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Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit III

Hans Heinz Holz

EINHEIT UND WIDERSPRUCH


Problemgeschichte der Dialektik
in der Neuzeit

III
Die Ausarbeitung der Dialektik

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart . Weimar
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Holz, Hans Heinz:


Einheit und Widerspruch: Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit /
Hans Heinz Holz. - Stuttgart ; Weimar: Metzler
ISBN 978-3-476-01558-7

Bd. 3. Die Ausarbeitung der Dialektik. - 1997


ISBN 978-3-476-01557-0
ISBN 978-3-476-03708-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03708-4

ISBN 978-3-476-01558-7 (Gesamtwerk)


ISBN 978-3-476-01557-0 (Band III)

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.


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© 1997 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und earl Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1997
Inhalt
Seite
VIII Abkürzungen

Einleitung

11 1. Hauptstück: Hegels Entwurf der Systematisierung der


Dialektik
13 1. Kapitel: Die ontologische Inversion
13 1. Die geschichtliche Einheit von Metaphysik und Politik
17 2. Die Geschichtlichkeit des Seins
22 3. Der Selbstunterschied des logos
26 4. Metaphysik als praktische Philosophie
29 2. Kapitel: HegeIs Metaphysik-Kritik als Reflex
der Französischen Revolution
29 1. Metaphysik als Theorie des Zeitgeists
34 2. Geschichtliche Vernunft
38 3. Die Besonderheit als der Widerspruch im Vernünftigen
43 4. Die Zeitlichkeit des Absoluten
52 5. Politische Metaphysik - die Theorie des objektiven Geistes
62 6. Metaphysik als Geschichtsphilosophie
71 7. Der Sinn der Metaphysik-Kritik
81 3. Kapitel: Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems
81 1. Einteilung und Aufbau der Philosophie im Systems HegeIs
85 2. Die Rolle der Phänomenolo..l!,ie als Anfang
94 3. Die Wahrheit als Gegenstand der Philosophie
99 4. Die Vermitteltheit der Wahrheit und die Sache selbst
106 5. Die Begriffsform der Wirklichkeit
112 6. Intensionalität als Reflexion in sich
116 7. Der dialektische Sinn des absoluten Idealismus
128 4. Kapitel: Das Ganze des Systems
128 1. Hegels Enzyklopädie-Konzept
139 2. Der Übergang zur Natur
149 3. Naturphilosophie als Theorie der Entwicklung und der
Geschichtlichkeit der Natur
154 4. Der Geist als Reflexionsform der \v'e1t
VI Inhalt

161 5. Kapitel: Der Widerspiegelungscharakter des Hegeischen


Systems

187 Il. Hauptstück: Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des


Absoluten
189 1. Kapitel: Die junghegelianische Auflösung
der Philosophie im Vormärz
209 2. Kapitel: Feuerbachs anthropologischer Materialismus
209 1. Die Substantialität der Natur im Herzen der Geist-
philosophie
217 2. Die Inversion von Subjekt und Prädikat
221 3. Das gegenständliche Wesen des Menschen
225 3. Kapitel: Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung
der Philosophie

241 IH. Hauptstück: Die »Umkehrung« Hegels durch den


Marxismus
243 1. Kapitel: Der Übergang zur materialistischen Dialektik
243 1. Für und wider Hegel
248 2. Die Kritik an Schelling
255 3. Die Kritik des Hegelschen Staatsrechts
262 4. Philosophie und Ökonomie
271 5. Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie
284 2. Kapitel: Die Einheit von Anthropologie, Geschichts-
philosophie und Ökonomie
284 1. Die Historisierung des Seins und des Wissens
288 2. Geschichtliche Anthropologie
293 3. Vom anthropologischen zum historischen Materialismus
298 4. Die Selbsterzeugung des Menschen im Produktions-
prozess
302 5. Die Dialektik des Verkehrens
306 6. Das Subjekt der Geschichte
311 3. Kapitel: Dialektische Ontologie des Gesamtzusammen-
hangs
311 1. Enzyklopädischer Universalismus
323 2. Politische Praxis und wissenschaftliche Weltanschauung
336 3. Gesamtzusammenhang und Dialektik der Natur
Inhalt VII

361 4. Kapitel: Lenins Programm der Umkehrung Hegels und


die Materialisierung der Dialektik in der Praxis
361 1. Materialistische Dialektik als politische Theorie
368 2. Die revolutionäre Kraft des »subjektiven Faktors«
375 3. Die Aneignung der philosophischen Tradition: Erbe
und Bestandteil
381 4. Hegel- vom Kopf auf die Füsse zu stellen
394 5. Das Verfahren der Umkehrung
416 6. Relative und absolute Wahrheit und das Kriterium der
Praxis

425 Schluss: Ausblick auf die Entwicklung der Dialektik im


20. Jahrhundert

445 Anmerkungen
529 Namenregister
Abkürzungen

An den Anmerkungen zu diesem Band werden durchgängig die fol-


genden Abkürzungen gebraucht:

Hegel, GW = Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke,


kritische Edition der Rheinisch-Westfälischen Akademie
der Wissenschaften, Düsseldorf.
Hegel, W = Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden
(fheorie-Werkausgabe) Suhrkamp Verlag, Frankfurt am
Main.

Die Theorie-Werkausgabe wurde immer da benutzt, wo die betreffen-


den Bände der Gesammelten Werke bei Abfassung des Manuskripts
noch nicht vorlagen. Wo die Gesammelten Werke zitiert werden, ist die
entsprechende Stelle in der Theorie-Werkausgabe ebenfalls nachge-
wiesen, um den Gebrauch zu erleichtern. Enzyklopädie und Rechts-
philosophie werden nach Paragraphen zitiert, sodass sie mühelos in
jeder Ausgabe auffindbar sind.

LW= Wladimir Iljitsch Lenin, Werke, ins Deutsche nach der


vierten russischen Ausgabe übertragen und vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der
SED, Berlin, herausgegeben.
MEW= Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, herausgegeben
vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentral-
komitee der SED, Berlin.

Der MEW wurde der Vorzug vor der MEGA gegeben, weil diese Aus-
gabe allgemein zugänglich ist. Zudem ist die MEGA-Edition zur Zeit
der Abfassung dieses Werks noch nicht abgeschlossen.
Weitere Abkürzungen, von denen in einzelnen Kapiteln Gebrauch
gemacht wird, sind beim ersten Zitieren des betreffenden Werks nach-
gewiesen. Die Anmerkungen sind für jedes Kapitel gesondert nume-
riert; entsprechend werden in jedem Kapitel beim ersten Zitieren eines
Werks die bibliographischen Angaben aufs neue voll angegeben.
Einleitung

»Die Theorie der Geistesgeschichte muss oft genug in dem Hervortre-


ten und Eingreifen grosser Persönlichkeiten Explosionen erkennen.
Aber die Kräfte dieser scheinbar rein persönlichen Anstösse erweisen
sich einer tiefer dringenden Untersuchung wohl immer als Glieder
einer weiten, zusammenhängenden Kette vorher und daneben gehen-
der Strebungen. So entsteht immer wieder das geheimnisvolle Problem
einer Stetigkeit der Entwicklung, aus deren innerstern Schoss C...)
Neuschöpfungen dann doch sprungweise hervorbrechen.«l Einen sol-
chen Sprung über die Grenzen der bisherigen Philosophie hinaus, der
zu einer neuen Gestalt der Organisation des Denkens führte, hat Hegel
vollzogen. Ludwig Feuerbach hat in seinen Erlanger Vorlesungen die-
sen Bruch und das Neue der Hegelschen Philosophie festgehalten:
»Hegel trat darum in absoluten Gegensatz mit seiner Zeit C••• ) Hegelliess
es nicht beim Alten bewenden und verknüpfte nur äusserlich das Neue
mit dem Vorhandenen, aber nahm die philosophischen Untersuchun-
gen von vorne wieder auf, er ging auf die Quelle zurück, er unternahm
eine Reformation der neuen Philosophie von ihrer ersten Grundlage
an, der Kritik der reinen Vernunft.«2 Die Heftigkeit der Parteinahme
für und wider Hegel, schon unter seinen Zeitgenossen und nicht min-
der in der Nachwelt bis zum heutigen Tage, mag als Bestätigung dieser
Einschätzung genommen werden. Hegels Werk wird zum Indiz eines
Bruchs, der einen »absoluten Gegensatz« aufgerissen hat - einen Ge-
gensatz, der erst in den nachhegelisch hervorgetretenen Konsequen-
zen manifest wurde, die aus der Radikalität der Hegelschen Philoso-
phie als Lehre vom - sich zum absoluten vermittelnden - Begriff3 zu
ziehen sind. So sehr wir auch Hegel philosophiegeschichtlich als eine
Station in der Ausbildung des neuzeitlichen Denkens zu sehen haben-
wobei man die Affiliationslinie von Cusanus und Leibniz über Schel-
ling oder von Luther und Descartes über Kant und Fichte zu Hegel zie-
hen mag'!, je nachdem, ob man das Motiv des substantiell Absoluten
oder der tätigen Subjektivität hervorhebt -, es würde dennoch das pro-
blemgeschichtlich entscheidend Neue verkannt, wollte man ihn nur aus
diesem historischen Kontinuum der Moderne verstehen. Vielmehr
vollzieht sich im Werk Hegels selbst jene Verschiebung, als deren Folge
2 Einleitung

Philosophie nicht mehr nur als Interpretation der Welt betrieben wird
(deren Ergebnis dann durchaus zu einem Instrument im Handeln zur Ver-
änderung der Welt werden konnte), sondern ihr eigenes Tun als Weltver-
änderung begreift, indem sie sich selbst als Theorie in ein Verhältnis der
Theorie zu der sie übergreifenden Praxis setzt. 5 Wenn dieser Bruch auch
erst von der nachhegeIschen Philosophie ausdrücklich vollzogen wurde,
so ist er doch in der Theoriestruktur des HegeIschen Philosophierens
schon angelegt6 und bestimmt dessen Systemcharakter.
Hegels Philosophie, auf deren systematisch abgeschlossene Ge-
stalt wir heute immer noch mit Ratlosigkeit und oft genug mir Unbe-
hagen zurückblicken, ist die am meisten entwickelte und ausgearbei-
tete Form dessen, was wir »spekulative Philosophie« nennen; und ob
das ein Ruhmestitel oder ein Schimpfwort sei, scheint auch noch kei-
neswegs ausgemacht. Im späteren 19. und 20. Jahrhundert erfuhr sie
von ganz entgegengesetzten Seiten schärfste Kritik, ja Verdammung.
Einmal durch Positivismus und Empirismus, mit dem Argument, er-
fahrungsüberschreitende Aussagen über die Welt im ganzen seien un-
zulässig und produzierten nur Scheinprobleme der Philosophie; die
ungeheuere Erweiterung der Einzelwissenschaften und ihre zur Un-
überschaubarkeit sich ausbreitende Spezialisierung geben den Grund
für diese Hegel-Kritik ab. Der andere Einwand kommt vom Marxis-
mus und richtet sich gegen Hegels Idealismus, der die Totalität von
Welt als »Idee«, das aktive Prinzip dieser geschichtlich bewegten Welt
als »absoluten Geist« fasst; so wird die Darstellung des Weltprozesses
zur Selbstentfaltung des Begriffs des Geistes. Marx nennt es einen
»Fehler bei HegeI«, dass der »Gegenstand als Gedankenwesen«, das
Subjekt immer als »Bewusstsein oder Selbstbewusstsein« erscheine 7 ;
die Wirklichkeit, um die es gehe, bestehe jedoch in den materiellen Ver-
hältnissen, innerhalb derer das Bewusstsein von ihnen und die Gedan-
ken über sie allererst auftreten. Dieser Rekurs auf die materiellen Ver-
hältnisse sprengt allerdings die deduktive Notwendigkeit eines die
Totalität abbildenden Systems der Begriffe, das sich als solches immer
geschlossen darstellen muss; denn die unendliche Kette der Bedingun-
gen für jedes Einzelseiende und die prinzipielle Verlängerbarkeit jeder
Gegenwart in die Zukunft gestatten keinen Abschluss des Ganzen und
lassen zum mindesten für den endlichen Verstand die Einzeltatsache
kontingent erscheinen.
Die positivistische Hegel-Kritik braucht uns hier nicht zu beschäf-
tigen. Das Elend der Zersplitterung des wissenschaftlichen Einzelwis-
sens, das sich nicht mehr zur Einheit eines Weltbilds zusammenfügt,
Einleitung 3

belegt deutlich genug das Scheitern des positivistischen und neopositi-


vistischen Philosophieprogramms.
Die Konsequenz war das Ausweichen in beliebige irrationalistische
Weltanschauungen, die in verschiedener Verpackung auf dem Super-
markt der Ideologien angeboten werden. Dagegen hat sich der Marxis-
mus dazu bekannt, das Erbe der klassischen deutschen Philosophie
und insbesondere Hegels anzutreten - wenn auch materialistisch ge-
wendet. Und Lenins Programm, Hegel materialistisch zu lesen, formu-
liert das Problem, die Intention auf das Ganze von Welt zu bewahren,
ohne das Sein als »absolute Idee« fassen zu müssen. Mit dem Vorhaben
der spekulativen Philosophie, die empirisch nicht gegebene Totalität
von Welt im Begriff abzubilden, wurde damit zugleich die Herausfor-
derung Hegels angenommen, die unendliche Welt als endliches System
des Geistes konstruieren zu sollen, und ihr mit der Forderung begeg-
net, Hegel »vom Kopf auf die Füsse zu stellen«. Die Provokation der
spekulativen Philosophie, der der Positivismus ausgewichen ist und der
sich der dialektische Materialismus aussetzt, liegt also gerade darin, He-
gels System als ganzes, das heisst als idealistisches Konstrukt, ernst zu
nehmen.
Die marxistische Hegel-Aneignung hat lange darunter gelitten, dass
sie glaubte - auf einige aus dem Zusammenhang gerissene und miss-
verstandene Äusserungen von Engels gestützt - die dialektische Me-
thode von der Systemgestalt und dem Systemgehalt der HegeIschen
Philosophie trennen zu können. Die Methode sollte dann (unter be-
stimmten Veränderungen, die sie zu einer materialistischen zu machen
hatten) adaptierbar sein, während das System dem Orkus überliefert
werden konnte.
Dass ein solches Verfahren fehlerhaft ist und dem Programm
Lenins, Hegel materialistisch zu lesen, keineswegs entspricht, sei an
drei Hinweisen dargetan:
1. Die dialektische Methode ist gerade keine von ihrem Inhalt ab-
lösbare, gleichsam neutrale Verfahrensweise, sondern die eigentümli-
che Form der Entwicklung eines bestimmten Inhalts.
2. Engels selbst hat die HegeIsche Dialektik ihrer Form nach als un-
brauchbar bezeichnet und die Aufhebung der HegeIschen Philosophie
darin gesehen, »dass ihre Form kritisch vernichtet, der durch sie ge-
wonnene Inhalt aber gerettet wurde«8.
3. Die von Marx, Engels und Lenin vollzogene »Umstülpung« der
HegeIschen Philosophie kann sinnvoll nicht allein an der Methode,
sondern nur am System der Begriffe vorgenommen werden und setzt
4 Einleitung

voraus, dass dieses als Widerspiegelung der (in Begriffen gefassten)


wirklichen Sachverhalte (der »materiellen Verhältnisse«) aufgefasst
wird; erst unter dieser Voraussetzung ergibt es einen Sinn, dass Lenin
die Hegelsche Philosophie nicht nur zu den Quellen, sondern auch zu
den Bestandteilen des Marxismus zählt und in den Konspekten zur Wissen-
schaft der Logik das Verfahren ihrer materialistischen Umkehrung ent-
wirft. 9 In diesem Sinne bildet die Philosophie von Hegel bis zu den Le-
ninschen Hegel-Konspekten eine problemgeschichtliche Einheit (und wird
im folgenden so dargestellt).
Die Dialektik nimmt also durch und mit Hegel eine Wendung, dank
derer sie - zum mindesten in einem wesentlichen und zwar dem ge-
schichtsmächtig gewordenen Strang - zum kategorialen Ausdruck der
gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen Dynamik geschicht-
licher Veränderungen und in deren theoretischer ModelIierung zu-
gleich zum Motor dieses Prozesses wird. Die Dialektik rekonstruiert
nicht nur die Formbestimmtheiten des Übergangs von einer Gestalt
des Denkens zu einer anderen, aus ihr hervorgehenden (wie es die He-
gelsehe Logik vorführt), sondern eben auch die Formbestimmtheiten
des Übergangs von einer Gestalt der Wirklichkeit zur nächsten. lO
Als Logik des Übergangs von einer Formbestimmtheit zur ihrer be-
stimmten Negation - und diese ist eine andere positive Formbe-
stimmtheit (was gegen das mangelhafte Konzept der bloss »negativen
Dialektik« festgehalten werden muss) - ist die Dialektik die begriffliche
Figur, in der allein die geschichtliche Wirklichkeit der Gegenwart (als
Übergang und Zeitenwende) sich enthüllt. I I »Der Geist hat mit der bis-
herigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im
Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit
seiner Umgestaltung.«12 Dieser Satz Hegels gilt heute nicht weniger als
1806. Noch immer leben wir im Zeitalter der Revolutionen, das mit der
ersten industriellen Revolution im 17. und 18. Jahrhundert begonnen
hat. Cromwell, Robespierre und Lenin (um einige herausragende Ge-
stalten zu nennen) waren Bewegungsimpulse in diesem epochalen Pro-
zess, die Restauration der Stuarts, der Bourbonen und des kapitalisti-
schen Imperialismus sind retardierende Momente. Von revolutionärem
Einschnitt zu revolutionärem Einschnitt lässt sich eine Abfolge von
Phasen der globalen Veränderung des Gattungsdaseins der Menschheit
feststellen - eine Veränderung, deren Mitwirkende wir sind und die
noch lange nicht abgeschlossen ist, ja deren Ende wir gar nicht vorher-
sehen können. Die Dialektik ist die Logik dieses Wandels, sie ist, wie
der russische Hegelianer Alexander Herzen sagte, die »Algebra der Re-
Einleitung 5

volution«. Darum ist jede Rede über Dialektik politisch, auch wenn es
sich scheinbar »nur« um Begriffsstrukturen handelt.
Marx hatte diese Dialektik von Philosophie und Politik bei Hegel
begriffen. Er schreibt in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten,
Hegel habe »den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Be-
wegung der Geschichte gefunden«; und er fügt hinzu, seine Gegen-
stände seien aber nur »Gedankenwesen - daher bloss eine Entfrem-
dung des reinen, d.i. abstrakten philosophischen Denkens.«13 Indem die
»Gedankenwesen« dem Denken als von ihm unabhängige Wesenheiten
(»mit der Anmassung der Wirklichkeit<0 entgegentreten, verkehrt sich
in ihnen, die doch als Inhalte des Denkens nur Abbilder der äusseren
Wirklichkeit sind, diese äussere, materielle Wirklichkeit in eine ideelle,
die sich im spekulativen Denken offenbart. Die Wahrheit des spekula-
tiven Denkens liegt, nach der Deutung von Marx, gerade darin, dass es
als Verselbständigung des »Gedankenwesens« erkennbar wird und
damit durch Umkehrung wieder als Repräsentation der materiellen
Wirklichkeit aufgefasst werden kann.
Die materielle Wirklichkeit, um die es Marx geht und die er durch
Umkehrung in Hegels System der Begriffe wiederfinden will, ist die
ausgedehnte Mannigfaltigkeit der Natur und die »Betätigung des Men-
schen als eines wirklichen Gattungswesens«, die bei Hegel nur als »gei-
stige Momente« vorkommen l 4, weil sie als Inhalte des Wissens zu Ge-
genständen der Philosophie geworden sind. Dies ist für die von Marx
und Lenin vorgeschlagene Lesart der Hegeischen Philosophie, ihre
materialistische Umkehrung, von entscheidender Bedeutung. Denn
diese Lesart geht darauf aus, das »System der Wissenschaft« wieder in
Beziehung zu dem zu setzen, wovon die Wissenschaft systematisches
Wissen ist. Und das kann nur die im Wissen gewusste Wirklichkeit sein.
Werden Natur und Geist als Inhalte der Wissenschaften gefasst, so
sind sie der Philosophie nur als System der Begriffe von den wirklichen
natürlichen und geistigen Sachverhalten gegeben. Indem die Philoso-
phie die Erkenntnisbewegung der Wissenschaften in die Selbstbewe-
gung der Begriffe übersetzt, bewirkt sie zweierlei: Erstens kann sie die
Kontingenz des Erfahrungswissens in die Notwendigkeit der Selbstbe-
stimmung des Begriffs aufheben, und zweitens vermag sie die unend-
liche Gegenstandsfülle der Welt und den ihr entsprechenden unendli-
chen Erkenntnisprogress in einem endlichen System von Begriffen
modellhaft abzubilden. Sie zahlt dafür den Preis, dies nur in
objektiv-idealistischer Form leisten zu können, die darin besteht, die
Wirklichkeit als Geist aufzufassen.
6 Einleitung

Für das rechte Verständnis der Hegelschen Philosophie und die


Möglichkeit ihrer »Umstülpung« scheint es mir vor allem darauf anzu-
kommen, ihre Stellung zur Objektivität treffend zu bestimmen: Ihr Ge-
genstand ist nicht unmittelbar die Welt, sondern das wissenschaftliche
Wissen von der Welt. Die Darstellung der vermittelten Substantialität
der Dinge und ihres letztlich universellen Zusammenhangs als »Geist«
bezieht sich auf den Modus des Wissens, in dem sie erscheinen. Die
Phänomenologie des Geistes steigt von der sinnlichen Gewissheit zum ab-
soluten Wissen auf, die Wissenschaft der Logik vom reinen Sein (welches
als die einfache Unmittelbarkeit des Wissens, mithin als das Prädikat
>ist< bestimmt wird) zur absoluten Idee, die Eniyklopädie vom Begriff
des Seins zum absoluten Geist. Wissen, Idee, Geist sind Termini, in
denen das zu Bewusstsein gekommene Sein der Welt benannt wird.
Wer wäre so naiv anzunehmen, Hegel habe die Materialität der dingli-
chen Welt im Denken einfach verschwinden lassen wollen, so als sei das
Denken das Substrat der Realität? Ausdrücklich nennt er die voll mit der
Metaphysik zusammenfallende Logik die »Wissenschaft der Dinge in
Gedanken gefasst« und deutet durch die komplementäre Sperrung von
»Dinge« und »Gedanken« das Zuordnungsverhältnis von Unterschiede-
nen an. 15 Der Unterschied der Realwelt von ihrer logischen Abbildung
ist festzuhalten. Natur und Idee sind wohl Eines und Dasselbe, aber im
Unterschied (die Natur ist das Andere der Idee), wie bei einer Spiege-
lung das Bespiegelte und das Gespiegelte ein und dasselbe sind, aber
doch unterschieden. Die Frage nach der Besonderheit des Andersseins
oder Unterschieds ist die Grundfrage der Philosophie. 16
Nun hat Hegel zweifellos die letzte Wirklichkeit nicht in der Ob-
jektivität des äusserlichen Daseins gesehen, sondern in der Idee, die al-
lein das Ganze und also absolut ist, während alle Erfahrungsinhalte in
ihrer Einzelheit gerade verschwinden, wenn sie als wirkliche (das heisst
vermittelt mit allem anderen) betrachtet werden; dann bleibt nur die
Idee übrig. »Das einzelne Sein ist irgend eine Seite der Idee, für dieses
bedarf es daher noch anderer Wirklichkeiten, die gleichfalls als beson-
ders für sich bestehende erscheinen, in ihnen zusammen und in ihrer
Beziehung ist allein der Begriff realisiert. Das Einzelne entspricht sei-
nem Begriffe nicht, diese Beschränktheit seines Daseins macht seine
Endlichkeit und seinen Untergang aus.«17 Wenn das Einzelne im
Ganzen aufgehoben wird, welches uns nur als Idee gegeben ist, so ver-
schwindet die Materialität der dinglichen Vielheit und wird zur biossen
Erscheinung herabgesetzt. »Das Absolute ist die allgemeine und eine
Idee, welche als urteilend sich zum System der bestimmten Ideen beson-
Einleitung 7

dert, die aber nur dies sind, in die eine Idee, in ihre Wahrheit zurück-
zugehen. Aus diesem Urteil ist es, dass die Idee zunächst nur die eine, all-
gemeine Substanz ist, aber ihre entwickelte, wahrhafte Wirklichkeit ist,
dass sie als Subjekt und so als Geist ist.«18 Die Wissenschaftlichkeit des
philosophischen Begriffs (seine »Dialektizität«, indem er an sich selbst
die unterschiedene Einheit von Idee und Natur denkt) schlägt um in
die Idealität des Absoluten. Gerade an diesem Umschlag aber wird die
Einheit von Methode und System Hegels sichtbar. Hier stellt sich das
Problem seiner materialistischen Lesart.
Die Frage nach einer materialistischen Lesart Hegels ist nicht will-
kürlich. Sie hat einen historischen und einen systematischen Grund.
Historisch stellt sie sich unausweichlich im Hinblick auf die Weiterent-
wicklung der Dialektik nach HegeI: Feuerbach und der junge Marx
haben ihre Hegel-Rezeption und -Kritik so aufgebaut, dass sie einen
materiellen Wirklichkeitsgehalt - die sinnliche Wirklichkeit bei Feuer-
bach, die materiellen Verhältnisse bei Marx - in der Gestalt der speku-
lativen Denkformen aufdecken wollten, der spätere Marx und Lenin
haben daraus das Programm abgeleitet, Hegel »vom Kopf auf die
Füsse zu stellen«.
Nun kann aber auch aus systematischen Gründen kein philosophisch
reflektierter Materialismus darauf verzichten, die Frage nach dem »Ge-
samtzusammenhang« (Engels) zu stellen, der doch nie als Gegenstand
unserer stets endlichen (sinnlichen oder praktischen) Erfahrung gege-
ben sein kann, sondern immer nur als Idee konstruiert wird. Indessen
gibt es keine Erfahrung von Teilen (und des Weiterschreitens von Teil zu
Teil), in die nicht die Idee des Ganzen als Horizont jedes bestimmten
Einzelnen oder jedes Weltsegments ausdrücklich oder unausdrücklich
einginge. Weil das reflektierende und konstruierende Denken immer die
Möglichkeiten und Grenzen der Erfahrung und des natürlichen Be-
wusstseins überschreitet und das Absolute oder Unendliche oder die
Totalität der Welt nur als Ergebnis des Denkens konstituiert oder »sich
gibt«19, ist jede Philosophie, die diese ihr genuinen Gegenstände zum
Inhalt hat, eo ipso und unausweichlich idealistisch: Ihre Gegenstände er-
scheinen ihr als Inhalt und nur als Inhalt des Denkens; und daran ändert
es nichts, wenn diesen Gegenständen der Name »Materie« beigelegt wird
und sie gar mit materiellen Qualitäten ausgestattet werden; denn auch
dies sind Inhalte des Denkens. Hegels Konstruktion der absoluten Idee
ist also auch für den Materialismus nicht einfach ein obsoletes Requisit
idealistischer Philosophie, sondern ein unter materialistischen Intentio-
nen zu bedenkender Problemlösungsansatz.
8 Einleitung

