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Hans Heinz Holz

Dialektik
Problemgeschichte
von der Antike bis zur Gegenwart

Band I

Sein und Werden.


Problemgeschichte der Dialektik
in der Antike
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ISBN 978-3-534-23163-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:


eBook (PDF): 978-3-534-71163-5
Für Si/via
Inhalt

Vorwort .............................................................................................. 11

I. Hauptstück: Voraussetzungen ........................................ 15

1. Kapitel: Mythos, Sprache und Begriffsbildung .................... 17

2. Kapitel: Die Herausbildung der personalen Individualität 37

3. Kapitel: Der Aufstieg der Polis .................... .......................... 62

4. Kapitel: Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 90

II. Hauptstück: Weltordnung und Lebensweisheit 103

1. Kapitel: Archaische Philosophie .......... ................................. 105

2. Kapitel: Hesiod ...................................................................... 114

3. Kapitel: Solon ......................................................................... 135

4. Kapitel: Die sieben Weisen .................................................... 154

III. Hauptstück: Der Weg zur Ontologie .................... 167

1. Kapitel: Die milesischen Naturphilosophen ........................ 169

1. Chronologie und Problemgeschichte ............................... 169


2. Thales .................................................................................. 171
3. Anaximander ...................................... ................................ 182
4. Anaximenes ........................................................................ 193
5. Schlussfolgerungen .............. .......................... .................... 201

2. Kapitel: Heraklit .................................................................... 206

3. Kapitel: Von lonien nach Italien ............... ............................. 227

1. Xenophanes ........................................................................ 227


2. Pythagoras .......................................................................... 238
8 Inhalt

4. Kapitel: Die Eleaten ............................................................... 248

1. Parmenides .......................................................................... 248


Grundriss des Systems ....................................................... 254
Das Proömium ................................................................... 262
Die gültige doxa ................................................................. 269
2. Zenons Antinomien ........................................................... 285
3. Melissos ............................................................................... 289

5. Kapitel: Der Systemschluss der Vorsokratik ....................... 293

1. Demokrit ............................................................................ 293


2. Anaxagoras ......................................................................... 305

IV. Hauptstück Philosophie auf den Marktplätzen


und m den Schulen ........................................................... 313

1. Kapitel: Philosophie in der athenischen Demokratie .......... 315

1. Die klassische Tragödie ...................................................... 315


2. Sophistik ............................................................................. 321
3. Sokrates ............................................................................... 331
4. Philosophie oder Agitation? .............................................. 340

2. Kapitel: Platon ....................................................................... 348

1. Entwicklungsstufen ............................................................ 348


2. Die sokratischen Schriften ................................................. 352
3. Der pythagoreische Einfluss .............................................. 359

3. Kapitel: Platons Höhle .......................................................... 363

1. Die selbstinterpretativen Schlüsselmetaphern .................. 366


2. Das Sonnengleichnis .......................................................... 369
3. Schematismus ..................................................................... 380
4. Das Schema der geteilten Linie ......................................... 382
5. Höhlendasein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

4. Kapitel: Der späte Platon ...................................................... 395

1. Platons sogenannte >>ungeschriebene Lehre<<,


Das Zeugnis der Briefe ....................................................... 395
2. Der Parmenides .................................................................. 409
3. Der Sophistes ...................................................................... 413
4. Ausklang .............................................................................. 421
Inhalt 9

V. Hauptstück: Aristoteles .................................................. 427

1. Kapitel: Historische Einleitung zum Hellenismus .............. 429

2. Kapitel: Metaphysik I ............................................................ 445

3. Kapitel: Metaphysik II .......................................................... 454

4. Kapitel: Physik ....................................................................... 461

5. Kapitel: Metaphysik XII ........................................................ 479

6. Kapitel: Zur Kategorienlehre ................................................. 495

VI. Hauptstück: Der Abschluss der Antike ................ 533

1. Kapitel: Hellenistische Weltanschauungsphilosophien ....... 535

1. Die Akademie .................................................................... 536


2. Epikur ................................................................................. 543
3. Die Stoa .............................................................................. 547

2. Kapitel: Plotirr ........................................................................ 561

1. Nous und Psyche ............................................................... 574


2. Materie ................................................................................ 580
3. Schluss ................................................................................ 586
4. Proklos ................................................................................ 589

3. Kapitel: Der Durchbruch des Irrationalismus- die Gnosis 596

1. Voraussetzungen ................................................................ 596


2. Gnosis als Daseinshaltung ................................................. 602
3. Mythologisierende Metaphysik ........................................ 606
4. Kosmologie und Ontologie. Der Poimandres ................. 610
5. Orientalische Religionsform ............................................. 615
6. Phiion .................................................................................. 617

Namenregister .................................................................................. 625


Vorwort

Dem 19. Jahrhundert verdanken wir, wie vorher nur dem Zeitalter
der Humanisten, die Erschließung des Nährbodens und der Quellen
unserer Kultur. Wir alle zehren noch von den Früchten des immen­
sen Gelehrtenfleißes und der stupenden Bildung dieser unserer Ur­
großväter. Ihnen sind wir zu Dank verpflichtet, und der wissenschaft­
liche Dank besteht darin, hinter ihre Maßstäbe nicht zurückzufallen,
wenn über die Grenzen der Methodik hinausgegangen wird.
Die erste Phase dieser historisch-wissenschaftlichen Gründerzeit
war gewiss die der Sammler und Jäger. Was bereitlag, wurde gesam­
melt, geordnet, inventarisiert; verborgenes Wild wurde aufgestöbert
und gejagt. Die Ordnung eines Bereiches wurde von einem über­
schauendem Blickpunkt aus möglich und vorgenommen. Carl Prantls
Geschichte der Logik im Abendlande, Kurd Laßwitz Geschichte des
Atomismus, Otto Bardenhewers Geschichte der altkirchlichen Lite­
ratur sind rühmliche Beispiele solch ordnender Gelehrtentätigkeit.
Weitergehend haben einige systematisch konzipierende Geister schon
die Erarbeitung des Materials mit der Anlage einer Deutungsper­
spektive verbunden. Hervorragendstes Zeugnis dafür ist die Dog­
mengeschichte des unglaublich produktiven Adolf von Harnack,
letzte Blüte an diesem Zweig war Georg Mischs Geschichte der Auto­
biographie.
Die zunehmende Spezialisierung nicht nur der Disziplinen, son­
dern auch innerhalb der Disziplinen, aber auch der allgemeine Verfall
eines universellen Bildungshorizonts infolge häufiger und unausge­
gorener Unterrichtsreformen führten dazu, dass etwa seit der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts große Epochen- oder Problemübersich­
ten nur noch als Sammelwerke mehrerer Autoren erschienen - bes­
tenfalls als Integration eines Kollektivs, meistens aber als Addition
einzelner Forscher. Gewiss brachte das einen Zuwachs an Detail­
kompetenz, aber um den Preis eines Verlusts einer einheitlichen, sinn­
deutenden Perspektive. War dies für bestimmte Darstellungszwecke
in den Naturwissenschaften angängig, so wirkte es sich in den Geis-
12 Vorwort

teswissenschaften zerstörerisch aus. Die Kontinuität der Geschichte


und der Gebildecharakter dessen, was man objektiven Geist nennen
mag, gingen dabei verloren.
In meinen Marburger Vorlesungen, zu denen regelmäßig ein vier­
stündiges Semesterkolleg zu einer Epoche der Philosophiegeschichte
gehörte, habe ich, bestätigt durch eine jeweils mehrhundertköpfige
Hörerzahl aus allen Fachbereichen, die Erfahrung gemacht, wie sehr
Studenten die Entwicklung eines größeren Zusammenhangs unter
einem leitenden Gesichtspunkt schätzen. Und noch viele Jahre spä­
ter traten bei irgendwelchen Veranstaltungen frühere Hörer an mich
heran und sagten mir, was ihnen übergreifende Entfaltung von Pro­
blemkomplexen und Ideenabläufen für ihren weiteren Denkweg in
Beruf und Leben bedeutet haben.
So fühlte ich mich zu dem Wagnis ermutigt, eine Problemge­
schichte der Dialektik von der Antike bis zur Gegenwart zu schrei­
ben. Sie konnte nicht anders als aus einem Guss sein- und das heißt,
dass mancherlei Teilstücke und Entwicklungsstränge ausgelassen wer­
den mussten, um eine, wie Hegel sagt, >>Knotenlinie« zu knüpfen.
Was man als Knotenpunkte auswählt, ist bei aller Bemühung um
historisches Gleichmaß, ein persönlicher Entscheid. Das ist die
Grenze einer Darstellung aus einer Hand, aber auch die Chance zu
durchgängiger Konsistenz.
Am schwersten fiel mir der Entschluss, die Probleme der Dia­
lektik auf die rein theoretische Seite der Entwicklung spekulativer
Weltmodelle, also auf die Konstruktion von Totalität (samt ihrer
erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Konsequenzen) zu
konzentrieren. Das ist zwar mein eigenes philosophisches For­
schungsgebiet. Aber ich bin mir bewusst, dass die spekulative Phi­
losophie ohne ihr dialektisches Pendant in der Gesellschaftstheorie
nur eine Seite der Sache ist. Von Solon an ließe sich eine Problem­
geschichte der T heorie von Stadt und Gesellschaft abrollen, in der
von Platons Politeia über Hobbes' Leviathan und Rousseaus C a n­
trat social bis zu Hegels Rechtsphilosophie andere Schwerpunkte und
Aspekte in den Vordergrund träten; Denker wie Cicero und Ma­
chiavelli, Hugo Grotius und Montesquieu würden dann ihren ge­
bührenden Platz erhalten.
Doch bin ich zuversichtlich, dass ein anderer diese komplemen­
täre Aufgabe in Angriff nehmen wird - sie drängt sich ja fast un­
widerstehlich auf. Wenn ihm dann die Entwicklungsgeschichte der
spekulativen Denkfiguren Hilfslinien in seiner Konstruktion zu zie-
Vorwort 13

hen erlauben, dann ist der Sinn wissenschaftlicher Arbeit erfüllt,


dem Weiterdenken dienlich zu sein. Ich möchte hinzufügen, dass sich
dem die ungeheure Anforderung zugesellt, nicht nur die Strukturen
unseres abendländischen Philosophierens zu begreifen, sondern sie
durch die anderer Kulturen mit eigenen Sprach-, Begriffs- und Logik­
formen zu ergänzen, um so die Polyphonie der Welterfahrung zur
Grundlage einer friedlichen Vielfalt der Menschheit zu machen - eine
Vielfalt, die es um des Reichtums der Welt willen zu erhalten gilt.
Spekulative Dialektik als Theorie innerweltlicher Gegensätze und
ihrer Einheit ist so alt wie die Philosophie überhaupt, ja auch schon
als Denkform im Mythos präsent; im engeren Sinne, als Theorie der
in einem Reflexionssystem mit Subjektivität vermittelten Objekti­
vität, gibt es sie erst seit der Neuzeit - sei es in tranzendentalphilo­
sophischer, sei es in ontologischer Konstruktion. Nicht wissend, wie­
viel Zeit mir für das Gesamtprojekt bleiben würde, habe ich darum
zunächst mit der Ausarbeitung der Problemgeschichte der Dialektik
in der Neuzeit begonnen und deren Ergebnis in den drei Bänden
Einheit und Widerspruch (Stuttgart und Weimar 1997 /98) vorgelegt;
dort steht als Einleitung auch ein Abriss meines Dialektikverständ­
nisses, der nun eigentlich an den Anfang des ganzen Werks gehören
würde; da aber doch wesentlich auf die neuzeitliche Problemlage
bezogen, belasse ich ihn nun auch an dieser Stelle, zumal inzwischen
eine ausgearbeitete Begründung der Dialektik in meinem Buch Welt­
entwurf und Reflexion (Stuttgart und Weimar 2005) vorliegt. Wie
viel eine systematische Grundlegung der Dialektik dem Eindringen
in ihre Geschichte verdankt und dass letztlich die Konfiguration
dialektischen Denkens nur in Einheit mit seiner Geschichte bestehen
und begriffen werden kann, mag nun aus den gesamthaft vorliegen­
den Bänden ansichtig werden.
Zum Schluss bleibt mir zu danken: meinen Studenten und Mit­
arbeitern an den Universitäten in Marburg und Groningen; in den
Diskussionen mit ihnen profilierten sich die Probleme und ihre Ent­
wicklung; meiner Frau Silvia, die diesen Denkweg seit vierzig Jahren
begleitet und an Schwierigkeiten aller Art mit getragen hat; den Kol­
leginnen und Kollegen, die durch Widerspruch oder Zustimmung den
Fortgang meiner Arbeit unterstützten; mit besonderer dankbarer
Erinnerung den Lehrern meiner Schule, die mir ein heute nicht mehr
selbstverständliches Ausgangswissen vermittelten und stets meine den
Schulplan oft verlassenden Eigeninteressen förderten; vor allem mei­
ner Mutter, die mir eine glückliche Jugend bereitete, von der ich un-
14 Vorwort

zählige Anregungen erhielt, die mir die Unerschütterlichkeit ethischer


Konsequenz vorlebte und meinem Leben die geprägte Form gab, die
sich entwickeln konnte.
Dank gebührt der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und ihrem
Lektor für Philosophie, Dr. Bernd Villhauer, für die Betreuung die­
ses Werks, dem Metzler Verlag, der der Integration der vergriffenen
Bände Einheit und Widerspruch in das Grundprojekt zustimmte.
Dr. Frank Hermenau, der die Manuskripte las und digitalisierte und
die Indices der Bände I und II anlegte, hat sich auch in vieler anderer
Hinsicht als ein wertvoller und von der Sache begeisterter Mitarbeiter
erwiesen; dass das große Projekt in letztlich so kurzer Zeit druckreif
gemacht werden konnte, ist wesentlich ihm zu verdanken.
I. Hauptstück:
Voraussetzungen
1. Kapitel:
Mythos, Sprache und Begriffsbildung

In der antiken mediterranen Welt ist die Entstehung der Philosophie,


der sich auf den i\6yo� stützenden Weise der Welterfassung, ein sin­
guläres Ereignis. In der griechischen und nur in der griechischen
Welt wurden die Fragen und Methoden rationaler Erklärung des
Gegebenen ausgearbeitet, wurde der Weg des Mythos verlassen, um
den der Argumentation zu beschreiten. Nirgends sonst in den alten
Hochkulturen des Mittelmeeres und Vorderasiens gelang dieser Über­
gang; selbst hoch entwickelte Weltanschauungen wie die Mesopo­
tamiens und des Irans, Kleinasiens und Ägyptens blieben der mythi­
schen Denkweise verhaftet, auch wenn sie schon fortgeschrittene
Kenntnisse in einzelnen Wissensgebieten - Astronomie, Mathematik,
Architektur, Medizin - besaßen und durch Arbeitsteilung, Handel,
Schrift und Gesetzgebung in der Alltagspraxis zu begrifflichen Ab­
straktionen genötigt wurden.
(Nur noch in zwei weiteren Kulturen entstand, unter jeweils an­
deren Bedingungen, ein originäres philosophisches Denken: in China
und in Indien. Chinesisches wie indisches Philosophieren, beide wie­
derum weit verschieden voneinander, sind von ganz anderem Typus
als das griechische. Sie realisieren Möglichkeiten von Welterfahrung,
die die abendländische Tradition ausschließt. Eine synoptische Phi­
losophiegeschichtsschreibung müsste diese Typen von Weltbegegnung
und-abbildung strukturvergleichend kollationieren, um aus der He­
teromorphie der Weltmodelle eine ebenso mannigfaltige wie per­
spektivisch gebrochene Auffassung von der einen unendlich reichen
und sich verschiedengestaltig präsentierenden Welt zu gewinnen.1)

Zu einer synoptischen Philosophiegeschichte vgl. Ernst Bloch, Differenzie­


rungen im Begriff Fortschritt, Abband!. d. Deutsch. Akad. d. Wiss. zu Berlin,
1955. Zum Typus chinesischen Denkens siehe Marcel Granet, Das chinesische
Denken, München 1963; Joachim Schicke!, Große Mauer- Große Methode,
Stuttgart 1968. Die indische Philosophie stellte in gesellschaftlichem Bezug
dar Walter Ruhen, Geschichte der indischen Philosophie, Berlin 1954; siehe
auch Otto Strauss, Indische Philosophie, München 1924.
18 Voraussetzungen

Warum es das gegenüber den großen Nachbarkulturen, von denen


es doch nachhaltige Einflüsse empfing, gerade das kleine, zunächst
rückständige und weder ökonomisch noch kulturell begünstigte Volk
der Griechen war, bei dem sich die Ablösung der Philosophie vom
Mythos vollzog, muss -fernab jeder humanistischen Vorurteile und
philhellenischer Begeisterung - dem Historiker zum Problem wer­
den. Welches waren die Voraussetzungen, die diese weltgeschicht­
liche Epoche ermöglichten?
Die griechischen Stämme wanderten in mehreren Wellen im
13. und 12. vorchristlichen Jahrhundert in die Halbinsel ein; ja, viel­
leicht sollte man besser sagen: Sie sickerten ein, denn es waren ein­
zelne Heerzüge, die diesen oder jenen Weg einschlugen und da oder
dort Fuß fassten. Zwei große Schübe sind zu unterscheiden, und die
Eroberer der zweiten Wanderungsphase vertrieben ihre Vorgänger -
oder doch die unternehmungslustigeren Teile von ihnen; diese setz­
ten sich nach lnselionien und der kleinasiatischen Küste ab, wo es
bereits aus Zeiten der kretisch-mykenischen Kultur Niederlassungen
gab (Milet gehörte zu ihnen), die den Auswanderern lockender
scheinen mochten als ein Hörigendasein in der, selbst erst vor we­
nigen Generationen errungenen, Heimat. Es war eine Zeit der V öl­
kerbewegung und V ölkervermischung.2
Die ins mykenische Griechenland einwandernden Hellenen -den
Namen werden sie später als Ausdruck ihrer sprachlichen und kul­
turellen Gemeinsamkeit gebrauchen' - treffen auf eine hochentwi­
ckelte Adelskultur mit Stammeskönigtum, das eher die Funktion
einer Heerführerschaft als einer Friedensadministration gehabt haben
dürfte. Die ökonomische Basis war die Landwirtschaft, kultivierte
Äcker rund um die Stadtburgen, Viehzucht auf den Weiden der um­
liegenden Gebirge; bronzezeitliches Handwerk in den Stadtgemein­
den, Metallverarbeitung und Töpferei, kamen hinzu. Die Adelsherren
bewirtschafteten ihren Grundbesitz durch Sklaven und Hörige, ihre
eigene Aufgabe bestand vor allem in der Abwehr räuberischer Inva­
sionen und in der Durchführung eigener Beutezüge in fremde Ge­
genden. W ährend dieser oft langen Abwesenheiten der Grundherren

2 Ortsnamen, Eigennamen, Stammesnamen, Götternamen, Götter- und Hel­


densagen geben Zeugnis von Überlagerungen, Vermischungen, Kämpfen und
Ausgleich.
3 Hesiod kennt ihn schon, desgleichen Archilochos, während er im homerischen
Epos noch nicht auftaucht.
Mythos, Sprache und Begriffsbildung 19

lenkten deren Ehefrauen, von Abhängigen wie Nachbarn respektiert,


die Hauswirtschaft: Überseeische Handelsbeziehungen bestanden,
bestimmten aber noch nicht das allgemeine Konsumniveau. Die Wirt­
schaft war weitgehend autark.
Durch die hellenische Eroberung des Peloponnes veränderte sich
an diesen Produktions- und Herrschaftsverhältnissen nicht viel. Die
neuen Herren traten an die Stelle der alten, in den gleichen Funk­
tionen und Lebensgewohnheiten. Die Heerkönige der Eindringlinge,
deren Machtausübung und Befehlsgewalt ohnehin durch die Ver­
sammlung der wehrfähigen Männer gebunden war, wurden bald und
offenbar ohne Kämpfe >>verbeamtet<< , die eigentliche politische In­
stanz war der Rat der Adligen; ein primitiver Feudalismus, der weit­
gehend noch in die Formen der Gentilverfassung eingebunden blieb,
bestimmte bis ins 7. Jahrhundert den Typus der mutterländischen
Polis, die Wilamowitz richtig als >>Stammstaat« (bzw. Gelzer als
>>Gemeindestaat«) bezeichnet.5
Die gentilistischen Institutionen der wandernden Heerzüge trafen
also auf einen verwandten gentilistischen Aufbau der besetzten Sied­
lungsgebiete. Das bedeutete, dass Institutionen und Weltanschauun­
gen der Eroberer und der Unterworfenen leicht amalgamiert werden
konnten; an den Befunden des religiös-kultischen Syndroms können
wir diesen Prozess ablesen.6 Die einfache Produktionsweise klein­
räumiger Subsistenzwirtschaften, die geographische Isolation der
Poleis gegeneinander, der geringe Außeneinfluss nach dem Nieder­
gang der kretischen Seemacht hatten zur Folge, dass sich die grie­
chische Halbinsel mehrere Jahrhunderte lang in einer Art weltge­
schichtlicher Naturschutzzone befand; zur gemeinsamen Bewältigung
von Naturgewalten, zum Schutz gegen äußere Feinde, zur Sicherung
eines weitgespannten Handels (sei es eines großräumigen Binnen­
handels oder eines ausgreifenden Fernhandels) - Aufgaben, die in
den orientalischen Großreichen anstanden - war die Entwicklung
zentraler politischer Organisationsformen hier nicht nötig.

4 Die homerischen Epen geben ein anschauliches Bild der vor- und frühgrie­
chischen Gesellschaft.
5 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellenen, Bd. 1,
Darmstadt 21955, S. 58 (= S. 59 der 1. Auflage 1951).
6 Vgl. Wilamowitz-Moellendorf, a.a.O., Bd. 1, S. 87-310 (= S. 89-516). Walter
F. Otto, Die Götter Griechenlands, Frankfurt am Main '1951, Kap. 2.
20 Voraussetzungen

Die Lebensauffassung der freien Grundherren, die neben Jagd


und Krieg keine produktive Arbeit zur Reproduktion ihres Lebens
zu verrichten hatten, könnte man als eine Art heroischen Hedonis­
mus charakterisieren, derb-sinnlich, auf rustikalen Genuss ausge­
richtet; ergänzend trat zu der asketischen Werteskala des Kampfes
die vitale des Wohllebens, die Freude am Essen und Trinken, an der
Erotik, am Spiel und an der Kunst, diese als Verherrlichung der her­
vorragenden Beispiele des eigenen Lebenstypus, als Selbstglorifizie­
rung verstanden: Odyssee V III, 579 f. sagt Alkinoos, das Schicksal
der Griechen und Trojaner hätten die Götter verhängt, damit (!) es
Gegenstand der Lieder späterer Geschlechter sein könne. Der Um­
schlag vom Religiösen ins Ästhetische in der Selbstdarstellung der
Adelsgesellschaft wird hier erkennbar.
Fritz Wehrli hat die drei Elemente archaischer griechischer Le­
bensauffassung als »kriegerisches Heldentum«, >>Festlichkeit und Da­
seinsfreuden<< sowie >>Musendienst<< herausgearbeitet.7 In der Lyrik
des Alkaios, die - an der Grenze zu einer neuen Zeit - der adligen
Weltanschauung noch ganz verhaftet ist, spiegelt die Zweiheit von
Kampf- und Festliedern diesen Doppelaspekt; und die Orientierung
auf leibliche Freuden, süßen Wein und gutes Essen, bestimmt
ungefähr den Umkreis, in dem diese i]tovf] angesiedelt ist; samt dem
Hass auf den Tyrannen Pittakos, der nun das genießt, dessen Alkaios
in der Emigration entbehren muss.8 Aber selbst Solon, der beson­
nene Gesetzgeber Athens, preist den Lebensgenuss nach vollbrach­
tem Werk.9
So bestimmt sich die llQE'rf], der Schlüsselbegriff der frühen An­
thropologie und Ethik, nicht nur als Tapferkeit, schon gar nicht als
Tugend, sondern als die Fähigkeit, ein gelungenes Leben zu führen.
>>Edle Abstammung, körperliche Vorzüge, Erfolg und untadeliger
Ruf<<10 sind nur der eigenschaftliehe Aspekt, zu dem der modale tritt:
der Vollzug der daseinsbestimmenden Handlungen muss schön und
gut sein, selbst wenn er glücklos ist: Auch die unterliegenden home­
rischen Helden behalten ihre arete nicht aber die, die die Regeln des

7 Fritz Wehrli, Hauptrichtungen des griechischen Denkens, Zürich/Stuttgart


1964.
8 Alkaios, Lieder, griech. und deutsch von Max Treu, München 1952.
9 Solon, Dichtungen, griech, und deutsch von Eberhard Prieme, München '1945.
10 So Bruno Snell, Dichtung und Gesellschaft, Harnburg 1965, S. 31. Ausführ­
lich stellt Werner Jaeger, Paideia, Bd. 1, Berlin 1934, die arete als Inhalt der
frühgriechischen Adelskultur dar.
Mythos, Sprache und Begriffsbildung 21

rechten Maßes vergessen (wie Aias). In der eudaimonia erfüllt sich


die arete, aber sie kann sich auch im Scheitern bewähren.11
'EubaLflWV aber ist der Mensch, dem ein wohlmeinender Gott
zur Seite steht. Dass alles, was Menschen tun, unter der Einwirkung
eines Gottes - allgemein unbestimmt ba(flWV,12 als einzelner dann
benannt als Athene, Hermes u. s. w. - geschieht, ist homerische
Grundauffassung; Willensfreiheit kannte der archaische Grieche nicht,
auch nicht moralische Verantwortung, wohl aber faktische Haftung.
Ethos ist Verhalten gemäß dem VOflO�, nicht Entscheidung gemäß
einer Norm (oder gar im Normenkonflikt). Wenn also die Einflüs­
terung eines Gottes ein Fehlverhalten steuert, so wird der Mensch
dadurch nicht persönlich entehrt, jedoch vielleicht (in schwerwie­
genden Fällen) ausgestoßen; dann hat der Gott es eben so gewollt.
Und wem ein Gott stets guten Rat gibt (wie dem Odysseus), der ist
auch bei den Menschen angesehen. Es geht nicht um subjektive
Qualitäten, sondern um objektive Handlungsweisen und ihre Aus­
wirkungen.
Je nachdrücklicher Sein und Tun mit den Inhalten der arete
übereinstimmen, desto angesehener ist der Mann. Auch dies wieder
ganz äußerlich in dem Sinne, dass ihm entsprechende Ehren zu­
stehen. Snell hat darauf hin gewiesen, dass es dabei um Quantifizier­
bare Maßstäbe geht: >>Diese Ehre, Uflr'J, wird als ein Quantum
genommen, das man geradezu messen kann: so hängt der Wert einer
>Ehrengabe<; die etwa ein Gastfreund erhält, von der Quantität der
Ehre ab, die er besitzt (...) Streben nach >Tugend< und >Ehre< ist so
wenig >altruistisch< bei Homer, daß es notwendig auf Kosten anderer
geht. Wer sich im homerischen Sinn darum müht, >stets der Beste zu
sein< (al.i:v UQLO"'tEUELv), landet (wenn wir uns das auch nicht gerade

11 Die Beispiele für das Lob des Maßes, der bürgerlichen Bescheidenheit, der
Tugenden des kleinen Mannes, die Fritz Wehr Ii, a. a. 0., S. 72 ff., anführt,
treffen gerade für die Frühzeit (in deren Kontext er sie stellt) nicht zu. Sie
sind Ausdruck der Polis-Kultur, nicht der Adelszeit. Die Belege (Novellistik,
Herodot, Sprüche der sieben Weisen) stammen aus nachhomerischer Zeit.
Wohl kennt das Epos dagegen die Warnung vor der hybris bzw. Exempel
ihrer schlimmen Folgen. Dochhybris setzt als Ausartung gerade einen hoch­
gemuten Adelsstolz voraus, der sich mit den Göttern fast auf gleicher Stufe
weiß; die Missachtung dieser kleinen Differenz, die in dem >>fast<< liegt, macht
das Übermaß aus. Vom Vorzug der Unscheinbarkeit, von dem Wehrli spricht,
kann hier nicht die Rede sein.
12 V gl. Hermann Usener, Griechische Götternamen, Frankfurt am Main '1948,
s. 293.
22 Voraussetzungen

gern klarmachen) konsequenterweise dabei, sich der vielen Waffen


erschlagener Feinde zu rühmen«.13 Und letzten Endes zürnt der
Gott, wenn sein Schützling missachtet wird: Apollon straft das
Griechenheer für Agamemnons Hochmut gegen Chryses, Thetis er­
bittet von Zeus Genugtuung für ihren Sohn Achill. Das Gefüge
wechselseitigen Respekts ist kompliziert und sublim, durch Mytho­
logie abgesichert (Genealogien, die auf Götter zurückführen, legiti­
mieren den gesellschaftlichen Rang). Aber der Anspruch genügt nicht,
er muss durch Verhalten gedeckt sein; wäre Achill bei den Weibern
geblieben, niemand hätte ihn, den Peleiden, respektiert. Ruhmreiches
kurzes oder ehrloses langes Leben - die Wahl entscheidet über den
Mann.
Solch eine mythologisierte Verhaltensethik ist Herrenauffassung;
der Bauer erlebt dumpf sein Schicksal- wenn er- später, bei Hesiod­
aufbegehrt, verlangt er mit erwachendem Selbstbewusstsein sein
Recht. Das ist etwas anderes (weil gesellschaftlich Zugeteiltes) als die
selbstverständliche arete des Adligen.14 Zeus wird dann zum hoch
über die Menschen erhobenen Richter und Hüter des Rechts. Für
die homerischen Helden dagegen sind die Götter noch ihresgleichen,
mit denen man, ein wenig scheu vielleicht, auf vertrautem Fuße ver­
kehrt; im Kampfeszorn wagt Diomedes sogar Aphrodite anzugrei­
fen, und er verletzt sie, kann sie verletzen, weil sie keineswegs >>jen­
seitig« ist. Stenzel bemerkt richtig, dass sich die homerischen Götter
>>wie feudale Herren<< ausnehmen,15 nur eben ein wenig größer und
mächtiger. Nichts an ihnen ist übersteigert in ein ganz Anderes, man
kann sie sich nicht als Gegenstand theologischer Aussagen oder Sys­
6
teme denken.1

13 Snell, Dichtung und Gesellschaft, a.a.O., S. 32 ff.


14 Demgemäß unterliegt der are te Begriff dann nachhesiodisch und nachsolo­
-

nisch auch einem fundamentalen Bedeutungswandel.


15 Julius Stenze!, Metaphysik des Altertums, München/Berlin 1931, S. 20 passim.
So auch Wehrli, a.a.O., S. 86: >>Der lockere Verband der Olympier ist ein er­
höhtes Abbild der archaischen Adelsgesellschaft, und demgemäß wird auch
der einzelne von ihnen mehr nach dem Ideal gezeichnet, das für den vorneh­
men Hörer dieser Dichtung selbst gilt, denn als Verkörperung des über alle
menschlichen Maße Erhabenen<< .
16 Im Volksglauben herrschten natürlich andere Vorstellungen vom Numen der
Götter und mancherlei Dämonen. V gl. insgesamt zur griechischer Religion
Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, München 1955.
Mythos, Sprache und Begriffsbildung 23

In dieser Umwelt bekam die Religion - wofür es im Griechi­


schen nicht einmal ein Wort gab17- anders als in den orientalischen
Großreichen nicht die Funktion, Integrationsfaktor und Legitima­
tion staatlicher Herrschaft zu sein und in solcher Rolle durch eine
Priesterkaste verwaltet werden zu müssen. Auf den kleinen feudalen
Wirtschaftshöfen gehörten Opfer und Kultus zu den Obliegenheiten
des Hausvaters. >>Doch auf seinem Hofe ist der Herr zuständig, den
Göttern dieses Hofes zu opfern, und gerade die für das Wohl des
Stammes notwendigsten regelmäßigen >väterlichen< Pflichten der
SEQanda liegen dem Stammhaupte, dem Könige ob; es werden
ursprünglich die Gottesdienste seines Geschlechtes sein. Eine Folge
dieser Stellung des Priesters (scil. der reinen Funktion des Staats­
opfers bei allgemeinen Festen, nicht der Pflege der alltäglichen Reli­
giosität) ist, daß er zwar gewisse Ehren genießt, auch Einkünfte aus
seinem Amte, aber weder politisch noch als Lehrer des Volkes irgend­
welchen Einfluß hat«.18 Für den Kultus, der das feste Fundament der
Religionsausübung bildet, rücken in dieser Gesellschaftsformation
die lokalen Sondergötter in den Mittelpunkt, deren Verehrung sich
zu quasi-kirchlicher lnstitutionalisierung nicht eignet.19 So kamen
theologische Systeme in der Art der Priesterlehren von Heliopolis,
Hermopolis und Memphis im alten Ägypten,20 die als verbindliche
Weltanschauungsmodelle auftraten und damit mögliche philosophi­
sche Denkansätze in den Bereich der Häresie verwiesen, in den klei­
nen griechischen Poleis gar nicht erst auf. Bis in die Spätantike hat
die griechische Religion keine theologischen Lehrgebäude hervorge­
bracht. Die Philosophie brauchte sich die Rationalität ihrer Argu­
mentation nicht gegen staatliche geschützte religiöse Institutionen zu
erkämpfen.

17 Vgl. Wilamowitz-Moellendorf, a. a.O., Bd. I, S. 15: >>Die Griechen haben kein


Wort für Religion und auch Frömmigkeit läßt sich eigentlich auf Griechisch
nicht wiedergeben<< . Siehe auch Otto, a. a.O., S. 9: >>Diese Religion ist so na­
türlich, daß die Heiligkeit keinen Raum in ihr zu haben scheint<< . Vgl. Nils­
son, a. a. 0., Bd. I, S. 70.
18 Wilamowitz-Moellendorf, Bd. I, a.a.O., S. 35. Vgl. Stichwort >>Priester<< im
Lexikon der Alten Welt, Zürich/Stuttgart 1965.
19 Zum Begriff >>Sondergötter<< (und als Gegenstand individueller religiöser Er­
lebnisse: >>Augenblicksgötter<<) vgl. Usener, a.a.O., passim.
20 Vgl. Joachim Spiegel, Das Werden der altägyptischen Hochkultur, Beideiberg
1957; Siegfried Morenz, Ägyptische Religion, Stattgart 1960; Erik Hornung,
Der Eine und die Vielen, Darmstadt 1971.
24 Voraussetzungen

Im Gegenteil. Schon bald in nachhomerischer Zeit - und wohl auch


durch dessen unbefangene Erzählung von Götterleben und -taten
mit ausgelöst - bildete sich in der Dichtung ein mythenkritischer
Spott über die Götter heraus, der jede religiöse Ehrfurcht zersetzte.
Wilhelm Nestle schildert diese parodistischen Gesänge mit anteil­
nehmender Anschaulichkeit: »Der Apollohymnus knüpft mit der
Geschichte von der Geburt des Typhon, den Hera aus Zorn über die
Geburt der Athene durch Zeus allein zur Welt bringt, an die ho­
merischen Streitszenen zwischen dem höchsten Götterpaar an und
ist in diesem Abschnitt unverkennbar auf einen scherzhaften, das
Gebaren der Götter ironisierenden Ton gestimmt. Noch vernehmli­
cher klingt uns dieser aus dem Hermeshymnus entgegen. Die Schel­
menstreiche des jungen Gottes, seine skrupellosen Lebensgrundsätze,
seine drolligen Lügen, mit denen er den bestohlenen Apollon und
selbst Zeus zum Lachen bringt, werden mit feinem, unnachahmli­
chem Humor vorgetragen, und auch ein in seiner Derbheit des Aris­
tophanes würdiger Scherz wird nicht verschmäht. Dazu kommt der
scharfe Angriff auf den Orakelbetrieb in Delphi, der vollends be­
weist, daß dem Dichter die Ehrfurcht vor den Göttern und die An­
dacht bei ihrer Verehrung weithin abhanden gekommen ist. (...)Von
diesen epischen Götterschwänken führt eine gerade Linie zum paro­
distischen Epos, zum Satyrspiel und zur Götterposse des Epicharmos,
schließlich zur Karikierung der Götter in der altattischen Komödie.
Dass diese Behandlung der Götter, bei der auch der letzte Schimmer
von Andacht verschwunden ist, nicht zur Stärkung des religiösen
Glaubens beitragen konnte, versteht sich von selbst«.21 Auch der
Chorlyriker Stesichoros kann sich >>eine Travestie der ernsthaften
Darstellung dieser Vorgänge bei Hesiod« leisten.22 Die Mythenkritik
des Xenophanes hat in diesem Umfeld ihre geistige Heimat, und es
ist auffällig, dass bei Parmenides nie ein Göttername vorkommt -
seine mythisierte Instanz der Wahrheit wird namenlos als thea (Göt­
tin) oder noch abstrakter als daimon (Gottheit) eingeführt.
Dass sich, anknüpfend an im Einwanderungsgebiet vorgefundene
und von den Eroberern schon mitgebrachte Gottesvorstellungen,
dann ein Pantheon von Großgöttern entwickelt hatte, trug in diesem
besonderen Falle eher zur Förderung philosophischer Begriffs­
bildung bei, als dass es sie gehindert hätte. Denn diese ln-Eins-Setzung

21 Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart '1975, S. 56 f.


