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Dialektik
Problemgeschichte
von der Antike bis zur Gegenwart
Band I
ISBN 978-3-534-23163-8
Vorwort .............................................................................................. 11
Dem 19. Jahrhundert verdanken wir, wie vorher nur dem Zeitalter
der Humanisten, die Erschließung des Nährbodens und der Quellen
unserer Kultur. Wir alle zehren noch von den Früchten des immen
sen Gelehrtenfleißes und der stupenden Bildung dieser unserer Ur
großväter. Ihnen sind wir zu Dank verpflichtet, und der wissenschaft
liche Dank besteht darin, hinter ihre Maßstäbe nicht zurückzufallen,
wenn über die Grenzen der Methodik hinausgegangen wird.
Die erste Phase dieser historisch-wissenschaftlichen Gründerzeit
war gewiss die der Sammler und Jäger. Was bereitlag, wurde gesam
melt, geordnet, inventarisiert; verborgenes Wild wurde aufgestöbert
und gejagt. Die Ordnung eines Bereiches wurde von einem über
schauendem Blickpunkt aus möglich und vorgenommen. Carl Prantls
Geschichte der Logik im Abendlande, Kurd Laßwitz Geschichte des
Atomismus, Otto Bardenhewers Geschichte der altkirchlichen Lite
ratur sind rühmliche Beispiele solch ordnender Gelehrtentätigkeit.
Weitergehend haben einige systematisch konzipierende Geister schon
die Erarbeitung des Materials mit der Anlage einer Deutungsper
spektive verbunden. Hervorragendstes Zeugnis dafür ist die Dog
mengeschichte des unglaublich produktiven Adolf von Harnack,
letzte Blüte an diesem Zweig war Georg Mischs Geschichte der Auto
biographie.
Die zunehmende Spezialisierung nicht nur der Disziplinen, son
dern auch innerhalb der Disziplinen, aber auch der allgemeine Verfall
eines universellen Bildungshorizonts infolge häufiger und unausge
gorener Unterrichtsreformen führten dazu, dass etwa seit der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts große Epochen- oder Problemübersich
ten nur noch als Sammelwerke mehrerer Autoren erschienen - bes
tenfalls als Integration eines Kollektivs, meistens aber als Addition
einzelner Forscher. Gewiss brachte das einen Zuwachs an Detail
kompetenz, aber um den Preis eines Verlusts einer einheitlichen, sinn
deutenden Perspektive. War dies für bestimmte Darstellungszwecke
in den Naturwissenschaften angängig, so wirkte es sich in den Geis-
12 Vorwort
4 Die homerischen Epen geben ein anschauliches Bild der vor- und frühgrie
chischen Gesellschaft.
5 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellenen, Bd. 1,
Darmstadt 21955, S. 58 (= S. 59 der 1. Auflage 1951).
6 Vgl. Wilamowitz-Moellendorf, a.a.O., Bd. 1, S. 87-310 (= S. 89-516). Walter
F. Otto, Die Götter Griechenlands, Frankfurt am Main '1951, Kap. 2.
20 Voraussetzungen
11 Die Beispiele für das Lob des Maßes, der bürgerlichen Bescheidenheit, der
Tugenden des kleinen Mannes, die Fritz Wehr Ii, a. a. 0., S. 72 ff., anführt,
treffen gerade für die Frühzeit (in deren Kontext er sie stellt) nicht zu. Sie
sind Ausdruck der Polis-Kultur, nicht der Adelszeit. Die Belege (Novellistik,
Herodot, Sprüche der sieben Weisen) stammen aus nachhomerischer Zeit.
Wohl kennt das Epos dagegen die Warnung vor der hybris bzw. Exempel
ihrer schlimmen Folgen. Dochhybris setzt als Ausartung gerade einen hoch
gemuten Adelsstolz voraus, der sich mit den Göttern fast auf gleicher Stufe
weiß; die Missachtung dieser kleinen Differenz, die in dem >>fast<< liegt, macht
das Übermaß aus. Vom Vorzug der Unscheinbarkeit, von dem Wehrli spricht,
kann hier nicht die Rede sein.
12 V gl. Hermann Usener, Griechische Götternamen, Frankfurt am Main '1948,
s. 293.
22 Voraussetzungen
der >>Scheucher« ist ein nach Art eines menschlichen Wesens emp
fundener äußerer, mir entgegentretender Beweger; cp6ßoc;;, »Furcht«
überträgt das nomen appellativum des Gottes auf den abstrakten Be
griff, der meine Gemütsbewegung, meinen Geisteszustand bezeich
net. Heraklits i'jSoc;; avSQc�m(jJ baLflWV - die eigene Art (d. h. die
Haltung, die das Verhalten steuert- man beachte auch hier die Be
deutungsverschiebung des Wortes zum abstrakt Begrifflichen) ist des
Menschen Daimon (B 119)- bringt diese neue Auffassung auf eine
Formel.
Die früheste Stufe vorphilosophischer Begriffsbildung, die uns in
literarischen Zeugnissen überliefert ist, stellt die Sprache Homers
dar. Hier wird, aus dem Umkreis der Sinneserfahrung, insbesondere
des Naturerlebens, die Beschreibung dessen hergeleitet, was nicht in
äußerer Wahrnehmung aufzeigbar ist. So die Schilderung der Rats
versammlung in Ilias I!. Agamemnon hat eine vorbereitete Trugrede
gehalten, das Volk zum Schein zur Heimkehr auffordernd, um sich
durch die Fürsten widerlegen und zum Aushalten bewegen zu lassen.
Ehe aber das verabredete Spiel von Rede und Widerrede in Gang
kommt, ereignet sich etwas Unerwartetes: kriegsmüde stürzen die
Griechen, dem Ende der Beratung vorgreifend, zu den Schiffen, um
sie zur Abreise zu rüsten. Was in den Gemütern vorgeht, fasst Homer
in ein Gleichnis:
Und als sei es mit einem Gleichnis nicht genug, folgt sofort noch ein
zweites:
Die Wirkung der Worte Agamemnons lässt sich in einem Bilde nicht
angemessen wiedergeben: denn aufgewühlt und durcheinander gebracht
Mythos, Sprache und Begriffsbildung 27
wie die Meeresfluten sind die achäischen Krieger- aber eben nicht in
gleicher Weise, wie sie etwa durch Kampfeslust und Zorn in Bewe
gung versetzt wären; sondern dergestalt, dass sie niedergedrückt,
aufs unruhevollste gebeugt sind. Diesen Aspekt ihrer Gemütsver
fassung verdeutlicht das zweite Gleichnis, beide zusammen machen
den emotionalen Grund der Situation deutlich.26 Auch wir gebrauchen
noch die Metaphern: >>Aufgewühlt<< und >>niedergedrückt«, obschon
wir uns kaum bewusst sind, dass sie äußere Sachverhalte benennen,
wie die homerischen Gleichnisse sie schildern.
Kollektiva und Iterativa sind es vor allem, die in Gleichnissen ge
fasst werden, ehe sie dann später auf den abstrakten Begriff gebracht
werden können. Das Gleichnis schildert eine typische, als solche wie
dererkennbare und daher übertragbare Situation. Im Erkennen und
Festhalten dieser Typik liegt der Ursprung der Abstraktion aus der
Anschaulichkeit. Die Übertragung selbst setzt Abstraktion inner
halb der Sphäre des Anschaulichen voraus; im metaphorischen Spre
chen bildet sich der Begriff.27
26 Etwas anders interpretiert Roland Hampe, Die Gleichnisse Homers und die
Bildkunst seiner Zeit, Tübingen 1952, das Doppelgleichnis: >>Durch die bei
den einander folgenden Gleichnisse werden zwei aufeinanderfolgende Phasen
des Vorgangs in der Volksversammlung ausgedrückt. Das erste Gleichnis
spiegelt wie ein anderes entsprechendes Sturmgleichnis (IX, 4 ff.) den Zwie
spalt der Meinungen wider, das Gegen- und Durcheinander des ersten Auf
ruhrs. Wer je den Ausbruch einer Panik in einer größeren Versammlung mit
erlebt hat, weiß, was des bedeutet. Beim zweiten Gleichnis vom Wind im
Kornfeld sind Zwiespalt der Meinungen und sich stauende Zusammenballung
bereits überwunden. Die Bewegung hat Richtung bekommen, strebt dem
Meere, den Schiffen zu. So setzt denn auch die fortlaufende Erzählung un
mittelbar auf dieses Gleichnis wieder mit den Worten ein: >Die aber stürmten
mit Geschrei den Schiffen zu ... < (11, 149-50). Die Gleichnisse gehen nicht als
Ausschmückung neben der Handlung her, sondern ersetzen sie geradezu. Das
zweite Gleichnis gibt dabei der Handlung ein neue Wendung<< . A. a.O., S. 10.
Mir scheint, dass der Anfang von V, 148 ?r; T?v TC?a' ?yoYJl KLVrj<IT) die
beiden vorangegangenen Gleichnisse zu einer Einheit zusammenfasst.
27 Vgl. Hans Heinz Holz, Das Wesen metaphorischen Sprechens, in: Festschrift
Ernst Bloch zum 70. Geburtstag, Berlin 1955, S. 101 ff. Vgl. dazu Bruno Snell,
Die Entdeckung des Geistes, Harnburg 21948: >>Viele Gleichnisse Homers
wachsen aus solch notwendigen Metaphern hervor«. Snell führt als Beispiel
an: Ilias XI, 284 ff. wird die Wendung gebraucht >>den Mut antreiben«; zu
ihrer Erläuterung steht das Gleichnis 291 ff. Snell fährt fort: >>Der Vergleich
führt die Metapher, die in der Wendung >den Mut antreiben< liegt, nur fort«.
Ich möchte das Verhältnis schärfer fassen: Die Metapher wird sagbar, weil ihr
das Gleichnis zugrunde liegt. Ohne daß es den Vergleich vorher gegeben
28 Voraussetzungen
Wie der Vergleich ist auch der Mythos die Darstellung eines All
gemeinen (Typischen, Wiederholbaren, Ritualisierbaren) in der an
schaulichen Form des singulären Geschehens.28 Mythen haben die
Funktion einer gliedernden Artikulation der Welt als Geschehen, der
Versinnlichung eines Zeitlichen in der ewigen Wiederkehr des Ri
tuals. Im Unterschied zum Gleichnis, das auf die Situation in ihrer
Besonderheit zielt, ist der Mythos exemplarisch.29 Gleichnisse haben
erläuternden, Mythen normativen Charakter. So entfalten sich auf
der ersten Stufe der Ausbildung von Allgemeingegenständlichkeiten
diese als Vergleich und Beispiel. Im Gleichnis bereitet sich die Ana
logie, im Mythos die Allegorie vor; aus der Analogie entspringt die
Naturwissenschaft, aus der Allegorie die Dichtung.30
So brechen in den homerischen Epen bereits die ersten Knospen
theoretischen Sprechens auf, indem Gleichnis und Mythos als Ele
mente der Sinnartikulation von Welt und Menschenleben gebraucht
werden. Dabei hängen hier Gleichnis und Mythos noch eng mitein
ander zusammen. Indem das Gleichnis die Welt von den Sinnen her
hätte -die Gleichsetzung von Mensch und Tier -wäre auch die metapho
rische Wendung nicht entstanden, der Vergleich geht in sie ein.