Das Denken lässt im Fortgang die natürliche Bewusstseinseinstel-


lung (den »naiven Realismus«) hinter sich, aber doch so, dass die in vor-
philosophischer Wirklichkeitserfahrung und vor allem die in ursprüng-
licher Praxis gegebenen Gegenstände und Verhältnisse als solche, die
jedem Denken als von ihm zu unterscheidende vorgegeben sind, die
Relata bleiben, auf die als »äussere« sich das Denken bezieht. Natürlich
ist das Verhältnis des Denkens zu dem als äusserem Relatum Gedach-
ten auch wieder nur ein ideelles. Aber es »enthält« den Unterschied des
Gedankens von dem äusseren Relatum des Gedachten. Die Struktur
dieses Unterschieds ist durch die »exakte Metapher« Widerspiegefungaus-
gedrückt - denn auch der Spiegel »enthält« mit dem gespiegelten Bild
zugleich den Unterschied zu dem sich spiegelnden Gegenstand.
Nun ist es durchaus ein Konzept auf dem Boden der spekulativen
Philosophie (und nicht ab ovo mit dieser und mit Hegel unverträglich),
die absolute Idee (als die Idee des Absoluten), deren äusseres Relatum
in natürlicher Bewusstseinseinstellung nicht aufweis bar ist, die aber
doch als Ergebnis eines Übergangs aus der natürlichen Bewusstseins-
einstellung in das spekulative Verfahren gewonnen wird, als »Wider-
spiegelung« eines transempirischen äusseren Relatum, eben des
Ganzen der Welt des Wirklichen und Möglichen, zu deuten. Diese
Deutung vermeidet den Bruch oder Hiatus zwischen der Erfahrungs-
welt des natürlichen Bewusstseins und der ideellen Einheit, die dem
Denken sonst nur als regulatives Prinzip gegeben wäre. Der Kantsche
Dualismus ist von dem Widerspiegelungsmodell strikt fernzuhalten.
Diese Deutung erlaubt ferner, den Aufbau des Hegelschen Systems
(einschliesslich seines absoluten Idealismus) in seiner Stringenz festzu-
halten. Die Umkehrung besteht darin, den notwendigen Idealismus des
Systems als System der Begriffe zu komplementieren durch die darin
logisch enthaltene, von ihm ontologisch unterschiedene Realwelt, mit
der es, als »Spiegelbild«, zugleich identisch und nicht- identisch ist. Die-
ses »Zugleich-identisch-und-nicht-identisch« ist Ausdruck des Sach-
verhalts, dass der Monismus nicht aufgegeben werden muss, sondern
als die »Einheit im Selbstunterschied« gedacht wird. Das besagt, streng
hegelisch, dass das Eine Gattung seiner selbst und seines Gegenteils ist;
und es ist ein besonderes Problem, dass dieses Verhältnis des »Über-
greifens« in zwei Richtungen »gelesen« werden kann, hier also: Die Idee
übergreift die materielle Welt, die sie »enthält« (wie der Spiegel das
Spiegelbild) - und: Die materielle Welt übergreift die Idee, die in ihr als
gedachte enthalten ist (wie der spiegelnde Spiegel in der Welt, die er
spiegelt, enthalten ist).
Einleitung 9

Die Umkehrbarkeit oder Möglichkeit einer spiegeltheoretischen


Lesart Hegels ist nur am System Hegels insgesamt darzutun. Soll also
die Kontinuität von Hegel zu Marx und Lenin kenntlich gemacht wer-
den, so darf man sich nicht damit begnügen, einzelne Stücke des He-
gelschen Systems als materialistisch interpretierbar oder als Übergang
von einer idealistischen zu einer materialistischen Dialektik herauszu-
heben, sondern muss sich auf das Ganze der Hegelschen Philosophie
einlassen. Dabei ist die Voraussetzung, dass von der Phänomenologie des
Geistes an die Hegelsche Philosophie - unbeschadet aller Entwick-
lungsstufen - eine systematische Einheit bildet, deren Grundriss in der
EniJklopädie skizziert ist, wozu die Vorlesungen Ausführungen und
Paralipomena geben - eine Voraussetzung, die sich in der Darstellung
wird zu bewähren haben.
Eine problemgeschichtliche Hegel-Aneignung hat den ganzen
Hegel zu verarbeiten und darf sein Werk nicht nur als Steinbruch be-
handeln. Das bedeutet insbesondere, dass ungeachtet aller Entwick-
lung im Denken Hegels die Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft
der Logik als Teile eines zusammenhängenden Ganzen begriffen wer-
den müssen; auch die scheinbaren Disproportionen im Aufbau der
Phänomenologie sind aus der Konstruktion des Ganzen zu erklären und
dürfen nicht als ein konzeptioneller Bruch gedeutet werden. Der Ein-
satz der Logik beim einfachen Begriff des Seins ist nicht ein genetisch
Erstes des Denkens, sondern weist zurück auf das »Werden des Wis-
sens«, das die Phänomenologie dargestellt hatte. Am Ende dieses Prozes-
ses der Entfaltung der Mannigfaltigkeit der Wissensinhalte steht die
Rückkehr zum einfachen Allgemeinen, dem Sein; der Anfang der Logik
wird nicht frei gesetzt, sondern aus der Erfahrung abgeleitet, die das
Wissen an sich selbst macht. Hegel selbst hat die Fundierung der Logik
auf die Phänomenologie ausgesprochen; er sagt: »Es ist in der Einleitung
bemerkt, dass die Phänomenologie des Geistes die Wissenschaft des Be-
wusstseins, die Darstellung davon ist, dass das Bewusstsein den Begriff
der Wissenschaft, d.i. das reine Wissen, zum Resultate hat. Die Logik
hat insofern die Wissenschaft des erscheinenden Geistes zu ihrer Vor-
aussetzung, welche die Notwendigkeit und damit den Beweis der
Wahrheit des Standpunktes, der das reine Wissen ist, wie dessen Ver-
mittlung überhaupt enthält und aufzeigt.«2o
Diese Passage aus der Logik schliesst bruchlos an die Einschätzung
an, die Hegel in der »Selbstanzeige« im Intelligenzblatt der Jenaer All-
gemeinen Literatur-Zeitung von der Bedeutung der Phänomenologie für
das Ganze seines philosophischen Entwurfs gegeben hatte: »Dieser
10 Einleitung

Band stellt das werdende Wissen dar. Die Phänomenologie (...) fasst die
verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges in sich, durch
welchen er reines Wissen oder absoluter Geist wird (...) Ein i}Veiter Band
wird das System der Logik als spekulativer Philosophie und die zwei
übrigen Teile der Philosophie, die Wissenschaften der Natur und des Gei-
stes enthalten.« Der so konzipierte Entwicklungszusammenhang, der
von der sinnlichen Gewissheit zum absoluten Wissen führt und von da
zur Wissenschaft der Logik übergeht (der sich dann die Realphiloso-
phie der Natur- und Geisteswissenschaften anschliessen sollten), re-
präsentiert die Deduktion der Systematik der Wissenschaften. Er geht
deshalb von jenen Anschauungsgehalten aus, die uns als erste vor jeder
wissenschaftlichen Organisation unseres Wissens gegeben sind, und
zeigt, welche Erfahrungen das Denken mit diesen seinen ersten Inhal-
ten macht, es wird dargestellt, wie das Denken, das sich auf sich selbst
richtet, d. h. seine eigene Tätigkeit reflektiert, über den jeweils erreich-
ten Reflexionsstand hinaus fortgetrieben wird, bis es sich selbst ganz
und gar als inhaltlich erfülltes begreift. »Das Ziel, das absolute Wissen,
oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinne-
rung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation
ihres Reiches vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres
freien, in der Form der Zufalligkeit erscheinenden Daseins ist die Ge-
schichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wis-
senschaft des erscheinenden Wissens.«21 An dieser Stelle entspringt die
Logik als die Wissenschaft von der begrifflichen Gestalt des Wissens,
mithin als Grundlage der Wissenschaften von Natur und Geist. 22
1. Hauptstück

Hegels Entwurf
der Systematisierung der Dialektik
1. Kapitel:
Die ontologische Inversion

1. Die geschichtliche Einheit von Metaprysik und Politik

Mit dem ausgereiften Werk Hegels - also mit dem Dreischritt von
Phänomenologie des Geistes, Wissenschaft der Logik und En?Jklopädie der phi-
losophischen Wissenschaften - tritt die Entwicklungsgeschichte des dialek-
tischen Denkens auf eine neue Stufe. Hatten sich bis dahin dialektische
Denkfiguren als spezielle methodische Antworten auf systematische
Probleme der Philosophie ausgebildet - mit den grossen Entwick-
lungsschüben in den Werken des späten Platon, des Neuplatonismus
(vor allem Plotins und Proklos'), des Nicolaus Cusanus, Leibniz' und
schliesslich des deutschen Idealismus von Kant über Fichte zu Schel-
ling -, so nimmt nun bei Hegel die Dialektik zum erstenmal die Gestalt
einer konstruktiv durchgeführten, aus der Natur des Begriffs = Natur
der Sache begründeten logisch-ontologischen Systematik an, in der die
bisher in der Geschichte der Philosophie ausgearbeiteten Elemente der
Dialektik aufgenommen werden und in ihrem Zusammenhang inte-
griert sind. In diesem Sinne ist Hegels Philosophie der Abschluss einer
mehr als zweitausendjährigen Entwicklung und die Erschliessung eines
neu bestimmten Feldes der Philosophie (so wie dies in einer anderen
Hinsicht die kalkulatorische Formalisierung der Logik erreicht hat).
Die so zur Systemgestalt gewordene Dialektik beansprucht, an die
Stelle der alten Metaphysik zu treten und deren Erbe zu sein. Die
höchst entwickelte und selbst schon durch und durch dialektische Me-
taphysik von Leibniz, als Entwurf eines Strukturmodells von Welt, ist
sozusagen die »Kunstform«, die der \X!issenschaftsförmigkeit des He-
gels ehen Systems entspricht und ein Modell entwirft, wo Hegel den
Gipfel der Theorie in der Transparenz einer Konstruktionsmethode
findet. Gerade weil die letzte Stufe der vorkantischen Metaphysik bei
Leibniz in vielen Aspekten und in ihrer inneren Architektur in grosser
Nähe, wenn auch wohl definiertem Unterschied zu Hegels Systement-
wurf steht, musste es Hegels systematisches Interesse sein, den Bruch
seiner Philosophie mit der »alten Metaphysik« deutlich zu machen, also
die Übergangsstellen zu einer neuen Denkweise eher zu durchschnei-
14 Hegels Entwurf der S)'stematisierung der Dialektik

den, als die Vermittlungen hervorzuheben. Dies umso mehr, als die
Übergänge von »metaphysischer« zu »dialektischer« Denkweise! in der
alten Metaphysik im wesentlichen durch Probleme induziert werden, die
mit der Einheit und Vielheit der Natur, mit der Bewegtheit der Natur-
seienden und dem Verhältnis von Sein und Bewegung überhaupt und
mit der Ausarbeitung eines spekulativen Weltbegriffs zusammenhän-
gen 2. So war die klassische Metaphysik seit Aristoteles sei es am Seins-,
sei es am Substanzproblem orientiert\ während es nach der transzen-
dentalen Wende kaum mehr anders möglich war, als metaphysische Pro-
bleme unter der Perspektive der Subjektivität zu stellen 4 und die Ge-
schichtlichkeit der Welt primär nicht mehr unter der Form der
Naturgeschichte, sondern der Geschichte der menschlichen Gattung
und der Entfaltung der Wesens bestimmungen der Subjektivität, also als
Geschichte der Vernunft und der Freiheit darzustellen 5. Mit der politisch
hervorgetretenen, aber wesensphilosophisch begründeten Beziehung
der Vernunft auf Freiheit - der eigentlichen metaphysischen Leistung
der Aufklärung - war die ontologische Frage entstanden, wie das Abso-
lute selbst oder die oberste Vernunfteinheit, in der alles umfasst und
ein-gebildet sein soll, zugleich als frei, das heisst auf noch unentschie-
dene Möglichkeiten bezogen sein könne und also in seinem innersten
Wesen zeitlich sein müsse. Die Metaphysik des Absoluten musste in Ge-
schichtsphilosophie transformiert, ihre wesentlichen Erscheinungsfor-
men mussten in der Philosophie des Politischen und des Staats (des »Ob-
jektiven Geistes«) dargestellt werden. Diese Wende von der Metaphysik
zur Geschichtsphilosophie hat Hegel vollzogen - auf der Basis der po-
litischen Erfahrungen seiner Gegenwart, das heisst der Epoche der
Französischen Revolution, der Institutionalisierung der bürgerlichen
Gesellschaft als Staatsform und der damit zugleich verbundenen wider-
sprüchlichen Doppelbewegung von Restauration und Fortschritt6 •
Damit wird Hegels Philosophie seit der Antike das erste durchge-
bildete System, in dem Metaphysik und Politik nicht nur äusserlich mit-
einander verbunden oder allenfalls als wesentlich korrelierende Glieder
einer durch das Weltverhältnis des Menschen bestimmten Wirklichkeit
gedacht werden, sondern von Grund auf eine und dieselbe kategoriale
Gestalt haben, für welche (wie sich zeigen wird) Hegel den Terminus
Geist fruchtbar mache. Es möchte scheinen, dass Hegel die Idee der
griechischen Polis (oder in anderer Weise auch der römischen Repu-
blik) wieder aufnahm, in welchen Formen der organisierten Gesell-
schaft sich das Individuum als Polisbürger (oder civis Romanus) ver-
wirklichte und so an der allgemeinen Vernunft teilhatte, indem es sie
Die ontologische Inversion 15

durch seine gesellschaftliche Tätigkeit mitgestaltete. Die Definitionen


der §§ 257 und 258 der »Rechtsphilosophie« - die ganz streng nach der
Hegelschen Methode die Entfaltung des Begriffs in seinen konstituti-
ven Prozessen vornehmen - klingen »antikisch« (und die Bezugnahme
auf die Penaten und Athena in § 257 A verstärkt diesen Rückbezug):
»(§ 257) Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee - der sittliche
Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich
denkt und weiss und das, was er weiss und insofern er es weiss, voll-
führt (...) (§ 258) Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen
Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen
Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige (... )«8
Der Staat als das »an und für sich Vernünftige« ist sozusagen die in-
stitutionalisierte Metaphysik und insofern ein Analogon zu Platons »Po-
liteia«. Bleibt Hegel hier also nahe bei der »athenischen Gotik«9 seines Ju-
gendfreundes Hölderlin? Dieses Missverständnis wird sogleich
behoben, wenn man den Abschnitt »Die bürgerliche Gesellschaft« in der
Rechtsphilosophie bedenkt lO . Die bürgerliche Gesellschaft steht in der
Mitte zwischen Familie und Staat und trennt diese bei den Gemein-
schaftsformen (die in der Antike unmittelbar aneinanderstossen und in-
einander übergehen), indem sie sie vermittelt, das heisst zugleich auseinan-
derhält und ineinander verfugt. I I Hegel hat den illusionären Charakter
der rousseauistischen Erwartung Robespierres und St.Justs durchschaut,
die meinten, den Bourgeois unmittelbar zum Citoyen erheben zu kön-
nen. Die Ausweitung und Diversifikation der Bedürfnisse in einer zu-
nehmend arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft gestattet den unmit-
telbaren Übergang vom Individuum zum politischen Staatsbürger nicht
mehr l2 . Die besonderen Interessen liegen zwischen dem Überlebensin-
teresse des Individuums am Allgemeinen, an Friedenszustand und sa/us
pub/ica (das Hobbes als vernünftiges Individualinteresse zur Ausgangs-
basis für seinen Staatsbegriff machen konnte), und dem Allgemeininter-
esse das im commune bonum, in Wohlstand und Macht des Staatswesens
sich ausdrückt und die summa potestas des Herrscherwillens begründet
(wie noch Pufendorf zuzugeben bereit ist).13 Den instituierten politi-
schen Mächten setzt Hegel nun die Bewegung der Bedürfnisbefriedi-
gung, Interessenkonkurrenz und Selbstverwirklichung der Partikularitä-
ten als Prozess der Herstellung des vernünftigen Allgemeinen entgegen:
»Das Wesen des neuen Staates ist, dass das Allgemeine verbunden sei mit
der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Indivi-
duen, dass also das Interesse der Familie und der bürgerlichen Gesell-
schaft sich zum Staate zusammennehmen muss, dass aber die Allge-
16 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

meinheit des Zwecks nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Be-
sonderheit, die ihr Recht behalten muss, fortschreiten kann«14. Freiheit
wird also zugleich als Daseinsmodus des Vernünftig-Allgemeinen und
als »Besonderung des Ich« im »Setzen seiner selbst als eines bestimm-
ten«15 begriffen, und ihr eigentliches Sein ist nicht das eine noch das an-
dere, sondern« die Vermittlung des Besonderen durch das Allgemeine
als dialektische Bewegung«16. In dieser Charakterisierung erweist sich
der neuzeitliche Begriff von Politik als aus demselben Zentrum konsti-
tuiert wie der neuzeitliche Begriff von Metaphysik (die seit Descartes
über dem Struktur modell des Selbstverhältnisses konstruiert ist und also
auf Freiheit als den Daseinsmodus der Selbstgründung und Selbstbe-
gründung rekurriert, welche ihrerseits nur in der Konstitution und durch
die Realisierung des Vernünftig- Allgemeinen sind, was sie sind 17 . Als
Aufgabe einer Philosophie, die diesen Doppelaspekt von Freiheit be-
greifen und handlungsfähig machen will, nennt Dieter Henrich die Ent-
faltung »einer Weise des Verstehens«, »in der das Bewusstsein es vermag,
sich selber und zugleich seine Bedingtheit zu erfahren und sich denkend
über sie zu verständigen.«18
Das eben ist der Standpunkt der neueren Philosophie - oder, wie
Hegel sagt, »der Standpunkt des philosophischen Bewusstseins über-
haupt«19; jener Philosophie also, die in der durch die Erfahrungen der
cartesischen Fundierung der Weltgewissheit im cogito und später der
transzendentalen Reflexion Kants hindurchgegangenen und transfor-
mierten Metaphysik sich manifestiert. »Wie aber die subjektive Freiheit
aufkommt und der Mensch aus der äusseren Wirklichkeit in seinen
Geist heruntersteigt, so tritt der Gegensatz der Reflexion ein, welcher
in sich die Negation der Wirklichkeit enthält«2o (was bedeutet, dass die
planmässige Umgestaltung der Wirklichkeit nach Zwecken dadurch
freigesetzt wird). Das Bewusstsein dieser reflexiven Negation der
Wirklichkeit ist das Selbstbewusstsein als Freiheit - Befreiung von der
Notwendigkeit durch Einsicht in die Notwendigkeit und die in ihr lie-
genden Möglichkeiten. Die Formulierung des Weltverhältnisses in der
Reflexion als Selbstverhältnis ist - und das ist der politische Sinn der
Metaphysik, der metaphysische Sinn der Politik - die Verwirklichung
der Autonomie des Menschen, die innere Freiheit des Bewusstseins der
Freiheit als Bedingung der Möglichkeit seiner äusseren Freiheit: »Es ist
also als die Bestimmung der geistigen Welt (...) als der End:vveck der Welt
das Bewusstseins des Geistes von seiner Freiheit und eben damit die
Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt angegeben worden.«21 Dies ist
eine wichtige Einsicht Hegels: dass die wirkliche Freiheit, also die poli-
Die ontologische Inversion 17

tische, nicht ohne das Bewusstsein der Freiheit, also das Philoso-
phischwerden der Politik, erlangt werden kann.
Zu diesem Dasein-in-der-Reflexion führt der Lauf der Weltge-
schichte 22 : »Die Weltgeschichte ist nichts als die Entwicklung des Be-
griffs der Freiheit. Die objektive Freiheit aber, die Gesetze der reellen
Freiheit fordern die Unterwerfung des zufälligen Willens, denn dieser
ist überhaupt formell« - hier wird die politische Freiheit wieder von
einem metaphysischen Begriff der Welt her gedacht -. »Wenn das Ob-
jektive an sich vernünftig ist, so muss die Einsicht dieser Vernunft ent-
sprechend sein, und dann ist auch das wesentliche Moment der sub-
jektiven Freiheit vorhanden«23 - nämlich die Selbstbestimmung aus
Vernunftgründen. Dieser Weg hat eine einsinnige Richtung, der Fort-
gang auf ihm ist irreversibel. Ist erst einmal eine notwendige Bestim-
mung der Freiheit im Gedanken gefasst, so kann dieser Stand der
Menschheit (status humanitatis, wie es bei Thomasius hiess) ideell nicht
mehr verlassen, wenn auch wohl faktisch unterdrückt werden. (Das ist
die Differenz zwischen Metaphysik und Politik). Daher ist die neuere
Philosophie - das »Projekt Moderne«, wie es heute modisch heisst -
keine zufällige und austauschbare Theorie des menschlichen Welt-
verhältnisses, sondern das notwendige Resultat des Fortschritts im
Bewusstsein der Freiheit als des geistigen Gehalts der Weltgeschichte.
Darum kann Hegel sagen: »Euro pa ist schlechthin das Ende der Welt-
geschichte«. Das bedeutet: »Der Orient wusste und weiss nur, dass
Einer frei ist, die griechische und römische Welt, dass Einige frei seien,
die germanische Welt weiss, dass Alle frei sind.«24 Im Dreischritt von
der orientalischen Welt über die europäische Antike der griechischen
Poleis und der römischen Republik bis zur christlich-germanischen
Welt, die in der Französischen Revolution gipfelt, verwirklicht sich die
Freiheit als der Zustand der Selbstbestimmung des Menschen durch
das Recht. Metaphysik, Geschichtsphilosophie und Politik erweisen
sich als Aspekte ein und desselben Verhältnisses - des Reflexionsver-
hältnisses von Wirklichkeit und Begriff, des Selbstverhältnisses des
Menschen als Ins-Lieht-treten dieses Reflexionsverhältnisses. 25

2. Die Geschichtlichkeit des Seins

Europa ist damit als geschichtsphilosophischer Topos - nicht als geo-


graphischer, gar geopolitischer Terminus eines Hegemonialanspruchs
- bezeichnet. Hegel zieht damit das Fazit aus einer politischen Anthro-
18 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

pologie, die im 17. Jahrhundert ihren Ursprung hat. Der Staat, der Frei-
heit verwirklicht, ist der Staat, der die Vernunftanlage des Menschen
zur vollen Entfaltung bringt und die Bedingungen für ihre Anwendung
schafft. Schon Leibniz fordert, es »wäre der Herr schuldig, seines
Knechtes Freiheit durch Erziehung zu befördern«2G. Karrt hat diesen
Gedanken dahin erweitert, in der geschichtlichen Entwicklung eine all-
gemeine Wesens- (Natur-)Gesetzlichkeit sehen zu wollen: »Alle Natur-
anlagen eines Geschöpfs sind bestimmt, sich einmal vollständig und
zweckmässig auszuwickeln«27. Und dieser Gedanke wird ergänzt: »Man
kann die Geschichte der Menschengattung im grossen als die Vollzie-
hung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich-
und, zu diesem Zwecke, auch äusserlich-vollkommene Staatsverfas-
sung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle
ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann«28. Womit Kant
noch näher an Hegel heranrückt, ist die Einsicht, dass die Idee eines
solchen Vernunftzwecks der Natur dem Hervortreten dieses Zwecks
selbst förderlich sei, dass also die Menschen für die Verwirklichung
ihres Wesens selbst verantwortlich sind, indem sie sich reflexiv zu sich
selbst verhalten. Herder war es dann, der die Geschichte der Erziehung
oder Entwicklung des Menschengeschlechts auf jenen Punkt bezog,
wo der höchste Stand der Kultur, das heisst für ihn der Humanität, Ver-
nunft und Freiheit, erreicht wurde: Europa, wo »der Stand der Wissen-
schaft, der nützlichen Tätigkeit, des wetteifernden Kunstfleisses« sich
»zu einer Humanität und Vernunft verbanden, die mit der Zeit den
Erdball umfasste.«29
Das humanistische Pathos der Herderschen Geschichtsauffassung
steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem Selbstgefühl, mit dem
hier der Vorrang Europas aus seiner zivilisatorischen Überlegenheit
abgeleitet und begründet wird. Die historische Faktizität wird gleich-
sam als Rechtsgrund für den »Rang, der ihm damit vor anderen Völ-
kern gebührt«3o, in Anspruch genommen. Die metaphysische Qualität,
das Gattungswesen am weitesten herausgebildet zu haben, erscheint
ganz naiv als politische Qualität. Erst Hegel hat den verschiedenen
Formen der Entwicklung des Selbstbewusstseins der Menschheit jene
Selbständigkeit gegeben, die sie »zu Momenten des einen Geistes, zu
dem einen und demselben gegenwärtigen Geiste macht«. Diese Geister
sind, sagt er, »der Organismus unserer Substanz.«3!
Die Sonderstellung Europas an der Spitze des »Fortschritts im Be-
wusstsein der Freiheit« wird damit einerseits philosophisch legiti-
miert: Hier hat sich nämlich im Herzen der metaphysischen Systema-
Die ontologische Inversion 19

tik jene Reflexivität herausgebildet, die mit der objektiven Freiheit, in


der sich »geistiges und natürliches Universum als ein harmonierendes
Universum durchdringen«32 zugleich »auch das wesentliche Moment
der subjektiven Freiheit« herstellt. 33 In einem damit wird aber die ge-
schichtliche Sonderstellung Europas wieder relativiert, indem die
»christlich-germanische Welt« eben nichts anderes vollbringt als »das
Werk der modernen Zeit«; damit erfüllt sie an ihrem Ort »das Bedürf-
nis der allgemeinen Zeit und der Philosophie«, nämlich zum absoluten
Wissen fortzuschreiten: »Es ist eine neue Epoche in der Welt ent-
sprungen. Es scheint, dass es dem Weltgeist jetzt gelungen ist, alles
fremde, gegenständliche Wesen sich abzutun und endlich sich als ab-
soluten Geist zu erfassen und, was ihm gegenständlich wird, aus sich zu
erzeugen und es, mit Ruhe dagegen, in seiner Gewalt zu behalten.«34
Das wäre im Wissen der Sieg der Vernunft über die fremde Notwen-
digkeit der Natur und über die entfremdete Partikularität des Eigen-
sinns. Dies - die Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen und seine
Manifestation im Individuellen - ist eine grossartige Leistung. Sie ist
»zeitgemäss«, und sie harrt immer aufs neue der (politischen) Verwirk-
lichung. Aber an diesem Zeitpunkt der Weltgeschichte zu stehen, gibt
uns kein Vorrecht und kein Recht zum Hochmut. Denn »man muss
sich erheben (...) über seine eigene Eitelkeit, als ob man etwas Besonde-
res gedacht habe«. Nur der »Zug der geistigen Gestaltungen der Philo-
sophie in ihrem Fortgehen (...) ist das wahrhafte Geisterreich - eine Reihe,
die nicht eine Vielheit noch auch eine Reihe bleibt.«'5 Das Vergangene,
auch wenn es überwunden ist, bleibt aufgehoben und damit unver-
zichtbares Ingrediens der Gegenwart. Aber die Zeit schreitet fort; was
heute gegenwärtig ist, wird morgen vergangen sein. Wir kennen nur
den gegenwärtigen Ort, an dem sich der Zeitgeist materialisiert, von
ihm aus müssen wir in die Zukunft hinein handeln, die uns und unsere
eigene Eitelkeit hinter sich lässt. Hegel denkt die Metaphysik der Ge-
schichte wieder hinein ins aktuell Politische und schliesst seine Vorle-
sung mit dem Appell: »Ich wünsche, dass diese Geschichte der Philo-
sophie eine Aufforderung für Sie enthalten möge, den Geist der Zeit,
der in uns natürlich ist, zu ergreifen und aus seiner Natürlichkeit, d. h.
Verschlossenheit, Leblosigkeit hervor an den Tag zu ziehen und - jeder
an seinem Orte - mit Bewusstsein an den Tag zu bringen.«36
Die Einheit von Philosophie und Politik, die philosophische Refle-
xion als Impuls politischen Handelns, die Bestimmung des Geists der
Epoche als bewusst gemachtes Moment der Epochenbewegung selbst
werden an dieser Stelle von appellativem Charakter besonders deut-
20 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

lichY Immer wieder geschieht im Kontinuum der geschichtlichen Ver-


änderungen ein Bruch, nach dem zwar nicht ein Neubeginn auf einer
tabula rasa ansetzt, weil das i;l die Vergangenheit Versenkte erinnert
wird - das heisst in der Überlieferung aufbewahrt und im Begriff der
Gegenwart als Moment ihres Gewordenseins lebendig bleibt; aber
doch ein Anderes, die bestimmte Negation des Vergangenen gesetzt
wird.
Hegel artikuliert diesen Bruch selbst in dem berühmten, schon zi-
tierten Satz aus der Vorrede zur Phänomenologie.3 8 Aber mit der Phäno-
menologie hat er den Bruch bereits vollzogen; die neue Einheit, in der das
Werden des Wissens als der Fortschritt im politischen Emanzipations-
prozess der Menschheit dargestellt wird und in der die Bewusstseins-
gestalten transparent sind auf das gesellschaftliche Sein, das in ihnen
reflektiert wird - diese neue Einheit von »Logischem« und »Histori-
schem« ist zugleich eine Absage an die bisherige Philosophie. Mit der
Phänomenologie hat Hegel sich vOn der Grundlage der traditionellen Phi-
losophie, die glaubte, vom ens qua ens reden zu können, abgestossen und
an die Stelle der alten Metaphysik eine neue, geschichtliche Ontologie
gesetzt, deren systematische Gestalt die Logik entwarf. 39 Die Phasen
des Bruches selbst, die Bruchstellen liegen in der Zeit vor der Abfas-
sung der Phänomenologie, von den Jugendschriften an bis zu den Jenaer
Systementwürfen. Wir werden zu zeigen versuchen, dass in der Refle-
xion der welthistorischen Situation, die in der Französischen Revolu-
tion ihren Ausdruck fand, sich Hegels Abwendung vom Typus der bis-
herigen Philosophie vollzog.
Die Jenaer Systementwürfe dokumentieren das Ringen Hegels um
einen Seinsbegriff, der Natur wie menschliche Gesellschaft umfasst
und als werdend, sich verändernd (gegen die Statik der Identität der
Substanz in der klassischen Ontologie, z. B. Wolffs) begreift, also die
Zeitlichkeit ins Wesen des Seiendseins aufnimmt. Wohl unter dem Ein-
fluss Schellings und des Kreises um die Zeitschrift für spekulative P~ysik
suchte Hegel damals den methodischen Zugang noch vOn der Natur-
philosophie her zu gewinnen. Erst gegen Ende dieser Periode wurde er
sich darüber klar, dass er das geschichtliche Sein nur von seiner ent-
wickeltsten Stufe aus, der des Geistes, in seiner Struktur erkennen
konnte, dass also der von ihm gesuchten allgemeinen Ontologie eine
Phänomenologie des Geistes vorausgehen muss. 40 Erst die Explikation
der (reflexiven) Differenz (und damit des Prinzips der Negativität) bil-
det die Grundlage einer Ontologie, für die die Veränderung das kon-
stitutive Prinzip des wirklichen Seins bildet (von dem die abstrakte
Die ontologische Inversion 21