22 Ebd., S. 57 f.
Mythos, Sprache und Begriffsbildung 25

lokaler Sondergötter mit panhellenischen Großgöttern bedeutete zu­


gleich, dass die Singularität der religiösen Begriffsbildung, die sich im
Appellativcharakter der Götternamen ausdrückte, unter Ausbildung
analogischer Denkweisen überwunden wurde; die alten Eigennamen
der Sondergottheiten gingen über in Abstrakta, die als Appositive
(oder Adjektive) den Namen der Großgötter zugefügt wurden.23
Solcher Ursprung der Begriffsbildung aus dem Mythos wurde
durch die Unausgeprägtheit personaler Substantivierungen ( = Ver­
dinglichungen) des religiösen Erlebens in der Frühzeit begünstigt.
Dass das Wort für Gott- .Se6c;- ursprünglich als Prädikatsbegriff für
äußere wie innere Wahrnehmungen gebraucht wurde,24 mag einen
Hinweis auf diesen Sachverhalt geben. Der doppelte Gebrauch sol­
cher Prädikationen einmal als abstrakter Begriff, einmal als Götter­
name (z. B. cp6ßoc;, VEf.1Wtc;) zeigt die leichte Verschiebbarkeit zwi­
schen den Bereichen mythischer Personifikation und begrifflicher
Abstraktion.
Am Beispiel cp6ßoc; ist dieser Vorgang ablesbar. Das Wort be­
deutet bei Homer >>Flucht<< , steht aber auch zugleich appellativ als
cp6ßoc;: der Flucht-Erreger, der »Scheucher«. Man flieht nicht, wenn
es dazu keinen Auslöser gibt, und der kann nur ein baLf-lWV sein. Mit
der Entpersonalisierung des Erlebnisses - d. h. im Übergang vom
mythologischen zum sachhaften Sprechen - wird der Stimulus zur
Flucht als eine Gemütsbewegung gefasst und dann heißt cp6ßoc;
»Furcht, Schrecken«.25 Mit der Entmthologisierung wird das Erleb­
nis internalisiert, Motivationen erscheinen als innerpsychische, sub­
jektive (aus Anlass der Begegnung mit der Außenwelt, als Reaktion
auf sie).
Das Ich findet seinen sprachlichen Ausdruck (vgl. das nächste
Kapitel), indem Wörter, die einen äußeren Sachverhalt bezeichnen,
also an einem Sinneneindruck (etwa den der Flucht als einem direkt
beschreibbaren, wahrnehmbaren Verhalten) aufgezeigt werden kön­
nen, nun für die Unsinnlichkeit einer Gemütsbewegung einstehen
müssen. Diesen Bereich erschließt die Metapher, die im Sinnen­
gleichnis wie im mythischen Anthropomorphismus wurzelt: cp6ßoc;,

23 Hierzu vgl . Usener, a. a. 0., passim.


24 Wilamowitz-Moellendorf, a.a.O., Bd. 1, S. 17 f. Dem entspricht, was Usener,
a.a.O., S. 371 (und schon grundsätzlich S. 4), über den ursprünglich adjek­
tivischen Gebrauch von Abstrakta ausführt.
25 Vgl. Usener, a.a. 0., S. 375: Phobos im Kult, a.a. 0., S. 367 f.
26 Voraussetzungen

der >>Scheucher« ist ein nach Art eines menschlichen Wesens emp­
fundener äußerer, mir entgegentretender Beweger; cp6ßoc;;, »Furcht«
überträgt das nomen appellativum des Gottes auf den abstrakten Be­
griff, der meine Gemütsbewegung, meinen Geisteszustand bezeich­
net. Heraklits i'jSoc;; avSQc�m(jJ baLflWV - die eigene Art (d. h. die
Haltung, die das Verhalten steuert- man beachte auch hier die Be­
deutungsverschiebung des Wortes zum abstrakt Begrifflichen) ist des
Menschen Daimon (B 119)- bringt diese neue Auffassung auf eine
Formel.
Die früheste Stufe vorphilosophischer Begriffsbildung, die uns in
literarischen Zeugnissen überliefert ist, stellt die Sprache Homers
dar. Hier wird, aus dem Umkreis der Sinneserfahrung, insbesondere
des Naturerlebens, die Beschreibung dessen hergeleitet, was nicht in
äußerer Wahrnehmung aufzeigbar ist. So die Schilderung der Rats­
versammlung in Ilias I!. Agamemnon hat eine vorbereitete Trugrede
gehalten, das Volk zum Schein zur Heimkehr auffordernd, um sich
durch die Fürsten widerlegen und zum Aushalten bewegen zu lassen.
Ehe aber das verabredete Spiel von Rede und Widerrede in Gang
kommt, ereignet sich etwas Unerwartetes: kriegsmüde stürzen die
Griechen, dem Ende der Beratung vorgreifend, zu den Schiffen, um
sie zur Abreise zu rüsten. Was in den Gemütern vorgeht, fasst Homer
in ein Gleichnis:

Rege nun ward die Versammlung, wie schwellende


Wogen des Meeres
Auf der ikarischen Flut, wann hoch sie der Ost- und
Südwind
Aufstürmt, schnell dem Gewölke des Donnerer Zeus
sich entstürzend (II, 144-46)

Und als sei es mit einem Gleichnis nicht genug, folgt sofort noch ein
zweites:

Wie wenn brausend der West unermessliche Saaten


erreget
Zuckend mit Ungestüm, und die wallenden Ähren hinab­
beugt (II, 147 -48).

Die Wirkung der Worte Agamemnons lässt sich in einem Bilde nicht
angemessen wiedergeben: denn aufgewühlt und durcheinander gebracht
Mythos, Sprache und Begriffsbildung 27

wie die Meeresfluten sind die achäischen Krieger- aber eben nicht in
gleicher Weise, wie sie etwa durch Kampfeslust und Zorn in Bewe­
gung versetzt wären; sondern dergestalt, dass sie niedergedrückt,
aufs unruhevollste gebeugt sind. Diesen Aspekt ihrer Gemütsver­
fassung verdeutlicht das zweite Gleichnis, beide zusammen machen
den emotionalen Grund der Situation deutlich.26 Auch wir gebrauchen
noch die Metaphern: >>Aufgewühlt<< und >>niedergedrückt«, obschon
wir uns kaum bewusst sind, dass sie äußere Sachverhalte benennen,
wie die homerischen Gleichnisse sie schildern.
Kollektiva und Iterativa sind es vor allem, die in Gleichnissen ge­
fasst werden, ehe sie dann später auf den abstrakten Begriff gebracht
werden können. Das Gleichnis schildert eine typische, als solche wie­
dererkennbare und daher übertragbare Situation. Im Erkennen und
Festhalten dieser Typik liegt der Ursprung der Abstraktion aus der
Anschaulichkeit. Die Übertragung selbst setzt Abstraktion inner­
halb der Sphäre des Anschaulichen voraus; im metaphorischen Spre­
chen bildet sich der Begriff.27

26 Etwas anders interpretiert Roland Hampe, Die Gleichnisse Homers und die
Bildkunst seiner Zeit, Tübingen 1952, das Doppelgleichnis: >>Durch die bei­
den einander folgenden Gleichnisse werden zwei aufeinanderfolgende Phasen
des Vorgangs in der Volksversammlung ausgedrückt. Das erste Gleichnis
spiegelt wie ein anderes entsprechendes Sturmgleichnis (IX, 4 ff.) den Zwie­
spalt der Meinungen wider, das Gegen- und Durcheinander des ersten Auf­
ruhrs. Wer je den Ausbruch einer Panik in einer größeren Versammlung mit­
erlebt hat, weiß, was des bedeutet. Beim zweiten Gleichnis vom Wind im
Kornfeld sind Zwiespalt der Meinungen und sich stauende Zusammenballung
bereits überwunden. Die Bewegung hat Richtung bekommen, strebt dem
Meere, den Schiffen zu. So setzt denn auch die fortlaufende Erzählung un­
mittelbar auf dieses Gleichnis wieder mit den Worten ein: >Die aber stürmten
mit Geschrei den Schiffen zu ... < (11, 149-50). Die Gleichnisse gehen nicht als
Ausschmückung neben der Handlung her, sondern ersetzen sie geradezu. Das
zweite Gleichnis gibt dabei der Handlung ein neue Wendung<< . A. a.O., S. 10.
Mir scheint, dass der Anfang von V, 148 ?r; T?v TC?a' ?yoYJl KLVrj<IT) die
beiden vorangegangenen Gleichnisse zu einer Einheit zusammenfasst.
27 Vgl. Hans Heinz Holz, Das Wesen metaphorischen Sprechens, in: Festschrift
Ernst Bloch zum 70. Geburtstag, Berlin 1955, S. 101 ff. Vgl. dazu Bruno Snell,
Die Entdeckung des Geistes, Harnburg 21948: >>Viele Gleichnisse Homers
wachsen aus solch notwendigen Metaphern hervor«. Snell führt als Beispiel
an: Ilias XI, 284 ff. wird die Wendung gebraucht >>den Mut antreiben«; zu
ihrer Erläuterung steht das Gleichnis 291 ff. Snell fährt fort: >>Der Vergleich
führt die Metapher, die in der Wendung >den Mut antreiben< liegt, nur fort«.
Ich möchte das Verhältnis schärfer fassen: Die Metapher wird sagbar, weil ihr
das Gleichnis zugrunde liegt. Ohne daß es den Vergleich vorher gegeben
28 Voraussetzungen

Wie der Vergleich ist auch der Mythos die Darstellung eines All­
gemeinen (Typischen, Wiederholbaren, Ritualisierbaren) in der an­
schaulichen Form des singulären Geschehens.28 Mythen haben die
Funktion einer gliedernden Artikulation der Welt als Geschehen, der
Versinnlichung eines Zeitlichen in der ewigen Wiederkehr des Ri­
tuals. Im Unterschied zum Gleichnis, das auf die Situation in ihrer
Besonderheit zielt, ist der Mythos exemplarisch.29 Gleichnisse haben
erläuternden, Mythen normativen Charakter. So entfalten sich auf
der ersten Stufe der Ausbildung von Allgemeingegenständlichkeiten
diese als Vergleich und Beispiel. Im Gleichnis bereitet sich die Ana­
logie, im Mythos die Allegorie vor; aus der Analogie entspringt die
Naturwissenschaft, aus der Allegorie die Dichtung.30
So brechen in den homerischen Epen bereits die ersten Knospen
theoretischen Sprechens auf, indem Gleichnis und Mythos als Ele­
mente der Sinnartikulation von Welt und Menschenleben gebraucht
werden. Dabei hängen hier Gleichnis und Mythos noch eng mitein­
ander zusammen. Indem das Gleichnis die Welt von den Sinnen her

hätte -die Gleichsetzung von Mensch und Tier -wäre auch die metapho­
rische Wendung nicht entstanden, der Vergleich geht in sie ein.
28 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Teil Il, Darmstadt
1953. Die Diskussionen des Symposions >>Das Problem der Mythologie<<
beim 111. Deutschen Philosophiekongreß Bremen 1950 erhellen die Aspekte
des Verhältnisses von Anschauung und mythischem Sprechen. Siehe
Symphilosophein, hg. von Helmuth Plessner, München 1952, S. 242.
29 Dazu Hampe, a. a. 0., S. 13 f.: Die Gleichnisse »führen nicht vom Geschehen
weg, zielen nicht darauf, die Vorstellung zu reduzieren. Sie suchen vielmehr
in komprimierter Form eine möglichst umfassende Vorstellung auszulösen,
dort nämlich, wo eine solche mit den herkömmlichen Darstellungsmitteln
nicht erreicht werden konnte<< . Demgegenüber werden Mythen als »Exem­
pla<< gebraucht, und von ihnen bemerkt Snell, Entdeckung, a.a.O., S. 95: »Die
Gleichnisse entsprangen Metaphern und verdeutlichten deswegen zunächst
einzelne Tätigkeiten, konnten aber, zumal die Tier-Gleichnisse, auch tpische
Verhaltensweisen eines Helden veranschaulichen. Die mythischen Beispiele
gehen darüber hinaus, indem sie umfassender ein menschliches Verhalten mit
seinen Gründen und Folgen offenbaren können<< .
30 Vgl. Snell, Entdeckung, a. a.O., S. 198: »Die Möglichkeit, im Mythos, in der
Dichtung, in der Geschichte zu >Beispielen< zu kommen, menschlichen Taten
und Schicksalen allgemeinere Bedeutung zuzusprechen, wurzelt dagegen in
einem ganz anderen sprachlichen Bereich<< . Dass zwischen substantivischer
und verbaler Ausdrucksweise (welch letztere auf die Weise eines Vollzugs, auf
den Eindruck vor einem Bestimmten, auf Physiognomisches geht) ein gene­
reller Auffassungsunterschied besteht, hat Snell in anderem Zusammenhang
gezeigt: Der Aufbau der Sprache, Harnburg 1952.
Mythos,Sprache und Begriffsbildung 29

aufschließt, hält es sich im Bereich des Geschichten-Erzählens, zu


dem auch die Mythologie gehört. Einige Gleichnisse aus der Ilias,
die Roland Hampe zusammengestellt hat, lesen sich fast so, als sei
hier ein Mythos aus dem Naturbild im Entstehen (oder liege ihm,
schon verblasst, zugrunde). »Bei den Wachtfeuern vor Troja, die mit
den Sternen verglichen werden (VIII, 554 ff.), ist es nicht nur das
Funkeln der Lichter, ihre große Zahl, sondern auch das die Nacht­
durch-Dauern, das in diesem Bilde mit eingefangen ist. Wenn Athena
mit der gewaltigen, gleißenden Ägis dem Heere voranschreitet, ist sie
dem Waldbrand im Gebirge vergleichbar (II, 455 f.), so ist es aus­
drücklich nicht nur der helle Schein, sondern auch die verheerende
Wirkung des Waldbrandes, wie sie auch in anderen Gleichnissen so
eindringlich gezeichnet wird (z. B. XI, 155 ff). Wenn das Kampfge­
tümmel so oft dem Feuer oder der Flamme verglichen wird, so mei­
nen diese Vergleiche neben dem hellen Schein vor allem die verzeh­
rende, unaufhaltsam um sich greifende Kraft dieses Elementes<< .31
Elementare Natureindrücke, wie der Sternenhimmel, der Waldbrand,
das Feuer überhaupt, haben eine Nähe zum Mythos, sie bergen so­
zusagen Mythen in sich, reizen zum Mythenerzählen. Und doch ist
in ihrer gleichnishaften Verwendung schon ein profaner, Sinn, der
zur wissenschaftlichen Begriffsbildung weiterdrängt: an die Stelle des
numinosen Paradigmas tritt die Analogie, man wendet nicht mehr ein
Sinn-Bild auf einen Sachverhalt an, sondern vergleicht zwei Sachver­
halte; mythisches Sprechen sieht sich erfüllt durch modale Ähnlich­
keiten, Vergleiche legitimieren sich durch ein tertium comparationis.32
Damit verglichen werden kann, muss Vergleichbares festgehalten
werden: Substantiva, die einzelne Gegenstände benennen (Haus, Hund),
müssen so verallgemeinert werden, dass die Singularität des Nomen,
des Benannten (dieses Haus, dieser Hund) in die Allgemeinheit des
Begriffe (das Haus, der Hund) überführt wird; und aus dem deiktischen

31 Hampe,a.a.O.,S.14.
32 Darauf geht, in der Aufnahme des homerischen Gleichnistyps, dessen Ver­
wissenschaftlichung bei Empedokles. >>Von den vorsokratischen Philosophen
knüpft Empedokles am augenfälligsten in seinen Vergleichen an die home­
rischen Gleichnisse an, und da seine Vergleiche zudem am weitesten voraus­
weisen auf spätere naturwissenschaftliche Methoden, stellt sich hier am deut­
lichsten der Wandel von der Dichtung zur Philosophie dar (... ) Empedokles
zielt genau auf ein tertium comparationis und die Gleichnisse haben ihren
Sinn allein in dem Aufweisen des genau und dauernden Gemeinsamen<< . Snell,
Entdeckung, a.a. 0., S.204 und206; vgl. insgesamt ebd.,S.204-209.
30 Voraussetzungen

Sinn des Demonstrativpronomens leitet sich der generalisierende des


Artikels her. Das ist ein weiter Weg. Bei Homer gibt es den Artikel
erst im speziellen, das bestimmte, einzelne Objekt bezeichnenden
Gebrauch; und entsprechend vermag er auch bei Adjektiven nur den
Superlativ mit dem Artikel herauszuheben und zu substantivieren:
'l:O cXQLG'l:OV Axalf}lv - der Beste der Achäer.33 Auch Hesiod bildet
mit dem Artikel noch keine wissenschaftlichen Abstrakta, und selbst
Aischylos, der schon Wertbegriffe mit generalisierendem Artikel ver­
sieht (was aus dem frühen Gebrauch beim Superlativ sich zwanglos
herleitet), kennt ihn noch nicht für Abstrakta.
Die Entdeckung des Allgemeinen als der Sphäre, in der das
Wirkliche (Anschauliche) zum Verständigen wird, ist eine Leistung
der heraklitischen Philosophie, die allem künftigen Philosophieren
den Weg geebnet hat. Für des Parmenides gewaltige Anstrengung
des Begriffs, dank deren er die infiniten Formen dvm und ov ein­
ander entgegenstellen konnte, dank deren er das Eanv aus seiner ko­
pulativen Funktion lösen und als Abstraktum zu behandeln ver­
mochte, hat den Boden das Koinon des Heraklit bereitet. Doch die
Entstehung des Allgemeinen aus den Schemata der Prädikation ist
der indogermanischen Tradition eigen. Im Griechischen steigt das
Wort nun vom Nomen zum Dingwort auf oder zum Abstraktum.
Wenn ich sage hic est amor, so ist es ein anderes, meine ich den na­
mentlich berufenen Gott, oder ein anderes, meine ich das Abstrak­
tum Liebe. Diese Entstehung der Abstrakta aus den Namen hat Her­
mann Usener aufgezeigt.34 Hier liegt allerdings nicht ausschließlich
ein im Sprachsystem begründeter Vorgang vor, sondern eine Denk­
umschichtung, ein >>Umschlag« im Überbau, der in Strukturverände­
rungen der Basis begründet ist.35 Wie dieser Umschlag allerdings er­
folgte, ist wesentlich dem griechischen Sprachtyp zuzuschreiben.
Erst Heraklit erschließt den generalisierenden Gebrauch des be­
stimmten Artikels. Er entdeckt nämlich im Einzelding das Koinon
und findet die sprachlichen Mittel, es als solches zu bezeichnen: er
schafft den philosophischen Gebrauch des bestimmten Artikels. Die
Festlegung des A6yoc; auf das l;uv6v erzwingt die neue Formulierung.
>>Zur Zeit des Aischylos spricht Heraklit von dem Denken, von
dem Allgemeinen, dem Logos, obwohl er, verglichen etwa mit Platon,

33 Vgl. Snell, Entdeckung, a.a.O., S. 218. Über den Artikel: ders., Aufbau, a. a.O.
34 U sener, a. a. 0 ., S. 3 70 ff..
35 John Desmond Bernal, Wissenschaft, Bd. I, Reinbek bei Harnburg 1970, S. 140 ff.
Mythos, Sprache und Begriffsbildung 31

den Artikel noch spärlich verwendet. Sein philosophisches Denken


ist angewiesen auf diesen Gebrauch des Artikels und die Ausbildung
des Artikels ist eine Voraussetzung für seine Abstraktionen. Der Ar­
tikel vermag ein Adjektiv oder ein Verbum zum Dingwort zu ma­
chen; solche >Substantivierungen< setzen in wissenschaftlich-phi­
losophischer Sprache dem Denken feste >Gegenstände<(...) Der Name
bezeichnet ein Einzelnes; im Dingwort aber ist ein Einordnungs­
prinzip angelegt, in ihm liegt die Urform der wissenschaftlichen
Subsumption und Klassifikation. Mit der Bezeichnung durch das
Dingwort ist die erste Erkenntnis gegeben, mit dem Namen dagegen
wird nie etwas >erkannt<, da dies nur ein Einzelnes ist, das nur
>wiedererkannt< werden kann, wenn man es einmal >gesehen hat<(... )
Das Dingwort hat >allgemeine< Bedeutung; will ich zum Ausdruck
bringen, daß ich ein einzelnes Ding meine, so bedarf ich eines be­
sonderen Hinweises durch ein Pronomen, durch den speziellen Ar­
tikel oder dergleichen (... ) Der bestimmte Artikel leistet in solchen
Substantivierungen Dreifaches. Er fixiert das Undingliche, setzt es
als Allgemein-Ding, vereinzelt dies Allgemeine aber auch zu einem
Bestimmten, über das ich Aussagen machen kann. Daß der allge­
meine bestimmte Artikel so dem Substantiv zugleich Abstraktums-,
Dingwort- und Namenscharakter gibt, wird noch deutlicher dort,
wo er das Dingwort zum allgemeinen Begriff erhebt.<l6
Gerade diese letztere Leistung des Artikels ist erwachsen aus der
prädikativen Rede, aus der in ihr angelegten Weise des Seinsverständ­
nisses: Zusammensetzungen sind Ganzes und Nicht-Ganzes (Hera­
klit B 10). Die Ganzheiten sind die Allgemeindinge, die in der Rede
zu einem Bestimmten fixiert werden. Diesen dialektischen Aspekt des
Dingworts bringt der bestimmte Artikel zum Ausdruck. Was sprach­
lich vorher nur angelegt war - das fortschreitende Prädizieren -, wird
nun durch die Einführung des Artikels im Hinblick auf das Koinon
explizit. Heraklits Schema der Dialektik ruht auf dieser Erweiterung
des überkommenen Schemas der Apophansis. Nun kann Unstimmi­
ges wirklich zusammenstimmen, weil das Widerspenstige sich unter
einem Übergreifenden in eins fügt wie bei Bogen und Leier (B 51).
Denn nun ist das Prinzip entdeckt, diese Fügung zu leisten. Der Lo­
gos vermag nun auf- und abzusteigen vom Einzelnen zum Allgemeinen

36 Vgl. Snell, Entdeckung, a.a.O., S. 219.


32 Voraussetzungen

und umgekehrt. Er hat die sprachlichen Mittel, sich frei in der Welt
zu bewegen.
Indem der bestimmte Artikel nun eine Vergegenständlichung, auch
Verdinglichung sprachlich fixiert, wird es möglich, nicht nur modale
oder qualitative Ähnlichkeiten (im verbalen oder adjektivischen Aus­
druck) zu bemerken, sondern Identitäten (im Vergleich) festzustellen.
Damit kann die anthropomorphe Analogie in die Sachanalogie über­
gehen, die wiederum zur Voraussetzung für die wissenschaftliche
Theorienbildung wird.
Dass die Analogie - in einem weitesten Sinne des Wortes - frü­
heste Form des begrifflichen Denkens ist, ja, überhaupt erst zur
Gewinnung abstrakter Begriffe beiträgt, hat Gigon richtig gesehen:
>>Die Erklärung durch die Analogie, die Sichtbarmachung des Un­
anschaulichen durch das Anschauliche, wie Anaxagoras (B 21 a) in
einem wohl allerdings speziellen Zusammenhang sagt, ist die älteste
Form philosophischer Welterklärung«.37 Auch scheint mir einleuch­
tend, wenn Gigon einer personifizierenden, anthropomorphisieren­
den Analogie die Sachanalogie gegenüberstellt, bei der ein äußerer
Sachverhalt durch einen anderen erläutert wird. Im personalen Denken
war >>der Blitz die Waffe des Wettergottes. Wenn Anaximenes A 17
den Vorgang als ein Zerreißen der Wolkensäcke deutet und beim
Leuchten des Blitzes daran erinnert, daß auch das Meer funkelt, wenn
es von einem Ruder durchschnitten wird, so werden hier offensicht­
lich Erfahrungen des täglichen Lebens zur Erklärung des Himmels­
phänomens herangezogen. Das personale Bild wird in allen diesen
Fällen durch ein Bild aus der gegenständlichen Umwelt des Men­
schen abgelöst«.38
Die Möglichkeit der Sachanalogie, also des Übergangs zu inner­
weltlichen, naturgesetzliehen Denkweisen, ist bereits im homeri­
schen Gleichnis vorbereitet. >>Ein Hauptsinn dieser für Homer so
charakteristischen Kunstform besteht darin, Vorgänge, die aus ir­
gendeinem Grunde unanschaulich sind, durch einen Vergleich aus
der Welt der dem Hörer vertrauten Dinge anschaulich zu machen<< .39
Den Umschlag macht Snell an der Umkehrung von anthropomor­
pher Einfühlung in Naturgleichnisse und Sachmetaphern fest. Er

37 Olof Gigon, Der Ursprung der griechischen Philosophie, Basel/Stuttgart 21968,


s. 37.
38 Ebd., S. 38.
39 Ebd., S. 38 f.
Mythos, Sprache und Begriffsbildung 33

weist darauf hin, dass ein natürliches Geschehen zunächst nach Ana­
logie menschlicher Empfindungen perzipiert wurde. Dann kehrte
sich diese Analogie um, die anthropomorphe Auffassung der Natur
ermöglichte die Sachanalogie als Erklärung menschlicher und natür­
lich-sachlicher Verhältnisse.'0 Die Welt wird als eine solche von
Sachbezügen artikulierbar. Dieses Verfahren nehmen dann die mile­
sischen Natur-Philosophen auf.41 Und aus der bloßen Erläuterung,
ErheBung durch die Parallele zu einem bekannten Sachverhalt wird
die Erklärung, die kausale Ableitung:42 Wenn zwei Geschehen analog
verlaufen, so wird, als ihnen zugrundeliegend oder vorgeordnet, ein
Gesetz, eine Ordnung, ein Prinzip, eine Substanz vermutet, die man

40 Snell, Entdeckung, a. a. 0., S. 190 f.: >>Daß der Fels ein menschliches Verhalten
deutlich macht, also ein toter Gegenstand etwas Lebendiges, beruht darauf,
daß dieser tote Gegenstand anthropomorph gesehen wird: das unbewegliche
Stehen der Klippe in der Brandung wird gedeutet als Ausharren, so wie der
Mensch ausharrt in einer bedrohten Situation. Der Gegenstand wird also taug­
lich, im Gleichnis etwas zu veranschaulichen, dadurch, daß in diesen Gegen­
stand das hineingesehen wird, was er dann seinerseits illustriert. Dies eigen­
tümliche Verhältnis, daß das menschliche Verhalten erst deutlich wird durch
etwas, das selbst erst nach diesem Verhalten gedeutet ist, gilt auch für alle
anderen homerischen Gleichnisse, ja es gilt weit darüber hinaus bei den ech­
ten Metaphern und überhaupt überall dort, wo der Mensch etwas >versteht<.
Es ist also schon bedenklich, wenn wir sagen, der Fels würde >anthropomorph<
gesehen - man müßte dann hinzufügen, daß der Mensch den Felsen nur da­
durch anthropomorph sehen kann, daß er sich selbst zugleich petromorph
sieht, daß er nur dadurch, daß er den Felsen von sich aus interpretiert, ein
eigenes Verhalten gewahr wird und den treffenden Ausdruck dafür findet<< .
Zum Begriff der Einfühlung vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sym­
pathie, Frankfurt am Main 1923.
41 Gigon, a. a. 0., S. 39 f.: >>Geschichtlich ist es nun so, daß die personale Deu­
tung der Vorgänge, die bei Hesiod herrscht, schon durch die Milesier zu­
gunsten der gegenständlichen Erklärung nahezu vollständig aufgegeben wird
... Es kommt darauf an, daß die ganze Tragweite dieser Entscheidung erkannt
werden kann (... ) Die Sachanalogie, für die alle Dinge sich so verhalten, wie
sie sich nach dem Gesetze, das sich durch die Analogie anderweitiger Erfah­
rungen feststellen läßt, verhalten müssen, wird sich zu einer Naturwissen­
schaft entwickeln, in der alles zu Gegenständen wird, die bestimmten, nicht
näher begründbaren Gesetzen gehorchen (... ) [Die griechische Philosophie]
hat alle Dinge und schließlich die menschliche Person selber in den Kate­
gorien der dem Menschen vertrauten und verfügbaren Gegenstandswelt ver­
standen<<.
42 Gigon, a. a. 0., S. 39: >>Diese Vergleiche erhalten dann eigentliches philosophi­
sches Gewicht, wenn sie nicht mehr nur veranschaulichen, sondern auch er­
klären: wenn die Analogie die Frage nach dem Warum eines unbekannten
Vorgangs beantworten solk
34 Voraussetzungen

durch Interpolation bestimmen kann. Wird Natur aus Natur, Säch­


liches aus Sächlichem erklärbar, so stellt sich die Frage nach dem
Prinzip des universalen Zusammenhangs, der das eine mit dem an­
deren verknüpft; der Kosmos, die von menschenartigen Göttern
geschaffene Ordnung, wird dann zum selbsterhaltenden, selbstbe­
wegten System der Substanzen - das Motiv jedes künftigen Mate­
rialismus ist hier angelegt und artikuliert sich erstmals in der mi­
lesischen Naturphilosophie.
Georg Lukacs hat diesen Prozess als >>Desanthropomorphisie­
rung<< beschrieben und darin das Charakteristikum der Wissenschaft
(gegenüber anderen Weisen der Herstellung von >>Abbildern<< der
Welt) erkannt. Lukacs notiert auch den Zusammenhang mit dem
Materialismus:3 Während das Alltagsleben Erfahrungen liefert, die
zunächst im Sinne eines naiven Materialismus, d. h. im Sinne der
unabhängigen materiellen Wirklichkeit der Gegenstände, interpre­
tiert wurden, wird das Verhalten zu diesen Gegenständen durch die
Selbst-Erfahrung bedingt, d. h. durch eine Analogie, die die äußeren
Dinge nach Art des eigenen Ich zu verstehen versucht, um sie sich
aneignen zu können. Die Aneignung der Natur durch Arbeit er­
zwingt nun den Abbau dieser Personifikationen, die Feststellung
von Sachgesetzen. Obschon jedoch in der Eisenzeit diese sachbezo­
gene Entfaltung der Produktivkräfte und Entwicklung der Produk­
tionsmittel überall stattfindet,44 ist es allein Griechenland, wo der
Prozess der Desanthropomorphisierung zu systematischen Konse­
quenzen für das Weltbild führte. >>Dieser Kampf zwischen den höhe-

43 Georg Lukacs, Ästhetik, Neuwied/Berlin 1963, Kap. 2, S. 139 ff.


44 Lukacs, a. a. 0., S. 145 f.: >>Zu dieser Frage des Desanthropomorphisierens sei
aber noch bemerkt, daß sein Vollzug mit dem Bewußtwerden des philoso­
phischen Materialismus zusammengeht ... Diese Bewegung erreicht ihren Gip­
felpunkt im Atomismus von Demokrit und Epikur bereits unsere ganze
menschliche Erscheinungswelt als gesetzmäßiges Produkt der Beziehungen und
Bewegungen der Elementarteile der Materie gefaßt wird<< . Daraus folgt: »Die
spontane Überzeugung von der Existenz einer vom menschlichen Bewußtsein
unabhängigen Außenwelt erfährt also eine qualitative Erhöhung durch ihr
philosophisches Bewußtwerden, durch ihre weltanschauliche Verallgemeine­
rung. Dadurch tritt erst der bewußte Kampf von Materialismus und Idealis­
mus in die Philosophie ein, wird zu ihrer Zentralfrage. Und die Höhe dieser
materialistischen Verallgemeinerung, die zugleich Weite und Tiefe des Durch­
dringens der Wissenschaft mit der desanthropomorphisierenden Widerspie­
gelung und Begriffsbildung bedingt, umreißt zugleich das Terrain des Kamp­
fes zwischen Materialismus und Idealismus<< .
Mythos,Sprache und Begriffsbildung 35

ren personifizierenden Formen des Denkens und den wissenschaft­


lichen hat sich in den Anfängen der Menschheitsentwicklung nur in
Griechenland wirklich entfaltet; nur hier erhebt er sich auf eine
prinzipielle Höhe und bringt damit eine Methodologie des wissen­
schaftlichen Denkens hervor, die die Voraussetzung dafür bildet, daß
diese Art der Widerspiegelung der Wirklichkeit durch Einübung,
Gewohnheit, Tradition etc. zu einer allgemeinen, ständig funktionie­
renden Verhaltensweise der Menschen wurde, daß nicht nur ihre
unmittelbaren Ergebnisse bereichernd auf das Alltagsleben einwirk­
ten, sondern auch ihre Methode die alltägliche Praxis beeinflußte, ja
teilweise umgestaltete.«45
Auch Luk:ics begründet diese Singularität (wie wir oben) mit der
>>besonderen Form der Auflösung der Gentilgesellschaft«, die eine
Kultur von demokratischen Stadtgemeinden entstehen ließ und keine
religiöse Systematiken und Herrschaftsformen hervorbrachte.46 Füg­
lieh darf man annehmen, dass der Übergang zur Sachanalogie auch
durch die Übernahme einer abstrakten, von Anfang an nicht bildhaft
lesbaren, sondern als Zeichen gesetzten Schrift gefördert wurde.
Dass in ganz Griechenland aufgrund der geschilderten Umstände
eine gesellschaftliche Disposition zur Entmythologisierung vorhan­
den war, dürfen wir getrost annehmen; die rasche Rezeption der
ersten, sehr gerrau lokal zu begrenzenden Versuche, wissenschaftliche
Denkweisen zu entwickeln, lässt erkennen, wie wenig sich die my­
thologische Volksreligiosität der philosophischen Rationalität wider­
setzte, ja wie sie sich über weite Strecken hin durchaus mit ihr ver­
tragen konnte.
An welchen Strukturen aber konnte sich ein entmythologisiertes
(desanthropomorphisierendes) philosophisches Sprechen orientie­
ren? Philosophie als Welterklärung hat die Form der Prädikation.
Ein nur rätselhaft Bekanntes wird im Hinblick auf das, was man von
ihm wissen will, durch Prädikationen bestimmt. (Die Definition ist
ein Spezialfall der prädizierenden Rede, ein anderer die reine Benen­
nung, die sich statt des Prädikats mit einem Prädikatsnomen be­
gnügt). Prädikativ ist der Aussagesatz, von dem die aristotelische
Systematisierung der Logik ausgeht. Der noch unbestimmte Gegen­
stand, der als >>Dieses-da« (tode ti) sinnlich oder gedanklich gegeben
ist, legt sich in seine Bestimmungsmerkmale auseinander, wenn ge-

45 Lukacs,a.a.O.,S.140.
46 Ebd.,S.140 f.
36 Voraussetzungen

fragt wird: >>Was ist das?<< (ti estin). Die Bestimmungsklassen des
>>Was<< sind die Kategorien, sie sind die logischen Universalien, deren
grammatisches Äquivalent die Wortarten sind, in denen sich der Satz
auseinanderlegt. Diese logischen Universalien liefern aber auch das
Schema, nach dem die Metaphysik verfährt. Das wird sich in der Ex­
plikation der aristotelischen Metaphysik zeigen. Der metaphysische
Horizont der zunächst rein aussagentheoretisch orientiert erschei­
nenden Kategorienlehre ist in der Konkordanz von Sprachsystem und
metaphysischer Konstruktion begründet.
2. Kapitel:
Die Herausbildung der personalen Individualität

Die Anfänge des Bewusstseins von personaler Individualität, die sich


vom Verhaltenstypus und von der Rollenfunktion des Menschen ab­
löst und in der Selbstbewusstwerdung des Einzelnen sich konsti­
tuiert, lassen sich auf drei Ausdrucksebenen sichtbar machen: In der
Dichtung (hier vor allem in der Lyrik), in der Bildenden Kunst und
in der philosophischen Reflexion. Indem der Mensch Anschauung
und Begriff seiner Subjektivität gewinnt, entsteht die Voraussetzung
für Philosophie als Reflexion der Reflexion, für jene Spannung zwi­
schen Subjekt und Objekt, die das abendländische Philosophieren
hervorbrachte und immer wieder zur erkenntnistheoretischen Grund­
legung wissenschaftlicher Positionen zwingt.1
Sicher finden wir schon im jüngeren Epos die Anzeichen für die
Entdeckung der Individualität, und es ist durchaus eine und dieselbe
Einstellung, aus der heraus die jüngeren Partien der Odyssee und die
Gedichte des Archilochos entstanden sind. Das Erwachen der Per­
sönlichkeit mag also etwa seit Mitte des 7. Jahrhunderts datiert werden.
In allen Bereichen kulturellen Schaffens bekundet sich nun ein
personales Icherlebnis, das den neuen Menschentyp des 6. Jahr­
hundert charakterisiert. Ehe die Polis sich organisiert, haben die
Menschen sich in neuen Arbeits- und L ebensverhältnissen erfahren,
die die Eigeninitiative und Verantwortlichkeit herausforderten. »Da­
für öffnet sich im engsten persönlichen Umkreis des Menschen, von
allem Politischen entfernt, der Poesie ein neues Reich des Erlebens,
in das wir sie sich begierig vertiefen sehen. (...) Die Dynamik des

