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Lampadius:

Compendium Musices, Bern 1537


Ein Kompendium der Musik, des figuralen
[1]
COMPENDIUM MUSICES, TAM wie auch des einstimmigen Gesangs, in
FIGURATI QUAM PLANI CANTUS ad Dialogform, zum Gebrauch der einheimischen
formam Dialogi, in usum ingenuae pubis ex Jugend aus den gelehrtesten Schriften der
eruditissimis Musicorum scriptis accurate Musiker sorgfältig zusammengestellt, wie es
congestum, quale ante hac nunque visum, et bisher noch nicht zu sehen war und nun frisch
iam recens pulicatum. Adiectis etiam regulis veröffentlicht worden ist. Unter Hinzufügung
Concordantiarum et componendi Cantus auch der Konsonanzenregeln und der Kunst
artificio, summatim omnia Musices praecepta der Gesangskomposition, summarisch alle
pulcherrimis exemplis illustrata, succincte et Vorschriften der Musik, an herrlichsten
simpliciter complectens. Beispielen illustriert, in knapper und
einfacher Form enthaltend.

PRAETEREA ADDITAE SUNT Ferner sind auch die Regeln zum Singen der
FORMULAE INTONANDI PSALmos, et Psalme und die Lehre vom Kirchenakzent,
ratio accentus Ecclesiatici, legendorum also von der Art wie das Evangelium und die
quoque Evangeliorum et Epistolarum. Episteln zu lesen sind, hinzugefügt.

Ab AUCTORE LAMPADIO Luneburgensi Von Auctor Lampadius aus Lüneburg


elaborata. ausgearbeitet.
[2]
IN LAUDEM MUSICES IOANNES Lob auf die Musik, von Johannes Telorus
TELORUS

QUEM non delectet divinae Musica mentis? Wen beglückte nicht die Musik des göttlichen
Cui non organicos suscitet illa sonos? Geistes?
Musa sonis penetrat sensus, et pectora mulcet Wem entlockte jene nicht die Klänge der
Haec vitae comes est, gaudia mentis habet. Instrumente?
Haec decus, haec ipsa est hominumque Die Muse durchdringt mit Klängen die
Deumque voluptas Sinne und besänftigt die Gemüter.
Qua sine nil animis, complacet usque pijs. Sie ist des Lebens Gefährtin, umfasst die
Spiritus ac veluti corpus sustentat et auget. Freuden des Geistes.
Musica sic animos excitat atque fovet. Sie ist Zierde, sie selbst ist das Vergnügen
Aethereis Sphaerarum vocibus ipsa resultat der Menschen und der Götter,
Musica vox, vocum quae parit omne melos. ohne sie sind die Seelen nichts, sie gefällt
Numinis haec habet afflatus, dulcedine cantus stets den Frommen.
Permovet atque rapit quodque sonare Wie sie den Geist und den Körper stärkt und
valens. fördert,
Musica sic placeat multis et millibis unum So erregt und heilt die Musik die Seelen.
Virtutis munus, quod colat omnis homo. Der Ton der Musik widerhallt sogar in den
himmlischen Klängen der
Planetenbahnen, er erzeugt allen Gesang der
Stimmen.
Sie bewahrt den Hauch Gottes, ihr Gesang
bewegt und ergreift
durch Lieblichkeit, was klingen kann.
Die Musik als einziges Geschenk der Tugend,
gefalle so vielen und Tausenden,
dass jeder Mensch sie verehren möge.

1
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[3]
STUDIOSO MUSICES Eberardus ab Vom Studenten der Musik, Eberhard von
Rumlago Vituduranus. Salve Rümlang, Winterthur. Sei gegrüsst!

Si alio nullo merito certe propter vetustatem Wenn aufgrund keines anderen Verdienstes,
et inventores Musica omnibus iure so gewiss wegen ihres ehrwürdigen Alters
commendatissima extiterit: cui priscis und der Erfinder erschien die Musik mit
temporibus tantum et studij ac venerationis sit Recht allen als höchst lobenswert: ihr wurde
habitum, ut ijdem Musici (Quintiliano teste) in den alten Zeiten soviel Eifer und
et Vates et sapientes iudicarentur. Propterea Verehrung zugedacht, dass jene Musiker (wie
quod haec cum divinarum rerum cognitione es Quintilian bezeugt) für Propheten und
coniuncta, sacris etiam plerunque adhibita Weise gehalten wurden. Deswegen also ist sie
fuerit, atque hoc ipsum non sine maxima mit der Erkenntnis der göttlichen Dinge
ratione, perspexere enim sapientes viri verbunden und wurde meistens auch bei
plerasque liberales disciplinas, in his quae Opferungen angewandt; indes - dies selbst
extrinsecus adveniant occupatas, hanc vero nicht ohne den grössten Verstand - erkannten
solam penitius ab spiritus arcano proficisci ut nämlich die weisen Menschen, dass die
nullo certiori teste, quicquid in animo meisten freien Künste mit dem beschäftigt
versemus, nisi vocis modulamine sind, was von aussen herankommt, dass diese
significemus, utpote quae re conditißimas allein aber tief drinnen vom Geheimnis des
cogitationes mentis perspectas, et exploratas Geistes ausgeht, so dass - was auch immer im
habeat, unde etiam mos inolevit, ut si qui Geiste wir überlegen - wir uns durch keinen
pietatem, quam devotionem erga deum zuverlässigen Zeugen ausser durch den
appellant, testari voluerint, hoc non absque Gesang der Stimme ausdrücken, der ja
vocis significatione praestiterint, testem tatsächlich die verborgensten Gedanken des
videlicet adhibentes, qui ut dißimulare nolit Geistes erkannt und erforscht hat, woher auch
sic etiam nesciat. Quod ubique ex divinis die Sitte erwuchs, dass wenn einige die
atque prophanis literis vatumque canticis Frömmigkeit, die sie Demut gegenüber Gott
potißimum tamen psalmographo, luculenter nennen, bezeugen wollten, dies nicht ohne
apparet. Ad haec apud priscos gratulandi Nachdruck der Stimme verrichteten, und so
officium si quis novam vineam plantasset, nämlich einen Zeugen hinzuzogen, der sich
novas aedes incoleret, aut aliud quippiam novi weder verstellen will noch kann. Das wird
exorsus fuisset, sicut etiam annona collecta überall aus den göttlichen und profanen
gratias canebant, non nisi Musices praesidio Schriften und Gesängen der Propheten, am
peragebatur: meisten jedoch aus den Psalmen glänzend
offenbar. Dazu wurde bei den ganz Alten die
Zeremonie des Glückwünschens, wenn
jemand einen neuen Weinstock gepflanzt
hatte, ein neues Haus bewohnte, oder
irgendetwas anderes Neues begonnen hatte,
so wie man auch nach dem Sammeln des
Getreides die Dankbarkeit besang, bloss unter
dem Geleit der Musik durchgeführt:

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Sed quando nemo sanus, hanc ingenu- [4] am Indessen verschmäht aber kein Vernünftiger
disciplinam aspernetur, quod ab probatißimis diese edle Disziplin, weil sie von den
magno semper in precio sit habita, atque hinc Bewährtesten immer in grosser Ehre gehalten
miris et condignis praeconijs celebrata, und daher in wunderbaren und höchst
maximi tamen faciendam vel ipsa Natura würdigen Lobpreisungen gefeiert wurde, und
demonstrat, quod haec plurima nobis selbst die Natur zeigt, dass man sie aufs
adminicula praestiterit ad huius officium Höchste schätzen muss, weil diese uns am
explendum, vocisque flexum recte meisten Beistand zur Erfüllung ihrer Pflicht
modulandum: unde etiam hoc consequitur, ut und zum recht gelenkten Singen der Stimme
saepe, licet rudi et inerti cantillatione per- geleistet hat: woraus auch dies folgt, dass wir
strepemus, laborum tamen graves molestias oft - wenn wir auch mit roher und
leniamus, solemur et fallamus. Caeterum haec ungeschickter Singerei lärmen - dennoch die
non modo suo fungitur officio, si nos ad schweren Lasten der Mühen mildern, lindern
alacritatem sive aliam mentis affectionem und vertreiben. Ausserdem führt die Musik
voce testandam perpellat ac excitet: verum ihre eigene Pflicht nicht nur dann aus, wenn
etiam ubi alios (ut obticeam interim nutricum sie uns zur Bezeugung von Erregung oder
cantus quibus infantes ad somnum invitant, einer anderen Stimmung des Geistes durch
aut alias concitatos demulcent) Musices die Stimme reizt und erregt: auch sobald wir
offitio concinne defungi percipiemus (nisi (sofern wir nicht gänzlich wie die Blöden,
plane, instar bruti, stupidi simus et ab Dummen sind und von schamloser Dummheit
impudenti stoliditate exagitemur) ad nos verfolgt werden) vernehmen, dass andere den
etiam commovendos ac excitandos suas quas Dienst der Musik kunstvoll erledigen (wie
habet vires exerat, qua subminiculante in wenn ich schweige währenddessen die
adversis solatia ad dolorem nostrum Dienerinnen mit ihren Gesängen die Kinder
sublevandum administrantur simul ad zum Schlaf einladen, oder andere
honestas et arduas res amplectandas Aufgeweckte besänftigen), hat sie auch für
extimulamur, quod vel Poetarum carminibus uns diese eigenen, bewegenden und reizenden
satis liquebit, ut interim quae paßim Kräfte losgemacht; durch ihr zur Handgehen
experimur non referam. Prolixior fierem si de im Unglück wird der Trost zur Milderung
Dorio modo quo Timotheus Alexandrum unseres Schmerzes ausgeführt und werden wir
percellebat ac incitabat: Lydio quoque qui ab gleichzeitig zum Anpacken von ehrenvollen
quibusdam fletibus, aut Mixolydio qui und schwierigen Taten angestachelt, so dass
perturbatior Tragoedijs accomodus nisus sogar durch die Lieder der Poeten hinreichend
alijsque, plura percenserem. Dorius enim ad klar wird, wie wir die Musik bisweilen überall
graviores vocis actiones Lydius ad acutiores erleben und ich dies deshalb nicht berichten
Phrygius ad medias [5] utilis habebatur: werde. Glücklicher würde ich, wenn ich vom
dorischen Modus, mit dem Timotheus den
Alexander erschütterte und anspornte, oder
auch vom lydischen, der gegen bestimmtes
Weinen nützt, oder vom mixolydischen, der
geeignet ist für stürmischeren Schwung in den
Tragödien und anderem mehr berichten
könnte. Dorisch nämlich wurde für den
tieferen Vortrag der Stimme, lydisch für den
höheren, phrygisch für den mittleren als
vorteilhaft angesehen:

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Sed hoc tantum perstringam, quod cuivis Dies aber streifte ich nur soviel, damit jedem
promptum, Musicam videlicet, tantam habere sichtbar werde, dass die Musik nämlich eine
cum Grammatica Dialectica et Rhetorica so grosse Verbindung und Verwandtschaft
connexionem affinitatemque ut nisi rerum mit der Grammatik, Dialektik und Rhetorik
vocabula convenienti et debita vocis, vel hat, dass wenn die Benennungen der Dinge
intensiore vel remißione proferantur, nicht mit angemessener und gebührender
universum Rhetoris offitium, quod in Stimme, also entweder mit Spannung oder
eloquendo potißimum constituitur, mancum et Entspannung, vorgetragen werden, die ganze
mutilum reddatur, atque omni gratia Pflichterfüllung des Rhetors, die haupt-
destitutum prorsus corruat. Non itaque temere sächlich im Vortragen begründet ist,
hunc locum in disciplinarum ordine in quo verkrüppelt und verstümmelt wiedergegeben
censetur, sortita est, quae videlicet, würde und von aller Anmut aufgegeben
Colophonem dictis artibus addat, easque quasi geradezu einstürzte. Nicht zufällig also hat die
plane absolvat, ut digne άμουσοσ dicatur, Musik diesen Rang in der Hierarchie der
quasi literas omnino ignoret qui hanc non Künste, auf dem sie eingeordnet ist, erlangt,
calleat. Iam vero licet inter caetera vocem weil sie ja den genannten Künsten ein
quoque habeamus ab natura inditam, universa Kolophon hinzufügt und sie gleichsam
tamen sic confusa nobis exhibita sunt, ut nisi gänzlich zur Vervollkommnung bringt, sodass
artium excolantur beneficio, rudia maneant et derjenige mit Recht unmusisch genannt wird -
nihil liberale, adeoque exculto homine so als hätte er überhaupt keine Ahnung von
dignum hinc consequatur, nisi quatenus ratio den Wissenschaften -, der diese nicht
(sed apud paucissimos) quaedam beherrscht. Mögen wir nun auch unter
attemperavit, cui quoque Artium praecepta, anderem eine Stimme haben, die uns von
studio et opera maximorum virorum debemus, Natur mitgegeben ist, sind doch solche Dinge
omnium siquidem disciplinarum primordia et uns allesamt in so verworrener Form
velut seminaria ab natura percepimus, quae zugeeignet, dass sie, wenn sie nicht durch die
deinde cultu artium in uberem proventum Leistung der Künste kultiviert werden,
producuntur. Proinde operam optime unbehauen bleiben, und dass nichts Edles und
collocasse videntur, qui studium, in hanc insoweit eines kultivierten Menschen
praeclaram disciplinam promovendam Würdiges daraus wird, wenn nicht die Ratio
posuerint, splendidam gratiarum Coronam ab (doch bei den Wenigsten) etwas versucht; ihr
bonis reportaturi, sed expedit etiam nosse verdanken wir - durch Eifer und Mühe der
quomodo quidque sit tradendum, ut si quid weisesten Männer - die Vorschriften der
pueris instituitur breve sit, ne praeceptorum Kunst, denn von der Natur erlernten wir die
vel longitudine, [6] varietate, seu multitudine Ursprünge und Anfänge aller Disziplinen, die
potius obruantur quam quid emolumenti dann durch die Pflege der Künste zu
consequantur, videtur hic AUCTOR fruchtbarem Gedeihen geführt wurden.
LAMPADIUS, Darum scheinen diejenigen ihre Mühe am
besten angelegt zu haben, die ihren Eifer auf
die Förderung dieser vortrefflichen Disziplin
gerichtet haben: sie werden unter den
Tüchtigen die glänzende Krone der Grazien
davontragen; doch ist es auch nützlich zu
wissen, wie etwas zu vermitteln ist, damit
etwas, wenn es den Knaben unterrichtet wird,
prägnant ist, damit sie nicht durch die Länge
oder Verschiedenheit der Vorschriften, oder
durch die Menge eher erdrückt werden als
einen Vorteil zu gewinnen, diese Forderung
scheint hier Auctor Lampadius,

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
ipsum ita observasse quam qui maxime hoc so sehr man nur irgend kann, befolgt zu
duntaxat respiciens ut erudiret, non quo se haben, indem er eben lediglich darauf achtete
vane ostentaret, etiam hinc summam zu erziehen und nicht inwiefern er sich eitel
perspicuitatem libello suo addens, quod iuxta selbst darstellen könne, wobei er auch
morem antiquißimorum Philosophorum, in dadurch seinem Büchlein höchste Klarheit
forma Dialogi, hanc artem simplicißime et zukommen liess, dass er nach Art der ältesten
distincte tradidit, exemplis etiam luculentis Philosophen diese Kunst in der Form eines
omnia illustravit, ut non tantum in aures Dialogs einfachst und deutlich vermittelte und
traditam artem, verum etiam ad oculos alles mit klaren Beispielen illustrierte, damit
paratam habeas. Hanc igitur ab ingenua pube du die überlieferte Kunst nicht bloss in den
votis summis amplecti cupiam quae Ohren, sondern auch vor Augen bereit hast.
experietur, quantum hinc emolumenti sit Ich würde mir also zutiefst wünschen, dass
adeptura, si ad reconditiora eius investiganda diese von der einheimischen Jugend ins Herz
strenuam et solertem operam adhibuerit. geschlossen wird, die erfahren wird, welch
Vale. grossen Vorteil sie daraus erwerben kann,
wenn sie fleissige und tüchtige Mühe darauf
verwendet, ihre verborgeneren Bereiche zu
untersuchen. Leb wohl.