28 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Teil Il, Darmstadt
1953. Die Diskussionen des Symposions >>Das Problem der Mythologie<<
beim 111. Deutschen Philosophiekongreß Bremen 1950 erhellen die Aspekte
des Verhältnisses von Anschauung und mythischem Sprechen. Siehe
Symphilosophein, hg. von Helmuth Plessner, München 1952, S. 242.
29 Dazu Hampe, a. a. 0., S. 13 f.: Die Gleichnisse »führen nicht vom Geschehen
weg, zielen nicht darauf, die Vorstellung zu reduzieren. Sie suchen vielmehr
in komprimierter Form eine möglichst umfassende Vorstellung auszulösen,
dort nämlich, wo eine solche mit den herkömmlichen Darstellungsmitteln
nicht erreicht werden konnte<< . Demgegenüber werden Mythen als »Exem
pla<< gebraucht, und von ihnen bemerkt Snell, Entdeckung, a.a.O., S. 95: »Die
Gleichnisse entsprangen Metaphern und verdeutlichten deswegen zunächst
einzelne Tätigkeiten, konnten aber, zumal die Tier-Gleichnisse, auch tpische
Verhaltensweisen eines Helden veranschaulichen. Die mythischen Beispiele
gehen darüber hinaus, indem sie umfassender ein menschliches Verhalten mit
seinen Gründen und Folgen offenbaren können<< .
30 Vgl. Snell, Entdeckung, a. a.O., S. 198: »Die Möglichkeit, im Mythos, in der
Dichtung, in der Geschichte zu >Beispielen< zu kommen, menschlichen Taten
und Schicksalen allgemeinere Bedeutung zuzusprechen, wurzelt dagegen in
einem ganz anderen sprachlichen Bereich<< . Dass zwischen substantivischer
und verbaler Ausdrucksweise (welch letztere auf die Weise eines Vollzugs, auf
den Eindruck vor einem Bestimmten, auf Physiognomisches geht) ein gene
reller Auffassungsunterschied besteht, hat Snell in anderem Zusammenhang
gezeigt: Der Aufbau der Sprache, Harnburg 1952.
Mythos,Sprache und Begriffsbildung 29
31 Hampe,a.a.O.,S.14.
32 Darauf geht, in der Aufnahme des homerischen Gleichnistyps, dessen Ver
wissenschaftlichung bei Empedokles. >>Von den vorsokratischen Philosophen
knüpft Empedokles am augenfälligsten in seinen Vergleichen an die home
rischen Gleichnisse an, und da seine Vergleiche zudem am weitesten voraus
weisen auf spätere naturwissenschaftliche Methoden, stellt sich hier am deut
lichsten der Wandel von der Dichtung zur Philosophie dar (... ) Empedokles
zielt genau auf ein tertium comparationis und die Gleichnisse haben ihren
Sinn allein in dem Aufweisen des genau und dauernden Gemeinsamen<< . Snell,
Entdeckung, a.a. 0., S.204 und206; vgl. insgesamt ebd.,S.204-209.
30 Voraussetzungen
33 Vgl. Snell, Entdeckung, a.a.O., S. 218. Über den Artikel: ders., Aufbau, a. a.O.
34 U sener, a. a. 0 ., S. 3 70 ff..
35 John Desmond Bernal, Wissenschaft, Bd. I, Reinbek bei Harnburg 1970, S. 140 ff.
Mythos, Sprache und Begriffsbildung 31
und umgekehrt. Er hat die sprachlichen Mittel, sich frei in der Welt
zu bewegen.
Indem der bestimmte Artikel nun eine Vergegenständlichung, auch
Verdinglichung sprachlich fixiert, wird es möglich, nicht nur modale
oder qualitative Ähnlichkeiten (im verbalen oder adjektivischen Aus
druck) zu bemerken, sondern Identitäten (im Vergleich) festzustellen.
Damit kann die anthropomorphe Analogie in die Sachanalogie über
gehen, die wiederum zur Voraussetzung für die wissenschaftliche
Theorienbildung wird.
Dass die Analogie - in einem weitesten Sinne des Wortes - frü
heste Form des begrifflichen Denkens ist, ja, überhaupt erst zur
Gewinnung abstrakter Begriffe beiträgt, hat Gigon richtig gesehen:
>>Die Erklärung durch die Analogie, die Sichtbarmachung des Un
anschaulichen durch das Anschauliche, wie Anaxagoras (B 21 a) in
einem wohl allerdings speziellen Zusammenhang sagt, ist die älteste
Form philosophischer Welterklärung«.37 Auch scheint mir einleuch
tend, wenn Gigon einer personifizierenden, anthropomorphisieren
den Analogie die Sachanalogie gegenüberstellt, bei der ein äußerer
Sachverhalt durch einen anderen erläutert wird. Im personalen Denken
war >>der Blitz die Waffe des Wettergottes. Wenn Anaximenes A 17
den Vorgang als ein Zerreißen der Wolkensäcke deutet und beim
Leuchten des Blitzes daran erinnert, daß auch das Meer funkelt, wenn
es von einem Ruder durchschnitten wird, so werden hier offensicht
lich Erfahrungen des täglichen Lebens zur Erklärung des Himmels
phänomens herangezogen. Das personale Bild wird in allen diesen
Fällen durch ein Bild aus der gegenständlichen Umwelt des Men
schen abgelöst«.38
Die Möglichkeit der Sachanalogie, also des Übergangs zu inner
weltlichen, naturgesetzliehen Denkweisen, ist bereits im homeri
schen Gleichnis vorbereitet. >>Ein Hauptsinn dieser für Homer so
charakteristischen Kunstform besteht darin, Vorgänge, die aus ir
gendeinem Grunde unanschaulich sind, durch einen Vergleich aus
der Welt der dem Hörer vertrauten Dinge anschaulich zu machen<< .39
Den Umschlag macht Snell an der Umkehrung von anthropomor
pher Einfühlung in Naturgleichnisse und Sachmetaphern fest. Er
weist darauf hin, dass ein natürliches Geschehen zunächst nach Ana
logie menschlicher Empfindungen perzipiert wurde. Dann kehrte
sich diese Analogie um, die anthropomorphe Auffassung der Natur
ermöglichte die Sachanalogie als Erklärung menschlicher und natür
lich-sachlicher Verhältnisse.'0 Die Welt wird als eine solche von
Sachbezügen artikulierbar. Dieses Verfahren nehmen dann die mile
sischen Natur-Philosophen auf.41 Und aus der bloßen Erläuterung,
ErheBung durch die Parallele zu einem bekannten Sachverhalt wird
die Erklärung, die kausale Ableitung:42 Wenn zwei Geschehen analog
verlaufen, so wird, als ihnen zugrundeliegend oder vorgeordnet, ein
Gesetz, eine Ordnung, ein Prinzip, eine Substanz vermutet, die man
40 Snell, Entdeckung, a. a. 0., S. 190 f.: >>Daß der Fels ein menschliches Verhalten
deutlich macht, also ein toter Gegenstand etwas Lebendiges, beruht darauf,
daß dieser tote Gegenstand anthropomorph gesehen wird: das unbewegliche
Stehen der Klippe in der Brandung wird gedeutet als Ausharren, so wie der
Mensch ausharrt in einer bedrohten Situation. Der Gegenstand wird also taug
lich, im Gleichnis etwas zu veranschaulichen, dadurch, daß in diesen Gegen
stand das hineingesehen wird, was er dann seinerseits illustriert. Dies eigen
tümliche Verhältnis, daß das menschliche Verhalten erst deutlich wird durch
etwas, das selbst erst nach diesem Verhalten gedeutet ist, gilt auch für alle
anderen homerischen Gleichnisse, ja es gilt weit darüber hinaus bei den ech
ten Metaphern und überhaupt überall dort, wo der Mensch etwas >versteht<.
Es ist also schon bedenklich, wenn wir sagen, der Fels würde >anthropomorph<
gesehen - man müßte dann hinzufügen, daß der Mensch den Felsen nur da
durch anthropomorph sehen kann, daß er sich selbst zugleich petromorph
sieht, daß er nur dadurch, daß er den Felsen von sich aus interpretiert, ein
eigenes Verhalten gewahr wird und den treffenden Ausdruck dafür findet<< .
Zum Begriff der Einfühlung vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sym
pathie, Frankfurt am Main 1923.
41 Gigon, a. a. 0., S. 39 f.: >>Geschichtlich ist es nun so, daß die personale Deu
tung der Vorgänge, die bei Hesiod herrscht, schon durch die Milesier zu
gunsten der gegenständlichen Erklärung nahezu vollständig aufgegeben wird
... Es kommt darauf an, daß die ganze Tragweite dieser Entscheidung erkannt
werden kann (... ) Die Sachanalogie, für die alle Dinge sich so verhalten, wie
sie sich nach dem Gesetze, das sich durch die Analogie anderweitiger Erfah
rungen feststellen läßt, verhalten müssen, wird sich zu einer Naturwissen
schaft entwickeln, in der alles zu Gegenständen wird, die bestimmten, nicht
näher begründbaren Gesetzen gehorchen (... ) [Die griechische Philosophie]
hat alle Dinge und schließlich die menschliche Person selber in den Kate
gorien der dem Menschen vertrauten und verfügbaren Gegenstandswelt ver
standen<<.
42 Gigon, a. a. 0., S. 39: >>Diese Vergleiche erhalten dann eigentliches philosophi
sches Gewicht, wenn sie nicht mehr nur veranschaulichen, sondern auch er
klären: wenn die Analogie die Frage nach dem Warum eines unbekannten
Vorgangs beantworten solk
34 Voraussetzungen
45 Lukacs,a.a.O.,S.140.
46 Ebd.,S.140 f.
36 Voraussetzungen
fragt wird: >>Was ist das?<< (ti estin). Die Bestimmungsklassen des
>>Was<< sind die Kategorien, sie sind die logischen Universalien, deren
grammatisches Äquivalent die Wortarten sind, in denen sich der Satz
auseinanderlegt. Diese logischen Universalien liefern aber auch das
Schema, nach dem die Metaphysik verfährt. Das wird sich in der Ex
plikation der aristotelischen Metaphysik zeigen. Der metaphysische
Horizont der zunächst rein aussagentheoretisch orientiert erschei
nenden Kategorienlehre ist in der Konkordanz von Sprachsystem und
metaphysischer Konstruktion begründet.
