und Augustin polemisch erörtert
wurde, sondern alle Hauptargumente der christlichen Apologeten ge-
gen die heidnischen Philosophen tauchen vom entgegengesetzten
Standpunkt aus in Nietzsche wieder auf. Wenn man seine Argumente
mit denen des Celsus und Porphyrius vergleicht, dann ist es nicht
schwer zu bemerken, wie wenig zu den antiken Argumenten gegen das
Christentum hinzugefügt wurde, mit Ausnahme des christlichen Pa-
thos, das Nietzsche als »Antichrist« sprechen ließ, und nicht mehr als
Philosoph. Für Celsus wie für Nietzsche ist der christliche Glaube roh
und absurd. Er zerstört die Vernünftigkeit des Kosmos durch einen
willkürlichen Eingriff. Die christliche Religion ist für beide eine um-
stürzlerische Revolte des ungebildeten Volkes, das keinen Sinn für
aristokratische Tugenden, bürgerliche Verpflichtungen und ange-
stammte Traditionen hat. Ihr Gott ist schamlos neugierig und allzu-
menschlich, »ein Gott aller dunklen Winkel<< und ein Stab für die
Müden. Wenn die einzige Frage von wirklicher Bedeutung das Seelen-
heil jedes Einzelnen ist, warum dann, fragt Nietzsche wie Celsus, Ver-
antwortlichkeit für die öffentlichen Angelegenheiten und Dankbarkeit
für gute Herkunft? Diese »heiligen Anarchisten<<, Christen genannt,
rechneten es sich zur Frömmigkeit an, das Imperium Romanum so
die Zukunft gerichtet ist, obwohl der ewige Kreislauf des Kosmos
jenseits von Wille und Vorsatz ist. Für die Griechen offenbarte die
Kreisbewegung der himmlischen Sphären einen universalen Logos und
eine göttliche Vollendung; für Nietzsche ist die ewige Wiederkunft der
»schrecklichste<< Gedanke und das »größte Schwergewicht<< 29 , weil er
im Widerspruch mit seinem Willen zu einer künftigen Erlösung ist. Für
die Griechen erklärte die ewige Wiederkehr von Zeugung und Verfall
den beständigen Wandel in der Natur wie in der Geschichte; für Nietz-
sche erfordert die Anerkennung einer ewigen Wiederkehr einen Stand-
ort >>jenseits von Mensch und Zeit«. Die Griechen empfanden Furcht
und Ehrfurcht vor dem Fatum; Nietzsche machte die übermenschliche
Anstrengung, es zu wollen und zu lieben. Unfahig seine Schau theore-
tisch als eine höchste Ordnung des Seins alles Seienden zu entfalten,
führte er sie zunächst als einen ethischen Imperativ ein. Die Theorie
einer ewigen Wiederkehr wurde für ihn zu einer praktischen Hypothese
und zu einem >>Hammer<<, um den Menschen die Idee einer absoluten
Verantwortlichkeit einzuhämmern, die das Gefühl der Verantwortung
ersetzen sollte, das lebendig war, solange die Menschen in der Gegen-
wart Gottes lebten und in der Erwartung eines Jüngsten Gerichts.
Weil sich der Wille nicht in einem Kreis, sondern in einer nicht
umkehrbaren Richtung bewegt, entsteht für Zarathustra das Grund-
problem der >>Erlösung<< des Willens durch und von sich selber 30• Aber
wie soll sich der Wille in das zyklische Gesetz des Kosmos einfügen
können, wenn im Kreise jede Bewegung nach vorne zugleich eine rück-
wärtsgerichtete ist? Nietzsches Antwort lautet: Der Wille muß sich
selber von sich selbst erlösen, indem er lernt auch >>rückwärts zu wol-
len<<, Er muß das Ungewollte willig auf sich nehmen, d.h. die Vergan-
genheit alles dessen, was schon geschehen und da ist, ohne daß wir es
selber gewollt haben, insbesondere das schon geschehene Faktum unse-
rer eigenen Existenz. All dieses Wollen, Schaffen und Zurückwollen ist
völlig ungriechisch, unklassisch, unheidnisch; es stammt aus der jü-
disch-christlichen Tradition, aus dem Glauben, daß Welt und Mensch
durch Gottes Willen geschaffen sind. Nichts ist in Nietzsches Philoso-
phie so auffallend wie die Betonung unseres schöpferischen und wil-
lensmäßigen Wesens, schöpferisch durch den Willensakt, wie bei dem
Gott des Alten Testaments. Für die Griechen war das Schöpferische des
Menschen eine >>Nachahmung der Natur<<.