[7]
AUCTOR LAMPADIUS Ioanni Leonardo Autor Lampadius dem Johannes Leonardus
Toebinck, et Ioanni Schomacher, optimae spei Toebink und dem Johannes Schomacher, den
pueris patritjs. Salutem Dicit Plurimam. einheimischen Knaben grösster Hoffnung. Er
grüsst sie herzlich.

EXigit Quintilianus ab praeceptoribus, Quintilian fordert von den Lehrern, eifrige


studiosi pueri, non solum, ut sint bonis Knaben, nicht allein, dass sie mit guten Sitten
moribus praediti, sine quibus non utiliter ausgestattet sind, ohne die die Wissen-
literae, quantumvis elegantes, discuntur, & schaften, so kunstsinnig und gelehrt sie auch
eruditi, quod hi tantum feliciter docere, quae sind, nicht vorteilhaft gelernt werden, weil
probe teneant, possint sed etiam, ut fideliter nur diese erfolgreich lehren können, die sich
fidei suae commissos, instituant. Quod nemo rechtschaffen halten; sondern er fordert auch,
facile praestabit, qui se ad captum auditorum dass sie das Anvertraute treu ihrer
suorum non demiserit. Quum igitur mihi, Gewissenhaftigkeit unterrichten. Denn dies
tradendae Musicae, artis nobilissimae, in verrichtet niemand mühelos, der sich nicht auf
schola nostra, mandata sit provincia, iudicavi den Bildungsstand seiner Zuhörer herablässt.
muneris esse mei, rudes adhuc eius artis Als mir folglich in unserer Schule der
pueros, primis elementis, perspicue & vornehmsten Kunst das Amt übertragen
simpliciter imbuere. Contraximus igitur ex wurde, die Musik zu vermitteln, glaubte ich,
huius artis clarissimis professoribus, tantum es sei meine Pflicht, die bis dahin in dieser
Canonum & praecepto-[8] rum Musicae, Kunst ungebildeten Knaben mit den ersten
quantum tenerae aetatulae satis esse Grundkenntnissen anschaulich und einfach
putavimus, in breves & apertas vertraut zu machen. Wir sammelten daher bei
quaestiunculas, quas vobis inscribere ac in den berühmtesten Professoren dieser Kunst so
rem totius scholae nostrae publicare, nobis viele Regeln und Vorschriften der Musik, wie
visum est non indignum. wir meinten, für das zarte Jugendalter
genügend zu sein, in kurzen und klaren,
kleinen Untersuchungen, die Euch
aufzuschreiben und zum Nutzen unserer
ganzen Schule zu veröffentlichen, uns nicht
unwürdig schien.

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Quo facilius & vos prima Musicae rudimenta Damit nehmt Ihr auch leichter Eure ersten
percipiatis, & aequus iudex penitus intelligat, Versuche in der Musik wahr und der gerechte
calumniatores ludi nostri, impudenter agere, Richter wird völlig einsehen, dass die Kritiker
quum blaterant, pueros scholae nostrae, unserer Schule unverschämt handeln, wenn
negligi, cum in alijs bonarum artium sie schwätzen, dass die Knaben unserer
rudimentis, tum in Musicis. Vestri est officij, Schule sowohl in der Musik als auch in
gratis animis, hoc, quicquid est libelli, anderen Versuchen der edlen Künste
suscipere, ac in his quaestiunculis vernachlässigt werden. Eure Pflicht ist es, mit
perdiscendis vos diligenter exercere, & dankbarem Geiste dies alles, was das
praeceptores vestros, non minus amare quam Büchlein enthält, aufzunehmen, Euch beim
studia: Valete optimae spei pueri. Data gründlichen Erlernen dieser kleinen
Luneburgi, ex aedibus nostris. Anno 1537. Untersuchungen sorgfältig zu üben, und Eure
Lehrer nicht weniger zu lieben als das
Studium: lebt wohl, Knaben grösster
Hoffnung. Gegeben in Lüneburg, aus unserem
Hause. Im Jahre 1537.

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[9]
COMPENDIUM MUSICES ex Ein Kompendium der Musik, zusammen-
eruditissimorum Musicorum, scriptis, in usum getragen aus den Schriften der gelehrtesten
Tyronum in Dialogi formam congestum. Musiker zum Nutzen der Schüler in Form
eines Dialoges.

QUid est Musica? Est quae rectas cantandi Was ist die Musik? Die Musik demonstriert
formulas demonstrat. teuto. eyne singekunst. die rechte Gestaltung des Singens. Zu
Deutsch: Eyne Singekunst.

Quotuplex est? Duplex, Theorica & practica. Wie viele Formen der Musik gibt es? Zwei,
die Theorie und die Praxis.

Quid est Theorica? Est ars quae diversorum Was ist die Theorie? Sie ist die Kunst, die
sonorum proportionem, ingenio & ratione durch Begabung und Verstand die
perpendit. Verhältnisse der verschiedenen Töne
gründlich erwägt.
Practica quae est? quae certum psallendi Was ist die Praxis? Sie schreibt die konkrete
modum praescribit. Art des Singens vor.

Principalis practicae Musices Divisio. Die hauptsächliche Teilung der


praktischen Musik:

Quotuplex est practica? Duplex, Choralis, & Wie viele Arten der Praxis gibt es? Zwei, die
Mensuralis. chorale und die mensurale.
[10]
Quid est Choralis Musica? Est quae nullo Was ist chorale Musik? Bei ihr ist kein
notarum discrimine constat. Unterschied der Notenwerte vorhanden.

Quid est mensuralis? quae circa varias Was ist mensurale Musik? Sie besteht aus
notarum, pausarumque species consistit, de verschiedenen Arten von Notenwerten und
qua inferius. Pausen, und ist insofern untergeordnet.

De Clavibus Musicis. Über die Töne der Musik:

Quid est clavis? Est vocis formandae index, Was ist ein Ton? Das ist ein Anzeiger zur
adhaerens lineae aut linearum intervallis. Gestaltung der Stimme, der an die Linien oder
Zwischenräume der Linien gebunden ist.

Quot sunt claves? viginti, Recita? г ut, Are, Wie viele Töne gibt es? Zwanzig. Zähle sie
Bmi, Cfaut, Dsolre, Elami, Ffaut, Gsolreut, auf! г ut, Are, Bmi, Cfaut, Dsolre, Elami,
alamire, bfa♮mi, csolfaut, dlasolre, elami, Ffaut, Gsolreut, alamire, bfa♮mi, csolfaut,
ffaut, gsolreut, aalamire, bbfa♮♮mi, ccsolfa, dlasolre, elami, ffaut, gsolreut, aalamire,
ddlasol & eela. bbfa♮♮mi, ccsolfa, ddlasol und eela.

Sunt ne plures Claves praeter viginti? Gibt es nicht noch mehr Töne nebst diesen
Minime, verum quando in Scala b molli, b, zwanzig? Nur wenige, aber wenn in der Skala
clavis, in duas dividitur, tunc viginti duae b molle der Ton b zweigeteilt wird, dann
numerantur. werden zweiundzwanzig gezählt.

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[11]
De Clavium dispositione. Über die Anordnung der Töne:

Quid est Clavium dispositio? Est Musicalium, Was ist die Anordnung der Töne? Das ist die
in ordinem quendam distributio. musikalische Verteilung in einer bestimmten
Ordnung.

Quot sunt dispositiones Clavium? tres, infima, Wie viele Anordnungen der Töne gibt es?
media, & suprema. Drei, die untere, die mittlere und die obere.

Infima quae est? quae octo claves includit, ut, Wie sieht die untere Anordnung aus? Sie
г ut, Are, Bmi, Cfaut, Dsolre, Elami, Ffaut & umfasst acht Töne, nämlich г ut, Are, Bmi,
Gsolreut, dicuntur etiam graves sine capitales. Cfaut, Dsolre, Elami, Ffaut und Gsolreut, die
auch Tiefe oder Grosse genannt werden.

infra omnes unter alle


ponuntur anderen gesetzt
Infimae? Unterste werden.

Cur quia Warum genannt?


dicuntur Graves? gravem werden Weil sie einen tiefen
sonum sie Tiefe Ton wieder-
reddunt geben.
Capitales?
capitalibus & Grosse mit grossen
gradiusculis und ganz
literis grossen
scribuntur. Buchstaben
geschrieben
werden.
[12]
Media quae est? Quae septem claves Wie sieht die mittlere Anordnung aus? Sie
continet, ut, alamire, bfa♮mi, csolfaut, umfasst sieben Töne, nämlich alamire,
dlasolre, elami, ffaut, & gsolreut: Et vocantur, bfa♮mi, csolfaut, dlasolre, elami, ffaut und
Mediae, acutae, & minutae. gsolreut. Diese werden Mittlere, Hohe oder
Winzige genannt.

Intra infimas & zwischen die


supremas Untersten
Ponuntur. Mittlere und Obersten
Mediae? gesetzt werden.
Warum genannt?
Quare Acutae? quia acutum werden Hohe Weil einen hohen
vocatur sonum sie sie Ton
Minutae? praebent. bewirken.
Winzige mit kleinen
und winzigen
minutis ac Buchstaben
pusillis literis geschrieben
scribuntur. werden.

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Suprema quae est? Quae quinque Claves Wie sieht die obere Anordnung aus? Sie
includit. scilicet Aalamire, bbfa♮♮mi, ccsolfa, umfasst fünf Töne, nämlich Aalamire,
ddlasol, & eela, quae etiam geminatae & bbfa♮♮mi, ccsolfa, ddlasol und eela, die auch
excellentes dicuntur. Verdoppelte und Herausragende genannt
werden.

Höchste genannt?
Supremae? ratione Weil sie aufgrund
positionis quod der Lage alle
Qua ra- Geminatae ? geminatis literis übrigen mit ihrem
tione di- scribuntur quia Warum Verdoppelte Ton überragen
cuntur Excellentes ? caeteras omnes werden und daher mit
suo sono excellunt. sie doppelten Buch-
staben geschrieben
Herausragende werden.

[13]
De compositione Clavium. Über die Zusammensetzung der Töne:

Quid est compositio Clavium? Est Literarum Was ist die Zusammensetzung der Töne? Sie
& vocum Musicalium coniuncto. ist die musikalische Verbindung des
Tonbuchstabens mit der Hexachordsilbe.

Quot modis claves componuntur? duobus, ex Aus wie vielen Teilen sind die Töne
literis & syllabis. zusammengesetzt? Aus zweien, aus den
Buchstaben und den Silben.
Quot literis? septem, ut, a, b, c, d, e, f, G. Wie viele Buchstaben gibt es? Sieben,
nämlich a, b, c, d, e, f, g.
Quot syllabis? sex, utpote, ut, re, mi, fa, sol, Wie viele Silben gibt es? Sechs, nämlich ut,
la, quae in Musica voces dicuntur. Hic re, mi, fa, sol, la, die in der Musik Hexachord-
observabis puer, literam, in compositione silben genannt werden. Hier Knabe, sollst du
clavium, semper debere praeponi, iuxta illud. beachten, dass der Buchstabe bei der Zu-
sammensetzung der Töne immer vorangesetzt
werden muss, dicht neben die Silbe.

Principium cuiusvis Clavis litera est, finis Der Anfang eines jeden Tons ist der
vere vox. Tonbuchstabe, das tatsächliche Ziel die
Hexachordsilbe.

De Scala. Über die Skala:

Quid est Scala? Est bene canendi Was ist eine Skala? Sie ist das Fundament des
fundamentum. Nam nisi quis in ea rechten Singens. Denn wenn einer nicht auf
fundamenta fideliter iecerit, difficile certam diesem Fundament gewissenhaft aufbaut,
modulandi artem consequi poterit. kann er schwerlich die echte Kunst des
Singens verfolgen.
[14]
Scala Generalis, in qua Claves continentur. Umfassende Skala, in der die Töne enthalten
sind.
[Tabula] [Tabelle]

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[15]
Quot ex dictis clavibus dicuntur signatae? Wie viele aus den benannten Tönen werden
quinque, ut, г ut, Ffaut, csolfaut, gsolreut, & Schlüssel genannt? Fünf, nämlich г ut, Ffaut,
ddlasol. csolfaut, gsolreut und ddlasol.

Cur vocantur signatae? quia expresse in Warum werden sie Schlüssel genannt? Weil
cantus exordio ponuntur. sie ausdrücklich an den Anfang des Gesangs
gesetzt werden.

Qua ratione? quae cantoribus certam Aus welchem Grund? Sie geben den Sängern
intonandi rationem praemonstrant. den sicheren Anhalt zum Ansingen. Die
Signa clavium signatarum in utroque cantu. Zeichen der Schlüssel finden sich in allen
Gesängen.

Quot ex his sunt magis familiares? duae Wie viele daraus sind vertrauter? Zwei,
scilicet, f & c. Reliquae in cantu mensurali nämlich f und c. Die Übrigen sind im
sunt frequentiores, praecipue in compositione mensuralen Gesang häufiger, besonders in
cantilenarum ad quam, maxime conducunt. Liedkompositionen, in denen sie am meisten
vorkommen.
[16]
De distantia earundem. Über den Abstand derselben:

Et distant inter se mutuo per diapenten, F, Untereinander sind die Schlüssel durch eine
tamen ab гamma distinguat septima quamvis. Quinte getrennt, F jedoch liegt von г eine
Septime entfernt.

De vocibus. Über die Hexachordsilben:

Quid est vox Musicalis? Est syllaba qua Was ist eine musikalische Hexachordsilbe?
clavium tenor exprimitur. Das ist eine Silbe, durch die der Verlauf der
Töne dargestellt wird.

Quot sunt voces? sex, scilicet, Ut, re, mi, fa, Wie viele Hexachordsilben gibt es? Sechs,
sol, la. nämlich ut, re, mi, fa, sol, la.

Differunt ne voces? maxime, nam ex dictis Unterscheiden sich die Hexachordsilben? In


sex vocibus, quaedam molles, quaedam durae, höchstem Masse, denn aus den genannten
& quaedam mediocres sive naturales dicuntur. sechs Hexachordsilben werden einige weiche,
einige harte und einige mittelmässige oder
natürliche genannt.

Molles? ut & fa weiche ut und fa

Durae? due harte gibt es?