2. Kapitel:
Die Herausbildung der personalen Individualität
2 Werner Jaeger, Paideia, Bd. I, Berlin 1936, S. 161. Der Charakterisierung >>von
allem Politischen entfernt<< wird man nicht zustimmen können. Dagegen spricht
die Bedeutung von Alkaios und natürlich die von Solon.
3 Ebd., S. 163. V gl. auch Max Treu, Von Homer zur Lyrik, 1955; und 0. von
Weber, Die Beziehungen zwischen Homer und den älteren griechischen Lyri
kern, Diss. Bonn 1955.
4 Archilochos 6 D. Griechisch und deutsch von Max Treu, München 1959. An
die Stelle der Kriegergesinnung ist bei ihm , dem »Landsknecht<< , die Kauf-
Die Herausbildung der personalen Individualität 39
zuzutrauen wäre, das eigene Leben hat jetzt Vorrang. An die Stelle
der Heroisierung der Herrenschicht tritt nun der Spott, auch die
Selbstironie, vor allem aber die Schmähung des Gegners. Der psogos,
das Spottgedicht, ist Ausdruck volkstümlicher Kritik an den Herr
schenden, an den Zuständen und natürlich auch an Seinesgleichen;
die kritischen Helgen der Baseler Fasnacht, die sogenannten Proto
kolle der Mainzer Fastnachtsitzungen entstammen derselben literari
schen Quelle, dem Bedürfnis nach einem Ventil öffentlicher Kritik.
Werner Jäger bemerkt richtig, >>daß das Aufkommen des literarischen
Spottgedichts im frühgriechischen Polisleben eine für die zuneh
mende Bedeutung des Demos charakteristische Zeiterscheinung ist.
Der Jambus war von Haus aus ein öffentlicher Brauch bei den Diony
sosfesten und vielmehr eine allgemeine Entladung der Volksstim
mung als die Ausgeburt persönlicher Ranküne des Einzelnen. Es sagt
genug, daß der Jambus sich in spätester Zeit am naturgetreuesten in
der älteren attischen Komödie erhält und fortsetzt, in der der Dich
ter notorisch als Sprecher der öffentlichen Kritik auftritt. (...) Das
Wesen der echten volksmäßigen Schmähung, des psogos, ist aus den
uns erhaltenen literarischen Umformungen und Weiterbildungen na
turgemäß nur mit Vorsicht zu erschließen, aber zweifellos hat er ur
sprünglich eine soziale Funktion gehabt, die noch deutlich greifbar
ist«.5 War im älteren Epos der Lebensstil der Herrenschicht noch
ganz ungebrochen, sodass eine Antithese (wie im Auftreten des Ther
sites) nur mit negativem Wertakzent versehen sein konnte, so wird
jetzt Kritik zum Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Und in
der Kritik muss sich natürlich einer als Einzelner, als Person her
vorwagen, er kann sich nicht in die Anonymik des Konformismus
zurückziehen, er muss für sich sprechen.
So verliert es seine Unziemlichkeit, von sich selbst zu sprechen.
Vielmehr wird es nun geradezu ein Ausweis der Aufrichtigkeit, eine
Legitimation der Kritik, dass man von sich selbst her sagen kann,
welche Position man bezieht. So rückt die Ich-Person ins Licht der
Aufmerksamkeit. Es ist neu, dass der Dichter von sich in der ersten
Person singularis spricht: >>Eines aber kann ich gut: dem, der mir
Böses getan hat, heimzahlen mit bösem Schimpf« (Archilochos 66 D).
mannsgesinnung getreten; >>Retten konnt' ich mein Leben: was schiert jener
Schild mich noch länger! Kaufen will ich mir bald einen, der ebenso gut<< .
5 Jaeger, a. a. 0., S. 168 ff.
40 Voraussetzungen
Nicht mehr ist es die Muse, die durch den Dichter hindurch kün
det, sondern er selbst ist es, der mit der Gabe der Muse umgeht.
Hesiods Berufung am Helikon ist die Umschlagstelle von der home
rischen zur nachhomerischen Gesinnung. Archilochos sagt, wenn er
eine Elegie einleitet, wer er ist:
Immer wieder werden Ereignisse und Umstände auf den Dichter be
zogen, Recht und Unrecht aus einem privaten Rechtstitel hergeleitet
(wie bei der Verweigerung der anverlobten Braut6), enttäuschte
Freundschaft als eine persönliche Kränkung erfahren.7 Das eigene
Gemüt ist es, auf das Archilochos sich bezieht, nicht eine durch die
Rolle vorgegebene Haltung, zum Beispiel als Krieger in der Schlacht,
sondern das Verhältnis als Person. Wer könnte sich vorstellen, dass
Hektor oder Diomedes von sich sagen, sie seien hilflos im Leiden,
und sich selbst Mut zusprechen:
gen weit in die Ferne Erfolg beschieden sein sollte.' Natur, vor allem
das Meer wird als etwas Gewaltiges erfahren, dem der Mensch aus
geliefert ist. Sein Wellengang übertönt uns: >>Es erdrönte dumpf das
Meer« (Simonides).9 Das ist eine ganz persönliche Fesselung:
die Natur zum Subjekt. Denn gerade daran, dass er seiner Empfin
dung inne wird, erfährt sich der Mensch als Subjekt. Wenn Archi
lochos (46 D) aufkommenden Sturm beobachtet und dann lapidar
anfügt: »Plötzlich kommt aus dem Unverhofften die Angst<< , dann
wird eine objektive Situation zum subjektiven Erlebnis und von ihm
her verstehbar. Einmal so aufgeschlossen, kann dann eine Situation
selbst als empfindungsträchtig erfahren und ihre Schilderung, die
Schilderung eines bestimmten Eindrucks, als Ausdruck einer Gemüts
verfassung, einer Stimmung, eines Gefühls genommen werden.
Dabei wird dann die einfache Beschreibung zur Evokation der
Empfindung; bei Archilochos zum Beispiel in der Schilderung des
geliebten Mädchens:
So bei Alkaios:
Hier geht kein Ich-Bekenntnis in die lyrischen Bilder ein, und den
noch ist die persönliche Perspektive, die subjektive Empfindung der
tragende Grund. Sappho verbindet dann auch das Bild mit der Ich
Aussage:
Sappho aber war es, die ausdrücklich das Seelische als verbunden mit
körperlichen Ausdrucksempfindungen fasste, die einen Parallelismus
von innen und außen voraussetzte und daraus die Möglichkeit ge
wann, Seelisches durch Organisches verstehbar zu machen:
Es ist wohl kein Zufall, dass gerade Sappho die privaten Lebenspro
bleme des Individuums auf den höchsten Niveau auszudrücken ver
mag. Als Frau stand sie außerhalb der gesellschaftlichen Verstrickun
gen und Verpflichtungen, die so wesentlich ins Werk des Alkaios
eingegangen sind, auch außerhalb des tätigen Lebens, das Archilochos
und Alkaios in ihren Gedichten besangen. Ihre epochale gesellschaft
liche Leistung entsprang gerade der besonderen Privatheit ihrer Exis
tenz: Sie konnte, indem sie ausdrückte, was sie bewegte, am reinsten
14 Vgl. auch Archilochos 112 d: >>Solches Verlangen nach Liebe hat plötzlich
sich mir ins Herz geschlichen, in großes Dunkel hüllt es meine Augen, raubt
der Brust die Besinnung, die schwächliche( .. )<<.
.
44 Voraussetzungen
Aber dann:
15 V gl. Snell, Dichtung und Gesellschaft, a.a.O., S. 99: >>Aber anders als Homer,
der von Gedanken und Gefühlen nur spricht, insofern sie Antriebe des
Handeins und äußeren Geschehens sind, verweilt Sappho bei Gefühl und
Stimmung, auch ohne daß unmittelbare Aktivität daraus hervorgeht. Emp
findung wird wert, sie auszusprechen, sofern sie ein individueller, bedeutsamer
Zustand ist, vor allem aber, weil sich in ihr Menschen verbinden und
verbunden bleiben in einer Erinnerung, die nichts weiter will, als das einmal
Empfundene bewahren<< . Jaeger, a.a.O., S. 183 ff.: >>Verglichen mit dem inhalt
lichen Reichtum der Dichtung des Alkaios ist Sapphos Lyrik eng begrenzt.
Es ist die Welt der Frau, die sie umschließt, aber auch diese nur in dem
Ausschnitt, den das gemeinsame Leben der Dichterin im Kreise ihrer Mäd
chen ausfüllt (...)Die Gedichte schildern die Pathologie des sapphischen Eros
als eine das innere Gleichgewicht erschütternde Leidenschaft, die ebenso stark
die Sinne wie die Seele gefangen nimmt. Was uns angeht, ist weniger die
Feststellung des Vorhandenseins der sinnlichen Seite in der sapphischen
Erotik als die Empfindungsfülle, die durch ihre den ganzen Menschen ergrei
fende Macht entbunden wird. Nirgendwo reicht die männliche Liebesdich
tung der Griechen auch nur entfernt an die seelische Tiefe dieser Poesie heran«.
Natürlich ist es auch das Bekenntnis der eigenen Sinnlichkeit, das zur Ausbil
dung des individuellen Selbstbewusstseins gehört.
16 Diese - sozusagen ontologische - Rangerhöhung des Dichters bereitet die
Logos-Lehre Heraklilts vor: Die Dignität des Seins wird in der tradierbaren
Sprache fundiert.
Die Herausbildung der personalen Individualität 45
die Standfigur eines Mannes, der ein Kälbchen über seinen Schultern
trägt, offenbar ein zur Opferung bestimmtes Tier. Die Körperkontur
ist unter dem nur angedeuteten Mantel in großlinig geschwungenen
Kurven ausgeführt, die eingezogene Taille teilt Ober- und Unterkör
per - zwei geschlossene Formbereiche. Die kräftigen Arme fallen
von den runden Schultern schräg nach vorn, vom Ellbogen ab sind
sie scharf aufwärts abgewinkelt, damit die Hände die Beine des Kalbs
fassen können. So bilden die Unterarme ein offenes gleichschenk
liges Dreieck, auf dessen oberer Spitze die nach unten weisende Spitze
des Dreiecks steht, das durch die Beine des Kalbs und seinen Rücken
gebildet wird. Der Kopf des Mannes ist in diese Doppelform ein
gelassen, das Dreieck der Arme richtet sich auf ihn wie ein Wegzei
chen, das Dreieck des Kalbs hält den Kopf wie ein Schild. Der
Körper des Mannes und sein Gesicht sind streng symmetrisch ge
baut, statuarisch bis zur Unbeweglichkeit, lebendig nur durch die
gespannten Muskeln und Sehnen, die gesammelte Kraft erkennen
lassen.