Die Herausbildung personalen, individuellen Selbstbewusstseins- gleichsam


als >>Entgegensetzung<< zur Welt- bedingt den weiteren Denkweg der grie­
chischen Kultur und ihrer Nachfolgekulturen. Die orientalischen Religionen
und Philosophien, die diesen Denkweg nicht in der gleichen Weise beschrit­
ten, entwickelten auch andere Probleme. Man darf die Hypothese als plau­
sibel ansehen, dass die Autarkie der griechischen Polis und die sich in ihr
verwirklichende Autonomie des Polis-Bürgers die Grundlage für die Entfal­
tung des individuellen Selbstbewusstseins gewesen ist.
38 Voraussetzungen

individuellen Lebenswillens, deren Spannung wir im Formwandel des


Staates mehr indirekt an ihrer umgestaltenden Wirkung auf das
Leben spüren, offenbart sich hier in der Aussprache ihre bewegen­
den Motive, in ihrer unmittelbaren lnnerlichkeit.<<2 Die späteren
Teile der homerischen Epen machen gleichzeitig mit der Lyrik des
Archilochos den Anfang; in ihnen zeigt sich ein aufkommendes Ver­
ständnis für die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit der Person,
das seinerseits ein individuelles Selbstbewusstsein als Verständnis­
ebene voraussetzt. Manifestierte sich das adlige (oder auch das bäuer­
liche) Standes- und Klassenbewusstsein in der nach außen gekehrten
Haltung, in der Verhaltensweise des Einzelnen, der den allgemeinen
Normen seines Standes gemäß sich zu benehmen trachtete, so fanden
die nun auf sich selbst angewiesenen wagemutigen Kauffahrteischif­
fer, die Handelsleute und Krämer in den Städten den Ausweis für ihr
Selbstsein in sich selbst, in der Abenteuerlichkeit singulärer Situa­
tionen. Die Besonderheit wurde ihnen anschaulich in ihrer hand­
werklichen Leistung oder ihrem Warenangebot. Sie entsprang ihrem
Eigensein, ihrem >>Inneren<< , von dem her sie sich in ihr Verhältnis
zum »Äußeren<< der gesellschaftlichen T ypik setzten. Das Vokabular
für dieses Innen bekommt ein zuvor unbekanntes Schwergewicht -
man muss nur einmal die Lyrik auf die Häufigkeit und Relevanz der
Wörter nous, tymos, phrene abfragen, um die neue Einstellung zum
Seelischen, zum Bewusstsein zu erkennen. Diese Umformung wird
umso deutlicher, als sie sich zunächst in der Aufnahme traditioneller
Topoi des Epos vollzieht, aber diese mit neuem Gehalt füllt. Archi­
lochos, der älteste der l yrischen Dichter, nimmt immer wieder ho­
merische Rollen auf, in denen er sich oder die in seinen Gedichten
angesprochenen Personen vorstellt.' Aber die Gesinnung ist oft ge­
radezu ins Gegenteil verkehrt, so etwa wenn Archilochos berichtet,
dass er im Kampf den Schild wegwarf, um sich leichter durch Flucht
retten zu können.< - Eine Auffassung, die keinem homerischen Helden

2 Werner Jaeger, Paideia, Bd. I, Berlin 1936, S. 161. Der Charakterisierung >>von
allem Politischen entfernt<< wird man nicht zustimmen können. Dagegen spricht
die Bedeutung von Alkaios und natürlich die von Solon.
3 Ebd., S. 163. V gl. auch Max Treu, Von Homer zur Lyrik, 1955; und 0. von
Weber, Die Beziehungen zwischen Homer und den älteren griechischen Lyri­
kern, Diss. Bonn 1955.
4 Archilochos 6 D. Griechisch und deutsch von Max Treu, München 1959. An
die Stelle der Kriegergesinnung ist bei ihm , dem »Landsknecht<< , die Kauf-
Die Herausbildung der personalen Individualität 39

zuzutrauen wäre, das eigene Leben hat jetzt Vorrang. An die Stelle
der Heroisierung der Herrenschicht tritt nun der Spott, auch die
Selbstironie, vor allem aber die Schmähung des Gegners. Der psogos,
das Spottgedicht, ist Ausdruck volkstümlicher Kritik an den Herr­
schenden, an den Zuständen und natürlich auch an Seinesgleichen;
die kritischen Helgen der Baseler Fasnacht, die sogenannten Proto­
kolle der Mainzer Fastnachtsitzungen entstammen derselben literari­
schen Quelle, dem Bedürfnis nach einem Ventil öffentlicher Kritik.
Werner Jäger bemerkt richtig, >>daß das Aufkommen des literarischen
Spottgedichts im frühgriechischen Polisleben eine für die zuneh­
mende Bedeutung des Demos charakteristische Zeiterscheinung ist.
Der Jambus war von Haus aus ein öffentlicher Brauch bei den Diony­
sosfesten und vielmehr eine allgemeine Entladung der Volksstim­
mung als die Ausgeburt persönlicher Ranküne des Einzelnen. Es sagt
genug, daß der Jambus sich in spätester Zeit am naturgetreuesten in
der älteren attischen Komödie erhält und fortsetzt, in der der Dich­
ter notorisch als Sprecher der öffentlichen Kritik auftritt. (...) Das
Wesen der echten volksmäßigen Schmähung, des psogos, ist aus den
uns erhaltenen literarischen Umformungen und Weiterbildungen na­
turgemäß nur mit Vorsicht zu erschließen, aber zweifellos hat er ur­
sprünglich eine soziale Funktion gehabt, die noch deutlich greifbar
ist«.5 War im älteren Epos der Lebensstil der Herrenschicht noch
ganz ungebrochen, sodass eine Antithese (wie im Auftreten des Ther­
sites) nur mit negativem Wertakzent versehen sein konnte, so wird
jetzt Kritik zum Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Und in
der Kritik muss sich natürlich einer als Einzelner, als Person her­
vorwagen, er kann sich nicht in die Anonymik des Konformismus
zurückziehen, er muss für sich sprechen.
So verliert es seine Unziemlichkeit, von sich selbst zu sprechen.
Vielmehr wird es nun geradezu ein Ausweis der Aufrichtigkeit, eine
Legitimation der Kritik, dass man von sich selbst her sagen kann,
welche Position man bezieht. So rückt die Ich-Person ins Licht der
Aufmerksamkeit. Es ist neu, dass der Dichter von sich in der ersten
Person singularis spricht: >>Eines aber kann ich gut: dem, der mir
Böses getan hat, heimzahlen mit bösem Schimpf« (Archilochos 66 D).

mannsgesinnung getreten; >>Retten konnt' ich mein Leben: was schiert jener
Schild mich noch länger! Kaufen will ich mir bald einen, der ebenso gut<< .
5 Jaeger, a. a. 0., S. 168 ff.
40 Voraussetzungen

Nicht mehr ist es die Muse, die durch den Dichter hindurch kün­
det, sondern er selbst ist es, der mit der Gabe der Muse umgeht.
Hesiods Berufung am Helikon ist die Umschlagstelle von der home­
rischen zur nachhomerischen Gesinnung. Archilochos sagt, wenn er
eine Elegie einleitet, wer er ist:

>>Ich bin ein Gefolgsmann des Ares, des strengen Gebieters im


Kriege,
Und der Musen Geschenk, ist mir, das Holde, vertraut<< (D 1).

Immer wieder werden Ereignisse und Umstände auf den Dichter be­
zogen, Recht und Unrecht aus einem privaten Rechtstitel hergeleitet
(wie bei der Verweigerung der anverlobten Braut6), enttäuschte
Freundschaft als eine persönliche Kränkung erfahren.7 Das eigene
Gemüt ist es, auf das Archilochos sich bezieht, nicht eine durch die
Rolle vorgegebene Haltung, zum Beispiel als Krieger in der Schlacht,
sondern das Verhältnis als Person. Wer könnte sich vorstellen, dass
Hektor oder Diomedes von sich sagen, sie seien hilflos im Leiden,
und sich selbst Mut zusprechen:

>>Herz, mein Herz, von Fluten Leides fortgerissen rettunglos,


Richt dich auf! Dem Feind entgegen halt die Brust und wehre
dich!<< (Archilochos 67 a D).

Aber auch Naturereignisse erhalten ihren Erlebniswert durch den Ich­


bezug, also durch die persönliche Perspektive, die der Dichter dar­
stellt. Diese hängt natürlich mit den zentralen Lebensaufgaben des
Stadtbürgers zusammen, also mit der Schifffahrt vor allem, die den
Wagemut des Einzelnen forderte, wenn den Handelsunternehmun-

6 Archilochos' Schmähverse gegen Lykambes.


7 Archilochos 79 a D, ein Hassgedicht gegen den verräterischen Freund. -Al­
kaios' Invektiven gegen Pittakos sind dem an die Seite zu stellen. Vom He­
tairos - dem persönlichen Freund und Gefährten, aber auch dem politischen
Gesinnungsfreund - verraten zu werden, ist schwerste Unbill; denn Ver­
trauen wird da erschüttert; vgl. Bruno Snell, Dichtung und Gesellschaft, Harn­
burg 1965, S. 63 ff. Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit sind aber Eigen­
schaften, die der Individualperson zukommen, nicht dem gesellschaftlichen
Rollenträger; Odysseus ist nicht unzuverlässig, sondern listenreich; Achilleus
wird von Agamemnon nicht enttäuscht, sondern in seiner Ehre verletzt. Im
Epos sind Charaktereigenschaften ins Objektive gewendet, in der Lyrik ins
Subjektive.
Die Herausbildung der personalen Individualität 41

gen weit in die Ferne Erfolg beschieden sein sollte.' Natur, vor allem
das Meer wird als etwas Gewaltiges erfahren, dem der Mensch aus­
geliefert ist. Sein Wellengang übertönt uns: >>Es erdrönte dumpf das
Meer« (Simonides).9 Das ist eine ganz persönliche Fesselung:

»Fest hält mich des purpurnen, rings


Sich in Aufruhr befindenden Meeres Getöse.<<10

Der Anfang des Gedichts bei Alkaios 46 a D in der ersten Person


Singularis lässt die Unmittelbarkeit des Eindrucks gegenwärtig wer­
den (»Nicht begreifen kann ich der Winde Streit<<), 46 b D gibt uns
nebenhin die Motivation der Seefahrt, das Verschiffen von Handels­
ware (»Die ganze Fracht ist über Bord schon<<). Snell weist darauf
hin,11 dass das Verbum syniemi (ouVLYJf-lL), mit dem 46 a D beginnt,
bei Alkaios und Sappho öfter vorkommt und sich nicht nur auf
sprachliche Mitteilungsgehalte und Personen, sondern auch auf Si­
tuationen bezieht, die man »verstehen<< kann.12 Das ist ein entschei­
dender Umbruch: Wurde früher Seelisches durch Vergleich aus der
Natur oder aus dem sinnlich zutage liegenden Gemeinschaftsleben
erschlossen, so wendet sich dieses Verfahren nun zurück; die Natur
wird aufgefasst, als sei sie nach Menschenart belebt. Diese Doppel­
sinnigkeit der Metaphorik ist schon den Homerischen Gleichnissen
eigentümlich, 13 meint dort aber nur die Strukturähnlichkeit von Mensch
und Welt, während nun in die Welt Empfindungen hineingesehen
werden: Indem sich der Mensch als Subjekt entdeckt, wird ihm auch

8 Alkaios 64a D und 46 b D. Sappho wird im Folgenden zitiert in der Über­


setzung von Joachim Schicke!, Sappho. Strophen und Verse, Frankfurt am
Main 1978.
9 Simonides in Simonides/Bacchylides griechisch und deutsch von Oskar Wer-
ner, München 1969, S. 18.
10 Ebd., S. 20.
11 Snell, Dichtung und Gesellschaft, a. a. 0., S. 77.
12 Da taucht die Vorstellung von der Einzigartigkeit des Menschen und (ent­
sprechend) der Situation auf. Vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes,
Harnburg 21948, S. 182: >>Die Frage >Wer ist Sokrates< führt nicht zum >Er­
kennen<, sondern zum >Verstehen<; sie sucht keine >Subsumption<, wie bei den
Dingwörtern, sondern das Einmalige der Person als eine bestimmte Möglich­
keit des Menschseins zu begreifen. Erfahrung und somit auch Vergleichung
ist auch dafür nötig, aber was dann verglichen wird, sind Verhaltungen, Schick­
sale, Eigenschaften, also nichts Dinghaftes, sondern Abstraktes<<.
13 Ebd., S. 191.
42 Voraussetzungen

die Natur zum Subjekt. Denn gerade daran, dass er seiner Empfin­
dung inne wird, erfährt sich der Mensch als Subjekt. Wenn Archi­
lochos (46 D) aufkommenden Sturm beobachtet und dann lapidar
anfügt: »Plötzlich kommt aus dem Unverhofften die Angst<< , dann
wird eine objektive Situation zum subjektiven Erlebnis und von ihm
her verstehbar. Einmal so aufgeschlossen, kann dann eine Situation
selbst als empfindungsträchtig erfahren und ihre Schilderung, die
Schilderung eines bestimmten Eindrucks, als Ausdruck einer Gemüts­
verfassung, einer Stimmung, eines Gefühls genommen werden.
Dabei wird dann die einfache Beschreibung zur Evokation der
Empfindung; bei Archilochos zum Beispiel in der Schilderung des
geliebten Mädchens:

»Sie hielt ein Myrtenzweiglein, freute sich an ihm


Und einer Rosenblüte, auf den Rücken hing
Und auf die Schultern schattenlang herab ihr Haar<< (25 D).

So bei Alkaios:

» Hebros, allerschönster von den Flüssen


Hier bei Ainos gleitest du breiten Laufes
Durch der T hraker rossreiches Land dich brechend
Purpurnem Meer zu.
Viele Mädchen suchen dich auf, mit weichen
Armen schöpfen sie von dem klaren Wasser,
Das wie Salböl rinnt, ihrer weichen Hüften
Haut zu benetzen<< (77 D).

Und wiederum bei Sappho:

»So tanzten wohl einst kretische Mädchen Reigen


Leichtfüßig im Takt: um den Altar, den schönen,
Berührte ihr Schritt zart-weichen Grases Blüten.<< (93 D)

Hier geht kein Ich-Bekenntnis in die lyrischen Bilder ein, und den­
noch ist die persönliche Perspektive, die subjektive Empfindung der
tragende Grund. Sappho verbindet dann auch das Bild mit der Ich­
Aussage:

>>Nun ist schon der Mond versunken


Und auch die Plejaden. Mitte
Die Herausbildung der personalen Individualität 43

Der Nacht, und die Zeit des Wartens


Vorüber. Alleine schlaf ich« (94D).

Und Archilochos hat seinen Liebesschmerz, nicht geschützt durch


metaphorische Verhüllung, preisgegeben:

>>Ich fiel dem Sehnen ganz anheim


Liege da, wie entseelt, und die Schmerzen, von Göttern
verhängte, die bohren sich durch mein Gebein<< (104D).14

Sappho aber war es, die ausdrücklich das Seelische als verbunden mit
körperlichen Ausdrucksempfindungen fasste, die einen Parallelismus
von innen und außen voraussetzte und daraus die Möglichkeit ge­
wann, Seelisches durch Organisches verstehbar zu machen:

>>Blick ich dich ganz flüchtig nur an, die Stimme


Stirbt, ehe sie laut ward,
Ja, die Zunge liegt wie gelähmt, auf einmal
Läuft mir Fieber unter der Haut entlang, und
Meine Augen weigern die Sicht, es über­
Rauscht meine Ohren,
Mir bricht Schweiß aus, rinnt mir herab, es beben
Alle Glieder, fahler als trockene Gräser
Bin ich, einer Toten beinahe gleicht mein
Aussehen ...<< (2D).

Es ist wohl kein Zufall, dass gerade Sappho die privaten Lebenspro­
bleme des Individuums auf den höchsten Niveau auszudrücken ver­
mag. Als Frau stand sie außerhalb der gesellschaftlichen Verstrickun­
gen und Verpflichtungen, die so wesentlich ins Werk des Alkaios
eingegangen sind, auch außerhalb des tätigen Lebens, das Archilochos
und Alkaios in ihren Gedichten besangen. Ihre epochale gesellschaft­
liche Leistung entsprang gerade der besonderen Privatheit ihrer Exis­
tenz: Sie konnte, indem sie ausdrückte, was sie bewegte, am reinsten

14 Vgl. auch Archilochos 112 d: >>Solches Verlangen nach Liebe hat plötzlich
sich mir ins Herz geschlichen, in großes Dunkel hüllt es meine Augen, raubt
der Brust die Besinnung, die schwächliche( .. )<<.
.
44 Voraussetzungen

das Vokabular der Individualität formulieren.15 Und daraus bezieht


Sappho auch ihre Selbsteinschätzung: Sie vermag das Flüchtige, das
Vergängliche bleibend, unsterblich zu machen- durch das Wort:16

»Wenn gestorben du liegst: nimmermehr wird jemand gedenken


dein
Noch sich sehnen dereinst; keinerlei teil hattest an Rosen du
Aus Pierien. Nein, unsichtbar auch wirst du in Hades Haus
Irren unter dem Traum, unter dem Tod- eine Entflogene« (58 D).

Aber dann:

»Sich erinnern an uns wird, wie ich mein,


Mancher in späterer Zeit···'' (59 D)

Die Dichterin pocht auf die Unsterblichkeit ihrer Verse.


Alles in allem erfahren wir aus der Lyrik des 7. und 6. Jahrhun­
derts eine ungeheure Bewegung und Veränderung des Selbstbewusst­
seins, einen Aufbruch des Individuums, das seiner Persönlichkeits­
werte gewahr wird und sich zu äußern nicht mehr scheut. Snell hat

15 V gl. Snell, Dichtung und Gesellschaft, a.a.O., S. 99: >>Aber anders als Homer,
der von Gedanken und Gefühlen nur spricht, insofern sie Antriebe des
Handeins und äußeren Geschehens sind, verweilt Sappho bei Gefühl und
Stimmung, auch ohne daß unmittelbare Aktivität daraus hervorgeht. Emp­
findung wird wert, sie auszusprechen, sofern sie ein individueller, bedeutsamer
Zustand ist, vor allem aber, weil sich in ihr Menschen verbinden und
verbunden bleiben in einer Erinnerung, die nichts weiter will, als das einmal
Empfundene bewahren<< . Jaeger, a.a.O., S. 183 ff.: >>Verglichen mit dem inhalt­
lichen Reichtum der Dichtung des Alkaios ist Sapphos Lyrik eng begrenzt.
Es ist die Welt der Frau, die sie umschließt, aber auch diese nur in dem
Ausschnitt, den das gemeinsame Leben der Dichterin im Kreise ihrer Mäd­
chen ausfüllt (...)Die Gedichte schildern die Pathologie des sapphischen Eros
als eine das innere Gleichgewicht erschütternde Leidenschaft, die ebenso stark
die Sinne wie die Seele gefangen nimmt. Was uns angeht, ist weniger die
Feststellung des Vorhandenseins der sinnlichen Seite in der sapphischen
Erotik als die Empfindungsfülle, die durch ihre den ganzen Menschen ergrei­
fende Macht entbunden wird. Nirgendwo reicht die männliche Liebesdich­
tung der Griechen auch nur entfernt an die seelische Tiefe dieser Poesie heran«.
Natürlich ist es auch das Bekenntnis der eigenen Sinnlichkeit, das zur Ausbil­
dung des individuellen Selbstbewusstseins gehört.
16 Diese - sozusagen ontologische - Rangerhöhung des Dichters bereitet die
Logos-Lehre Heraklilts vor: Die Dignität des Seins wird in der tradierbaren
Sprache fundiert.
Die Herausbildung der personalen Individualität 45

feinsinnig beobachtet, dass das Selbstbewusstsein sich gerade in den


Augenblicken der Hemmung, des Scheiterns des eigenen Gefühls
ausbildet: >>Die Liebe selbst empfindet der Dichter als Wirken der
Gottheit, aber daß der glatte Strom des Erlebens gehemmt ist, ihm
bewusst als etwas Persönliches, als Ohn-Macht, als todesähnliche
Hilflosigkeit ... (so von Archilochos; und von Sappho). Im vollen
Sinn ihr Eigenes, Persönliches ist aber das Gefühl der Hilflosigkeit.
Erst die gehemmte Liebe, die nicht zu ihrer Erfüllung kommt, be­
mächtigt sich mit besonderer Kraft des Bewußtseins«.17 Das unab­
hängige Individuum trifft auf äußeren Widerstand und wird sich
daran seiner besonderen, persönlichen Existenz bewusst. Der hier
auftretende Widerspruch zwischen Ich und Welt ist konstitutiv für
die Selbst-Gewinnung des Ich - und damit für die erkenntnistheo­
retische ontologisch verstandene Subjekt-Objekt-Relation. Auf der
einen Seite stehen nun Thymos, Nous, Phronesis, Logos, auf der
anderen Physis, On.
Die Befunde der Archäologie stimmen mit den literarischen Zeug­
nissen überein; im 7. Jahrhundert wird der Übergang zur Großplas­
tik mit ihren zunächst noch typisierenden, dann sehr bald innerhalb
eines Ausdruckskanons individualisierenden Menschendarstellungen
vollzogen und gelangt dann um 500 zur vollen Entfaltung des Per­
sönlichkeitsausdrucks.
Allerdings haben wir gerade aus den Gebieten, in denen sich die
Ausdrucksformen individuellen Selbstbewusstseins zuerst ausbilde­
ten - das kleinasiatische und insulare Ionien - die geringsten Zeug­
nisse der Großplastik, obschon deren Ursprünge material wie formal
dorthin weisen.18 Die eindrucksvollsten Belege des archaischen Men­
schenbildes stammen aus Attika, also einer erst später in den Ge­
schichtsprozess der Poliskultur eintretenden Landschaft.19 Hier aller­
dings lässt sich der Übergang vom typisierenden Gattungsbild zur
individualisierenden Personendarstellung deutlich fassen und mit
seinen Anfängen in die solonische Zeit, fortschreitend dann in die
Generation des Peisistratos datieren. Charakteristisch für den Stil
der frühen Großfiguren ist der >>Kalbträger« (ca. 580- 570). Es ist

17 Snell, Die Entdeckung des Geistes, a. a. 0., S. 67 f.


18 Ernst Hornann-Wedeking, Die Anfänge der griechischen Großplastik, Berlin
1950, besonders S. 65 ff.
19 Bildmaterial und Einzelinterpretationen bei Ernst Langlotz/Walter H. Schuch­
hardt, Archaische Plastik auf der Akropolis, Frankfurt arn Main 21943.
46 Voraussetzungen

die Standfigur eines Mannes, der ein Kälbchen über seinen Schultern
trägt, offenbar ein zur Opferung bestimmtes Tier. Die Körperkontur
ist unter dem nur angedeuteten Mantel in großlinig geschwungenen
Kurven ausgeführt, die eingezogene Taille teilt Ober- und Unterkör­
per - zwei geschlossene Formbereiche. Die kräftigen Arme fallen
von den runden Schultern schräg nach vorn, vom Ellbogen ab sind
sie scharf aufwärts abgewinkelt, damit die Hände die Beine des Kalbs
fassen können. So bilden die Unterarme ein offenes gleichschenk­
liges Dreieck, auf dessen oberer Spitze die nach unten weisende Spitze
des Dreiecks steht, das durch die Beine des Kalbs und seinen Rücken
gebildet wird. Der Kopf des Mannes ist in diese Doppelform ein­
gelassen, das Dreieck der Arme richtet sich auf ihn wie ein Wegzei­
chen, das Dreieck des Kalbs hält den Kopf wie ein Schild. Der
Körper des Mannes und sein Gesicht sind streng symmetrisch ge­
baut, statuarisch bis zur Unbeweglichkeit, lebendig nur durch die
gespannten Muskeln und Sehnen, die gesammelte Kraft erkennen
lassen.
Weicher ist die Oberfläche des Tierkörpers modelliert, seine leichte
Schräge betont die Strenge der menschlichen Haltung und belebt
zugleich die Gesamtfigur freundlich. Das Antlitz des Mannes ist von
einer edlen Allgemeinheit, ohne Tendenz zur Individualisierung, die
Haartracht konventionell, das Lächeln stereotyp, die Augen unna­
türlich groß und rund. Die Formen sind auf einen gleichmäßigen
Rhythmus angelegt, den Persönlichkeitszüge nur stören würden. Der
prototypische Ausdruck eines rituellen Vollzugs, nicht eine einzelne
Handlung ist gemeint.
Anders der >>Reiter Rampin<< (ca. 560- 550), äußerstenfalls eine
Generation jünger als der >>Kalbträger<< . Der Rumpf ist durch die
leichte Drehung in den Hüften in Bewegung versetzt und aus der
Mittelachse gerückt.20 Der Kopf drückt eine lebhafte Geste aus; ob-

20 Allerdings muss man berücksichtigen, dass dies eine Figur aus einem Reiter­
paar gewesen ist, das die Symmetrie als solche der Gruppe wahrte. >>Der Kopf
des Reiters ist - gegenüber der etwas steifen Haltung des Rumpfes - lebhaft
vorgeneigt und leicht nach links gewendet. Im Gegensatz dazu war die Kopf
des Pferdes nach dem Ausweis der Mähnenreste zur Rechten gedreht(... ) Der
Kopf ist in einfachen großen Formen angelegt, aber mit einer reichen Haar­
und Barttracht geschmückt ( ... ) Der Schnitt der Gesichtsformen verrät die
zugleich kraftvolle und feinfühlige Hand eines großen Meisters. Die schöne
Zeichnung der Ohren hält die Mitte zwischen lebendiger Gestaltung und
formelhafter Festlegung. Die Lippen scheinen sich leicht zu entfalten. Durch
Die Herausbildung der personalen Individualität 47

schon auch er nach dem strengen Bildungsgesetz des »Kalbträgers«


aufgebaut ist - nur mit reicherer Ausgestaltung des Haares21 -, erwe­
cken Drehung und Neigung den Eindruck, dass wir es mit einer per­
sonalisierten Gestalt zu tun haben. Das Stereotype der Formen öffnet
sich auf Eigenes. Die Koren der Peisistratiden-Zeit werden dieses
Eigene in den schwellenden Formen des Fleisches finden.22 Der
>>Reiter Rampin« entdeckt die Besonderheit des Mimischen. Lang­
lotz beschreibt die Veränderungen in der Auffassung des Menschen:
»Zwischen dem Kalbträger und dem Reiter Rampin liegt die Wand­
lung des attischen Menschen durch das Auftreten des Peisistratos. Es
gibt keine ganzen, gut vergleichbaren Gestalten. Aber selbst, wenn
man nur die Köpfe ins Auge faßt, wird sofort die knappe Körper­
lichkeit - deutlich auch am Rumpf - die prägnante Akzentuierung
aller Teile in der Gesamterscheinung, das Geschliffene der Wangen,
die Spannung der Gesichtszüge durch den zu einem vitalen Lächeln
sich verziehenden Mund und vor allem in den differenzierter gestal­
teten, der solonischen Biederkeit gegenüber schlauen Schlitzaugen
sinnfällig<< .23 Die Strenge des tektonischen Aufbaus ist gegenüber der
Säulenhaftigkeit des »Kalbträgers« schon durch Bewegung gelockert,
doch bleibt die klare blockhafte Absetzung der Körperregionen ge­
geneinander noch bewahrt. Der Körper ist als Körper entdeckt, aber
noch nicht als Träger einer Individualität, eines persönlichen Gestus.
Der gleiche Vorgang, der sich an den Werken der Großplastik
ablesen lässt, ist auch - sogar mit zeitlichem Vorsprung - in der Va­
senmalerei zu verfolgen. Der Kithara spielende Apollon von einer
Votivtafel aus Athen (2. Hälfte 7. Jahrhundert) ist bereits erkenntlich
individualisiert. Der schmale Mund mit dem bestimmten etwas her­
rischen Zug, die große geschwungene Nase mit den sensiblen Nüs­
tern, das energische Kinn bezeichnen eine deutlich charakterisierte

Emporziehung der Mundwinkel entsteht der leise lächelnde Ausdruck des


Gesichtes. Die schwellenden leicht umrandeten Augen geben einen Begriff
von dem starren archaischen Blick. In einer besonderen Weise sind bei diesem
Kopf große und einfache Grundformen mit der frischen, reichen Zier der
Einzelformen verbunden<< . Schuchhardt, ebd., TafelS und 6.
21 Vgl. Langlotz-Schuchhardt, ebd., Tafel4 und 6.
22 Vgl. ebd., Tafeln 7-22. In der Abfolge der Koren von 560-510 wird die In­
dividualisierung in den Abwandlungen der Gesichtsform und im wachsenden
Interesse an der variierbaren Gewandgestaltung deutlich.
23 Langlotz, ebd., S. XV.
48 Voraussetzungen

Einzelpersönlichkeit, »neue Fülle und Abrundung, neue kraftgela­


dene Mächtigkeit, auch neue W ärme der Gemütsentladung«.24
Die Malerei mit ihren Möglichkeiten bildhafter Erzählung kann
natürlich leichter noch als die Plastik die neue Stimmung indivi­
dueller Gefühlsbeziehungen und Empfindungslagen sichtbar machen,
wie sie in der Lyrik Ausdruck gefunden hat. Die Betroffenheit des
Herakles durch den Anblick der Iole beim Gastmahl des Eurytos auf
einem korinthischen Krater der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts
lässt an Sappho denken, ähnlich der Werbung eines älteren Mannes um
einen jungen Speerwerfer auf dem W ürzburger Krater des Phrynos.
Dass aus dem 6. Jahrhundert bereits die Namen der Vasenmaler, ihre
Signaturen oder auch die der Töpfer (zum Beispiel Nikosthenes, der
um 550 eine Werkstatt in Athen betrieb) überliefert sind, kennzeich­
net die neue Wertschätzung der Persönlichkeit. Und dem entspre­
chend wurden die pittoresken Reize des Alltagslebens entdeckt, wie
die Amphora mit den Olivenpflückern im British Museum (530-
510) mit den durchaus individualisierten Figuren zeigt.25 >>Nur noch
wenig archaische Steifheit prägt sich in den Gestalten aus; statt dessen
das sichtbare Bemühen, ihnen Individualität und L eben zu verlei­
hen.<< Sportszenen aus der Palästra gehören zum beliebten Reper­
toire der Maler der späten Archaik, und die einzelnen Wettkämpfer
treten jetzt nicht mehr als Exemplare einer Gattung, sondern als un­
terschiedene Personen auf: So etwa auf dem Berliner Kelchkrater des
Euphronios, auf dem die drei Jünglinge - ein sich entkleidender, ein
sich salbender und einer, dem ein Dorn aus dem Fuß gezogen wird -
durch Beschriften namentlich ausgezeichnet sind.26
Innerhalb weniger Jahrzehnte und noch im Zeitalter des Parme­
nides, des Xenophanes, des Zenon setzt sich die Freude an der indi­
viduellen Physiognomie, also das Selbstbewusstsein des Einzelnen

24 Ernst Buschor, Bilderwelt griechischer Töpfer, München 1954, S. 15.


25 Hans Diepolder, Griechische Vasen, Berlin 1947, S. 28 ff. >>Diese Gestalten
sind nicht beliebige Typen, sondern Persönlichkeiten des damaligen Athen,
inschriftlich bezeichnet: Hippomedon, Tranion und Lykos. Solchen jungen
Sportlern galt damals alle Liebe und Bewunderung, immer wieder erscheinen
sie, von den Vasenmalern gefeiert, in diesen Jahrzehnten in deren Bildern<< .
Und allgemein zieht Diepolder die Schlussfolgerung: >>Schon äußerlich ist be­
zeichnend, dass nun in den letzten Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts die my­
thischen Darstellungen mehr und mehr zurücktreten oder ihren Gehalt ins
Episodische und Menschlich-Bürgerliche wandeln<< .
26 Ebd., Abb. 17, S. 28.
Die Herausbildung der personalen Individualität 49

durch; sogar bis in die doch durch heraldische Abkürzungen und


Verallgemeinerungen bestimmte Münzprägung, wie etwa die lieb­
liche Arethusa auf den Demareteien des Gelon (479) zeigt. Wenn auch
zunächst der Eindruck des Persönlichen, Individuellen aus dem Be­
wegungseindruck gewonnen wurde, der der Formulierung des Mi­
mischen vorhergeht, so drängt doch in wenigen Jahrzehnten, viel­
leicht Jahren die Entwicklung darauf hin, die Individualität in der
Zeichnung des Gesichts selbst zu fassen: die Koren von der Akro­
polis entfalten dieses neue Bild des Menschen. In deren Abfolge von
560 bis 510 wird die Individualisierung in den Abwandlungen der
Gesichtsform und im wachsenden Interesse an der variierenden Ge­
wandgestaltung deutlich. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt können wir
den Fortschritt der Individualisierung verfolgen, genauer periodi­
sierbar als die sich überschneidenden Lebensdaten der Lyriker und
Philosophen, abgelöst von der über die Zeit sich erstreckenden Kon­
tinuität der Person, punktuell erkennbar im einzelnen Werk, das wie
ein Uhrzeiger auf die Stunde seiner Entstehung deutet und sie fest­
hält.
Folgen wir diesem Uhrzeiger! Die älteste auf der Akropolis von
Athen gefundene Kore stammt aus dem Beginn des 6. Jahrhunderts,
sagen wir um 590. Die Figur ist ungebrochen vertikal, der horizontal
angewinkelte linke Arm unterbricht die Vertikale nicht, sondern
fasst sie zusammen wie ein Gürtel oder Reifen. Das aufrechte Recht­
eck des gelenkten Unterkörpers verhält sich zum liegenden des Ober­
körpers in einer Proportion, die das Stehen betont. Der steil aufwärts
gestrafften Haltung wirken entgegen die herabhängenden Gürtel­
quasten, die nach unten ziehenden Gewandfalten, die Haarsträhnen
und vor allem die lockere Entspanntheit des rechten Arms. Die ab­
wärts strebenden Gegenbewegungen verleihen dem Stand der Gestalt
eine verhaltene Kraft. Ohne die geringste Andeutung von Skelett
oder Muskeln sieht man: Diese Frau trägt- nicht etwas, einen Krug
oder Korb, sondern in jenem übertragenen Sinne, in dem man von
einer tragenden Rolle spricht. Ihr Gegenüber ist die Göttin, der sie
Weihgaben bringt. In dieser Hinordnung ist ihre eigene Statuarik be­
gründet. Sie ist nicht Person, sondern steht für die Polisbürgerschaft,
die sie vor der Göttin vertritt.
Wir tun einen großen Sprung über ein halbes Jahrhundert hin­
weg. (Dazwischen ist der Platz des >>Kalbträgers«, den wir schon
besprochen haben.) Um 540 datiert die älteste Kore in ionischer
Tracht. Die eingezogene Taille teilt den Rumpf in zwei Blöcke. Das
50 Voraussetzungen

Stehen wird zum Herauswachsen aus den Hüften. Statt der Schul­
tern, die die durchhängenden Gewand- und Körperteile wie ein
Querbalken tragen, übernimmt hier die Unterpartie, vom Kleid zu­
sammengefasst, die Funktion der Stütze. Durch eine sanfte Wölbung
deuten sich die Oberschenkel an, die architektonisch empfundene
Gestalt der älteren Kore wird bei der jüngeren noch sehr zurück­
haltend ins Organische weiter geformt. Mit dem Anklang von Leib­
lichkeit erwacht im steinernen Sinnbild ein Moment von Prozess­
haftigkeit und Persönlichkeit. Das ist die Zeit, in der Anaximander
den Kosmos gemäß den Kategorien Dike, Adikia und Tisis begreift.
Dennoch bleibt die sich dem Quader entringende, sich rundende und
lockernde Gestalt an das archaische Formprinzip gebunden: Wie eine
Tempelsäule aus Trommeln geschichtet wird, so der Körper, Dreige­
stalt in Unterkörper, Oberkörper und Kopf. Doch eine Kore im do­
rischen Peplos von 530 setzt mit dem rechten Arm im Gelenk schon
zur Bewegung an, die Finger krümmen sich, sie scheint auf uns zu­
gehen zu wollen. Das Gespür für die Sprache des Körperkonturs, der
die Individuierung materialisiert, hat zugenommen. >>Meisterhafte
Beschränkung in der Formgebung auf das plastisch Wesentliche und
dessen feinste Differenzierung. Starkes Gefühl für plastisch ge­
schlossene Formen. Verzicht auf Auflockerung des plastischen Volu­
mens und Aushöhlung der Flächen. In allen Ansichten gleich voll­
endet, ist die Vorderseite hervorgehoben durch die beiden Quetsch­
falten an den Seiten und die Ausbreitung der Glieder in der Fläche.
Die Rückseite runder. Alle Konturen in zartem Ab- und Anschwel­
len. Alle Flächen in sphärischer Wölbung zueinander: Brüste, Bauch,
Einsenkung zwischen den Beinen. Feinste Abstufung im plastischen
Aufbau: schmale glatte Borte an der unteren Chitonkante, flächiger
im Aufstreben leicht geschwellter Unterkörper, stärker bewegter
Oberkörper, stärkere Schwellung der einrahmenden Arme, sachtes
Überleiten der auf die Oberarme fallenden schmiegsamen Haare
zum ovalen Kopf. Diese sachte Wölbung aller Massen und die Kur­
vatur der Geraden in ihrer belebenden Wirkung noch gesteigert
durch kaum auffällige Asymmetrien«.27 Die unmerkliche Auflocke­
rung der Form führt über zum Eindruck von Individualität.
Oben hat der Hinweis auf Anaximander an die Idee einer allge­
mein geltenden Ordnung oder Formbestimmtheit erinnert, die sich