Identität nur ein Moment ist). Die Entfaltung dieser Differenz, die
Hegel dann in der Logik in der Analyse der Reflexion vornimmt, er-
schliesst die logische Verfassung eines Seins, das im Selbstsein (der
Identität) zugleich sein Anderssein (die Identität von Identität und
Nicht-Identität) ist. Das ist das Wesen der Zeit. Das »Eins ist, es ist un-
mittelbar; denn seine Sichselbstgleichheit ist eben die Unmittelbarkeit; es
ist die Gegenwart. Dies Itzt schliesst schlechthin alles Andere aus sich
aus, es ist schlechthin einfach. Aber diese Einfachheit und sein Sein ist
ebenso das unmittelbar Negative seiner Unmittelbarkeit, scin Aufhe-
ben seiner selbst; die Grenze, welche sich aufhebt, Grenze zu sein, und
ein Anderes ist. (...) Das Itzt ist, dies ist die unmittelbare Bestimmtheit
der Zeit, oder ihre erste Dimension. Halten wir das IVichtsein ihres Seins
fest, gegen sie, die als seiend gesetzt ist, so dass dies Nichtsscin sie auf-
hebe, so setzen wir die Zukunft; es ist ein Anderes, welches das Negieren
dieses Itzt ist; die zweite Dimension.«41
Die Zeitlichkeit als die Grundkategorie des Seins ist gewiss an der
Erfahrung der revolutionären Dynamik der Geschichte gewonnen.
Aber Hegel beschränkt sich nicht darauf, in der Zeitlichkeit die Form-
bestimmtheit der menschlichen Weltgeschichte herauszuarbeiten, son-
dern er subsumiert auch das Sein der Natur unter das Gesetz univer-
seller Bewegtheit, Veränderung, Entwicklung. Die Natur, die er hier im
Blick hat, wird allerdings durch die Naturwissenschaften (so wie er sie
in seiner Zeit kennt) und deren Begriffsbildung nur partiell abgedeckt;
ihr sind auch jene Wirkungsweisen zuzurechnen, die etwa bei Herder
und Goethe, aber auch beim jungen Schelling artikuliert werden. 42 Das
heisst, die Natur - als Totalität der Naturprozesse, als deren Wechsel-
wirkungen, als Hervorbringung aller jener Gestaltungen des natürli-
chen Seins, als deren höchste der Geist hervorgeht - ist Subjekt, so wie
sie Substanz ist. Hegels Naturbegriff ist nicht von der Mechanik, son-
dern von der Biologie her geprägt, wenn cr ihn auch in der Mechanik
seiner Zeit schon aufzufinden sich bemüht. Nicht die Maschine, son-
dern der Organismus ist das Paradigma. Für den Menschen als Natur-
wesen bedeutet das, dass sein Naturverhältnis (in dem er seine blosse
Natürlichkeit überwindet) vermittelt ist durch die grundlegende und
bedingende Schicht der natürlichen Bedürfnisse, die sich fortbilden zu
einem System der Bedürfnisse und darin den materiellen Boden unse-
rer gesellschaftlichen Existenz finden. 43 »Das Dasein, der Umfang der
natürlichen Bedürfnisse, ist im Element des Seins überhaupt eine Menge
von Bedürfnissen; die Dinge, die zu ihrer Befriedigung dienen, werden
I'erarbeitet; ihre allgemeine innere Jl,fiig/ichkeit, als äussere, als rorm gcsetzt.
22 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Dies Verarbeiten aber ist selbst ein Vielfaches; es ist das sich zum Dinge
Machen des Bewusstseins.«44
Hier wird der Ursprung der Gesellschaft und des Geistes aus der
Natur als Geschichtlichkeit der Natur selbst gedacht. In der Vermitt-
lung der Bedürfnisse durch gesellschaftliche Arbeit entspringt »allgemei-
nes, geistiges Sein. Arbeit Aller und für Alle, und Genuss - Genuss Aller;
jeder dient dem Anderen und leistet Hilfe - oder das Individuum hat
hier erst als einzelnes Dasein.«45 Es wird ein Universum der natürlichen
und gesellschaftlichen Zusammenhänge konzipiert, das gemäss einer
allgemeinen Bewegungsform, die sich in die Bewegungsformen der
einzelnen Seinsregionen spezifiziert, organisiert ist. Das ist der meta-
physische Grund, warum die Logik zugleich allgemeine Ontologie sein
kann.

3. Der Selbstunterschied des logos

Gerade darin liegt der theoretische Vorzug des HegeIschen Vorgehens.


Im logos (dem Ordnungsprinzip innerweltlicher Wirklichkeiten), der
sich im Begriff manifestiert, sind die Strukturen von Natur und Ge-
schichte isomorph gedacht - nämlich als solche dialektischer Logik. So
können die Weltbegriffe der Metaphysik - aber auch nur diese in me-
taphysischer Strenge - zu ebensolchen Begriffen des Politischen wer-
den. »Die Formen der selbstbewussten Vernunft sind auch Formen der
Natur. Natur und geistige Welt, Geschichte, sind die beiden Wirklich-
keiten.«46 Diese im Geist selbst übergriffene Einheit von Geist und
Natur ist die systematische Bedingung dessen, dass Geschichtsphilo-
sophie sich nicht auf eine schlechte analogisierende Verallgemeinerung
von Sachverhalten und Ereignissen gründet, sondern auf \Vesens-
gesetzlichkeiten des Wirklichkeit überhaupt. Damit ist es zugleich
möglich, die Metaphysik aus ihrer Bindung an das Sein des Seienden zu
lösen und ihr selbst die Form des geschichtlichen Werdens zu geben.
Hegel hat, im Unterschied zu seinen staatsphilosophischen Vorgän-
gern, die Transformation der Metaphysik nicht an den Phänomenen
der Geschichte expliziert, sondern sie aus dem ontologischen Grund,
der hier zur Erscheinung kommt, nämlich aus der Zeit-Struktur des
Wirklichen, entuJickelt. Damit hat er die Entäusserung der 11etaphysik in
die politische Philosophie und Anthropologie der Aufklärung wieder
zurückgenommen; indem er die Transformation der Metaphysik vom
eigentlichen Problem kern der Philosophie, der Struktur des logos, her in
Die ontologische Inversion 23

Gang setzte, konnte er auch die ganze Geschichte der Philosophie, in


der das Weltverhältnis des Menschen als logos zur Sprache kommt, in
diesen Transformationsprozess hineinziehen und sie als Bewegung zu
seinem gegenwärtigen Philosophieren hin verstehen und aneignen. So
blieb die Gefahr, dass die Historizität der Philosophie sich in einen Re-
lativismus der Systeme auflöse, von Hegels systematischer Konstruk-
tion abgewendet, und nur ein evolutionistisches Missverständnis kann
unterstellen, Hegel selbst habe sich damit als die Krone der Philoso-
phie präsentieren wollen.
Hegel kann Metaphysik und Politik in einer universellen Ge-
schichtsphilosophie zusammenfallen lassen, weil er die Dualität von
Natur und Geschichte (welch letztere allein »politisch« ist) in der Me-
taphysik aufgehoben hat. Er kann Natur und Geist als zwei Seiten des-
selben begreifen, weil er sie in der Form des Wissens als Spezifikation
des absoluten Wissens vergegenständlicht und so die Natur als Ar-
beitsgegenstand der menschlichen Geschichte subsumiert. Die Natur
kann gewusst und in Konsequenz des Wissens bearbeitet werden, weil
ihre Gesetze von derselben Formbestimmtheit sind wie das Wissen.
Die Natur ist logos, das heisst in der Tradition Heraklits, die Hegel auf-
nimmt, das geordnete Verhältnis der Dinge in der Zeit. Das Ausein-
andersein der Dinge im Raum und ihrer Zustände in der Zeit (die
Extensionalität) ist aber nur im Begriff als Einheit und Ganzheit (in-
tensional) präsent. Daher fallen der lol',oS als Ordnung der Wirklichkeit
und der logos als Ordnung des Wissens zusammen, die Wirklichkeit ist
im Wissen als Zusammenhang, das heisst als das, was sie eigentlich ist,
konstituiert und gegeben.
Erst in der Überführung der summativen Erfahrungsfülle der Sin-
nesgegebenheiten in die integrierte Einheit des Begriffs wird die Welt
als Welt, das heisst als logos des Ganzen, eljahren, aber eben nicht als Sin-
neserfahrung (auf welche eine empiristische Philosophie die Erfah-
rung beschränken wollte - nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu);
sondern als Erfahrung des Denkens an sich selbst (was schon die
aristotelische noesis noeseos intendierte).47 Damit aber wird die Welt der
Seienden in den Begriff der Welt als Integral der Begriffe von den
Seienden aufgehoben. Intentional deckt sich die ontologische Kon-
struktion mit ihrem ontischen Korrelat, faktisch schiebt sie sich vor
dieses und setzt sich im System des Wissens an seine Stelle.
So bildet sich der Widerspruch heraus - der für die Dialektik von
Sein und Denken, also für die Philosophie selbst konstitutiv ist -, dass
in der »natürlichen Welteinstellung« die Einheit von Natur und Geist
24 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

ontisch als ein Selbstunterschied der Natur erscheint; denn der Geist, das
erkennende Bewusstsein und die Geschichte mit allen ihren Objektiva-
tionen (subjektiver und objektiver Geist), ist ein Produkt und Moment
der Natur, wenn auch von ihr unterschieden und ihr entgegengesetzt.
Ontologisch indessen ist diese Einheit ein Selbstunterschied des Geistes;
denn im (geistigen) Wissen ist, reflexiv, der Geist selbst enthalten und
die Natur als das von ihm Unterschiedene und sein Gegensatz; und nur
im Wissen, das heisst im Geiste, ist die Natur als substantielles Ganzes
aller Seienden und ihrer Beziehungen präsent.
Nun ist die »Umkehrung«, die hier statthat, noch radikaler als nur
die Überführung von Sein in Wissen. Man darf sagen, dass jedes Sei-
ende, das einen Gegenstand als seinen Gegenstand »hat«, diesen Gegen-
stand »weiss«, und dieses Wissen kann in sehr verschiedenen Graden
von Deutlichkeit vorliegen. 48 Unterschieden von diesem Wissen ist
aber jenes Wissen, das zugleich darum weiss, dass es einen Gegen-
stand als seinen Gegenstand »hat«, bzw. ihn »weiss.«49 Man könnte, mit
Josef König, die Differenz zwischen beiden Weisen des Wissens als
die zwischen einem äusserlich Wahrgenommenen und einem inner-
lich Wahrgenommenen bezeichnen. 50 Um einen Gegenstand »inner-
lich«, also als wahrgenommenen Gegenstand wahrzunehmen, muss er
zunächst als Gegenstand »äusserlicher« Wahrnehmung gegeben sein.
Ich kann nur wissen, dass ich zum Beispiel meinen Freund Joachim
sehe, wenn ich ihn sehe. Das Wissen um meine Wahrnehmung ist die
letzte Stufe eines Rückmeldevorgangs, auf der ich meiner selbst inne-
werde, indem ich mich als in diesem Augenblick so und so bestimm-
tes Ich vergegenständliche. 51 Die äussere Reflexion, in der ich mir das
Ding als meinen Gegenstand aneigne, schlägt um in die Selbst-Be-
stimmung (die bestimmende Reflexion), in der Ich als diesen oder
jenen Gedanken enthaltend festgestellt wird. Diese Selbst-Bestim-
mung wird bewusst, indem ich das Wahrgenommene als von mir wahr-
genommenes benenne oder aussage. 52 In der Benennung wird der singuläre
Wahrnehmungs inhalt zum allgemeinen Wesen, damit aber auch das
Ich zum allgemeinen oder Gattungswesen. In der Entfaltung seines
Gattungswesens, da heisst in der Vermittlung der Einzelheit zur All-
gemeinheit verwirklicht der Mensch das, was als Geist die wahrhafte
Einheit des Ganzen darstellt. Diesen Umschlag, der in der Phänome-
nologie im absoluten Wissen vollendet ist, hat Hegel seit der letzten
Phase seiner Jenaer Vorlesungen im Blick: »Der absolut freie Geist,
der seine Bestimmungen in sich zurückgenommen, bringt nun eine
andere Welt hervor; eine Welt, welche die Gestalt seiner selbst hat. (...)
Die ontologische Inversion 25

Die Philosophie entäussert sich ihrer selbst - kommt bei ihrem An-
fange, dem unmittelbaren Bewusstsein an - das eben das entzweite
ist. (...) Diese Entzweiung ist das ewige Erschaffen, d. h. das Erschaf-
fen des Begri.ffes des Geistes - (...) sein ist das Tun, diese Bewegung -
er hat sich die Einheit herzustellen - ebenso in Form der Unmittel-
barkeit, er ist die Weltgeschichte.«53
Der Geist, der eine Welt schafft, die die Gestalt seiner selbst hat,
kommt zu sich selbst in der spekulativen Philosophie als »wissendes
Wissen, Geist, Wissen des Geistes von sich.«54 Dieses Wissen enthält
nun ein Doppeltes: Das Wissen des Gegenstandes in der intentio recta
und das Wissen des Wissens vom Gegenstande in der intentio obliqua.
Im reflexiven Wissen ist es jedoch ein und dasselbe Wissen, das sich
selbst und das von ihm unterschiedene Wissen des Gegenstandes über-
greift. Es sind darum nicht nur zwei Weisen des Wissens zu unter-
scheiden, sondern in einer dieser Weisen - nämlich dem reflexiven oder
selbstbewussten Wissen - ist das Wissen im Se/bstunterschied; die zwei
Weisen des Wissens sind in äusserem Unterschied eben zwei gegenein-
ander abhebbare Weisen des Wissens, aber im reflexiven Wissen sind
sie ein innerer Unterschied des reflexiven Wissen selbst. 55
Erst auf dieser Stufe der Betrachtung treten die Differenz und das
Verhältnis von Sein und Denken deutlich zutage. Das reflexive Wissen
- das Bewusstsein, das Denken i. e. S. - seti! sich, will sagen seine Ord-
nung oder Formbestimmtheit, als übergreifend über den Gegenstand,
der als direkt gewusster sein Inhalt ist. 56 Dies ist die Form, unter der al-
lein das Wissen von Sein konstituiert wird. Das Sein aber ist unabhän-
gig davon das Sein der Dinge. »Das Ding ist, es ist nicht im Sein - son-
dern es ist selbst. (...) Sein ist Form der Unmittelbarkeit.«57 So bliebe es
in blosser Anschauung die vorgängige ontische Wirklichkeit. Was in der
Anschauung ist und in dieser Weise gewusst (perzipiert) wird, ist so, wie
es angeschaut wird. Erst im Wissen des Wissens stellt sich die Frage, ob
etwas so ist, wie es angeschaut wird. »Es soll aber in seiner Wahrheit ge-
setzt werden.«58 Im bewussten Verhalten zum gewussten Gegenstand
vollzieht sich die »Umkehrung«, die ich die »ontologische Inversion«
nenne. Das ontische Ansichsein wird als vermittelt begriffen. Dass die-
ser Umschlag sich im Prozess von Arbeit und Sprache vollzieht und
also an eine besondere Bewegungsform der Natur (und dann aus der
Natur heraus in den Geist) gebunden ist, hat Hegel sich in seinen
Jenaer Entwürfen erarbeitet; die Phänomenologie ist die Konsequenz dar-
aus und die erste Systemstufe, die sich aus diesem geklärten Begriff
von Spekulation ergibt.
26 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

4. Metaprysik als praktische Philosophie

Die »ontologische Inversion« schafft die Voraussetzung für das Prak-


tisch-werden der Metaphysik. Wenn der Geist nicht mehr als ein Mo-
ment der Allnatur aufgefasst wird, die er so getreu wie möglich aufzu-
fangen und abzubilden hat, sondern als die endliche Gefässform, in die
die unendliche Natur eingefangen und durch die sie geprägt wird -
durchaus in Übereinstimmung mit ihren Wesensmöglichkeiten - dann
ist das »begeistete« Subjekt nicht länger mehr der Naturgewalt und der
quasinatürlichen der bestehenden Herrschaftsordnung unterworfen,
sondern mit der Macht ausgestattet, die Wirklichkeit zu gestalten, in sie
verändernd einzugreifen. Der Eingriff geschieht dann nicht zufällig,
aus den Reaktionen oder Motivationen des Augenblicks, auch nicht aus
äusserer Notwendigkeit, wie unter dem Einfluss von Orakeln, Auspi-
zien oder individuellen Geboten (sei es von Göttern oder Menschen),
sondern aus der Einsicht in das Allgemeine - das objektiv Allgemeine
der Naturgesetze oder das subjektiv Allgemeine des commune bonum, des
Gemeinwohls. Das ist die Leistung des Geistes: »Das Denken betrach-
tet alles in der Form der Allgemeinheit und ist dadurch die Tätigkeit
und Produktion des Allgemeinen«. Damit aber der subjektive Geist das
Allgemeine in sich selbst ergreife, muss er sich auf sich selbst zurück-
wenden, in der Reflexion des Denkens das Denken selbst in der Gege-
benheit seiner Gegenstände erkennen: »Im Denken ist das Selbst sich
präsent, sein Inhalt, seine Objekte sind ihm ebenso schlechthin gegen-
wärtig; denn indem ich denke, muss ich den Gegenstand zur Allge-
meinheit erheben.«59 Indem die Gegenstände dem Denken in seiner
Form inhärieren, kann das denkende Subjekt sie seinen Absichten
gemäss umformen und diese umgeformte Vorstellung durch seinen
Willen in die wirklichkeitsverändernde Handlung eingehen lassen; aber
erst, wenn das denkende Subjekt sich dieser seiner Tätigkeit bewusst
wird, also in der Reflexion des einheitlichen Akts von Denken und
Handeln, kommt es zum Begriff dessen, was es wollen kann. »Der
Zweck ist nämlich der an der Objektivität zu sich selbst gekommene
Begriff. (...) Insofern nun der Zweck diese totale Reflexion der Objekti-
vität in sich und zwar unmittelbar ist, so ist erstlieh die Selbstbestimmung
oder die Besonderheit als einfache Reflexion-in-sich von der konkreten
Form unterschieden und ist ein bestimmter Inhalt. Der Zweck ist hier-
nach endlich, ob er gleich seiner Form nach unendliche Subjektivität
ist.«6o Die Teleologie ist der Übergang des Menschen in die Freiheit der
vernünftigen Selbstbestimmung (und nur die Bestimmung aus Ver-
Die ontologische Inversion 27

nunftgründen ist Selbstbestimmung, denn alle anderen Bestimmungs-


ursachen entstammen nicht dem menschlichen Wesen des Menschen,
sondern sind solche inneren (psychischen) oder äusseren Zwangs (1 ).
Darum sagt Hegel: »Der teleologische Prozess ist Übersetzung des di-
stinkt als Begriff existierenden Begriffs in die Objektivität.«62 Das Kri-
terium der Distinktion des Begriffs ist festzuhalten; denn distinkt als
Begriff ist der Begriff nur, wenn er sich selbst begreift, also in der Re-
flexion seiner Begrifflichkeit.
Darum tritt mit Descartes, der zum erstenmal das Denken des
Denkens zur Methode des Beginnens erhob, die Menschheit in eine
neue Epoche. »Rene Descartes ist in der Tat der wahrhafte Anfänger
der modernen Philosophie, insofern sie das Denken zum Prinzip
macht. (...) Er hat von vorn angefangen, vom Denken als solchen; und
dies ist ein absoluter Anfang.«61 Erst jetzt hat die Menschheit ge-
schichtlich das Niveau der Teleologie erreicht. »Die Bewegung des
Zweckes hat nun dies erreicht, dass das Moment der Äusserlichkeit
nicht nur im Begriff gesetzt, er nicht nur ein Sollen und Streben, sondern
als konkrete Totalität identisch mit der unmittelbaren Objektivität
ist.«64 In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte hat Hegel diese
in der Philosophie durch den Namen Descartes bezeichnete Epochen-
wende ausführlich aus den Widersprüchen abgeleitet, die in den Da-
seinsformen der mittelalterlichen Gesellschaft, in der Dualität von
weltlicher Feudalität und kirchlicher Hierarchie, enthalten sind und
mehr und mehr als Verderbnis der beiden Gewalten hervortreten. Eu-
ropa wird so, im Laufe der Geschichte, zum Ort, an dem »die moderne
Zeit«, die »gegenwärtige 'W'elt« ins Leben tritt. Europa ist der Schau-
platz der Geschichte des gegenwärtigen Zeitalters, und nur insofern
dort die wirkenden Kräfte konzentriert sind, ist es auch Titel für ein ge-
schichtliches Prinzip. Hier hat sich der betrachtende Charakter der Me-
taphysik, durch den sie seit Aristoteles definiert war und sich von allem
Handeln unterschied, verwandelt in die tätige Macht des Denkens, das
den Willen - den freien Willen der einzelnen Subjekte, die volonte de tous
- durch den Begriff mit dem Allgemeinen erfüllt und nach dem Allge-
meinen lenkt, also zur volonte generale macht, die sich auf die res pub/ica
richtet. 65 Die Gestalten und Institutionen des objektiven Geistes sind
es, in denen sich diese Transformation vollzieht (und nicht etwa die
Akte individuellen Sinneswandels, der metanoia). Die praktische Tätig-
keit, die den Zweck in die äussere Welt versetzt, ist die eigentliche Wirk-
lichkeit des Erkennens; darum ist die Idee des Guten die letzte Stufe in
der Logik der geschichtlichen Welt. »Diese in dem Begriffe enthaltene,
28 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

ihm gleiche und die Forderung der einzelnen äusseren Wirklichkeit in


sich schliessende Bestimmtheit ist das Gute. Es tritt mit der Würde auf,
absolut zu sein, weil es die Totalität des Begriffes in sich, das Objektive
zugleich in der Form der freien Einheit und Subjektivität ist. Diese Idee
ist höher als die Idee des betrachteten Erkennens.«66 Die Metaphysik,
die Wissenschaft in der reinen Form der Theorie, ist verschmolzen mit
dem setzenden Handeln, dem schlechthin Wirklichen (= Wirkenden,
actus purus), »in der praktischen Idee aber steht er (der Begriff, HHH)
als Wirkliches dem Wirklichen gegenüber.«67 Das schlechthin Wirkli-
che des gesellschaftlichen Menschen ist indessen die Politik. Sie ist es, in
der der spekulative Begriff der Metaphysik als praktische Idee existiert.
»So wird Hegels Theorie der Gesellschaft und der sich mit ihr vollzie-
henden Revolution zur philosophischen Theorie«, meint Joachim Rit-
ter. 68 Umgekehrt muss man es formulieren: Die klassische Metaphysik
wird bei Hegel zur politischen Theorie, und nicht nur dies, sondern
zum ideellen Prozess, in dem das politische Handeln als freies (das
heisst vernunftbestimmtes) entspringt. Freiheit aber ist der Modus des
Daseins-in-der- Reflexion und als solcher die wirkliche Seinsweise, in
der sich ausdrückt, was in der »ontologischen Inversion« philosophisch
vollzogen ist.
2. Kapitel:
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex
der Französischen Revolution