29 Die Fröhliche Wissenschaft, § 341.
30 Zarathustra, Teil li, >>Von der Erlösung«, S. 180.
Anhang II 239
31 Ebda. S. 25 ff.
32 Für eine eingehende Behandlung der Aporien in Nietzsches Lehre siehe vom
Verf. Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, neu bearbei-
tete Ausgabe, Stuttgart 1956 [vorgesehen für Band VI der Sämtlichen Schriften].
33 Zarathustra, S. 330.
Editorisches Nachwort
Von Bernd Lutz
Als der Druck der Deutschen Botschaft in Tokyo auf die japanische
Regierung zu stark wurde, hat Kar! Löwith sein japanisches Exil verlassen
- einen Tag vor dem Überfall der Japaner auf den amerikanischen
Flottenstützpunkt Pearl Harbour -, um auf Vermittlung der beiden
Theologen Reinhold Niebuhr und Paul Tillich eine Stellung am ameri-
kanischen Theologischen Seminar in Hartford (Conn.) anzutreten. Im
Zuge dieser neuen Tätigkeit beschäftigte sich Löwith mit der frühkirch-
lichen Patristik, die in seinen Augen eine markante Bruchstelle zur anti-
ken Geschiehtsauffassung bildete. Löwith fasste den Plan, die endzeit-
liehen, d.h. eschatologischen Strukturen christlicher Heilserwartung und
Heilsgewissheit auf deren >>Nach<<-Geschichte in der bürgerlichen
Geschichtsphilosophie bis Hege!, Comte und Marx zu übertragen und
deren Mythologisierung des geschichtlichen Fortschritts als endzeitliches,
theologisches Residuum darzustellen. Den verschärften Leitgedanken des
so entstandenen Buchs Weltgeschichte und Heilsgeschehen hat Löwith in
der Festschrift für Martin Heideggers 60. Geburtstag veröffentlicht
(1950; abgedruckt in KL., Sämtliche Schriften, Band 2, Stuttgart 1983).
Er vertrat darin die Auffassung, dass Heideggers schwungvoll propagierte
Erneuerung der Philosophie trotz ihrer waghalsigen Annäherung an die
vorsokratische Überlieferung nie den christlichen Horizont heilsge-
schichtlicher Erwartung verlassen hat. >>Das Buch Kar! Löwiths ist das
Dokument einer vieldeutig schillernden Krise des historischen Bewusst-
seins, ein ,Abschied von der historischen Geschichtsauffassung. Es ist der
Versuch, zwischen völliger Preisgabe der Überlieferung und historischer
Benebelung die Mitte zu gewinnen, zurückzukehren zur Unbefangenheit
ursprünglich betrachtenden Sinnes, und ein Versuch, die Erkenntnis-
fähigkeit, alle Wertung und Beurteilung der Geschichte in jener Relati-
vität zu sehen, die unserer Einsicht zugehört. So wird sein Buch durch
Absicht und Ansatz zu einer Kritik der historischen Vernunft<<, schrieb
wohlmeinend die Frankfurter Allgemeine Zeitung bei Erscheinen der deut-
sehen Ausgabe von Weltgeschichte und Heilsgeschehen.
Das Buch ist zuerst in englischer Sprache unter dem Titel Meaning in
History. The theological implications of the philosophy of history (Chicago/
London: The University of Chicago Press, 1949) erschienen und hat bis
1970 zehn Auflagen verzeichnet. Als Vorfassung des Buchs ist der in der
amerikanischen Zeitschrift Social Research (New York) 13, 1946, S. 51-80
242 Editorisches Nachwort
After I had finished this small study of the !arge topic of Weltgeschichte
and Heilsgeschehen 1, I began to wonder whether the reader might not be
disappointed by the Iack of >constructive< results. This apparent Iack is,
however, a real gain if it is true that truth is more desirable than illusion.
Assuming that a single grain of truth is preferable to a vast construct of
illusions, I have tried to be honest with myself and, consequendy, also
with my reader about the possibility, or rather the impossibility, of impo-
••Salvation« does not convey the many connotations of the German word Heil,
which indicates associated terms like »heal<< and »health,<< >>hail<< and »hale,<<
»holy<< and »whole,<< as Contrasted with »sick,<< >>profane,<< and »imperfect.<<
Heilsgeschichte has, therefore, a wider range of meaning than >>history of sal-
vation.<< At the same time, it unites the concept ofhistory more intimately with
the idea of Heil or »Salvation.<< Weltgeschichte and Heilsgeschichte both cha-
racterize the events as worldly and sacred, respectively. In the German com-
pound nouns history is conceived not as an identical entity, related only exter-
nally to world and salvation but as determined either by the ways of the world
or by those of salvation. They are opposite principles of two different patterns
of happenings. This difference does not exdude, but rather implies, the
question of their relation {see G. van der Leeuw, Religion in Essence and
Manifestation [London, 1938], p. 101).
Editorisches Nachwort 243