27 Langlotz, a. a. 0., Tafel11.


Die Herausbildung der personalen Individualität 51

in anthropomorpher Anspielung aussagen lässt. Hier ist die Argu­


mentationsstruktur des Anaximenes zu vergleichen, die eher aus einer
Formparallele eine Analogie konstruiert, die zwei verschiedene Sätze
zur Einheit eines Gedankens verbindet; so werden hier zwei vonein­
ander unabhängige Materieblöcke durch kaum merkliche Bewegungs­
verschiebungen (Armlänge, Gürtel, Wulst über dem schnürenden
Gürtel) in eine Parallele versetzt, die sie zur Einheit zusammenfasst.
Wie der vom Peplos konisch vereinheitlichte Unterkörper als Sockel
das Oberteil trägt, so trägt das Oberteil als Sockel den Kopf. In der
Vertikalen von der Stirn herab bis zum Boden integriert sich die
Figur (wie die Säule vom Kapitell bis zur Basis).
Noch zehn Jahre weiter hatte sich das Formprinzip der Archaik
erschöpft. Was unter Beibehaltung der pfeilerhaften Tektonik an
Differenzierung und Belebung der Figur geleistet werden konnte,
war getan. In einem letzten Versuch, die Individualisierung der Ge­
stalt weiterzutreiben, war diese Aufgabe der Hülle zugefallen. Die
Behandlung der Gewänder, des Faltenwurfs, der Raffung, des Zier­
rats erlaubte die Nuancierung des stereotypen Grundmusters. Tiefe
Schatten bilden sich wechselnd mit dem Lichteinfall, schräge Linien­
führungen werden möglich. Aber je vielfältiger die Bekleidung aus­
gearbeitet wird, desto weniger Plastizität kann dem darunter verbor­
genen Körper zukommen. Die Individuierung der Erscheinung zog
den Verlust der Substanz nach sich. Der Kopf geriet in Gefahr, die
Einheit mit dem Körper zu verlieren und aus dem Gewand heraus­
zuragen wie eine Blume aus einer Vase mit dem Hals als Blütensten­
gel. >>Die drängende Vitalität ist gewichen, die Haltung entspannt,
fast müde. In der Tracht unterscheidet sich die Figur kaum von der
wenig älteren, nur der Duktus der Gewandfalten ist weicher, sanfter
und läßt die Wandlung im Fühlen für Körper und Stoff in dieser
Übergangszeit ahnen. Die Virtuosität der Gewandbehandlung kaum
zu überbieten.<<28
Gertrud Kantorowicz hat die nicht weiter verfolgte Beobachtung
gemacht, dass >>der leibliche Bau, das Gleichmaß des Festen und
Weichen, des Dauernden und Veränderlichen wie für den Körper
auch für die Gesichtsbildung entscheidend ist, dem kein schärferer
Akzent gefühlshaltiger oder individueller Züge ein Sonderrecht gibt.
Ja, nur im Grade der weicheren, bewegteren, lebendigeren Ausge-

28 Ebd., Tafel26.
52 Voraussetzungen

staltung des Körpers wächst auch die sondernde Verfeinerung der


Gesichtszüge, ihr Muskelspiel, ihre ausdrückende Kraft. Tritt die
Gestalt aus ihrer archaischen Starrheit und entfaltet die ersten ste­
reotypen Schreit- und Greifbewegungen, so regt sich auch das Ant­
litz zum stereotypen Lächeln, das genauso scheu neben der Reg­
losigkeit der übrigen Züge steht wie die Hebung des Armes, das
Vorsetzen des Beines neben der frontalen Ruhestellung des Rump­
fes. Es wäre möglich, die Geschichte der griechischen Plastik als eine
Geschichte dieser Proportionalität und ihrer immer erneuten Ab­
wandlungen zu schreiben (...) Man muß sich vergegenwärtigen, wie
einzigartig diese Art der Formgebung ist - Griechenland steht mit
ihr allein. Überall sonst in Bildender Kunst sind Gesicht und Körper
getrennt erfaßt.<<29 Äußerster Gegensatz sind >>die Statuen der Ägyp­
ter, wo neben die großartige Starrheit des Körpers die erschütternde
Lebendigkeit des Bildnisses tritt<< .30 Diese Beobachtung rückt das
Individualisierungsproblem in eine andere Perspektive. >>Wir sind
gewohnt das Gesicht als Träger seelischen Lebens zu betrachten und
zu werten. Das Eigenleben der Seele, ihr Durchbruch, ihr Sieg
kommen in ihm zum Ausdruck, das im Unterschied zum Körper die
reine Innerlichkeit des Menschen darzustellen vermag. (...) Das Ge­
sicht unbetont zu lassen, seine - für moderne Zeiten - eigentlichen
Kräfte ausschalten, heißt also, der Seele eine andere Stellung und
einen anderen Sinn geben, heißt ihre reine Innerlichkeit verschmä­
hen<< .31 In der Tat vollzieht sich die Bewusstwerdung des Indivi­
duellen in der Plastik nicht im Bereich des Physiognomischen (das
>>Charakteristische<< ). Es ist die Körperbewegung, in der sich das In­
dividuelle vom Typischen abhebt. (So wie wir unter einer Verkleidung
jemanden noch >>an seinem Gang« erkennen.)
Was in der Kunst sagbar und anschaubar wurde, forderte die Re­
flexion. Dass die Welt sich in dem zeigt, was sie in uns weckt,32 muss
als ein Verhältnis gedacht und bestimmt werden. Der Gebrauch der
Analogie, der von T hales bis Anaximenes der methodische Leitfaden
für den Entwurf eines nicht-mythologischen Weltbildes geworden

29 Gertrud Kantorowicz, Vom Wesen der griechischen Kunst, Heidelberg/Darm-


stadt 1961, S. 56 f.
30 Ebd.
31 Ebd., S. 57 f.
32 Zur Metapher des Weckens vgl. Volker Schürmann, Die Metapher des We­
ckens bei Josef König, TOPOS, Heft 7: Dialektik-Konzepte, Bonn 1996,
s. 49 ff.
Die Herausbildung der personalen Individualität 53

war, bedürfte der Erhellung des konstitutiven Prozesses, in dem die


Glieder der Analogie zur Deckung gebracht werden. Das ist nicht
mehr der Vergleich des Gleichnisses (wie bei Homer), sondern die
Gleichsetzung des Verschiedenen in der Abstraktion ihrer gleicharti­
gen Struktur. Bei Thales ist das Wasser das flüssige Element - so
sieht es Aristoteles (und noch Hegel wird im gleichen Sinne von der
>>Flüssigkeit« des Begriffs sprechen). Dass die Subjektivität in der
objektiven Erkenntnis eine vermittelnde Funktion einnimmt und also
das Ich als Ort und Medium des Verhältnisses (Logos) von Gegen­
stand und Begriff zu bedenken war, musste in dieser Form aus der
ionischen Naturphilosophie hervorgehen. In ihrer Methode manifes­
tiert sich das Selbstgefühl des Polisbürgers. Das Ausgreifen über die
lokalen Grenzen entsprach sich in der Gründung von Kolonien und
in der Konzeption eines Weltbildes. In einer »Enzyklopädie« empi­
rischen Wissens zieht Hekataios die Konsequenz,33 die philosophi­
sche Integration aus einem Prinzip wurde damit fällig.
Über die philosophische Reaktion auf das Bewusstwerden von
Individualität und Subjektivität bei den frühen milesischen Denkern
können wir nichts sagen. Die erhaltenen Fragmente sind zu wenige
und vor allem naturtheoretisch orientiert, als dass aus ihnen Schluss­
folgerungen zu ziehen wären. Wenn es richtig ist, dass Pythagoras
aus dem Orient die Lehre von der Seelenwanderung übernommen hat
(und dies nicht erst eine Zuschreibung aus späterer Zeit ist), dann ist
die Vorstellung von einer individuellen Seele impliziert. Aber das wis­
sen wir nicht zuverlässig. Die Nachrichten über die Reinkarnations­
lehre des Pythagoras sind spärlich und stammen zumeist aus späterer
Zeit; nur die von Xenophanes kolportierte Anekdote ist zeitgenös­
sisch und sie ist, wie Kirk richtig bemerkt, ein Scherz, der nichts über
eine ausgebildete Theorie aussagt, sondern ebenso eine private Ma­
rotte verulken kann. Immerhin würde es in die »geistige Situation der
Zeit« passen, wenn wir bei Pythagoras eine - wie auch immer ver­
worrene - Vorstellung von einem individuellen Selbst fänden. Man
kann Kirk zustimmen, wenn er als Vermutung zulässt, »daß es Py­
thagoras selbst war, der die Reinkarnationslehre in den Termini von
psyche, Seele, ausgedrückt hat. Platons Phaidon zeigt, was für ein
elastischer Ausdruckpsyche sein kann, indem er manchmal Lebens­
prinzip bedeutet, manchmal Geist, manchmal Selbst. Pythagoras be-

33 Zu Hekataios vgl. Enrico Moscarelli (Hg.), Ecateo di Mileto, Testimonianze e


Frammenti, Napoli 1999.
54 Voraussetzungen

zieht sich ersichtlich auf das wesentliche Selbst, die Person«.34 Kirk
widerspricht damit Stenzel, der zwar festhält: >>Die Seele wandert von
Ichzustand zu Ichzustand oder, was dasselbe ist, von Leib zu Leib;
denn die Einsicht, daß zum Ich der Leib gehört, war dem philo­
sophischen Instinkt der Griechen immer selbstverständlich.<< Aber er
relativiert dann das Ich: >>So wird auch nach der subjektiven Seite die
letzte Gegebenheit alles Daseins, das Ich, seiner Individualität ent­
kleidet und als eine Kraft aufgefaßt, die in allen möglichen Formen
sich lebendig darstellen kann und doch im Grunde etwas anderes ist
als dieses oder jenes einzelne Ich.<< 35 Dieser Deutung, die das Ich als
eine Art animistisches >>Mana<< von der Person ablöst, kann man
angesichts der prononcierten Individualität, die sich im lyrischen
Empfinden ausdrückt, gewiss nicht zustimmen -jedenfalls nicht in
philosophischer Reflexion, wenn sie auch in Mythos und Kultus der
Orphik und der Dionysos-Schwärmer religiöse Sektenform ange­
nommen hat, die zweifellos auf die späteren Pythagoräer abfärbte.
Auch der Wunsch, der von Ungerechtigkeit erfüllten Welt eine tran­
szendierende Gerechtigkeit entgegenzusetzen, wie Dodds meint, ist
sicher ein Element im Motivkomplex der Reinkarnation gewesen.
>>Moralisch gesehen bot die Reinkarnation eine befriedigendere Ant­
wort auf die spätarchaische Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit
als die Erbschuld oder die Bestrafung nach dem Tode in der jensei­
tigen Welt. Mit der wachsenden Emanzipation des Individuums aus
der alten Familiengemeinschaft, mit seinen zunehmenden Rechten
als gerichtlich geschützter Person begann die Vorstellung von der stell­
vertretenden Buße für die Untat eines anderen anstößig zu werden.
Wenn einmal das menschliche Recht anerkannt hat, daß man nur für
seine eigenen Taten verantwortlich ist, dann muß das göttliche Recht
früher oder später sich angleichen ( ... ) Und die ganze elende Fülle
des Leids, sei es in dieser oder in einer anderen Welt, war nur ein Teil
der langen Läuterung der Seele, einer Läuterung, die schließlich ihre
Erfüllung fand in der Lösung aus dem Kreis der Geburten und in
der Rückkehr zum göttlichen Ursprung. Nur auf diese Weise, und
nur in den Dimensionen einer kosmischen Zeitrechnung, konnte Ge-

34 Kirk!Raven/Schofield, Die Vorsokratischen Philosophen, Stuttgart!Weimar 1994,


s. 243.
35 Julius Stenze!, Metaphysik des Altertums, München/Berlin 1939, S. 42 f.
Die Herausbildung der personalen Individualität 55

rechtigkeit im vollen archaischen Sinne - die Gerechtigkeit also, daß


der T äter leiden soll- für jede Seele ganz realisiert werden.«36
Dazu passt, dass in der Entstehungszeit der bürgerlichen Polis, in
der Zeit der Tyrannis und des Übergangs zur Demokratie, der
Dionysoskult sich ausbreitete, von der Peripherie auf das Kernland
übergriff und von den antiaristokratischen politischen Führern ge­
fördert wurde. Die Formen, in denen zuerst die individuelle Psyche
einen öffentlichen Rang bekam, weisen auf einen plebejischen Ur­
sprung hin. Ich möchte die Annahme für plausibel halten, dass da
orientalische Einflüsse unter den allgemeinen Voraussetzungen, die
die Herausbildung individuellen Selbstbewusstseins begünstigten,
gräzisiert wurden. Der Übergang der Rechtsidee vom Nomos zur
Dike, die Konzentration personaler Vitalität von Thymos und Psyche
sind parallele Erscheinungen im gleichen Bedeutungsfeld.
Das neue Selbstbewusstsein des Einzelnen wurde philosophisch
reflektiert von Heraklit, dem als erstem das Ich zum Problem wurde:
>>ich habe mir nachgeforscht<< , sagt Frg. 101 und scheint damit nur
das Motiv der delphischen Weisung aufzunehmen und sich an die
Tradition der sieben Weisen anzuschließen.37 Aber in diesem Anklang
läge eher eine konservative Attitude; was Heraklit jedoch im Sinne
hatte, ging über die Tradition hinaus und lag auf einer Ebene mit den
Errungenschaften der Lyrik.
Die Lyriker hatten die Sphäre persönlicher Empfindungen, eine
nicht in Organfunktionen umsetzbare Innenwelt entbunden, die sich
nicht mehr gegenständlich und eindeutig formulieren ließ, sondern
den Zwiespalt der >>gemischten Gefühle<< erlebte und in sich aus­
tragen mußte.38 Dieser neue Erfahrungsbereich war nicht mehr mit
Bezeichnungen und Beschreibungen sprachlich zu erfassen, sondern
bedurfte einer evozierenden, andeutenden Bildersprache, die einen
Eindruck zu wecken suchte, auf den man nicht einfach hinweisen
konnte. So wurde die Metaphorik zum Instrument einer Weltaus­
legung, in die die Subjektvermittlung des Objektiven (wenn auch

36 Eric R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970, S. 85 f.


37 Nicht ohne Grund wird Heraklit, der sonst bissig über Zeitgenossen und
Vorgänger spricht, gerade den Bias gerühmt haben (frg. 39). Auch auf das hoi
pleistoi kakoi wird in frg. 104 angespielt. Altertümliche Weisheit ruft Heraklit
gern für sich an.
38 Siehe das ausdrückliche Bekenntnis Sapphos 46 D: >>Weiß nicht, was ich zu
tun; denn entzweit ist das Denken mir<< . Übers. Joachim Schicke!, Frankfurt
am Main 1978.
56 Voraussetzungen

gewiss nicht explizit) mit eingeht. Welterkenntnis wurde an Selbster­


kenntnis gekoppelt und darin das Problem der Einheit des Man­
nigfaltigen, des Grundes der Einheit gestellt. Diese Einheit wies sich
nun dadurch aus, daß sie als Reflex des Vielen im Geiste sich dar­
stellte. Die Vielheit der benannten Dinge- das Reich der Namen­
bezieht ihre Einheit von der Instanz, die als namensetzende die Welt
im ganzen umfaßt - vom Iogos. Heraklits Lehre (auf die wir später
ausführlich zurückkommen werden) lässt sich mit den Denkerfah­
rungen der ionisch-äolischen Lyrik verbinden. Nur da, wo die Sprache
schon sich selbst zum Gegenstand geworden war- wie es die Kunst­
l yrik impliziert -, ist der Übergang von der Seinslehre der Milesier
zur Logos-Lehre Heraklits möglich (s. u.). Das Misstrauen gegen die
bloßen Namen, das Heraklit mit Parmenides teilte,39 auf dem glei­
chen Boden der Sprache zu überwinden, setzte einen hohen Refle­
xionsgrad voraus, der mit kunstvoller Sprachübung zusammenhängen
mochte. Bruno Snell hat gezeigt, wie im Sprachgebrauch Heraklits
der Wortsinn umkippt von einer Bedeutung in ihr Gegenteil, wie
Heraklits Formulierungen auf das Zusammenfassen von Gegensät­
zen ausgehen, die nur in ihrer Vereinigung sich beruhigen, getrennt
aber über sich hinausdrängen: flE'I:aßaMov avanauam- umschla­
gend kommt es zum Stillstand (B 84 a); die Verbindung des Verbs
mit dem Partizip stellt die Verbindung der Gegensätze zu einem
einheitlichen Ausdruck her. Solche Konstruktionen zeigen, wie Hera­
klits Sprache - auf begrifflicher Ebene das einholend, was die Lyrik
für das Gefühl geleistet hatte - aus einer Gespanntheit lebt, die dem
Epos noch fremd war.
Wie eng eine dialektische, das heißt auf die konkrete und wider­
sprüchliche Besonderheit von Situationen ausgehende Begrifflichkeit
auf das Bild angewiesen ist, um sich deutlich zu machen, mag das
Frg. 31 erhellen: >>Feuers Wende: zuerst Meer; des Meeres eine Hälfte
Erde, die andere flammendes Wetter. Das Meer zerfließt und erfüllt
sein Maß nach demselben Sinn, der auch galt, bevor es Erde wurde«.'0
Der Übergang des einen in das andere, sein Gegenteil, ist hier
gemeint. Die Sonne erreicht den Horizont und damit die Grenze, an
der sie sich wendet zu neuem Lauf: Indem sie untertaucht, verlischt
sie, um am folgenden Morgen emportauchend wiederaufzuflammen -
dies der Gleichnissatz für den ewigen Naturrhythmus am Schluß

39 So überzeugend Bruno Snell, Gesammelte Schriften, Göttingen 1966, S. 141.


40 Zur Übersetzung vgl. Snell, ebd., S. 134.
Die Herausbildung der personalen Individualität 57

von Frg. 30: >>immerlebendes Feuer, aufflammend nach Maßen und


verlöschend nach Maßen<< ; an diesen Satz schließt ·sich illustrierend,
klärend Frg. 31 an. Zuerst springt das Sonnenfeuer auf das Meer über,
die untergehende Sonne lässt das Wasser flammend rot erscheinen.
Das Meer aber reflektiert das Licht (verfärbt ins Purpur - durch das
>>trübe Mittel<< , wie Goethe gesagt haben würde) - zur Hälfte aufs
Land, dessen weiße Felsen rötlich erglühen, zur anderen Hälfte auf
den Himmel, der sich wie im Brande verfärbt; Glut überall, die auf­
gesogen wird von den Elementen, von Erde und Luft, bis das Feuer
ganz in ihnen aufgegangen ist.
Das Bild beschreibt den Sonnenuntergang an der Aegäis; von
einem Kap aus blickt der Betrachter aufs Meer und den Küstenstrei­
fen. Aber die Wiedergabe des alltäglichen Naturereignisses ist durch
die Archaik der Sprache, die auf jedes Verbum, selbst die Kopula
verzichtet, ins Gleichnishafte versetzt. Ein einziges Wort enthält nur
Bewegung: '!:Q07TTJ - die Wende, und auch hier ist weniger ein Pro­
zess als ein plötzlicher Umschlag an einer Grenze, der Horizont­
linie, gemeint. Das Meer nimmt das Feuer auf, behält es aber nicht,
sondern gibt es geteilt weiter. Alle Elemente, die das Feuer empfan­
gen, stehen im Nominativ, als Prädikatsnomina. So erhält der Satz
eine schwere Statuarik, alle Satzglieder ruhen in sich, aus einer Na­
turschilderung wird ein Symbol für den Kreislauf des Kosmos, für
die Einheit der Elemente: eins geht ins andere über.41
Das Bild denkt also wieder die Verfassung des logos, allerdings
identisch mit der des Kosmos. Aber der Terminus Kosmos kommt
bei Heraklit sehr selten vor, und nur an dieser einen Stelle in schein­
bar emphatischem Sinne als >>Weltordnung<< . Und auch hier geht es
um den logos, wie der Schlusssatz des Fragments ausweist. Denn
dass das Meer zerfließt, indem es sein Feuer an Himmel und Erde

41 Hier könnten Vorstellungen von Ana.ximenes nachgewirkt haben. Dass ein


Element ins andere übergehe, kommt bei Anaximenes vor; aber Heraklit lässt
den naturwissenschaftlichen Gedanken, diesen Übergang durch quantitative
Veränderungen des Urstoffs zu erklären, wieder fallen. Ihn interessiert nicht
die Genesis der Elemente, sondern die qualitative Einheit der Gegensätze. Er
gibt keine kosmologische Erklärung, sondern ein metaphysisches Prinzip.
Von frg. 31 her fällt dann auch ein Licht auf frg. 90: Feuer ist der Titel für ein
universales Äquivalent.
58 Voraussetzungen

abgibt, ist eher eine ontologische als eine kosmologische Aussage!2


Und der Iogos, um den es geht, ist doch wieder derselbe, den der
Mensch auch in sich findet. Die Philosophie Heraklits ist nicht, wie
die der Milesier, Naturphilosophie und Kosmologie. Sie ist Welter­
kenntnis durch Selbsterkenntnis; und Selbsterkenntnis ist die Ent­
deckung des Logos als des »Zusammenhaltenden« in der Welt.
Dass er sich selbst nachgeforscht habe, ist also nicht ein Bekennt­
nis Heraklits, das sich im Umkreis des Spiegel-Gleichnisses, halten
würde, welches Bias gebraucht: >>Sieh in den Spiegel wenn du schön
aussiehst, mußt du auch Schönes tun; wenn häßlich, mußt du den
Mangel der Natur durch Edelsein ausgleichen<< .43 Solcherart Selbst­
erkenntnis hatte wohl auch zunächst das delphische yvwSt aav'r6V
gemeint. Bei Heraklit aber geht es darum, was wohl dieses >>Selbst«
sei, das die alte Sprache des Epos noch ganz unemphatisch, gleich­
sam als Bestätigung des Personalpronomens, gebrauchte und von
dem die Lyriker nun so dezidiert zu sprechen begonnen hatten. Der
Ausbruch der Subjektivität hatte die fraglose Ich-Identität des Epos
ins Zwielicht gerückt - es war erfahren worden, dass Gefühle zwie­
spältig sein, Menschen mit sich selbst in Widerstreit geraten konn­
ten!4 Dies alles wird nun von Heraklit auf den Begriff gebracht, das
heißt auf Metaphern. Deren bedeutungsvollste, durch die überhaupt
der Bereich des Seelisch-Geistigen definiert wurde, ist in Frg. 45
formuliert: >>Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, auch
wenn du gehst und jede Straße abwanderst; so tief ist ihr Sinn«!'
Hier geht Heraklit über das bisherige, an der Organqualität des

42 Der Vorgang in frg. 31 wird in frg. 90 noch einmal abstrakt ausgesprochen:


>>Das was ist, zerstreut sich und tritt zusammen, es geht heran und es geht
fort«.
43 Bias, zitiert nach Leben und Meinungen der sieben Weisen, hg. von Bruno
Snell, München 1944, S. 96. V gl. auch Alkaios 104 D: >>Ein Spiegel ist der
Wein den Menschen«.
44 V gl. Snell, Die Entdeckung des Geistes, a.a.O., S. 33 ff.
45 Tief und flach, tiefgründig und oberflächlich sind zu feststehenden Prädika­
ten des Denkens geworden, die zugleich die Subjekt-Qualität des Denkenden
und Fühlenden charakterisieren. Sie geben den Sinnesbereich an, aus dem die
Verfassung der mentalen Region gedeutet wird: die Raumerfahrung. Ausdrücke
wie hintergründig und vordergründig, Begriffsumfang und Begriffsinhalt,
Enge und Weite des Denkens, >>sich im Denken orientieren<< usw. entstam­
men alle dieser Metaphernsphäre. Es würde einen wesentlichen Unterschied
ausmachen, ob man einen Gedanken als eng oder weit oder ob man ihn als
grau oder bunt bezeichnete.
Die Herausbildung der personalen Individualität 59

Suf-16� orientierte Denken hinaus, wie es bei Homer formuliert war.


>>Diese Vorstellung von der Tiefe der Seele ist uns geläufig, und in ihr
liegt etwas, das einem körperlichen Organ und seiner Funktion
wesensfremd ist; zu sagen: jemand hat eine tiefe Hand, ein tiefes
Organ, ist widersinnig, und wenn wir von einem >tiefen< Auge spre­
chen, so bedeutet das etwas ganz anderes (das geht auf den Aus­
druck, nicht auf die Funktion). Dies Bild von der Tiefendimension
ist erfunden, um gerade das Charakteristische des Seelischen zu be­
zeichnen, dass es seine eigene Dimension hat, daß, es nicht räumlich,
nicht extensiv ist, obwohl wir notwendig eine räumliche Metapher
gebrauchen, um dies Unräumliche zu bezeichnen. Daß die Seele in
das Unendliche geht, gerade zum Unterschied vom Körperlichen,
will Heraklit ausdrücken<<:6 Sprachlich knüpft Heraklit dabei (wie
F. Zucker und B. Snell gezeigt haben) an die Lyrik an, die in Über­
nahme homerischer Wortbildungen [3QaXt)(pQWV und [3QCXXUf.lTJ'l:TJ�,
tiefsinnend und tiefdenkend, neu eingeführt hat und damit die ho­
merische Auffassung grundsätzlich verschob. Denn bei Homer hieß
es noi\vcpQWV und noi\Uf.lTJ'l:TJ� - vielsinnend und vieldenkend. Die
Sprache des Epos benennt geistige Phänomene noch quantitativ,
nachepisch ist die Entdeckung, dass es lntensitäten gibt.
Diese aber sind es, an denen das Ich sich als unterschieden, als ein
qualitativ Besonderes erfährt. In seiner Art hebt es sich von den
anderen ab - >>die eigene Art ist des Menschen Daimon<< (Frg. 19)
flSo� avSQ071CjJ ÖCXLf-LWV. Ethos ist ursprünglich der gewohnte Auf­
enthaltsort, das Bewohnte und Gewohnte, daraus abgeleitet die Eigen­
art.47 Das, worin der Mensch sich aufhält, macht seinen Personen­
charakter aus, Vaterhaus und Vätersitte, Landschaft, Volk und Brauch;
er ist Exponent einer Gruppe, eines Typus, wie die homerischen
Helden, wie Hesiods habgieriger Bruder, wie Hesiod selber. Heraklit
macht daraus eine Metapher: das, worin einer sich aufhält, ist die
Atmosphäre, der Eindruck, den seine Mimik und Gestik, sein Ver­
halten und seine Leiblichkeit machen; in ihnen drückt sich sein
>>Wesen<< , sein >>Charakter<< aus. Wer griechische Statuen gesehen hat,

46 Snell, Die Entdeckung des Geistes, a. a. 0., S. 32.


47 Snell, Gesammelte Schriften, a.a.O., S. 138. Ebd., S. 137 wird darauf hinge­
wiesen, dass Pindar schon dicht an die Bedeutung von Ethos, wie Heraklit sie
gebraucht, herankommt, aber dann doch den Übergang zum Selbstbewusst­
sein noch nicht vollzieht: ihm wird sein Ethos von Zeus gegeben, es ist Aus­
fluss der Wirkung des Gottes; bei Heraklit tritt es an die Stelle des Gottes.
60 Voraussetzungen

versteht, was gemeint ist; um den Körper legt sich gleichsam ein ima­
ginärer Raum, der von der Figur ausstrahlt, von ihrer Haltung er­
zeugt wird.48 Dieses Ethos also, in dem angeschauter Habitus und
seelische Haltung zu einem Begriff zusammenfließen, ist des Men­
schen daimon, also der unbestimmte, namenlose Gott, der ihn treibt
und der ihm sein Schicksal gibt. Jetzt erst kann sinnvoll von Selbst­
erkenntnis gesprochen werden, denn nun gibt es erst dieses >>Selbst«,
auf das Erkenntnis sich rückwendet und das sie, in dieser Rück­
wendung, konstituiert, indem sie seine Eigenart sich bewusst macht.
Darum sind Selbsterkenntnis und verständiges Denken gekoppelt:
>>Den Menschen ward allen zuteil, sich selbst zu erkennen und ver­
ständig zu denken« (Frg. 116). Ohne sich selbst erkannt zu haben,
bleibt auch die Welt unbegriffen und fremd, vor allem die Men­
schenwelt (um die es Heraklit doch vor allem geht), deren Gemein­
sames (koinon) ich in mir, in meinem Iogos finde und aussage, sodaß
es sich als Gemeinsames herstellt und bewährt.
Ich folge Snell, der überzeugend dargetan hat, dass Heraklits
Sprache - ob sie metaphorisch das Unsinnliche zu fassen versucht,
ob sie unmittelbar den Sinneseindruck wiedergibt - eine Empfin­
dungssprache ist, die sich vom Eindruck auf den Sinn bringen lässt,
die mit Einfühlung operiert.49 Darin bekundet sich die Entdeckung
des Selbst, dass die Dinge nun nach Art meines Ich-Erlebnisses ver­
standen werden; ja, die Erkenntnisweise und Problematik des Ver­
stehens, die ja auf der virtuellen Hereinnahme des anderen in mich
beruht, kommt hier erstmals auf: Subjektivität besinnt sich auf sich.
Das aber, was ich an Unsinnlichem, >>Seelischem<< , >>Geistigen« er­
fahre, kann ich nicht direkt - durch Aufzeigen - mitteilen, sondern
nur indirekt - durch Evokation. Aus dem Bedürfnis der personalen
und nicht bloß sachlichen Kommunikation entsteht die metapho­
rische Rede.50 >>Wie Empedokles ist auch Heraklit auf etwas aus, das
nicht sichtbar ist, das aufgewiesen werden muß, aber während die
Gleichnisse des Empedokles gewissermaßen über die Bildersprache

48 Auch wir gebrauchen eine Raummetapher, wenn wir davon sprechen, dass je­
mand >>in den Bannkreis einer Persönlichkeit<< gerät.
49 Snell, Gesammelte Schriften, a.a.O., S. 132: >>Wenn man die Heraklitschen
Fragmente aufmerksam durchliest, ist man überrascht, wie stark alles, was er
sagt, wirklich auf eigner Empfindung beruht. Gar zu leicht überhören wir,
wie sehr seine Worte von dem Erleben ihre Kraft erhalten und sind immer ver­
sucht, seine Gegenüberstellungen nur als logische Gegensätze aufzufassen«.
50 Snell, Die Entdeckung des Geistes, a. a. 0., S. 210 f.
Die Herausbildung der personalen Individualität 61

hinausweisen, da der im erklärenden Bild und im erklärungsbedürf­


tigen Vorgang identische Prozeß noch gerrauer im physikalischen
Gesetz zu fassen ist (wozu die Griechen allerdings kaum vorge­
drungen sind), ist das, was Heraklit sagen möchte, prinzipiell nur im
Bilde zu sagen. An Heraklit verstehen wir, in welchem Sinn es >ur­
sprüngliche< Metaphern gibt«.51 Und insofern geht Heraklit dann
auch über die Sprachwelt der Lyrik hinaus, er hebt die Empfindung
auf die Ebene des spekulativen Begriffs, die Metapher ist ihm der
sprachliche Ausdruck dessen, dass eins alles ist, wie es Frg. 50 nach­
drücklich statuiert.52 Und darum ist über das Seiende nur im Zeichen
zu sprechen, weil es in Einzelheiten zerfällt, gerade diesen seinen aus
den universalen Zusammenhang entspringenden Sinn nicht hergibt.
Die Seele entdeckt ihn in sich, das Subjekt vermittelt im bedeuten­
den, metaphorischen Sprechen die Weltmannigfaltigkeit zu einem
Ganzen. Aus der Entdeckung der Subjektivität entspringt die onto­
logische Frage nach den Bedingungen, der Einheit des Seins.

51 Ebd.
52 Heraklit frg. B 50: Nicht auf mich, sondern auf den Logos hörend, ist es weise
zu sagen: Eins ist Alles.
3. Kapitel:
Der Aufstieg der Polis

Vom 8. bis zum 6. vorchristlichen Jahrhundert entwickelten sich zu­


nächst die an den kleinasiatischen Küsten und auf den Inseln des
ägäischen Meeres gelegenen griechischen Städte, wenig später ihnen
folgend dann Korinth auf der für den Verkehr wichtigen Landenge
zwischen dem Festland und dem Peleponnes und schließlich die
sizilischen Kolonien zu Zentren eine ausgedehnten Fernhandels, der
durch die Gründung von Tochterstädten und Handelsniederlassun­
gen (Emporien) im ganzen Mittelmeerraum systematisch erweitert
wurde. Die günstige Lage der ionischen Städte, die für das hoch ent­
wickelte asiatische Hinterland ein Tor zum Mittelmeer darstellten,
ermöglichte den Übergang von bloß kleingewerblichen Handwerks­
betrieben zu größeren, exportierenden Produktionsstätten einerseits
und Kauffahrteiunternehmen andererseits.'
Die Träger dieser neuen, städtischen Produktionszweige erwuch­
sen wohl im Umkreis der Gemeinfreien, die die Hauptmasse der
Handwerker stellen mochten/ und der aufgeschlosseneren, fort­
schrittlichen Teile des Adels, die die Beutezüge in die Ferne mit Han­
delsunternehmungen zu vertauschen bereit waren. Zuwanderer aus
dem kleinasiatischen Hinterland, meist wohl vornehme Kaufherren,
verbanden sich mit dieser Schicht, regten sicher auch die Unterneh­
mungslust griechischer Aristokraten an. Hervorragende Namen grie­
chischer Stadtbürger sind kleinasiatischer Herkunft, so Pittakos, T ha­
les, Kleobulos,' und dass gerade zwei der bedeutendsten Tyrannen
darunter sind, die auch zu den Sieben Weisen zählen, wirft ein Licht
auf die Bedeutung der kleinasiatischen Mitbürger der ionischen Städte.

