Jeder Mensch hat neben der guten auch eine böse Seite (imago/Photocase)
Nichts fasziniert Menschen so sehr wie das Böse. Es ist allgegenwärtig und
bedroht jeden, es führt in Versuchung mit einem süßen Gift, dem sich kaum
jemand auf Dauer erwehren kann. Jede Gesellschaft, jede Religion, jede Kultur
muss sich mit den dunklen Seiten der menschlichen Existenz auseinandersetzen.
Was ist das Böse? Wie geht die Gesellschaft mit ihm um? Warum springt manches
Böse überdeutlich ins Auge, während es an anderer Stelle und in anderer Form
kaum wahrgenommen wird?
München, „Museum Fünf Kontinente“. Ein prachtvoller Bau in der Maximilianstraße,
dessen Geschichte weit zurückreicht. 1862 als erstes ethnologisches Museum in
Deutschland mit dem Namen „Königlich Ethnographische Sammlung“ gegründet,
besitzt es mittlerweile eine der größten völkerkundlichen Sammlungen
Deutschlands: 160.000 Objekte außereuropäischer Kulturen haben die Ethnologen
gesammelt, 135.000 Fotografien sowie eine Fachbibliothek von mehr als 100.000
Bänden. Hohe Hallen, leicht gedämpftes Licht, nirgendwo Enge – eine angenehme
Atmosphäre. Dr. Stefan Eisenhofer, Kurator der Abteilung „Afrika und
Nordamerika“, führt an diesem Vormittag durch die Afrika-Sammlung, zeigt große
Figuren, kleine Masken und bleibt schließlich vor einer Vitrine mit einem seltsamen,
etwa 50 Zentimeter langen und 20 Zentimeter hohen Objekt stehen.
„Und zwar handelt es sich hier um eine Kraftfigur, lange Zeit in Europa und in der
westlichen Welt auch als Nagelfetisch bezeichnet, ein doppelköpfiger Hund, in den
Metallnägel und Metallteile getrieben, geschlagen wurden. Dieser doppelköpfige
Hund blickt mit einem Gesicht in die Welt der Lebenden, also in unsere diesseitige
Welt, mit dem anderen Kopf in die Welt der Toten, der Gestorbenen, der Ahnen,
also in die jenseitige Welt.“
Die Ethnologen dachten lange, die Menschen im Kongo sähen im Nagelhund einen
Teufelsdiener“, eine Figur, die Böses über einzelne Personen, Familien, ja ganze
Stämme bringen kann.
„Letztlich ist es aber aus der einheimischen Sicht in der Kongoregion komplexer
und komplizierter. In diesen Figuren sind Kräfte, mächtige Kräfte, gebündelt, und
diese Kräfte sind per se nicht gut oder böse, sondern einfach wirksam. Das
Schädliche oder das Nützliche entsteht erst durch den Kontext und die Intention,
die Absicht des Ritualspezialisten, der die Kräfte, die in der Figur gebunden sind,
befreit und lenkt.“
„Es ist tatsächlich Grauzone, Verhandlungssache, und tendenziell ist es so, dass
das, was der Gemeinschaft nutzt, der Familie, der Gemeinschaft, der Ortsgruppe,
dem Dorf, das wird, ja, nicht unbedingt als Gut oder Böse bezeichnet, sondern als
förderlich, der Gemeinschaft dienlich, Fruchtbarkeit fördernd, während die anderen
Aspekte eben das Zerstörerische sind.“
Gutes, Förderliches und Fruchtbares nutzt der Gemeinschaft, das Böse, das
Zerstörerische schadet ihr. Eine Vorstellung, die sich wie ein roter Faden durch die
Ideenwelt vieler indigener Völker ziehen. Gut ist eine harmonische Gesellschaft,
böse, wenn etwas die Harmonie stört. Raub und Mord etwa, Krieg und Krankheit.
Der Verursacher des Bösen, der Dieb, der Mörder, wird erst in einem zweiten
Schritt benannt und haftbar gemacht. Ganz anders als in westlichen
Gesellschaften, die böse Taten sofort einer Person zuordnen.