1. Metapf?ysik als Theorie des Zeitgeists

Dass Hegels »System der Wissenschaft« (so der Obertitel zur Phänome-
nologie des Geistes, die als dessen erster Teil bezeichnet ist), das er später
in der En:v,klopädie der philosophischen Wissenschaften entfaltete, die Kritik
der klassischen Metaphysik einschliesse, ja wesentlich mit zum Inhalt
habe, ist nicht nur weithin die Auffassung der Hegel-Interpreten 1, son-
dern wird auch vielfach bestätigt durch Äusserungen von Hegel selbst,
nicht zuletzt in den §§ 28 - 32 der EniJklopädie und in den program-
matischen Sätzen, die das Aufgehen der herkömmlichen Metaphysik in
der objektiven Logik postulieren. 2 Michael Theunissen 3 hat gar die
These aufgestellt, »der systematische Text der >Logik< präsentiere deren
Gegenstand derart, dass die Entfaltung der Sachverhalte durch ein Po-
stulat angeleitet ist, das die Einheit von Kritik und Darstellung ver-
langt.«4 An dem Verständnis Hegels als eines Kritikers der traditionel-
len Metaphysik sollen hier auch keine Zweifel angemeldet werden.
Dennoch ist Hegels Verhältnis zu Gegenstand und Verfahren der Me-
taphysik toto coelo verschieden von dem Kants, der die Destruktion
der Metaphysik durch Eliminierung ihrer Gegenstände aus dem Be-
reich des Wissbaren vollzogen hatte. 5 Gleichermassen gegen Trans-
zendental- und commonsense-Philosophie ist Hegels Verteidigung der
Metaphysik gerichtet: »Indem so die Wissenschaft und der gemeine
Menschenverstand sich in die Hände arbeiteten, den Untergang der Me-
taphysik zu bewirken, so schien das sonderbare Schauspiel herbeigeführt
zu werden, ein gebildetes Volk ohne Metaph)'Sik zu sehen, - wie einen sonst
mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes.«" Und
Theunissen bemerkt richtig: »Freilich folgt die von ihm betriebene Auf-
hebung der Metaphysik dem Gesetz, das er allen Aufhebungsprozessen
vorschreibt: Sie ist keine Destruktion, sondern Rückführung auf den
Grund.«7 Man könnte daher wohl- mit Blick auf Aristoteles - von einer
Restitution der Metaphysik durch Hegel in neuer (nämlich dialektischer)
30 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Gestalt sprechen und die Metaphysik~Kritik Hegels, - nur als eine sol~
che an der schulphilosophischen Lehrbuchsystematik auffassen.
Indessen bliebe auch diese Deutung noch unzureichend (obschon
sie einen oberflächlichen Teil der Wahrheit ausmacht). Die Aufhebung
der Metaphysik in die objektive Logik hängt aufs engste mit Hegels
Konstruktion des Systems der Wissenschaft (= Philosophie) zusammen
und ist ein Korollar seiner das Herzstück dieser Konstruktion ausma~
chenden Lehre vom Begriff, von der Fortbestimmung des Begriffs,
vom absoluten Begriff. In der Konstruktion der Logik über dem Prin~
zip der Fortbestimmung des Begrifft - vom einfachen Sein bis zur absoluten
Idee -liegt das Neue und im eigentliche Sinne »Moderne« von Hegels
Philosophie. In dieser Konstruktion wird die Transformation der klas~
sischen Metaphysik als der Lehre von den allgemeinsten und obersten
Bestimmungen des Seienden in die Theorie der Einheit von Absolutheit
und Geschichtlichkeit, also in die Dialektik, vorgenommen. In dieser
Transformation bewahrt Hegel die Inhalte der Metaphysik, die Wissen-
schaft der Logik ist selbst Metaphysik, die Metaphysik-Kritik Hegels
selbst metaphysisch, aber erweitert um die Dimension der Geschichte.
Diese Erweiterung findet ihren Ausdruck in der Bestimmung des Ab-
soluten als Geist (im HegeIschen Verständnis), der sich in den verschiede-
nen Weisen des subjektiven Geistes und des objektiven Geistes manife-
stiert. Wir werden die Fülle dieses Begriffs, der eine Chiffre für den
dialektischen Prozess ist, erst als Resultat einer Analyse des HegeIschen
Systems explizieren können. Hier genügt zunächst die Feststellung, dass
in den Weisen des Geistigseins der Selbstunterschied hervortritt, demzu-
folge das, was ist, nur wirklich ist, indem es sich und seine Gegenstände
weiss und gewusst wird. »Das Offenbaren, welches als die abstrakte Idee
unmittelbarer Übergang, Werden der Natur ist, ist als Offenbaren des Gei-
stes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt, ein Setzen, das als Refle-
xion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist.«8
Erst im System der universellen Reflexivität stellt sich die Totalität
der Momente her und ist jedes mit allem vermittelt. Im Begriff wird
diese Totalität gefasst, und der Begriff ist nur Gegenstand des Geistes
und dessen eigentlicher Inhalt. »Der Begriff kann als solcher wesent-
lich nur mit dem Geiste aufgefasst werden, dessen Eigentum nicht nur,
sondern dessen reines Selbst er ist.«9 Dies ist aber nicht so zu deuten,
als gäbe es einen (sozusagen obersten) Geist, der den Begriff aller Be-
griffe in deren inhaltlicher Simultaneität auf einmal präsent hätte. Das
wäre ein mystisches All-Wissen 0>im Nu«, wie es bei Meister Eckhart
heisst). Demgegenüber hält Hegel fest, dass der Geist selbst ein Wer-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 31

den ist: »Der ganze Geist nur ist in der Zeit, und die Gestalten, welche
Gestalten des ganzen Geistes als solchen sind, stellen sich in einer Auf-
einanderfolge dar; denn nur das Ganze hat eigentliche Wirklichkeit und
daher die Form der reinen Freiheit gegen Anderes, die sich als Zeit aus-
drückt.«10 Das Ganze, das sich als Zeit ausdrückt, bringt sich jedoch
hervor in der Zeit, in dem Geschehen, in dem seine Momente einander
ablösen und das Vergangene in der jeweiligen Gegenwart nur er-innert
ist. So ist der Geist wirklich immer nur als Zei~eistund als solcher der In-
begriff des jeweils gegenwärtigen Zustands einer Epoche, das heisst als
der objektive Geist der Inbegriff von deren politisch-gesellschaftlich-
rechtlichen und kulturellen Verwirklichungen; und nur als solcher kann
er philosophisch sein und sich in Metaphysik ausdrücken. 11 »Hegel re-
flektiert nicht allgemein auf die Geschichtlichkeit der Philosophie und
des Geistes überhaupt, er will den gegenwärtigen Vollzug der Meta-
physik bestimmen. Sie kann für ihn dann und nur dann Erkenntnis des
Seins bleiben, wenn sie zugleich Erkenntnis der eigenen Zeit ist.«12
Der Weg von der Logik zur Rechtsphilosophie macht das deutlich. Es ist
nämlich so, »dass Hegel Staat und Gesellschaft in die metaphysische
Theorie einbezieht und sie als Verwirklichung (actualitas) des Seins im
geschichtlichen Dasein versteht.«13 Hegels Kritik der klassischen Me-
taphysik hat als selbst metaphysische eine unaufuebbare politisch-histori-
sche Dimension, die mit seiner Konzeption von der Verwirklichung
des Geistes in weltgeschichtlichen Epochen verknüpft ist. 14
Den Zusammenhang zwischen Metaphysik und Politik hat schon
der junge Hegel unzweideutig ausgesprochen. In einem der Entwürfe
für eine Einleitung zur Verfassungs schrift von 1800 schreibt er: »Alle
Erscheinungen dieser Zeit zeigen, dass die Befriedigung im alten Leben
sich nicht mehr findet; es war eine Beschränkung auf eine ordnungs-
volle Herrschaft über sein Eigentum, ein Beschauen und Genuss seiner
völlig untertänigen kleinen Welt und dann auch eine diese Beschrän-
kung versöhnende Selbstvernichtung und Erhebung im Gedanken an
den Himmel (...) durch Metaphysik erhalten die Beschränkungen ihre
Grenzen und ihre Notwendigkeit im Zusammenhang des Ganzen.«15
Die Herrschaftsverhältnisse im feudalabsolutistischen Staatswesen, die
apolitische ökonomische Selbstgenügsamkeit des Bourgeois, der sich
noch nicht zur Selbstbestimmung des Citoyen durchgekämpft hat, und
die widersprüchliche Apologie dieser Ordnung durch die Religion - in
zugleich diesseitiger Selbstvernichtung und jenseitiger Erhebung - wer-
den diagnostiziert. Die Metaphysik aber als die sinngebende Konstruk-
tion der Totalität aus ersten Prinzipien 16 liefert den Begriff dieser
32 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

dumpf gefühlten und vorgestellten Wirklichkeit. Sie ist das in Gedan-


ken die Erfahrungen organisierende Begreifen des gesellschaftlichen
Lebens - später wird es in der Rechtsphilosophie heissen, die Philosophie
sei »ihre Zeit in Gedanken erfasst.<P In dieser ihrer Aufgabe, die Zer-
streutheit der Tatsachen, der Vorstellungen, der Willensakte in die Ein-
heit eines Weltbegriffs zu sammeln und damit ihr Verhältnis zueinan-
der und ihre Bewegung gegeneinander zu bestimmen, ist die
Philosophie und ihr Kernstück, die Metaphysik, politische Wissen-
schaft oder Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Joachim Ritter hat
gesehen, »dass in Hegels Philosophie (...) das Problem der gegenwärti-
gen Zeit und Gesellschaft ausgetragen wird, die politisch mit der Re-
volution in Frankreich und - ebenso umwälzend - mit der Ausbildung
der Industrie in England aufkommt und im Begriffe steht, die jetzige
Wirklichkeit zu werden C...) Hegel seti! die traditionelle metaprysische Theorie
unmittelbar und als diese mit der Erkenntnis der Zeit und der Gegenwart gleich.«18
Hegel bekennt sich ausdrücklich in der Phänomenologie des Geistes zu
dieser Gegenwärtigkeit der Philosophie; und in der Rechtsphilosophie
schreibt er mit Nachdruck: »Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgend-
eine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein In-
dividuum überspringe seine Zeit.«19
Weil sie Begreifen aus Prinzipien ist, kann Metaphysik nicht einfach
als eine Apologie des Bestehenden aufgefasst werden, lässt sie sich
nicht einfach im Dienste der Herrschaft mediatisieren. Sie liefert viel-
mehr auch die Begriffe und Gründe, aus denen die Beharrlichkeit des
Bestehenden als nichtig und sein Übergang zum bestimmten (nicht be-
liebigen) Anderssein als notwendig eingesehen werden kann. Metaphy-
sik als das in Gedanken organisierende Begreifen der Gegenwart ist
eine Funktion der Zeit, und im Bewusstsein ihrer selbst muss der
Zeit-Index der metaphysischen WAHRHEIT mitgedacht werden - sonst
ist sie falsches Bewusstsein. »In dem Begriffe, der sich als Begriff weiss,
treten hiermit die Momente früher auf als das erfüllte Ganze, dessen Wer-
den die Bewegung jener Momente ist (...) Die Zeit ist der Begriff selbst,
der da ist (...) deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit (...)
Die Zeit erscheint daher als das Schicksal und die Notwendigkeit des
Geistes, der nicht in sich vollendet ist.«2o
So geht Hegels metaphysischer Begriff von der politischen Gegen-
wart auch schon in den Frühschriften von der Erfahrung der Verände-
rung und von der kategorialen Bestimmung der Veränderlichkeit des
Da-seienden aus. Das schon oben angeführte Zitat aus dem Entwurf
zur Einleitung in die Verfassungsschrift begann: »Alle Erscheinungen
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 33

dieser Zeit zeigen, dass die Befriedigung im alten Leben sich nicht
mehr findet«. Und nach der Charakterisierung des alten Zustands fährt
Hegel fort: »Einesteils hat die Not der Zeit jenes Eigentum angegrif-
fen, andernteils ihre Geschenke in Luxus die Beschränkung aufgeho-
ben und in beiden Fällen den Menschen zum Herrn gemacht und seine
Macht über die Wirklichkeit zur höchsten. Unter diesem dürren Ver-
standesleben ist auf einer Seite das böse Gewissen, sein Eigentum, Sa-
chen, zum Absoluten zu machen, grösser geworden und damit auf der
anderen Seite das Leiden der Menschen; und kein besseres Leben hat
diese Zeit angehaucht.«21 Die berühmte Stelle aus § 195 der Rechtsphilo-
sophie über die Dialektik von Luxus und Vermehrung der Not - dort
ökonomisch aus der Bewegung des Systems der Bedürfnisse in der bür-
gerlichen Gesellschaft entwickelt - deutet sich hier schon in der ab-
strakten Gegenüberstellung von »einesteils - andernteils« an.
Bleibt in der Frühschrift die Konfrontation der in der politischen
Wirklichkeit auftretenden Gegensätze auch noch abstrakt - das Prinzip
ihrer Vermittlung wird nicht angegeben -, so wird der reale Wider-
spruch der gesellschaftlichen Mächte doch schon durchaus als die
Triebkraft der Entwicklung begriffen. »Das beschränkte Leben als
Macht kann nur dann von Besserem feindlich mit Macht angegriffen
werden, wenn dieses auch zur Macht geworden ist und Gewalt zu
fürchten hat.« Aber als naturwüchsiges Geschehen, als blosser Konflikt
der partikularen Interessen ist dieser Widerspruch noch nicht
geschichtlich, nicht Fortschritt. »Als Besonderes gegen Besonderes ist
die Natur in ihrem wirklichen Leben der einzige Angriff oder Widerle-
gung des schlechteren Lebens, und eine solche kann nicht Gegenstand
einer absichtlichen Tätigkeit sein.« Die Aufgabe der Metaphysik (und
ihre Würde) ist es, den Prozess der Veränderung nicht als zufälligen
hinzunehmen, sondern als die Realisierung des realen Allgemeinen zu
begreifen, des Gesetzes der Geschichte, und ihm so die Richtung zu
weisen. Nicht die Kontingenz der Gegensätze, sondern die Notwen-
digkeit des Selbstwiderspruchs im Besonderen, das doch mit dem An-
spruch auf Allgemeinheit sich durchgesetzt hatte, macht die geschicht-
liche Wirklichkeit vernünftig. »Das Beschränkte kann durch seine
eigene Wahrheit, die in ihm liegt, angegriffen und mit dieser in Wider-
spruch gebracht werden; es gründet seine Herrschaft nicht auf Gewalt
Besonderer gegen Besondere, sondern auf Allgemeinheit; diese Wahr-
heit, das Recht, die es sich vindiziert, muss ihm genommen und demje-
nigen Teile des Lebens, das gefordert wird, gegeben werden.«22 Die
Metaphysik ist die politische Instanz, die die Wahrheit des Allgemeinen
34 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

ins Recht setzt gegen »die Unwahrheit des erscheinenden Wissens, dem
dasjenige das Reellste ist, was in Wahrheit vielmehr nur der nicht reali-
sierte Begriff ist.«23 Aus eben diesem Grunde kann Joachim Ritter mit
Recht sagen: »Die Vernunft der Revolution ist für Hegel mit der Ver-
nunft der überlieferten Philosophie identisch; sie wird politisch in der
französischen Revolution verwirklicht.«24

2. Geschichtliche Vernunft

Nun ist nicht zu leugnen, dass der hier eingebrachte Vernunftbegriff


selbst metaphysische Voraussetzungen und Implikationen hat.
Zunächst ist - um zu verstehen, worum es hier geht - mit Nachdruck
festzuhalten, dass Hegels Vernunftbegriff essentiell von dem Kants ver-
schieden ist. Kant bestimmt die Vernunft im Hinblick auf die Leistung
des Verstandes, »verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaft-
lichen zu ordnen«, und zwar dergestalt, »dass der Verstand überhaupt als
ein Vermiigen Zu urteilen vorgestellt werde.«25 Demgegenüber heisst es
dann von der Vernunft, sie sei »das Vermögen der Einheit der Verstan-
desregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfah-
rung, oder auf irgendeinen Gegenstand, sondern auf den Verstand,
um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit apriori durch
Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heissen mag, und von ganz
anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann.«26 Das
bedeutet: »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbe-
dingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird (...) Die
aus diesem obersten Prinzip der reinen Vernunft entspringende
Grundsätze werden aber in Ansehung aller Erscheinungen transzendent
sein, d.i. es wird kein ihm adäquater empirischer Gebrauch von dem-
selben jemals gemacht werden können.<P Diese transzendenten
Grundsätze der reinen Vernunft werden als deren Paralogismen, Anti-
nomien und Ideal jeder Beziehung auf die Wirklichkeit-an-sich ent-
kleidet und darum auch nicht zu konstitutivem, sondern nur zu regula-
tivem Gebrauch zugelassen. 28 Die Vernunft bleibt also ein subjektives
Vermögen, dem zu Dank das Subjekt überhaupt die Welt als Einheit
(mithin als »Welt«) denkt.
Gerade diesen Begriff der Vernunft, den er allerdings schon auf
dieser Stufe nicht im Dualismus von transzendentalem Subjekt und
transzendentem Ding an sich belässt, sondern als »die Gewissheit des
Bewusstseins, alle Realität zu sein«29 deutet, hat Hegel am Idealismus
Hegels Metaphysik~Kritik als Reflex der Französischen Revolution 35

zurückgewiesen und als Widerspruch dargetan. »Nur erst die Gewissheit,


alle Realität zu sein, ist sie in diesem Begriffe sich bewusst, als Gewissheit,
als Ich noch nicht die Realität in Wahrheit zu sein«30; die Kantsche Ver~
nunft, indem sie den Begriff von sich selbst bildet, gerät in eben diesen
Widerspruch, von dem Hegel sagt, er gerate in ihn, »weil er den ab~
strakten Begriff der Vernunft als das Wahre behauptet.«3! Die Phänome~
nologie des Geistes entfaltet sich im Rahmen dieser Einsicht und führt in
dieser Entfaltung bis zu jenem Ausgangspunkt, an dem nun in vermit~
telter Unmittelbarkeit anhebend, die Wissenschaft der Logik die Kon~
struktion der Wahrheit als der vernünftigen Realität oder der wirkli~
chen Vernunft zu vollziehen in der Lage ist - jene Konstruktion, deren
Ergebnis Hegel dann in der Rechtsphilosophie, jetzt mit ausdrücklichem
politischem Anspruch, ausspricht: »Was vernünftig ist, das ist wirklich;
und was wirklich ist, das ist vernünftig.«32
Hegel hat seinen Vernunftbegriff in vielen funktionalen Zusam~
menhängen expliziert, er hat ihn indessen selten auf eine definitive For~
mel gebracht, wie man sie etwa am Anfang der Wissenschaft der Logik er~
warten möchte. Wohl aber hat er zweimal - jeweils am Ende der
Bewusstseinslehre für die Mittelklasse des Nürnberger Gymnasiums
von 1808/09 und von 1809/10, also da, wo der Übergang von der Phä~
nomenologie des Bewusstseins zur Logik zu vollziehen ist - den Ver~
nunftbegriff bestimmt. Dieser Vernunftbegriff bezeichnet, in Überein~
stimmung mit dem griechischen logos~Begriff, die Entsprechung von
Seinsstruktur und Denkstruktur: »Die Vernunft erkennt die Wahrheit,
indem die Wahrheit die Übereinstimmung des Begriffs mit dem Dasein
ist, die Bestimmungen der Vernunft aber ebensosehr eigene Gedanken
als Bestimmungen des Wesens der Dinge.«33 Nun sind die Nürnberger
Propädeutiktexte zur Zeit der Arbeit an der Wissenschaft der Logik ent~
standen und drücken in komprimierter Form Hegels Position aus, die er
im Hauptwerk entwickelte. In der Tat wird aus den Zitaten deutlich,
warum für Hegel Logik und Ontologie zusammenfallen,34
Der von Kants subjektivistisch verkürztem Vernunftbegriff ver~
schiedene Hegels nimmt die Metaphysik des Rationalismus von Des~
cartes bis Wolff wieder auf, wenn auch nicht in der überkommenen
Form. Denn »so wie es die innere Notwendigkeit der Philosophie mit
sich bringt, dass sie wissenschaftlich und in ihren Teilen ausgebildet
werde, so scheint mir dies auch der zeitgemässe Standpunkt zu sein; zu
ihren vormaligen Wissenschaften lässt sich nicht zurückkehren; die
Masse von Begriffen und Inhalt, die sie enthielten, lässt sich aber auch
nicht bloss i,6'1lorieren; die neue Form der Idee fordert ihr Recht, und
36 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

das alte Material bedarf daher einer Umbildung, die dem jetzigen
Standpunkte der Philosophie gemäss ist.«35 Dieses Umbildungspro-
gramm bezieht sich auf die klassische Metaphysik. Von ihr heisst es:
»Die Metaphysik ist die Tendenz zur Substanz; - ein Denken, eine Ein-
heit wird festgehalten gegen den Dualismus, wie bei den Alten das Sein.
Die Philosophie auf eigenem, eigentümlichem Boden verlässt gänzlich
die Theologie dem Prinzipe nach.«36 Descartes hat die Allmacht der
Vernunft in der Selbstgewissheit des cogito (als dem einzig absolut Ge-
wissen) begründet; bleibt mir nichts als eben dieses, noch von allen
Weltinhalten entleerte, »ich denke«, so muss ich, soll ich dem Solipsis-
mus entgehen, Gott und die äussere Welt aus diesem »ich denke«, aus
seiner formalen Verfassung deduzieren können. Gott ist dann nicht be-
gründend, sondern selbst durch das Ich begründet und als logisches
Mittelglied zwischen Ich und Welt in deren Deduktion eingeschoben.
Die aus dem cogito deduzierte Welt kann dann aber keine andere Seins-
verfassung haben als eben die, die in der Vernünftigkeit des cogito ange-
legt ist. Die gleiche Übereinstimmung von Vernunftverfassung des
Denkens und Seinsverfassung der Welt geht in Spinozas Anspruch ein,
aus Definitionen und Axiomen, die intuitiv dare et distincte eingesehen
werden können, nach Art der Geometrie ein System der Erscheinun-
gen (Modi) der Welt und der Normen des Handelns ableiten zu kön-
nen, das schlüssig als bewiesen zu gelten habe. Die Voraussetzung der
Universalität der Vernunftstrukturen liegt bereits im Konstruktions-
prinzip von Spinozas Ethik, ehe er cogitatio und extensio als Attribute der
einen und einzigartigen Substanz aufgewiesen und damit den Zusam-
menfall aller möglichen Aspekte oder Attribute von Welt der Form
nach mit deren in der cogitatio bestätigter Rationalität konstatiert hat. -
Schliesslich sei Leibnizens gedacht, der seine These, dass unsere Welt
die beste aller möglichen sei, auf die absolute Geltung des Identitäts-
prinzips und der aus ihm hergeleiteten Logik der Verknüpfungen
stützte - wobei er als erster die umfassende Gestalt einer Logik der
Kompossibilitäten, die über die traditionelle aristotelische und mathe-
matische Logik hinausgeht, unter einem übergreifenden Rationalitäts-
begriff konzipierte. Das ontologische Prinzip der Rationalität (an das
auch Gottes Entscheidungen gebunden sind) erlaubt dann keine an-
dere Wirklichkeit des Ganzen als die allen anderen als möglich fingier-
baren Welten qualitativ überlegene, also bessere.
Alle diese Metaphysiken haben als essentielle und unverzichtbare
Voraussetzung, dass die Wirklichkeit von derselben Formgesetzlichkeit
sei wie der sie denkende logos. Weil aber in diese Formgesetzlichkeit das
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 37

formallogische Gesetz vom verbotenen Widerspruch und zugleich die


Vorstellung der simultanen Totalität aller Weltzustände eingeht, bleibt
die Logizität der Welt bloss gesetzt; sie wird nicht entwickelt. Hegel hat
das als die entscheidende Schwäche der rationalistischen Metaphysik
aufgefasst: »Bei dieser Metaphysik ist die eine Seite die, dass die Ge-
gensätze des Gedankens zum Bewusstsein gebracht und das Interesse
auf die Auflösung des Widerspruchs gerichtet ist (...) Diese Auflösung
ist gesetzt in Gott (...) Dabei ist zu bemerken, dass diese Gegensätze
nicht an ihnen selbst aufgelöst sind, d.h. die Nichtigkeit der Vorausset-
zung nicht an ihr selbst aufgezeigt ist und damit eine wahrhaft konkrete
Auflösung nicht zustande gekommen ist (...) Die Auflösung der Wi-
dersprüche ist nur eine jenseitige.«37
Seit der quereffe des anciens et des modernes wird die Vernünftigkeit des
Wirklichen auch in Relation zur Zeit gedacht. 38 Wie in Leibniz' Kon-
zept der Welt als der besten aller möglichen, weil stets verbesserungs-
fahigen 39 , wird seit Fontenelle die funktionale Abhängigkeit der Ver-
nunft von der Zeit als Fortschritt gedacht. 40 Eine am Fortschritt
orientierte Gesellschaftstheorie setzt eine Metaphysik der Vernünftig-
keit und der Zeitlichkeit voraus. Die Vernünftigkeit der Geschichte be-
steht darin, dass die Welt an Vollkommenheit zunimmt - )>Ut mundus
perfectione crescat«, wie Leibniz sagt.41 Die Vernunft wird mithin als
eine solche der Veränderung begriffen; vernünftig ist nicht einfach das
Bestehende, weil es mit sich identisch ist, sondern das sich Ent-
wickelnde, das Möglichkeiten ausbildet und verwirklicht. Vernünftig ist
die Revolution - und dieser Begriff bezeichnete von Kopernikus bis
1789 den Prozess einer Bewegung, die wir heute »evolutionär« nennen
würden, das heisst er schloss die Vorstellung der Erhaltung eines ver-
nünftigen Allgemeinzustands in der Bewegung ein. Die Veränderung
des Weltzustands wurde nicht als »Bruch«, als »rupture« aufgefasst42 ,
also nicht als eine irrationale Zerstörung, sondern als Übergang von
einer alten abgestorbenen zu einer neuen lebendigen Form. Das Kon-
tinuum dieses Prozesses ist eben das Festhalten an den Vernunftbe-
stimmungen des Wirklichen, der Qualitätssprung ist der in einen neuen
Typus von Rationalität. Indem die Metaphysik diese Vernunftbestim-
mungen als das ontologische Wesen gegen die historischen Zufällig-
keiten herausstellt - wie zum Beispiel im Naturrecht -, stellt sie sich re-
volutionär gegen die Verderbnis der Vernunft in einer schlechten
Wirklichkeit. Den Weg der Metaphysik von Descartes über die Enzy-
klopädie, Voltaire und Rousseau bis zu den Prinzipien der neuen Ge-
sellschaftsgestaltung in der französischen Revolution hat Bernhard
38 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Groethuysen zu Recht als die »Philosophie der französischen Revolu-


tion« bezeichnet: »Die Philosophie der Französischen Revolution (...)
handelt von der Evolution, im evolutionären Sinne, bestimmter schon
vorgegebener Ideen. Ihre Aufgabe besteht darin, zu zeigen, wie be-
stimmte abstrakte Grundsätze eine konkrete Form annehmen, sozusa-
gen zu lebendigen Bildern werden, die den Triebkräften des Wollens
entsprechen und in gewisser Weise die Ziele verkörpern, denen die
Menschen der Epoche zustreben.«43 Hatte die Metaphysik im Begriff
des Gesetzes - Naturgesetz, Sittengesetz, Denkgesetz - die konstitu-
tive Rolle der Vernunft, des logos, für die kosmischen und menschlichen
Seinsverhältnisse herausgearbeitet, so wurde in der Politik der Revolu-
tion dieses metaphysische Konzept praktisch. Die bisherige Welt war
verworren und widervernünftig, weil »bis jetzt das menschliche Leben
nicht nach den Gesetzen der Vernunft geregelt war«. Aber »der Mangel
an Rationalität im Leben der Menschen kommt nicht von diesen selbst.
Jeder Mensch ist mit Vernunft begabt und gehört als Geschöpf der
Natur einem sinnvoll zusammenhängenden Ganzen an. Nicht er ist
vernunftwidrig, auch die Natur ist es nicht, sondern der Zustand, in
dem er jetzt lebt (...) Aber den Menschen ist die Aufgabe gestellt, die
Wirklichkeit zu verändern, neue Gesellschaftsformen zu schaffen, in
denen sie nach rationalen Prinzipien leben können, wo sie im Men-
schenleben die in der Natur herrschende Gesetzmässigkeit verwirkli-
chen und den Menschen in ein sinnvolles, von Gesetzen geregeltes
Ganzes integrieren können. Die Vernunft wird praktisch und kon-
struktiv, und sie verfügt dazu über ein wirkungsvolles Mittel: die Kunst
der Gesetzgebung.«44 Die metaphysische Vernunft der Philosophen
schlägt in die gesetzgebende Vernunft des Konvents um; am 10. No-
vember 1793 stimmte der Konvent dem Antrag Chaumettes zu, Notre
Dame zum Tempel der Vernunft zu weihen.