Nur wenige dieser Städte haben größeren Umfang gehabt; aber strukturell
unterscheiden sie sich klar von den gemeindeförmigen Poleis, die sich um die
Adelssitze geschart hatten.
2 Diese waren ja auch die Träger der neu aufkommenden Wehrverfassung, des
Hoplitensystems, und hatten, in Naukratien organisiert, für die Flotte zu
sorgen.
3 Werner Jaeger, Paideia, Bd. I, Berlin 1936 (41954), S. 96.
Der Aufstieg der Polis 63

Eine neue Schicht kommt hier auf, die nicht nur politisch zur
Macht drängt, sondern auch ein neues Bewusstsein vom Wesen und
der Funktion der Gemeinwesen entwickelt. Die Produktion der
agrarischen Polis beschränkte sich weitgehend auf die Bedürfnisse
des eigenen Lebensunterhalts; sie war bloße Subsistenzwirtschaft, aus­
wärtiger Tauschhandel diente allenfalls der Beschaffung einiger Luxus­
güter für die aristokratischen Herren. Händler kamen aus Kreta und
Ägypten, in lonien aus Kleinasien, die Griechen selber betrieben
zumeist ihre Unternehmungen mehr als kriegerische Beutezüge gegen
die benachbarten Küsten. Das wurde nun anders. Die Handwerker
in den Städten richteten sich auf die Erzeugung von Gütern zum
Tauschhandel ein, Warenproduktion setzte ein, und bald kam der
Warenumschlag hinzu. Daraus entsteht das Bedürfnis nach abstrak­
ten Wert- und Maßverhältnissen: Maß- und Gewichtsnormen wer­
den eingeführt (und die städtischen Behörden haben sie zu garantie­
ren), gegen Ende des 7. Jahrhunderts werden Münzprägungen vor­
genommen, aber erst gegen 600 werden die Münzen durch charakte­
ristische Bilder als Prägung einer bestimmten Stadt ausgewiesen, die
dann auch die Verantwortung für den Zahlungswert übernimmt: Are­
thusa ist das Zeichen von Syrakus, die Eule der Athena ein Zeichen
Athens.' Aus Samos, Milet, Ephesos haben wir sehr früh solche
Stadtmünzen, die bekunden, dass die Polis nun die Organisations­
ebene des Handels wird; Korinth zieht mit eigener Prägung - ab 550
Silber-Statere mit dem Pegasus im Wappen - nach, bezeichnender­
weise als erste unter den Städten des Mutterlandes; in Athen ist die
eigene Münzprägung eine Errungenschaft erst der nachsolonischen
Zeit: sie beginnt um 570 und wird systematisch von Peisistratos be­
trieben, der sich den Reichtum der Silbergruben von Laurion am Kap
Sounion zunutze machte.5 Die Konsolidierung der Städte als Zentren
des Fernhandels lässt sich ziemlich genau am Beginn eigener Münz­
prägungen ablesen. Es zeigt sich, dass dieser Prozess durchgängig im

4 Vgl. R. P. Franke/M. Hirmer, Die griechische Münze, München 1964.


5 Da der Geldwert der Münzen von ihrem Edelmetallgehalt abhängig war, be­
deutete die Verfügung über Silbergruben oder Goldvorkommen einen Reich­
tum der Polis, der sich in ihrer gesamten Ausgabengebahrung spiegelte. Die
berühmte soziale Freigiebigkeit Athens- vgl. Fritz Wehrli, Hauptrichtungen
des griechischen Denkens, Zürich/Stuttgart 1964, S. 102 f.- hängt mit seinen
schier unerschöpflichen Silberreserven zusammen, die ausreichten, um die athe­
nische Währung im gesamten Mittelmeerraum durchzusetzen.
64 Voraussetzungen

6. Jahrhundert abgeschlossen ist, am frühesten in Ionien und auf den


Inseln, am spätesten auf dem Peleponnes.
Mit dem Übergang zur Geldwirtschaft ergeben sich für die Polis
neue Probleme des Gemeinschaftslebens: Anhäufung individueller
Reichtümer wurde möglich, zugleich aber auch in weit gravierende­
rem Maße als zuvor Verschuldung und Verarmung.6 Der Polis stellte
sich die Aufgabe, in der städtischen Gemeinschaft eine funktions­
fähige Basis für die neuen Formen der Erwerbstätigkeit zu errichten.
Das Verhältnis von individuellen Gewinnen und öffentlichen Lasten
wurde komplizierter je zahlreicher die Stadtbevölkerung wurde und
je größer die Abhängigkeit der Einzelnen voneinander im arbeitstei­
ligen Gesellschaftsaufbau war.
Christian Meier' hat am Beispiel Athens diese Entwicklung zum
Polis-Geist eindrucksvoll geschildert. Der Aufstieg Athens zur ägäi­
schen Großmacht stellt in der Tat einen ausnehmend besonderen Fall
von politischer Organisation der Stadt- (oder wenn man will: Staats-)
gemeinschaft dar; aber auch den spätesten. Die reichen Zeugnisse aus
Literatur und Kunst und die paradigmatische Rolle für die Ausbil­
dung des Begriffs von Demokratie8 verführen dazu, die Aufmerksam­
keit vor allem auf diesen Brennpunkt des Geschehens und seinen
Gegensatz zu Sparta zu richten. Meier erliegt dieser Verführung und
kann diese Fokussierung insofern rechtfertigen, als er das Wesen der
athenischen Polis in methodischer Beschränkung auf die >>Mentali­
tätsgeschichte<< zu erfassen versucht. 9

6 Die solonischen Gedichte weisen die daraus entstehenden sozialen Spannun­


gen am Übergang von der bäuerlichen zur gewerblichen Produktionsweise
aus. Werner Jaeger hat an verschiedenen Stellen, Paideia l, a.a.O., passim, die
Geldwirtschaft als Grund der Umwälzungen im spätarchaischen Griechen­
land herausgehoben und den Wandel vom aristokratischen zum bürgerlichen
arete-Begriff aus den neuen Formen des wirtschaftlichen Verkehrs (nicht der
Warenproduktion, die doch der Geldwirtschaft vorhergeht) abgeleitet. Er ist
in dieser Hinsicht zu ergänzen.
7 Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1993.
8 Es ist dabei immer im Auge zu behalten, dass die antike Demokratie eine von
Grund auf andere Verfassungsform ist als die moderne, aus der bürgerlichen
Aufklärung erwachsene.
9 Innerhalb dieser Grenzen führen Meiers Analysen (a.a. 0., passim) zu erhel­
lenden Einsichten; dass er diese häufig in die Form von Fragen kleidet, macht
den hypothetischen Charakter solcher Rekonstruktionen von Bewusstseins­
lagen deutlich. Siehe auch Christian Meier, Die politische Kunst der grie­
chischen Tragödie, München 1988.
Der Aufstieg der Polis 65

Der späte Eintritt Athens unter die gestaltenden Kräfte Griechen­


lands ist jedoch ein Indiz dafür, dass die Umwandlung der gesell­
schaftlichen Basis sich schon früher und nicht nur dort vollzog.
Korinth war vor Athen das Zentrum der für den Handel bestimmten
Keramik-Waren und ein wichtiger Umschlagplatz für den Export,
korinthische Gefäße finden sich nicht nur in Unteritalien, sondern
verbreitet auch im etruskischen Siedlungsgebiet.10 Hier trug eine Schicht
von Handwerkern die politische Bewegung, die die Adelsherrschaft
ablöste. In Kleinasien waren Milet und Ephesos die Scharniere für
den Handel mit dem vorderen Orient, in denen sich eine reiche
Kaufherrenschaft ausbildete, die schnell die lokale Aristokratie ab­
sorbierte; die große Zahl der von Milet aus ausgehenden Pflanzstädte
macht die Bedeutung der Mutterpolis kenntlich. Der Bogen reicht
dann hinüber nach Sizilien und Großgriechenland, wo uns die rie­
sigen Tempelbauten von Selinunt, Agrigent und Paestum den Rang
und Reichtum griechischer Gemeinwesen, die sie in Konkurrenz
und Krieg mit den Phöniziern durchsetzen mussten, noch heute sicht­
bar vor Augen führen.
Von Athen her wäre die Geschichte der Vorsokratischen Philoso­
phie gar nicht zu schreiben. Von T hales bis Heraklit, von Pythagoras
bis Empedokles müsste die Philosophie zurück in die Archaik ver­
bannt werden und ebenso die große Lyrik - Archilochos, Alkaios,
Sappho, Alkman. Ein Begriff von der strukturbildenden Idee des
klassischen Griechenlands muss früher als in Athen ansetzen, wenn
sie auch zu Athen hinführt. Das heißt, wir dürfen auch die Vorstel­
lung von der Polis nicht ausschließlich an der athenischen Demokra­
tie orientieren, sondern sie als Ausdruck einer gemeingriechischen,
aber eben auch spezifisch griechischen Stufe der Gesellschaftsent­
wicklung verstehen. Hesiod tritt uns als Repräsentant einer agrari­
schen Welt entgegen, die sich weltanschaulich, noch nicht politisch,
gegen die Willkür der Adelsherrschaft auflehnt und einen Normen­
wandel herbeiführt, der sich nicht auf den Weiden des Helikon,
sondern in den Häfen der Städte auswirkte. Hesiod und die seinem
Denkstil parallele Sentenzenweisheit sind noch Dokumente später

10 Es gibt verbreitet itala-korinthische und etrusko-korinthische Abkömmlinge


der heimischen Produktion. Zur korinthischen Keramik als stilbestimmend im
7. Jahrhundert (bis Mitte des 6. Jahrhunderts) vgl. Ernst Buschor, Griechische
Vasen, München/Zürich '1969, S. 25 ff.
66 Voraussetzungen

Archaik und schon Dokumente einer neuen Zeit. Sie markieren eine
Epochenschwelle.
Die Wende zu einem neuen Gesellschaftstypus geschieht aber erst
mit der Urbanisierung der Poleis, die bis dahin ja nur Zentren loka­
len Verkehrs und Tauschs und Sitz des örtlichen Aristokraten, eines
oder einiger weniger Großgrundbesitzer waren. Die Szene des grie­
chischen T heaters mit den drei Zugängen - in der Mitte der Palast,
auf beiden Seiten die Stadt und die Fremde - bezeichnet diese poli­
tische Topografie. Was geschieht, ereignet sich vor der Palastfront, es
ist ein Spiel der Herren. Im Chor sprechen eleutheroi, die freien
Gemeindebürger, unter denen man sich Mittelbauern in der Art des
Hesiod, wohl auch freie Kleinbauern vorzustellen hat. Halbfreie,
Knechte und Sklaven (damals noch wenige) kamen nicht vor.
Das ändert sich von Grund auf, als Handel und Kolonisation
eine wachsende Bedeutung bekommen. In den zum Meer gewandten
Städten hieß das Schifffahrt. Was Meier von Athen schreibt, gilt na­
türlich auch für die anderen Poleis: >>Die ganze Stadt muß sich da­
mals verwandelt haben. Nicht nur die Schiffe, auch die Werften waren
zu bauen. Unmengen Materials heranzuschaffen. Fachleute teils her­
beizuholen, teils auszubilden. All das in größter Eile. Man vollbrachte
eine organisatorische Leistung größten Stils.«11 Handel setzt, wenn
er nicht nur Warenumschlag ist, eine Produktion voraus, die über den
eigenen Verbrauch hinausgeht. Von Samos wissen wir, dass dort Me­
tall- und Wollverarbeitung einen überragenden Ruf genossen12 und
also auch die dazu nötigen Geräte hergestellt wurden. Nilsson weist
darauf hin, dass im 6. Jahrhundert ganz bestimmte standardisierte
Produkte in der Keramik auftauchen, >>die für die Massenproduktion
typisch sind<< .13 Handel und Gewerbe, keineswegs sozial geachtet,
überließen die freien Gemeindebürger den Metöken, die nun Reich­
tum erwerben und Einfluss, wenn auch keine politischen Rechte ge­
wannen. Mehr und mehr wurden in den Werkstätten, im Transport
und als Schiffsbesatzungen Lohnarbeiter benötigt, die sich aus den
Armen der freien Bürgerschaft rekrutierten, wobei die Stadtbevöl­
kerung Zustrom aus den zugehörigen umliegenden Landbezirken

11 Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, a. a. 0., S. 17.
12 P ercy N. Ure, Der Ursprung der Tyrannis, in: Konrad H. Kinzel (Hg.), Die
ältere Tyrannis bis zu den Perserkriegen, Darmstadt 1979, S. 5 ff.
13 Martin P. Nilsson, Das Zeitalter der älteren griechischen Tyrannen, ebd., S. 74 ff.,
hier S. 87.
Der Aufstieg der Polis 67

erhielt. Eine neue Struktur werktätiger Schichten bildete sich heraus.


Die in einer aristokratischen Kultur vorherrschenden Abneigung ge­
gen körperliche Arbeit und deren Minderbewertung entsprach nicht
mehr dem Lebensgefühl der Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit
den Reichtum der Städte schufen und die auch für lebenswichtige
große Gemeinschaftsaufgaben, wie den Bau von Kanälen und Was­
serleitungen, unentbehrlich waren. Hesiod wäre nicht neben Homer
und sogar vor ihm zur politischen poetischen Instanz geworden, hätte
sein Arbeitsethos der Einstellung der Menschen nicht entsprochen.
>>Man bejahte die W ürde der körperlichen Arbeit, anstatt sie zu leug­
nen ( ... ) Eine neue Wertschätzung der körperlichen Arbeit, die den
Verhältnissen des neuen Zeitalters- freie Arbeiter- entsprach, setzte
sich durch«.14
Mit der Organisation und Systematisierung quasi industrieller
Arbeit wuchs auch das Bedürfnis nach Kenntnissen, vor allem von der
materiellen Natur, und der weltanschauliche Wunsch nach zusam­
menfassenden Erklärungsmustern. >>Es ist kein Zufall, daß zur glei­
chen Zeit in lonien die Naturphilosophie entstand. Zwischen der
Weltkonstruktion der Philosophen und den Konstruktionen der Tech­
niker besteht eine Zusammenhang. (...) Ich möchte nur auf die Er­
weiterung des geographischen Horizontes hinweisen, die man den
kühnen Seefahrten verdankte, noch mehr aber der fleißigen Arbeit
jener Männer, die diese Entdeckungen beschrieben, einordneten und
mittels Landkarten und Navigationshandbüchern wissenschaftlich
und praktisch nutzbar machten«.15 Die Welt wurde nun als eine er­
kennbare und beschreibbare Ordnung erfahren, und es drängte sich
die Frage nach den Prinzipien auf, die die Ordnung zur Ordnung
machen. Das war die Geburtsstunde der griechischen Philosophie,
die Frage nach dem, was ist und was bloß scheint, und nach der Ver­
änderung und warum es sich verändert. Ontologie und Wahrheits­
problem sind von Anfang an in einer nicht aussagentheoretischen Ein­
heit gebunden, ebenso wissenschaftliche Erkenntnis und Kausalität.
Eine abstrakte Begrifflichkeit, die zum Impuls für philosophische
Verallgemeinerungen werden konnte, bildet sich zunächst in der
Rechtssphäre aus. Eigentum und Vertrag waren die Gegenstandsbe­
reiche, in denen über die individuellen Beziehungen von Handschlag
und Treu und Glauben hinaus abstrakte Regeln nötig waren und sich

14 Ebd., S. 82 f.
15 Ebd., S. 78.
68 Voraussetzungen

durchsetzten. Hesiod Erbstreitigkeiten und die von ihm in Zeus


Namen geforderte unparteiische »gerechte« Rechtsprechung sind die
bäuerlichen Vorstufen der den Tauschhandel beherrschenden Prinzi­
pien der Vertragstreue. Der neue Rechtsbegriff der dike meint Zutei­
lungsgerechtigkeit. Was im Handelsgeschäft die Tauschwertäqui­
valenz ist, findet seine Entsprechung in der Polisgemeinschaft als
Verteilungsgerechtigkeit. Wenn auch in klassenbedingter Abstufung,
sollte doch jeder, der zum kollektiven Gedeihen der Polis beitrug,
gegen die Risiken des täglichen Lebens gesichert werden. Mit zuneh­
mender Individualisierung verloren ja auch die Gemeinschaften von
Familie und bäuerlicher Hofstatt (die ja auch eine Heimstatt war) ihre
tragende Funktion. Die Idee der Vorsorge wurde von einem persön­
lichen Beziehungsnetz auf eine abstrakte Systematisierung übertragen.
Für die Entwicklung der abendländischen Rechts- und Sozialvor­
stellungen ist seitdem der Gedanke wechselseitiger Sicherheitsleistung
der Stadtbürger wichtig geworden, wie er sich in der griechischen
Polis ausbildete. Bezeichnenderweise taucht die Vorstellung, der
Mensch könne sich gegen die Risiken des Lebenskampfes vorsorg­
lich versichern, zuerst im Zusammenhang mit den Unternehmungen
des Fernhandels und der Kolonisation auf.16 Die frühe bäuerliche Ge­
sellschaft war gegen Schicksalsschläge (die als Folgen eines göttlichen
Ratschlusses oder Zorns hingenommen wurden) machtlos: Naturka­
tastrophen, Missernten, Kriegszerstörungen ließen sich nicht abwen­
den, gegen sie versuchte man sich durch zeremoniale Beschwörun­
gen, Bitt-, Dank- und Versöhnungsopfer abzusichern- der religiöse
Kult ist das entscheidende Moment der Lebensvorsorge. Er obliegt
darum in den bäuerlichen, aristokratisch regierten Stadtgemeinden
Altgriechenlands auch der Gemeinde. Sie ist für die großen Staats-

16 Die Anfänge des Versicherungswesens verschwinden im Dunkel der Frühge­


schichte. Zwar kennen wir aus dem Codex Hammurapis und aus altägypti­
schen Papyri versicherungsrechtliche Bestimmungen; sie bezogen sich auf
Schadensfälle (Verlust, Beraubung etc.) bei Karawanenzügen und auf die zum
Teil sehr erheblichen Kosten der Bestattungsriten. Doch sind die Nachrichten
über solche Versicherungen zu selten und zu ungenau, was Beiträge, Leistun­
gen und Abwicklung angeht, als dass wir uns ein zutreffendes Bild von die­
sem Gebiet des orientalischen Wirtschaftslebens in der Antike machen können.
Immerhin ist anzunehmen, dass bei einem umfangreichen Fernhandel zwi­
schen den vorderasiatischen Großreichen des Altertums bereits Anfänge eines
organisierten Versicherungswesens bestanden, an die die griechischen Poleis
anknüpfen konnten. Vgl. dazu und zum Folgenden Silvia Markun in: Mittei­
lungen der Winterthur- Versicherungen, Winterthur 1972, Heft 1-3.
Der Aufstieg der Polis 69

gottesdienste zuständig und stellt dafür einen beamteten Priester an,


während der Haushaltsvorstand, das Familienoberhaupt, für die täg­
lichen Gebete und Opfer sorgt.
War in den primitiven bäuerlichen Gemeinden der Mensch gegen
Schicksalsschläge weitgehend machtlos, so trafen sie ihn auch nicht
mit voller Unerbittlichkeit. Kranke, Invalide, Alte, Witwen waren im
Familien- und Sippenverband aufgehoben und versorgt, das Fami­
lienanwesen bot ihnen Sicherheit. Schäden durch Natur- oder Kriegs­
einwirkung waren gleichermaßen zu tragen und durch gemeinsame
Anstrengung zu überwinden. Keiner war vereinzelt einer Not ausge­
setzt, folglich war der Einzelne auch gegen individuelle Unsicherheit
unempfindlich. Sicherheit bot das Gemeinwesen, und diese konnte
nur eine politische (gegen Bedrohung durch äußere Feinde) oder eine
religiöse (gegen Bedrohung durch Naturgewalten) sein. Für persön­
liche Versicherung war da weder Raum noch Bedürfnis.17
Handel und Seefahrt waren auf dieser Grundlage kollektiver Er­
werbstätigkeit nicht zu entwickeln. Sie beruhten auf dem Einsatz des
Einzelnen, der sich aus dem kollektiven, nur für die eigene Subsis­
tenz produzierenden Familienverband herauslöste. Unter dem Zwang
engräumiger, L anderwerb nicht zulassende Siedlung musste die bäu­
erliche Subsistenzwirtschaft sehr schnell die Grenze der Produkti­
vität erreichen, an der sie den Unterhalt aller Familienmitglieder nicht
mehr gewährleisten konnte. Dieser Grenzfall trat in lonien schneller
ein als im Mutterland, denn die Stadtgründungen der ionischen Grie­
chen hatten angesichts der mächtigen Staaten im umgebenden Klein­
asien keine Ausdehnungsmöglichkeit. Werner Jaeger charakterisiert
die Situation treffend: >>Die Enge des Küstensaumes, auf dem sich
die immer neu herbeiströmenden Scharen der Einwanderer zusam­
mendrängten, und die Unmöglichkeit einer weiteren Ausdehnung in
das Binnenland, das in den Händen politisch noch nicht straff zu­
sammengefasster, doch wehrhafter Barbarenvölker wie der Lyder,
Phryger und Karer war, wies die Küstenstädte mit zunehmender Si­
cherheit des Seeverkehrs mehr und mehr auf den Seehandel hin. <<18

17 Selbst rechtliche Sicherheit gegen Missetäter war kaum nötig, solange Ver­
gehen innerhalb der Sippe gemäß der Sitte geahndet wurden. Rechtsordnung
trat dann an die Stelle der Blutrache zwischen den Sippen im Stammesver­
band in der nächsten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung.
18 Jaeger, Paideia, a.a. 0., S. 142. Im ganzen ist die- bei aller Kritikbedürftigkeit
im einzelnen - prägnante Synopsis der frühen Polis-Entwicklung bei Jaeger,
70 Voraussetzungen

Um aber als Kaufmann tätig zu werden, bedurfte es eines Vermö­


gens, das für die einzelne Transaktion- vor allem im Fernhandel­
langfristig und risikoreich eingesetzt werden musste. Individuelle
Initiative und Entscheidungsfreudigkeit, persönlicher Wagemut und
Weitblick waren die Voraussetzungen dafür, dass die ökonomische
Expansion erfolgreich sein konnte.19 Der einzelne musste aus der
Sippe heraustreten; er war als Seefahrer auch lange genug von der
Heimat fern, um sich innerlich von den Bindungen an die Groß­
familie zu lösen und äußerlich eigenen Besitz und Wohlstand zu er­
werben. Den Rückhalt, den er brauchte, bot ihm die politische Gemein­
schaft gleichgesinnter Bürger mehr als der Clan der Verwandten.
In Jonien setzte dieser Wandel der Gesellschaftsstruktur schon
im 7. Jahrhundert ein, und im Besonderen die jüngeren Partien der
Odyssee spiegeln die Geisteswelt der seefahrenden Unternehmer
schon recht deutlich. Bis zum 6. Jahrhundert hat sich die Dominanz
des Handels in den ionischen Städten schon so sehr gefestigt, dass
deren Verfassungsstruktur weitgehend von den Bedürfnissen der
neuen handeltreibenden Bürgerschicht bestimmt werden konnte: Die
Polis ist nun nicht mehr bloß die schutzgebende, wehrhafte Zuflucht,
der Sitz des königlichen Herrn, der auch über den Markt wacht und
gemäß der Überlieferung Recht spricht; sie ist vielmehr die Institu­
tion, die die Erhaltung der Verträge garantiert, die die Gleichheit der
Bürger herstellt, die die Operationsbasis für die weit ausgreifenden
Unternehmungen abgibt.20 Die Verbindung von Rechtsordnung und
Sicherheitsleistung wird charakteristisch für die Polis-Idee.
Die Gefahren des Fernhandels forderten nun allerdings auch eine
Rückversicherung im Gemeinwesen. Griechische Schiffe segelten bis
ins mittlere und westliche Mittelmeer.
Die ionischen Handelsstädte traten damit in Konkurrenz zu ihren
phönizischen Vorgängern, die sich von ihrer geographisch ähnlich

S. 140-148, mit Gewinn zu lesen, wenn man sich den gesellschaftlichen Hin­
tergrund der philosophischen Anfänge in knapper Form verdeutlichen will.
19 Wenn Solon 1,65 das Risiko (kindynos) als das Wesen der Erwerbstätigkeit
des Menschen herausstellt, so drückt er damit die neue bürgerliche Lebens­
auffassung gegenüber der in religiöser Abhängigkeit gebundenen bäuerlichen
(wie auch der aristokratischen) Gesellschaft aus.
20 Vgl. Wehrli, a.a.O., S. 102. Er betont als Leistung der Polis, >>Geborgenheit
und Hilfe, die dem einzelnen von dieser zuteil wurde<< . Er zählt auf: Rechts­
schutz, Bewahrung vor äußeren Feinden, Hilfe in täglicher Notdurft. Jaeger,
a. a. 0., S. 146 betont den Gleichheitsgrundsatz.
Der Aufstieg der Polis 71

begünstigten Heimat im heutigen Libanon und Palästina aus bis


Nordafrika, Sizilien und Spanien ausgebreitet und Handelswege bis
ins Schwarze Meer und zu den britischen Inseln erschlossen hatten.
Von dieser Konkurrenz, bei der es wesentlich auch um die Monopo­
lisierung von Handelsbeziehungen ging, wird eine charakteristische
Geschichte überliefert: Ein phönizischer Kapitän, dem griechische,
>>Spionageschiffe<< auf dem Wege nach England gefolgt waren, ver­
senkte unterwegs sein Schiff samt Ladung, um seinen Landeplatz und
damit seine Geschäftspartner nicht bekannt werden zu lassen. Zu
einer solchen Geheimhaltung unter Einschluss des Totalschadens war
er verpflichtet, und die Gemeinde ersetzte ihm den daraus entstan­
denen Verlust.21
Das Beispiel zeigt, dass das Lebensinteresse und der Wohlstand
der Stadtstaaten zu einer weitgehenden Identität privater und öffent­
licher Belange führten. Unter »Öffentlichkeit<< , die sich in den grie­
chischen Poleis seit dem 5. Jahrhundert dann demokratisch organi­
sierte, sind natürlich nur die freien steuerpflichtigen Stadtbürger
(nicht die Hörigen und Sklaven) zu verstehen; man darf sich die Zahl
der freien Bürger in den archaischen Städten nicht zu groß vorstel­
len, sie wird einige Tausend nur selten überschritten haben. Das Un­
ternehmerinteresse des Einzelnen und das Gedeihen des Gemein­
wesens waren hier in der Tat einsichtig zur Deckung zubringen. So
leuchtet es ein, dass die Entlastung vom Unternehmerischen Risiko,
soweit das Gemeinwesen im ganzen davon betroffen war, auch aus
öffentlichen Mitteln garantiert wurde.
Dies galt nun beim Wachstum der Städte (insbesondere des An­
teils der Sklaven und der freien Tagelöhner) vor allem auch für die
Gesundheitspflege. Die Entwicklung der griechischen Medizin hing
eng mit der Bevölkerungszunahme und räumlichen Erweiterung der
Städte zusammen, durch die eine erhöhte Seuchengefahr gegeben
war. Überhaupt durfte das steigende Konsumniveau (über das uns
Platons Staat Auskunft gibt)22 zu steigender Krankheitsanfälligkeit
geführt haben. Die Einrichtung eines öffentlichen medizinischen
Dienstes war daher ein Bedürfnis der Allgemeinheit, und seit dem
6. Jahrhundert sind Gemeindeärzte (bT]flOULOL La'tQOL) wenigstens in
den größeren Städten als Beamte tätig. Herodot berichtet, dass dem

21 Wolfgang Gubalke, Vorläufer der Versicherung im Altertum, Zeitschr. f Ver­


sicherungswesen, 14. Jg. Heft 13, Harnburg 1963, S. 438 ff.
22 Platon, Politeia, 372 f.
72 Voraussetzungen

Demokedes aus Kroton, einer für ihre Ärzteschule berühmten Stadt


Unteritaliens, 528 von Aigina ein Gehalt von einem Talent, von
Athen 100 Minen und von dem reichen Tyrannen Polykrates von
Samos zwei Talente gezahlt wurden. Das schließt ein, dass Demo­
kedes offenbar nicht fest in einer Stadt residierte, sondern mehrere
große Gemeinden als Reisearzt betreute (wobei er vielleicht in jeder
örtlichen Praxis - La'rQELOV - einen Gehilfen für Dauerbehandlungen
und Notfälle zurückließ. Dass er zusätzlich zu seiner T ätigkeit als
Gemeindearzt (und Hofarzt bei Polykrates) auch noch wohlhabende
Bürger als Privatpatienten behandelte, ist mit Sicherheit anzunehmen.
Der Ausbau eines öffentlichen Gesundheitsdienstes war im frühen
Griechenland bereits so weit fortgeschritten, dass Empedokles in
seiner Heimatstadt Akragas und in der Nachbarstadt Selinus Maß­
nahmen zur öffentlichen Hygiene, Stadtsanierung und Seuchenvor­
sorge vorschlagen und durchsetzen konnte. Dass er in Selinus die
Wassermelioration auf eigene Rechnung vornehmen ließ, mag zu den
üblichen Leistungen der vornehmen reichen Geschlechter gehört ha­
ben. Diogenes Laertius berichtet darüber (VIII, 70): >>Als die Seiirrun­
tier von einer Seuche befallen wurden, irrfolge der bösen Ausdüns­
tungen des benachbarten Flusses, so daß die Menschen hinweggerafft
und die Weiber mit Fehlgeburten heimgesucht wurden, soll Empe­
dokles auf den Gedanken gekommen sein, zwei nahe liegende Flüsse
in jenen Fluß hineinzuleiten, und zwar auf eigene Kosten. Die da­
durch erzielte Mischung soll das strömende Wasser unschädlich ge­
macht haben. Nachdem so die Seuche ihr Ende erreichte und die
Seiirruntier am Ufer des Flusses einen Festschmaus veranstalteten,
soll Empedokles erschienen sein; die Versammlung aber hätte sich
erhoben, ihn feierlich begrüßt und zu ihm gebetet wie zu einer
Gottheit«.
Eine Liste der überlieferten Namen fest angestellter Gemeinde­
ärzte, in griechischen Städten23 führt nicht über das 4. Jahrhundert
hinaus; aber das Beispiel des Demokedes zeigt, dass die Einrichtung
einhundertfünfzig bis zweihundert Jahre älter ist. Zu den Pflichten
eines Gemeindearztes gehörte nicht nur die kostenlose Behandlung
der Armen - eine Aufgabe, deren Wichtigkeit wuchs mit der Zu­
nahme von proletarischen Bevölkerungsschichten, vor allem Tagelöh­
nern in den Häfen und im Bergbau, als Transportarbeiter im Handel,

23 Marina Elisabeth Ffeffer, Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechi­


schen und römischen Antike, Berlin 1969, S. 186 ff
Der Aufstieg der Polis 73

als Hilfsarbeiter bei öffentlichen Bauten und im Schiffsbau, als Schiffs­


knechte und in ähnlichen Erwerbszweigen; vielmehr war auch die Zu­
bereitung und Abgabe der Medikamente eingeschlossen, bereits wohl
auch die Beratung der Behörden bei Seuchenvorsorge und -bekämp­
fung. Der öffentliche Gesundheitsdienst hatte also nicht eigentlich
den Charakter einer Krankenversicherung, denn seine Leistungen
waren nicht an individuelle Beiträge geknüpft, sondern galten gerade
den nicht Zahlungsfähigen - aus gutem Grunde, denn die Armen­
quartiere waren natürlich die Herde von Epidemien. Erst aus späterer
Zeit (nicht vor dem 3. Jahrhundert) ist eine Ärztesteuer bekannt
(ia'rQLKÜv), die natürlich auch nur von den Steuerpflichtigen aufge­
bracht wurde. Es handelte sich also um eine staatliche medizinische
Versorgung, eine Art verstaatlichte Gesundheitspflege - ein Modell,
das solange wirksam sein konnte, als die Identität der einzelnen Bür­
ger mit der Institution Staat in kleinen übersichtlichen Stadtgemein­
den für jeden offenkundig war.
In dieser politischen Organisationsform wurde die medizinische
Kunst (techne iatrike) zu einem Zentrum der sich entwickelnden na­
turwissenschaftlichen Begriffsbildung und des T heorieverständnisses
überhaupt. Die ältesten uns bekannten medizinischen Schriften, die
des Corpus Hippocraticum über die Epidemien und des Prognosti­
kon reichen nicht vor die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert zurück,
setzen aber eine viel längere mündliche Tradition voraus. In die durch
Mythologie und Magie überwucherte ärztliche Praxis bringen die
Schulen von Kos und Knidos eine wissenschaftliche Ausrichtung.
Fallbeobachtung und Symptombeschreibung stehen am Anfang einer
Behandlung. Daraus wird eine Hypothese über die Verursachung
hergeleitet. Die Ärzte sind sich durchaus darüber im klaren, dass
ihre Kunst eine ars coniecturalis ist, die sich kasuistisch des Ana­
logisierens bedienen muss. Um Hinweise auf die Möglichkeit von
Verallgemeinerungen zu gewinnen, werden Experimente angestellt;
berühmt ist das Einfrieren und Wiederauftauen von Wasser, dessen
Mengenverlust bei dem Vorgang gemessen wird. Insbesondere die
koische Schule erweitert die Diagnostik über die Feststellung der
Einzelerkrankung hinaus auf das Gesamtbefinden des Patienten und
seine Lebensweise sowie auf die Umwelteinflüsse, zum Beispiel das
Klima. So entsteht in der Diätetik eine erste Art medizinischer An­
thropologie, die den kranken Menschen im Blick auf das Gemein­
wesen als soziales Wesen einschätzt und entsprechend auch präven­
tiv denkt. Auch der Einsatz des Hippakrates in der Pestepidemie des
74 Voraussetzungen

perikleischen Athen lässt sich von daher verstehen - sozusagen als


ein Sonderfall im poliseigenen Gesundheitssystem der Stadt.
Die städtische Vorsorge betraf noch weitere Gebiete. Kommunal
geordnet war die staatliche Versorgung der Kriegsinvaliden und -hin­
terbliebenen, die bereits auf eine Empfehlung Solons von 594 zu­
rückgehen soll und in Athen von dem Tyrannen Peisistratos 560 ge­
setzlich eingeführt wurde. Später, etwa seit dem vierten Jahrhundert,
wurden allgemeine Renten für die Alten, Kranken und Erwerbslosen
ausgerichtet, deren Höhe an der unteren Einkommensgrenze orien­
tiert war. Rentenempfänger wurden im Abstand von 35 Tagen auf
ihre Bedürftigkeit überprüft. Auch bei den Armenrenten handelte es
sich um staatliche Fürsorge, nicht um Gegenleistung für eigene Vor­
sorge. Der Staat wurde als eine Art Hilfsinstitution für Notfälle auf­
gefasst, staatliche Leistungen als Gegenleistung für den staatsbür­
gerlichen Einsatz des Einzelnen. Jeder, der Bürger einer Polis war,
hatte Anspruch darauf, dass die Gemeinschaft seinen Lebensunter­
halt garantierte. Aus dieser Gesinnung heraus konnte Demosthenes
(584-522) einen Greisensold vorschlagen; nur der politische Nieder­
gang Athens stand der Verwirklichung eines solchen Gedankens dann
entgegen. Indessen gab es schon seit dem 7. Jahrhundert Altersheime,
deren Kosten von der Gemeinde getragen wurden. Homer erwähnt
in der Odyssee (18. Gesang, Vers 329) ein Asyl (i\wxf]) für die
unentgeltliche Beherbergung der Obdachlosen, in Athen gab es ein
Altenhaus (yEQOUala).
Im Ganzen ist im Polis-Bewußtsein des Bürgers der Gedanke
distributiver Gerechtigkeit, der Zuteilung eines Anteils am Ganzen
für jeden Einzelnen, vorherrschend. Das gesamte juridische Vokabu­
lar der frühen Griechen hängt mit der Güterverteilung zusammen:
moira - später die Schicksalsgöttin - ist ursprünglich der dem ein­
zelnen zukommende Anteil bei der Landverteilung; aisa heißt dem­
gegenüber der nach gerrauen Proportionen zugewiesene Beuteanteil;
nemesis- später die Göttin der Vergeltung- ist abgeleitet vom Ver­
bum nemein = zuteilen, und dike - das Recht und die Göttin der
Gerechtigkeit - bedeutet eigentlich Schadenersatz, dann allgemein
den richtigen Anteil. So ist die Ordnungsfunktion der Gemeinschaft -
Stamm oder Polis - wesentlich eine solche der Zuweisung der dem
Einzelnen zustehenden Anteile am Ganzen. Und dieser Vorrang der
Polis vor der Privatperson blieb bis in die späte Zeit der griechischen
Kultur erhalten, wenn sich auch die Aussonderung der Einzelinter­
essen seit der Entwicklung der Handelsstädte und der damit verbun-
Der Aufstieg der Polis 75

denen Privatisierung des Erwerbs in der Lebensauffassung mehr und


mehr niederschlug und eine Trennung zwischen sozialer Fürsorge und
privater Vorsorge nach sich zog.
Den umfänglichen und für die Bedürfnisse einfacher Gesellschaf­
ten vollkommen ausreichenden Sozialmaßnahmen der griechischen
Gemeinden standen wohl schon seit dem 6. Jahrhundert private Ver­
sicherungen gegen Lebensrisiken, insbesondere gegen finanzielle Ver­
luste im Fernhandel und bei der Seeschiffahrt zur Seite.24 Auch hier
sind die Phönizier den Griechen vorangegangen: Phönizische Kauf­
leute schlossen sich zu Verbänden zusammen, die den Mitgliedern
den Schaden ersetzten, wenn Schiff .und Ladung verlorengingen.
Direkte Übernahme dieses Prinzips ist die >Koinonia< genannte Ver­
einigung von Kaufleuten und Reedern, die ihre Verluste aus ge­
meinsamer Kasse deckten. Hier wird deutlich, dass an die Stelle der
Produktionsgemeinschaft der Sippe oder Familie nun die individu­
elle Erwerbstätigkeit getreten ist, aus der private Individualvermö­
gen hervorgehen, die risikoreich eingesetzt werden können. Dabei
geht das Risiko oft über die Leistungsfähigkeit des Einzelnen hinaus,
der nun eine neue Gemeinschaft mit Gleichgesinnten (nichts anderes
heißt Koinonia), mit Genossen auf berufsständischer Basis eingehen
muss, um sich gegen Unglücksfälle abzusichern.25 Die Funktion gegen-