Quot sunt mi et la Wie viele Zwei: mi und la
sunt mediocres mittel-
sive natu- re & sol mässige oder re und sol
rales? natürliche

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Molles? mollem weiche weichen
Cur di- durum sonum Warum genannt? Ton
cuntur Durae? quia medi- praebent werden harte Weil sie harten erzeu-
ocrem sie einen gen.
Medio- mittel- gemässigten
cres? mässige

[17]
Exercitatio sex vocum Musicalium. Übung über die sechs musikalischen Hexa-
chordsilben:

DISCANTUS. Diskant

[Exemplum] [Beispiel]

Ordo vocum differentiarumque. Ordnung der Hexachordsilben und ihre


Differentiae.

TENOR Tenor

[Exemplum] [Beispiel]

Ordo vocum differentiarumque. Ordnung der Hexachordsilben und ihre


Differentiae.

Quot sunt vocum deductiones? septem, Wie viele Herleitungen der Hexachordsilben
quarum prima auspicium facit in г ut, secunda gibt es? Sieben, deren erste den Anfang in г ut
in Cfaut, tertia in Ffaut, quarta in Gsolreut, macht, die zweite in Cfaut, die dritte in Ffaut,
quinta in csolfaut, sexta in Ffaut, septima in die vierte in Gsolreut, die fünfte in csolfaut,
gsolreut, ut patuit in supra scriptis scalis. die sechste in Ffaut, die siebente in gsolreut,
so wie es in den oben gesetzten Skalen
ersichtlich ist.

De vocum mutatione Über die Veränderung der Hexachord-


silben:
Quid est vocum mutatio? Est unius vocis in Was ist die Veränderung der Hexachord-
aliam variatio. silben? Sie ist der Wechsel einer Hexa-
chordsilbe in eine andere.
[18]
Quot vocibus fit? Duabus, scilicet, re, & Durch wie viele Hexachordsilben geschieht
la. das? Durch zwei, nämlich re und la.

Quomodo? ascendendo fit per vocem re, Wie? Dies geschieht beim Aufsteigen durch
descendendo vero per la, hoc modo. die Hexachordsilbe re, beim Absteigen aber
durch la, auf diese Art.
[Exemplum] [Beispiel]

Amice quomodo huc intrasti. Freund, wie bist du hier eingetreten.

De coniunctis sev fictis vocibus. Von den angrenzenden oder


leiterfremden Hexachordsilben:

11
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Quid est vox coniuncta? quae in clave canitur, Was ist eine angrenzende Hexachordsilbe?
in qua essentialiter non reperitur, nec in eius Diese wird in einem Ton gesungen, in dem sie
octava. eigentlich nicht gefunden wird, auch nicht in
dessen Oktave.
Quot sunt coniunctae, sive voces fictae? duae, Wie viele angrenzende oder leiterfremde
scilicet, fa & mi. Hexachordsilben gibt es? Zwei, nämlich fa
und mi.
Cur sunt inventae? ob suavissimam ac Warum wurden sie erfunden? Wegen des
laepidissimam resonantiam, quam, in cantu angenehmsten und anmutigsten Klangs, den
positae, praebent. sie, beim Gesang angewendet, erzeugen.

Quot sunt claves, in quibus istae voces Wie viele Töne gibt es, in denen jene
reperiuntur? in omnibus fere clavibus poni Hexachordsilben auftauchen? Sie können in
possunt, sed hoc, propter dissonantiam fast allen Töne angewendet werden, was aber
vitandam. wegen der Dissonanz zu vermeiden ist.
[19]
Per quae signa indicantur? per signum ♭ Durch welches Zeichen werden sie an-
mollitatis & ♮ duri sive aspirationis. gezeigt? Durch das Zeichen ♭ der Weichheit
und ♮ der Härte oder Aspiration.
Quomodo? Signum ♭ mollitatis invenitur in Wie? Das Zeichen ♭ der Weichheit wird
locis ♮ duralibus, quando vox naturaliter dura anstelle des harten ♮ gefunden, wenn die
in mollem mutatur. Signum vero ♮ duri sev Hexachordsilbe naturgemäss von hart nach
aspirationis reperitur in locis ♭ mollaribus ubi weich ändert. Aber das Zeichen ♮ der Härte
vox naturaliter dura mutatur in mollem. 1 oder Aspiration wird anstelle des weichen ♭
gefunden, wo die Hexachordsilbe natur-
Hoc modo. gemäss von weich nach hart wechselt. Auf
diese Art.
[Exemplum] [Beispiel]
[20]
Argutiora exempla ac suaviora, in Musica Ausdrucksvollere und angenehmere Vorbilder
Andreae Ornitoparchi reperies, quae, cum wirst du in der Musica des Andreas
haec prima rudimenta perceperis, consules. Ornitoparch finden, die du zu Rate ziehst,
wenn du diese ersten Probestücke begriffen
haben wirst.

De differentia notarum choralium. Über den Unterschied der choralen


Noten:
Differunt ne notae in Cantu chorali? minime: Unterscheiden sich die Noten im choralen
Nam cuiuscumque speciei fuerint, sive Gesang? Nur wenig, denn welcher Art sie
ligatae, sive non, licet formam varient, tamen sind, ob sie gebunden sind oder nicht, oder ob
valorem suum nunquam immutant. Omnes sie die Form ändern: ihr Wert bleibt stets
enim eodem tactu sunt proferendae. etc. unveränderlich. Alle sind nämlich im selben
Schlag vorzutragen. etc.

De Cantibus. Über den Hexachord:

Quid est cantus? est sex vocum & continua & Was ist ein Hexachord? Er ist das passende
apta deductio. und fortlaufende Führen von sechs Hexa-
chordsilben.
1
Lampadius hat hier offensichtlich beim zweiten Mal
versehentlich das Begriffspaar durum/molle verwechselt.

12
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Quotuplex est Cantus? triplex, scilicet, Wie viele Arten von Hexachorden gibt es?
Naturalis, b mollaris, & ♮ duralis. Drei, nämlich natürlich, b molle und ♮ durum.

Quomodo cognoscuntur? per ut penes Wie werden diese erkannt? Durch die Silbe ut
ascensum, sic. beim Aufstieg, so.
[21]
C, c naturalis. C, c natürlich
Omnis Jeder
cantus F, f est b mollaris. Hexa- F, f hat, b molle
habens chord, ist
ut in г G, g ♮ duralis. der ut in г G, g ♮ durum

Exemplum de Cantu naturali. Beispiel aus einer natürlichen Melodie.

[Exemplum] [Beispiel]

Ut in Cfaut. Ut in Cfaut

[Exemplum] [Beispiel]

Ut in Ffaut b mollari. Ut in Ffaut b molle

[Exemplum] [Beispiel]

Ut in Gsolreut ♮ durali. Ut in Gsolreut ♮ durum

In C natural, Fbmol, Gque♮ dural, ♮ durum Bei C natürlich, Fb molle und G♮ durum,
triplico reliquos cantus geminabo. verdreifache ich das ♮durum, die übrigen
Hexachorde verdopple ich. 2
[22]
De Solfizatione. Über die Solmisation:

Quid est Solfizatio? Est vocum Musicalium Was ist die Solmisation? Sie ist der
continua expressio. fortlaufende Ausdruck der musikalischen
Hexachordsilben.

Quid respiciendum est in Solfizatione? in Worauf ist in der Solmisation Rücksicht zu


solfizatione maxime considerandum est, in nehmen? In der Solmisation ist vor allem zu
hac enim totum negotium situm est, quare beachten, dass die Sänger beim Ausführen der
cantores, in expressione vocum, diligenter ♭ Hexachordsilben achtsam den Ton ♭ berück-
clavem respicient atque observabunt, ne mi sichtigen und aufpassen, dass sie nicht mi
loco fa exprimant, aut contra. anstelle von fa singen, oder umgekehrt.

Quomodo igitur istae voces quae in clavibus Auf welche Art sind also jene Hexachord-
continentur sumendae sunt, in solfizatione? silben, die in den Tönen enthalten sind, in der
Solmisation zu verwenden?

2
Lampadius formuliert dies als kurze Merkregel. Gemeint
ist, dass von den drei Arten der Hexachorde die Variante
♮durum über die ganze Skala dreimal vorkommt, die
naturalis und b molle Hexachorde dagegen nur zweimal.

13
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Voces sunt duplices, inferiores, quae, si Es gibt zweierlei Hexachordsilben, die
cantus in altum tendit recipiendae sunt, unteren, die zu verwenden sind, wenn der
utpote, ut, re, mi: Et superiores, scilicet, fa, Hexachord in die Höhe zielt, nämlich ut, re,
sol, la, quae in descensu cantus sumuntur: Sed mi. Und die oberen, die im Abstieg des
in primis respicienda est scala, dura an mollis Hexachords genommen werden, nämlich fa,
sit. sol la. Aber zu Beginn ist zu berücksichtigen,
ob die Skala hart oder weich ist.
CANON Regel:

Quotiescunque enim signum ♭ & ♮ praeter Sooft nur immer nämlich das Zeichen ♭ oder
cantus naturam signatur, modulabitur fa vel ♮ entgegen dem eigentlichen Hexachord
mi quousque duraverit. angezeigt wird, wird fa oder mi so lange
verändert wie dies dauert.
[23]
Quomodo hoc deprehendam, quousque Wie ist zu erkennen, wie lange dies dauert?
duraverit? non oportet exprimentem voces, Man darf nicht, wenn man die Hexachord-
signaturam sequi, quemadmodum ♭fa♮mi, in silben ausdrückt, der Bezeichnung folgen, so
scala ♭ molli sequimur, sed quam primum wie wir b-fa-mi in der weichen b Tonleiter
illae voces motae fuerint, & cursus ad locum folgen, sondern sobald diese Hexachordsilben
suae motionis pervenerint, tunc nec fa nec mi, bewegt und die Läufe ans Ziel ihrer
sed quam scala regulariter exigit, recipienda Bewegung gelangt sind, darf man nicht mehr
est. fa und mi lesen, sondern den Ton, den die
Leiter regulär fordert.

Hoc modo. Auf diese Art.

[Exemplum] [Beispiel]

De octavis idem est Iudicium. Bei der Oktave ist das Verfahren dasselbe.

[24]
De cantu trasposito notetur sequens Über den Schlüsselwechsel wird im folgenden
Distichon. Distichon geschrieben.

Quantum conscendit clavis, tantum nota, Soviel der Schlüssel steigt, so viel die Note
rursus dagegen
Descendit, verso quoque sic intellige sinkt, begreife es auch mit schlauem Sinn.
sensu.

Cur cantus transpositio est inventa? propter Warum ist der Schlüsselwechsel erfunden
linearum inopiam, nam olim cantores suas worden? Wegen des Mangels an Linien, denn
cantiones tribus aut ad summum quatuor einst zeichneten die Sänger ihre Gesänge mit
lineis depinxerunt, id quod adhuc hodie in drei oder höchstens vier Linien, worauf also
omnibus fere canticorum libellis cernitur, bis heute in fast allen Gesangs-büchlein
nunc autem raro hac utimur, quia, si Rücksicht genommen wird; heut-zutage aber
necessitas urget, sextam ad ijcimus lineam, verwenden wir dies selten, denn, wenn die
quod etiam ubique obvium est. Notwendigkeit drängt, treffen wir auf die
sechste Linie, was ja überall hilfreich ist.

[Exemplum] [Beispiel]

Haec sunt convivia. Dies sind die Gastmähler.

14
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
De Intervallis sive modis Musicis. Über die Intervalle der Musik:
[25]
Quid est Intervallum? est vocis ab voce Was ist ein Intervall? Das ist der Abstand
distantia. zwischen zwei Tönen.

Quotuplex est Intervallum? Duplex, scilicet, Wie viele Arten von Intervallen gibt es?
simplex & compositum. Zwei, nämlich einfache und zusammen-
gesetzte.

Quot sunt Intervalla simplicia? quinque, Wie viele einfache Intervalle gibt es? Fünf,
unissonus, tonus, diatessaron, diapente, & den Einklang, die Sekunde, die Quarte, die
diapason. Reliqua omnia ex dictis Quinte und die Oktave. Alle übrigen werden
componuntur. aus diesen zusammengesetzt.

Quid est unissonus? est fundamentum & Was ist der Einklang? Er ist das Fundament
principium modorum, vel est duarum vel und der Anfang aller Intervalle, er ist die
plurium notarum in eodem loco reiteratio, sic. Wiederholung zweier oder mehrerer Noten an
der selben Stelle, so.

Sequitur Tabula resolutoria de Intervallis Es folgt eine Auflösungstabelle über die


usitatioribus. Verwendung der Intervalle.
[26]
[Tabula] [Tabelle]
[27]
Quot sunt semitonia? duo: Alterum Maius, Wie viele Halbtöne gibt es? Zwei: einen
fitque ex fa in mi proximum, & Alterum bedeutenderen, der aus der Nachbarschaft von
Minus, quod fit ex tono. Iudicaturque per hoc fa und mi entsteht, und ein geringeren, der aus
X signum. einem Ganzton gemacht wird. Und das wird
durch dieses Zeichen: X entschieden.

Quot sunt Toni? quatuor, qui moventur in Wie viele Ganztöne gibt es? Vier, sie werden
proximam secundam, sic. in die nächste Sekunde fortbewegt, so.

[Exemplum] [Beispiel]

Ex his quatuor reliqui omnes formantur. Aus diesen vier werden alle übrigen geformt.

Exercitatio de modis sive intervallis. Übung zu den Intervallen.

[Exercitatio][28] [Übung]
[29]
De prohibitis intervallis. Über die verbotenen Intervalle:

Quid est prohibitum intervallum? est vocis Was ist ein verbotenes Intervall? Das ist die
bene sonantis contra male sonantem positio. Positionierung eines gut klingenden Tones zu
einem schlecht klingenden.

Quot sunt? tria, Tritonus, Semidiapente, & Wie viele gibt es davon? Drei, den Tritonus,
Semidiapason. die verminderte Quinte und die kleine None.

15
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[30]
Quid est Tritonus? Est quarta dura, fitque Was ist ein Tritonus? Das ist eine harte
ex tribus tonis, sic. Quarte, die aus drei Ganztönen gemacht wird,
so.
[Exemplum] [Beispiel]

Quid est semidiapente? est imperfecta quinta, Was ist eine verminderte Quinte? Das ist eine
de mi ad fa tendens, hoc modo. unvollkommene Quinte, die von mi nach fa
zieht, auf diese Art.
[Exemplum] [Beispiel]

constans duobus tonis & duobus semitonis. Sie besteht aus zwei Ganztönen und zwei
Halbtönen.

Quid est semidiapason? Est imperfecta Was ist eine kleine None? Das ist eine
octava, de mi ad fa gradiens, quae nihil unvollkommene Oktave, die von mi zu fa
omnino sonoritatis habet. aufsteigt und überhaupt keinen Wohlklang
besitzt.
[Exemplum] [Beispiel]

habetque tria semitonia et quatuor tonos. Sie hat drei Halbtöne und vier Ganztöne.

Ad haec referuntur, septima, nona, undecima, Hierzu werden noch die Septime, die None
quae rarissime in usum Musicum accedunt. und die Undezime erwähnt, die höchst selten
in der musikalischen Praxis vorkommen.
[31]
De Tonis. Über die Kirchentöne:

Quid est Tonus? est certa regula, qua Was ist ein Kirchenton? Das ist eine
cuiuslibet cantus, melodia dirigitur. bestimmte Regel, mittels derer die Melodie
eines jeden beliebigen Gesangs gelenkt wird.