3. Die Besonderheit als der Widerspruch im Vernünftigen

Hegel verleugnet diese metaphysische Tradition nicht; im Gegenteil, er


stützt sich auf sie und erneuert den Anspruch der Vernunft, das Prin-
zip der Veränderung zu sein. Wir haben aus der Verfassungs schrift jene
Passagen zitiert, in denen Hegel Klage erhebt gegen die Anmassung
des Besonderen, in sich selbst die Wahrheit des Allgemeinen realisiert
zu sehen, und fordert, eben diese angemasste Herrschaft dadurch zu
stürzen, dass man sie beim Wort nimmt und das Allgemeine durch-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 39

setzt. Hegel entdeckt hier das Prinzip der dialektischen Vernunft als
ebenso logisches wie politisches, nämlich die Negativität, die dem Be-
sonderen anhaftet, weil es ein Besonderes ist, gegen seine Selbstinstitu-
ierung und Verewigung als allgemeine Wahrheit zu mobilisieren, das
heisst den Widerspruch in der Sache selbst zur Triebkraft des Fort-
schritts zu machen. Aber dieses Hervortreiben des Widerspruchs ist
nicht eine beliebige Zerstörung der allgemeinen Ordnung, die durch
die besondere nur unangemessen dargestellt wurde; sondern die Ablö-
sung des als unwahr sich erweisenden Besonderen geschieht in dem
Kontinuum des geschichtlichen Fortschritts, der den allgemeinen Ge-
halt des Besonderen, dass nämlich überhaupt eine Ordnung sei, nicht
negiert, sondern gerade in der Negation der Besonderheit bestätigt:
»Dem Positiven des Bestehenden, das eine Negation der Natur ist, wird
seine Wahrheit, dass Recht sein soll, gelassen.«45 Das gesellschaftlich
Bestehende ist darum eine »Negation der Natur«, weil diese der blosse
Kampf der Besonderen gegeneinander ist. Dem Hobbes'schen bellum
omnium contra omnes, das der anarchischen Verfassung der bürgerlichen
Gesellschaft gemäss dem Prinzip des »laisser-faire, laisser-aller«, des
freien Spiels der Kräfte, entspricht, setzt Hegel die durch die Metaphy-
sik, die »den Zusammenhang des Ganzen denkt« (s.o.), instituierte und
garantierte Ordnung des Allgemeinen entgegen. Sie ist es, auf die hin
jede besondere Ordnung transparent ist, und sie muss gegen jede be-
sondere Ordnung gewendet werden, indem dieser in ihrer Partikula-
rität immer nur relative Wahrheit zukommt, sie aber an sich selbst und
abgelöst von ihrer Funktion im Prozess des historischen Fortschreitens
absolut unwahr ist.
Die Besonderheit des Besonderen ist der ontologische Grund für
das Recht der Revolution. Diese setzt den Anspruch des Allgemeinen
gegen das Besondere durch (der immer nur im Durchgang durch die
»bestimmte Negation«, also die neue Bestimmtheit realisiert wird -
denn das Wahre ist ja erst das Ganze). Das Denken der vernünftigen
Verfassung der Wirklichkeit (in ihrer Allgemeinheit) ist so die Kritik
der schlechten Wirklichkeit (in ihrer Besonderheit), wie sie existiert. So
ist das Denken, in dem das Allgemeine sich als solches darstellt, die re-
volutionäre Macht schlechthin, die wirkliche Negativität, die dem Posi-
tiven (dem in seiner Besonderheit Gesetzten) sich entgegenstellt und es
zu Fall bringt. Diesen in der Verfassungs schrift schon aufscheinenden
Gedanken expliziert die En:::yklopädie im Zusatz 3 zu § 19 in aller
Schärfe: »Durch das Denken war dem Positiven seine Macht genom-
men. Staatsverfassungen fielen dem Gedanken zum Opfer; die Reli-
40 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

gion ist vom Gedanken angegriffen, feste religiöse Vorstellungen, die


schlechthin als Offenbarungen galten, sind untergraben worden, und
der alte Glaube wurde in vielen Gemütern umgestürzt (...) Daher wur-
den Philosophen verbannt und getötet wegen Umsturzes der Religion
und des Staats, welche beide wesendich zusammenhingen. So machte
sich das Denken in der Wirklichkeit geltend und übte die ungeheuerste
Wirksamkeit.«46 Die Metaphysik, als wie beschränkt sie sich dann auch
erweisen mag, hat die Würde, das Medium der Aktivität des Wahren zu
sein. »Das Denken als die Tätigkeit ist somit das tätige Allgemeine, und
zwar das sich betätigende, indem die Tat, das Hervorgebrachte, eben
das Allgemeine ist.«47
Das natürliche, im jeweils Besonderen sich erschöpfende Verhält-
nis des Menschen zum Seienden aUSSer ihm äussert sich, wie Hegel in
der Phänomenologie des Geistes ausführt4 8 in Begierde und Genuss (den
subjektiven Aspekten dessen, was Marx in der Formulierung »Stoff-
wechsel des Menschen mit der Natur« als Kategorie der Objektivität
gefasst hat). Die Entfaltung von Begierde und Genuss in der gesell-
schafdichen Produktion, Interaktion und Konsumption vollzieht sich
(und objektiviert sich damit durch die wechselseitige Reflexion) im
System der Bedürfnisse, das dann auch erst die Allgemeinheit von Be-
gierde und Genuss herstellt: »Die Besonderheit ist masslos, sie hat
keine absolute Bestimmung in sich, weil sie für sich gilt, es ist das
Natürliche, die Begierde (...) Die Unsittlichkeit des Menschen ist
damit eingetreten, jedes Besondere wird befriedigt, erlischt darin,
aber entsteht sogleich wieder, denn jede Befriedigung ist auch nur Be-
friedigung von einem Besonderen, also keine wahrhafte Befriedigung,
worüber hinausgegangen werden kann«. Und: »Der Zweck des Indi-
viduum ist selbstsüchtig, aber bedingt durch das Allgemeine, es ist
wesentlich Beziehung auf andere Selbständige, damit verbunden,
damit ist die Abhängigkeit gesetzt, und so ist die bürgerliche Gesell-
schaft ein System allseitiger Abhängigkeit (...) Das Bedürfnis wird
durch die Gegenseitigkeit vervielfältigt, die zugleich eine Seite der All-
gemeinheit ist.«49
In der sozusagen »natürlichen« Verfassung des Menschen ist sein
gegenständliches Verhältnis zur Welt - die Begierde und deren Be-
friedigung im Genuss - unter die Formbestimmungen der Nützlich-
keit subsumiert. Dieser »rohe Naturzustand« kennt keine vermittelte
Allgemeinheit der Begierde für die Gattung. Das Gattungswesen des
Menschen kommt in ihm also auch noch nicht zum Ausdruck. Inso-
fern ist jeder historische Zustand, in dem die Vermitteltheit der Be-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 41

dürfnisbefriedigung durch das Gattungsgeschehen noch nicht herge-


stellt ist, eine schlechte und zu überwindende Wirklichkeit. In der Re-
flexion auf den Prozess der Vermittlung der Bedürfnisbefriedigung
und auf das sich in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit
herstellende System der Bedürfnisse, also in der »geistigen« Objekti-
vierung dieses Prozesses, im allgemeinen Begriff der Gattungstätig-
keit des Menschen gewinnt der Mensch das Bewusstsein der Freiheit
von der Subsumption unter das unmittelbare Naturverhältnis der
bIossen Nützlichkeit. Der einzelne Wille zur Durchsetzung der be-
sonderen Zwecke ohne Rücksicht auf das Allgemeine muss dann auf-
gehen in seiner Vermitteltheit mit dem Ganzen. »Denn das Aufgeben
des eigenen Willens ist nur einerseits negativ, seinem Begriffe nach oder
an sich, zugleich aber positiv, nämlich das Setzen des Willens als eines
Anderen und bestimmt des Willens als eines nicht einzelnen, sondern
allgemeinen (...) das Aufgeben des seinigen als einzelnen ist ihm (nämlich
dem Bewusstsein - HHH) nicht dem Begriffe nach das Positive des
allgemeinen Willens. Ebenso sein Aufgeben des Besitzes und Genus-
ses hat nur dieselbe negative Bedeutung, und das Allgemeine, das für
es dadurch wird, ist ihm nicht sein eigenes Tun.«50 So leicht also gibt sich
das bürgerliche Individuum in seinem >>unglücklichen Bewusstsein«
nicht auf. Eigener Wille und allgemeiner Wille sind auf der Stufe des
Selbstbewusstseins noch nicht verrnittelbar. So perpetuiert sich die
Struktur des unglücklichen Bewusstseins die erst durch die VelWirkli-
chung der Vernunft (das heisst, wie Marx dann sagen wird, durch die
Verwirklichung der Philosophie) aufgehoben werden könnte, noch
bis zum »Wahnsinn des Eigendünkels« und reproduziert sich noch
einmal auf der höheren Stufe der vernünftigen Negativität gegen das
Bestehende, also der aufgeklärten Revolution oder der Revolution der
Aufklärung in der unvermittelten Identifikation des einzelnen Willens
mit dem allgemeinen. »Der allgemeine Wille geht in sich und ist einzel-
ner Wille, dem das allgemeine Gesetz und Werk gegenübersteht. Aber
dies einzelne Bewusstsein ist sich seiner ebenso unmittelbar als allge-
meinen Willens bewusst; es ist sich bewusst, dass sein Gegenstand
von ihm gegebenes Gesetz und von ihm vollbrachtes Werk ist; in
Tätigkeit übergehend und Gegenständlichkeit erschaffend, macht es
also nichts Einzelnes, sondern nur Gesetze und Staatsaktionen.«51
Dies ist die Stunde der Revolution, des Umsturzes der schlechten
Wirklichkeit, die vor der revolutionierten Vorstellung nicht aushält.
Die revolutionierte Vorstellung ist aber nur die Negation des Beste-
henden, noch nicht die geschichtliche Wirklichkeit des Neuen; ihr
42 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

In-die-Existenz-treten ist die Negation des Partikulären, wie es in St.


Justs Rede vom 10. Oktober 1793 im Konvent für die Errichtung
einer Revolutionsregierung zum Ausdruck kommt. 52 Die Vertilgung
des Partikulären ist das negative Wesen des Allgemeinen und »der
Schrecken des Todes ist die Anschauung dieses ihres negativen We-
sens.«53
Hegel hat die absolute Freiheit, die im Augenblicke der Revolution
hervortritt, als ein Moment der Überwindung des »rohen Naturzustan-
des«, der biossen Subsumption unter die Nützlichkeit, auf dem Wege
zur Herstellung einer vernünftigen Gesellschaft begriffen. Im Prozess
der Bildung (deren höchste Stufe die Revolution ist) wurde die Einsicht
in das Allgemeine konkret: »Das Bewusstsein als reine Einsicht ist nicht
einzelnes Selbst, dem der Gegenstand ebenso als eigenes Selbst gegen-
überstünde, sondern es ist der reine Begriff, das Schauen des Selbsts in
das Selbst, das absolute sich selbst doppelt Sehen; die Gewissheit seiner
ist das allgemeine Subjekt und sein wissender Begriff das Wesen aller
Wirklichkeit (...) sodass jeder immer ungeteilt alles tut und was als Tun
des Ganzen auftritt, das unmittelbare und bewusste Tun eines jeden ist.«
In diesem Übergang des einzelnen Willens und damit der volonti de tous
in die volonte generale, der sich als Prozess der Aufklärung und Bildung
vollzieht, wird die Natürlichkeit des Hobbes'schen homo homini lupus in
die Künstlichkeit der sittlichen Gesellschaft aufgehoben. Nicht das in-
dividuell Nützliche, sondern das allgemeine Wohl (commune bonum) wird
zum Zweck des Tuns, aber zunächst nur in der Form des Begriffs, der
Theorie. »Diese Rücknahme der Form der Gegenständlichkeit des
Nützlichen ist aber an sich schon geschehen, und aus dieser inneren
Umwälzung tritt die wirkliche Umwälzung der Wirklichkeit, die neue
Gestalt des Bewusstseins, die absolute Freiheit hervot.«54 Im Begriff von
seinem Gattungswesen ist das Selbstbewusstsein »reine Metaphysik«,
nämlich Reflexion des Allgemeinen. Die Metaphysik hebt damit im Be-
griff die Partikularität des Partikulären auf, ihre Denomination der
Wirklichkeit wird damit zum Äquivalent der sich verändernden und zu
verändernden Wirklichkeit. In der Einleitung zur Phänomenologie des
Geistes wird das unumwunden ausgesprochen; da heisst es von dem
Bewusstsein: »Indem es also an seinem Gegenstande sein Wissen
diesem nicht entsprechend findet, hält auch der Gegenstand selbst
nicht aus; oder der Massstab der Prüfung ändert sich, wenn dasjenige,
dessen Massstab er sein sollte, in der Prüfung nicht besteht; und die
Prüfung ist nicht nur eine Prüfung des Wissens, sondern auch ihres
Massstabes.«55 Damit wird das Programm entworfen, zugleich das Ver-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 43

fahren der klassischen Metaphysik, die Konstruktion eines rationalen


Weltbegriffs (einschliesslich seines normativen Gehalts) aufrechtzuer-
halten (auch gegen Kants Metaphysik-Kritik, die gerade das Verfahren
verwarf), und den Massstab, an dem die Konstruktion zu prüfen ist, zu
verändern.

4. Die Zeitlichkeit des Absoluten

Hegels Begründung, dass die Vernunft selbst das Prinzip der revolu-
tionären Veränderung sei, ist metaphysisch und schliesst zugleich die
Kritik der bisherigen Metaphysik ein. Die Vernunft, die das Allge-
meine in sein Recht setzt und damit die Destruktion jedes Partikulären
b,etreibt, bezieht ihr kritisches Instrumentarium gegenüber allem Be-
stehenden und ihr logisches Instrumentarium der Konstruktion des
Allgemeinen aus der spekulativen Verfassung des Denkens, jeden
Gegenstand der Verstandestätigkeit als beschränkt und unbeständig
hinter sich zu lassen und damit jede fixe Identität aufzulösen, bis
schliesslich in der absoluten Idee das Ganze aller Partikularitäten als
das wahre Sein und als die reale Allgemeinheit, die sich in jedem Be-
sonderen manifestiert, erkannt wird. Die ontologische Kategorie der
Totalität/Universalität und die logische Kategorie der Allgemeinheit
fallen in der absoluten Idee zusammen; und von der absoluten Idee er-
hält jedes Existierende als Besonderes sein Todesurtei1. 56
Bei Hegel treffen die spekulative Idee des Absoluten, die in der
Metaphysik Spinozas ihre neuzeitlich reinste Gestalt gefunden hatte,
und der empirische Gehalt der Geschichte, der in der Erfahrung der
Französischen Revolution sich zwingend aufdrängte, zusammen.
Kar! Löwith hat darauf hingewiesen, dass in der Komposition von Ab-
solutheits-Metaphysik und historischer Zeitlichkeit eine Aporie ent-
steht, deren Überwindung die Bewegung des HegeIschen Philosophie-
rens in gang hielt. Denn das Absolute sei per definitionem ausser der
Zeit, ewige Gegenwart des hen kai pan, und die Zeit sei nur die Weise,
in der das Moment, der (an sich unwahre) Teil des Ganzen sich zum
Ganzen verhalte. »Indem Hegel (...) den Geist als Wille und Freiheit be-
griff, bleibt das Verhältnis des Geistes zur Zeit, die er griechisch als im-
merwährende Gegenwart und als Kreislauf bestimwt, in der Tat ein
Widerspruch und Rätsel.<P
Diese von Löwith manichäisch aufgerissene Dichotomie - Zeitlo-
sigkeit des Absoluten, des Geistes, der Wahrheit versus Zeitlichkeit des
44 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Moments, der Materie, des Scheins - wird indessen dem »metaphysi-


schen Historismus« Hegels nicht gerecht, den Löwith selbst an anderer
Stelle notiert. 58 Denn die »Gegenwart« Hegels ist eben nicht nur das
nunc stans des intensionalen absoluten Begriffs, in dem »die konkrete
Gegenwart das Resultat der Vergangenheit und sie trächtig von der Zu-
kunft« ist 59 ; sondern die Gegenwart ist auch die »negative Einheit« von
Vergangenheit und Zukunft, »das Nichtsein des Seins, an dessen Stelle
das Jetzt getreten ist C...), das Sein des Nichtseins, was in der Gegenwart
enthalten ist«, und der Begriff der Zeit ist das Werden. 60 Denn »nicht
in der Zeit entsteht und vergeht alles, sondern die Zeit selbst ist dies
Werden, Entstehen und Vergehen.«61 Das ewige Absolute ist nicht an-
ders, als indem es sich auslegt, und so ist die Weltgeschichte die Ausle-
gung des Geistes in der Zeit62 , und nur in diesem Prozess ist der Geist
wahrhaft Geist; in der Zeitlosigkeit des nicht sich manifestierenden,
nicht sich entäussernden Absoluten wäre er noch nicht er selbst, weil
zu diesem Selbstsein das Fürsichsein gehört. »Deswegen erscheint der
Geist notwendig in der Zeit C•..) Die Zeit erscheint daher als das Schick-
sal und die Notwendigkeit des Geistes, der nicht in sich vollendet ist.«63
Deutlicher kann der reine Ewigkeitsstandpunkt der traditionellen Me-
taphysik nicht dementiert werden. Auch in der Naturphilosophie denkt
Hegel die Zeitlichkeit als dem Seienden inhärent. »Weil die Dinge end-
lich sind, darum sind sie in der Zeit; nicht weil sie in der Zeit sind,
darum gehen sie unter, sondern die Dinge selbst sind das Zeitliche; so
zu sein ist ihre objektive Bestimmung. Der Prozess der wirklichen
Dinge selbst macht also die Zeit.«64 Nur mangelt den Naturdingen die
Reflexion-in-sich, die die Wahrheit des Geistes ausmacht, und darum
bleibt bei ihnen das Jetzt als das konkret Wirkliche doch nur die nega-
tive Einheit der Zeitdimensionen, während der Geist als Integration
von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart des Seins positiv
geschichtlich ist. »Die Bewegung, die Form seines Wissens von sich
hervorzutreiben, ist die Arbeit, die er als wirkliche Geschichte voll-
bringt.«65
Das Bewusstsein von der Aporetik des Verhältnisses von Absolut-
heit und Zeitlichkeit reicht bis in die Anfänge des Hegelschen syste-
matischen Philosophierens zurück. In der Differenz-Schrift finden
wir schon den bemerkenswerten Satz: »Soll die Zeit Totalität sein, als
unendliche Zeit, so ist die Zeit selbst aufgehoben, und es war nicht
nötig, zu ihrem Namen und zu einem Prozess des verlängerten
Daseins zu fliehen.«66 Hier also erkannte Hegel schon, dass das dem
Absoluten beigelegte Prädikat der Unendlichkeit allein nicht ausrei-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 45

chen kann, um die positive Wirklichkeit des Absoluten zu bestimmen;


diese »wie sie das Prinzip der Bewegung und der Veränderung ist, so
ist ihr Wesen selbst nichts anderes, als das unvermittelte Gegenteil
seiner selbst zu sein, oder sie ist das negativ Absolute, die Abstraktion
der Form, welche, indem sie reine Identität, unmittelbar reine Nicht-
identität oder absolute Entgegensetzung (...) ist.«67 Indem aber die
Unendlichkeit des Absoluten nur als die »Identität Differenter«68 er-
kannt wird, ist die Weise, in der das Absolute sich zeigt, das Dasein in
der Zeit, obgleich es (dem Begriffe nach) zeitlose Gegenwart ist. Die
Wirklichkeit des Begriffs des unendlichen, ewigen Absoluten aber ist
sein Auseinandertreten in die Vielheit seiner Momente, als deren Ein-
heit allein es als das Absolute bestimmt werden kann, »und diese
Bestimmtheit ist ideell, d.h. sie ist nur in der Unendlichkeit nach dem
oben aufgezeigten Begriffe derselben.«69 Von der »Natur der Unend-
lichkeit« hiess es da aber, sie sei »der absolute Übergang ins Entge-
gengesetzte, der ihr Wesen ist und das Verschwinden jeder Realität in
ihrem Gegenteil«70 - und die Entgegensetzung, als welche die Un-
endlichkeit existiert, ist selbst das Charakteristikum der Zeit: »Die
Zeit schliesst unmittelbar Entgegensetzung, ein Aussereinander in
sich, und das Dasein in der Zeit ist ein sich Entgegengesetztes, Man-
nigfaltiges, und die Unendlichkeit ist ausser ihr.«71 Wir können dar-
aus die (die einfache Entgegensetzung von Zeitlichkeit und Absolut-
heit bei Löwith dementierende) Folgerung ziehen: Die Unendlichkeit
des Absoluten ist zwar ausser der Zeit, aber nur durch sie, im Dop-
pelsinne von »durch sie hindurch« (per tempus) und »vermöge ihrer«
(tempore). Ist das Unendliche selbst das »Prinzip der Bewegung und
der Veränderung«, so ist es das Prinzip seines Gegenteils, der End-
lichkeit und der Zeitlichkeit - so wie es in der Phänomenologie heisst:
»Die Wahrheit ist die Bewegung ihrer an ihr selbst.«72 Genau in die-
sem Sinne aber sagt Hegel in den »Vorlesungen über die Philosophie
der Geschichte« von Luther: »Luther (...) hat siegreich festgestellt, was
die ewige Bestimmung des Menschen sei, müsse in ihm selber vorge-
hen. Der Inhalt aber von dem, was in ihm vorgehen und welche Wahr-
heit in ihm lebendig werden müsse, ist von Luther angenommen wor-
den, ein Gegebenes zu sein, ein durch die Religion Offenbartes. Jetzt
ist das Prinzip aufgestellt worden, dass dieser Inhalt ein gegenwärti-
ger sei, wovor ich mich innerlich überzeugen könne, und dass auf die-
sen inneren Grund alles zurückgeführt werden müsse.«73 Das heisst:
Aufklärung und Französische Revolution haben in der Theorie der
Gegenwart die Freiheit der Selbstbestimmung als ein in der Zeit sich
46 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

realisierendes Prinzip durchgesetzt. Die Bestimmung des Menschen,


in sich, d. h. in seiner Gattungsgeschichte, die Wahrheit erscheinen
und in sich reflektieren zu lassen, ist philosophisch nur als Theorie der
Geschichte und ihrer jeweiligen Gegenwart, in welcher ihre Vergan-
genheit aufgehoben ist, darzustellen. Die Gegenwart Hegels aber ist
die Epoche der Revolution - politisch des Sturzes der feudalabsoluti-
stischen Herrschaftsverhältnisse, weltgeschichtlich »die Begründung
der politischen Freiheit als Recht in der substantialen Freiheit des
Selbstseins und die hiermit gesetzte inhaltliche Bestimmung politi-
scher Ordnungen durch den Zweck, die Verwirklichung des
Menschseins und seiner Freiheit zu ermöglichen.«74 Dies als den ge-
schichtsphilosophischen Kern der Hegelsehen Kritik und Erneue-
rung der Metaphysik erkannt zu haben, ist das Verdienst Joachim Rit-
ters.7 5
Der erste Schritt von Hegels Metaphysik-Kritik, die Auflösung der
Kriterien der Unendlichkeit und Ewigkeit, durch welche das Absolute
- in aller I<Jarheit z. B. in Prop. 8 und 19 und Schol. 1 zu Prop. 8 von
Spinozas Ethik I - bestimmt wurde, in die Konstruktion der Unendlich-
keit aus dem Endlichen und der Ewigkeit aus der Zeit verändert das
Verhältnis der Gegenwart zum Absoluten: diese ist nicht einfach ein
unvollständiges, privatives Moment oder Abbild des Absoluten, son-
dern dessen, wenn auch transitorische, Erscheinung - und nur als
transitorische, sich selbst negierende ist sie vollgültige Erscheinung des
Absoluten; ihr Bestehensrecht ist zugleich die Bedingung ihres Unter-
gangs. In einem damit ändert sich auch das Wesen des Absoluten selbst:
dessen Ausser-der-Zeit-sein ist nur ein logischer Grenzwert seiner ontisch
zeitlichen, geschichtlichen Konstitution; das Absolute ist nur als speku-
lative Idee, d. h. im Spiegel des absoluten Begriffs als Reflexion-in-sich
des Geistes in seiner weltgeschichtlichen Arbeit, präsent.
Dass die Theorie der Geschichte und der Geschichtlichkeit des
Seins zur Kritik der überlieferten Metaphysik werden musste, liegt auf
der Hand. Denn es war die klassische Metaphysik - wiederum in Spi-
nozas Substanzenmonismus paradigmatisch formuliert -, die die
Ewigkeit und Zeitlosigkeit des Seins zum archimedischen Punkt ihrer
Systeme gemacht hatte. Der Eleatismus hat eine lange onto- und
theologische Wirkungsgeschichte. An ihr hat auch Hegel noch teil, in-
sofern er die Einheit des Seins und die Bindung der Wahrheit nicht
einfach in den historistischen Relativismus der Erscheinungen auf-
löst. Rankes Wort, dass alle Epochen gleich unmittelbar zu Gott
seien, markiert das gen aue Gegenbild zu Hegels Geschichtsphiloso-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 47