Weicher ist die Oberfläche des Tierkörpers modelliert, seine leichte
Schräge betont die Strenge der menschlichen Haltung und belebt
zugleich die Gesamtfigur freundlich. Das Antlitz des Mannes ist von
einer edlen Allgemeinheit, ohne Tendenz zur Individualisierung, die
Haartracht konventionell, das Lächeln stereotyp, die Augen unna
türlich groß und rund. Die Formen sind auf einen gleichmäßigen
Rhythmus angelegt, den Persönlichkeitszüge nur stören würden. Der
prototypische Ausdruck eines rituellen Vollzugs, nicht eine einzelne
Handlung ist gemeint.
Anders der >>Reiter Rampin<< (ca. 560- 550), äußerstenfalls eine
Generation jünger als der >>Kalbträger<< . Der Rumpf ist durch die
leichte Drehung in den Hüften in Bewegung versetzt und aus der
Mittelachse gerückt.20 Der Kopf drückt eine lebhafte Geste aus; ob-
20 Allerdings muss man berücksichtigen, dass dies eine Figur aus einem Reiter
paar gewesen ist, das die Symmetrie als solche der Gruppe wahrte. >>Der Kopf
des Reiters ist - gegenüber der etwas steifen Haltung des Rumpfes - lebhaft
vorgeneigt und leicht nach links gewendet. Im Gegensatz dazu war die Kopf
des Pferdes nach dem Ausweis der Mähnenreste zur Rechten gedreht(... ) Der
Kopf ist in einfachen großen Formen angelegt, aber mit einer reichen Haar
und Barttracht geschmückt ( ... ) Der Schnitt der Gesichtsformen verrät die
zugleich kraftvolle und feinfühlige Hand eines großen Meisters. Die schöne
Zeichnung der Ohren hält die Mitte zwischen lebendiger Gestaltung und
formelhafter Festlegung. Die Lippen scheinen sich leicht zu entfalten. Durch
Die Herausbildung der personalen Individualität 47
Stehen wird zum Herauswachsen aus den Hüften. Statt der Schul
tern, die die durchhängenden Gewand- und Körperteile wie ein
Querbalken tragen, übernimmt hier die Unterpartie, vom Kleid zu
sammengefasst, die Funktion der Stütze. Durch eine sanfte Wölbung
deuten sich die Oberschenkel an, die architektonisch empfundene
Gestalt der älteren Kore wird bei der jüngeren noch sehr zurück
haltend ins Organische weiter geformt. Mit dem Anklang von Leib
lichkeit erwacht im steinernen Sinnbild ein Moment von Prozess
haftigkeit und Persönlichkeit. Das ist die Zeit, in der Anaximander
den Kosmos gemäß den Kategorien Dike, Adikia und Tisis begreift.
Dennoch bleibt die sich dem Quader entringende, sich rundende und
lockernde Gestalt an das archaische Formprinzip gebunden: Wie eine
Tempelsäule aus Trommeln geschichtet wird, so der Körper, Dreige
stalt in Unterkörper, Oberkörper und Kopf. Doch eine Kore im do
rischen Peplos von 530 setzt mit dem rechten Arm im Gelenk schon
zur Bewegung an, die Finger krümmen sich, sie scheint auf uns zu
gehen zu wollen. Das Gespür für die Sprache des Körperkonturs, der
die Individuierung materialisiert, hat zugenommen. >>Meisterhafte
Beschränkung in der Formgebung auf das plastisch Wesentliche und
dessen feinste Differenzierung. Starkes Gefühl für plastisch ge
schlossene Formen. Verzicht auf Auflockerung des plastischen Volu
mens und Aushöhlung der Flächen. In allen Ansichten gleich voll
endet, ist die Vorderseite hervorgehoben durch die beiden Quetsch
falten an den Seiten und die Ausbreitung der Glieder in der Fläche.
Die Rückseite runder. Alle Konturen in zartem Ab- und Anschwel
len. Alle Flächen in sphärischer Wölbung zueinander: Brüste, Bauch,
Einsenkung zwischen den Beinen. Feinste Abstufung im plastischen
Aufbau: schmale glatte Borte an der unteren Chitonkante, flächiger
im Aufstreben leicht geschwellter Unterkörper, stärker bewegter
Oberkörper, stärkere Schwellung der einrahmenden Arme, sachtes
Überleiten der auf die Oberarme fallenden schmiegsamen Haare
zum ovalen Kopf. Diese sachte Wölbung aller Massen und die Kur
vatur der Geraden in ihrer belebenden Wirkung noch gesteigert
durch kaum auffällige Asymmetrien«.27 Die unmerkliche Auflocke
rung der Form führt über zum Eindruck von Individualität.
Oben hat der Hinweis auf Anaximander an die Idee einer allge
mein geltenden Ordnung oder Formbestimmtheit erinnert, die sich
28 Ebd., Tafel26.
52 Voraussetzungen
zieht sich ersichtlich auf das wesentliche Selbst, die Person«.34 Kirk
widerspricht damit Stenzel, der zwar festhält: >>Die Seele wandert von
Ichzustand zu Ichzustand oder, was dasselbe ist, von Leib zu Leib;
denn die Einsicht, daß zum Ich der Leib gehört, war dem philo
sophischen Instinkt der Griechen immer selbstverständlich.<< Aber er
relativiert dann das Ich: >>So wird auch nach der subjektiven Seite die
letzte Gegebenheit alles Daseins, das Ich, seiner Individualität ent
kleidet und als eine Kraft aufgefaßt, die in allen möglichen Formen
sich lebendig darstellen kann und doch im Grunde etwas anderes ist
als dieses oder jenes einzelne Ich.<< 35 Dieser Deutung, die das Ich als
eine Art animistisches >>Mana<< von der Person ablöst, kann man
angesichts der prononcierten Individualität, die sich im lyrischen
Empfinden ausdrückt, gewiss nicht zustimmen -jedenfalls nicht in
philosophischer Reflexion, wenn sie auch in Mythos und Kultus der
Orphik und der Dionysos-Schwärmer religiöse Sektenform ange
nommen hat, die zweifellos auf die späteren Pythagoräer abfärbte.
Auch der Wunsch, der von Ungerechtigkeit erfüllten Welt eine tran
szendierende Gerechtigkeit entgegenzusetzen, wie Dodds meint, ist
sicher ein Element im Motivkomplex der Reinkarnation gewesen.
>>Moralisch gesehen bot die Reinkarnation eine befriedigendere Ant
wort auf die spätarchaische Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit
als die Erbschuld oder die Bestrafung nach dem Tode in der jensei
tigen Welt. Mit der wachsenden Emanzipation des Individuums aus
der alten Familiengemeinschaft, mit seinen zunehmenden Rechten
als gerichtlich geschützter Person begann die Vorstellung von der stell
vertretenden Buße für die Untat eines anderen anstößig zu werden.
Wenn einmal das menschliche Recht anerkannt hat, daß man nur für
seine eigenen Taten verantwortlich ist, dann muß das göttliche Recht
früher oder später sich angleichen ( ... ) Und die ganze elende Fülle
des Leids, sei es in dieser oder in einer anderen Welt, war nur ein Teil
der langen Läuterung der Seele, einer Läuterung, die schließlich ihre
Erfüllung fand in der Lösung aus dem Kreis der Geburten und in
der Rückkehr zum göttlichen Ursprung. Nur auf diese Weise, und
nur in den Dimensionen einer kosmischen Zeitrechnung, konnte Ge-
versteht, was gemeint ist; um den Körper legt sich gleichsam ein ima
ginärer Raum, der von der Figur ausstrahlt, von ihrer Haltung er
zeugt wird.48 Dieses Ethos also, in dem angeschauter Habitus und
seelische Haltung zu einem Begriff zusammenfließen, ist des Men
schen daimon, also der unbestimmte, namenlose Gott, der ihn treibt
und der ihm sein Schicksal gibt. Jetzt erst kann sinnvoll von Selbst
erkenntnis gesprochen werden, denn nun gibt es erst dieses >>Selbst«,
auf das Erkenntnis sich rückwendet und das sie, in dieser Rück
wendung, konstituiert, indem sie seine Eigenart sich bewusst macht.
Darum sind Selbsterkenntnis und verständiges Denken gekoppelt:
>>Den Menschen ward allen zuteil, sich selbst zu erkennen und ver
ständig zu denken« (Frg. 116). Ohne sich selbst erkannt zu haben,
bleibt auch die Welt unbegriffen und fremd, vor allem die Men
schenwelt (um die es Heraklit doch vor allem geht), deren Gemein
sames (koinon) ich in mir, in meinem Iogos finde und aussage, sodaß
es sich als Gemeinsames herstellt und bewährt.
Ich folge Snell, der überzeugend dargetan hat, dass Heraklits
Sprache - ob sie metaphorisch das Unsinnliche zu fassen versucht,
ob sie unmittelbar den Sinneseindruck wiedergibt - eine Empfin
dungssprache ist, die sich vom Eindruck auf den Sinn bringen lässt,
die mit Einfühlung operiert.49 Darin bekundet sich die Entdeckung
des Selbst, dass die Dinge nun nach Art meines Ich-Erlebnisses ver
standen werden; ja, die Erkenntnisweise und Problematik des Ver
stehens, die ja auf der virtuellen Hereinnahme des anderen in mich
beruht, kommt hier erstmals auf: Subjektivität besinnt sich auf sich.
Das aber, was ich an Unsinnlichem, >>Seelischem<< , >>Geistigen« er
fahre, kann ich nicht direkt - durch Aufzeigen - mitteilen, sondern
nur indirekt - durch Evokation. Aus dem Bedürfnis der personalen
und nicht bloß sachlichen Kommunikation entsteht die metapho
rische Rede.50 >>Wie Empedokles ist auch Heraklit auf etwas aus, das
nicht sichtbar ist, das aufgewiesen werden muß, aber während die
Gleichnisse des Empedokles gewissermaßen über die Bildersprache
48 Auch wir gebrauchen eine Raummetapher, wenn wir davon sprechen, dass je
mand >>in den Bannkreis einer Persönlichkeit<< gerät.
49 Snell, Gesammelte Schriften, a.a.O., S. 132: >>Wenn man die Heraklitschen
Fragmente aufmerksam durchliest, ist man überrascht, wie stark alles, was er
sagt, wirklich auf eigner Empfindung beruht. Gar zu leicht überhören wir,
wie sehr seine Worte von dem Erleben ihre Kraft erhalten und sind immer ver
sucht, seine Gegenüberstellungen nur als logische Gegensätze aufzufassen«.