24 Franz Trescher, Anfänge des Versicherungswesens im Altertum, in: Mittei­


lungen der Wiener Städtischen Wechselseitigen Versicherungsanstalt, 4 1. Jg.,
Heft 2, Wien 1966, S. 16.
25 Solche Versicherungen auf Gegenseitigkeit finden sich früh in der Seeschiff­
fahrt. Meist waren die Kaufherren selber nicht auch Schiffsbesitzer. Sie taten
sich jeweils mit einem Kapitän zusammen, der die Ware auf Kredit übernahm
und sie am Bestimmungsort auf eigene Rechnung verkaufte und aus dem Erlös
den Kredit mit hohen Zinsen zurückerstatten musste. Gingen jedoch Schiff
und Ladung verloren, so war auch die Kreditschuld verfallen. Unternahm aber
der Schiffsbesitzer die Handelsreise auf eigene Kosten, so konnte er bei dem
Handelsherrn einen Geldbetrag hinterlegen (sozusagen eine >Versicherungs­
prämie<). Ein Schaden auf dem Transport wurde ihm dann ersetzt, verlief aber
die Reise glücklich, so verfiel die hinterlegte Summe. Eine andere Form der
Versicherung auf Gegenseitigkeit stellte die von den Kaufherrn auf Rhodos
zuerst praktizierte und dann ins römische Recht übernommene >Iex rhodia de
iactu< dar. Diese Gesetzesregel besagt, dass alle an einem Seetransport be­
teiligten Auftraggeber den Verlust gemeinsam zu tragen haben, wenn in See­
not Transportgüter über Bord geworfen werden müssen oder beschädigt wer­
den. Gubalke weist, a. a.O., darauf hin, dass hierin ein Vorläufer der >Großen
Havarie< zu sehen ist. Dieses Prinzip des >General Average< gilt bis heute in
der Seeversicherung.
76 Voraussetzungen

seitiger Sicherheitsleistung im Familienverband wird überführt in eine


Versicherung auf Gegenseitigkeit zwischen Einzelpersonen.
So entwickelt sich die Idee von Sicherheit als privater Risikovor­
sorge im Zusammenhang mit der Ausbildung privater Geschäftsun­
ternehmungen im FernhandeL Mit der Auflösung der frühzeitliehen
bäuerlichen Sippenordnung und ihrer kollektiven Produktions- und
Konsumweise in die Formen individueller Erwerbstätigkeit, d. h. mit
der Auflösung der Gentilgesellschaft und der Entstehung eines Polis­
Bürgertums, ging das Erwachen des Selbstbewusstseins der Individuen
einher. Dieses Selbstbewusstsein knüpfte sich an die individuelle
T ätigkeit des Einzelnen einerseits, an seine besondere, etwa auf dem
Erwerb großer Vermögen oder auf seinem Urteil im Rate beruhenden
Position in der Gemeinde andererseits. Der Verlust des Vermögens
wurde so gleichbedeutend mit der Einbuße der persönlichen Stellung
in der Öffentlichkeit wie des privaten Wohllebens. Konnte die Ge­
meinde, die Polis, für Sicherheit vor Not und Elend sorgen, so war
es doch weder ihre Aufgabe noch stand es in ihrer Macht, das private
Vermögen zu garantieren. Vermögensrisiken aber resultierten zum
größten Teil aus unvorhersehbaren Zufällen (Naturereignisse, Piraterie
etc.), die nicht jeden gleichzeitig betrafen. So kam der Gedanke auf,
durch langfristige Verteilung des Risikos für einen Ausgleich zu
sorgen, d. h. Verlusten durch gegenseitige Hilfeleistungen vorzu­
beugen. Sicherheit sollte durch Versicherung gewährleistet werden.
Mit der Ausbildung kommerziellen Zweckdenkens musste eine
>Entmythologisierung< des Weltbildes einsetzen. Gegen den Ratschluss
der Götter kann man sich nicht versichern, wohl aber gegen blinde
Zufälle. Die natürliche Erklärung des innerweltlichen Geschehenden,
der Naturereignisse vor allem, wurde mithin zum korrelierenden
Postulat der sich hier ausbildenden Gesinnung. Die unternehmungs­
reiche Stadt Milet brachte dann die erste, nicht-mythologisierende
Philosophie hervor.
Zum Zweck individueller Versicherung gegen widrige Zufälle
gründeten wohl zunächst wohlhabende Kaufleute Gesellschaften,
die sogenannten Eranos-Vereine.26 Deren Mitglieder zahlten eine Ein­
lage beim Eintritt als Stammkapital, bestehend aus Geld, Grundstü-

26 Dass die Eranos-Vereine vorwiegend in Hafenstädten oder an wichtigen Ver­


kehrszentren des Landes anzutreffen waren, deutet auf ihre Funktion im
Handel hin. Hinzu kommt dann, dass für die Eranos-Mitglieder der Verein
zu einem Club gemeinsamer Geselligkeit wurde.
Der Aufstieg der Polis 77

cken und Sklaven, und jährliche Beiträge, aus denen der Vereinszweck
zu erfüllen war. Geriet ein Mitglied in Not, so erhielt es entweder aus
dem Vereinsvermögen eine Beihilfe oder von anderen Vereinsmit­
gliedern ein rückzahlbares Darlehen, wobei insbesondere früher Un­
terstützte oder Darlehensempfänger verpflichtet waren, einzusprin­
gen. Der Charakter einer ständigen privaten Versicherungsinstitution
tritt hier deutlich zutage. Ausführliche Zeugnisse über die T ätigkeit
von Eranos-Vereinen haben wir erst seit dem 3. Jahrhundert,27 jedoch
führt die Tradition deren gesetzliche Einrichtung schon auf Solon
zurück. Die Tatsache, dass seit dem 4. Jahrhundert allgemein >era­
nistes< als Ausdruck für >Mitglied eines Vereins< gebraucht wird,
erlaubt den Rückschluss auf eine längere Vorgeschichte des Sach­
verhalts.
Die öffentlichen Sozialleistungen der Gemeinde und die private
Vorsorge wohlhabender Einzelner traten mit der Fortentwicklung
privaten Unternehmertums mehr und mehr auseinander. Die Siche­
rung des Existenzminimums galt dann aus der Sicht der Besitzenden
eher als eine karitative Leistung denn als eine politische Verpflich­
tung. Der Staat selbst wurde im Verständnis dieser >staatstragenden<
Schicht zu einer komplizierten Organisation gegenseitiger Lebens­
sicherung, während er bis zum Ausgang der archaischen Zeit durch­
aus als Organismus kollektiven Lebens empfunden wurde. Bewusst,
und auf theoretische Formeln gebracht, vollzieht sich dieser Um­
bruch erst in der Sophistik, er bereitet sich aber bereits in einer
Auffassung vor, die die Rechtsordnung als die geordnete Form von
Kampf und Streit betrachtet (Heraklit, B 80: >>Der Kampf ist das
Gemeinsame und Recht ist Streit<<) und folglich den Staat als den
Garanten des gegenseitigen Ausgleichs von lnteressengegensätzen.
Diese Auffassung vom Wesen des Staates wird zum Leitmotiv in
den Kapiteln von Platons Staat, die von der Entstehung und Be­
gründung des Gemeinwesens handeln. Dieses nicht praktische, son­
dern theoretische, idealtypische Modell des Staates als Vereinigung
zur Versicherung auf Gegenseitigkeit sei hier vorgreifend herangezo­
gen, weil es sich zwanglos mit dem Eranos-Prinzip verbinden lässt
und die Wandlung im Rechts- und Staatsbewusstsein kenntlich macht.
Platon geht von der >Vertragstheorie< aus, derzufolge sich die Einzel-

27 Eine Hauptquelle-neben Inschriften-ist vor allem Demosthenes. Vgl. Von­


deling, Eranos, Diss., Groningen 1961; F. Poland, Geschichte des griechischen
Vereinswesens, Leipzig 1909.
78 Voraussetzungen

nen zur Bewältigung gemeinsamer Aufgaben oder zur friedlichen


Regelung ihrer Streitigkeiten zusammengeschlossen hätten:
>>Die Entstehung also des Staates ist meiner Meinung nach darauf
zurückzuführen, daß der Einzelne sich nicht selbst genug ist, son­
dern vieler Helfer bedarf. Oder welchen anderen Anfang kannst du
dir für die Gründung eines Staates denken? (...) So zieht denn einer
den andern zu Hilfe, einen für dieses, einen andern für jenes Be­
dürfnis und die Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse lässt viele Genos­
sen und Helfer sich auf einem Wohnplatz zusammenfinden, eine
Zusammensiedelung, der wir den Namen Staat geben.<< Aber er wen­
det den Gedanken sogleich von der Idee der Gemeinschaft zur Idee
der wechselseitigen Verteilung: >>Es teilt also gegebenenfalls der eine
dem andern von dem Seinen etwas mit oder empfängt von ihm, weil
er das für vorteilhaft für sich hält.<< Platon findet den Gedanken für
diesen Austausch in der Spezialisierung der Kenntnisse und der da­
durch bedingten Arbeitsteilung und leitet folgerichtig den Handel
(als die allgemeine Form des Warentausches) daraus ab. Das Modell
des Tausches wird so zur Strukturbeschreibung für das Verhältnis
der Einzelnen zueinander im Staatsganzen. Wo aber jeder seine Leis­
tung (oder deren Produkt) gegen die des anderen austauscht, um sich
gegen einen Mangel zu sichern, den er selbst nicht beheben könnte,
entsteht eine Vereinigung zum wechselseitigen Beistand, in der jeder
von jedem abhängig ist. Platon macht deutlich, dass diese vielfältige
und komplexe Abhängigkeit die Folge wachsender Bedürfnisse ist.
Dem >gesunden< Staat einfachster bäuerlicher Prägung stellt er den
luxuriösen gegenüber: >>Nicht bloß eine Stadt in ihrer Entstehungs­
weise, scheint es, ist der Gegenstand unserer Betrachtung, sondern
gleich euch eine üppige Stadt (...) Denn das Bisherige und die eben
dargestellte Lebensweise genügen, wie es scheint, manchen nicht,
sondern Ruhebetten sollen noch dazu kommen und Tische und sons­
tiges Gerät, und natürlich auch Zukost und Salben und Räucherwerk
und Freudenmädchen und Backwerk, alles in größter Mannigfaltig­
keit. Auch werden wir nicht mehr das bloß Notwendige gelten las­
sen, was wir vorhin nannten, nämlich Häuser und Kleider und
Schuhe, sondern wir werden die Malerei in Gang bringen und die
Kunst der Stickerei und werden uns Gold, Elfenbein und alles der­
gleichen zulegen.</8 Dass jedem dieser Luxus gesichert wurde, setzt

28 Platon, Politeia 369 b5 ff.


Der Aufstieg der Polis 79

voraus, dass sozusagen jeder mit jedem eine Versicherung auf Gegen­
seitigkeit abschließt, die ihm gegen Einbringen seines individuellen
Beitrages die Teilhabe am Gesamtprodukt garantiert. Die Institution
Gemeinde kann dann selbst als juristische Person - wie ein Indivi­
duum- auftreten.
Auf Platons besondere Staatskonzeption, ihre Orientierung am
spartanischen Beispiel und ihre Funktion in der Klassensituation
Athens in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts brauchen wir hier
noch nicht einzugehen. Wichtig scheint mir jedoch für die Konti­
nuität der politischen Philosophie, dass Platon seine Lehre vom Staat
aus der Idee der Gerechtigkeit entfaltet und somit an die vorsokra­
tische Tradition anknüpft, die Polis und Dike unauflöslich Miteinan­
der verknüpft hatte. Und dass ihm Gerechtigkeit sich noch durchaus
unter dem Schema des Zuteilens darstellt, geht uns der eingangs (351 D)
thematisch gesetzten Simonides-Stelle hervor: »gerecht ist, einem
jeden das zu erstatten, was man ihm schuldig ist.<<29 Platon nimmt
also ausdrücklich die ionische Polis-Tradition auf. Dikaios, als ab­
straktes Adjektiv »gerecht<< , kommt schon bei Homer vor. Die Sub­
stantivierung dikaiosyne taucht erst in nachhomerischer Zeit auf und
steht im Zusammenhang mit der inhaltlichen Neubestimmung der
arete, die sich in den normativ gewordenen T heognis-Versen (147 f.)
ausdrückt, in der Gerechtigkeit sei alle übrige Tugend eingeschlossen
und sie allein mache den Mann vollkommen.30 Dike wird in der vor­
sokratischen Philosophie nie ohne Pathos gebraucht, sei es ihrer per­
sonifizierten Form im Prooemium des Parmenides, sei es bei Hera­
klit (B 23, B 28, B 94), sei es in der kosmologischen Form der Milesier
und ihrer Nachfolger, sei es als Wertbegriff der Polis überhaupt bei
Solon. Es ist Gemeingut der griechischen Philosophie geworden, Ge­
rechtigkeit als die entscheidende Staatstugend zu betrachten; auf sie

29 Die alte Bedeutung dike = >>Schadensersatz<< klingt in dieser Formulierung


noch deutlich durch.
30 Die Substantivierung des Adjektivs auf das Suffix »syne<< -eine seit der spät­
homerischen Zeit mögliche Bildung, von der spätere Generationen immer mehr
Gebrauch machten - erleichterte die Hypostasierung der Eigenschaft zur
Idee. Gerade Eigenschaften wie Gerechtigkeit, in denen sich das Wesen der
Polis kristallisieren sollte, legten eine quasi-substantiale Auffassung nahe, so­
bald sie einmal in der verdinglichten Form des Substantivs formuliert waren.
Man darf wohl annehmen, dass in die Nähe zum Mythos Substantivierung
und Personifikation noch analoge Vorgänge waren; weil das, was sie begriff­
lich leisteten, noch ungeschieden im Bewusstsein der Sprechenden ineinan­
derfloß, war metaphysische Hypostasierung leicht nachzuvollziehen.
80 Voraussetzungen

komme, sagt Aristoteles in der Rhetorik (1366 B 5), im Frieden alles


an, so wie auf die Tapferkeit im Kriege.
Dieses Pathos, das Dike als einen Zentralbegriff des archaischen
griechischen Lebensverständnisses vor allen anderen Leitmotiven he­
raushebt, ist nur aus der gesellschaftlichen Veränderung, aus den
Klassenkämpfen zu verstehen, die zur bürgerlichen Polis-Verfassung
führten. Dike bedeutete die Gleichheit der Bürger, nicht vor dem
Gesetz, sondern garantiert durch das Gesetz. Werner Jaeger hat dies
mit einem seinem Gegenstand verwandten Pathos herausgestellt.31
Dieses Pathos hindert ihn nicht, nüchtern den Ursprung der Dike­
Ethik und -Metaphysik in der Regelung sachenrechtlicher Verhält­
nisse, als im Bereich der Güterverteilung und der Sanktionierung von
Verträgen zu erkennen- also aus der Polis als der Organisationsform
individuellen arbeitsteiligen Erwerbs abzuleiten (wie das Platon im
Staat getan hat) Sicherheit ist Geborgensein in einer Ordnung, und
diese Ordnung verbürgte nun die politische Lebensform unter dem
Gesetz so wie zuvor die natürliche Lebensform in der Familie und in
der Gens. Das Gesetz wurde die Existenzbedingung des Polis-Bürgers
und identisch mit dem, was ihm die Polis zu geben vermochte. Das
Gesetz war nicht mehr die tradierte, von den Herren angewandte
und ausgelegte Satzung - St1-.w;; -, sondern die nach der Einsicht aus
Vernunfe2 gegebene Rechtsordnung- v61-1o� im Sprachgebrauch der
Vorsokratiker. Heraklit B 4, >>Kämpfen muß das Volk für sein Gesetz
wie für die Stadtmauer<< rückt die Ordnungsfunktion des Gesetzes in
den Rang der Schutzfunktion der alten, vorbürgerlichen Polis; so
bildet sich in der Paligesellschaft des 7. und 6. Jahrhunderts eine
Staatsidee aus, die paradigmatisch für die weiteren abendländischen
Kulturbereiche wurde: die Identifikation von Staat und Recht im
>Rechtsstaat< ;'' galt für die Leistung des Staates in den antiken orien-

31 Jaeger, Padeia I, a.a.O., S. 144 ff.


32 Hesiod >>entdeckt<< den nous als Organ der besonnenen Entscheidung, der
denkenden Weltklugheit und selbständig gewonnenen Erkenntnis (samt Wil­
lensbildung). D. h. bei Hesiod wird der Grund zur Vernunftautonomie des
Menschen im noos gelegt. Vgl. Bruno Snell, Dichtung und Gesellschaft, Harn­
burg 1965, S. 57.
33 Vgl. Jaeger, Paideia I, a.a.O. , S. 152 f.; Snell, ebd., S. 89 ff. Über Solon und
sein Prinzip des Rechts heißt es dort, er habe die Grundlage für die euro­
päische Idee des Rechtsstaates und der Demokratie gelegt. In der Tat sind in
der europäischen Geschichte alle Ansätze, politische Philosophie aus anderen
Prinzipien als denen der Rechtsstaatlichkeit zu entwickeln, von Macchiavelli
über Hobbes bis zu Carl Schrnitt Außenseiterpositionen geblieben.
Der Aufstieg der Polis 81

talischen Großreichen nicht so sehr die Einhaltung und Durchset­


zung des Rechts als vielmehr die Effektivität der Administration, so
war die Einheit von Dike und Polis im griechischen Staatsbewusst­
sein eine einmalige und besondere historische Erscheinung.
Die aufsteigenden Schichten34 der Kaufleute, Handwerker und
lohnahhängigen freien Arbeiter konnten sich auf die Dauer mit ihrer
politischen Marginalisierung als nicht vollberechtigte Bürger nicht
zufrieden geben. Die Polis glich nicht länger mehr einer Herde von
bäuerlichen Anwesen, die sich um einen Adelssitz scharten, obschon
nach wie vor die städtischen Vollbürger auch noch Grundbesitz vor
den Toren der Polis ihr eigen nannten und nutzten oder nutzen ließen.
Wir haben gesehen, wie sich mit der Ausbreitung handwerklich­
gewerblicher T ätigkeiten und dichter werdender Fernhandelsbezie­
hungen eine neue Schichtenstruktur herausbildete. Die Bevölkerung
nahm zu; an die Stelle bäuerlicher Kleinsiedlungen trat die Samm­
lung in städtischen Zentren, wo eine für damalige Verhältnisse große
Zahl von Menschen wohnten und ihrem Gewerbe nachgingen und
ihre unmittelbaren Alltagsbedürfnisse und -verrichtungen selbst or­
ganisieren mussten. Die auf ihren Landsitzen residierenden Adligen
waren dazu nicht mehr die geeignete Instanz. Ihr Herrschaftsstil und
-instrumentarium entsprachen nicht mehr den gesellschaftlichen An­
forderungen. Die Polis bedurfte einer neuen Ordnung des Gemein­
schaftslebens.
Nun stellte sich die Verfassung der Polis nach dem Prinzip aus­
gleichender Gerechtigkeit nicht von selbst her. Die Adelsherrschaft
der Frühzeit musste abgelöst werden- und diese Ablösung fand in
heftigen Parteiauseinandersetzungen statt, deren Klassenkampfcha­
rakter sich deutlich ablesen lässt. Die Aufgabe der Beseitigung der
Macht adliger Geschlechter fiel überall in der Polis den Tyrannen zu,
die sich- oft selbst aus dem Adel stammend- zu Wortführern des
bürgerlichen Mittelstandes aufschwangen, dessen Interesse die Her­
stellung neuer Ordnungsstrukturen war; die neue Ordnung aber
bedurfte diktatorischer Mittel, um sich durchzusetzen.
Die Tatsache, >>daß um das Jahr 600 die Tyrannis eine gemein­
griechische Erscheinung war«,35 macht deutlich, dass es hier nicht um

34 Renate Koppe, Ökonomie und Politik in den antiken Gesellschaften, Bonn


1991.
35 Ulrich Bayer, Grundzüge der griechischen Geschichte, Darmstadt 1966, S. 31.
Thrasybulos von Milet, Kleobulos von Lindos, Melas von Ephasos, Damo-
82 Voraussetzungen

teles von Samos, später Polykrates von Samos, Pittakos von Mytilene aus
Lesbos (nach Melanchros, Myrsils und Meleagyros), T heagenes von Megara,
Kleisthenes von Sikyon, Periander von Korinth, Phalaris von Akragas - diese
Namen zeigen die Verbreitung der Tyrannis im 7. und 6. Jahrhundert. -
Zweifellos ist Helmut Berve, Die Tyrannis bei den Griechen, München 1967
(Kurzfassung in Konrad H. Kinzl (Hg.), Die ältere Tyrannis bis zu den Pei­
sistratiden, Darmstadt 1979, S. 161-183) die unentbehrliche Materialgrund­
lage für die Beschäftigung mit der Tyrannis. Seine die Deutung leitende
Einstellung pointiert er in der Kurzfassung (die im Folgenden zitiert wird);
sie ist so stark von emotionalen Vorurteilen gegen die Tyrannen beherrscht,
dass seinen Einschätzungen keine analytische Aussagekraft zukommt. Er un­
terscheidet zwar in Übereinstimmung mit der gesamten Forschung zwischen
zwei Tyrannis-Perioden, der älteren Tyrannis vorn 7. bis in den Anfang des 5.
Jahrhunderts und der jüngeren im 4. und 3. Jahrhundert (S. 164) und cha­
rakterisiert diese durchaus richtig: >>Wirtschaftlich und sozial steht die erste
der beiden Epochen im Zeichen des Aufkommens des Geldes, der Entfaltung
von Gewerbe, Handel, Verkehr und städtischem Leben sowie des Verlangens
der unterdrückten Bauern nach Aufhebung der Schuldknechtschaft und Neu­
aufteilung des Landes. In der zweiten entsteht durch das Wachsen kapitalisti­
scher Tendenzen und die dadurch bewirkte Verschärfung der Besitzungleich­
heit in Stadt und Land eine neue Situation voll ungelöster Spannungen. Und
das urnso mehr, als jetzt das ökonomische Interesse in den Vordergrund tritt,
die aktive Teilnahme des Bürgers arn Staatsleben weitgehend von egoistisch­
materiellen Motiven bestimmt wird<< (S. 165). Indern er jedoch das Wesen der
Tyrannen völlig einseitig auf reines individuelles Machtstreben reduziert, ni­
velliert er die Verschiedenheit der gesellschaftlichen Funktion von erster und
zweiter Tyrannis bis zur Unkenntlichkeit: >>Man wird sagen dürfen, daß so­
wohl die sozialen wie die geistigen Voraussetzungen für das Auftreten starker,
vorurteilsfreier Machtrnenschen, welche die allgerneine Krise wahrzunehmen
wußten, hier wie dort ähnliche waren. Auch der Typus des Tyrannenregiments
ist bei allem Reichturn der Spielarten letztlich doch der gleiche<< (S. 165 f.). Das in
der Geschichte immer wiederkehrende Muster von angeblichen Greueltaten
ist durchschaubar. Die Quellen, aus denen die unmittelbaren Kenntnisse von
den Tyrannen geschöpft sind, sprudeln aus einer erzkonservativen Schicht; sie
sind Propagandakolportage der entmachteten Aristokratie. Auf sie bezieht
sich Berve. »Es ist nur natürlich, daß solche Männer allen bewußten Politen
als Frevler an der geheiligten Lebensordnung erschienen ... Den wirklich
bedeutenden Machthabern kam es freilich weniger auf sinnlich-materiellen
Genuß, dessen Befriedigung durch Raub, Schändung von Frauen und Knaben
oder dergleichen ein Hauptmotiv der Tyrannen-Typologie bildet, als auf den
Genuß der Macht als solcher an<< (S. 168 f.). Die Durchsetzung des sozialen
und politischen Aufstiegs breiter Bevölkerungsschichten, die zuvor nur eine
untergeordnete Rolle in der Polis-Gerneinschaft spielen konnten, wird als
Strategie von Ruhm- und Gewinnsucht denunziert (S. 170), mit der Schluss­
folgerung: »Stets ist der bewußt verfolgte Zweck ein persönlicher: Mehrung
des Reichtums, Erweiterung der Anhängerschaft und damit Stärkung der
eigenen Macht<< (S. 170). Der bis zur Gehässigkeit gehenden Verzerrung des
von den Tyrannen bewirkten gesellschaftlichen Umbruchs durch Berve setze
ich die Darstellung von Mary E. White entgegen, deren Forschungen wesentlich
Der Aufstieg der Polis 83

persönliche Zwistigkeiten innerhalb der Herrenschicht da und dort,


sondern um eine allgemeine Umwälzung der gesellschaftlichen Ver­
hältnisse ging. Insofern ist Bengtsons Interpretation zu eng, die >>innere
Zwistigkeiten und Parteiungen der herrschenden Adelsklasse« als Ur­
sprung der Tyrannis annimmt." Sicher waren solche Zwistigkeiten
die Voraussetzung' dafür, dass sich einzelne Angehörige des Adels an
die Spitze einer Volksbewegung setzten und die Macht an sich rissen,
aber ohne die Basis im Demos wären sie nicht siegreich gewesen;
und in ihrer Politik mussten sie die Forderungen des Mittelstandes
verwirklichen. Schon Jacob Burckhardt nennt als erste Amtshand­
lungen der Tyrannen die >>Aufhebung der Schulden<< und die >>Kon­
fiskation des adligen Grundbesitzes<< .37 Burckhardts Charakterisierung
der Tyrannis als >>Todeskrankheit der Aristokratie<< und >>antizipierte
Demokratie<l8 ist sicher treffend.39
Wenn wir nach dem gemeingriechischen Charakter der frühen
Tyrannis fragen, so geht es um ihre Funktion im Übergang von der
Archaik zur nacharchaischen Zeit. Das bedeutet nicht, dass die kon­
stitutionelle Form der Tyrannis allerorten die gleiche gewesen sei.
Vielmehr gab es im geografischen Zentrum der griechischen Welt ein

zur Erhellung der frühen Tyrannis beigetragen haben: >>Was versuchten die
Tyrannen zu erreichen und wieviel erreichten sie? Erstens führten sie ihre
Städte zu größerem materiellem Wohlstand, indem sie eine vielseitige Wirt­
schaft förderten. Die Landwirtschaft nahm weiterhin einen wichtigen Platz ein,
wurde jedoch ergänzt durch eine ständig zunehmende Entwicklung des Ge­
werbes - Keramik, Metallarbeit und Textilien - sowie des Exporthandels und
der damit zusammenhängenden Werftarbeit und kaufmännischen T ätigkeit ...
Die Stadt Karinth muß während der etwa siebzig Jahre dauernden Tyrannis
gewaltig gewachsen sein ... Man baute Wasserleitungen, Kanalisation, Straßen,
Marktplätze, neue Tempel und Stadtmauern: die äußerlich sichtbaren Zeichen
eines neuen Stadtstaates ... In einem Lande wie Hellas, in dem das Wasser
knapp ist, gehörte eine gute reichliche Wasserversorgung zu den obersten Be­
dürfnissen einer wachsenden Bevölkerung. Es ist daher nicht überraschend,
daß Wasserreservoire und Wasserleitungen zu den bekanntesten öffentlichen
Bauten der Tyrannen zählen<< . In: Kinzl (Hg.), a. a. 0., S. 197 und 199.
36 Hermann Bengtson, Griechische Geschichte, München 1965, S. 109.
37 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte I, a. a. 0., S. 168 f.
38 Ebd., S. 166.
39 Es scheint, dass die Beurteilung der frühen griechischen Tyrannis dadurch
behindert wird, dass sich mit dem Wort Tyrann die Assoziation moderner
Diktatoren, besonders putschistischer Militärdiktatoren, verbindet. Manche
Autoren schreiben über Pittakos und Periander als wären sie Warlords aus
Liberia. Auch den Gedanken an Schillers »In Tyrannos<< sollte man fern hal­
ten, wenn man von diesen Protagonisten des Übergangs der Archaik zur
Klassik spricht.
84 Voraussetzungen

weites Spektrum politischer Lebensformen. »Es scheint denn auch


verfehlt, Gesellschaftsformen, die sich in den Außenregionen heraus­
bildeten, wie z. B. die territorial orientierte sizilische Militärdiktatur,
oder die durch Lyder- bzw. Perserherrschaft den Griechen Klein­
asiens diktierte Gouverneurstyrannis, überall und unverändert auf
dem Festland wiederfinden zu wollen- scheint es vor allem verfehlt,
die Fülle und Vielfalt des archaischen Festlandhellenenturns im poli­
tischen Bereich in die Zwangsjacke eines simplifizierenden, pseudo­
juristischen Terminus zwängen zu wollen«.'° Für die gesellschaftlichen
Ursprünge der neuen philosophischen Denkweise, die in Abstrak­
tionen und formalen Argumentationsstrategien nach dem Wesen der
Dinge und der Welt im ganzen forscht, sind diese Differenzierungen
erst sekundär wichtig; primär geht es um die Formbestimmtheit einer
neuen Periode der Klassengesellschaft.
Die Auffassungen über die Klassenbasis der Tyrannen konvergie­
ren bei Abweichungen im einzelnen. Ulrich Wilcken nennt die >>Ver­
trauensleute des Demos«; Bengtson, der die Tendenz hat, den Klas­
sencharakter der Tyrannis abzuschwächen, gibt zu, dass sie sich
vielfach >>als Vorkämpfer der breiten Masse des Demos<< einführten,
Bayer bringt sie in Zusammenhang mit dem Übergang der Wehrbe­
reitschaft auf die bürgerliche Hoplitenphalanx, die eine Demokrati­
sierung des öffentlichen Lebens nach sich zog, sodass die Tyrannen
>>ihre Stellung zunächst mit stillschweigender Duldung des Volkes er­
rangen und in ihren Maßnahmen die Interessen des kleinen Mannes
nach Kräften zu fördern suchten<< .'1 In seiner Marburger Dissertation
stellt Gerd Zörner mit Recht fest, dass die Garantie der Machtüber­
nahme die Unterstützung durch das Volk, insbesondere durch die
ärmeren Schichten war.'2
Dass es sich bei den ärmeren Schichten primär weder um die
Bauern noch um ein städtisches Lohnarbeiterproletariat, sondern um
die Kleingewerbetreibenden gehandelt hat,43 geht zum mindesten für

40 Kinzl, Betrachtungen über die ältere Tyrannis, in: Kinzl (Hg.) a. a. 0., S. 316.
41 Ulrich Wilcken, Griechische Geschichte, München 41939, S. 82. Bengtson,
a. a. 0., S. 112. Bayer, a. a. 0., S. 30. Dagegen ist die sizilische Tyrannis anders
zu beurteilen; vgl. Werner Jaeger, Paideia l, a. a. 0., S. 292; Jaeger schildert
auch die Kulturpolitik der Tyrannen ausführlich.
42 Gerd Zörner, Kypselos und Pheidon von Argos. Untersuchungen zur früh­
griechischen Tyrannis, Marburger Dissertation 1991, S. 58 ff.
43 Marin P. Nilsson, Das Zeitalter der älteren griechischen Tyrannen, in: Kizl
(Hg.), a. a. 0., S. 74 ff., hier S. 80.
Der Aufstieg der Polis 85

die großen Handelsstädte, wie Korinth, aus den Untersuchungen Zör­


ners hervor. Durch die Politik der Tyrannen wurde die Ausbildung
eines handwerklich-bürgerlichen Mittelstandes als Klasse geradezu
gefördert,44 von Peisistratos sagt Bayer wörtlich, dieser habe eine breit
angelegte Mittelstandspolitik getrieben.45 Unter Periander blühte in
Korinth die Keramik-Industrie auf. Und die bekannten sozialpoliti­
schen Maßnahmen dieses mächtigsten und glanzvollsten Herrschers
seiner Zeit (der ja auch zu den sieben Weisen gezählt wurde) haben
eindeutig eine Unterstützung der Schicht der kleinen Handwerker
zum Ziel: das Verbot der Zuwanderung von Landbevölkerung wird
sich vor allem wohl nicht gegen die Landflucht, sondern gegen die
Neuansiedlung von Kleingewerbetreibenden oder billigen Arbeits­
kräften für industrieähnliche Fertigungsbetriebe gerichtet, also zünf­
tischen Protektionscharakter getragen haben; die >>Austerity«-Gesetze
richteten sich gegen Großbesitz und Adel (analog ähnlichen Bestim­
mungen in den spätmittelalterlichen Städten, z. B. Basel); das Verbot
des Erwerbs von Sklaven sollte die Kleinbetriebe gegen billigere Kon­
kurrenz von großen, auf Sklavenarbeit gestützten Industrien sichern
(Bengtson spricht von der >>Rentabilität der freien Arbeit«); auch der
Arbeitszwang betraf mit Sicherheit nicht die ohnehin hart arbeitenden
Kleinhandwerker. Eine neue Gesinnung - arete als produktive, nicht
mehr als kriegerische T üchtigkeit; individuelles Selbstbewusstsein als
Korrelat der Bewährung im Konkurrenzkampf; Wertschätzung der
Arbeit- kam auf: typisch >>bürgerliche« Tugenden.
In der marxistischen Althistorie ist strittig gewesen, ob die Tyrannis
eine klassengebundene Basis in der Bevölkerung hatte. Hans-Joachim
Diesner hebt stark auf die aristokratische Herkunft der meisten Ty­
rannen ab und sieht sie deshalb letztlich doch nur als Usurpatoren;
Pavel Oliva dagegen betont ihre Rolle bei der Zerschlagung der Herr­
schaft der Gentilaristokratie und der Erkämpfung politischer Rechte
für alle freien Polisbürger, vereinzelt sogar für die Metöken.46 Richtig
bemerkt Oliva: >>Für den Charakter der Tyrannis ist eher maßge­
bend, wessen Interessen der Tyrann verteidigte und auf welche ge-

44 Allerdings stützte sich Peisistratos von Athen auch auf die verarmten atti­
schen Kleinbauern. Theagenes von Megara führte unterdrückte ionische Bauern
gegen dorische Adlige zum Sieg.
45 Bayer, a. a. 0., S. 40 f.
46 Pavel Oliva, Zur Problematik der frühen griechischen Tyrannis. Und: Die
Bedeutung der frühgriechischen Tyrannis, in Kinzl (Hg.), a. a. 0., S. 226 ff.
und 236 ff.
86 Voraussetzungen

sellschaftlichen Kräfte er sich in seinem Kampfe gegen die Gentil­


aristokratie stützte. Es kommt doch in der Geschichte häufig vor, daß
Angehörige alter konservativer Klassen als Vertreter und Vorkämp­
fen der Interessen neuer Klassen erscheinen<< .47 Diese Interessen waren
fraglos die eines sich neu herausbildenden Mittelstandes, der sich
allerdings aus keineswegs homogenen Schichten zusammensetzte und
gewiss sich auch nicht zu einer quasi ihrer selbst gewissen Bour­
geoisie formiert hatte.48 Unstreitig ist unter den meisten Althisto­
rikern, dass die Tyrannis in mancherlei lokalen Modifikationen im
Zusammenhang mit sich verändernden Klassenverhältnissen aufkam.
Hervorzuheben ist, >>daß die Tyrannis eine wichtige Stufe auf dem
Wege von der Aristokratie zur Demokratie war<< und >>daß die Ty­
rannis in der archaischen Zeit die einzige politische Macht war, welche
die Herrschaft der Gentilaristokratie brechen und den Weg zur
vollen Entwicklung der Poleis freimachen konnte. In der Tyrannis
fanden die neuen gesellschaftlichen Kräfte (die nichtadeligen Bauern
sowie die wirtschaftlich erstarkenden Handwerker und Kaufleute, also
die feie antiaristokratisch gesinnte Bevölkerung der Gemeinde, der
werdenden Polis) ihre Stütze in dem entscheidenden Kampf gegen
die unbeschränkte Macht und Willkür der Aristokraten ... In ihrer
ersten Phase war die Tyrannis progressiv, weil sie die konservativen
Elemente der Gesellschaft bekämpfte ... Aufgrund einer Analyse der
archäologischen- und teilweise auch numismatischen- Quellen kann
der Zusammenhang der wirtschaftlichen Entwicklung mit der Schwä­
chung der Positionen der Gentilaristokratie ... bewiesen werden.<< 49
Dabei waren Kleinbauern und T heten nur die Hilfstruppen des Be­
sitzbürgertums, der Kaufleute und gewerblichen Produzenten. Ein­
zelne Aristokraten mochten sich aus verschiedenen Gründen mit
deren Forderungen solidarisieren - Einsicht in die Notwendigkeit
einer politischen Form für die neue Produktionsweisen, Verschwä­
gerung mit wohlhabenden Handelshäusern, Rivalitäten unter den Aris­
tokraten. >>Die älteren Tyrannen waren keine Demagogen- aus dem
einfachen Grund, weil es damals noch keinen demos gab, von dem sie
sich emportragen lassen konnten. Sie gehören einer älteren politi-

47 Oliva, a. a. 0., S. 228.


48 Ich halte den Ansatz von Renate Koppe, a. a. 0., die die grobe Klassenein­
teilung durch eine Schichtenspezifik differenziert, für plausibel und im Um­
feld der Kontroversen wohl begründet.
49 0liva, a. a. 0., S. 227 und 231.
Der Aufstieg der Polis 87

sehen Entwicklungsphase an und sind richtiger zu beschreiben als


die erfolgreichen Vorkämpfer eines erstarkenden Mittelstandes, die
die exklusiven Geburtsaristokratien stürzten und dadurch ihren
Städten eine freie Entwicklung ermöglichten, die unter günstigen Um­
ständen in eine Demokratie münden konnte<< .50 Daraus lässt sich
auch erklären, dass zwar die Hegemonie der Aristokraten gebrochen
wurde, diese aber eine einflussreiche Stellung in der Gesellschaft be­
hielten und ihr Grundbesitz in der Regel auch nicht angetastet wurde.
Unter diesen Umständen musste die Tyrannis eine Übergangs­
lösung bleiben. Sobald die kleinbürgerlichen Schichten sich nach der
Überwindung des Adels konsolidiert hatten, wurde die Willkür der
Einzelherrschaft für sie unerträglich. Der Diktator wurde durch De­
mokratie ersetzt. Von zwei Seiten gewann so die tyrannenfeindliche
Ideologie Boden: Für die Angehörigen der alten Aristokratie war der
Tyrann - gar noch als Klassenverräter - der Hauptfeind, weil er ihre
Vorrechte beseitigt hatte; für die Bürger war er das Hindernis ihrer
endgültigen Emanzipation. So geriet die Tyrannis in Verruf, spätere
Schriftsteller häuften alle Scheußlichkeiten, die sie ersinnen konnten,
auf das Haupt der Tyrannen. Der progressive Sinn ihrer Diktatur -
Entmachtung und Enteignung der alten Herrenklasse, Sicherung des
Aufstiegs des Demos - geriet in Vergessenheit. Die Zeitgenossen
aber, die Tyrannen wie Periander, Pittakos und Kleobulos unter die
Erzväter griechischer Weisheitslehre rechneten, dachten noch anders;
und sie konstatierten die Anfänge archaische Philosophie im Zusam­
menhang mit dem Übergang zur demokratischen Polisgesellschaft,
der sich durch die Tyrannis vollzog.
So muss man die Einschätzung von berühmten Zeitgenossen der
Tyrannis relativieren, die prägend in die Überlieferung einging. Alkaios
war ein Angehöriger der alten Aristokratie, wie sein Jugendfreund
Pittakos auch; dass dieser sich zum Führer der Volksbewegung gegen
den Adel aufschwang, war für Alkaios Verrat an der Hetairie. Solon,
ebenfalls aus aristokratischem Hause, erkannte die Notwendigkeit
eines Klassenkompromisses, durch den Volksrechte begründet und
Adelsrechte abgeschafft wurden. Aus diesem Kompromiss ging das
Leitbild des Rechts als gesellschaftliches Ordnungsprinzip hervor
(wie wir noch sehen werden)." Aber Solon versuchte auch, dem Adel
Privilegien zu erhalten, um mit dem Bürgertum eine gemeinsame