phie und den Verzicht auf einen Begriff des Verhältnisses von Kon-
tinuität und Diskontinuität im Prozess der Realisationen menschli-
cher Existenz. Indem der Historismus die Verschiedenen in ihrem
Anderssein voneinander isoliert und Geschichte als Sequenz von
gleichwertigen Stellen auf dem Zeitstrang auffasst, verliert er wieder
den von der Aufklärung bis zu HegeF6 gewonnenen Begriff von
Zeitlichkeit, in dem die Gerichtetheit, Tendenzialität, die Idee des
Fortschritts inhäriert. Zeit wird dann bloss zur formalen Verfassung
des Nacheinanders von Zuständen, während Hegel sie als das Prinzip
inhaltlich miteinander verknüpfter, durch bestimmte Negationen sich
produzierender Entwicklungsstufen auf dem Wege zur Freiheit auf-
fasste. Sein, Zeit und Freiheit (als begriffenes Sein77)bildeten für ihn
eine strukturelle Einheit.
Eben diese Einheit, in der die Dichotomie von Absolutheit und
Zeitlichkeit aufgehoben ist, fasst Hegel mit dem Terminus »Geist«. Der
logische Aspekt des Geistes ist der Begriff, als welcher intensional, aber
nicht explizit die Totalität aller Bestimmungsmomente des Begriffenen
in sich umfasst. Wie die Leibnizsche Monade die perspektivische Re-
präsentation der ganzen Welt ist, so ist auch der Hegelsche Begriff nur
als (unendliche) Kette aller seiner Bestimmungen vollständig (notio com-
pleta), d. h. wahrer Begriff. Daseiend, also explizit ist er aber nur in der
extensionalen Abfolge dieser Bestimmungen, mithin ist die Zeit »der
daseiende Begriff selbst.«78 Die Momente des Ganzen werden als aus-
einander seiende aufgefasst und so zu Inhalten der Erfahrung und des
Wissens, in welchem sie wieder zusammengefasst in ihre Einheit
zurückgeführt und »auf den Begriff gebracht« werden. Dieser Prozess
ist die Wirklichkeit des Geistes, zu der »Aufhebung der Äusserlichkeit«
und »Zurückführung des Äusserlichen zu der Innerlichkeit« gehärt.7 9
Alle Stufen, auf denen der Geist sich auf dem Wege zur Zusammen-
fassung des Ganzen konstituiert, sind vorläufige Manifestationen des
Absoluten, Phasen der »Zurückführung des Äusserlichen zu der Inner-
lichkeit«; prinzipiell und idealiter ist die »Bewegung des Bewusstseins«,
in welcher das Wissen des Ganzen wird, »die Totalität seiner Momente«
- und »diese Totalität seiner Bestimmungen« ist es, die den Geist »an
sich zum geistigen Wesen« macht 80 , denn Totalität in sich kann nicht
extensional, in natürlicher Äusserlichkeit gegeben sein. So ist »der ab-
solute Geist (...) ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende
und zurückgekehrte Identität«81, und der Prozess des Zurückkehrens,
also das zeitliche Durchlaufen seiner Explikationen, ist unabtrennbar
von der Herstellung der Identität. »Ehe daher der Geist nicht an sich,
48 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewusster Geist
seine Vollendung erreichen.«82 Die Vollendung des Geistes ist jedoch
nicht und nie seine Realisation auf einer bestimmten Stufe der ge-
schichtlichen Entwicklung, in einer bestimmten Gegenwart, auf wel-
cher der daseiende Geist - weil Dasein bestimmtes, also nicht absolu-
tes Sein ist 83 - ein bestimmter Geist ist.
Man könnte nun, ohne Hegel zu vergewaltigen, eine Extrapolation
wagen: Der inhaltlich bestimmte Geist ist immer unvollendeter Geist
und als solcher Zeitgeist. Der reine Begriff des Geistes - von allen be-
stimmten Inhalten abgetrennt und als Prinzip des Vollzugs seiner in-
haltlichen Bestimmungen genommen - ist dann nichts anderes als die
reine Zeit, und dem absoluten Geist, gerade weil er »ewig in sich sei-
ende Identität« ist, inhäriert die Zeitlichkeit als Bedingung seiner Ver-
wirklichung,s4 Jede inhaltlich bestimmte Gestalt des Geistes »ist inder
Zeit und hat dem Inhalte nach wesentlich ein besonderes Prinzip« und
»geht in die allgemeine Weltgeschichte über.«85 Der Geist hat sein Dasein als
diese Bewegung, die in § 549 der EniJ'klopädie beschrieben wird; »die
Weltgeschichte (00') ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der
Zeit.«86 Damit hat Hegel das traditionelle metaphysische Konzept von
der Ewigkeit des Seins in seine geschichtliche Bewegung aufgelöst. Die
Ewigkeit des Seins ist seine Wirklichkeit als Geschichte, deren Fort-
schreiten in allen ihren Stadien in der intensionalen Präsenz des Geistes
als Totalität gedacht, nicht aber in der Extensionalität des Daseins »ge-
habt« werden kann. Die traditionelle eleatische Metaphysik wird so -
unter Bewahrung ihrer Probleme - in die Dialektik des Werdens trans-
formiert.
Wie die Ewigkeit des Seins ist auch dessen Identität (= Wider-
spruchsfreiheit in sich) ein Axiom der klassischen Metaphysik. 87 So-
lange das Sein als das eine, ewige, unbewegte begriffen wurde, musste
auch seine Identität unumstösslich gedacht werden. Eine Welt, die als
die Einheit des Mannigfaltigen oder als die Einheit von Einheit und
Vielheit konzipiert wird, ist hingegen an sich selbst widersprüchlich,
denn sie schliesst Bestimmungen ein, die als simultane Bestimmun-
gen ein und desselben einander logisch ausschliessen. Hegel hat mit
der Überführung der Prinzipien der Metaphysik, denen er als »ver-
ständigen Abstraktionen« ihr relatives Recht in der Philosophie als
der scientia generalis zuweist und deren Unzulänglichkeit für die Kon-
struktion des Ganzen er zugleich dartut, in die dialektische Bewegung
des Denkens nicht nur die Betrachtung sub specie aeternitatis in eine
Konstruktion des Absoluten sub specie temporalitatis überführt; sondern
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 49

er hat damit auch die axiomatische Geltung des Identitätsprinzips in


der Logik des Werdens, d. h. der Zeitlichkeit des Seins aufgehoben.
Der Widerspruch konstituiert in der Aufeinanderfolge, in der das
Spätere das Frühere negiert und als dessen bestimmtes Gegenteil es
wirklich wird, die Totalität des Absoluten. So ist der absolute Geist
nicht die unterschiedslose identische Einheit aller seiner Bestimmun-
gen, sondern er ist absolut nur, indem er sich in der Weltgeschichte
realisiert = sich offenbart.8 s Nur als sich unendlich perpetuierender
Prozess des sich Bestimmens, Verendlichens ist der absolute Geist
wirklich, er muss Gestalt annehmen, um Geist zu sein, und er muss
diese Gestalt wieder auflösen und in eine andere Gestalt übergehen,
um wirklicher, lebendiger Geist zu sein. Im Zusatz zu § 386 der EniY-
klopädie wird diese Geschichtlichkeit des Geistes deutlich ausgespro-
chen: »Wenn aber der Geist für unbeschränkt, für wahrhaft unendlich
erklärt wird, so soll damit nicht gesagt sein, dass die Schranke ganz
und gar nicht im Geiste sei; vielmehr haben wir zu erkennen, dass der
Geist sich bestimmen, somit verendlichen, beschränken muss. Aber
der Verstand hat unrecht, diese Endlichkeit als eine starre, - den Un-
terschied der Schranke und der Unendlichkeit als einen absolut festen
zu betrachten und demgemäss zu behaupten, der Geist sei entweder be-
schränkt oder unbeschränkt (...) Nur momentan kann der Geist in
einer Endlichkeit zu bleiben scheinen (...) Daher geht er über dieselbe
hinaus, befreit sich von ihr (...).«S9
Jede Epoche der Weltgeschichte hat demgemäss ihr Recht als ein
Moment der Offenbarung des Geistes in seinem Werden zu sich selbst.
Aber jede Epoche hat demgemäss ebenfalls das Unrecht, nur eine end-
liche und beschränkte Offenbarung des Geistes zu sein, die ihre eigene
Negation hervorbringt, indem sie ihre Schranke setzt und damit zu-
gleich das Andere, das sie innerhalb dieser Schranke nicht ist. Die Welt-
geschichte ist die Manifestation der absoluten Negativität, nämlich die
Aufhebung jeder Entäusserung an ein Besonderes im Prozess. Die
Weltgeschichte ist mithin, als Aufhebung jedes Besonderen, revolutionär,
und es ist das Recht der Geschichte gegen ein Beharrendes und Stag-
nierendes, dieses umzustürzen und durch eine neue Gestalt des Geistes
zu ersetzen. Die Ver-Zeitlichung des Absoluten ist die revolutionäre
Verfassung der Welt, die nur in der Identiät von Identität und Nicht-
Identität sie selbst ist.
In dieser Ver-Zeitlichung des Geistes erweist sich dieser als Wille,
als das Streben (appetitus.0, von einer Gestalt zur anderen fortzuschrei-
ten und in diesem Fortschritt seine Beschränktheit aufzuheben. Die
50 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Aufhebung einer Schranke ist aber ein Akt der Befreiung, der welthi-
storische Sinn der ontologischen Formbestimmtheit durch die Negati-
vität ist die Freiheit, die sich im Willen ausdrückt und in dem von jeder
Bestimmung absehenden absoluten Willen ihre reine Existenz hat.
»Man muss also wissen, was der Wille an sich ist (...) Der absolute Wille
ist dies, frei sein zu wollen« - im Unterschied zu »Neigung, Trieb, Be-
gierde.« »Die Freiheit des Willens selbst, als solche, (...) ist sogar das,
wodurch der Mensch Mensch wird, also das Grundprinzip des Gei-
stes.«90 Dieser formelle Wille ist die Triebkraft der Revolution, denn
er geht auf die Veränderung, und im Augenblick des Umsturzes, noch
ehe er sich aufs neue gegenständlich bestimmt, ist er die absolute Frei-
heit - und diese ist »reine Metaphysik, reiner Begriff oder Wissen des
Selbstbewusstseins (...) Hiermit ist der Geist als absolute Freiheit vor-
handen (...) Und zwar ist er (...) reell allgemeiner Wille aller Einzelnen
als solcher (...), sodass jeder immer ungeteilt alles tut und, was als Tun
des Ganzen auftritt, das unmittelbare und bewusste Tun eines Jeden
ist.«91 In einer historischen Epoche, die der Untergang einer alten
und die Geburtsstunde einer neuen Gestalt des Geistes ist - Gegen-
wart im emphatischen Sinne, an der für einen kurzen Augenblick die
Schranken der Vergangenheit nicht mehr und die der Zukunft noch
nicht teilhaben - geschieht der Umschlag von einer Bestimmtheit in
ihr Gegenteil, und er ist die unwiderstehliche Wirklichkeit der absolu-
ten Freiheit: »Diese ungeteilte Substanz der absoluten Freiheit erhebt
sich auf den Thron der Welt, ohne dass irgendeine Macht ihr Wider-
stand zu leisten vermöchte.«92 Wer an diesem Umschlag teilhat, er-
lebt, dass seine Gegenwart zu keiner Zeit mehr gehört, sondern die
selbst zeitlose Grenze zwischen zwei Zeiten ist. Walter Benjamin hat
das mit seinem Gespür für Diskontinuitäten bemerkt: »Das Bewusst-
sein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolu-
tionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die
Grosse Revolution führte einen neuen Kalender ein (...) Die Kalen-
der zählen die Zeit also nicht wie Uhren. Sie sind Monumente eines
Geschichtsbewusstseins (...) Noch in der Juli-Revolution hatte sich
ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewusstsein zu seinem
Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen
war, ergab es sich, dass an mehreren Stellen von Paris unabhängig von
einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde.«93
Der Übergang von einer Identität zu einer neuen Identität ist nicht
mehr mit dem kontinuierlichen Massstab der Uhren zu messen; er ge-
schieht »plötzlich« (exaiphnes, wie es bei Platon heisst), und das ist es,
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 51

was das Revolutionäre vom Kontinuum der Evolution unterscheidet,


zu dem es gleichwohl als Moment gehört.
»Das Problem dieser geschichtlichen Diskontinuität nimmt Hegels
Theorie auf (...)« Und »Hegel (...) fasst das Problem dieser weltgeschicht-
lichen Diskontinuität in seiner ganzen Radikalität«94, bemerkt Joachim
Ritter und bringt damit die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie
Hegels zur Französischen Revolution auf den zentralen Punkt. Er hat
richtig erkannt, »dass Hegel die Freiheit der Revolution als die gegen-
wärtige, universal gewordene Form der ursprünglichen metaphysischen
Freiheit des Selbstseins versteht und so die Revolution selbst als welthi-
storischen Stand und als Epoche der Einen Weltgeschichte begreift. Die
philosophische Theorie, die äusserlich als das Fortspinnen und Aus-
spinnen der Spekulation, als die innere Entfaltung des philosophischen
Gedankens zum System erscheinen kann, erweist sich als der Austrag des
durch die Revolution gestellten Problems (...).«95 Hegel ist Zeitgenosse der Re-
volution und bejaht sie, ja erkennt in ihr eine historische Notwendigkeit.
Aber er weiss auch, dass die Revolution eine neue bestimmte Ordnung
aus sich hervorgehen lassen muss. »Die nächste Frage aber ist weiter:
Wie kommt der Wille zur Bestimmtheit? (...) Man fordert einen Inhalt,
eine Bestimmtheit des Willens; denn der reine Wille ist sich sein Ge-
genstand und sein eigener Inhalt, der keiner ist. So überhaupt ist er nur
der formelle Wille.«96 In der neuen Bestimmtheit, die an die Stelle der
alten treten muss - es ist die der bürgerlichen Gesellschaft - treten die
Einzelwillen und der allgemeine Wille wieder auseinander, wird die All-
gemeinheit der widerstreitenden oder kooperierenden Einzelnen durch
das Recht hergestellt und garantiert, das nun nicht mehr Ausfluss des
individuellen Willens eines persönlichen Souveräns ist, sondern die
Form der Vermittlung aller Einzelwillen zum allgemeinen Willen. »Im
Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden,
und auf diesem Grunde sollte nunmehr alles basiert sein (...) Die ob-
jektive Freiheit aber, die Gesetze der reellen Freiheit fordern die Unter-
werfung des zufälligen Willens, denn dieser ist überhaupt formell. Wenn
das Objektive an sich vernünftig ist, so muss die Einsicht dieser Ver-
nunft entsprechend sein, und dann ist auch das wesentliche Moment
der subjektiven Freiheit vorhanden.«9 7 Aus der Dialektik der Freiheit,
die im metaphysischen Wesen des Menschen, seiner Geist-Natur als in
sich reflektierende und reflektierte, ihren Ursprung hat, erwächst die
Gestalt des objektiven Geistes - Recht, Moralität, Sittlichkeit. Hier wer-
den die spekulatiyen Gehalte der Metaphysik zu praktischen der Wirk-
lichkeit, d. h. die Metaphysik wird politisch.
52 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

5. Politische Metapi?Jsik - die Theorie des oljektiven Geistes

Der Übergang von den zeit-entrückten metaphysischen Bestimmun-


gen des Seins zur »Fortbestimmung des Begriffs«, in der sich die Zeit-
lichkeit des Seins manifestiert (deren Theorie die Dialektik ist), hat sich
somit als das Politischwerden der Metaphysik erwiesen. Ausdruck die-
ses Sinnwandels der Metaphysik (der Hegels Kritik der traditionellen
Metaphysik zugrunde liegt) ist die Transformation der Metaphysik in
eine Theorie der Freiheit und das Begreifen der Weltgeschichte als
»Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«. Hegel zieht hier die Konse-
quenz einer Entwicklung, die bei Hobbes mit einer ersten zugleich an-
thropologisch-metaphysischen und staatsphilosophischen Systematik
des Politischen (und das heisst: des Übergangs von der Subjektivität der
Individuen zur Objektivität der gesellschaftlichen Strukturen) einsetzte
und über Rousseau und Kant zur Gesellschaftstheorie des bürgerlichen
Zeitalters 98, in praxi also zur Französischen Revolution führte. Hegels
Philosophie ist insofern die letzte und ausgebildetste Stufe dieser Ent-
wicklung, als sie die in der Theorie der Freiheit angelegte Dichotomie
von subjektivem liberum arbitrium und objektiven Zwängen im Konzept
des objektiven Geistes auflöst: »Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer
Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit, deren substantieller Zu-
sammenhang das System der Freiheitsbestimmungen uc.d der erschei-
nende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d.i. ihr Gelten im
Bewusstsein ist.«99
Was Freiheit sei, zeigt sich erst am Übergang vom subjektiven zum
objektiven Geist100 und ist nur in ihren Objektivationen als wirklich zu
bestimmen. Darum erscheint sie, am Ende der Theorie des subjektiven
Geistes, erst als »abstrakte Idee«, deren Dasein als Wirklichkeit im ent-
falteten Inhalt des objektiven Geistes erst gesetzt ist. 101 So schliesst die
Entwicklung des subjektiven Geistes in der En?Jklopädie zwar mit dem
Unterabschnitt C. c. »Der freie Geist«, aber gerade in der Einschrän-
kung, dass dieser - als Resultat des Zu-sich-selbst-kommens der Sub-
jektivität - dann noch »sich zur Gegenständlichkeit zu entwickeln be-
stimmt« ist. 102 Dieser Prozess der Herstellung wirklicher Freiheit ist die
Weltgeschichte, und darum schliesst die Theorie des objektiven Geistes
mit der Weltgeschichte, in der sich die Formgebung der menschlichen
Gesellschaft in den Strukturen von Recht, Moralität und Sittlichkeit
vollzieht. »Diese Bewegung ist der Weg der Befreiung der geistigen
Substanz, die Tat, wodurch der absolute Endzweck der Welt sich in ihr
vollführt, der nur erst an sich seiende Geist zum Bewusstsein und
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 53

Selbstbewusstsein und damit zur Offenbarung und Wirklichkeit seines


an und für sich seienden Wesens bringt und sich auch zum äusserlich
allgemeinen, zum WeIt;geistwird.«lo3 Die ausdrücklich angeschlossene Be-
merkung, der Weltgeist bilde sich »in der Zeit und im Dasein und damit
als Geschichte«104, deutet wieder die Transformation der Metaphysik
des ewigen Seins in die Dialektik des zeitlichen Seins an.
Nachdruck muss darauf gelegt werden, dass die Theorie des ob-
jektiven Geistes identisch ist mit der Theorie von Recht und Staat. Die
§§ 483-552 der En?Jklopädie (Objektiver Geist) decken nach Umfang
und Spezifikation genau den Gegenstandsbereich der Rechtsphilosophie
ab - nicht weniger und nicht mehr. Die Identität des objektiven Gei-
stes mit der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung und Verfassung der
subjektiven Tätigkeiten lässt keinen Zweifel daran, dass Freiheit sich
bei Hegel nur auf der Ebene der Allgemeinheit erfüllt. »Die Einheit des
vernünftigen Willens mit dem einzelnen Willen (...) macht die einfache
Wirklichkeit der Freiheit aus. Da sie und ihr Inhalt dem Denken an-
gehört und das an sich Allgemeine ist, so hat der Inhalt seine wahrhafte
Bestimmtheit nur in der Form der Allgemeinheit.«I05
In der Entdeckung der besonderen Qualität der volonti generale (ge-
genüber der volonte de tous) hat Hegel eine grosse Leistung der Rous-
seauschen Gesellschaftstheorie gesehen, deren Konstruktion des con-
trat social er hingegen ablehnte 106 ; denn die vermittelte Allgemeinheit
der Einzelnen (als das Vernünftige und damit Freie) kommt gerade
nicht durch den unmittelbaren Zusammenschluss der Individuen zu-
stande, sondern als Ergebnis von Entäusserungen und multiplen Wir-
kungszusammenhängen, die sich gleichsam »hinter dem Rücken der
Individuen« konstituieren. Auf jeden Fall muss eine Theorie der Sub-
jektivität in eine (notabene philosophische) Theorie der Organisatio-
nen und Institutionen aufgehoben werden. »Das Rechtliche und das
Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche
(seil. Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat - HHH) zum Träger und
zur Grundlage haben.«107
Die Freiheit des Willens ist darum zwar der Ausgangspunkt, kei-
neswegs aber der Schlüssel zur HegeIschen Gesellschaftstheorie. Das
muss festgehalten werden, weil eine am Freiheitsbegriff des 18. Jahr-
hunderts orientierte Hegel-Deutung, die Hegel aus dem Horizont von
Rousseau und Kant versteht 108 , in eine Begründung der Metaphysik
der Freiheit aus dem subjektiven Geist, also aus einer vorhegeIschen
Position, zurückfallen müsste; dann wäre die Moralität von Staat und
Geschichte abgetrennt und als übergeordnete Instanz eingesetzt, wo-
54 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

gegen Hegel gerade aufs nachdrücklichste polemisierte. Mir scheint es


für das Verständnis der Rechtsphilosophie grundlegend zu sein, dass im
Gegensatz zu Kants Metaphysik der Sitten !09 bei Hegel das Recht nicht
die Willkür der einzelnen bestätigt und partiell auf Gegenseitigkeit be-
schränkt, sondern die Willkür in der Erarbeitung und Realisierung des
Begriffs der Freiheit, der Freiheit als Begriff, überwindet. Dass Recht die
Form ist, in der »ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist«, hebt
Hegel sogleich in der Anmerkung zum selben Paragraphen vom Rous-
seauschen Konzept des freien Willens ab: »Die angeführte Definition
des Rechts enthält die seit Rousseau vornehmlich verbreitete Ansicht,
nach welcher der Wille nicht als an und für sich seiender, vernünftiger,
der Geist nicht als wahrer Geist, sondern als besonderes Individuum als
Wille der Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür, die substantielle
Grundlage und das Erste sein soll (...) Jene Ansicht ist ebenso ohne
allen spekulativen Gedanken und von dem philosophischen Begriffe
verworfen, als sie in den Köpfen und in der Wirklichkeit Erscheinun-
gen hervorgebracht hat, deren Fürchterlichkeit nur an der Seichtigkeit
der Gedanken, auf die sie sich gründeten, eine Parallele hat.«110
So erweist sich Rousseaus Konzept einer volonti generale, so sehr es
die richtige Perspektive aufs Allgemeine gibt, »dass der Mensch freien
Willen hat, indem die Freiheit das Qualitative des Menschen sei«111,
doch als irreführend; denn für Hegelliegt die Freiheit im Denken des
Begriffs - und dieses Denken ist das Wollen, die Subjektivität des Wil-
lens der einzelnen Personen aufzuheben. 112 Denn Subjektivität und
Moralität gewinnen nur als untergeordnete Momente des Begriffs die
Funktion, die Wirklichkeit der Freiheit mit hervorzubringen; für sich
sind sie Prinzipien des Besonderen (und also besondere, unter das All-
gemeine zu subsumierende Prinzipien), die mithin in äusserer Refle-
xion sich zueinander verhalten. Mit einem vorausgeschickten Hinweis
auf die Methode der Wissenschaft der Logik macht Hegel das deutlich:
»Hier nur so viel, dass die Natur des Beschränkten und Endlichen -
und solches sind hier das abstrakte, nur sein sollende Gute und die ebenso
abstrakte, nur gut sein sollende Subjektivität - an ihnen selbst ihr Gegenteil
(...) haben, aber dass sie als einseitige noch nicht gesetzt sind als das, was
sie an sich sind. Dies Gesetztwerden erreichen sie in ihrer Negativität,
darin, dass sie (...) sich aufheben und dadurch zu Momenten herabset-
zen, zu Momenten des Begriffs (...).«113 Die Freiheit der Person ist eine
vorläufige und Teilfreiheit, die gerade aus der Zerrissenheit des noch
nicht seinen Begriff erfüllenden Seins entspringt: »Wenn das Subjekt
sittlich wäre, so würde die Subjektivität wegfallen, so würde das Gute
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 55

als von Natur gelten und die Freiheit des Subjekts würde wegfallen; frei
ist das Subjekt nur im Kampfe.«114 Diese individuelle Freiheit in der
Entfremdung ist eigentlich Unfreiheit- wie Hegel mit Blick auf die antike
Polis bemerkt: »Freie Völker haben nur Bewusstsein und Tätigkeit für
das Ganze; moderne sind für sich als einzelne unfrei, - bürgerliche Frei-
heit ist eben die Entbehrung des Allgemeinen, Prinzip des Isolie-
rens.«115
So steht der freie Wille zwar am Anfang der Rechtsphilosophie, aber
nicht anders als das einfache unbestimmte Sein am Anfang der Logik
oder die sinnliche Gewissheit am Anfang der Phänomenologie, wovon das
Denken sich abstossen muss, um auf seinen Weg zu gelangen. So heisst
es: »Der an und für sich freie Wille C•••) ist C•••) in sich einzelner Wille eines
Subjekts.«116 Aber nur wer Hegel mit dem Vorverständnis des Sub-
jekt-Fetischismus unserer Zeit liest, kann diese Formulierung als eine
positive Bestimmung der Freiheit auffassen. Genau das Gegenteil be-
deutet sie für Hegel: Abtrennung vom Allgemeinen, Beliebigkeit, We-
senlosigkeit. Die Differenz des »an und für sich freien Willens« zur
wahren Freiheit notiert Hegel in den Randbemerkungen: »Seine Rea-
lität, Gegenständlichkeit hat noch gar keinen Inhalt, der aus sich selbst
bestimmt wäre«. Im Zusatz heisst es ergänzend: »Die abstrakte Iden-
tität ist es, welche hier die Bestimmtheit ausmacht; der Wille wird da-
durch einzelner Wille - die Person.« Und in den Randbemerkungen zu
§ 35 wird abfällig erläutert: »Ich will dieses oder jenes, Bedürfnisse,
Laune, Einfall. Kein Mensch hat Respekt davor, besonderer Wille.«117
Deutlicher kann nicht gesagt werden, dass der Wille gerade kein Prinzip
des objektiven Geistes, sondern nur ein Vehikel auf dem Wege zum
Begriff ist. Hegel Theorie des Politischen gibt dem Voluntarismus
nicht den mindesten Sukkurs.
Dass Freiheit nicht in der Beschränktheit des Besonderen, sondern
nur in der Universalität des Allgemeinen ihr Element habe, in dem sie
wirklich werden könne, hat Hegel so oft wiederholt, dass es sich er-
übrigt, dafür eigens Belegstellen anzuführen. Insofern verweist seine
Theorie des Politischen in ihrer Grundlegung auf die in der Wissenschaft
der Logik erarbeiteten Einsichten 118, und Hegel hat diesen Verweis
selbst ausdrücklich ausgesprochen, wenn er in § 7 der Rechtsphilosophie
auf die §§ 163 - 165 der EniJiklopädie, die den Begriff als solchen be-
handeln, Bezug nimmt, um das Verhältnis von Einzelheit und Allge-
meinheit zu klären. Denn das Recht, insoweit es das System der kom-
possiblen Willensakte der Einzelnen ist, kann nur aus der Einsicht in
die ontologisch-dialektische Verfassung dieses Verhältnisses deduziert
56 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