50 Snell, Die Entdeckung des Geistes, a. a. 0., S. 210 f.
Die Herausbildung der personalen Individualität 61
51 Ebd.
52 Heraklit frg. B 50: Nicht auf mich, sondern auf den Logos hörend, ist es weise
zu sagen: Eins ist Alles.
3. Kapitel:
Der Aufstieg der Polis
Nur wenige dieser Städte haben größeren Umfang gehabt; aber strukturell
unterscheiden sie sich klar von den gemeindeförmigen Poleis, die sich um die
Adelssitze geschart hatten.
2 Diese waren ja auch die Träger der neu aufkommenden Wehrverfassung, des
Hoplitensystems, und hatten, in Naukratien organisiert, für die Flotte zu
sorgen.
3 Werner Jaeger, Paideia, Bd. I, Berlin 1936 (41954), S. 96.
Der Aufstieg der Polis 63
Eine neue Schicht kommt hier auf, die nicht nur politisch zur
Macht drängt, sondern auch ein neues Bewusstsein vom Wesen und
der Funktion der Gemeinwesen entwickelt. Die Produktion der
agrarischen Polis beschränkte sich weitgehend auf die Bedürfnisse
des eigenen Lebensunterhalts; sie war bloße Subsistenzwirtschaft, aus
wärtiger Tauschhandel diente allenfalls der Beschaffung einiger Luxus
güter für die aristokratischen Herren. Händler kamen aus Kreta und
Ägypten, in lonien aus Kleinasien, die Griechen selber betrieben
zumeist ihre Unternehmungen mehr als kriegerische Beutezüge gegen
die benachbarten Küsten. Das wurde nun anders. Die Handwerker
in den Städten richteten sich auf die Erzeugung von Gütern zum
Tauschhandel ein, Warenproduktion setzte ein, und bald kam der
Warenumschlag hinzu. Daraus entsteht das Bedürfnis nach abstrak
ten Wert- und Maßverhältnissen: Maß- und Gewichtsnormen wer
den eingeführt (und die städtischen Behörden haben sie zu garantie
ren), gegen Ende des 7. Jahrhunderts werden Münzprägungen vor
genommen, aber erst gegen 600 werden die Münzen durch charakte
ristische Bilder als Prägung einer bestimmten Stadt ausgewiesen, die
dann auch die Verantwortung für den Zahlungswert übernimmt: Are
thusa ist das Zeichen von Syrakus, die Eule der Athena ein Zeichen
Athens.' Aus Samos, Milet, Ephesos haben wir sehr früh solche
Stadtmünzen, die bekunden, dass die Polis nun die Organisations
ebene des Handels wird; Korinth zieht mit eigener Prägung - ab 550
Silber-Statere mit dem Pegasus im Wappen - nach, bezeichnender
weise als erste unter den Städten des Mutterlandes; in Athen ist die
eigene Münzprägung eine Errungenschaft erst der nachsolonischen
Zeit: sie beginnt um 570 und wird systematisch von Peisistratos be
trieben, der sich den Reichtum der Silbergruben von Laurion am Kap
Sounion zunutze machte.5 Die Konsolidierung der Städte als Zentren
des Fernhandels lässt sich ziemlich genau am Beginn eigener Münz
prägungen ablesen. Es zeigt sich, dass dieser Prozess durchgängig im
Archaik und schon Dokumente einer neuen Zeit. Sie markieren eine
Epochenschwelle.
Die Wende zu einem neuen Gesellschaftstypus geschieht aber erst
mit der Urbanisierung der Poleis, die bis dahin ja nur Zentren loka
len Verkehrs und Tauschs und Sitz des örtlichen Aristokraten, eines
oder einiger weniger Großgrundbesitzer waren. Die Szene des grie
chischen T heaters mit den drei Zugängen - in der Mitte der Palast,
auf beiden Seiten die Stadt und die Fremde - bezeichnet diese poli
tische Topografie. Was geschieht, ereignet sich vor der Palastfront, es
ist ein Spiel der Herren. Im Chor sprechen eleutheroi, die freien
Gemeindebürger, unter denen man sich Mittelbauern in der Art des
Hesiod, wohl auch freie Kleinbauern vorzustellen hat. Halbfreie,
Knechte und Sklaven (damals noch wenige) kamen nicht vor.
Das ändert sich von Grund auf, als Handel und Kolonisation
eine wachsende Bedeutung bekommen. In den zum Meer gewandten
Städten hieß das Schifffahrt. Was Meier von Athen schreibt, gilt na
türlich auch für die anderen Poleis: >>Die ganze Stadt muß sich da
mals verwandelt haben. Nicht nur die Schiffe, auch die Werften waren
zu bauen. Unmengen Materials heranzuschaffen. Fachleute teils her
beizuholen, teils auszubilden. All das in größter Eile. Man vollbrachte
eine organisatorische Leistung größten Stils.«11 Handel setzt, wenn
er nicht nur Warenumschlag ist, eine Produktion voraus, die über den
eigenen Verbrauch hinausgeht. Von Samos wissen wir, dass dort Me
tall- und Wollverarbeitung einen überragenden Ruf genossen12 und
also auch die dazu nötigen Geräte hergestellt wurden. Nilsson weist
darauf hin, dass im 6. Jahrhundert ganz bestimmte standardisierte
Produkte in der Keramik auftauchen, >>die für die Massenproduktion
typisch sind<< .13 Handel und Gewerbe, keineswegs sozial geachtet,
überließen die freien Gemeindebürger den Metöken, die nun Reich
tum erwerben und Einfluss, wenn auch keine politischen Rechte ge
wannen. Mehr und mehr wurden in den Werkstätten, im Transport
und als Schiffsbesatzungen Lohnarbeiter benötigt, die sich aus den
Armen der freien Bürgerschaft rekrutierten, wobei die Stadtbevöl
kerung Zustrom aus den zugehörigen umliegenden Landbezirken
11 Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, a. a. 0., S. 17.
12 P ercy N. Ure, Der Ursprung der Tyrannis, in: Konrad H. Kinzel (Hg.), Die
ältere Tyrannis bis zu den Perserkriegen, Darmstadt 1979, S. 5 ff.
13 Martin P. Nilsson, Das Zeitalter der älteren griechischen Tyrannen, ebd., S. 74 ff.,
hier S. 87.
Der Aufstieg der Polis 67
14 Ebd., S. 82 f.
15 Ebd., S. 78.
68 Voraussetzungen
17 Selbst rechtliche Sicherheit gegen Missetäter war kaum nötig, solange Ver
gehen innerhalb der Sippe gemäß der Sitte geahndet wurden. Rechtsordnung
trat dann an die Stelle der Blutrache zwischen den Sippen im Stammesver
band in der nächsten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung.
18 Jaeger, Paideia, a.a. 0., S. 142. Im ganzen ist die- bei aller Kritikbedürftigkeit
im einzelnen - prägnante Synopsis der frühen Polis-Entwicklung bei Jaeger,
70 Voraussetzungen
S. 140-148, mit Gewinn zu lesen, wenn man sich den gesellschaftlichen Hin
tergrund der philosophischen Anfänge in knapper Form verdeutlichen will.
19 Wenn Solon 1,65 das Risiko (kindynos) als das Wesen der Erwerbstätigkeit
des Menschen herausstellt, so drückt er damit die neue bürgerliche Lebens
auffassung gegenüber der in religiöser Abhängigkeit gebundenen bäuerlichen
(wie auch der aristokratischen) Gesellschaft aus.
20 Vgl. Wehrli, a.a.O., S. 102. Er betont als Leistung der Polis, >>Geborgenheit
und Hilfe, die dem einzelnen von dieser zuteil wurde<< . Er zählt auf: Rechts
schutz, Bewahrung vor äußeren Feinden, Hilfe in täglicher Notdurft. Jaeger,
a. a. 0., S. 146 betont den Gleichheitsgrundsatz.
Der Aufstieg der Polis 71
cken und Sklaven, und jährliche Beiträge, aus denen der Vereinszweck
zu erfüllen war. Geriet ein Mitglied in Not, so erhielt es entweder aus
dem Vereinsvermögen eine Beihilfe oder von anderen Vereinsmit
gliedern ein rückzahlbares Darlehen, wobei insbesondere früher Un
terstützte oder Darlehensempfänger verpflichtet waren, einzusprin
gen. Der Charakter einer ständigen privaten Versicherungsinstitution
tritt hier deutlich zutage. Ausführliche Zeugnisse über die T ätigkeit
von Eranos-Vereinen haben wir erst seit dem 3. Jahrhundert,27 jedoch
führt die Tradition deren gesetzliche Einrichtung schon auf Solon
zurück. Die Tatsache, dass seit dem 4. Jahrhundert allgemein >era
nistes< als Ausdruck für >Mitglied eines Vereins< gebraucht wird,
erlaubt den Rückschluss auf eine längere Vorgeschichte des Sach
verhalts.
Die öffentlichen Sozialleistungen der Gemeinde und die private
Vorsorge wohlhabender Einzelner traten mit der Fortentwicklung
privaten Unternehmertums mehr und mehr auseinander. Die Siche
rung des Existenzminimums galt dann aus der Sicht der Besitzenden
eher als eine karitative Leistung denn als eine politische Verpflich
tung. Der Staat selbst wurde im Verständnis dieser >staatstragenden<
Schicht zu einer komplizierten Organisation gegenseitiger Lebens
sicherung, während er bis zum Ausgang der archaischen Zeit durch
aus als Organismus kollektiven Lebens empfunden wurde. Bewusst,
und auf theoretische Formeln gebracht, vollzieht sich dieser Um
bruch erst in der Sophistik, er bereitet sich aber bereits in einer
Auffassung vor, die die Rechtsordnung als die geordnete Form von
Kampf und Streit betrachtet (Heraklit, B 80: >>Der Kampf ist das
Gemeinsame und Recht ist Streit<<) und folglich den Staat als den
Garanten des gegenseitigen Ausgleichs von lnteressengegensätzen.
Diese Auffassung vom Wesen des Staates wird zum Leitmotiv in
den Kapiteln von Platons Staat, die von der Entstehung und Be
gründung des Gemeinwesens handeln. Dieses nicht praktische, son
dern theoretische, idealtypische Modell des Staates als Vereinigung
zur Versicherung auf Gegenseitigkeit sei hier vorgreifend herangezo
gen, weil es sich zwanglos mit dem Eranos-Prinzip verbinden lässt
und die Wandlung im Rechts- und Staatsbewusstsein kenntlich macht.