Quot sunt toni? octo, recita? primus, Wie viele Kirchentöne gibt es? Acht. Zähle
secundus, tertius, quartus, quintus, sextus, sie auf! Erster, Zweiter, Dritter, Vierter,
septimus, octavus. Fünfter, Sechster, Siebenter, Achter.

Quotuplex est tonus? duplex, scilicet, autentus Wie viele Kirchentonarten gibt es? Zwei,
& plagalis. nämlich die authentische und die plagale.

Quid est autentus tonus? est qui maiorem Was ist der authentische Kirchenton? Dieser
ascendendi auctoritatem habet, quam plagalis. hat im Aufsteigen den grösseren Wirkungs-
vocaturque clamosus. bereich als der plagale. Er wird auch der laut
schreiende genannt.
Quot sunt autentici toni? quatuor, ut primus, Wie viele authentische Kirchentöne gibt es?
tertius, quintus, & septimus, sic dicti, quia Vier, nämlich den Ersten, Dritten, Fünften
crebro octavam supra notam finalem und Siebenten, die so bezeichnet werden, weil
contingunt. sie häufig die Oktave über der Finalis
erreichen.
Quid est plagalis? qui maiorem descendendi Was ist der plagale Kirchenton? Dieser besitzt
vim habet autento, diciturque obliquus sive den grösseren Drang zum Absteigen als der
humilis. authentische und wird auch schräg oder
demütig genannt.

16
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Quot sunt plagales toni? etiam quatuor, Wie viele plagale Kirchentöne gibt es? Auch
scilicet, secundus, quartus, sextus, & octavus. vier, nämlich den Zweiten, Vierten, Sechsten
Hi supra finalem vocem diapenten habent, und Achten. Diese gehen bis zur Quinte über
diatessaron vero infra eandem vocem der Finalis, gründen aber eine Quarte unter
constituunt. jener Note.
[32]
Quod modis toni cognoscuntur? tribus, Auf wie viele Arten wird der Kirchenton
scilicet, principio, medio, & fine. erkannt? Auf drei Arten, nämlich durch den
Anfang, die Mitte und das Ende.

Quomodo cognoscitur in principio? Omnis Wie wird er am Anfang erkannt? Jeder


cantus in principio ultra notam finalem, mox Gesang, der über der finalen Note beginnt und
scandens ad quintam, est autenti toni, qui vero bald zur Quinte aufsteigt, steht im
non, est plagalis. authentischen Ton, jener, der das aber nicht
tut, ist plagal.

Quomodo in medio? penes ascensum, Nam Wie in der Mitte? Beim Aufstieg, denn der
cantus qui in medio supra chordam stativam Gesang der in der Mitte die Quinte über der
Diapason habuerit, est autenti Toni, qui vero Finalis hat, ist authentischen Tones, jener, bei
non, est plagalis. dem das jedoch nicht so ist, ist plagal.

Quomodo in fine deprehenditur? per extremas Wie wird er am Schluss erfasst? Durch die
voces, hoc pacto. äusseren Stimmen, auf diese Weise.

Omnis cantus exiens in: Jeder Gesang ausgehend in:

Gsolreut septimi octavi Gsolreut siebenten achten

Ffaut quinti sexti Ffaut fünften sechsten


est vel toni. ist oder Ton
Elami tertii quarti Elami im dritten vierten

Dsolre primi secundi Dsolre ersten zweiten

[33] [32]
Cognitio irregularis sive transpositi cantus. Erkennen des irregulären oder
transponierten Gesanges.

Omnis cantus exiens in: Jeder Gesang ausgehend in:

Csolfaut quinti sexti Csolfaut fünften sechsten

Alamire tertij quarti Alamire dritten vierten


mi. est vel toni. mi ist oder Ton
im
Alami. primi secundi Alami ersten zweiten

17
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Quando cantus transpositus in b, clave mi Wenn der nach b transponierte Gesang den
habet est primi vel secundi toni. Si vero fa in Ton mi hat, steht er im ersten oder zweiten
ea consideraverit, tertij vel quarti est. Modus. Wenn aber in ihm ein fa gesehen
wird, steht er im dritten oder vierten.

Caetera quae hic desiderantur omnia, diligens Die übrigen, die hier alle fehlen, wird dich der
usus, artiumque omnium magister, docebit. achtsame Gebrauch, der Lehrmeister aller
Künste, lehren.

Sequuntur Tonorum Tropi, quibus Psalmi Es folgen jene Melodieformeln der


exeunt. Kirchentöne, mit denen die Psalme enden.

[Exemplum] [Beispiel]
[34]
Quotuplex sunt Psalmi? Duplices, scilicet, Wie viele Formen der Psalme gibt es? Zwei,
Maiores & Minores. nämlich die grösseren und die kleineren.

Quot sunt Psalmi maiores? Duo, ut Wie viele grössere Psalme gibt es? Zwei,
Magnificat & Benedictus. nämlich das Magnificat und das Benedictus.

Quot sunt minores? omnes alii praeter dictos, Wie viele kleinere gibt es? Alle anderen
puta qui ab Davide sunt aediti. ausser den genannten, wie zum Beispiel jene
von David hinzugefügten.

Sequitur minorum Psalmorum inceptio, & ad Es folgt der Anfang der kleineren Psalme und
medium deductio. die Hinführung zur Mitte.
[35]
[Exemplum] [Beispiel]

Maiorum Psalmorum Intonatio. Das Ansingen der grösseren Psalme.

Autenti Plagales. Authentische Plagale

[Exemplum] [Beispiel]
[36]
[Exemplum] [Beispiel]

Quare omittis tonorum differentias? quia non Weshalb gehst du nicht auf die Verschie-
sunt de musicorum essentia, & cum tam denheiten der Kirchentöne ein? Weil sie nicht
variae sint, quas de illis certas regulas von musikalischem Wesen sind und weil sie
praescribere ausus est. so vielgestaltig, dass es gewagt ist, konkrete
Regeln darüber vorzuschreiben.
Qua ratione sunt inventae? Cum, propter Aus welchem Grund wurden sie erfunden?
incertos cantores, ut eo facilior esset Sowohl wegen den unsicheren Sängern, damit
Psalmorum inceptio: Tum, quod der Beginn der Psalme umso einfacher ist, als
Antiphonarum repetitio, Psalmis finitis esset auch weil die Wiederholung der Antiphone
suavior etc. mit bestimmten Psalmen angenehmer ist.

Nulla quidem alia ratio (meo iuditio) in Kein anderer Grund kann jedenfalls (meiner
medium adferri possit. Meinung nach) zur Sache herbeigezogen
werden.
Finis plani Cantus. Ende des einstimmigen Gesangs.

18
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[37]
MUSICAE MENSURALIS Compendium. KOMPENDIUM DER MENSURALMUSIK

QUid est Musica mensuralis? Est ars quae Was ist die Mensuralmusik? Sie ist die Kunst,
variis notarum ac pausarum figuris constans, die aus unterschiedlichen Formen von Noten
augmentum & decrementum prolationis, iuxta und Pausen besteht und - den Regeln der
signorum exigentiam, patiens. Zeichen entsprechend - die Vergrösserung
und Verkleinerung des Notenwerts erlaubt.

Cur ab quibusdam dicitur nova? propter Warum wird sie von gewissen Leuten neu
notarum incrementum & decrementum. Nam genannt? Wegen der wachsenden und
notae veteris Musicae, id est, Choralis, non abnehmenden Noten. Denn die Noten der
patiuntur augmentum neque prolationis alten Musik, d.h. der choralen, erlauben
decrementum. weder die Vergrösserung noch die
Verkleinerung der Notenwerte.

Quot sunt species figurarum simplicium: Wie viele Formen von einfachen Figuren gibt
Octo. es?: Acht.

Sequuntur Figurae & nomina notarum. Es folgen die Figuren und Namen der Noten.
[38]
Scilicet Nämlich.

[Tabula] [Tabelle]

Quid interest inter notarum caudam, sursum Welcher Unterschied besteht zwischen dem
aut deorsum tractam? nihil omnino: Nam abwärts und dem aufwärts gerichteten Hals
cauda, in simplicibus notarum figuris, der Noten? Überhaupt keiner, denn der Hals,
qualitercunque tracta, non immutat notarum egal wie er gezogen ist, verändert bei
valorem. einfachen Figuren den Wert der Note nicht.

Quot ex dictis figuris dicuntur Maiores? Wie viele aus den erwähnten Figuren werden
quinque, quas prisci observabant, quoniam Grössere genannt? Fünf (die schon die Alten
hae quinque in omnes novae Musicae, bewahrten), weil diese fünf in aller neuer
rationem, puta augmentationem & Musik das Mittel zur Augmentation und
perfectionem incidunt. [Exemplum] Perfektion bilden. [Beispiel]

Relique tres, ut [Exemplum], quas posteritas Die Übrigen drei, nämlich [Beispiel], die die
gratia subtilitatis adiecit, perfectionem non Folgezeit der Feinheit zuliebe hinzugefügt
patiuntur, ob id minores vocantur. hat, erfahren keine Perfektion, weswegen sie
Kleinere genannt werden.
[39]
De notarum valore. Über den Wert der Noten:

19
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Alia figurarum dicitur. Die Figuren werden wie folgt benannt:

maxima octo tactus sive Maxima acht Schläge oder


semibreves. Semibreven.

longa quatuor tactus. Longa vier Schläge,


scilicet semibreves. d.h. Semibreven.
quae Diese
brevis valet duos tactus. scilicet Brevis zählt zwei Schläge, d.h.
semibrevis. Semibreven.

semibrevis integrum tactum. Semibrevis einen ganzen Schlag.

minima 2 Minima 2

semiminima 4 Semiminima 4
horum faciunt Deren einen Schlag
fusa 8 tactum Fusa 8 ausfüllen.

semifusa 16 Semifusa 16

De Pausis. Über die Pausen:

Quid est Pausa? Est tractus per lineas iubens Was ist eine Pause? Das ist ein Strich über die
canentem silere. Linien, der verlangt, dass die Sänger
schweigen.
[40]
Cur pausae sunt excogitatae? propter tria, Weshalb wurden die Pausen ersonnen? Aus
Primum, ut dissonantiam fugiant: Secundum, drei Gründen, erstens, um die Dissonanz zu
ut cantum concinnis fugis & canonibus meiden; zweitens, um den zusammenge-
textum exornent. Tertium, ut modulatoribus setzten Gesang mit kunstvollen Fugen und
dent vigorem atque canentes recreent. Kanons ausschmücken zu können; drittens
damit diese den Musikern Energie geben und
die Sänger erfrischen.
Quot sunt pausarum speties? tot, quot Wie viele Arten der Pausen gibt es? So viele
notarum, demptae maximae loco cuius, duae wie es Noten gibt, ausgenommen die
longae pausae ponuntur. Maxima, an deren Stelle zwei Longa-Pausen
gesetzt werden.
Ut sequens exemplum indicat So wie es das folgende Beispiel zeigt.

[Exemplum] [Beispiel]

Sunt ne plures pausarum speties praeter Gibt es noch mehr Pausenarten ausser den
dictas? sunt adhuc duae, quae peculiaribus genannten? Da sind noch zwei, die durch ihre
suis characteribus signantur, una Modalis Eigenartigkeit und Eigenheit gekennzeichnet
altera Generalis dicitur. sind, die eine wird modalis, die andere
generalis genannt.

Quae est modalis? quae quatuor lineas aut Welche ist die modalis? Jene, die vier Linien
spatia occupat : Et haec pausa, modum oder Zwischenräume besetzt. Diese Pause
minorem perfectum indicat. zeigt das Zeitmass minor perfectus an.

20
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[41]
Pausa Modalis. Die modalis Pause:

[Exemplum] [Beispiel]

Generalis quae est? quae lineas omnes Welche ist die Generalis? Jene, die alle Linien
transcendit, cui & istae character vicem überschreitet, an deren Stelle auch dieses
rependit. Zeichen stehen kann.

[Exemplum] [Beispiel]

Quare dicitur Generalis? quia in fine, post Weshalb wird sie Generalis genannt? Weil sie
notam finalem generaliter collocatur. normalerweise am Ende, nach der letzten
Note, hingesetzt wird.
Sequitur Exercitium de usu et valore notarum Es folgt eine Übung über den Gebrauch und
simplicium. den Wert der einfachen Noten.
[42]
[Exemplum] [Beispiel]
[43]
[Exemplum] [Beispiel]
[44]
De ligaturis. Über die Ligaturen:

Quid est ligatura? Est unius notae ad aliam Was ist eine Ligatur? Das ist die Bindung
coniunctio, ex quadris vel obliquis figuris einer Note an eine andere, die aus einer vier-
formata. eckigen oder schrägen Figur geformt wird.

Quot notarum speties ligantur, quatuor, Wie viele Arten von Ligaturen gibt es? Vier,
scilicet,[Exemplum]. nämlich, [Beispiel].

Quot illarum mutant valorem? tres, longa, Wie viele von diesen verändern den
brevis, & semibrevis. Maxima enim, sive Notenwert? Drei, die Longa, die Brevis und
ligata sive non, nunquam valorem immutat. die Semibrevis. Denn die Maxima, ob sie nun
gebunden ist oder nicht, ändert niemals den
Wert.
Quomodo ergo iste valor deprehenditur? per Wie wird also jener Wert erkannt? Natürlich
caudam duntaxat, figuris inscriptam, quae est durch den an die Figuren angefügten Hals, der
valoris notarum ligabilium certum indicium. eine sichere Angabe über den Wert der
Nam cauda, in sinistra parte sursum tracta, ligierten Noten gibt. Denn der auf der linken
notas minuit, deorsum vero, in utroque latere, Seite aufwärts gezogene Hals verkleinert die
eas adauget, id quod ex ordine patebit. Noten, während der abwärts gezogene, egal
auf welcher Seite, diese vergrössert, was aus
folgender Anordnung ersichtlich wird.

Da regulas ligaturarum? Gib die Regeln der Ligaturen wider!


[45]
De initialibus. Über die Anfangsnoten:

I. I.
Omnis ligatura, habens in sinistra parte Bei jeder Ligatur, die auf der linken Seite
virgulam sursum tractam, semibrevis est cum einen aufwärts gezogenen Strich hat, ist die
proxima. nachfolgende Note eine Semibrevis.

[Exemplum] [Beispiel]

21
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
II. II.
Si vero in descensu candam3 habuerit, ipsa Wenn sie aber einen absteigenden Hals hat,
sola brevis est. ist sie selber nur eine Brevis.
[Exemplum] [Beispiel]

III. III.
Ligatura, qualitercunque formata, Eine steigende Ligatur - welcher Form auch
conscendens, cuius prima nullam habet immer -, deren erste Note keinen Hals hat,
caudam, facit eandem brevem. macht aus derselben eine Brevis.
[Exemplum] [Beispiel]
[46]
IIII. IIII.
Prima carens cauda, longa est cadente Wenn bei der ersten Note der Hals fehlt, ist
secunda. die absteigende zweite Note eine Longa.
[Exemplum] [Beispiel]

V. V.
De Mediis. Über die Mittelnoten:
Quaelibet in medio brevis est una excipienda. Jede beliebige Note in der Mitte ist als Brevis
zu nehmen.
[Exemplum] [Beispiel]

VI. VI.
Omnis nota, inter primam & ultimam, ligata, Jede ligierte Note, die zwischen der ersten
est media. und der letzten liegt, ist eine mittlere.