50 MaryWhite,a.a.O.,S.185.
51 Siehe unten cap. VII.
88 Voraussetzungen

Front für die athenische Machtpolitik in der Agäis zu bilden, statt


sich in internen Klassenkämpfen zu verzehren. Der Gedanke an eine
Tyrannis, die sich einseitig auf den Demos stützt, blieb für Solon
unannehmbar, obschon er selbst diktatorische, also »tyrannische<<
Vollmacht für die Durchsetzung seiner Reform übertragen bekam,
auf die er dann nach Ablauf seines Archontenjahres wieder ver­
zichtete.
Solons Vorsicht konnte den Gang der Klassenauseinandersetzung
nicht aufhalten. Schon wenig mehr als dreißig Jahre nach seinem
Verfassungwerk konnte sein Neffe Peisistratos für ein Menschenalter
in Athen, sehr zum Wohle des Volkes, die Tyrannis an sich reißen
(561). »Er trieb typische Tyrannenpolitik, trat durch diplomatische
Aktionen und Bündnisse mit Aristokraten und Tyrannen der grie­
chischen Welt in Beziehung ..., förderte die Unternehmungen athe­
nischer Adliger, die sich an den Dardanellen festsetzten und dort
private Herrschaften gründeten, womit die Versorgung mit Getreide
aus der Ukraine sichergestellt wurde. Er trieb eine breit angelegte
Mittelstandspolitik, die schließlich dazu führte, daß Athen jetzt end­
lich seine Kräfte nutzte und sich gegen die wirtschaftliche Konkur­
renz seiner nächsten Nachbarn durchsetzte; attisches Geld, die
>Eulen< , und attische schwarz- und rotfigurige Keramik fanden welt­
weite Verbreitung ... Dies alles weist weit in die Zukunft, erfreulich
positive Seiten einer Zeit des Wirtschaftswunders und der Stagnation
politischer Gesinnung«.52 Die Tyrannis wurde erst mit spartanischer
Militärhilfe durch die Adelspartei gestürzt; deren Anführer indessen,
Kleisthenes, setzte dann endgültig in Abänderung der solonischen
Verfassung die Entmachtung des Adels und die lnstitutionalisie­
rung der Volksherrschaft durch - man sieht, wie die Klassenwider­
sprüche sich in den Individuen in widersprüchlichen Verhaltens­
weisen spiegeln.
Jedenfalls haben Peisistratos und seine Söhne den Grundstein für
die athenische Kultur der folgenden zweihundert Jahre gelegt.53 Sie
haben damit der sich entfaltenden ökonomischen und militärischen
Vormachtstellung Athens einen Glanz verliehen, der bis heute das

52 Bayer, a. a. 0., S. 40 f. Man sieht, wie widerwillig der Historiker die Errun­
genschaften der athenischen Tyrannen anerkennt.
53 Vgl. dazu Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. 111, Darmstadt 1981
(Nachdruck der völlig neu bearbeiteten 2. Auflage von 1937), S. 726 ff.
Der Aufstieg der Polis 89

Bild des humanistischen Kulturerbes verzaubert und leicht die vielen


politischen Untaten der Kriegs- und Parteienkämpfe vergessen lässt.
Im Ganzen war die Tyrannis für die griechischen Poleis eine Pe­
riode technischen Fortschritts, steigenden Wohlstands, blühender
Kultur und größerer Beteiligung des Volkes am politischen Gesche­
hen. Gebunden an die Person des Tyrannen, der mit Gewalt den
politischen Wandel zu garantieren hatte, musste sie mit den großen
Herrscherpersönlichkeiten, die den Volkswillen verkörpern und mit
geschickter Diplomatie umsetzen konnten, als Ordnungsform ver­
schwinden und in institutionelle Normierungen der gesellschaftli­
chen Macht übergehen. Mit den demokratischen Reformen des Kleis­
thenes und Ephialtes wurde in Athen eine politische Öffentlichkeit
geschaffen, in der Entscheidungen im Widerstreit der Argumente ge­
fasst wurden. Damit wurde Athen zum Vorbild und politischen Zen­
trum Griechenlands. Hatte die Philosophie bisher allenfalls durch
den Philosophen als Gesetzgeber praktisch gewirkt, so bekam sie nun
den Ort, als Philosophie, d. h. als Theorie, praktisch zu wirken: die
Agora.
4. Kapitel:
Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip

Zweifellos stehen die Anfänge eines sich herausbildenden begriffli­


chen dialektischen Denkens in engem Zusammenhang mit der sich
entwickelnden Idee einer Rechtsordnung. Dass die in staatlicher (po­
litischer) Form verfasste Gesellschaft das Gemeinsame der von ihr
umgriffenenen widerstreitenden Interessen oder Parteien sei und die
Einheit dieser Gegensätze darstelle, ist der Grundgedanke der Rechts­
ordnung (Bwf16c;), die als Ausfluss eines gemeinschaftlichen mensch­
lichen Willensentscheids (modern gesprochen: einer volonte generale)
dem älteren Begriff einer gewachsenen, durch Traditionen geheilig­
ten und menschlichem Eingriff entzogenen, an sich geltenden Seins­
ordnung (v6floc;) entgegengesetzt wird.1 Die Rechtssatzung ist es,
die den Streit (EQLc;) regelt, der als Hader und Widerspruch, als Lug
und Trug und eben als Rechtsverletzung die Mitglieder des Gemein­
wesens entzweit (Vergil übernimmt die griechische Göttin Eris als
Discordia),2 die aber auch, früher noch als im Rechtsstreit, die Men­
schen im Wettstreit zu Leistungen anspornt.' Dass der Streit das
Prinzip der menschlichen Gesellschaft sei (jedenfalls der Mehrwert
erzeugenden und vor allem der arbeitsteilig produzierenden) und da-

Alfred Heuss, Propyläen- Weltgeschichte, Band 11/1, S.172. - Zur Termino­


logie: Nomos ist >>die Objektivität einer unpersönlichen Ordnung<< , die ihrer
>>Natur nach nur allgemeine Regeln enthält<< . Olof Gigon, Lexikon der an­
tiken Welt, Zürich 1965. Siehe auch Felix Heinimann, Nomos und Physis,
Basel1945, S. 62.- Die etymologische Herkunft des Worts VOf.Wc; =Weide­
platz, Wohnbereich, der einem Besitzer zugeteilt ist (VEf.!ELV = zuteilen),
weist auf die Landnahme, wohl im Rahmen der Ägäischen Wanderung hin.
Gegenstand und Geltung eines religiös sanktionierten Besitztitels fließen
dann in einem Begriff zusammen.
2 Hesiod, Theog. 229 ff.
3 Hesiod, Erga, 20 ff. Der Gedanke, dass der Zwist aus der Rivalität oder Kon­
kurrenz entstehe, die >>früher<< ist, weist auf entwickeltere Produktions­
verhältnisse als die der bloßen Subsistenzwirtschaft kleiner Gemeinden hin;
ausdrücklich wird der >>bessere Ertrag<< (Überschussproduktion) des Bauern
und des Handwerks (Töpferei) genannt.
Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 91

her die Rechtsordnung die Einheit der Gegensätze ist und die Form­
bestimmtheit des Streits hat4 und den Ausgleich für die Verletzung
der Ordnung herstellt,5 gibt das kategoriale Muster für erste dia­
lektische Denkfiguren ab. »Werke und Tage«, das Hesiodsche Ge­
dicht des Arbeitsethos, in dem der Widerspruch von Arbeit und
Herrschaft artikuliert wird, gewinnt seine Argumente aus der Situa­
tion eines Rechtsstreits.
Allerdings hat sich die aus dem bäuerlichen Alltag hergeleitete
Orientierung am gerechten Ausgleich der geleisteten Arbeit nach­
hesiodisch nicht durchgesetzt. In der Polisgesellschaft, die ihre Exis­
tenzform doch mehr und mehr aus dem beginnenden Warenverkehr
zog, waren die zu ordnenden Streitfälle überwiegend nicht auf die
Arbeitsleistung, vielmehr auf das Arbeitsergebnis, also den Besitzstand
bezogen. Dike ist der rechte Ausgleich bzw. die Zuteilung des rech­
ten Anteils. »Daß diese Grundanschauungen ganz und gar der sachen­
rechtlichen Sphäre entsprungen sind, liegt auf der Hand und stimmt
mit dem typischen rechtsgeschichtlichen Befund bei anderen Völ­
kern überein. Zu allen Zeiten blieb für griechisches Denken dieses
ursprüngliche Moment der Gleichheit in dem Wort Dike mit enthal­
ten. (... ) Für die ältere Zeit ist die Forderung des gleichen Rechts ein
höchstes Ziel gewesen. Bei jedem noch so geringfügigen Streit um
Mein und Dein bedurfte es des Maßes, um den Anteil jeder Partei
gerecht zu bemessen. Hier wiederholt sich auf rechtlichem Boden
das Problem, welches die gleiche Zeit für den wirtschaftlichen Aus­
tausch der Güter durch Einführung einer festen Maß- und Ge­
wichtsnorm löste: Man suchte nach dem richtigen Maß für den Anteil
am Recht und fand es in der im Begriffe der Dike selbst liegenden
Forderung der Gleichheit<<!
Es ist nicht ganz leicht, aus der Begriffsdifferenz den Fortschritt
von Nomos zu Dike zu fassen und die Dialektik im Wandel des
Rechtskonzepts zu verstehen. nemein wie dikein haben die Grund­
bedeutung der Zuteilung. Das eine wie das andere Verbum haben es
mit der Verteilung von Besitz zu tun, in medialem Gebrauch heißt
nemein sogar einfach besitzen. Vom Besitz materieller Güter wird
der Begriff übertragen auf Anrechte aller Art, bis er sich schließlich

4 Heraklit B 80.
5 Dies schon mit metaphysischer Bedeutung übertragen bei Anaximander B 1.
Dike ist dann auch die personifizierte Naturordnung. Vgl. Heraklit B 94.
6 Werner Jaeger, Paideia, Bd. I, S. 146.
92 Voraussetzungen

auf Gerechtigkeit ausdehnt und zu einer ethischen Norm verallge­


meinert wird, die verinnerlicht eine Verhaltensweise und ein Cha­
rakterbegriff sein kann.
Der Begriff des Rechts, den wir mit Dike verbinden, fehlt noch
in aristokratischer Zeit. Von Homer bis Pindar gibt es nur ein Ver­
halten kata nomon, und Nomos besagt »das Gemeinsame, das eine
Gruppe von Wesen charakterisiert. Nie aber kann das nur ein äußer­
liches Merkmal sein; vielmehr ist es stets dadurch bezeichnend, daß
es verpflichtende Geltung hat. Nomos ist somit das bei einer Gruppe
von Lebewesen Geltende. (...) Weiterhin ist nomos die objektive,
über dem Einzelnen und sogar über der Gemeinschaft stehende und
ihr Leben regelnde Ordnung.</
Nomos ist keine vereinbarte oder durch Herrschaftsakt erlassene
Satzung, sondern >>die einer Gruppe von Lebewesen zugeteilte und
bei ihnen geltende Ordnung, also ein über ihnen stehendes Objek­
tives<< .' Darum kann Pindar im Fragment 179 vom Nomos als basi­
leius von allen, den Sterblichen wie auch den Unsterblichen, sprechen.
Und basileius ist im archaischen Sprachgebrauch nicht der König
(der in der aristokratischen Oligarchie auch gar nicht so hoch gestellt
wurde), sondern der Richter, der im Streitfall entscheidet- und im
Fragment 53 des Heraklit ist eben diese Funktion genannt, wenn der
Streit (Krieg) - polemos- als Vater und basileius von allem bezeichnet
wird. Nomos ist die ehrwürdige Gewohnheit, die Sitte, das allgemein
Geltende, die geheiligte überkommene Ordnung und als solche theos
nomos. In den Nomos einer Gesellschaft, eines Zeitalters wird man
hineingeboren und bleibt ihm unterworfen; er ist eine gegebene (zu­
geteilte) Herrschaftsordnung, die auch eine schlechte sein kann, aber
doch respektiert werden muss.
Dieser Nomos ist es, aus dem die richterliche Gewalt der herr­
schenden Klasse, des Adels, die Urteile in den Streitfällen schöpfte,
über die sie zu Gericht zu sitzen hatte. Indem durch ihre Jurisdik­
tion dem Nomos Nachachtung verschafft wurde, erhielt sich die von
Zeus eingesetzte >>natürliche<< Ordnung (themis), die zugleich die
Ordnungmacht der Herrschenden (themis) war. Beide Aspekte, gött­
liche Ordnung und weltliche Herrschaft werden vom selben Begriff
gedeckt. Ich zitiere die vorzügliche Beschreibung von Werner Jaeger:
>>Der Richter der patriarchalischen Zeit sprach Recht nach der von

7 Heinimann, a. a .0., S. 65.


8 Ebd., S. 62.
Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 93

Zeus stammenden Satzung, deren Norm er frei aus der Überliefe­


rung des Gewohnheitsrechts und aus eigener Erkenntnis schöpfte (...)
Alle Rechtsprechung hatte bisher unbestritten in der Hand des Adels
gelegen, der ohne geschriebenes Gesetz nach dem Herkommen ur­
teilte. Bei der wachsenden Verschärfung des Gegensatzes zwischen
Adel und Gemeinfreien, die sich aus der Hebung der wirtschaft­
lichen Lage der nicht adligen Bevölkerung ergeben mußte, führte das
leicht zu politischem Mißbrauch des Richteramts und zu der Forde­
rung des Volks nach geschriebenem Recht. Hesiods Vorwürfe gegen
die bestechlichen adligen Richter, die das Recht beugen, sind die
notwendige Vorstufe dieser allgemeinen Forderung. Durch sie wird
das Wort Recht Dike, Dike die Parole des Ständekampfs (...) Man
versteht, daß Dike in einer Zeit des Kampfes um die Rechtsansprüche
eines Standes, der bisher das Recht immer nur als themis, d. h. als ein
autoritär Gesetztes und Gültiges von oben hatte hinnehmen müssen,
mit Notwendigkeit das hauptsächliche Schlagwort werden mußte.
Die Berufung auf die Dike wird jetzt immer häufiger, leidenschaft­
licher, fordernder<<,9
Dike ist ein Kampfbegriff, in dem sich eine neue Gesellschafts­
gesinnung Ausdruck verschafft. Die Zusammenstellung von Dike und
Eunomia, die Hesiod in der Theogonie genealogisch verknüpft (was
vom Mythos abgelöst eine klassenlogische Bedeutung hat), bindet
die »gute Ordnung«, die wohl geordnete Gesellschaft an die distri­
butive Gerechtigkeit und fügt zugleich als dritte der Horen Eirene,
den Frieden, hinzu. Ausgewogene Berücksichtigung der individuel­
len Belange ist dike - dikein ist im frühen Sprachgebrauch die Ver­
teilung der Kriegsbeute. Das Verhältnis ist nicht das von Fron des
Knechts und Ausbeutung des Herrn, sondern das eines quantifizier­
baren, im Bild der Waage symbolisierten Ausgleichs von Ansprüchen.
Das ist die dikaiosyne einer neuen, auf Warenverkehr beruhenden
Gesellschaft. Die ersten Münzprägungen gehen mit diesem Wandel
parallel, also Geldwirtschaft statt Gütertausch. Handwerkliche Tech­
niken werden entwickelt, die eine Produktion über den unmittel­
baren Eigenbedarf der Polis hinaus und damit Export ermöglichen.
Die damit dichter und vielfältiger werdenden Beziehungen zwischen
den Menschen können nicht mehr nur nach lokalem Gewohnheits­
recht und spontanem Rechtsempfinden geregelt werden; wenigstens

9 Jaeger, a. a .0., S. 144 f.


94 Voraussetzungen

ihre Eckpunkte müssen kodifiziert sein, Klagender und Beklagter


bedürfen eines allgemeinen Grundes, von dem her sie ihre besondere
Sache geltend machen können. Ding und Eigenschaften sind zu un­
terscheiden, Regeln des Argumentierens werden erforderlich, logi­
sche Hierarchien von Gattung, Art und Einzelfall sind zu klären, das
Verhältnis von Widersprüchen, in die Ansprüche aus verschiedenen
Rechtsquellen geraten, müssen bedacht und geschlichtet werden. Ein
Rattenschwanz von Problemen zeigt sich, die nicht mehr aus dem
Gefühl und nach einfachen Faustregeln aufgelöst werden können.
Die Verkehrsordnung einer Gesellschaft, deren Lebensform und
Wohlstand auf Warenproduktion und Fernhandel beruht, verlangt
Erkenntnis ihrer Ordnungsprinzipien und begriffliche Verarbeitung
der in ihr auftretenden Innovationen. Die Rechtsform wird zur Schule
des Denkens, weil sie Denkmöglichkeiten aktiviert und Denkformen
hervorbringt. Die Ordnung im Ganzen steht als ein die Individuen
umgreifendes Gebilde dar, sie wird als eine endliche, begrenzte, über­
individuelle Wirklichkeit erfahren. Damit ist sie als ein definierbarer,
sich nicht in der unbestimmten Unendlichkeit des Natur-Alls zer­
streuender und verlierender metaphysischer Gegenstand gegeben:
Hegel wird das später den objektiven Geist nennen. Dikaiosyne wird
so an den Logos gebunden, während im älteren Sprachgebrauch dikaios
durchaus noch die natürliche Ordnung vor jeder rationalen Kon­
struktion meinen konnte - auch körperliche Gesundheit wurde als
dikaios bezeichnet.
Mit der Verrechtlichung der gesellschaftlichen Beziehungen, dem
bios politikos als dem Gemeinsamen, an dem alle unabhängig von ihren
privaten Eigenheiten teilhaben, wird dikaiosyne zur Universaltugend
schlechthin, die alle anderen Tüchtigkeiten des Menschen übergreift.10
Damit verlagert sich die Wertorientierung von der Sphäre vitaler
Bewährung zu der geistiger Reflexion. Die arete der Adelsgesell­
schaft gab es im Plural als Tapferkeit im Kampf und hochgespannte
Leistung im sportlichen Wettstreit, als Geschicklichkeit und Kraft
bei der Ausübung einer Tätigkeit und im selben Sinne auch als treff­
sichere Urteilskraft, insbesondere bei Entscheidungen, die das Ge­
meinwesen betreffen; auch dies war nicht so sehr eine intellektuelle
Befähigung als vielmehr eine praktische Tüchtigkeit, die sich im Erfolg
des Handeins zu bewähren hatte. Man muss arete überhaupt >>in

10 Vgl. Jaeger, a. a .0., S. 147 ff und 155 ff. Fritz Wehrli, Hauptrichtungen des
griechischen Denkens, Zürich 1964, S. 106.
Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 95

außermoralischem Sinne<< sehen, der Listenreichtum des Odysseus


ist eine arete wie Ehrlichkeit und Fairness, und es stört nicht, dass
sie einander auch widersprechen mögen. Solche Widersprüche wur­
den pragmatisch hingenommen, erst ihr Ausufern und die daraus
folgende Verletzung von Maßstäben, die das Gleichgewicht garan­
tieren sollten, riefen das Nachdenken über Normenkriterien hervor,
wie Hesiod und Solon zeigen. Als Fairness und Maßhalten generell
gegen die Hybris eingefordert werden mussten, entwickelte sich
das Rechtsdenken und wurde die dikaiosyne zu einer Art Zentral­
arete. War zuvor die Akzeptanz einer - der bestehenden - Ordnung
spontan selbstverständlich, so fragte man nun nach einem Prinzip,
aus dem sie sich begründete. Die Vergeistigung des Pragmatischen
setzte ein.
Das Verhältnis der drei Rechtsbegriffe - themis, nomos, dike -

ist nicht leicht zu erklären, da die Begriffsfelder sich partiell über­


schneiden und sie auch im Gebrauch nur unscharf voneinander
abgehoben sind; auch gibt es Sinnverschiebungen bei den einzelnen
Autoren.
Der systematische Platz, der der Göttin Themis in der hesiodi­
schen Genealogie zukommt (als zur ersten Göttergeneration nach
Erde und Himmel gehörig und dann von ihrem »Neffen<< Zeus die
Dike empfangend) ist zweifellos auch geschichtlich gedacht; die Ge­
schichtstypologie, zu der in Hesiods Lehre von den Weltaltern die
Mythologie umgesetzt wurde, bestimmt den historischen Bereich,
dem Themis entstammt. Sie ist, als Schwester des Kronos, die Hüte­
rin und Gebieterin der Ordnung des >>goldenen Zeitalters<< , also des
vorgeschichtlichen Paradieseszustands oder, wie man heute sagen
würde, der Urgesellschaft. Da bedurfte es noch keiner Rechtsetzung,
sondern das einsichtsvolle Verhalten richtete sich nach dem, >>was
recht und ehrlich ist<< , wie es im Gründlichen Mythologischen Le­
xikon von Hederich heißt.11 Hesiod verbindet Themis mit dem Be­
griff eidos - themis eidoie - diesem schwer übersetzbaren Wort, in
dem sich die Bedeutungsfelder von Scham, Ehrfurcht, Zurückhaltung,
Würde, Selbstachtung überlagern und vereinigen.12 In diesem Sinne
blieb Themis auch später als entpersonalisierter Bereichsbegriff er-

11 Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon, Leipzig 1770, Neu­


druck Darmstadt 1986.
12 Zur anthropologischen Bedeutung der Scham, vgl. Otto Friedrich Bollnow,
Die Ehrfurcht, Frankfurt am Main 1947.
96 Voraussetzungen

halten, sozusagen als Sittengesetz vor der kodifizierten Rechtsordnung,


dike. Die Einheit von Personifikation und Abstraktion, die das spä­
tere Zugleich von Mythologie und Aufklärung charakterisiert, ist ihr
geblieben, sodass sie auch weiterhin kultische Verehrung genoss,
selbst an herausgehobenen Orten wie Delphi und Olympia, wo es
Altäre der Themis gab, die sich an die heiligen Stätten der Gaia, der
Erde, anschlossen, worin man einen Ursprung in chthonischer Reli­
gion und, wenn man will, aus matriarchalischer Herkunft sehen
mag. Vorhesiodisch ist Themis jedenfalls die Instanz, auf die sich
die gesellschaftliche Ordnung bezieht und die dem vorhergeht, was
im Nomos verbindlich gemacht wird; übergeordnet, weil sie auch
noch die Götter bindet. Themis ist bis in die Odyssee der das
Rechtsverhalten prägende und ihm zugrundeliegende metaphysi­
sche Leitfaden.
Dass Dike zur Tochter der Themis erklärt wird, ist stimmig. Die
Rechtsordnung erwächst aus der Metaphysik der Sitten. Bemerkens­
wert ist aber, dass dem Nomos keinerlei mythologische Überhöhung
zuteil wurde, obwohl die Ordnung der Nomoi doch älter war als die
abstrakte Idee der Dike als Prinzip der Rechtsordnung. Den Nomos
bildeten eben jene Rechtsregeln, nach denen die aristokratischen Ge­
richtsherren ihre Urteile fällten. Solange diese sich an die Themis
hielten, waren sie gerechtfertigt bzw. bedurften keiner Rechtfertigung.
Sobald die Nomoi jedoch in Anpassung an die sich verändernden
Zeitumstände im Interesse der Herrschenden ausgelegt oder umfor­
muliert wurden, erwiesen sie sich als >>krumm«. Der Begriff des
Rechts als des >>Geraden, Rechten, gleich gerade Verlaufenden« (dikaios)
wurde zum Gegenbegriff gegen die Schliche bei der Auslegung der
Nomoi. Darum ist die öffentliche und schriftliche Festlegung der
Rechtsnormen, wie Solon sie vorgenommen hat, die eigentliche >>Ein­
setzung« der dike, die nun auch konkret in besonderen dikai argu­
mentativ verhandlungsfähig wurde. Dass der Plural von dike termi­
nologisch üblich wurde, bezeichnet den Einschnitt im Übergang von
der Rechtsidee zur Rechtsordnung.13

13 So handelt Lipsius, Das attische Recht und Rechtsverfahren, Leipzig 1905 ff.,
Nachdruck Bildesheim 1984, vom Recht immer nur im Sinne eines geordne­
ten, geregelten Rechtsverfahrens. Zur prinzipiellen Differenz von Recht und
Rechtsordnung vgl. Wilhelm R. Beyer, Recht und Rechtsordnung, Meisen­
heim/Glan 1951.
Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 97

Die Auffassung von der Gerechtigkeit als der rechten, geordneten


Verteilung der Güter- dann auch, als zugeteilt durch das Schicksal,
der >>Lebensgüter<<- erleichterte die Übertragung dieses neu gewon­
nenen gesellschaftlichen Ordnungsbegriffs auf die Natur. Die Mannig­
faltigkeit der Erscheinungen als einen Zusammenhang zu begreifen
lag schon in der Intention des vorphilosophischen Denkens. Dieser
Zusammenhang wurde personalisiert, das heißt gemäß quasi-psy­
chologischen Motivationen begriffen, im Mythos; er wurde instru­
mentalisiert im Ritus und in der Magie. Mit dem Versuch, die Vielfalt
der Mythologien in eine sachlogische Systematik zu bringen, hatte
Hesiods Theogonie den ersten Schritt zur wissenschaftlichen Kon­
struktion getan. Indessen verlangte das sich im 6. Jahrhundert mit
wachsendem praktischem Interesse auf die Naturphänomene rich­
tende Denken nach mehr als nur einer Theologie der Natur; vielmehr
kam es darauf an, das Prinzip zu finden, nach dem der Zusammen­
hang der Erscheinungen als Einheit begriffen werden konnte.
Als Einheit der Ordnung des Vielen hatte sich im gesellschaft­
lichen Leben das Prinzip der dike erwiesen. Das heißt: Als die ge­
sellschaftlichen Abhängigkeiten sich nicht mehr naturwüchsig und
analog zur Mythologie von selbst ordneten, sondern eines Verfahrens
der Ordnung bedurften, war dike zur Abstraktion dieses Verfahrens
geworden (analog zu den Ableitungen der Theogonie). Sollte nun
eine Abstraktion des Verfahrens gefunden werden, gemäß dem die
Naturdinge sich zum Kosmos zusammenschließen, so lag es nahe,
den Austausch und Wandel in der Natur parallel zu dem in der Ge­
sellschaft zu erklären. Diese metaphysische Übertragung wird in dem
berühmten Frg. 9 des Anaximander ausgesprochen: >>Woraus den
Wesen ihr Ursprung ist, dahinein (in dasselbe) wird auch ihr Tod
gemäß dem, was nötig ist. Denn sie zahlen einander Schadenersatz
und Buße für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit«.
Der Satz hat in der Philosophiehistorie mancherlei weitgehende
Interpretationen gefunden und ist von den Interpreten mit ihrem
eigenen Tiefsinn und dem metaphysischen Ballast der Zeiten be­
frachtet worden. Bedenken wir, dass wir es mit einem Zitat zu tun
haben, das in der vorliegenden Fassung wenigstens teilweise als
Zusammenfassung und Paraphrase des Originals durch Theophrast
gelten muss und so von Simplicius überliefert wurde! Dann wird
man den Wortlaut nicht hermeneutisch auspressen dürfen, sondern
sich möglichst an den einfachsten zugrunde liegenden Sinn zu hal­
ten haben.
98 Voraussetzungen

Gesprochen wird von den Seienden, den Wesen - und zwar im


Plural; es handelt sich also um die Vielzahl der innerweltlichen Dinge,
nicht um den einen Seinsgrund. Die zwei ausgezeichneten Zeit­
punkte ihres Seins werden betrachtet und zueinander in Beziehung
gesetzt: Entstehen, Ursprung, Geburt (yt:vEmc;) und Vergehen, Tod
(<p.SoQci). Dass ein Seiendes entsteht und wieder vergeht, macht seine
Zeitlichkeit aus, als ein nicht dauerndes, nicht ewiges ist es dem Maß
der Zeit (T] mu XQÜVou 'I:al;Lc;) unterworfen. Das Ka'I:a 'I:TJV mu
XQ6vou 'I:al;Lv des zweiten Satzes lässt sich an die Stelle des Ka'I:a n)
XQEWV - gemäß dem, was nötig ist - setzen. Das Notwendige ist das
Maß der Zeit, oder vielmehr: das Maß der Zeit bewirkt, was nötig ist.
(Im hellenistischen Sprachgebrauch wird später n) XQEWV als Um­
schreibung für den Tod benutzt- eine Stilformel, die in dem seit alters
gedachten Verhältnis von Zeit und Notwendigkeit begründet ist).
Das Notwendige oder das, was das Maß der Zeit bewirkt, ist die
Beziehung des Entstehens einer Sache auf ihr Vergehen, der Geburt
auf den Tod, des Anfangs auf das Ende. Was geworden ist, das ist
nicht ewig, also vergänglich. Nur vom einzelnen aber ist sagbar, dass
es geworden ist; das Ganze kann nicht geworden sein, sonst gäbe es
ja etwas vor ihm (mithin außer ihm), und es wäre nicht das Ganze.
Der Grund, aus dem jedem Einzelnen seine Einzelheit wird, ist das
Ganze, aus dem es sich aussondert, und dieses ist das Grenzenlose
(apeiron). Aus dem Grenzenlosen entstehen die einzelnen Seienden,
indem sie sich als so und so bestimmte aussondern; und in es hinein
vergehen sie wieder, lösen sie sich wieder auf, indem sie ihre Be­
stimmtheit verlieren. T heophrast bzw. Simplicius irrten also keines­
wegs, als sie den Satz über Entstehen und Vergehen der Dinge mit
jenem verknüpften, in dem vom apeiron als dem Ursprung der Welt
gesprochen wurde: >> (...) eine andere, als Unbegrenztes bestimmte
Natur, aus welcher alle Himmel und die Welten in ihnen entstehen<<,
Weil aus der ewigen Einheit die zeitliche Vielheit hervorgeht, bedarf
es eines Prinzips das diese Vielheit und ihre Prozessualität kon­
stituiert. Dieses Prinzip ist die Zeit.
Bis hierher scheint sich die Interpretation aus dem Text ohne
Schwierigkeiten herleiten zu lassen, unabhängig davon, wie wortge­
treu T heophrast den Anaximander wiedergegeben hat (wenn wir nur
annehmen, dass er ihn sinngetreu referierte). Bedeutend daran ist,
dass hier erstmals ontologisch gedacht wird: ein Bestand kategorialer
Erstbegriffe - Sein, Ganzes, Eins, Vieles, Zeit - wird angelegt und
die apriorische Systematik dieser Begriffe als Grundmuster der Welt
Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 99

begriffen. Die Inhalte einer intuitio originaria, auf die jede Erkenntnis
zu gründen ist, sind hier schon abgedeckt. Aus welcher historischen
Problemlage diese Grundlegung der Philosophie entspringt, werden
wir im Zusammenhang der Erörterung der milesischen Naturphilo­
sophie noch behandeln.
Die Schwierigkeiten der Auslegung tauchen da auf, wo das (prä­
sumptiv wörtliche) Zitat anfängt: im zweiten Satz, von dem Simpli­
cius sagt, er sei in recht poetischen Ausdrücken gehalten. Was soll es
bedeuten, wenn gesagt wird, »sie zahlen Schadenersatz und Buße
einander für ihr Unrecht«. Wer zahlt, ist die erste Frage. Kirk/Raven
bemerken, dass >>aMf]Am<; zeigt, daß die Buße wechselseitig zwi­
schen den Parteien geleistet wird, die das Subjekt des Satzes sind«.
Subjekte aber sind (Korrespondenz eines grammatischen und eines
logischen Subjekts) ytvwt<; und cpSoQa. Meint Anaximander also,
dass Entstehen und Vergehen einander Schadenersatz leisten - das
Entstehen dem Vergehen durch seinen Untergang, das Vergehen dem
Entstehen (...) ja, wodurch wohl dieses? Dadurch daß es Platz für
neues Entstehen schafft, dadurch, daß es sich selbst in der ewigen
Existenz des Ganzen aufhebt? So gesehen, bliebe der Satz in der Tat
dunkel. Wenn aber der Vordersatz doch nur eine peripatetische Pa­
raphrase, jedenfalls kein wörtliches Zitat ist, dann zwingt uns nichts,
den wörtlich zitierten Nachsatz grammatisch auf die Subjekte des
Vordersatzes zu beziehen. Dann können wir den eigentlichen Aussa­
gegegenstand des Vordersatzes, die Seienden, als das Sinn-Subjekt
betrachten und den Nachsatz darauf beziehen. Daß die Seienden
einander Buße leisten, klingt metaphorisch einsichtiger, denn die
Seienden können als Einzelteile der Natur betrachtet werden wie die
Bürger als Einzelteile des Staates. Worin aber besteht nun ihr Un­
recht? Am weitesten würde man gehen, vermutete man: in der Aus­
grenzung des Einzelnen und Besonderen aus dem Einen und All­
gemeinen, eine Art Abfall vom Weltgrund; orientalische Einflüsse
könnten eine solche Meinung angeregt haben, Jahrhunderte später
hat die Gnosis sie vertreten. Dürfen wir aber den frühen Griechen
einen solchen metaphysischen Pessimismus unterstellen? Der Wort­
laut des Fragments, scheint mir, spricht dagegen. Denn für dieses
Unrecht wären die Seienden nicht einander, sondern dem apeiron
Buße schuldig. Einander aber brauchen sie nur Schadenersatz zu
leisten, wenn sie sich gegenseitig schädigen, eines das andere, indem
es diesem sein Sein verkürzt und beschneidet (und umgekehrt): so
wie die Nacht den Tag tötet und der Tag die Nacht wiederum über-
100 Voraussetzungen

windet, wie die Jahreszeiten einander ablösen u. ä. Kirk/Raven den­


ken den Satz als Metapher für den aus Gegensätzen sich aufbauen­
den Naturrhytmus14 und nehmen dafür auch Heraklit in Anspruch,
der sozusagen eine entwickeltere Fortbildung der anaximandrischen
Lehre gegeben habe. »Der dauernde Austausch zwischen entgegen­
gesetzten Substanzen wird von Anaximander mit einer rechtsphilo­
sophischen Metapher erklärt, die von der menschlichen Gesellschaft
abgeleitet ist: das Überwiegen einer Substanz auf Kosten ihres
Gegenteils ist >Unrecht<, und eine Reaktion hat statt vermittels der
Auferlegung einer Strafe durch die Wiederherstellung der Gleichheit,
ja von mehr als Gleichheit, da nun auch der Missetäter eines Teils
seiner ursprünglichen Substanz beraubt wird. Dieser Teil wird dem
Opfer zusätzlich zu dem, was sein eigen war, hinzugegeben und führt
(so kann man schließen) zu einem Übergewicht auf seiten des frü­
heren Opfers, das nun dem früheren Aggressor gegenüber Unrecht
begeht<<.15 So wird der Weltlauf durch immer neues Gleichgewicht in
Gang gehalten.
Ebenso vertretbar scheint mir allerdings die Auffassung, dass die
Einzelseienden sich gegenseitig in der unendlichen Bewegung des
apeiron stören und bedrängen.16 Entstehen und Untergang sind dann
die extremalen Bußzahlungen für die Widersprüche, die die Vielheit
innerhalb eines Ganzen erzeugt. 17 Es gibt sie und wird sie geben, so­
lange es Einzelseiende gibt, die als zeitliche der Ewigkeit des apeiron
entgegengesetzt bleiben, die Vielheit ist ein Kosmos, dessen Glieder
in einem wechselseitigen Austausch stehen, dessen Gleichgewicht
nie hergestellt, sondern immer nur die Resultande eines Ausgleichs
der Gegensätze ist.
Sicher ist, dass 'tO XQEWV hier unter dem Aspekt des Ausgleichs
gefasst, der Ausgleich als Gerechtigkeit bezeichnet und auf die Zeit
als den Ort des Rechts bezogen wird. Von bLKYJ xq6vou spricht auch
Solon (24, 3) und Heraklit B 94 versteht die Herstellung der rechten

14 G. S. Kirk/J. E. Raven, The Presocratic Philosophers, Cambridge 1962, S. 118.


15 Ebd., S. 118 f.
16 Ebd., S. 119.
17 Von der ewigen Bewegung als Ursprung der Vielheit bei Anaximander spricht
Simplicius phys., 24,24. Auch Hyppolicos, Ref. 1,6,2 bezeugt für Anaxi­
mander die Ewigkeit der Bewegung. Dem widerstreitet Aristoteles, De caelo,
295 b, 10 nicht, wenn er sagt, nach Anaximander stehe die Erde still, weil sie
sich im Gleichgewicht befinde. Der Stillstand erscheint hier als eine Sonder­
form der Bewegung, die unter bestimmten Bedingungen sich selbst aufhebt.
Dike als gesellschaftliches und kosmisches Prinzip 101