Platon geht von der >Vertragstheorie< aus, derzufolge sich die Einzel-
voraus, dass sozusagen jeder mit jedem eine Versicherung auf Gegen
seitigkeit abschließt, die ihm gegen Einbringen seines individuellen
Beitrages die Teilhabe am Gesamtprodukt garantiert. Die Institution
Gemeinde kann dann selbst als juristische Person - wie ein Indivi
duum- auftreten.
Auf Platons besondere Staatskonzeption, ihre Orientierung am
spartanischen Beispiel und ihre Funktion in der Klassensituation
Athens in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts brauchen wir hier
noch nicht einzugehen. Wichtig scheint mir jedoch für die Konti
nuität der politischen Philosophie, dass Platon seine Lehre vom Staat
aus der Idee der Gerechtigkeit entfaltet und somit an die vorsokra
tische Tradition anknüpft, die Polis und Dike unauflöslich Miteinan
der verknüpft hatte. Und dass ihm Gerechtigkeit sich noch durchaus
unter dem Schema des Zuteilens darstellt, geht uns der eingangs (351 D)
thematisch gesetzten Simonides-Stelle hervor: »gerecht ist, einem
jeden das zu erstatten, was man ihm schuldig ist.<<29 Platon nimmt
also ausdrücklich die ionische Polis-Tradition auf. Dikaios, als ab
straktes Adjektiv »gerecht<< , kommt schon bei Homer vor. Die Sub
stantivierung dikaiosyne taucht erst in nachhomerischer Zeit auf und
steht im Zusammenhang mit der inhaltlichen Neubestimmung der
arete, die sich in den normativ gewordenen T heognis-Versen (147 f.)
ausdrückt, in der Gerechtigkeit sei alle übrige Tugend eingeschlossen
und sie allein mache den Mann vollkommen.30 Dike wird in der vor
sokratischen Philosophie nie ohne Pathos gebraucht, sei es ihrer per
sonifizierten Form im Prooemium des Parmenides, sei es bei Hera
klit (B 23, B 28, B 94), sei es in der kosmologischen Form der Milesier
und ihrer Nachfolger, sei es als Wertbegriff der Polis überhaupt bei
Solon. Es ist Gemeingut der griechischen Philosophie geworden, Ge
rechtigkeit als die entscheidende Staatstugend zu betrachten; auf sie
teles von Samos, später Polykrates von Samos, Pittakos von Mytilene aus
Lesbos (nach Melanchros, Myrsils und Meleagyros), T heagenes von Megara,
Kleisthenes von Sikyon, Periander von Korinth, Phalaris von Akragas - diese
Namen zeigen die Verbreitung der Tyrannis im 7. und 6. Jahrhundert. -
Zweifellos ist Helmut Berve, Die Tyrannis bei den Griechen, München 1967
(Kurzfassung in Konrad H. Kinzl (Hg.), Die ältere Tyrannis bis zu den Pei
sistratiden, Darmstadt 1979, S. 161-183) die unentbehrliche Materialgrund
lage für die Beschäftigung mit der Tyrannis. Seine die Deutung leitende
Einstellung pointiert er in der Kurzfassung (die im Folgenden zitiert wird);
sie ist so stark von emotionalen Vorurteilen gegen die Tyrannen beherrscht,
dass seinen Einschätzungen keine analytische Aussagekraft zukommt. Er un
terscheidet zwar in Übereinstimmung mit der gesamten Forschung zwischen
zwei Tyrannis-Perioden, der älteren Tyrannis vorn 7. bis in den Anfang des 5.
Jahrhunderts und der jüngeren im 4. und 3. Jahrhundert (S. 164) und cha
rakterisiert diese durchaus richtig: >>Wirtschaftlich und sozial steht die erste
der beiden Epochen im Zeichen des Aufkommens des Geldes, der Entfaltung
von Gewerbe, Handel, Verkehr und städtischem Leben sowie des Verlangens
der unterdrückten Bauern nach Aufhebung der Schuldknechtschaft und Neu
aufteilung des Landes. In der zweiten entsteht durch das Wachsen kapitalisti
scher Tendenzen und die dadurch bewirkte Verschärfung der Besitzungleich
heit in Stadt und Land eine neue Situation voll ungelöster Spannungen. Und
das urnso mehr, als jetzt das ökonomische Interesse in den Vordergrund tritt,
die aktive Teilnahme des Bürgers arn Staatsleben weitgehend von egoistisch
materiellen Motiven bestimmt wird<< (S. 165). Indern er jedoch das Wesen der
Tyrannen völlig einseitig auf reines individuelles Machtstreben reduziert, ni
velliert er die Verschiedenheit der gesellschaftlichen Funktion von erster und
zweiter Tyrannis bis zur Unkenntlichkeit: >>Man wird sagen dürfen, daß so
wohl die sozialen wie die geistigen Voraussetzungen für das Auftreten starker,
vorurteilsfreier Machtrnenschen, welche die allgerneine Krise wahrzunehmen
wußten, hier wie dort ähnliche waren. Auch der Typus des Tyrannenregiments
ist bei allem Reichturn der Spielarten letztlich doch der gleiche<< (S. 165 f.). Das in
der Geschichte immer wiederkehrende Muster von angeblichen Greueltaten
ist durchschaubar. Die Quellen, aus denen die unmittelbaren Kenntnisse von
den Tyrannen geschöpft sind, sprudeln aus einer erzkonservativen Schicht; sie
sind Propagandakolportage der entmachteten Aristokratie. Auf sie bezieht
sich Berve. »Es ist nur natürlich, daß solche Männer allen bewußten Politen
als Frevler an der geheiligten Lebensordnung erschienen ... Den wirklich
bedeutenden Machthabern kam es freilich weniger auf sinnlich-materiellen
Genuß, dessen Befriedigung durch Raub, Schändung von Frauen und Knaben
oder dergleichen ein Hauptmotiv der Tyrannen-Typologie bildet, als auf den
Genuß der Macht als solcher an<< (S. 168 f.). Die Durchsetzung des sozialen
und politischen Aufstiegs breiter Bevölkerungsschichten, die zuvor nur eine
untergeordnete Rolle in der Polis-Gerneinschaft spielen konnten, wird als
Strategie von Ruhm- und Gewinnsucht denunziert (S. 170), mit der Schluss
folgerung: »Stets ist der bewußt verfolgte Zweck ein persönlicher: Mehrung
des Reichtums, Erweiterung der Anhängerschaft und damit Stärkung der
eigenen Macht<< (S. 170). Der bis zur Gehässigkeit gehenden Verzerrung des
von den Tyrannen bewirkten gesellschaftlichen Umbruchs durch Berve setze
ich die Darstellung von Mary E. White entgegen, deren Forschungen wesentlich
Der Aufstieg der Polis 83
zur Erhellung der frühen Tyrannis beigetragen haben: >>Was versuchten die
Tyrannen zu erreichen und wieviel erreichten sie? Erstens führten sie ihre
Städte zu größerem materiellem Wohlstand, indem sie eine vielseitige Wirt
schaft förderten. Die Landwirtschaft nahm weiterhin einen wichtigen Platz ein,
wurde jedoch ergänzt durch eine ständig zunehmende Entwicklung des Ge
werbes - Keramik, Metallarbeit und Textilien - sowie des Exporthandels und
der damit zusammenhängenden Werftarbeit und kaufmännischen T ätigkeit ...
Die Stadt Karinth muß während der etwa siebzig Jahre dauernden Tyrannis
gewaltig gewachsen sein ... Man baute Wasserleitungen, Kanalisation, Straßen,
Marktplätze, neue Tempel und Stadtmauern: die äußerlich sichtbaren Zeichen
eines neuen Stadtstaates ... In einem Lande wie Hellas, in dem das Wasser
knapp ist, gehörte eine gute reichliche Wasserversorgung zu den obersten Be
dürfnissen einer wachsenden Bevölkerung. Es ist daher nicht überraschend,
daß Wasserreservoire und Wasserleitungen zu den bekanntesten öffentlichen
Bauten der Tyrannen zählen<< . In: Kinzl (Hg.), a. a. 0., S. 197 und 199.
36 Hermann Bengtson, Griechische Geschichte, München 1965, S. 109.
37 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte I, a. a. 0., S. 168 f.
38 Ebd., S. 166.
39 Es scheint, dass die Beurteilung der frühen griechischen Tyrannis dadurch
behindert wird, dass sich mit dem Wort Tyrann die Assoziation moderner
Diktatoren, besonders putschistischer Militärdiktatoren, verbindet. Manche
Autoren schreiben über Pittakos und Periander als wären sie Warlords aus
Liberia. Auch den Gedanken an Schillers »In Tyrannos<< sollte man fern hal
ten, wenn man von diesen Protagonisten des Übergangs der Archaik zur
Klassik spricht.
84 Voraussetzungen
40 Kinzl, Betrachtungen über die ältere Tyrannis, in: Kinzl (Hg.) a. a. 0., S. 316.
41 Ulrich Wilcken, Griechische Geschichte, München 41939, S. 82. Bengtson,
a. a. 0., S. 112. Bayer, a. a. 0., S. 30. Dagegen ist die sizilische Tyrannis anders
zu beurteilen; vgl. Werner Jaeger, Paideia l, a. a. 0., S. 292; Jaeger schildert
auch die Kulturpolitik der Tyrannen ausführlich.
42 Gerd Zörner, Kypselos und Pheidon von Argos. Untersuchungen zur früh
griechischen Tyrannis, Marburger Dissertation 1991, S. 58 ff.
43 Marin P. Nilsson, Das Zeitalter der älteren griechischen Tyrannen, in: Kizl
(Hg.), a. a. 0., S. 74 ff., hier S. 80.
Der Aufstieg der Polis 85
44 Allerdings stützte sich Peisistratos von Athen auch auf die verarmten atti
schen Kleinbauern. Theagenes von Megara führte unterdrückte ionische Bauern
gegen dorische Adlige zum Sieg.
45 Bayer, a. a. 0., S. 40 f.
46 Pavel Oliva, Zur Problematik der frühen griechischen Tyrannis. Und: Die
Bedeutung der frühgriechischen Tyrannis, in Kinzl (Hg.), a. a. 0., S. 226 ff.
und 236 ff.
86 Voraussetzungen
50 MaryWhite,a.a.O.,S.185.
51 Siehe unten cap. VII.
88 Voraussetzungen
52 Bayer, a. a. 0., S. 40 f. Man sieht, wie widerwillig der Historiker die Errun
genschaften der athenischen Tyrannen anerkennt.
53 Vgl. dazu Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. 111, Darmstadt 1981
(Nachdruck der völlig neu bearbeiteten 2. Auflage von 1937), S. 726 ff.