VII. VIII.
De Ultimis. Über die Schlussnoten:
Ultima conscendens brevis est quaecunque Die letzte steigende ligierte Note ist immer
ligata. eine Brevis.
[Exemplum] [Beispiel]
[47]
Excipe ligaturam semibrevium. Eine Ausnahme bildet die Ligatur der
Semibreven.
[Exemplum] [Beispiel]

Ultima dependens quadrangula sit tibi longa. Die letzte herabhängende viereckige Note lies
als Longa.
[Exemplum] [Beispiel]
Exceptio. Ausnahme.
[Exemplum] [Beispiel]

IX. IX.
Maxima in ligatura nunquam valorem suam Die Maxima ändert in der Ligatur nie ihren
immutat, ubicunque enim posita, semper Wert, wohin auch immer sie nämlich gesetzt
manet maxima. wird, sie bleibt immer eine Maxima.
[Exemplum] [Beispiel]
[48]
[Exemplum] [Beispiel]
[49]
[Exemplum] [Beispiel]

3
Druckfehler: Korrekt wäre natürlich caudam.

22
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[50]
De tribus Musicae Gradibus. Über die drei Stufen der Musik:

Quot sunt Gradus musicales? tres, scilicet: Wie viele musikalische Stufen gibt es? Drei,
Modus, Tempus, & Prolatio. nämlich: Modus, Tempus und Prolatio.

Quid est Modus? est maximarum, Was ist der Modus? Er ist das Mass der
longarumque notarum mensura. Maxima- und Longa-Noten.

Quotuplex est? Duplex, Maior & Minor. Wie viele Formen hat er? Zwei, maior und
minor.
Quotuplex est Maior? duplex, perfectus & Wie unterteilt sich der Maior? In zwei Teile,
imperfectus. einen perfekten und einen imperfekten.

Quid est modus maior perfectus? Est quando Was ist der Modus maior perfectus? Er liegt
maxima tres longas continet, sic. [Exemplum] vor, wenn die Maxima drei Longae beinhaltet,
Imperfectus est quando duas, sic. [Exemplum] so. [Beispiel] Imperfekt ist er, wenn dieselbe
zwei Longae misst, so. [Beispiel]

Quotuplex est minor? etiam duplex, scilicet, Wie viele Formen hat der Modus minor?
perfectus & imperfectus. Auch zwei, nämlich perfekt und imperfekt.

Quid est modus minor perfectus? est ubi Was ist der Modus minor perfectus? Er
longa tres breves: sic. herrscht dort, wo die Longa drei Breves misst:
Imperfectus, quando duas. sic. so. Imperfekt ist er, wenn sie nur zwei Breven
enthält. So.

Quid est tempus? est brevium notarum Was ist das Tempus? Es ist das zeitliche Mass
dimensio. der Brevisnote.

Quotuplex est tempus? duplex, perfectum & Wie unterteilt sich das Tempus? In perfekt
imperfectum. und imperfekt.
[51]
Quid est tempus perfectum? Est quando Was ist das Tempus perfectum? Dieses liegt
brevis nota tres continet semibreves, vor, wenn die Brevisnote drei Semibreven
Imperfectum ubi duas. umfasst, imperfekt ist es, wo sie nur zwei
enthält.

Quid est prolatio? Est semibrevium cognitio. Was ist die Prolatio? Sie ist die Kenntnis von
den Semibreven.

Quotuplex est? duplex, scilicet, perfecta & Wie viele Formen gibt es? Zwei, nämlich
imperfecta. perfekt und imperfekt.

Perfecta quae est? quae tres minimas in Welche ist perfekt? Jene, bei der man drei
semibrevi considerat. Imperfecta vero duas. Minimae in der Semibrevis beobachtet. Bei
der imperfekten aber sind es zwei.

De Signis graduum Über die Zeichen der Stufen:

Quot sunt signa graduum? tria extrinseca, & Wie viele Stufenzeichen gibt es? Drei äussere
tria intrinseca. und drei innere.

23
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Quae sunt extrinseca? haec. Welches sind die äusseren? Diese.
O3, O2, O, Φ, O, C. O3, O2, O, Φ, O, C.

Quod illorum indicat Welches von ihnen zeigt das/die:

Modum? O3 maiorem Modum an? O3 maior


O2 minore O2 minor
Tempus? Φ vel O perfectum Tempus an? Φ od. O perfectus
illud indicat Jenes indiziert
Prolationem? O vel C perfectam Prolatio an? O od. C perfectus
prolationem prolatio

[52]
Intrinseca quae sunt? intrinseca signa sunt Welches sind die inneren? Die inneren
colores notarum. Quando enim tres longae, Zeichen sind die Kolorierung der Noten.
aut Pausa modalis, in cantu sine medio Wenn nämlich drei Longae hintereinander
positae, reperiantur, indicatur modus minor oder eine Modalispause im Gesang
perfectus: Aut si tres breves colorantur, aut auftauchen, wird der Modus minor perfectus
duae pausae semibreves, simul positae, in angezeigt; wenn aber drei Breven koloriert
cantilena inveniantur, ibi tempus perfectum werden oder zwei Semibreven-Pausen
designatur. gleichzeitig im Lied vorkommen, wird dort
das tempus perfectum indiziert.

Tribus autem semibrevibus colore obductis, Aber mit drei zusammengezogenen,


aut duobus suspiriis simul positis, prolatio kolorierten Semibreven oder zwei gleichzeitig
perfecta demonstratur. gesetzten Pausen wird auf die Prolatio
Hoc modo. perfecta hingewiesen. Auf diese Art.

[Exemplum] [Beispiel]

Signa modi Temporis prolationis. Die Zeichen der Modi, der Tempi und der
Prolatio

Crescunt ne pausae in signis dictorum Wachsen die Pausen nicht auch durch die
Graduum? maxime, Quantum enim nota Zeichen der erwähnten Stufen? Sehr sogar, sie
crescit, tantum & pausa. wachsen nämlich genau so viel wie die Note
wächst.

Quot sunt signa imperfecta? unum, scilicet, Wie viele imperfekte Zeichen gibt es? Eines,
semicirculus. C, , qui si cantilenis propositus nämlich den Halbkreis. Wenn C, in den
fuerit, eas imperficit, id [53] est, notas aeque ac Gesang gesetzt wird, wird dieser imperfekt,
pausas diminuit. das heisst, die Noten und Pausen werden
gleichviel verkleinert.

Quotuplicia sunt signa? duplicia, principalia, Wie viele Arten von Zeichen gibt es? Zwei,
quae supra posita sunt, & minus principalia. die hauptsächlichen, die oben gezeigt wurden,
und die nebensächlichen.

Quot sunt signa minus principalia? quinque. Wie viele nebensächliche Zeichen gibt es?
Fünf.

24
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
:II: Repetitionis :II: Wiederholung

Convenientiae Übereinstimmung

Scilicet Generale Nämlich Generale


signum die Zeichen
♭ b mollitatis für ♭ b molle

♮ duri, vel ♮ durum oder


aspirationis Aspiratio

Exemplum de tribus Musicae Gradibus in Musica Ausführliche Beispiele über die drei Stufen
Andreae Ornitoparchi, & Georgij Rau, reperies der Musik findest du in der Musica des
copiosissime. Andrea Ornitoparch und Georg Rau.

[54]
De dimensione vel tactibus. Über das Ausmass oder den Schlag:

Quid est tactus? est mensura mobilis, qua notulae Was ist ein Schlag? Das ist ein bewegliches
regulariter & perfecte, secundum signorum Mass, durch das die Noten regelmässig und
diversitatem, cantentur, reganturque. absolut gesungen und gelenkt werden, ganz
den unterschiedlichen Zeichen entsprechend.

Quotuplex est? triplex, Maior, Minor, & Wie ist der Takt unterteilt? In Maior, Minor
Proporcionatus. und Proportionatus.

Maior? Brevem Maior Brevis

Quis Minor? qui notam Semi- unico Beim Minor füllt eine Semi- allein
vocatur. brevem tactum brevis den
propor- Duas vel complet. Propor- füllen entweder Schlag.
tionatus? qui tres minima tionatus zwei oder
sive sesqui vel duas aut drei Minima,
alter? tres aut plures oder sesqui- oder zwei, drei
semibreves aut alter oder mehr
brevem per- Semibreven oder
fectam perfekte Breven

[55]
Per quae signa indicantur? Maior per Durch welche Zeichen werden sie angegeben?
huiusmodi signa O C innotescit, Minor per Maior wird durch dieses Zeichen O C
haec O C demonstratur. Proportionatus vero angegeben, Minor durch O C bestimmt. Der
per numerum circulo vel semicirculo Proportionatus aber wird durch die Nummer
subscripto appositoque dinoscitur. Sic. beim darunter hinzugeschriebenen Kreis oder
Halbkreis erkannt. So.
1 1 1 O C Ф3 Oz 1 1 1 O C Ф3 Oz
2 3 4 3 3 3 C2 2 3 4 3 3 3 C2

Et reliqua, quorum resolutio infra patebit. So auch die übrigen, deren Auflösung unten
ersichtlich ist.

25
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Sed nota, quod in omnibus his signis C O2 Aber merke, dass unter all diesen Zeichen
C2 Ф O, semibrevis tactu mensuratur integro, C O2 C2 Ф O, die Semibrevis einen vollen
augmentatione & proportionibus exceptis. Schlag misst, sofern keine Augmentation oder
Proportion stattfindet.

Et Motio conscendens & descendens simul Auch die auf und ab Bewegung der Hand
sumpta, reddit tactum integrum. ergibt zusammen genommen einen ganzen
Schlag.

Qua ratione cantores eruditi tactum Maiorem Wieso ziehen die gelehrten Sänger den Tactus
praeferunt? ob eius suavitatem, hoc est, quod maior vor? Wegen dessen Annehmlichkeit;
notae sub eo prolatae argutius ac lepidius diese ergibt sich, weil die vorgetragenen
resonant, atque sub minore: sed illa differentia Noten in ihm ausdrucksvoller und anmutiger
perraro observatur. klingen, während in dem minor diese
Differenziertheit sehr selten beobachtet wird.
[56]
De notarum imperfectione. Über die Imperfektion der Noten:

Quid est notarum imperfectio? Est tertiae Was ist die Imperfektion der Noten? Das ist
partis, valoris notarum perfectarum, ablatio. die Kürzung des Werts einer perfekten Note
um ein Drittel.

Quando fit? in gradibus perfectis, ubi notae Wann geschieht das? In den perfekten Stufen,
perfectae, aut per pausam, aut colorem, aut wenn die perfekten Noten durch eine Pause,
notam minoris speciei, imperficiuntur, teuto. eine Kolorierung oder durch eine kleinere
Wen die grösser nota durch die / so umb den Note imperfiziert werden. Auf Deutsch: Wen
halben teil kleiner ist / unfolkomen gemacht die grösser nota durch die / so umb den hal-
wirt. ben teil kleiner ist / unfolkomen gemacht wirt.

Quot sunt notae imperfectibiles? quatuor, Wie viele imperfizierbare Noten gibt es? Vier,
scilicet, [Exemplum]. nämlich, [Beispiel].
Quot sunt perficientes4? etiam quatuor, Und wie viele perfizierbare? Auch vier,
scilicet, [Exemplum]. nämlich, [Beispiel].

Quot sunt perficientes & imperficientes? tres, Wie viele sind perfizierend und imper-
utpote, [Exemplum]. Nota, quod imperfectio a fizierend? Drei, nämlich, [Beispiel]. Merke,
minima auspicatur, minima autem non dass die Imperfektion von der Minima aus
imperficitur, sed imperficit tantum, Maxima beginnt, die Minima kann aber nicht
quoque imperficitur at non imperficit. imperfiziert werden, sondern nur selber
imperfizieren, die Maxima dagegen kann
imperfiziert werden aber nicht selber
imperfizieren.
[57]
De triplici imperfectione per notam.
Über die dreifache Imperfektion durch
Quando fit imperfectio per notam? Quum die Note:
maior nota, per minorem, valoris dimidio Wann entsteht die Imperfektion durch die
diminutam, imperficitur. Note? Wenn eine grössere Note durch eine
Hoc modo. kleinere, um die Hälfte des Wertes
[Exemplum] verminderte, imperfiziert wird. Auf diese Art.
[Beispiel]
4
Muss wohl perfectibiles heissen.

26
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Quomodo hoc deprehendam? In signo modi Wie ist dies zu erkennen? Im Modus maior
maioris perfecti imperficitur maxima ab perfectum wird die Maxima von der Longa
longa, & in signo modi minoris perfecti imperfiziert und im Modus minor perfectum
imperfecitur longa ab brevi. In signo autem wird die Longa von der Brevis imperfiziert.
temporis perfecti brevis ab semibrevi, & in Im Tempus perfectum jedoch wird die Brevis
signo prolationis perfectae imperfici habet von der Semibrevis, und in der Prolatio
semibrevis ab minima, ut supra in exemplo perfecta die Semibrevis von der Minima
videre licet. imperfiziert, wie oben aus dem Beispiel
ersichtlich wird.

Quomodo fieri habet per colorem? quando Wie geschieht dies mittels Kolorierung?
notae perfectae, colore repletae, in cantilena Wenn perfekte, mit einer Kolorierung
reperiantur, tunc color, in notulis tertiam versehene Noten in der Melodie vorkommen,
aufert partem, sic. dann trägt die Kolorierung bei kleinen Noten
ein Drittel ab, so.
[Exemplum] [Beispiel]
[58]
Quando imperficiunt pausae? Cum post Wann imperfizieren Pausen? Wenn sie
notas perfectas, maioris speciei & valoris, unmittelbar nach perfekten Noten kommen,
immediate situantur, sic. die vom Wert und von der Art her zu den
maior gehören, so.
[Exemplum] [Beispiel]

Differunt ne nota & pausa in agendo? Unterscheiden sich die Note und die Pause in
maxime: Nam nota ab fronte & ab tergo der Ausführung? Ja sehr, denn die Note
imperficit, Pausa vero ab tergo tantum. Et imperfiziert von vorne und von hinten, die
eam naturam & vim imperficiendi, quam nota Pause aber nur von hinten. Die Art und die
habet, eandem habet & pausa, ut in exemplo Stärke des Imperfizierens ist bei der Pause
supra scripto cernere est. aber dieselbe wie bei der Note, wie im oben
geschriebenen Beispiel zu ersehen ist.

De puncto perfectionis, Über den Punkt der Perfektion:

Tabula. Tabelle:
Maximae? Maxima?
salvat eius Er rettet deren
Quid sibi Longae? perfectionem, Was bedeutet Longa? Perfektion,
vult punctus ne a sequenti der hinzuge- damit sie nicht
perfectionis Brevi? nota vel pausa fügte Punkt Brevis? durch die nach-
additus imperficiatur der Perfektion folgende Note
Semibrevi? bei der oder Pause
Semibrevis? imperfiziert.
werden.
[59]
[Exemplum] [Beispiel]

[60]
Punctus perfectionis, non solum in dictis Der Punkt der Perfektion findet sich nicht nur
Musicae gradibus reperitur, verum etiam in in den genannten Stufen der Musik, sondern
proportione hemiola saepissime ob incertos kommt sehr häufig auch in der hemiolischen
cantores, & textus applicationem invenitur. Proportion wegen der unsicheren Sänger und
Exemplum. in der Unterlegung des Textes vor. Beispiel.