Ordnung als einen zeitlichen Prozess; gerade dieses Heraklit-Frag­


ment zeigt auch, dass Rechtsordnung und Naturordnung unter den­
selben Leitbegriff dike subsumiert werden - hier personifiziert als
die Göttin, die das Richtige garantiert; die Nähe zu Hesiod wird wie­
der sichtbar. Natürliche und gesellschaftliche Welt sind Arten dessel­
ben Kosmos, dessen Ordnung die dike ist .
II. Hauptstück:
Weltordnung und Lebensweisheit
1. Kapitel:
Archaische Philosophie

Die Anfänge der Philosophie, zeitgleich etwa Solon und Anaximan­


der, fallen in die Periode der entwickelten Archaik. Archaisch ist als
Stilbegriff der klassischen Archäologie ein Terminus, der die grie­
chische Kunst etwa vom Beginn des 7. bis zum Anfang des 5. Jahr­
hunderts umfasst. Eine differenzierende Einteilung unterscheidet eine
urarchaische (700-650), eine früharchaische (660-620), eine streng
archaische (600-570), eine reifarchaische (570-530) und ein spät­
archaische (530-500) Periode.1 Die zeitliche Parallelität zur Vorso­
kratischen Philosophie und zur griechischen Lyrik hat dazu geführt,
auch von archaischem Denken und archaischer Dichtung zu spre­
chen. Soll diese Redeweise mehr als nur eine historische Datierung
bedeuten, so muss die Berechtigung aufgezeigt werden, Phänomene
und Prozesse der Begriffsbildung als Ausdruck eines Stils zu verste­
hen, der sich in den optischen Formen der Bildenden Kunst gerrau
so (und vielleicht einsichtiger) darstellt wie in den Sprach-, Vers­
und Empfindungsformen und in den abstrakten Formulierungen der
Philosophie. Für die Philosophie würde dies bedeuten, dass - wie
bestimmte Problemstellungen aus der gesellschaftlichen Situation der
Zeit hervorgehen- auch bestimmte Problemformulierungen und -ant­
worten durch den Darstellungstypus der Zeit vorgeprägt sind. Der
Darstellungstypus oder Stil aber ist die Weise, in der Ansichtiges und
Einsichtiges, Gegenstände und Sachverhalte durch Abstraktion auf
eine Form oder Formel gebracht werden, ist also die Weise, auf welche
die Wirklichkeit (in Bildkunst, Dichtung oder Philosophie) abgebil­
det oder in der Lebenspraxis gestaltet wird. Abbildung selber schließt
einen Abstraktionsprozess, eine besondere Abstraktion des Verhält­
nisses von Wesen und Erscheinung ein, und es erscheint als gerecht­
fertigt, die Art der Abstraktion, die von den Bildhauern, Malern, Dich­
tern und Philosophen entwickelt wurde, wechselseitig zur Erhellung

Jose Dörig in:]. Boardman, J. Dörig, W. Fuchs, M. Hirmer, Die griechische


Kunst, München 1966, S. 85 f.
106 Weltordnung und Lebensweisheit

und Interpretation heranzuziehen. Das heißt: der Stilbegriff »ar­


chaisch<< kann sinnvoll in die Philosophiehistorie eingeführt werden.
Als die Archaik-Diskussion auf dem Höhepunkt war, hat Alfred
Heuss gefragt, ob der an kunstgeschichtlichen Stilklassifikationen ge­
wonnene Begriff auf eine Geschichtsepoche überhaupt anwendbar sei.
>>Es ist zu fragen, ob überhaupt aus dem allgemeinen historischen
Material aufgrund seiner eigenen Baugesetzlichkeit ein mit der Phase
der Bildenden Kunst parallel verlaufender Abschnitt sich heraushebt,
und weiter, ob dann diese Periode lediglich einen chronologisch ab­
gegrenzten Raum ausfüllt, der eine in sich verschiedenartige Menge
von Erscheinungen zusammenfaßt und sie nur ausschließend von
der klassischen Zeit abhebt, oder ob die archaische Zeit auch für die
allgemeine Geschichte eine echte Epoche bedeutet (...) Oder aber­
und das ist die andere Alternative -, es ist die archaische Zeit eine
echte Epoche und artikuliert sich selbst durch ihren sachlichen ln­
halt. Das würde besagen, daß sich aus ihrem zeitlichen Fluß gewisse
Konstanten herausheben und die Mannigfaltigkeit ihrer Erschei­
nungen sich um ein bestimmtes Zentrum gruppiert, kurz daß sie in
sich einen bestimmten Charakter hat.<<2 Am Ende einer langen Ab­
handlung kommt er zu dem Ergebnis: >>Wir wissen jetzt, daß die
archaische Zeit auf der politisch-sozialen Ebene (ich rede nicht von
der Geschichte des griechischen Geistes) der einzige wirkliche dia­
lektische Umbruch, den die griechische Geschichte je vollzogen hat,
ist. Sind wir aber auch aufgrund eines solchen tatsächlich berechtigt,
von einer Epoche im Sinne eines Zeitalters zu sprechen, das von
einem beherrschenden Inhalt erfüllt ist und in ihm seine Mitte hat?
Ich glaube, man darf diese, an sich bei jeder geschichtlichen Perio­
disierung problematische Frage gerade im Hinblick auf das archai­
sche Griechentum bejahen (...) Sie ist erfüllt von einer Aufgabe, der
Bildung einer griechischen Gesellschaft, und vollzieht in ihr die
Formung des griechischen Volkes. Sie entlässt damit aus sich die
erste große Leistung des griechischen Lebens und schafft mit ihr
zugleich den sozialen Körper als das Gehäuse dieses Lebens.<<3
Gerade für die Parallelisierung von Ausdrucks- und Begriffsfor­
men mit gesellschaftlichen Lebensweisen und Institutionen wird die
Argumentation von Heuss jedoch fragwürdig. In der differenzierten

2 Alfred Heuss, Die archaische Zeit Griechenlands als geschichtliche Epoche,


Antike und Abendland, Bd. 2, Harnburg 1946, S. 26 ff.
3 Ebd., S. 61.
Archaische Philosophie 107

Einteilung Dörigs, die wir an den Anfang gestellt haben und die im
kunst- und literarhistorischen Bereich ihre Rechtfertigung besitzt,
werden zwischen 700 und 500 in einer einheitlichen Stilentwicklung
Perioden übergriffen, die gesellschaftlich gerade durch einen - in
ihrer ersten Phase, der ur- und früharchaischen - radikalen Bruch
gekennzeichnet sind: die Entstehung der bürgerlichen Polis im Ge­
gensatz zur aristokratischen Burgherrschaft.4 Heuss gesteht das auch
selbst zu. Aber er möchte die Einheit des Archaischen eben nicht in
der Formbestimmtheit dieses Umbruchs und seine vorklassischen
Ausdrucksgestalten in Gesellschaft und Kunst sehen, sondern in der
Kontinuierung des Typus der Adelsgesellschaft und der in ihr gel­
tenden Regulatorien, die die Einheit des Hellenenturns bestimmt
hätten. »Die archaische Zeit als Zeitalter des griechischen Adels
bietet sich geradezu an<< , um die >>Bildung der griechischen Einheit
als einen Hauptgegenstand der archaischen Zeit« darzustellen. ( ...)
Allerdings >>ist es unmöglich, schlechthin die archaische Zeit als eine
Periode ungeschmälerter Adelsherrschaft anzusprechen. Im Gegen­
teil: Die Zielstrebigkeit der Epoche ist, auf ihr schließliches Ergebnis
hin besehen, ausgesprochen adelsfeindlich ( ...).«Dennoch muss man
>>ermessen, welche selbstherrliche Stellung der Adel der archaischen
Zeit einnahm. Im Grunde genommen gab es keine Autorität über
ihm.( ...)Der archaische Staat bis zur Wende des 7. Jahrhunderts war
ganz sein Geschöpf«.' Das ist eine etwas widersprüchliche Schilde­
rung. Bei allen Differenzierungen, die Heuss dann für den Verlauf

4 Dafür ist vor 600 gerade noch keine institutionelle und auch keine begriff­
liche Form gefunden. Die großen Verfassungsgeber, Pittakos, Periander,
Solon treten erst kurz vor oder um 600 in Erscheinung. Für die Denkweise
vor der Konsolidierung der Polis-Gesellschaft ist aber die Dichtung des
Tyrtaios charakteristisch, deren Übergang in einer >>Zwischenwelt<< bei Jaeger
sehr deutlich wird: >>Das homerische Ideal der heroischen Arete wird umge­
schmolzen zum Heroismus der Vaterlandsliebe, und mit diesem Geist durch­
dringt der Dichter die ganze Bürgerschaft ( ...) Die gedankliche Form der
Begründung der Eunomia ist sowohl für Tyrtaios' persönliche Stellung wie
als historischer Gegensatz zu dem politischen Geiste Ioniens und Athens be­
deutsam. Während sich dort bald niemand mehr an die Autorität der bloßen
Überlieferung und des Mythos gebunden fühlt, sondern man danach strebt,
die Verteilung der staatlichen Rechte nach Maßgabe eines, wie man glaubte,
möglichst allgemeingültigen sozialen und rechtlichen Denkens zu regeln,
leitet Tyrtaios die spartanische Eunomie nach alter Weise von göttlichem Fug
ab und sieht in diesem Ursprung ihre höchste und unantastbare Gewähr«,
Werner Jaeger, Paideia, Bd. I, S. 129 und 134, Berlin 1936.
5 Heuss, a. a. 0 ., S. 3 8 und 62.
108 Weltordnung und Lebensweisheit

des 6. Jahrhunderts anbringt, bleibt er bei der These, der Fortbestand


und die Fortwirkung der aristokratischen Grundlagen sei der eigent­
liche und geschichtlich determinierende Gehalt der Archaik gewesen.
Diese Charakterisierung ist nun aber keineswegs plausibel. Sie
muss in jedem Fall hinsichtlich der Seehandelsstädte (Ionien, Korinth,
Athen) und des agrarischen Binnenlands (Mittelgriechenland, Pelo­
ponnes) verschieden ausfallen. Aber auch in den konservativen bin­
nenländischen Regionen ist - wie Hesiod in Böotien zeigt - die
Adelsherrschaft in Zersetzung begriffen und wird die Narrnativität
der ritterlichen arete durch das Arbeitsethos und die Rechtsideologie
bäuerlicher Schichten verdrängt. Die Hegemonie des Adels gilt allen­
falls noch urarchaisch, sie ist in den homerischen Epen dokumentiert­
vor allem in der Ilias, schon die Odyssee offenbart Übergänge. Und
keineswegs ist stilgeschichtlich Homer archaisch.
Die Frage der Chronologie setze ich beiseite. Sieht man die ho­
merischen Epen als reifes Produkt einer Geistesepoche und nicht als
Spätlinge an, so sind sie - bei einem Abstand zwischen der älteren
Ilias und der jüngeren Odyssee - insgesamt doch deutlich vor He­
siod anzusetzen. Die tentativen Angaben im Pauli - Homer zweite
Hälfte 8. Jahrhundert, Hesiod um 700- halte ich für plausibel. Würde
man die Dichtungen wesentlich weiter herabsetzen, Hesiod schon in
die Nähe von Archilochos bringen und die Odyssee dicht zu Hesiod
stellen, so entstünde die Gefahr, die deutlichen konzeptionellen und
stilistischen Differenzen zu nivellieren. Die Kultur und Denkwelt
der Epen ist klar vorarchaisch, die Hesiods gehört zum Übergang
und Anfang der archaischen Periode, wobei die lokale Besonderheit
des böotischen Umfelds zu berücksichtigen ist; mit der älteren Lyrik
und der ersten Philosophie ist ein Einschnitt gegeben, an dem sich
die Archaik formal gegen die Vorzeit abgrenzen lässt. Jedenfalls müs­
sen wir die Denkformen Homers, Hesiods und der ersten Philo­
sophen typologisch als verschiedene Denkstile unterscheiden, um sie
als Entwicklungsstufen der Begrifflichkeit zueinander in Beziehung
setzen und dem Ablauf des gesellschaftlichen Wandels zuordnen zu
können.
Es geht hier nicht darum, den vorarchaischen homerischen Denk­
stil, der ja auch ein vorphilosophischer ist, von den archaischen An­
fängen der Philosophie abzuheben. Das ist eine eigene andere Auf­
gabe. Dieses Denken hat, wie aller Mythos, seine spezifische, dem
Bildhaften verpflichtete Dialektik. Hier kann es sich nur darum han­
deln, die Entstehung einer dialektischen Begrifflichkeit mit den ihr
Archaische Philosophie 109

entsprechenden Ausdrucksphänomenen des Geistigen zusammen zu


sehen und sie den historischen und gesellschaftlichen Umständen
zuzuordnen, die diesem Ursprung zugrunde liegen. Bruno Snell hat
hervorgehoben, dass Homer noch über gar kein Vokabular verfügte,
mit dem er menschliche Verhältnisse in begrifflichen Abstraktionen
benennen konnte. Er spricht von einer Gruppe von Vergleichen, den
sogenannten mythischen Exempla. >>Sie stehen in den Reden, die
Gleichnisse dagegen in der Erzählung. Während diese, sofern sie auf
Menschen gehen, das Verhalten dritter Personen verständlich ma­
chen, dienen die Beispiele des Mythos der Selbstbesinnung, sei es
daß man sich selbst oder einen anderen zur Klarheit über die eigene
Lage bringen will (...) Die Gleichnisse entsprangen Metaphern und
verdeutlichten deswegen zunächst einzelne Tätigkeiten, konnten aber,
zumal die Tiergleichnisse auch typische Verhaltungsweisen eines Hel­
den veranschaulichen. Die mythischen Beispiele gehen darüber
hinaus, indem sie umfassender ein menschliches Verhalten mit
seinen Gründen und Folgen offenbaren können.«6 Wo ihm das Wort
fehlt, setzt Homer ein Gleichnis ein, »um die Bedeutung des Vor­
gangs zur Geltung zu bringen. ( ... ) Denn er besaß gar kein anderes
Mittel, um das Sachlich-Wesentliche oder gar die Intensität des Ge­
schehens zum Ausdruck zu bringen.« 7 So gehört Homer noch zu
einer anderen Stufe der Entwicklung des Geistes. »Längst ist beob­
achtet, daß in einer verhältnismäßig primitiven Sprache die Abstrak­
tion unentwickelt ist, daß dafür aber im Konkret-Sinnlichen eine
Fülle der Bezeichnungen vorhanden ist, die einer entwickelten
Sprache fremdartig anmutet.<<8 Das ist vorphilosophische Arbeit am
Werden des Begriffs.
Weit ausholend in langen Sequenzen werden im Epos Ereignisse
ausgemalt und werden Reden geschwungen, in denen sich ankün­
digt, was einmal zur Kunst der Rhetorik ausgebildet werden wird.
Das ist ein Erzählstil, der sich der Einzelheiten erfreut und sie aus­
gestaltet, kretischen Wandmalereien verwandter als der verknappten
Strenge archaischer Verse, zu deren Raffung die Gleichnisse in Be­
ziehung gesetzt sind.9 Das sind verschiedene Intentionen. Die Gleich-

6 Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, Harnburg 21948, S. 15.


7 Ebd., S. 190.
8 Ebd., S. 194f.
9 Roland Harnpe, Die Gleichnisse Homers und die Bildkunst seiner Zeit, Tü­
bingen 1952. Auch ein Werk wie Jacob Burckhardts Griechische Kulturge-
110 Weltordnung und Lebensweisheit

nisse können komprimiert auf einen Bildgehalt sein, weil das Bild
für einen noch nicht gedachten Begriff steht; und sie müssen abbre­
viativ sein, um dem Fortgang des Gedankens, in dem der Begriff
seine Stelle hat, nicht zu zerbrechen. Die Erzählung eines Gesche­
hens aber will nicht begriffen, sondern anschaulich sein. 10 Sie spinnt
aus, wo das Gleichnis rafft. Darin liegt kein Gegensatz des Stils,
sondern die Verschiedenheit der Funktion. Seiner Anlage nach geht
das Epos in die breite sinnliche Vergegenwärtigung. Wo im Gleich­
nis eine Raffung geschieht, die sich als geformtes Bild auch aus­
drücken lässt, bereitet sich die Begrifflichkeit vor; sie ist aber noch
nicht ausgebildet.
Schon bei Hesiod, der sich doch so sehr an Homer formal als
Vorbild orientiert, ist das anders. Man vergleiche die T hersitesszene
(Ilias II, 216-270) mit der Prometheusgeschichte (Theogonie 535-
560); ich wähle gerade dieses Beispiel, weil die Erzählung eine der
wenigen längeren bei Hesiod ist. Bei Hesiod ist die »story« prägnant
auf ihren Handlungskern zugespitzt, auch die Reden ein Teil des
weiter treibenden Tuns. Bei Homer ist die Rede und die gesamte
Szene ein Genrestück, eine vergnügliche Einlage für die Zuhörer, die
Reden wie Arien, die man um ihrer selbst willen gern hört und
denen man späten Szenenbeifall spendet. Homers Dichtung ist für
den Vortrag bei ritterlichen Tafelrunden oder an früh dunkelnden
Winterabenden geeignet. Hesiod verlang gerraues Zuhören, wenn man
den Faden nicht verlieren und vielleicht die hochpolitisch oder ge­
nealogisch aktuelle Stelle nicht versäumen will. (Homer ist wie ein
Konzertstück, Hesiod wie eine Vorlesung.) Hesiod hat in der Theo­
gonie nicht in der Denkform, wohl aber im Darstellungsstil sich
nach den Bedürfnissen des aristokratischen Publikums gerichtet, die
Kosmologie als Genealogie entwickelt und mit dieser Ambiguität
mindestens seine subtileren Hörer fasziniert. So lässt er in den Erga
auch diese Doppelsinnigkeit hinter sich und verkündet ganz univer­
sell und unverhüllt die neue arete des Bauernstandes. Das hat mit
Fortdauer der Adelsgesinnung nichts mehr zu tun. Hier beginnt die
frühe Archaik als eigener Gestalttypus- wenn auch sozusagen rand-

schichte macht von einem auf alle Kulturbereiche durchgängig anwendbaren


Stilbegriff Gebrauch - einem Zeitstil, Epochenstil oder wie immer man es
nennen will, ohne dass er jedoch methodisch darauf reflektierte.
10 Vgl. Hermann Fränkel, Wege und Formen des frühgriechischen Denkens, Mün­
chen 21960, S. 40 ff.
Archaische Philosophie 111

ständig, in einem für die kulturelle Entwicklung Griechenlands nicht


zentralen Gebiet.
Stilistisch ist Hesiod zwar noch uneinheitlich, zumal im Typus
der großen beiden Werke. Aber in dem, was sein Eigenstes ist- also
vor allem im zweiten Teil der Erga- trägt er klar archaische Züge. Die
Gedankenführung wird durch Artikulieren der Sentenzen bestimmt,
wie wir es auch von den Lyrikern kennen und wie sie sich in den
Sprüchen der Sieben Weisen verselbständigen. Das ist eine andere
Redeweise als die Homers und auch noch als die der Theogonie.
Von Archilochos, dem Frühesten der Lyriker, ist nur zu wenig
erhalten, das meiste nur Versfragmente, um daraus verallgemeinernde
Schlüsse ziehen zu dürfen. Im Zusammenhang des Sprachgestus der
etwas jüngeren Dichtung wird man ihn allerdings heranziehen kön­
nen. Wer bei Simonides den Satz liest: polis andra didaskei, die Polis
belehrt den Mann, der kann auch an Hesiod denken, euthymosyne
gar ariste thnetous antropois, das Wohlgeordnetsein der eigenen An­
triebe ist das Beste für die sterblichen Menschen
(Erga 470), und hört
den gleichen Klang bei Archilochos: nikes d'en thesisi peirata, den
Sieg zu erreichen liegt bei den Göttern (57 D). Alkman beginnt den
Hymnus an die Artimis Orthya mit der monumentalen Zeile: estitis
sion tisis, es gibt eine Rache der Götter (71 D). Das ist lapidarer
Redegestus, der sich auf das wesentliche Wort konzentriert: euthy­
mosyne polis nike tisis- dazu ein Adjektiv oder Verb. Alkman fasst
das ganze Gewicht in ein einfaches esti zusammen. Diese lapidare
Härte ist der Archaik eigen, und sie ist die Denkweise einer Zeit, in
der sich ein grundlegender Umbruch vollzieht, in der jede Eloquenz
nur als Ablenkung und Verschleierung empfunden wird. »Eine Zeit
ist das, die den Zusammenbruch einer ganzen Welt erlebt mit ihren
Ordnungen, Bindungen, Gemeinsamkeiten, Selbstverständlichkeiten.
Das Wort >Gefahr< kommt in dieser Zeit im Griechischen auf.<<11 In
dieser Atmosphäre werden Begriffe geprägt, die wie die Säulen eines
dorischen Tempels stehen und das Gebälk der Rede tragen. Da be­
ginnt die Philosophie, die an der Benennung von Erscheinungen Prin­
zipien und Kategorien des Wesens ausmacht. In des Parmenides gar
einai estin klingt diese Archaik nach.
Noch sind wir in der vorphilosophischen Periode und es kann
hier nicht darum gehen, das literarische Vorfeld der Philosophie zu

11 Max Treu in: Alkaios, Lieder, hg. und übers. von Max Treu, München 21963,
s. 105.
112 Weltordnung und Lebensweisheit

sichten (obwohl dies eine lohnende und Freude bereitende Aufgabe


wäre). Es soll nur angedeutet werden, aus welchen Quellen die be­
ginnende Philosophie gespeist wird, welche neue Lebenswirklichkeit
sich gegenüber der ritterlichen Adelswelt hier ihre Ausdrucksform
schafft.
Die Entwicklung der frühen Vorsokratik - von den legendären
Sieben Weisen bis zu Anaximander - fällt zusammen mit der frühen
archaischen Lyrik von Archilochos bis Sappho und der Ausbildung
der früh- und strengarchaischen Kunst. Wie die frühen Statuen um
650-die Artemis des Nikander oder die Kore von Auxerre-die Teile
des Körpers in großen selbständigen Formen aufbauen, den block­
haft gewandeten Unterkörper, den atmenden Oberkörper, den mit
der Haartracht zur Einheit zusammengefassten Kopf, so bauen auch
die Gnomen der Weisen aus blockhaften, unabhängig nebeneinan­
derstehenden Begriffen sich auf: hoi pleistoi kakoi; metron ariston;
meden agan. Und fast ohne syntaktische Bindeglieder kommt Solon
aus, wenn er das Naturereignis beschreibt:

Schneesturm und Hagel bricht aus der Wolke jählings hernieder,


Rollender Donner gebiert rasch der zückende Blitz.

Das Naturgeschehen selbst wird nicht durch eine Gleichnisformel


an die abstrakte Bedeutung angeschlossen, zu deren Aufschluss es
dient; vielmehr genügt der Parallelismus der beiden Distichen, wie
die Entsprechung der Trapezoide von Unterkörper und Oberkörper
dem Bildhauer genügt, um die Gestalt der Artemis, der Kore als
plastisches Gefüge erstehen zu lassen. Auch das zweite Distichon
des solansehen Gedichtes ist wie das erste mit einem Mindestmaß an
syntaktischer Artikulation gebaut, jeder Satz ein einfacher Block
von Wörtern, der Spruchweisheit nahe verwandt. Fügungen wie das
solonische en dike chronou bedienen sich des Kasus in einer Weise,
die nicht eine logische Zu- und Unterordnung vornimmt, sondern
die Begriffe wie die Trommeln der Tempelsäulen aufeinander türmt.
Homer wusste sich des Flusses der Bilder zum Ablauf einer Er­
zählung zu bedienen. Die neue auf Abstraktionen ausgehende Be­
grifflichkeit braucht die Statik der Worte, um ihren Gegenstand zu
gewinnen, so wie die Bildkunst des Blockes bedurfte, um von der
narrativen ideellen Zeichenhaftigkeit zur Materialität des Körpers zu
gelangen. Die Kuroi aus der Zeit um 600 - etwa der des Dipylon­
Meisters im Metropolitan Museum in New York - bezeugen uns,
Archaische Philosophie 113

wie mühevoll es war, aus der Statuarik der ersten Großplastiken den
Übergang zur Gliederung des Körpers in der Bewegung, ein einfa­
ches Schreiten, zu finden. Wenn uns der Satz des Anaximander auch
nur einigermaßen in der ursprünglichen Form überliefert ist (was ich
eben aufgrund der wuchtigen und schwerfälligen, aber symmetrischen
Gliederung der Satzführung annehmen möchte), so ist der Vergleich
mit den Jünglingen der Großplastik erlaubt. Wie Stand- und Schritt­
bein zurück- und vorgesetzt sind, um die Bewegung des Körpers
anzugeben und sie dem ruhig verharrenden Rumpf mitzuteilen, so
rücken hier ek h8n de he genesis und ten phtoran eis tauta ginesthai
auseinander, um die Bewegung von Werden und Vergehen tois usi zu
übertragen, das kata to chreon fügt sich an wie die Standplatte dem
kuros Halt gibt. Die bewegte Syntax der Sätze entringt sich ange­
strengt und kraftvoll der starren Monumentalität der inschriftlich
gereihten W örter. Der Abstraktionstypus archaischen Denkens ent­
spricht dem archaischen Sehen. In dieser Denkform hat die Philo­
sophie als Wissenschaft des Allgemeinen ihren Ursprung. Sie findet
ihre erste Aufgabe in der Begründung der Ordnung der Gesellschaft.
In der Idee des Rechts werden Prinzipien des Verhältnisses formu­
liert, die allgemeine Form der Relationen in der Gemeinschaft, das
Grundmuster der res publica oder politeia, was ja nicht Staat, son­
dern Staatlichkeit heißt.
2. Kapitel:
Hesiod

Das erste literarische Zeugnis einer veränderten Gesellschaftslage,


eines artikulierten Widerspruchs gegen das Adelsethos der homeri­
schen Zeit finden wir im Werk Hesiods, den die Griechen als den
zweiten ihrer Nationaldichter verehrten. Schon in der Antike wurde
Hesiod neben, zuweilen gar über Homer als großer epischer Dichter
der Frühzeit gestellt, und die spätere Literaturgeschichte ist dem bis
in die Gegenwart - wenn auch manchmal mit spürbarer Ratlosigkeit -
gefolgt. Diese Ratlosigkeit hat ihren Grund darin, dass die Wert­
schätzung Hesiods gewiss nicht auf die poetischen Qualitäten seiner
Werke gestützt werden kann, die weit hinter der Ilias und Odyssee
zurückbleiben: uneinheitlich, sprachlich vielfach glanzlos, über weite
Strecken trocken wie ein Standesamtsregister in der Theogonie, schul­
meisterlich in den Erga. Die Sinnlichkeit Homers, dessen Bildsprache,
die in Handlungsschilderungen sich manifestierende emotionale In­
tensität fehlen.
Julius Stenzel und Werner Jaeger haben mit Recht auf die pädago­
gische und weltanschauungsbildende Rolle des Epos für die gemein­
griechische Kultur hingewiesen.1 Diese Einsicht ist opinio communis
seit eh. Homer, sagt man, habe den Griechen ihre Götter geschenkt.
Das ist sicher in dem Sinne richtig, dass er die Götter als Mit- und
Haupthandelnde des Epos mit einer einfühlbaren Personalität ausge­
stattet hat, sodass Menschen ihr Selbstgefühl, von göttlichem Ein­
wirken angetrieben zu sein, auch subjektiv verständlich wurde.2 Xeno­
phanes hat seine Kritik gegen diese Vermenschlichung der Götterwelt
gerichtet, aber auch andere der vorsokratischen Philosophen erheben
diesen Einwand.3

Julius Stenze!, Metaphysik des Altertums, München/Berlin 1931. - Werner


Jaeger, Paideia, Bd. I, Berlin '1954.
2 Zur Anthropomorphisierung der Götterwelt vgl. Stenze!, a. a. 0., S. 20 f.
3 Xenophanes, Diels- Kranz, Fragmente der Vorsokratiker (künftig: VS), Berlin
'1951, S. 113 ff.- Thales hat nach Aristoteles de anima 411 a 7 gesagt, alles sei
Hesiod 115

Unter dieser Perspektive gewinnt Hesiod seinen Rang. Er hat die


mannigfaltig variierenden bunten Fabelstoffe der Mythen systemati­
siert, hat die aus verschiedenen Ursprüngen hervorgegangen Götter­
geschichten4 gruppiert und gegliedert und mit dynastischen Her­
kunftslegenden verknüpft; er hat die in Glaubensakten leibhaftig
gegenwärtigen Götterwesen auf eine unpersönliche Weltordnung be­
zogen und ihnen Deifikationen von abstrakten Kräften und Prinzi­
pien beigesellt, um der Vorstellungswelt des Mythos eine begriffliche
Ordnung zu geben.5 Er steht so am Übergang vom Mythos zum
Logos,6 er übersetzte die Anschaulichkeit der homerischen Götter­
welt in die Begrifflichkeit einer Theologie, die ihre formale Parallele
in den altägyptischen Götterlehren von Heliopolis und Hermopolis
hat.7 Dieser Übergang von der mythischen Phantasie zur philosophi­
schen Spekulation ist die gedankliche, methodische Leistung Hesiods,
derentwegen seine Werke - >>abseitig provinzielle Gedichte, fremd
und ungefüge<<'- denen Homers ranggleich gelten.
Die Theogonie ist mehr als eine Sammlung und Verflechtung der
in der griechischen Welt verbreiteten Mythen. Diese hatten ihre lo­
kalen Varianten, ja changierten in den Einzelheiten je nach Erzähler
und Gelegenheit der Erzählung.' Es gehört zur Denkform des Mythos,

voll von Göttern, was bedeuten kann, dass physische Dinge und Kräfte als
göttlich gedacht und nicht in Menschengestalt vorgestellt werden müssen.
Ähnlich sind die Fragmente B5, B 67 von Heraklit zu interpretieren.
4 Siehe Ulrich von Wilarnowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, Darrn­
stadt 21955.- Kar! Kerenyi, Die Mythologie der Griechen, Darmstadt 1956. -
M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, München '1967.
5 Siehe Hans Diller, Hesiod und die Anfänge der griechischen Philosophie, Antike
und Abendland II, 1946, S. 145: >>Für Hesiods Werk ist es besonders bezeich­
nend, daß diese Götterpersonen eingefügt sind in eine Abfolge von Natur­
gewalten, deren dingliche Beziehung zueinander für den Gesamtaufbau des
Systems maßgebend ist. Es gibt, so stellen wir fest, bei Hesiod Götter, die
ihre Bedeutung als P ersonen in einer anthropomorphen Geschichte haben,
und solche, die in erster Linie Hypostasen von Naturgewalten sind - diese
aber sind die eigentlichen Stützen des theogonischen Systems<< .
6 Vgl. das gleichnamige Werk von Wilhelrn Nestle, Vom Mythos zum Logos,
Stuttgart 21975, S. 44 ff.
7 Zu den altägyptischen Götterlehren vgl. Joachirn Spiegel, Das Werden der
altägyptischen Hochkultur, Beideiberg 1953, Kapitel 9 und 10.
8 Hermann Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, Mün­
chen '1976, S. 104. Fränkel fährt fort: >> ... und dabei von einer gewaltigen Tiefe
und elementaren Wirkung<< .
9 Siehe die in Anrn. 4 genannten Werke.
116 Weltordnung und Lebensweisheit

den Sinn einer Fabel nicht auf die Eindeutigkeit einer Sachverhalts­
feststellung zu fixieren; er ist situationsgemäß abwandelbar.10 Hesiod
verfügt durchaus über die literarische Form des Mythos als einer
hermeneutischen Paradigmatik, wie die Abfolge der Prometheus­
Pandora- und der Weltalter-Mythen in den Erga zeigen.11 >>Daß die
beiden Mythen, wenn man sie als real nimmt, sich ausschließen,
kümmert Hesiod nicht«.12 Die Geschichten sind Sinn-Gebungen, sie
machen ein abstraktes Verhältnis verständlich, indem sie es als Ereig­
nis schildern. Der Widerspruch, dass Menschen das Übel lieben kön­
nen, wird am Inhalt der Pandora-Büchse versinnlicht (Erga, 57 f.):
>>und alle werden es zärtlich umarmen, ihr Übel, das Herz voller
Freude«.13 Und der Widerspruch, dass das Schlechte als wertvoll ge­
schätzt wird, ist die Wirklichkeit des eisernen Zeitalters (Erga 189 ff.):
>>Keiner wird mehr geschätzt, der wahr geschworen, und keiner, der
gerecht und gut. Den Übeltäter, den Frevler ehrt man weit höher ...«.14
Jaeger hat richtig erkannt, dass der Mythos in diesem Gebrauch
ein erläuterndes Element der Lehr- und Mahnrede ise5 - eine schon
bei Homer vorkommende, wenn auch noch nicht methodisch ge­
nutzte Stilform, die nun von Hesiod systematisch und mit geschichts­
philosophischer Intention eingesetzt wird. Die Kritik am Verfall der
gesellschaftlichen Ordnung und das Gerechtigkeitspathos in den Erga
werden durch die mythische Verankerung geschichtlich begründet
und der Zufälligkeit individueller Bosheit enthoben, also theoriefähig.
Die psychologisch verwirrende und logisch unerträgliche Tatsache
eines real existierenden Widerspruchs in sich- das geliebte Übel, das

10 Zur Denkform des Mythos vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen
Formen, Band II, 'Darmstadt 1953. - Geoffrey S. Kirk, Griechische Mythen,
Wien/Berlin 1982.
11 Hesiod, Erga 44 und 109 ff.
12 Jaeger I, a. a. 0., S. 102. Jaeger spricht von einer >>normativen Verwendung
des Mythos<< , ebd. 101, bzw. einem >>paradigmatischen Gebrauch<< , ebd. 100.
13 Die Plagen werden beispielhaft genannt Erga 90 ff. Daran knüpft im Welt­
alter-Mythos 119 an.
14 In nehme hier die Übersetzung von T hassilo von Scheffer, die mir an dieser
2
Stelle die gelungenere zu sein scheint. Hesiod sämtliche Werke, Bremen 1965.
Zum Widerspruch tritt als zweites Moment die Mischung der Gegensätze
(Erga 178): >>0 die Verderben! Da senden die Götter drückende Sorgen. Den­
noch wird auch diesen zu Bösem Gutes gemischt sein.<<
15 Jaeger I, a. a. 0. S. 100 f.: >>Die Erga sind eine einzige große Lehr- und Mahn­
rede, genau so wie etwa eine Elegie des Tyrtaios oder Solon der Form und
der seelischen Haltung nach an die Reden der homerischen Epen anknüpft<< .
Hesiod 117

als wertvoll geschätzte Schlechte - wird durch ein Ursprungsge­


schehen kausal erklärt.
Die Theogonie verfährt nach einem anderen Schema. Sie entwirft
eine Struktur der in der Welt wirksamen Mächte, die deren logischen
Zusammenhang als eine Folge konstruiert und die Folge nach dem
Muster der Genealogie als Abkunft beschreibt. Damit ist die Gestalt
eines deduktiven Systems angelegt, wenn auch in einer Übergangs­
form, die mythische Personifikation und begriffliche Abstraktion in­
einandergleiten lässt.
Dass die Lehre von den Göttern mit einer Kosmogonie beginnt
(Theogonie 116 ff.), sagt etwas über die sich vom Mythos ablösende

Weltanschauung. Die Götter sind Teil dieser Welt der Seienden, in­
dividuierte Seiende selbst. Vorgängig und umfassend ist das Sein aller
Seienden, die Welt, deren begrenzte Individuationen, die mannigfa­
chen Seienden, aus einem unbegrenzten Anfänglichen hervorgehen.
Dieser Anfang ist das Chaos (xaoc;), ihm ist die Finsternis zugeord­
net, die homogene Gestaltlosigkeit, aus der erst im Licht begrenzte
Gestalten hervortreten. Deren erste, weltbegründende Form ist die
Zweiheit von Erde und Himmel, aus der alle Wesen entspringen
(Theogonie 126 f.):

>>Gaia gebar zuerst an Größe gleich wie sie selber


Uranos, sternenbedeckt, damit er sie völlig umhülle«.

Dann folgt 128-160 die Aufzählung der Nachkommen, die aus der
Verbindung von Himmel und Erde, von Gaia und Uranos hervor­
gmgen.
In Fortführung der Cornfordschen Hypothese, dass Hesiods
Theogonie auf vorderasiatische Quellen zurückgehe, haben Thom­
son und nach ihm Kirk/Raven/Schofield die Inhalte und Anordnung
der Mythologeme bei Hesiod aus einer Kompilation vorgriechischer
orientalischer Kosmogonien hergeleitet. Insbesondere Thomson neigt
dazu, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen von Motiven einer
gleichsam homogenen prähistorisch-ethnologisch zu beschreibenden
Bewusstseinslage zuzuschreiben, ohne auf die Differenzierungen ein­
zugehen, die- ich möchte sagen- die Modifikationen einer >>kultur­
historischen Semantik« ausmachen. Die Namenlosigkeit des unter­
schiedslosen Seins am Anfang im babylonischen Enuma elish hat nicht
dieselbe Bedeutung wie die Namenlosigkeit des Anfangs in Dao de
jing 1; und das griechische Chaos ist durchaus verschieden von der
118 Weltordnung und Lebensweisheit

mesopotamischen Mischung von Apsu (Süßwasser) und Tiamet (Salz­


wasser), und diese wieder sind etwas anderes als