Der Aufstieg der Polis 89
her die Rechtsordnung die Einheit der Gegensätze ist und die Form
bestimmtheit des Streits hat4 und den Ausgleich für die Verletzung
der Ordnung herstellt,5 gibt das kategoriale Muster für erste dia
lektische Denkfiguren ab. »Werke und Tage«, das Hesiodsche Ge
dicht des Arbeitsethos, in dem der Widerspruch von Arbeit und
Herrschaft artikuliert wird, gewinnt seine Argumente aus der Situa
tion eines Rechtsstreits.
Allerdings hat sich die aus dem bäuerlichen Alltag hergeleitete
Orientierung am gerechten Ausgleich der geleisteten Arbeit nach
hesiodisch nicht durchgesetzt. In der Polisgesellschaft, die ihre Exis
tenzform doch mehr und mehr aus dem beginnenden Warenverkehr
zog, waren die zu ordnenden Streitfälle überwiegend nicht auf die
Arbeitsleistung, vielmehr auf das Arbeitsergebnis, also den Besitzstand
bezogen. Dike ist der rechte Ausgleich bzw. die Zuteilung des rech
ten Anteils. »Daß diese Grundanschauungen ganz und gar der sachen
rechtlichen Sphäre entsprungen sind, liegt auf der Hand und stimmt
mit dem typischen rechtsgeschichtlichen Befund bei anderen Völ
kern überein. Zu allen Zeiten blieb für griechisches Denken dieses
ursprüngliche Moment der Gleichheit in dem Wort Dike mit enthal
ten. (... ) Für die ältere Zeit ist die Forderung des gleichen Rechts ein
höchstes Ziel gewesen. Bei jedem noch so geringfügigen Streit um
Mein und Dein bedurfte es des Maßes, um den Anteil jeder Partei
gerecht zu bemessen. Hier wiederholt sich auf rechtlichem Boden
das Problem, welches die gleiche Zeit für den wirtschaftlichen Aus
tausch der Güter durch Einführung einer festen Maß- und Ge
wichtsnorm löste: Man suchte nach dem richtigen Maß für den Anteil
am Recht und fand es in der im Begriffe der Dike selbst liegenden
Forderung der Gleichheit<<!
Es ist nicht ganz leicht, aus der Begriffsdifferenz den Fortschritt
von Nomos zu Dike zu fassen und die Dialektik im Wandel des
Rechtskonzepts zu verstehen. nemein wie dikein haben die Grund
bedeutung der Zuteilung. Das eine wie das andere Verbum haben es
mit der Verteilung von Besitz zu tun, in medialem Gebrauch heißt
nemein sogar einfach besitzen. Vom Besitz materieller Güter wird
der Begriff übertragen auf Anrechte aller Art, bis er sich schließlich
4 Heraklit B 80.
5 Dies schon mit metaphysischer Bedeutung übertragen bei Anaximander B 1.
Dike ist dann auch die personifizierte Naturordnung. Vgl. Heraklit B 94.
6 Werner Jaeger, Paideia, Bd. I, S. 146.
92 Voraussetzungen
10 Vgl. Jaeger, a. a .0., S. 147 ff und 155 ff. Fritz Wehrli, Hauptrichtungen des
griechischen Denkens, Zürich 1964, S. 106.
Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 95
13 So handelt Lipsius, Das attische Recht und Rechtsverfahren, Leipzig 1905 ff.,
Nachdruck Bildesheim 1984, vom Recht immer nur im Sinne eines geordne
ten, geregelten Rechtsverfahrens. Zur prinzipiellen Differenz von Recht und
Rechtsordnung vgl. Wilhelm R. Beyer, Recht und Rechtsordnung, Meisen
heim/Glan 1951.
Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 97
begriffen. Die Inhalte einer intuitio originaria, auf die jede Erkenntnis
zu gründen ist, sind hier schon abgedeckt. Aus welcher historischen
Problemlage diese Grundlegung der Philosophie entspringt, werden
wir im Zusammenhang der Erörterung der milesischen Naturphilo
sophie noch behandeln.
Die Schwierigkeiten der Auslegung tauchen da auf, wo das (prä
sumptiv wörtliche) Zitat anfängt: im zweiten Satz, von dem Simpli
cius sagt, er sei in recht poetischen Ausdrücken gehalten. Was soll es
bedeuten, wenn gesagt wird, »sie zahlen Schadenersatz und Buße
einander für ihr Unrecht«. Wer zahlt, ist die erste Frage. Kirk/Raven
bemerken, dass >>aMf]Am<; zeigt, daß die Buße wechselseitig zwi
schen den Parteien geleistet wird, die das Subjekt des Satzes sind«.
Subjekte aber sind (Korrespondenz eines grammatischen und eines
logischen Subjekts) ytvwt<; und cpSoQa. Meint Anaximander also,
dass Entstehen und Vergehen einander Schadenersatz leisten - das
Entstehen dem Vergehen durch seinen Untergang, das Vergehen dem
Entstehen (...) ja, wodurch wohl dieses? Dadurch daß es Platz für
neues Entstehen schafft, dadurch, daß es sich selbst in der ewigen
Existenz des Ganzen aufhebt? So gesehen, bliebe der Satz in der Tat
dunkel. Wenn aber der Vordersatz doch nur eine peripatetische Pa
raphrase, jedenfalls kein wörtliches Zitat ist, dann zwingt uns nichts,
den wörtlich zitierten Nachsatz grammatisch auf die Subjekte des
Vordersatzes zu beziehen. Dann können wir den eigentlichen Aussa
gegegenstand des Vordersatzes, die Seienden, als das Sinn-Subjekt
betrachten und den Nachsatz darauf beziehen. Daß die Seienden
einander Buße leisten, klingt metaphorisch einsichtiger, denn die
Seienden können als Einzelteile der Natur betrachtet werden wie die
Bürger als Einzelteile des Staates. Worin aber besteht nun ihr Un
recht? Am weitesten würde man gehen, vermutete man: in der Aus
grenzung des Einzelnen und Besonderen aus dem Einen und All
gemeinen, eine Art Abfall vom Weltgrund; orientalische Einflüsse
könnten eine solche Meinung angeregt haben, Jahrhunderte später
hat die Gnosis sie vertreten. Dürfen wir aber den frühen Griechen
einen solchen metaphysischen Pessimismus unterstellen? Der Wort
laut des Fragments, scheint mir, spricht dagegen. Denn für dieses
Unrecht wären die Seienden nicht einander, sondern dem apeiron
Buße schuldig. Einander aber brauchen sie nur Schadenersatz zu
leisten, wenn sie sich gegenseitig schädigen, eines das andere, indem
es diesem sein Sein verkürzt und beschneidet (und umgekehrt): so
wie die Nacht den Tag tötet und der Tag die Nacht wiederum über-
100 Voraussetzungen
Einteilung Dörigs, die wir an den Anfang gestellt haben und die im
kunst- und literarhistorischen Bereich ihre Rechtfertigung besitzt,
werden zwischen 700 und 500 in einer einheitlichen Stilentwicklung
Perioden übergriffen, die gesellschaftlich gerade durch einen - in
ihrer ersten Phase, der ur- und früharchaischen - radikalen Bruch
gekennzeichnet sind: die Entstehung der bürgerlichen Polis im Ge
gensatz zur aristokratischen Burgherrschaft.4 Heuss gesteht das auch
selbst zu. Aber er möchte die Einheit des Archaischen eben nicht in
der Formbestimmtheit dieses Umbruchs und seine vorklassischen
Ausdrucksgestalten in Gesellschaft und Kunst sehen, sondern in der
Kontinuierung des Typus der Adelsgesellschaft und der in ihr gel
tenden Regulatorien, die die Einheit des Hellenenturns bestimmt
hätten. »Die archaische Zeit als Zeitalter des griechischen Adels
bietet sich geradezu an<< , um die >>Bildung der griechischen Einheit
als einen Hauptgegenstand der archaischen Zeit« darzustellen. ( ...)
Allerdings >>ist es unmöglich, schlechthin die archaische Zeit als eine
Periode ungeschmälerter Adelsherrschaft anzusprechen. Im Gegen
teil: Die Zielstrebigkeit der Epoche ist, auf ihr schließliches Ergebnis
hin besehen, ausgesprochen adelsfeindlich ( ...).«Dennoch muss man
>>ermessen, welche selbstherrliche Stellung der Adel der archaischen
Zeit einnahm. Im Grunde genommen gab es keine Autorität über
ihm.( ...)Der archaische Staat bis zur Wende des 7. Jahrhunderts war
ganz sein Geschöpf«.' Das ist eine etwas widersprüchliche Schilde
rung. Bei allen Differenzierungen, die Heuss dann für den Verlauf
4 Dafür ist vor 600 gerade noch keine institutionelle und auch keine begriff
liche Form gefunden. Die großen Verfassungsgeber, Pittakos, Periander,
Solon treten erst kurz vor oder um 600 in Erscheinung. Für die Denkweise
vor der Konsolidierung der Polis-Gesellschaft ist aber die Dichtung des
Tyrtaios charakteristisch, deren Übergang in einer >>Zwischenwelt<< bei Jaeger
sehr deutlich wird: >>Das homerische Ideal der heroischen Arete wird umge
schmolzen zum Heroismus der Vaterlandsliebe, und mit diesem Geist durch
dringt der Dichter die ganze Bürgerschaft ( ...) Die gedankliche Form der
Begründung der Eunomia ist sowohl für Tyrtaios' persönliche Stellung wie
als historischer Gegensatz zu dem politischen Geiste Ioniens und Athens be
deutsam. Während sich dort bald niemand mehr an die Autorität der bloßen
Überlieferung und des Mythos gebunden fühlt, sondern man danach strebt,
die Verteilung der staatlichen Rechte nach Maßgabe eines, wie man glaubte,
möglichst allgemeingültigen sozialen und rechtlichen Denkens zu regeln,
leitet Tyrtaios die spartanische Eunomie nach alter Weise von göttlichem Fug
ab und sieht in diesem Ursprung ihre höchste und unantastbare Gewähr«,
Werner Jaeger, Paideia, Bd. I, S. 129 und 134, Berlin 1936.
5 Heuss, a. a. 0 ., S. 3 8 und 62.
108 Weltordnung und Lebensweisheit
nisse können komprimiert auf einen Bildgehalt sein, weil das Bild
für einen noch nicht gedachten Begriff steht; und sie müssen abbre
viativ sein, um dem Fortgang des Gedankens, in dem der Begriff
seine Stelle hat, nicht zu zerbrechen. Die Erzählung eines Gesche
hens aber will nicht begriffen, sondern anschaulich sein. 10 Sie spinnt
aus, wo das Gleichnis rafft. Darin liegt kein Gegensatz des Stils,
sondern die Verschiedenheit der Funktion. Seiner Anlage nach geht
das Epos in die breite sinnliche Vergegenwärtigung. Wo im Gleich
nis eine Raffung geschieht, die sich als geformtes Bild auch aus
drücken lässt, bereitet sich die Begrifflichkeit vor; sie ist aber noch
nicht ausgebildet.