[Exemplum] [Beispiel]

27
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[61]
Quid significat punctus divisionis? qui, si, Was bedeutet der Teilungspunkt? Wenn
in gradibus perfectis, & hemiola, inter duas dieser bei einer Hemiole in perfekter Stufe
notas perficientes, ciusdem5 speciei, positus, zwischen zwei perfizierende Noten derselben
indicat primam debere referri ad Art gesetzt wird, dann zeigt er an, dass die
praecedentem, secundam vero ad sequentem, erste zur Vorhergehenden, die zweite aber zur
ut cernere est in exemplo supra posito. Nachfolgenden zugeteilt werden muss, wie
dies im oben gesetzten Beispiel ersichtlich ist.

De Augmentatione. Über die Augmentation:

Quid est Augmentatio? est quantitatis Was ist die Augmentation? Das ist die
notarum incrementum. Erhöhung des Notenwerts.

Ubi fit? in prolatione perfecta solum, quando Wo geschieht dies? Nur in der Prolatio
semibrevis tribus, & minima uno metitur tactu perfecta, wenn die Semibrevis mit drei
integro. Schlägen und die Minima mit einem Schlag
bemessen wird.

Quomodo? ubi signum prolationis O C Wie? Sobald das Zeichen O C für die Prolatio
perfectae, in cantu circa unam duntaxat perfecta im Gesang bloss bezüglich einer
cantilenae partem fuerit constitutum, ibi notae Stimme des Liedes hingesetzt wird, werden
augmentantur. Quando vero in singulis dort die Noten augmentiert. Wenn aber in
cantilenae partibus tale signum repertum jeder einzelnen Stimme ein solches Zeichen
fuerit, non est augmentatio, sed perfecta auftaucht, handelt es sich nicht um eine
simpliciter prolatio. Innuitur etenim per Augmentation, sondern einfach um eine
Canonis inscriptionem, dicendo: Crescit in Prolatio perfecta. Denn durch eine hinzu-
triplo. gesetzte Regel wird signalisiert: wächst um
[62]
[Exemplum] das Dreifache. [Beispiel]

Quid est diminutio? de diminutione & Was ist die Diminution? Für die Diminution
Semiditate Consule Musicam Georgii Rau, & und Halbierung konsultiere die Musica von
Ornitoparchi, qui crassissime de his spetiebus Georg Rau und Ornitoparch, die darüber sehr
tractant. ausführlich schreiben.

De alteratione. Über die Alteration:

Quid est alteratio? Est eiusdem notae, in Was ist die Alteration? Das ist die Wieder-
quam cadit, reiteratio. holung jener Note, auf die sie fällt.

In quam notam cadit? in secundam, Auf welche Note fällt sie? Nur auf die zweite,
[63]
duntaxat, quod exemplum sequens wie folgendes Beispiel darlegt, das dem Lied
declarat, ex cantilena Tandernaken, cuius Tandernaken von Obrecht entnommen ist.
Autor est Obrecht, desumptum.
[Exemplum] [Beispiel]

Per quid innuitur Alteratio? per punctum Wodurch wird die Alteration angezeigt?
supra notas positum, qui alterationis dicitur, Durch einen über den Noten gesetzten Punkt,
fitque solum in ligatura duarum semibrevium, der punctum Alterationis genannt wird und
ut supra in exemplo videre est. nur in der Ligatur zweier Semibreven
vorkommt, wie oben im Beispiel zu sehen ist.
5
Druckfehler: Korrekt wäre cuiusdem.

28
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
De Syncopatione. Über die Synkopation:

Quid est Syncope? Est minoris notulae ultra Was ist eine Synkope? Das ist die metrische
maiorem vel maioris reductio. Et fit quando e Bezugnahme einer kleineren oder grösseren
medio concordantiarum, aliquid excinditur. Note über eine grössere hinweg. Diese
entsteht, wenn inmitten der Konsonanzen
etwas auseinandergerissen wird.
[64]
[Exemplum] [Beispiel]

De proportionibus. Über die Proportionen:

Quid est proportio? Est duarum quantitatum Was ist eine Proportion? Das ist das
comparatio, ut 2, ad 1 dicitur proportio dupla, Verhältnis zweier Zeitmasse. Das Verhältnis
& 3 ad 1 tripla, & sic de reliquis. 2 zu 1 wird dabei dupla genannt, 3 zu 1 tripla,
und so die übrigen.

Quomodo formatur proportio? per Wie wird eine Proportion gebildet? Durch die
inaequalitatem numerorum, ut 2 ad 1 & 3 ad 1 Ungleichheit der Zahlen, wie 2 zu 1 und 3 zu
etc. Nam aequalitas numerorum non facit 1 etc. Denn die Gleichheit der Zahlen bewirkt
proportionem ut, 1ad 1, & 2 ad 2. keine Proportion, wie 1 zu 1, und 2 zu 2.

Quomodo? quando numerus maior locatur Wie? Wenn eine grössere Zahl über eine
supra minorem, construitur proportio: si kleinere gestellt wird, wird eine Proportion
autem minor supra maiorem situatur, tunc erzeugt; wenn aber eine kleinere über eine
destruitur. grössere gesetzt wird, dann wird sie aufgelöst.
[65]
Constructio proportionis. Erzeugung der Proportion:

2 3 4 5 6 2 3 4 5 6
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

Destructio. Auflösung der Proportion:

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
2 3 4 5 6 2 3 4 5 6

Quot sunt genera proportionum? quinque. Wie viele Arten von Proportionen gibt es?
scilicet Multiplex, superpartiens, Fünf. Nämlich, die ‚Vielfachen‘, die
superparticularis, Multiplex superparticularis, ‚Übermehrteiligen‘, die ‚Überteiligen‘, die
& multiplex superpartiens, etc. ‚Vielfach-Überteiligen‘ und die ‚Vielfach-
Übermehrteiligen‘, etc.

Quot ex his sunt magis familiaria? duo, Welche von diesen sind am vertrautesten?
scilicet multiplex & superparticulare. Zwei, nämlich die ‚Vielfachen‘ und die
‚Überteiligen‘.

Quot proportionum species sunt magis Wie viele Arten von Proportionen sind am
frequentiores in genere multiplici? tres, häufigsten bei den ‚Vielfachen‘? Drei,
utpote, Dupla, Tripla, & Quadrupla, aliquando nämlich, die Dupla, die Tripla und die
etiam quintupla, sed raro. Quadrupla, manchmal auch die Quintupla,
aber selten.

29
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Quot in genere super particulari? tres, scilicet Wie viele sind in der Gruppe der
sesquialtera, sesquitertia, & sesquiquarta. ‚Überteiligen‘? Drei, nämlich Sesquialtera,
Reliquae omnes, ob earum difficultatem, raro Sesquitertia und Sesquiquarta. Alle übrigen
accedunt in usum musicum. kommen wegen ihrer Schwierigkeit selten in
der Musikpraxis vor.

De Dupla. Über die Dupla:

Dupla, quid est? Est numeri binarij ad 1, Was ist die Dupla? Sie ist das Verhältnis von
[66]
vel quaternarij ad binarium, collatio. Et fit zweizeitigen Werten zu 1 oder von vier-
quando duae notae, eiusdem speciei, loco zeitigen zu zweizeitigen. Sie entsteht, wenn
unius proferuntur, signaturque sic. zwei Noten derselben Art am gleichen Ort
2 4 O2 C2 vorgetragen werden und wird so angezeigt:
1 2 2 4 O2 C2
1 2

[Exemplum] [Beispiel]

De Tripla. Über die Tripla:

Quomodo construitur Tripla? quum [67] tres Wie wird die Tripla zusammengesetzt? Indem
sive sex notae, contra unam, eiusdem formae, drei oder sechs Noten derselben Form gegen
ponuntur, huius signum est. eine gesetzt werden. Ihr Zeichen ist
3 6 folgendes: 3 6
1 2 1 2

[Exemplum] [Beispiel]

De Quadrupla. Über die Quadrupla:

Quid est quadrupla? Est quatuor notarum, Was ist die Quadrupla? Sie entsteht wenn vier
contra unam, positio: fitque, cum [68] quatuor Noten derselben Art gegen eine positioniert
notulae, contra unam, eiusdem speciei, werden. Ihr Zeichen ist folgendes:
ponuntur, eius signum est 4 8
4 8 1 2
1 2

[Exemplum] [Beispiel]

De Speciebus frequentioribus in genere Über die häufigeren Arten bei den


superparticulari. ‚Überteiligen‘.

De Sesquialtera. Über die Sesquialtera:

Quid est Sesquialtera? Est numeri ternarij ad Was ist die Sesquialtera? Sie ist das
binarium relatio, fitque, quando tres minimae, Verhältnis der dreizeitigen Werte zu den
contra semibrevem, ponuntur, hoc modo: zweizeitigen und entsteht, wenn drei Minimae
signum 3 gegen eine Semibrevis gesetzt werden, auf
2 diese Art: Zeichen 3
2
[69]
[Exemplum] [Beispiel]

30
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
De Sesquitertia. Über die Sesquitertia:

Quando constituitur Sesquitertia? Cum Wie wird die Sesquitertia konstituiert? Indem
quatuor notae, contra tres, eiusdem vero sich vier Noten gegen drei, aber der gleichen
speciei, locant, huius signum est 4 8 Art, stellen. Ihr Zeichen ist 4 8
3 6 3 6
[70]
[Exemplum] [Beispiel]

De Sesquiquarta. Über die Sesquiquarta:

Quomodo construitur sesquiquarta? quum Wie wird die Sesquiquarta aufgebaut? Indem
quinque notulae, contra quatuor, eiusdem fünf Nötchen gegen vier derselben Art gesetzt
speciei, ponuntur, signaturque sic werden, was so angezeigt wird.
5 10 5 10
4 8 4 8
[71]
[Exemplum] [Beispiel]

De Hemiola. Über die Hemiole:

Quid est Hemiola? Hemiola, quam multi Was ist eine Hemiole? Die Hemiole, die viele
triplam vocant, est trium semibrevium vel die Tripla nennen, ist das Mass dreier
brevis perfectae, sub unicum tactum Semibreven oder einer perfekten Brevis
cadentium, mensura, huius signum est iste innerhalb eines einzelnen Taktes. Ihr Zeichen
character O vel C ist so beschaffen:
3 3 O oder C
3 3

Habet ne aliud signum praeter circulum & Besitzt sie nicht noch ein anderes Zeichen
numerum: etiam? Nam color eandem vim ausser dem Kreis und der Zahl? Allerdings,
[72]
habet ceu circulus & numerus. Et quando denn die Kolorierung hat dieselbe Bedeutung
per colorem indicatur, caret signis, qua color wie der Kreis und die Zahl. Und wenn die
loco signi ponitur, vocaturque intrinsecum Hemiole durch eine Kolorierung angezeigt
sive implicitum signum. wird, entbehrt sie der anderen Zeichen, an
deren Stelle eben die Kolorierung steht, die
ein inwendiges oder implizites Zeichen
genannt wird.

[Exemplum] [Beispiel]

Musicae Mensuralis finis. Ende der Mensuralmusik.

31
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[73]
DE COMPOSITIONE ÜBER DIE KOMPOSITION
Cantus Compendium. Kompendium des Gesangs

De numero Consonantiarum. Über die Harmonie der Konsonanzen

QUot sunt concordantiae? quatuor, scilicet Wie viele Konsonanzen gibt es? Vier,
unissonus, tertia, quinta, & sexta. nämlich Unisono, Terz, Quinte und Sexte.

Quotuplices sunt? duplices, perfectae & Wie unterteilen sie sich? In perfekte und
imperfectae. imperfekte.
Quot sunt Perfectae? duae, ut, unissonus et quinta Wie viele sind perfekt? Zwei, nämlich Unisono
Imperfectae? etiam duae, scilicet tertia et und Quinte.
sexta. imperfekt? Auch zwei, nämlich
Terz und Sexte.

Quomodo reliquae ex dictis componuntur? ab Wie werden die Übrigen aus den eben
unissono componitur diapason & disdiapason, genannten zusammengesetzt? Aus dem
quae omnes perfectae sunt. A quinta Unisono werden die Oktave und die
componitur diapente diapason, & diapente Doppeloktave zusammengesetzt, die beide
disdiapason, quae etiam perfectae sunt. A perfekt sind. Aus der Quinte werden die
tertia construuntur ditonusdiapason, & ditonus Duodezime und die Duodezime plus Oktave
disdiapason. A sexta autem conflantur tonus zusammengesetzt, die auch beide perfekt sind.
diapen-[74] te diapason, & tonus diapente Von der Terz aus werden die grosse Dezime
disdiapason, quae omnes imperfectae und die grosse Dezime plus Doppeloktave
resonantiam praebent. gebildet. Von der Sexte aus werden aber die
grosse Tredezime und die grosse Tredezime
plus Oktave geformt, die alle einen
imperfekten Klang erzeugen.