„Für mich persönlich ist das Böse, wenn ein Mensch seine persönlichen Interessen
ganz bewusst über die anderer stellt und entscheidet, um irgendein Bedürfnis zu
befriedigen, anderen Menschen zu schaden. Wenn es das bewusst und in klarem
Wissen, dass das so ist, entscheidet, dann ist das für mich eine unsoziale
Entscheidung, und unsoziale Entscheidungen könnte man als böse bezeichnen.“
Jeder Mensch ist Gut und Böse gleichermaßen, blickt wie der Krafthund aus dem
Kongo symbolisch in zwei Welten. Welche Ursprünge das Böse und das Gute
haben, ist damit nicht beantwortet. Diese Frage untersuchten drei Psychologen aus
Ulm, Landau und Kopenhagen in einer von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft geförderten Studie. Haben Egoisten, Machiavellisten,
Narzissten, Psychopathen und Sadisten einen gemeinsamen Nenner, fragten sie,
gibt es einen „dunklen Faktor der Persönlichkeit“ – den D-Faktor – auf den sich
alles Böse zurückführen lässt?
„Die Definition, die wir erarbeitet haben, besteht darin, dass das letztlich die
Tendenz ist, seinen eigenen Nutzen oder seine eigenen Interessen permanent vor
alles andere zu stellen, über alles andere zu stellen, und dabei die Kosten, die das
für andere oder für die Gesellschaft hat, zu ignorieren, manchmal sogar diese
Kosten aufzusuchen, also absichtlich anderen zu schaden.“
„Und das Ganze geht dann noch einher mit Überzeugungen, die dazu dienen als
Rechtfertigung. Ich kann zum Beispiel davon überzeugt sein, dass ich nun mal
überlegen bin und deshalb das darf, meinen eigenen Nutzen allen voranstellen.
Oder ich kann überzeugt sein, dass die Welt sowieso schlecht ist und jeder nur für
sich selbst kämpft und so weiter. Das heißt zusammengefasst, es ist eine Art
übertriebener Egoismus, der im Zweifel sogar über Leichen geht, also Kosten
anderer in Kauf nimmt oder ignoriert oder sogar aufsucht, einhergehend mit
bestimmten Überzeugungen, die einem als Rechtfertigung dienen.“
„Was wir nicht tun wollen und tun können, ist, unterscheiden zwischen einem
gesunden und einem ungesunden Ausmaß, sondern es gibt eine Dimension. Es
fängt an bei gar keinem Egoismus und endet bei extremen Egoismus, und der
wesentlich Punkt ist, dass dieser dunkle Faktor nicht nur bedeutet, dass man seine
Interessen durchsetzt, sondern dabei auch über Leichen geht und anderen Kosten
verursacht. Wenn Sie jetzt sagen, das ist doch typisch für einen Politiker, würde ich
sagen, das mag sein, dann ist es in unserer Gesellschaft vielleicht so, dass wir
tendenziell Menschen mit einem höheren D-Faktor für diesen Beruft für geeignet
halten.“
Woraus auch folgt: Bei manchen egoistischen Menschen stellt sich erst im
Nachhinein heraus, ob sie als Kriminelle enden oder als Bundeskanzler respektive
Bundekanzlerin.
„(Lacht) Also, das haben Sie gesagt, das hätte ich mir so nicht ausgedacht in
dieser extremen Form, aber im Prinzip stimmt das natürlich. Man könnte zwei
Personen sich vorstellen mit gleichermaßen hohen Werten auf diesen Faktor, die
sehr unterschiedlich enden in unserer Gesellschaft, aber das macht ja auch Sinn,
denn wo man endet, wird von ganz vielen anderen Faktoren abhängig sein. Mit
Sicherheit von dem sozialen Kontext, in dem man aufwächst, den Chancen, die
man so hat, dem Bildungsniveau möglicherweise und so weiter, und so fort. Wie
sehr sich unsere Eigenschaften niederschlagen in unserem Leben, hängt immer
massiv von den Randbedingungen ab.“
Wie die dunklen Eigenschaften entstehen, kann Benjamin Hilbig nicht erklären.