Schon bei Hesiod, der sich doch so sehr an Homer formal als
Vorbild orientiert, ist das anders. Man vergleiche die T hersitesszene
(Ilias II, 216-270) mit der Prometheusgeschichte (Theogonie 535-
560); ich wähle gerade dieses Beispiel, weil die Erzählung eine der
wenigen längeren bei Hesiod ist. Bei Hesiod ist die »story« prägnant
auf ihren Handlungskern zugespitzt, auch die Reden ein Teil des
weiter treibenden Tuns. Bei Homer ist die Rede und die gesamte
Szene ein Genrestück, eine vergnügliche Einlage für die Zuhörer, die
Reden wie Arien, die man um ihrer selbst willen gern hört und
denen man späten Szenenbeifall spendet. Homers Dichtung ist für
den Vortrag bei ritterlichen Tafelrunden oder an früh dunkelnden
Winterabenden geeignet. Hesiod verlang gerraues Zuhören, wenn man
den Faden nicht verlieren und vielleicht die hochpolitisch oder ge
nealogisch aktuelle Stelle nicht versäumen will. (Homer ist wie ein
Konzertstück, Hesiod wie eine Vorlesung.) Hesiod hat in der Theo
gonie nicht in der Denkform, wohl aber im Darstellungsstil sich
nach den Bedürfnissen des aristokratischen Publikums gerichtet, die
Kosmologie als Genealogie entwickelt und mit dieser Ambiguität
mindestens seine subtileren Hörer fasziniert. So lässt er in den Erga
auch diese Doppelsinnigkeit hinter sich und verkündet ganz univer
sell und unverhüllt die neue arete des Bauernstandes. Das hat mit
Fortdauer der Adelsgesinnung nichts mehr zu tun. Hier beginnt die
frühe Archaik als eigener Gestalttypus- wenn auch sozusagen rand-
11 Max Treu in: Alkaios, Lieder, hg. und übers. von Max Treu, München 21963,
s. 105.
112 Weltordnung und Lebensweisheit
wie mühevoll es war, aus der Statuarik der ersten Großplastiken den
Übergang zur Gliederung des Körpers in der Bewegung, ein einfa
ches Schreiten, zu finden. Wenn uns der Satz des Anaximander auch
nur einigermaßen in der ursprünglichen Form überliefert ist (was ich
eben aufgrund der wuchtigen und schwerfälligen, aber symmetrischen
Gliederung der Satzführung annehmen möchte), so ist der Vergleich
mit den Jünglingen der Großplastik erlaubt. Wie Stand- und Schritt
bein zurück- und vorgesetzt sind, um die Bewegung des Körpers
anzugeben und sie dem ruhig verharrenden Rumpf mitzuteilen, so
rücken hier ek h8n de he genesis und ten phtoran eis tauta ginesthai
auseinander, um die Bewegung von Werden und Vergehen tois usi zu
übertragen, das kata to chreon fügt sich an wie die Standplatte dem
kuros Halt gibt. Die bewegte Syntax der Sätze entringt sich ange
strengt und kraftvoll der starren Monumentalität der inschriftlich
gereihten W örter. Der Abstraktionstypus archaischen Denkens ent
spricht dem archaischen Sehen. In dieser Denkform hat die Philo
sophie als Wissenschaft des Allgemeinen ihren Ursprung. Sie findet
ihre erste Aufgabe in der Begründung der Ordnung der Gesellschaft.
In der Idee des Rechts werden Prinzipien des Verhältnisses formu
liert, die allgemeine Form der Relationen in der Gemeinschaft, das
Grundmuster der res publica oder politeia, was ja nicht Staat, son
dern Staatlichkeit heißt.
2. Kapitel:
Hesiod
voll von Göttern, was bedeuten kann, dass physische Dinge und Kräfte als
göttlich gedacht und nicht in Menschengestalt vorgestellt werden müssen.
Ähnlich sind die Fragmente B5, B 67 von Heraklit zu interpretieren.
4 Siehe Ulrich von Wilarnowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, Darrn
stadt 21955.- Kar! Kerenyi, Die Mythologie der Griechen, Darmstadt 1956. -
M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, München '1967.
5 Siehe Hans Diller, Hesiod und die Anfänge der griechischen Philosophie, Antike
und Abendland II, 1946, S. 145: >>Für Hesiods Werk ist es besonders bezeich
nend, daß diese Götterpersonen eingefügt sind in eine Abfolge von Natur
gewalten, deren dingliche Beziehung zueinander für den Gesamtaufbau des
Systems maßgebend ist. Es gibt, so stellen wir fest, bei Hesiod Götter, die
ihre Bedeutung als P ersonen in einer anthropomorphen Geschichte haben,
und solche, die in erster Linie Hypostasen von Naturgewalten sind - diese
aber sind die eigentlichen Stützen des theogonischen Systems<< .
6 Vgl. das gleichnamige Werk von Wilhelrn Nestle, Vom Mythos zum Logos,
Stuttgart 21975, S. 44 ff.
7 Zu den altägyptischen Götterlehren vgl. Joachirn Spiegel, Das Werden der
altägyptischen Hochkultur, Beideiberg 1953, Kapitel 9 und 10.
8 Hermann Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, Mün
chen '1976, S. 104. Fränkel fährt fort: >> ... und dabei von einer gewaltigen Tiefe
und elementaren Wirkung<< .
9 Siehe die in Anrn. 4 genannten Werke.
116 Weltordnung und Lebensweisheit
den Sinn einer Fabel nicht auf die Eindeutigkeit einer Sachverhalts
feststellung zu fixieren; er ist situationsgemäß abwandelbar.10 Hesiod
verfügt durchaus über die literarische Form des Mythos als einer
hermeneutischen Paradigmatik, wie die Abfolge der Prometheus
Pandora- und der Weltalter-Mythen in den Erga zeigen.11 >>Daß die
beiden Mythen, wenn man sie als real nimmt, sich ausschließen,
kümmert Hesiod nicht«.12 Die Geschichten sind Sinn-Gebungen, sie
machen ein abstraktes Verhältnis verständlich, indem sie es als Ereig
nis schildern. Der Widerspruch, dass Menschen das Übel lieben kön
nen, wird am Inhalt der Pandora-Büchse versinnlicht (Erga, 57 f.):
>>und alle werden es zärtlich umarmen, ihr Übel, das Herz voller
Freude«.13 Und der Widerspruch, dass das Schlechte als wertvoll ge
schätzt wird, ist die Wirklichkeit des eisernen Zeitalters (Erga 189 ff.):
>>Keiner wird mehr geschätzt, der wahr geschworen, und keiner, der
gerecht und gut. Den Übeltäter, den Frevler ehrt man weit höher ...«.14
Jaeger hat richtig erkannt, dass der Mythos in diesem Gebrauch
ein erläuterndes Element der Lehr- und Mahnrede ise5 - eine schon
bei Homer vorkommende, wenn auch noch nicht methodisch ge
nutzte Stilform, die nun von Hesiod systematisch und mit geschichts
philosophischer Intention eingesetzt wird. Die Kritik am Verfall der
gesellschaftlichen Ordnung und das Gerechtigkeitspathos in den Erga
werden durch die mythische Verankerung geschichtlich begründet
und der Zufälligkeit individueller Bosheit enthoben, also theoriefähig.
Die psychologisch verwirrende und logisch unerträgliche Tatsache
eines real existierenden Widerspruchs in sich- das geliebte Übel, das
10 Zur Denkform des Mythos vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen
Formen, Band II, 'Darmstadt 1953. - Geoffrey S. Kirk, Griechische Mythen,
Wien/Berlin 1982.
11 Hesiod, Erga 44 und 109 ff.
12 Jaeger I, a. a. 0., S. 102. Jaeger spricht von einer >>normativen Verwendung
des Mythos<< , ebd. 101, bzw. einem >>paradigmatischen Gebrauch<< , ebd. 100.
13 Die Plagen werden beispielhaft genannt Erga 90 ff. Daran knüpft im Welt
alter-Mythos 119 an.
14 In nehme hier die Übersetzung von T hassilo von Scheffer, die mir an dieser
2
Stelle die gelungenere zu sein scheint. Hesiod sämtliche Werke, Bremen 1965.
Zum Widerspruch tritt als zweites Moment die Mischung der Gegensätze
(Erga 178): >>0 die Verderben! Da senden die Götter drückende Sorgen. Den
noch wird auch diesen zu Bösem Gutes gemischt sein.<<
15 Jaeger I, a. a. 0. S. 100 f.: >>Die Erga sind eine einzige große Lehr- und Mahn
rede, genau so wie etwa eine Elegie des Tyrtaios oder Solon der Form und
der seelischen Haltung nach an die Reden der homerischen Epen anknüpft<< .
Hesiod 117
Weltanschauung. Die Götter sind Teil dieser Welt der Seienden, in
dividuierte Seiende selbst. Vorgängig und umfassend ist das Sein aller
Seienden, die Welt, deren begrenzte Individuationen, die mannigfa
chen Seienden, aus einem unbegrenzten Anfänglichen hervorgehen.
Dieser Anfang ist das Chaos (xaoc;), ihm ist die Finsternis zugeord
net, die homogene Gestaltlosigkeit, aus der erst im Licht begrenzte
Gestalten hervortreten. Deren erste, weltbegründende Form ist die
Zweiheit von Erde und Himmel, aus der alle Wesen entspringen
(Theogonie 126 f.):
Dann folgt 128-160 die Aufzählung der Nachkommen, die aus der
Verbindung von Himmel und Erde, von Gaia und Uranos hervor
gmgen.
In Fortführung der Cornfordschen Hypothese, dass Hesiods
Theogonie auf vorderasiatische Quellen zurückgehe, haben Thom
son und nach ihm Kirk/Raven/Schofield die Inhalte und Anordnung
der Mythologeme bei Hesiod aus einer Kompilation vorgriechischer
orientalischer Kosmogonien hergeleitet. Insbesondere Thomson neigt
dazu, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen von Motiven einer
gleichsam homogenen prähistorisch-ethnologisch zu beschreibenden
Bewusstseinslage zuzuschreiben, ohne auf die Differenzierungen ein
zugehen, die- ich möchte sagen- die Modifikationen einer >>kultur
historischen Semantik« ausmachen. Die Namenlosigkeit des unter
schiedslosen Seins am Anfang im babylonischen Enuma elish hat nicht
dieselbe Bedeutung wie die Namenlosigkeit des Anfangs in Dao de
jing 1; und das griechische Chaos ist durchaus verschieden von der
118 Weltordnung und Lebensweisheit