Quae est differentia consonantiarum? nemo Worin liegt der Unterschied bei den
facile potest iudicare atque considerare quid Konsonanzen? Niemand kann leicht
intersit inter concordantiarum discrimen, nisi beurteilen und prüfen, was es für einen
sit natura componista, arte & multo usu bene Unterschied zwischen den Konsonanzen gibt,
instructus, et si quis perperam hoc discrimen es sei denn der Komponist ist durch
servaverit, is difficile cantum suavem, sine natürliches Talent, Handwerk und viel Übung
vitijs condiderit. Videmus enim nostro gut unterrichtet; wenn aber einer diesen
tempore nonnullos componistas, qui ad Unterschied nicht beachtet, wird er
constructionem cantilenarum, arte parum schwerlich einen angenehmen Gesang ohne
intellecta, novas quasdam clausulationes, sed Mängel verfassen. Wir sehen nämlich in
eas contra tonorum vim, affingunt. Alij tam unserer Zeit ziemlich viele Komponisten, die
varie et illepide condunt, quod vix melodiae beim Komponieren von Gesängen - weil sie
suavitas discerni potest. Quomodo non von der Kunst zu wenig begriffen haben -
componet is, qui numquam audivit, legit, nec gewisse neue Klauseln hinzufügen, obwohl
ad unguem componendi praecepta didicit: Sed diese gegen den Charakter des Kirchentons
redeam ad institutum: sind. Andere schreiben so wechselhaft und
unfein, dass nur mit Mühe eine Annehm-
lichkeit der Melodie erkennt werden kann. So
wird derjenige nie komponieren können, der
die Vorschriften zum genauen Komponieren
weder gehört, gelesen noch gelernt hat. Doch
ich will zum Unterricht zurückkehren:

32
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Ut igitur tibi quam maxime, plane & dilucide Um also, so klar und deutlich ich kann, dir
possem, & omnibus huic arti bene facientibus, und allen, die sich um diese Kunst verdient
prodessem, exempla, quae ad hanc rem machen, zu nützen, will ich Beispiele, die
maxime conducunt ob [75] oculos ponam, ex besonders hierzu beitragen, vor Augen halten,
quibus facile hoc discrimen cognoscas. Et aus denen du leicht diesen Unterschied
quid percipue in hac re requiritur, quidue erkennen magst. Auch was besonders in
Iosquinus curavit inde germanam et genuinam dieser Sache verlangt wird und was Josquin
huius artis noticiam consequaris, breviter pflegte, nämlich die echte und wahre
accipias. Quid autem traditurus sim, iuditium Kenntnis dieser Kunst, erlangst und erlernst
erit musicorum. Non enim permitto iudicium du hierauf rasch. Was ich ferner mitteilen
de hac arte indoctis cantoribus, qui vulgo werde, ist das Urteil der Musiker. Denn ich
imitatores Iosquini dici volunt, cum nullum überlasse das Urteil über diese Kunst nicht
carmen ab ipso conditum viderint, qui iactant den ungebildeten Sängern, die vom Volk
suas ineptas cantilenas esse multo laepidiores Nachahmer Josquins genannt werden wollen,
aptioresque Iosquini, tantum non abest ut obwohl sie noch nie ein Lied selber verfasst
Ioquinum imitentur, quantum coelum ab terra: haben; jene, die prahlen, ihre untauglichen
Quoniam Iosquini Carmina habent multas & Melodien seien viel lieblicher und geschickter
varias et argutissimas clausulationes, gemacht als jene Josquins, sind soweit davon
aptissimis fugis & canonibus exornatis, plenas entfernt, Josquin nachzuahmen, wie der
suavitatis, et ad compositoriam artem sane in Himmel von der Erde: Weil die
primis conducibiles, quare vellem Kompositionen Josquins viele verschiedene
componistis Iosquiniana carmina esse quam und höchst ausdrucksvolle Klauseln besitzen,
familiarissma. mit wohlgeordneten Fugen und Kanons
ausgeschmückt und voller Lieblichkeit sind,
und auch weil sie der Kompositionskunst
ganz besonders zuträglich sind, wünschte ich,
dass sie am bekanntesten wären.

Quae consonantiarum sunt duriores? Welche Konsonanzen sind härter? Die einen
Concordantiarum aliae sunt sonitu forti- [76] Konsonanzen sind kräftiger im Klang,
ores, ut, quinta et tertia, aliae vero molliores, nämlich Quinte und Terz, die anderen aber,
ut unissonus & sexta. Unisono und Sexte, sind weicher.

Quotuplices sunt concordantiae imperfectae? Wie viele Arten von imperfekten


duplices, quomodo? Nam quaedam sunt Konsonanzen gibt es? Zwei, die einen sind
durae, ut Ditonus et tonus diapente, quaedam nämlich hart, wie die grosse Terz und die
vero molles ut, semiditonus et Semitonium grosse Sexte, die anderen jedoch sind weich,
diapente. namentlich die kleine Terz und die kleine
Sexte.

Quomodo in carminibus locantur? habent Wie werden sie in die Komposition gesetzt?
quaedam loca peculiaria, ubi & quomodo poni Sie haben bestimmte, eigentümliche Orte, wo
debent, quae infra crassissime patebit. und wie sie gesetzt werden müssen, die unten
ausführlich dargelegt werden.

33
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Quomodo hoc depraehendam? si vis apte & Wie ist das zu erkennen? Wenn du geschickt
argute componere, perpende & considera und ausdrucksvoll komponieren willst, musst
vocum et numerorum genera, quae in certis du die Formen der Töne und Harmonien, die
praeceptis consistunt, daque operam, ut auf bestimmten Vorschriften beruhen, genau
subsequentes canones tibi sint familiarissimi. erwägen und bedenken, und dir Mühe geben,
die folgenden Regeln zu verinnerlichen.

I. I.

Duae concordantiae perfectae, immediate se Zwei perfekte Konsonanzen dürfen nicht


sequi non debent. unmittelbar aufeinander folgen.
[77]
[Exemplum] [Beispiel]

II. II.

Duae autem vel plures imperfectae Zwei oder auch mehrere imperfekte
concordantiae immediate se sequi possunt. Konsonanzen dürfen unmittelbar aufeinander
folgen.
[Exemplum] [Beispiel]
[78]
III. III.

Octava et quinta interdum immediate se Oktave und Quinte folgen manchmal


sequuntur, sed hoc in dissimilibus motibus. unmittelbar aufeinander, doch stets in
Fuga in unissono. ungleichen Bewegungen. Fuge im Unisono.

[Exemplum] [Beispiel]

IIII. IIII.

Si perfectae concordantiae, se iuxta canonem Wenn perfekte Konsonanzen beim Kanon im


sequuntur in unissono, non erit vitium, quod Unisono aufeinander folgen, ist dies kein
totum Iosquinianum est. Verstoss, weil es ganz nach Josquins Art ist.

[Exemplum] [Beispiel]
[79]
V. V.

In diminutioribus figurarum speciebus crebro Bei speziellen Diminutionen der Noten


usu venire solet, ut discordantia sequatur kommt es in der Praxis häufig vor, dass eine
concordantiam, et contra. At si ita contigerit, Dissonanz der Konsonanz folgt, und
cavendum ne plures praeter unam sequantur. umgekehrt. Wenn das aber so geschieht, ist
Acht zu geben, dass nicht mehr als eine folgt.
[Exemplum]
[Beispiel]

34
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
VI. VI.

Brevis et semibrevis nunquam patiuntur Brevis und Semibrevis liegen niemals offen in
discordantiam, quia valde laedunt et vitiant einer Dissonanz, weil sie die Konsonanzen
consonantias, si in cantu imperfecto stark schädigen und verderben, wenn sie im
discordantes reperiantur, verum ubi in imperfekten Gesang dissonant auftauchen;
proportionem duplam vel quadruplam wenn sie aber in der Proportio dupla oder
incidunt, admittuntur. quadrupla vorkommen, werden sie
zugelassen.
[80]
[Exemplum] [Beispiel]

VII. VII.

Omnes cantilenarum partes, in concordantijs Alle Teile eines Gesanges enden gemäss den
perfectis, iuxta priscorum morem, terminari ältesten Sitten in perfekten Konsonanzen,
habent, nisi Cantilena sit quarti toni, quae ausser das Lied steht im vierten Kirchenton,
alium atque alium sibi finem excogitare solet, der sich bald dieses bald jenes Ende zu
ut videre licet in exemplo. erfinden pflegt, wie dies im Beispiel zu sehen
ist.
[81]
[Exemplum] [Beispiel]

VIII. VIII.

Propinquiores concordantiae, quae intra Verwandtere Konsonanzen, die sich innerhalb


Disdiapason continentur, auditu sunt multo einer Doppeloktave befinden, sind viel
iucundiores, quam quae nimium inter se angenehmer zu hören als jene, die durch eine
distant. übermässig grosse Distanz auseinander
liegen.
IX. IX.

Observabis quoque, ne saepius, ultra Beachte ebenso, dass du Konsonanzen nicht


disdiapason, concordantias effingas, sunt zu oft ausserhalb der Doppeloktave bildest,
enim quasi dissonae, ac repugnantes. Qui denn diese sind sozusagen unharmonische
autem caute agunt hoc intervallum raro und widerstrebende. Jene, die vorsichtig
transcendunt. vorgehen, übersteigen dieses Intervall selten.
[82]
Sequuntur Canones de dispositione & Es folgen die Regeln über die Anordnung und
ordinatione quatuor partium. Reihenfolge der vier Stimmen.

Quot sunt partes Cantilenarum? quatuor, Wie viele Gesangsstimmen gibt es? Vier,
scilicet Discantus, Altus sive contratenor, nämlich den Diskant, den Alt oder
Tenor, et Bassus. Quando autem Cantilena Kontratenor, den Tenor und den Bass. Wenn
quinque partes habuerit, tunc quinta pars aber der Gesang fünf Stimmen hat, dann wird
dicitur Vagans. Interdum etiam sex vocum, die fünfte Vagans genannt. Zuweilen treffen
cantilenae, ab eruditis Musicis, compositae, die gelehrten Musiker in den komponierten
reperiutur, quarum sexta pars Subbassus Gesängen auch sechs Stimmen an, deren
vocatur: Si autem plures quam sex voces sint, sechste dann Subbass genannt wird. Wenn es
dicimus, primus Discantus, secundus aber mehr als sechs Stimmen sind, sprechen
discantus, & sic de reliquis. wir vom ersten Diskant, zweiten Diskant, und
so weiter.

35
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
I. I.

Quando Discantus cum tenore, in diapason, et Wenn der Diskant mit dem Tenor in einer
Bassus in disdiapason infra ordinatur, tunc Oktave steht und der Bass in der Doppel-
altus diapenten vel tertiam supra tenorem oktave darunter angeordnet ist, dann soll der
occupabit. Alt die Quinte oder Terz über dem Tenor
besetzen.
II. II.

Si Discantus tertiam supra tenorem tetigerit, Wenn der Diskant die Terz über dem Tenor
Bassus diapason infra tenorem habebit. [83] erreicht, soll der Bass die Oktave unter dem
Altus vero diapenten supra, vel diatessaron, Tenor haben. Der Alt aber soll die Quinte
vel tertiam infra eum tenebit. über, oder die Quarte oder Terz unter ihm
aushalten.
III. III.

Quoties enim discantus diatessaron supra So oft nämlich der Diskant die Quarte über
tenorem habuerit, toties Bassus diapenten, dem Tenor hat, so oft wird der Bass in der
altus vero tertiam infra collocabit. Quinte, der Alt aber in der Terz darunter
angeordnet.
IIII. IIII.

Discantus raro supra tenorem diapenten, Der Diskant erlangt selten die Quinte über
constituit, & si ita contigerit, Bassus diapason dem Tenor, aber wenn dies so geschieht, soll
infra, & altus ditonum vel semiditonum sibi der Bass die Oktave und der Alt die grosse
vendicabit. oder kleine Terz darunter beanspruchen.

V. V.

Si Discantus sextam supra tenorem Wenn der Diskant die Sexte über dem Tenor
occupaverit, id quod Discanto proprium esse besetzt, was dem Diskant häufig eigen ist,
solet, tum Bassus ad Diapenten infra dann wird der Bass auf die Quinte darunter
deprimetur, & Altus ad diatessaron levabitur. gedrückt und der Alt auf die Quarte gehoben.

VI. VI.

Quando Bassus tertiam infra tenorem Wenn der Bass die Terz unter dem Tenor hält
continet, Discantus diapason supra, & und der Diskant die Oktave darüber, wird der
[84]
Altus tertiam sive sextam supra Alt die Terz oder Sexte darüber besetzen.
comprehendet.

VII. VII.

Cum autem Bassus decimam infra tenorem Wenn hingegen der Bass die Dezime unter
occupaverit, tunc discantus ad sextam dem Tenor einnimmt, dann steigt der Diskant
ascendet. Altus vero tertiam supra vel infra zur Sexte auf. Der Alt jedoch wird die Terz
habebit, sed illud ad nutum componistae. unter- oder oberhalb haben, je nach Willen
des Komponisten.

36
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
VIII. VIII.

Quum enim Bassus infra tenorem Wenn schliesslich der Bass die Duodezime
diapentendiapason complectitur (quae unter dem Tenor erfasst (was normalerweise
rarissime fieri solet) Discantus tertiam infra, höchst selten geschieht), wird der Diskant die
vel sextam vel diapason supra postulabit, & Terz darunter, oder die Sexte oder Oktave
tunc Altus iuxta consonantiarum exigentiam darüber verlangen, und dann wird sich der Alt
ordinari debet. gleichermassen nach der Forderung der
Konsonanzen anordnen müssen.

Sequitur Exemplum cuiuslibet regulae vim et Es folgt ein Beispiel, das die Bedeutung und
notitiam, declarans. Ausführung all dieser Regeln veranschaulicht.
[85]
[Exemplum] [Beispiel]

Haec est simplex concordantiarum compositio Diese Anordnung der Konsonanzen nach den
secundam praedictas regulas, posset enim beschriebenen Regeln ist einfach, sie könnte
multo subtilius & velotius construi, hoc nämlich noch viel subtiler und schmuck-
modo. reicher konstruiert werden, auf diese Weise.

[Exemplum] [Beispiel]

Sequitur Resolutio. Es folgt die Auflösung.


[86]
[Exemplum] [Beispiel]

Hunc modum, regulis bene cognitis, usus, Diese Vorgehensweise wird dich, sofern du
artium magister, facile docebit. die Regeln recht wahrgenommen hast, die
Praxis, der Lehrmeister aller Künste, leicht
lehren.
[87]
SI CUI ANIMUS EST SUAvem Wenn jemand vorhat, eine angenehme
harmoniam constituere, quasdam Regulas Harmonie zu erzielen, ist es notwendig, dass
observet, necessum est. er gewisse Regeln berücksichtigt.

I. I.

Principio omnium maxime decet ne ex vulgari Zu Beginn gehört es sich unbedingt, dass er
Musicorum fece sit, Et ut scalam nicht aus dem gewöhnlichen Musikerdreck
decemlinealem (quam vocant) in promptu kommt, und er muss die so genannte
habeat, oportet, Et claves signatas, in suum zehnlinige Skala bereit haben und die
ordinem veluti in nidum reponat. Schlüssel in ihre Reihe wie in ein Nest
anordnen.
II. II.

Et ne forsitan dissonum quippiam & παςά Und damit nicht jemand versehentlich die
μέλοσ (Id est praeter cantilenam) ut Graeci Dissonanz παςά μέλοσ (d.h. wider das Lied)
dicunt, componat, tempus ab tempore, wie die Griechen sagen, komponiere, ist es
diligenter discernat, necessum est, ut bene notwendig, das Tempus vom Tempus
temporis perfecti ab imperfecti ratione sorgfältig zu unterscheiden, damit durch das
cognita, omnia suum sorciantur locum. recht erkannte Verhältnis des perfekten
Tempus zum imperfekten, alles seinen Platz
erhält.

37
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
III. III.

Tamen nec omittendum est, quo6 iudicium, Gleichwohl ist nicht zu vergessen, dass man
exactum adhibeat, ne in concordantiis das exakte Urteil anwende, damit sich in
perfectis, veluti in quintis, & octavis mi perfekten Konsonanzen, wie in Quinten und
contra fa in acie, pugnet: Nescio enim quae Oktaven, mi und fa nicht scharf reiben: ich
άφονία, hoc est dissonantia quaedam resultat, wüsste nämlich nicht, welche άφονία - das ist
quae aures vehementius feriat. sozusagen die Dissonanz, die zurückprallt -
die Ohren noch heftiger schlägt.
[88]
De Clausulationibus et Canonibus Regeln über die Gestaltung der
formandis regulae. Klauseln und Kanons:

I. I.

In omni cantilenarum compositione In jeder Komposition der Lieder ist der


considerabitur tonus, ne partes extra Kirchenton genau zu erwägen, damit nicht die
regularem tonum vagentur, alias melodia Stimmen vom regulären Kirchenton
corrumperetur. abschweifen, sonst wird die Melodie
verdorben.