„Aber die Frage, wie entstehen Eigenschaften, ist eine, die in der
Persönlichkeitsforschung schon seit Jahrzehnten im Grunde gestellt wird, und es
gibt sicher Hinweise, dass sowohl genetische Faktoren eine Rolle spielen, als auch
eben, ich sag mal, sozialer Kontext. Das gilt für die allermeisten Eigenschaften, die
es in der Persönlichkeitsforschung so gibt. Ich würde mal wagen, zu behaupten, es
ist sehr wahrscheinlich, dass es für „D“ auch gilt, also eine Mischung aus erblichen,
vielleicht sogar biologischen Faktoren, als auch Umfeld, Erziehung und so weiter,
und so fort.“
„Anfällig für solche Serientötungen in Kliniken und Heimen sind Menschen, die von
Haus aus in besonderer Weise selbst unsicher sind, im tiefen Kern selbst unsicher
sind und in besonderer Weise angewiesen sind zur Stabilisierung ihrer eigenen
Person auf Anerkennung und Wertschätzung und Lob von außen.“
Karl Beine, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten-
Herdecke und Chefarzt am St. Marien-Hospital in Hamm.
„Und wenn bei der Berufswahl das Motiv der Anerkennung, der Wertschätzung
überwiegt oder ausschließlich die Berufswahl erfolgt, um eigene
Selbstwertprobleme zu kompensieren, dann ist die Enttäuschung vorprogrammiert,
weil, der Berufsalltag in deutschen Krankenhäusern ist hart.“
Mit der Zeit baut sich Frustration auf, der Stresslevel steigt, Sprachlosigkeit macht
sich breit.
Weder sucht er professionelle Hilfe durch Therapeuten, noch das Gespräch mit
Kollegen oder Vorgesetzten.
„Und es kommt dann dazu, dass der Täter meint, mit seinem Eingreifen, also mit
der Tötung von Menschen, dem Betroffenen etwas Gutes zu tun. Im Kern erlöst er
sich aber selber von dem für ihn unerträglichen Anblick und befreit sich damit aus
einer Situation, jedenfalls für den Moment, aus dem er meint, sich nicht anders
befreien zu können.“
Der Täter füllt die eigene Leere, indem er sich zum Herrn über Leben und Tod
aufschwingt. Weil das befreiende Gefühl nach einem Mord nicht lange anhält, tötet
er schließlich in immer kürzeren Takten. Und weil im Krankenhaus der Tod normal
ist, fällt niemandem auf, dass in bestimmten Schichten besonders viele Patienten
sterben. Wenn doch, wiegeln die Verantwortlich häufig ab: Der Täter oder die
Täterin wird mit einem guten Zeugnis versehen entlassen, Stress mit der Polizei
stört nur die Klinikabläufe. Die Gesellschaft, zumindest die unmittelbar involvierten
Gruppen und Kreise, tragen bei solchen Taten immer eine Mitverantwortung. So
auch beim Missbrauchsfall von Staufen, wo die eigene Mutter die Haupttäterin ist.
Die eigene Mutter?
Die Vorstellung einer aktiv ihr Kind misshandelnden Mutter stellt immer auch das
Wertesystem der Gesellschaft in Frage. Daher verweigert sich die Gesellschaft oft
der Tatsache, dass auch Frauen Täterinnen sind – so die Kölner
Kriminalpsychologin Lydia Benecke.
Und zwar nicht, weil sie geschickter sind und sich nicht erwischen lassen, sondern
weil Missbrauch von Frauen selbst von den Opfern häufig nicht als Missbrauch
erkannt wird. Frauen sind im Wertesystem westlicher Gesellschaften eher gut als
böse. Dies aufzubrechen ist schwer.
„Es hat uns niemand ein leichtes Leben versprochen, und selbstverständlich ist es
mit Anstrengungen verbunden, für die eigene Überzeugung einzustehen und das
Böse anzuschuldigen und das Böse zu erkennen.“
Ziel müsse sein, so Karl Beine, Psychiater an der Universität Witten-Herdecke, die
dunklen Eigenschaften im Menschen im Zaum zu halten.
„Wir wissen, wo Gefahrenquellen liegen für bösartige Entartungen, das wissen wir
in den Familien, das wissen wir in den kleineren und größeren Gruppen und das
wissen wir auch für die Gesellschaft. Wir müssen uns erinnern, wir müssen
verantwortlich durcharbeiten, was uns in der Vergangenheit widerfahren ist und
dafür sorgen, dass das Risiko möglichst gering bleibt, dass das Böse Platz greift,
dass das Böse die Überhand gewinnt.“