werden - und eben diese Deduktion fordert Hegel von der Rechtsphi-
losophie.1 19
Nach Hegels Konzeption der Einzelheit enthält das Einzelne in
seinem Begriff die Universalität des Allgemeinen und ist also selbst
Allgemeines - jene monadische Bestimmung, die besagt: »Das Ein-
zelne ist dasselbe, was das Wirkliche ist (...) Die Einzelheit ist aber nicht
in dem Sinne nur unmittelbarer Einzelheit zu nehmen, nach der wir von
einzelnen Dingen oder Menschen sprechen (...) Jedes Moment des Be-
griffs ist selbst der ganze Begriff aber die Einzelheit, das Subjekt, ist
der als Totalität gesetzte Begriff.«120 Wichtig ist, dass die besondere Exi-
stenz der Person gerade jenes Erfordernis, die Totalität in sich zu setzen,
nicht erfüllt, sondern ihren Eigensinn und Eigenwillen als Rechtsper-
son gegen die Anderen geltend macht, mithin gerade nicht Allgemein-
heit der einen, mannigfaltig sich be sondernden Gesellschaft, sondern
bloss Gemeinschaft der Vielen in Koexistenz ausdrückt. »Es ist von
grösster Wichtigkeit sowohl für das Erkennen als auch für unser prak-
tisches Verhalten, dass das bloss Gemeinschaftliche nicht mit dem
wahrhaft Allgemeinen, dem Universellen, verwechselt wird.«121 Für die
allgemeine Bestimmung des Rechts als System der gesellschaftlichen
Gattungseinheit bleibt daher das »Bürgerliche Recht« ein untergeord-
netes Moment. »Weil die Besonderheit in der Person noch nicht als
Freiheit vorhanden ist, so ist alles, was auf die Besonderheit ankommt,
hier ein Gleichgültiges (...) Das abstrakte Recht ist also nur erst blosse
Möglichkeit und insofern gegen den ganzen Umfang des Verhältnisses
etwas Formelles.«122 Dass die Zivilrechts ordnung eine solche von
»Rechtspersonen« (natürlichen und juristischen) ist, macht sie zu einem
vorläufigen Moment des öffentlichen Rechts, des »inneren Staats-
rechts«, durch welches die persönlichen besonderen Rechtstitel erst
zum Allgemeinen vermittelt werden. Der syntaktisch komplexe erste
Satz des § 260 der Rechtsphilosophie macht die Dialektik dieses Verhält-
nisses deutlich: »Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit;
die konkrete Freiheit aber besteht darin, dass die persönliche Einzelheit
und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung
und Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der
bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Inter-
esse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen das-
selbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für
dasselbe als ihren End'?JVeck tätig sind.«123
Man muss der Syntax dieses Satzes genau folgen: Konkrete Freiheit
erhebt sich nicht über die persiJnliche Einzelheit und deren besonderen Inter-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 57

ressen, sondern verwirklicht sich in deren vollständiger Entwicklung und


Anerkennung ihres Rechts für sich (Zivilrecht); aber die Person gewinnt
diese ihre individuelle Freiheit nur insofern, als a) ihre Spezifikationen
einerseits durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen übergehen, also sich
als Momente des commune bonum erweisen - b) die Personen das All-
gemeininteresse mit Wissen und Willen anerkennen, sich mit ihm als ihrem
eigenen substantiellen Geist identifizieren und das Allgemeinwohl dem
Sonderinteresse als ihren End~eck überordnen, für den sie tätig sind.
Dann folgt daraus, dass die Individuen nicht bloss Privatpersonen
(bourgeois), sondern Polis-Bürger (citqyen) sind und in ihnen als politi-
schen Subjekten das Besondere als Besonderung des Allgemeinen
manifest und vermittelt wird. Wir brauchen hier Hegels historischen
Irrtum nicht zu erörtern, dass er im Staat seiner Zeit die Wirklichkeit
dieser Staatsidee glaubte sehen zu dürfen, und brauchen auch nicht
darzustellen, dass dieser Irrtum aufs engste mit der idealistischen
Konstruktion seines Systems zusammenhängt - denn das sind Erwä-
gungen, die in den Zusammenhang der Marxschen Kritik des Hegel-
sehen Staatsrechts gehören. Wohl aber ist hier der Ort, darauf hinzuwei-
sen, dass diese Dialektik von Einzelperson und res pubJica eine grössere
Nähe zu St. Just und Robespierre als zu Montesquieu oder Locke hat
und mehr Stoff in den Konventsreden von 1792-94 findet als in der
»Bill of Rights« oder in dem egoistischen Prinzip des pursuit of happiness
in der US-Verfassung.
Es bleibt also nicht bei dem freien Willen als dem konstituierenden
Prinzip des Rechts; wenn auch Ausgangspunkt jener Tätigkeiten, in
denen das Rechtsverhältnis von Personen entsteht124, so ist er doch
»die Beschränkung, nur subjektiv zu sein, widersprechend und nich-
tig.«125 Daher verfällt er notwendig der, als sein besonderer Inhalt in sie
eingehenden, besonderen Sache: »So ist dies von ihm Unterschiedene,
was die Sphäre seiner Freiheit ausmachen kann, gleichfalls als das von
ihm unmittelbar Verschiedene und Trennbare bestimmt (...) Wenn auch diese
erste Realität meiner Freiheit in einer äusserlichen Sache, somit eine
schlechte Realität ist, so kann die abstrakte Persönlichkeit eben in ihrer
Unmittelbarkeit kein anderes Dasein als in der Bestimmung der Un-
mittelbarkeit haben.«126 Für den Willen ist das Gewollte immer ein ihm
Äusserliches, eine Sache (oder analog eine Leistung). So wird das Recht
des besonderen Willens zum Sachenrecht, das Personen durch den Be-
sitz an Sachen definiert: »Dem Begriffe nach ist mein Recht an eine
Sache nicht bloss Besitz, sondern als Besitz einer Person ist es Eigentum,
rechtlicher Besitz, und es ist Pflicht, Sachen als Eigentum zu besitzen, d.i.
58 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

als Person zu sein, was in das Verhältnis der Erscheinung, der Bezie-
hung auf eine andere Person gesetzt, sich zur Pflicht des anderen, mein
Recht zu respektieren, entwickelt (...) Die Endlichkeit des objektiven
Willens ist insofern der Schein des Unterschieds der Rechte und der
Pflichten.«127
Die Rechtsordnung regelt - in der Weise des positiven Rechts, also
formell - die Rechte und Pflichten der besonderen Willen (personen)
gegeneinander. Sie ist a limine die Bewegungsform der Besonderen in
ihren Verhältnissen zueinander, sie ist als »abstraktes Recht« noch nicht
die Form des Verhältnisses selbst. So entsteht auf dem Niveau der
Rechtsordnung in ihrer wirklichen Gestalt und Funktion ein Wider-
spruch: idealiter ist das Gesetz das Allgemeine, dem die Besonderen zu-
gehören und aus dem sie hervorgehen; realiter ist das Gesetz gerade das
Gesetztsein des Besonderen als Besonderen, das Prinzip der Partiku-
larität, sodass es eine Kollision des Rechts mit sich selbst in seinen ver-
schiedenen Geltungsansprüchen gibt. 128 Aus diesem Widerspruch ent-
springt die Geschichtlichkeit des Rechts; sie ist in dem logischen
Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem begründet, und dieses
logische Verhältnis ist die Formbestimmtheit der ontischen Verfassung
des Wirklichen.
Die Einsicht, dass das Recht geschichtlich ist und in einem in der
ontischen Verfassung der Wirklichkeit begründeten Wandel und Ent-
wicklungsprozess steht, ist in den §§ 30 und 31 der Rechtsphilosophie
ausgesprochen. Die These von der Geschichtlichkeit des Rechts ist
dem eigentlichen System des Rechts vorangestellt, weil sie als dedu-
ziert erst am Ende, im Unterabschnitt über die Weltgeschichte, er-
scheinen kann. So gilt zunächst in logischer Allgemeinheit (und also
durch die Wissenschaft der Logik begründet): »Jede Stufe der Entwick-
lung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das
Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist.«129 Die
besondere Bestimmtheit des allgemeinen Rechtsprinzips macht die-
ses zum positiven Recht und bedingt dessen Einseitigkeit, derzufolge
es abstraktes und formelles Recht ist: »Der Formalismus des Rechts
aber (und weiterhin der Pflicht) entsteht aus dem Unterschiede der
Entwicklung des Freiheitsbegriffs. Gegen formelleres, d.i. abstrakteres
und darum beschränkteres Recht hat die Sphäre und Stufe des Gei-
stes, in welcher er die weiteren in seiner Idee enthaltenen Momente
zur Bestimmung und Wirklichkeit in sich gebracht hat, als die konkre-
tere, in sich reichere und wahrhafter allgemeine, eben damit auch ein
höheres Recht.«130 Indessen bleiben die Einseitigkeiten der einander
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 59

ablösenden positiven Rechtsordnungen nicht disparat und zufällig


neben-, bzw. nacheinander stehen, sondern folgen der inneren Ge-
setzlichkeit der Geschichte als des »Fortschritts im Bewusstsein der
Freiheit« oder, was für Hegel dasselbe ist, der »Fortbestimmung des
Begriffs« zu immer weiterer Explikation seiner Inhalte. Keine positive
Rechtsordnung ist darum nur als »Beschränkung des Daseins des
freien Willens« aufzufassen, sondern vor allem als positive, wenn auch
partikuläre Bestimmtheit des Begriffs der Freiheit. »Die höhere Dia-
lektik des Begriffes ist, die Bestimmung nicht bloss als Schranke und
Gegenteil, sondern aus ihr den positiven Inhalt und Resultat hervorzu-
bringen und aufzufassen, als wodurch sie allein Entwicklung und
immanentes Fortschreiten ist.«131 Was Hegel hier unter Berufung auf
die allgemeine Form der Dialektik setzt - die Historizität der Rechts-
formen -, muss sich dann im System des objektiven Geistes schritt-
weise deduzieren lassen.
Was in der, die Wissenschaft der Logik voraussetzenden, aus der Be-
wegung des Begriffs abgeleiteten Systematik der Rechtsphilosophie, nur
palimpsestartig durchscheint - nämlich die Beziehung der Konzeption
des geschichtlichen Rechts auf die verfassungsgeschichtlichen Erfah-
rungen der Französischen Revolution -, das tritt mit grösserer Deut-
lichkeit und unmittelbar zutage in den früheren rechts- und staats-
philosophischen Entwürfen Hegels: in der Verfassungsschrift von
1800/02, in der Naturrechtsabhandlung von 1802/03 und im S)'Stem der
Sittlichkeit. Hier haben wir nach den zeitgeschichtlichen Wurzeln, nach
den Motiven und Denkanstössen zu suchen, aus denen Hegels Gesell-
schaftslehre als Lehre vom objektiven Geiste hervorging. Es mag sich
dabei zeigen, dass die Wissenschaft der Logik, die die Dialektik als Theo-
rie des Übergangs vom Einen zum Anderen entwickelt, ihre Pro-
blemstellung aus den politischen Erfahrungen der Revolutionszeit
empfing.
Es ist die Verfassungsschrift, schon in der Vorrede des ersten Ent-
wurfs von 1799 und mehr noch in der endgültigen Niederschrift von
1802, die die Argumente für eine Legitimation der Revolution auf-
nimmt, wie sie in den 1791 französisch, 1792 deutsch erschienenen
Meditations sur les Revolutions des Empires des Historikers Constantin
Fran<;ois Boisgirais Graf von Volney, Konventsmitglied seit 1789, vor-
getragen wurden. 132 Volney hatte die allgemeine Ursache der Revolu-
tionen in der Habsucht und der aus ihrer Befriedigung kommenden
ungleichen Verteilung von Besitz (und damit von Rechtstiteln) gese-
hen 133 : »Indessen hatte die Habsucht unter den Menschen einen allge-
60 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

meinen und beständigen Kampf verursacht, wodurch unaufhörlich


die Einzelnen und die Gesellschaften zu gegenseitigen Angriffen ge-
reizt, aufeinander folgende Revolutionen und neu auflebende Unruhen
veranlasst wurden (...) Unter dem Schein der Eintracht und des bür-
gerlichen Friedens erzeugte sie (scil. die Habsucht- HHH) im Schosse
jedes Staats einen innerlichen Krieg, worin die Bürger, in verschiedene
Gesamtheiten von Orden, von Ständen, von Familien geteilt, unauf-
hörlich dahin arbeiteten, unter dem Namen der höchsten Macht die
Gewalt an sich zu reis sen, nach Willkür ihrer Leidenschaften alles zu
berauben und alles zu unterjochen; und dieser Geist des Eingriffs hat
unter tausend Formen, aber stets derselbe in seinem Zweck und in sei-
nen Triebfedern, nie aufgehört, die Nationen zu quälen.«J34 Ganz
gleichlautend heisst es bei Hege!: »Der Besitz war früher als das Ge-
setz, und er ist nicht aus Gesetzen entsprungen, sondern was selbst er-
rungen war, ist zum gesetzlichen Rechte gemacht worden (...) Der
Staat hatte immer nur das zu bestätigen, was seiner Macht entrissen
wurde.«135 Allerdings geht Hegel sogleich von der historischen Be-
schreibung zum philosophischen, kategorialen Urteil über: »Der An-
teil an der Staatsgewalt, den der Einzelne für sich erworben hat, ist
damit der Gewalt des Allgemeinen entzogen (...) Aus diesem eigenwil-
ligen Tun, das allein Freiheit genannt wurde, bildeten sich Kreise von
Gewalt über andere nach Zufall und Charakter, ohne Rücksicht auf
ein Allgemeines und mit wenig Einschränkung von dem, was man
Staatsgewalt nennt; denn dies war im Gegensatz gegen die Einzelnen
fast gar nicht vorhanden.«J36 Nur das Allgemeine (das commune bonum),
an dem die Einzelnen nach Massgabe ihrer Leistung (suum cuique) An-
teil haben, ist aber die legitime Quelle der Staatsgewalt, denn es ver-
bürgt die geordnete Einheit des Mannigfaltigen. Die Verfassung
Deutschlands unterscheidet sich, so argumentiert HegeI, von den Ver-
fassungen anderer europäischer Staaten dadurch, dass sich die Einzel-
nen dieser Allgemeinheit, die sich als Rechtsordnung über den bIossen
Konsens institutionell erhebt und durchsetzt, nie subsumiert haben.
»Die oberste Staatsrnacht war unter den europäischen Völkern eine
allgemeine Gewalt, an der jedem eine Art von freiem und persönli-
chem Anteil zukam, und diesen freien, persönlichen, von Willkür ab-
hängigen Anteil haben die Deutschen nicht in den freien, von Willkür
unabhängigen Anteil verwandeln wollen, der in der Allgemeinheit und
Kraft von Gesetzen besteht, sondern sie haben sich ihren spätesten
Zustand ganz auf der Grundlage jenes Zustandes der nicht gesetz-
widrigen, aber gesetzlosen Willkür erbaut.«137 Sie sind also historisch
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 61

in einem vorstaatlichen Verfassungszustand stehengeblieben. Daher


wird das Deutsche Reich »nicht vom Leben der jetzigen Zeit getra-
gen«, es verharrt in einer Daseinsform einer vergangenen Bildungse-
poche der Menschheit: »Der Verlauf der Zeit aber und der sich in ihr
entwickelnden Bildung hat das Schicksal jener Zeit und das Leben der
jetzigen voneinander abgeschnitten.«138 Eine obsolete, von der Ge-
genwart abgeschnittene Daseinsform aber wird unwirklich und muss
beseitigt, durch eine zeitgemässe Daseinsform ersetzt werden: »Was
nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr (00') nicht das was ist,
macht uns ungestüm und leidend, sondern dass es nicht ist, wie es sein
soll.«139 Die auf partikulare Macht gestützte und partikulare Interes-
sen als Staats zweck setzende Ordnung ist, so heisst es im Natur-
rechtsaufsatz, vernunftwidrig und darum unsittlich. 140 Dieser Zustand
drängt zur Revolution. Und in der Tat hat Hegel noch zwanzig, dreis-
sig Jahre später in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltge-
schichte seinen Gedankengang nach demselben Muster angelegt: »Der
ganze Zustand Frankreichs in der damaligen Zeit ist ein wüstes Ag-
gregat von Privilegien gegen alle Gedanken und Vernunft überhaupt,
(00') ein Reich des Unrechts, welches mit dem beginnenden Bewusst-
sein desselben schamloses Unrecht wird (00') Das ganze System des
Staats erschien als eine Ungerechtigkeit. Die Veränderung war not-
wendig gewaltsam, weil die Umgestaltung nicht von der Regierung
vorgenommen wurde (00') Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte
sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des
Unrechts keinen Widerstand leisten.«141 Da der »Begriff des Rechts«,
auf den Hegel das Recht zur Revolution gründet, jedoch nicht ein
apriorisches und zeitloses An-sich sein kann (wie wir gesehen haben),
sondern seine Wirklichkeit erst durch die historische Topologie seiner
Bewegung und Fortbestimmung erwiesen wird, genügt die Antithese
von Sein und Sollen nicht, um den Umsturz zu legitimieren und ihm
geschichtliche Kraft zu verleihen. Aus dem Grunde seines Arguments
wird Hegel dazu genötigt, eine inhaltliche Deduktion der Unzeit-
gemässheit des schlechten alten Rechts, der Unwirklichkeit seiner Exi-
stenz vorzunehmen. Und als philosophische kann diese Deduktion sich
nicht auf die pragmatischen Bedingungen dessen beschränken, »dass
alles anders geht als die Gesetze«142, sondern sie muss das allgemeine
Bewegungsprinzip angeben, nach dem sich die gesellschaftlichen Be-
ziehungen wandeln und einen Umsturz der Verfassungsordnung er-
fordern. Nur so wird die kontingente Tatsache der Revolution ge-
schichtsphilosophisch als notwendig erwiesen.
62 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

6. Metapl?Jsik als Geschichtsphilosophie

Die Begründung der Theorie des Rechts und Staats auf die Geschicht-
lichkeit menschlicher Lebensformen mündet also in die Geschichts-
philosophie (Rechtsphilosophie §§ 341-360, EniJklopädie §§ 548-552), in
der die Aufeinanderfolge von Staats- und Rechtsformen als Hervor-
treten und Selbstverwirklichung des objektiven Geistes konstruiert
wird. Die Geschichte der Formationswechsel, das heisst die Ge-
schichte der »welthistorischen Reiche«143, lässt die Staatsformen als
nicht-kontingente Erscheinungen des Weltgeistes, ihre Ablössung im
Prozess der Befreiung des Geistes zu sich selbst als Notwendigkeit
von Revolutionen erkennen. Von ihrem Schluss her gewinnt der An-
fang der Rechtsphilosophie mit den Bestimmungen des positiven Rechts
in § 3 sein Fundament.
Das Konzept der Weltgeschichte kann aber nicht wie der Begriff
des Rechts in § 2 »als gegeben aufgenommen«werden 144, es ist zu ent-
wickeln. Menschliche Geschichte, wie wir sie kennen, ist das Element,
in dem sich immer schon konstituierte Gesellschaften bewegen; und
die Konstitution von Gesellschaften vollzieht sich in der Ausbildung
ihrer Rechtsformen (Verkehrsformen).1 45 Die vor jeder Spezifikation
in verschiedene Gesellschaftsformationen liegenden, ihnen allen zu-
kommenden allgemeinen Bedingungen (Hegel sagt zuweilen: anthro-
pologische) sind es, aus denen das Werden des Rechts und der not-
wendige Verlauf der Geschichte deduziert werden müssen. In diesem
Sinne mag man von einer »Ontologie des gesellschaftlichen Seins«146
sprechen, die Hegels System zugrunde liegt. Diese hat ihren Kern
darin, dass sie die Geschichdichkeit des Menschen, die geschichdiche
Bewegung seiner »Fortbestimmung« (und das ist: des Fortschritts) aus
dem Naturverhältnis hervorgehen lässt und so die Kategorien der
Geschichdichkeit (als formbestimmend für und Bedingungen der
Möglichkeit von konkreter Geschichte) ableitet. Das unmittelbare Ob-
jekt des ersten Willensaktes ist der ein natürliches Bedürfnis befriedi-
gende Gegenstand oder Zustand: »Die Bestimmungen des Unter-
schieds, welcher der sich selbst bestimmende Begriff im Willen setzt,
erscheinen im unmittelbaren Willen als ein unmittelbar vorhandener
Inhalt - es sind die Triebe, Begierden, Neigungen durch die sich der Wille
in der Natur bestimmt findet.«147 Die handschrifdichen Notizen He-
gels hierzu werden noch deudicher: »Ich finde mich so und so be-
stimmt - habe diese Triebe - auch physische Bedürfnisse, Essen und
Trinken - muss, Notwendigkeit wie das Tier.«148 Die (modern ge-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 63

sprachen) condition humaine hat ihren ersten Daseinsgrund in der


animalischen Leib-Trieb-Verfassung des Menschen. Der Schritt über
das animalische Gegenstandsverhältnis (das sich im Wechsel von Be-
dürfnis und Genuss erschöpft) hinaus wird durch die Arbeit getan. Im
System der Sittlichkeit entwirft Hegel erstmals und bereits mit ge-
schichts-philosophischer Perspektive das Modell dieses Vermittlungs-
prozesses. Seine erste Stufe ist »das Aufgehobensein des ganz absolut
Identischen, Bewusstlosen, die Trennung - und diese Trennung als
Gefühl oder Bedüifnis«; auf der zweiten Stufe entsteht »die Differenz
gegen diese Trennung, welche Differenz aber negativ ist, nämlich eine
Vernichtung der Trennung (...) oder die Bemühung und die Arbeit«; auf
der dritten Stufe schliesslich resultiert »das Vernichtetsein des Objekts;
oder die Identität der bei den ersten Momente; bewusstes Gefühl, d. h.
eines, das aus der Differenz hervorkommt, Gmuss.«149 Die natürliche
Beziehung von Begierde und Genuss wird durch das Mittelglied der
Arbeit zu einer »geistigen«, nämlich verallgemeinerbar, weil die Befrie-
digung als Conclusio aus einer ersten Prämisse und einem Medium
konstruiert werden kann. Die Begierde verschwindet nicht mehr ein-
fach im Genuss (wobei beide in diesem Übergang singuläre Ereignisse
oder Zustände bleiben); sondern der Genuss wird dem Bedürfnis sub-
sumiert (und beide werden dadurch Glieder eines allgemeinen Ver-
hältnisses, das in der Arbeit, die die Subsumption vollzieht, »konstitu-
iert« wird). Der logisch-begriffliche Aspekt (die Subsumption) und
der praktisch-gegenständliche Aspekt (der Arbeitsvorgang) kongru-
ieren. lso
Die natürlichen, vor der Arbeitstätigkeit schon vorhandenen Be-
dürfnisse fallen noch ausserhalb der menschlichen Geschichte; sie blei-
ben als solche individuell (wenn sie auch gattungsspezifisch sein
mägen). Erst die Gattungstätigkeit, die in dem miteinander vermittel-
ten Tun der einzelnen allgemein wird, hebt den Menschen aus dem Na-
turgeschehen in die Gesellschaftsgeschichte. In den von Rosenkranz
überlieferten Fragmenten aus der Berner (Frankfurter?) Zeit gibt es
dazu eine aufschlussreiche Notiz: »Weil das Ganze einer Handlung, an
der jedem Handelnden nur ein Fragment zugehört, in so viele Teile zer-
splittert ist, so ist auch das ganze Werk ein Resultat aus so vielen Ein-
zelhandlungen. Das Werk ist nicht als Tat getan, sondern als gedachtes Resul-
tat. Das Bewusstsein der Tat als eines Ganzen ist in keinem der
Handelnden. Der Geschichtsschreiber erkennt es an den Resultaten und ist
auf das, was diese herbeiführt, schon im Vorhergehenden aufmerksam
gemacht.«ISI Hier wird die Arbeitsteilung als Ursprung des »Geistigen«
64 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

erkannt und damit für das Selbstbewusstwerden der Gattung ein histo-
rischer terminus ante quem angegeben.
Es wird noch einen langen Weg brauchen, bis Hegel von hier aus
zu einem Begriff von Geschichte und Gesellschaft gelangen wird, in
dem die produzierenden Individuen im Gattungsprozess so aufgeho-
ben sind, dass diese Aufhebung gerade erst den Sinn von Freiheit aus-
macht. Hier wird zunächst (durchaus auf dem Stande der National-
ökonomie seiner Zeit l52) das arbeitsteilige Produzieren noch auf die
individuellen Subjekte als, wenn auch fragmentarisch, Handelnde be-
zogen. Wohl aber erkennt Hegel schon, dass Arbeit zum bIossen Ver-
zehr des Produkts nicht weiterführen würde. »Wird das Objekt
schlechthin vernichtet«, so bleibt »dieser Genuss der rein sinnliche; die
Sättigung, welche die Wiederherstellung der Indifferenz und Leerheit
des Individuums ist (...) er ist bloss negativ, weil er auf die absolute Ein-
zelheit desselben und hiemit auf das Vernichten des Objektiven und
Allgemeinen geht.«153 Die Allgemeinheit und Dauer des Arbeits-
verhältnisses ist erst dann gegeben, wenn das Produkt in Besitz über-
geht. Diesen Übergang vom Verzehr zum Besitz konstruiert Hegel in
drei Schritten: »Die Beziehung des Subjekts auf das Objekt, oder die
ideale Bestimmung desselben durch die Begierde, das ist die Besitzer-
greifun&' - alsdann die reelle Vernichtung seiner Form, denn das Objek-
tive oder die Differenz bleibt, oder die Tätigkeit der Arbeit selbst, - end-
lich der Besitz des Produkts oder die Möglichkeit, es als ein (für sich
Reelles) sowohl durch eine erste Beziehung seiner Materie nach, als
durch die zweite der Vernichtung seiner Form und der Formgebung
durch das Subjekt, - zu vernichten, und zum Genusse, der aber ganz
ideell bleibt, überzugehen.«154
Hier hat Hegel das Argumentationsmuster ausgearbeitet, in dem
das individuelle Eigentum nun als ein universelles Menschenrecht er-
scheint. Der Mensch wird zum Menschen als gesellschaftliches, sich
selbst bestimmendes Wesen erst durch den Besitz, also durch die An-
eignung der gegenständlichen Inhalte seiner Zwecke. An dieser Aus-
gangsposition hat Hegel auch später insofern festgehalten, als er ein
»absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen« postuliert.1 55
Dies ist die Basis des abstrakten Rechts der bürgerlichen Gesellschaft,
dem die »nähere Bestimmung zugrunde liegt: Ich als Einzelner; - Ge-
meinschaft nur Willkür - So tritt jeder in den Staat - als Freier- (...) meine
Wirklichkeit ist Privateigentum.«156 Hiervon ausgehend, kann Hegel die
bürgerliche Gesellschaft nicht aufheben, indem er die Eigentumsver-
hältnisse umstürzen würde (denn diese sind ja notwendige Bedingung
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 65