II. II.

Cavebis, ne in scala compositoria Gib Acht, dass du in der kompositorischen


Disdiapason transilias, quia consonantiae intra Skala die Dezime nicht übersteigst, denn die
Disdiapason sunt frequentiores & multo Konsonanzen innerhalb der Doppeloktave
suaviores alijs. sind zahlreicher und viel lieblicher als die
anderen.
III. III.

In formandis Clausulationibus & fugis Im Gestalten von Klauseln und Fugen hat am
maxime omnium floruit Iosquinus quem in meisten von allen der gelehrteste Josquin
hac arte imitari consultissimum existimavi. geglänzt, den ich in dieser Kunst für
nachahmenswert halte.

Sequuntur Clausulae mixtae Fugis primi Toni. Es folgen mit Fugen verbundene Klauseln im
ersten Kirchenton.
[89]
Secundi toni. [Exemplum] Im zweiten Ton. [Beispiel]
[90]
Tertij, quarti, quinti toni. Im dritten, vierten und fünften
[Exemplum] Ton. [Beispiel]
[91]
Sexti, septimi toni. [Exemplum] Im sechsten und siebenten Ton.
[Beispiel]
[92]
Octavi toni.[Exemplum]
Im achten Ton. [Beispiel]
His plures & dulciores clausulationes
superaddi possent. Zu diesen können noch mehr und süssere
Klauseln hinzugefügt werden.
6
Vermutlich quod statt quo.

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
CUr Pausae ponuntur in Cantu? ob plures, Warum werden Pausen in den Gesang
quarum quaedam superius in Musica gesetzt? Aus mehreren Gründen, von denen
mensurali commemoratae sunt, sed einige weiter oben im Zusammenhang mit der
componistae praeter eas, alias quoque Mensuralmusik angeführt sind; die
habent, tametsi ab contrapuncto non cogantur. Komponisten haben jedoch neben diesen noch
Sed primo ponuntur ad evitandum Tritonum andere Gründe, obwohl die nicht durch den
Semidiapenten & alia prohibita intervalla. Kontrapunkt erzwungen werden. Vielmehr
Secundo ad discretionem perfectarum werden diese Pausen erstens zur Vermeidung
concordantiarum, quae se invi-[93] cem des Tritonus, der verminderten Quinte und
consequi, ascensu vel descensu, prohibitae anderer verbotener Intervalle gesetzt.
sunt. Tertio ut Cantus in Gemellis Zweitens zur Trennung der perfekten
duabus vocibus tantum constans suavior Zusammenklänge, die, wenn sie sich im Auf-
existat, quoniam caetare voces tacent, quae oder Abstieg wechselweise folgen, verboten
deinde prioribus duabus tacentibus sind. Drittens, damit der bloss aus dem
subsequuntur, licet eandem harmoniam Zwillingshaften zweier Stimmen bestehende
concentumque repetant, quod auditu Gesang umso lieblicher hervortritt, weil die
iucundissimae sit, quo & Iosquinus plurimum übrigen Stimmen schweigen, diese aber
usus est. Quarto, quod Cantus ultra sex, octo darauf den beiden vorherigen, nun
duodecim voces ex pluribus quoque partibus schweigenden, nachfolgen, obschon sie
componuntur. dieselbe Harmonie und denselben
Zusammenklang wiederholen, weil dies für
das Gehör höchst angenehm ist, was auch bei
Josquin oft der Brauch ist. Viertens, weil die
Gesänge über sechs, acht, zwölf Stimmen
ebenso aus mehreren Teilen zusammengesetzt
werden.

Iosquinus in primis curavit, ut propinquiores Josquin kümmerte sich besonders darum, dass
concordantias quam simplicissime potuit, er die verwandteren Konsonanzen, so einfach
construeret, idque quodam cum iuditio fecit. er konnte, aufbaute, und er machte dies mit
Quoniam quod simpliciter secundum veram einiger Urteilskraft. Weil dies einfach nach
artem conditum est, hoc magis delectat & der wahren Kunst aufgebaut ist, ergötzt und
movet hominum aures, quam quod sine arte & bewegt es mehr die Ohren der Menschen, als
regulis constat. Multi gaudent velocitati wenn es ohne Kunst und Regeln bestünde.
notarum, etsi parum delectat, at pauci favent Viele erfreuen sich an der Geschwindigkeit
suavitati ac subtilitati, quae, maxime sitae der Noten, obgleich diese nicht sehr beglückt,
sunt in fugis brevium & semibrevium, quibus hingegen schätzen nur wenige die
Iosquinus usus est. Lieblichkeit und Feinheit, die besonders in
den Fugen der Breven und Semibreven
vorhanden sind, die Josquin angewandt hat.
[94]
EXEMPLUM SUCCEDIT DE Es folgt ein Beispiel für die Feinheit der
SUBTILItate cantilenarum, qua homines Lieder, durch die die Menschen bewegt
moventur. werden.

[Exemplum] [95] [Beispiel]

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© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
De componendis duabus vocibus. Über die Komposition zweier Stimmen:

Quomodo duae partes cantilenae apte Wie müssen zwei Stimmen eines Liedes
componi debent? In compositione duarum richtig komponiert werden? Bei der
partium observabis consonantias Komposition zweier Stimmen solltest du die
propinquiores, volunt enim istae partes verwandteren Konsonanzen verwenden, denn
sempre circa ascensum & descensum die beiden Stimmen wollen beim Aufstieg
conversare & quasi familiaritatem invicem und Abstieg stets konversieren und
habere, ut cernere est in exemplo. gewissermassen eine wechselseitige
Freundschaft haben, wie im Beispiel zu
ersehen ist.
[96]
[Exemplum] [Beispiel]
[97]
[Exemplum] [Beispiel]

Eodem modo etiam tres cantilenarum partes Auf gleiche Weise müssen auch drei Stimmen
consitui debent. eines Liedes zusammengefügt werden.
[98]
Da tabulam compositoriam, quam veteres Wie steht es mit der Kompositionstafel, die
illi Musici usurparunt? Tabulam qua usus jene alten Musiker benutzten? Die Tafel, über
Iosquinus & Isaac & reliqui eruditissimi, deren Verwendung bei Josquin, Isaac und den
nemo verbis neque exemplis tradere potest. übrigen Gelehrtesten niemand mit Worten
Eius ratio est, que veteres illi, tabulis ligneis oder Beispielen Angaben machen kann. Der
vel lapideis non contenti fuerunt, non qui iis Grund dafür ist, dass jene Alten mit den
non usi fuerint, verum magis se ad Theoricam hölzernen oder steinernen Tafeln nicht
quam ad practicam applicarunt, quare qui zufrieden waren, nicht, dass sie sie gar nicht
hanc artem ignorant, nihil certi component, benutzt hätten, aber sie wendeten sich mehr
sed plane operam luserint. der Theorie als der Praxis zu, weshalb jene,
die diese Kunst nicht kennen, nichts sicher
komponieren, sondern ihre Zeit darüber völlig
nutzlos zubringen.

Quomodo haec deprehendam? obscura Wie ist dies zu erkennen? Es ist freilich eine
quidem res est, praecipue Theoricam unklare Angelegenheit, besonders für jene,
ignorantibus, natura enim, in hac arte die die Theorie nicht beherrschen, denn durch
componendi cantilenas, reddimur eruditiores die Natur werden wir gelehrter und sicherer
certioresque. Quemadmodum enim Poetae gemacht in dieser Kunst Lieder zu
naturali quodam impetu, ad condenda komponieren. So wie nämlich die Poeten
Carmina, excitantur, habentes in animo res, durch einen gewissen natürlichen Impetus
quas descripturi sint, inclusas etc. Sic etiam beim Verfassen von Gedichten erregt werden
oportet Componistam prius quasdam, in und die Themen, die sie beschreiben wollen,
animo, clausulas, sed optimas, excogitare, & schon im Geiste eingeschlossen haben etc., so
quodam iuditio easdem perpendere, ne aliqua gehört es sich auch für den Komponisten,
nota totam vitiet clausulam, & auditorum zuerst im Geiste gewisse Klauseln - und zwar
aures taediosas faciat. die besten - zu ersinnen, und dieselben durch
ein bestimmtes Urteil genau zu erwägen,
damit nicht irgendeine Note die ganze Klausel
verletze und die Ohren des Zuhörers ekeln
mache.

40
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Deinde, ad exercitationem accedere, hoc est, Danach ist an die Ausführung heranzugehen,
excogitatas clausulas, in ordinem quendam das heisst, die erfundenen Klauseln sind in
distribuere, & eas, quae videntur aptiores einer gewissen Ordnung zu verteilen und
servare. diejenigen, die passender scheinen, zu
behalten.

Quis est iste ordo distribuendi voces? Est qui Worin besteht diese Ordnung der Stimm-
antiquitus, et ab ipso Iosquino, servatus et verteilung? Das ist die von alters her und von
traditus est, quem [99] quoque instructissimi Josquin persönlich befolgte und überlieferte
quidam musici nostro tempore discipulis suis Ordnung, die auch die gebildetsten Musiker
tradidere. unserer Zeit ihren Schülern überliefern.

SEQUITUR ORDO DISTRIBUENDI voces Es folgt die Verteilungsordnung der Stimmen


sive cantilenarum partes, quem prisci oder Partien der Lieder, welche die Früheren
tabularum vice usurparunt. an Stelle der Tafeln benützten.

[Exemplum] [Beispiel]
[100]
De accentu Ecclesiastico, sive ratione Über den Kirchenakzent oder über die Lehre,
legendi lectiones, Epistolas & Evangelia die Lesungen, Episteln und das einheimische
vernacula. Evangelium zu lesen.

Institutiones. Einführung:

Quid est accentus Ecclesiasticus? est modus Was ist ein Kirchenakzent? Das ist eine
quidam, qui, in legendis prophetijs, gewisse Art, die beim Lesen der Propheten,
lectionibus, Evangelijs, & Epistolis, servari Schriften, Evangelien und Episteln gepflegt
solet. wird.

Quomodo cognoscitur ille accentus? per Wie wird jener Akzent erkannt? Durch einen
punctum, in textu positum. in den Text gesetzten Punkt.

Quotuplex est accentus Ecclesiasticus? Wie viele Formen von Kirchenakzenten gibt
sextuplex. es? Sechs.

scilicet Nämlich:

Immutabilis nec levat nec Immutabilis weder hebt


deprimit noch senkt.
Medius ad tetiam Medius zur Terz
deprimit Senkt.
Gravis qui ad quintam Gravis der die zur Quinte
syllabam letzte senkt.
Acutus finalem ad locum sui Acutus Silbe zur Stelle
descensus ihres Abstiegs
reducit zurückführt .
Moderatus in proximam Moderatus in die nächste
secundam levat Sekunde hebt.
Interrogatiuus gradatim Interrogatiuus schrittweise
elevat emporhebt.

41
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
[101]
Quot sunt puncti? quatuor, scilicet, Wie viele Punkte gibt es? Vier, nämlich
distincto sive virgula, comma: colon. & distincto oder virgula, comma, colon und
interrogatorius. interrogatorius.

Quotuplicem accentum habet distinctio? Aus wie vielen Akzenten besteht die
triplicem, scilicet, immutabilem, Acutum, & Distinctio? Aus dreien, nämlich dem
Moderatum. Comma autem Medium Immutabilis, Acutus und dem Moderatus. Das
comprehendit accentum. Colon vero gravem Comma umfasst dagegen den Medius. Das
assciscit. Colon aber beinhaltet die Gravis.

Quomodo hoc deprehendam? Si in una Wie ist dies zu erkennen? Wenn in einer Rede
oratione, inter plures dictiones distinctio, zwischen vielen Ausdrücken eine Distinctio
reperiatur, eas in unissono esse proferendas auftaucht, zeigt diese an, dass die Ausdrücke
demonstrat. Si autem comma, hoc est, duo im Unisono vorzutragen sind. Wenn es sich
puncti: tunc ultima syllaba ad tertiam aber um ein Comma handelt - das sind zwei
deprimitur, excepta dictione monosyllaba, et Punkte -, dann wird die letzte Silbe auf die
hebraica, quae in proximam secundam Terz niedergedrückt, wobei hier die
levantur. Quando vero Colon, hoc est, punctus einsilbigen und hebräischen Ausdrücke
ante literam capitalem, invenitur, indicat ausgenommen sind, die jeweils in die nächste
ultimam syllabam, debere gravari ad quintam, Sekunde gehoben werden. Wenn aber ein
dictione hebraica & monosyllaba dempta, Colon, also ein Punkt vor grossem
quae ad locum sui descensus vult elevari, Buchstaben, vorkommt, bedeutet das für die
iuxta quantitatem syllabarum. Id quod letzte Silbe, dass sie auf die Quinte sinkt -
sequens lectio copiose declarat. hebräische und einsilbige Ausdrücke
wiederum ausgenommen, die entsprechend
der Silbenanzahl an den Ort ihres Abstiegs
heraufgesetzt werden müssen. Dies wird in
der folgenden Lesung ausführlich aufgezeigt.
[102]
Sequitur Exemplum de legendis Es folgt ein Beispiel aus den Schriften der
lectionibus: ad Galatas 3. Legenden: an die Galateer 3.

[Exemplum] [Beispiel]
[103]
Eodem modo nunc Evangelia & Auf dieselbe Art werden nun das Evangelium
prophetiae leguntur. Etiam vernaculae und die Schriften der Propheten gelesen.
linguae. Et hunc accentum, cum tam varius Ebenso die einheimischen Sprachen. Und
sit, & una queque7 fere natio, peculiarem sibi, diesen Akzent, weil er so verschieden ist und
contra praecepta musices affinxit, Usus magis sich fast jedes Volk gegen die Vorschriften
docet, quam ut quis eum praeceptis tradere der Musik einen eigenen hinzugefügt hat,
possit. Audacia etiam hac in re, plurimum lehrt die Praxis mehr, als dass ihn jemand
conducit, iuvatque. durch Vorschriften überliefern könnte.
Kühnheit führt und hilft auch in dieser Sache
am meisten.

7
Druckfehler: Korrekt wäre quaeque.

42
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)
Peroratio. Schlussrede :

HEc habui optimi pueri, quae de Musica Jenes habe ich behandelt, beste Knaben, das
simplicissime scriberem, Vestra igitur ich von der Musik möglichst einfach
interest, has institutiones non solum niederschrieb, an Euch liegt es also, diese
memoriae tradere, verum etiam assiduo Einführungen nicht allein dem Gedächtnis zu
accomodare usui. Nihil enim laude dignum überliefern, sondern auch dem fleissigen
(dicente Cicerone in offitijs) consequi Gebrauch anzupassen. Ich meine nämlich,
quemque posse arbitror, nisi id usui assiduo dass niemand etwas des Lobes würdiges (so
tribuatur. Quare vos moneo & hortor, ut in his sagt Cicero in De officiis) erreichen kann,
institutionibus perdiscendis vos diligenter wenn es nicht dem fleissigen Gebrauch
exerceatis, & leges praeceptorum vestrorum unterzogen wird. Deshalb ermahne und
non minus quam Dei & parentum incolumes fordere ich Euch auf, dass Ihr Euch beim
servetis. gründlichen Erlernen dieser Unterweisungen
sorgfältig übt, und die unversehrten Gesetze
Eurer Lehrer nicht weniger als diejenigen
Gottes und der Eltern befolgt.

43
© Michael Matter 2009 (Übertragung und Übersetzung)

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