der Konstitutierung von Personen), sondern er muss ihre Anarchie


durch die Organisation der Verkehrsverhältnisse qua Staats funktionen
bändigen; dies ist dieselbe Schranke, an die auch die Legislative des Re-
volutionskonvents gestossen ist. 157
In der begrifflichen Ausarbeitung aber geht Hege! einen Schritt wei-
ter: In der Arbeit erscheint das Verhältnis von Subjekt und Objekt als
ein zeitliches, während Bedürfnis und Genuss an sich zeitlos sind. Die
Totalität der Arbeit, an der jeder einzelne nur fragmentarisch teilhat und
die doch in jedem Fragment als der Grund seiner Wirklichkeit enthalten
ist, schafft die formelle Gleichheit aller Individuen und zugleich ihre Ent-
gegensetzung, insofern jeder einzelne eine vollkommene Individualität
ist; Rechtsgleichheit der Rechtspersonen bei individueller Verschieden-
heit der Ich-Subjekte ist eben jenes Konzept von Rechtsstaatlichkeit,
das die Legislative der Französischen Revolution leitete. Hegel erkennt,
dass ein solcher Rechtszustand ein in sich bewegter sein muss, weil er
die institutionelle Form der gesellschaftlichen Bewegung der Arbeit dar-
stellt: »Die Totalität der Arbeit aber ist die vollkommene Individualität
und damit Gleichheit der Entgegengesetzten, worin das Verhältnis ge-
setzt und aufgehoben ist, in der Zeit erscheinend alle Augenblicke ein-
tritt und in das Entgegengesetzte umschlägt.«158 »Die allgemeine Wech-
selwirkung und Bildung der Menschen« ist die Erscheinungsform der
Arbeitsteilung, und die gesellschaftlich interagierenden Individuen sind
die wirklichen Träger dieses Verhältnisses. Daher kann das Prinzip der
Wechselwirkung nur gegenseitige Anerkennung in Freiheit sein - die
Utopie eines Staates von freien und gleichen Brüdern: »Ein Anerken-
nen, das gegenseitig ist, oder die höchste Individualität und äusserste
Differenz.«159 Das Problem der Anerkennung, das dann in der Phäno-
menologie des Geistes eine Leitfunktion bekommt und zur Dialektik von
Herrschaft und Knechtschaft führt, taucht hier vor dem Horizont des
Bürgerrechtsverständnisses der Französischen Revolution auf.
Hegel aber bleibt schon 1801 nicht bei der Utopie stehen. Aner-
kennung des anderen heisst gegebenenfalls eigene Unterwerfung. Frei-
heit und Gleichheit bleiben abstrakt, gerade weil sie als formelles Ver-
hältnis von real ungleichen Individuen bestehen. Vielmehr muss deren
real-allgemeines Verhältnis bestimmt werden. »Wo Mehrheit der Indivi-
duen ist, ist ein Verhältnis derselben; und dies Verhältnis ist Herrschaft
und Knechtschaft, die unmittelbar der Begriff selbst dieses Verhältnis-
ses ist, ohne Übergang und Schluss, als ob noch sonst irgendein Grund
aufzuzeigen wäre C...) Die Gleichheit ist nichts anderes als die Abstrak-
tion, und der formelle Gedanke des Lebens, der ersten Potenz, der
66 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

bloss ideell und ohne Realität ist. In der Realität ist hingegen die Un-
gleichheit des Lebens gesetzt, und damit das Verhältnis von Herrschaft
und Knechtschaft.«16o Anerkennung des anderen als Individuum (und
d. h. als Privatperson = Eigentümer) bedeutet Gehorsam nicht gegen
das Allgemeine und Gesetz, sondern gegen das Besondere )>Und des-
wegen ist es hier ein Verhältnis der Knechtschaft, denn die Knecht-
schaft ist der Gehorsam gegen Einzelnes und Besonderes.«161 Die Bin-
dung an die Besonderheit eines Zustands ist aber zugleich die
Herausforderung, diese Besonderheit im Verhältnis zur Allgemeinheit
aufzuheben, »in das Entgegengesetzte umzuschlagen«, also das Beste-
hende umzustürzen. Das Prinzip der dialektischen Bewegung selbst
enthält das Moment der Revolution. »Die absolute Bewegung oder der
Prozess des sittlichen Lebens« ist »die Differenz des Allgemeinen und
Besonderen, aber zugleich die Aufhebung derselben.«162 Diese Bewe-
gung wird gelenkt durch die Organisation der Arbeit zur Befriedigung
des Systems der Bedürfnisse und vollzieht sich, als Totalität, über die
individuelle Tätigkeit hinweg. »Keiner ist für die Totalität seines Be-
dürfnisses für sich selbst. Seine Arbeit oder, welche Weise des Vermö-
gens der Befriedigung seines Bedürfnisses, sichert ihm nicht diese Be-
friedigung. Es ist eine fremde Macht, über welche er nichts vermag,
von welcher es abhängt, ob der Überfluss, den er besitzt, für ihn eine
Totalität der Befriedigung ist. Der Wert desselben, d. h. dasjenige, was
die Beziehung des Überflusses auf das Bedürfnis ausdrückt, ist unab-
hängig von ihm und wandelbar.«163
So verschwinden die abstrakten, metaphysischen Bestimmungen
des Menschen als anthropologische im Prozess der Arbeit und der Ar-
beitsteilung. Sie werden transformiert in die geschichtsphilosophi-
schen Kategorien, die in der Fortbestimmung des Begriffs der Freiheit
den Prozess der Befreiung, d. h. Selbstverwirklichung des Geistes er-
fassen. Im .'iJstem der Sittlichkeit finden wir die Rohfassung dieser kate-
gorialen Transformation, die aus der philosophischen Anthropologie
(als Teil der Metaphysica specialis) die Geschichtsphilosophie (als Prin-
zip der Politik) hervorgehen lässt. Die Vorlesungen zur philosophi-
schen Weltgeschichte werden dieses Programm einlösen in der Entfal-
tung der Revolutionskategorie Veränderung, der Reformkategorie Verjüngung
und der Totalitätskategorie End'{!JJeck/Vernunftl64, nach denen der Ge-
schichtsverlauf erkannt wird. Diese Erkenntnis »sieht in dem Entste-
hen und Vergehen das Werk, das aus der allgemeinen Arbeit des Men-
schengeschlechts hervorgegangen ist, ein Werk, das wirklich in der
Welt ist, der wir angehören.«165
Hegels Metaphysik~Kritik als Reflex der Französischen Revolution 67

Zwar heisst Hegels Rechtsphilosophie im Nebentitel auch noch oder


Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, obwohl sie doch gerade
die Transformation eines auf die anthropologische Natur des Men~
schen gegründeten Rechts~Postulats in einen durch die gesellschaft~
lich~geschichtliche Tätigkeit der Menschen vermittelten Rechts~ Begriff
vorgenommen hat. In dem von Gans der Vorrede zur Rechtsphilosophie
inserierten Zusatz aus der Vorlesung von 1822/23 steht unmissver~
ständlich: »Es gibt zweierlei Arten von Gesetzen, Gesetze der Natur
und des Rechts (00') Um zu wissen, was das Gesetz der Natur ist, müs~
sen wir dieselbe kennenlernen, denn diese Gesetze sind richtig; nur
unsere Vorstellungen davon können falsch sein. Der Massstab dieser
Gesetze ist ausser uns (00') Die Rechtsgesetze sind Geset::::!es, vom Men~
schen Herkommendes (00') Seine Vernunft muss dem Menschen im Rechte
entgegenkommen (00') Der wahrhafte Gedanke ist keine Meinung über
die Sache, sondern der Begriff der Sache selbst. Der Begriff der Sache
kommt uns nicht von der Natur.«!66 Schon im Naturrechtsaufsatz von
1802 war das allgemeine ontologische Verhältnis, aus dem das Recht
seine besondere Seinsweise herleitet, als die Natur übersteigend und ihr
überlegen charakterisiert worden: »Wenn das Absolute das ist, dass es
sich selbst anschaut, und zwar als sich selbst, und jene absolute An~
schauung und dieses Selbsterkennen, jene unendliche Expansion und
dieses unendliche Zurücknehmen derselben in sich selbst schlechthin
eins ist, so ist, wenn beide Attribute reell sind, der Geist höher als die
Natur; denn (00') so ist der Geist (00') in dem Zurücknehmen des Univer~
sums in sich selbst sowohl die auseinandergeworfene Totalität dieser
Vielheit, über welche er übergreift, als auch die absolute Idealität der~
selben, in der er dies Aussereinander vernichtet und in sich als den un~
vermittelten Einheitspunkt des unendlichen Begriffs reflektiert.«167
Die Natur ist nur wirklich in der extensionalen Mannigfaltigkeit der
Materien; die Naturgesetze sind die Formulierung dieses extensionalen
und als solchen existierenden Verhältnisses. Im vernünftigen Begreifen
der extensionalen Verhältnisse als solcher der setzenden, äusseren und
bestimmenden Reflexion 168 werden diese in den Prozess der Selbstbe~
stimmung und Fortbestimmung des Begriffs, also in die Idealität der
intensionalen Einheit des die Mannigfaltigkeit enthaltenden Begriffs
überführt; das bedeutet, dass im Werden der Begriffe ihre geschichtli~
che Vielheit und Unterschiedenheit ebenso bewahrt wie durch die spe~
kulative Einheit des Absoluten übergriffen wird und also die Prozes~
sualität des »Verhältnisses der Substanz«169 als eine reflektierte
hervorkommt (was Hegel mit dem Terminus »Geist« benennt). Inso~
68 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

fern sind die natürlichen Bedingungen der gesellschaftlichen Tätigkeit


der Menschen - ihre Leiblichkeit und die ihr entsprechende Basis-
schicht des »Systems der Bedürfnisse« - zwar der reale Ausgangspunkt
der Ausbildung eines Rechtszustands; aber wirklich wird dieser erst in
der Vermittlung von Bedürfnis und Genuss durch die Arbeit und die
aus ihr entspringende institutionelle Aneignungsform des Eigentums
(statt des biossen Verzehrs). Die metaphysischen Setzungen der »natürli-
chen Aprioris« des Naturrechts werden zu geschichtlichen Setzungen der
Gattungstätigkeit des Menschen und damit zu veränderlichen Momen-
ten als Korollarien des Entwicklungsgangs dieser Tätigkeit. Was im Na-
turrecht das »Festwerden und Isolieren der einzelnen Prinzipien und
ihrer Systeme« war, stellt sich nun »als die Geschichte der sittlichen To-
talität dar, in welcher sie in der Zeit, fest in ihrem Gleichgewicht zwi-
schen den Entgegengesetzten auf und nieder schwankt (...) und alle in
ihrer Trennung an ihre Zeidichkeit und Abhängigkeit erinnert.«170
Aber die Ablösung der Rechtssysteme im Verlauf der Geschichte ist
nicht beliebig und führt auch nicht zu einem historischen Relativismus,
sondern ist die Folge der Tatsache, dass die Menschen zwischen ihre
Bedürfnisse und deren Befriedigung das von ihnen selbstgeschaffene
Reich der Mittel schieben 17 1, durch das sie ihr Schicksal selbst nach
Zwecken bestimmen können. In der durch das Mittel auf die Ebene
der Selbsterkenntnis gehobenen Reflexion wird der Mensch dem Prin-
zip nach frei - und damit erst Mensch -, und diese Freiheit entfaltet
sich in der »Fortbestimmung« des Reflexionsverhältnisses, also in der
Iteration der Vermittlungen oder der Fortentwicklung der Mittel. So
heisst es schon im »System der Sittlichkeit«: »Diese Mitte ist das Werk-
zeug (...) Nach einer Seite ist es subjektiv, in der Gewalt des arbeitenden
Subjekts, und ganz bestimmt durch dasselbe, zubereitet und bearbeitet,
nach der andern objektiv gegen den Gegenstand der Arbeit gerichtet
(...) Im Werkzeug macht das Subjekt eine Mitte zwischen sich und das
Objekt, und diese Mitte ist die reale Vernünftigkeit der Arbeit (...) zu-
gleich hört seine Arbeit auf, etwas Einzelnes zu sein; die Subjektivität
der Arbeit ist im Werkzeug zu einem Allgemeinen erhoben; jeder kann
es nachmachen und ebenso arbeiten; es ist insofern die beständige
Regel der Arbeit.«l72
Hier ist die Beziehung auf die Vernünftigkeit ausgesprochen, die
dann in der Wissenschaft der Logik im Verhältnis von Zweck und Mittel
ausgeführt wird.!73 Die Formen, in denen die Vermittlungsprozesse
gesellschaftlich institutionalisiert werden, sind also wandelbar, weil sie
Momente (aber eben auch nur Momente) der Vernunft sind, und sie sind
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 69

vernünftig, indem (und nur indem) sie wandelbar sind. In jeder Phase
der Rechtsgeschichte, d.h. in jeder positiven Rechtsordnung ist die Ver-
nunft der »sittlichen Totalität« repräsentiert, und eben die latente An-
wesenheit des Ideals der ganzen Menschheitsgeschichte, die Tendenz
zum Fortschritt, bewirkt zugleich die Tendenz zur Aufhebung jeder
(endlichen) Positivität. »Denn nach der Notwendigkeit muss die Tota-
lität als Bestehen der auseinandergeworfenen Bestimmtheiten an ihm
sich darstellen und das einzelne Glied der Kette, unter dem es in der
Gegenwart gesetzt ist, vorübergehen und ein anderes eintreten.«174 An
die Stelle der unwandelbaren Axiome des Naturrechts tritt - ebenso-
sehr gegen einen historistischen oder positivistischen Relativismus
oder gar Dezisionismus gewendet - die Geschichtlichkeit des Ver-
nunftrechts. Und wieder kann man feststellen, dass der Anstoss zu die-
sem theoretischen Konzept aus der politischen Einsicht in die Unhalt-
barkeit bloss gewordener Zustände gekommen ist. In der Abhandlung
über die württembergische Magistratsverfassung heisst es 1798: »Die
ruhige Genügsamkeit an dem Wirklichen, die Hoffnungslosigkeit, die
geduldige Ergebung in ein zu gros ses, allgewaltiges Schicksal ist in
Hoffnung, in Erwartung, in Mut zu etwas anderem übergegangen. Das
Bild besserer, gerechterer Zeiten ist lebhaft in die Seelen der Menschen
gekommen, und eine Sehnsucht, ein Seufzen nach einem reineren,
freieren Zustande hat alle Gemüter bewegt und mit der Wirklichkeit
entzweit (...) Allgemein und tief ist das Gefühl, dass das Staatsgebäude,
so wie es jetzt noch besteht, unhaltbar ist (...) Wie blind sind diejenigen,
die glauben mögen, dass Einrichtungen, Verfassungen, Gesetze, die
mit den Sitten, den Bedürfnissen, der Meinung der Menschen nicht
mehr zusammenstimmen, aus denen der Geist entflohen ist, länger be-
stehen, dass Formen, an denen Verstand und Empfindung kein Inter-
esse mehr nimmt, mächtig genug seien, länger das Band eines Volkes
auszumachen!«175
Dem Überlebten können auch keine Reform oder, mit Hegels Wor-
ten »keine grosssprechende Pfuschereien wieder Zutrauen verschaf-
fen«, im Gegenteil, sie »bereiten einen viel fürchterlicheren Ausbruch,
in welchem dem Bedürfnisse der Verbesserung sich die Rache beige-
sellt und die immer getäuschte, unterdrückte Menge an der Unredlich-
keit auch Strafe nimmt.«176 Der revolutionäre Ton ist unverkennbar, er
gewinnt Nachdruck dadurch, dass dieses Manuskript-Fragment über-
schrieben ist »An das Württembergische Volk«. Die Beziehung zur
Französischen Revolution wird ausdrücklich hergestellt: »Für die Men-
schen von besseren Wünschen, von reinerem Eifer wäre es besonders
70 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Zeit, ihrem unbestimmten Willen die Teile der Verfassung vorzuhalten,


welche auf Ungerechtigkeit gegründet sind, und auf die notwendige
Veränderung solcher Teile ihre Wirksamkeit zu richten.«177 Die Her-
ausforderung des philosophischen Denkens durch die politischen
Umwälzungen seiner Zeit hat Hegel angenommen; an ihr misst sich
seine systematische Intention. Die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes
spricht das aus: »Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins
und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangen-
heit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung.«178
Vor einer Wirklichkeit, die in jähem Umsturz zu neuen Bestimmungen
ihres Seins fortschreitet, versagte die traditionelle Metaphysik der un-
veränderlichen Wesenheiten. Es galt, die Logik der geschichtlichen
Veränderungen aufzudecken. Damit aber wurde die Philosophie in
ihrem Kern politisch. 179
Dem Politischwerden der Philosophie entspricht das Philoso-
phischwerden der Politik. Marx hat das am Ende seiner Kritik der He-
gelsehen Reehtsphilosophie. Binleitung deutlich und mit revolutionärer Kon-
sequenz ausgesprochen. Die Überlegenheit von Hegels Reehtsphilosophie
gegenüber dem »Empirismus« der rechtshistorischen und -positivisti-
schen Schulen lag darin, dass sie die aus der Metaphysik in die Dialek-
tik transponierte Kategorie der Totalität zum Instrument des Begrei-
fens der Rechtsgeschichte und ihrer revolutionären Momente machte
und so den gesellschaftlichen Wandel als die organische Bewegung
einer im Vielen sich manifestierenden Einheit begreifen konnte: »Wenn
so das absolut Sittliche seinen eigentümlichen organischen Leib an den
Individuen hat und seine Bewegung und Lebendigkeit im gemeinsamen
Sein und Tun aller absolut identisch als Allgemeines und Besonderes ist
(...), so muss es auch in der rorm der Allgemeinheit und der Erkenntnis, als
~stem der Geset:;:gebung sich vorstellen.«180 Diese absolute Norm des Sy-
stems der Gesetzgebung erfüllt sich indessen nur im spekulativen Be-
griff des Rechts; jede zeitliche, geschichtliche Wirklichkeit bleibt hinter
ihr zurück, weil sie eben nicht die Totalität ist, sondern nur spekulativ
auf sie verweist. (In der daseienden, präsenten Totalität wäre die Be-
wegung zum Stillstand gekommen, weil alle Prädikate des geschichtli-
chen Subjekts darin wirklich wären). Die nicht metaphysisch gefasste
Totalität aber ist »die absolute Bewegung oder der Prozess des sittlichen
Lebens«; in ihr zeigt sich »die Differenz des Allgemeinen und Beson-
deren und wie über ihr das absolut Allgemeine ist und sie ewig aufhebt
und produziert, oder das Absolute subsumiert unter den absoluten Be-
griff (...) Diese in die Entfaltung aller Potenzen sich erstreckende und
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 71

diese Entfaltung eigentlich erst setzende und hervorbringende Bewe-


gung muss in diesen dargestellt werden; und da das Wesen dieser Po-
tenz die Differenz des Allgemeinen und Besonderen ist, aber zugleich
die Aufhebung derselben, und diese organische Bewegung Realität
haben muss, die Realität aber des Allgemeinen darin besteht, dass es als
eine Menge von Individuen besteht, so ist dieser Gegensatz so zu er-
kennen, wie das Allgemeine real, oder in Händen von Individuen ist,
dass diese in Wahrheit (...) in der Trennung eine solche Bewegung neh-
men, dass durch sie die Besonderung unter das Allgemeine subsumiert
und ihm schlechthin gleich wird.«181 Weil nun das Allgemeine real
immer in Händen von Individuen ist, die zwar durch das System von
Recht und Staat in seiner jeweils historisch verwirklichten Allgemein-
heit als diese oder jene bestimmte Ordnung dem Allgemeinen subsu-
miert sind, aber doch ihre partikularen Bedürfnisse und Interessen zu
befriedigen streben, bleibt das jeweils wirkliche Recht immer ein Be-
sonderes, und nur in der absoluten Bewegung fallen Besonderes und
Allgemeines zusammen. Das bedeutet aber, dass eben jede bestimmte
Rechtsordnung in dieser Bewegung wieder verschwinden muss. Die
Aufhebung der Metaphysik in der Dialektik begründet die Revolution
in der zeitlichen Verfasstheit des Seins.

7. Der Sinn der Metaphysik-Kritik

Der Grund, aus dem Hegels Metaphysik-Kritik erwächst, wird nun er-
kennbar. Ihrem Gegenstand nach - als Theorie der Totalität von Welt
und des vernünftigen Verhaltens der Menschen in ihr und zu ihr - ist
die Metaphysik eine Wissenschaft von den Prinzipien des Werdens, der
Veränderung; denn die Welt ist in keinem erfahrbaren Augenblick die
ganze, abgeschlossene Wirklichkeit. Der Begriff von Welt schliesst ihre
Zeitlichkeit mit ein; schon Leibniz hat das erkannt, wenn er sagte, »dass
die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergan-
genheit beladen ist.«182 Nichts anderes besagen auch die letzten Passa-
gen der Phänomenologie des Geistes, wenn es zum Beispiel dort heisst,
dass der Geist »sein reines Selbst als die Zeit ausser ihm und ebenso
sein Sein als Raum« anschaue. Der Geist in seiner Extensionalität ist
die Natur, und diese »ist sein lebendiges unmittelbares Werden (...)
und die Bewegung, die das Subjekt herstellt.«183 Ist also die Metaphy-
sik das Denken des Anderswerdens oder das Denken des Seins im
Horizont der Zeit (die Zeitlichkeit des Seins), so ist sie, das Verhalten
72 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

der Menschen in der Welt und zu deren objektiven Prozessen bestim-


mend, ihrem Begriff nach die Theorie der Revolution. Joachim Ritter
hat recht, wenn er sagt: »Hegel setzt die traditionelle metaphysische
Theorie unmittelbar und als diese mit der Erkenntnis der Zeit und der
Gegenwart gleich. Die Philosophie als Erkenntnis des Seins ist zugleich
>ihre Zeit in Gedanken erfasst«<, und dann fortfährt: »Hegel reflektiert
nicht allgemein auf die Geschichtlichkeit der Philosophie und des Gei-
stes überhaupt, er will den gegenwärtigen Vollzug der Metaphysik be-
stimmen. Sie kann für ihn dann und nur dann Erkenntnis des Seins
bleiben, wenn sie zugleich Erkenntnis der eigenen Zeit ist.«184 Sorgsam
hebt Ritter nun im folgenden Hegels Begriff der Gegenwart von dem
der traditionellen Metaphysik ab. Diese denkt nämlich aristotelisch Ge-
genwart und Ewigkeit in eins, die Bestimmungen des Seins als das
»jetzt und vor alters und immer Gesuchte« (Arist. Met. VII, 1) oder »das
Ewige, das gegenwärtig ist« (Hegel, Rechtsphilosophie, Vorrede); aber bei
Hegel verschiebt sich der Sinn, indem die Gegenwärtigkeit des Ewigen,
also gerade seine geschichtliche Manifestation nicht eine überzeitliche
Abstraktion, sondern der wirkliche Gegenstand der Philosophie ist.
Der Rede vom »Ewigen, das gegenwärtig ist« geht nämlich die ironi-
sche Zurückweisung des subjektiven Bewusstseins voraus, »das die Ge-
genwart für ein Eitles ansieht, über sie hinaus ist und es besser weiss«;
und es folgt die berühmte Stelle: »Was das Individuum betrifft, so ist
ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit, so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in
Gedanken erfasst.«185 Das Neue an Hegels Auffassung vom Verhältnis
der Philosophie zur Gegenwart besteht also gerade »in der Gleichset-
zung des philosophischen Gedankens mit dem Gedanken der Zeit (...)
er stellt die Frage, wie die Seinsgegenwart in dem gegenwärtigen Zeit-
alter gefunden und als seine Wahrheit begriffen werden kann.«186 Die
Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Geistes - in dieser Prägnanz von
Herder vorgetragen - lässt eine Rezeption des traditionellen Begriffs
des Absoluten nicht mehr zu. Ein neuer Begriff des Absoluten - jener
zu verändernde Massstab des Wissens (s.o.) - muss vielmehr aus dem
Verhältnis des jeweils gegenwärtigen Zeitalters zur Geschichte und der
im geschichtlichen Wissen autbewahrten Inhalte gewonnen werden.
Hegel zieht aus dieser Einsicht die Konsequenz, indem er die Philoso-
phie »herbeiruft und ihre Theorie zur Theorie der Zeit und der sich in
ihr vollziehenden Umwälzung macht.«187
Die Metaphysik ist also, ihrem Begriffe nach als Theorie des ge-
genwärtigen Zeitalters, Theorie der Revolution; sie muss dies sein,
wenn sie das Sein im Horizont der Zeitlichkeit auslegt. Sie reflektiert
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 73

nicht nur die Veränderung, sondern das Prinzip der Veränderlichkeit


und Veränderbarkeit des Seienden, das Sein als Werden. 188 Sie zeigt die
Unbeständigkeit (oder Nichtigkeit) des Bestehenden vor der Vernunft.
Die Metaphysik ist der Begriff der Revolution, der Begriff der Negativität im
Positiven. Die wirkliche Revolution aber ist die tätige Negation der bestehenden
Wirklichkeit. Die Allgemeinheit des Begriffs der Negativität wird in ihr
zur Singularität des Ereignisses, der Tat. (Hier liegt die relative Wahr-
heit der Philosophie Fichtes, und die Bestimmung des Verhältnisses
von Fichtes Theorie des Setzens zu Hegels Theorie der Fortbestim-
mung des Begriffs und insbesondere der dreifachen Entfaltung der
Reflexion müsste im Hinblick auf die philosophische Erfassung der
geschichtlichen Bewegung der Französischen Revolution weitere
Einsichten bringen). Genau diesem Übergang von der Allgemeinheit
des Begriffs zur Singularität der Tat kann aber das reine Denken in der
Form der klassischen Metaphysik nicht gerecht werden. Denn die logi-
sche Form des Denkens ist immer affirmativ (auch wo die Negation
gesetzt wird) und drückt gerade die Auflösung der Positivität im reinen
Elemente des Negativen nicht aus. Sie ist zwar jeder kritischen Philo-
sophie überlegen, weil sie die Einheit von Denken und Sein nicht zer-
spaltet: »Diese Wissenschaft betrachtete die Denkbestimmungen als
die Grundbestimmungen des Dings; sie stand durch diese Voraussetzung,
dass das, was ist, damit dass es gedacht wird, an sich erkannt werde, höher
als das spätere kritische Philosophieren.«189 Aber sie bleibt, wie es im
Zusatz zu diesem Paragraphen ausgeführt wird, gerade vor ihrem ei-
gentlichen Problem, die Totalität als Prozess zu begreifen, durch ihre
Bindung an die Denkbestimmungen der formalen Logik stehen: »Die
Denkbestimmungen, so wie sie sich unmittelbar, vereinzelt vorfinden,
sind endliche Bestimmungen. Das Wahre ist aber das in sich Unendliche,
welches durch Endliches sich nicht ausdrücken und zum Bewusstsein
bringen lässt.«190
Gerade in der Systemform, die Christian Wolff der Metaphysik
gegeben hatte, wird dieser Mangel definitiv. Wolff hatte nämlich,
indem er »die Philosophie als Wissenschaft des Möglichen, insofern
es möglich ist, betrachtete, den Satz des Widerspruchs zum höchsten
Princip aller Erkenntniss machte, Begriffe und Nominaldefinitionen
an die Spitze der Wissenschaften stellte«191, die Metaphysik ganz an
die Bestimmungen der bIossen Denkmöglichkeit (als Widerspruchs-
freiheit) geknüpft und sie - damit Kant vorbereitend - auf die Ur-
teils form der definitionswissenschaftlichen, klassifikatorischen Wirk-
lichkeitsbeschreibung eingeschränkt; das bedeutete, dass die Begriffe
74 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

der Metaphysik als fixe behandelt werden, das »Sein im allgemeinen


oder insofern es seiend ist« vom Werden abgetrennt blieb. l92 Da
Wolff indessen für seine Zeit - wie Hegel rühmend bemerkt - »der
Philosophie die systematische und gehörige Einteilung in Fächer ge-
geben«, so ist seine Darstellungsweise, »ein Philosophieren, welches
das Absolute und Vernünftige durch sich ausschliessende Verstan-
desbestimmungen und Verhältnisse (...) bestimmt«193, zum Paradigma
für die metaphysische Behandlung der Vernunftgegenstände gewor-
den; Wolffs Bemühen, in der Gliederung und den Inhalten der Meta-
physik sich so weit als möglich an die Schultradition anzuschliessen 194,
liess dabei die im Fortgang von Descartes zu Leibniz gewonnenen An-
sätze der Dialektik wieder versanden. So blieb die Metaphysik in ihrer
Lehrbuchgestalt an die Verfahren des verständigen Denkens gebun-
den. »Die verständige Behandlung ist dies, dass jede Gedankenbestim-
mung für sich festgehalten wird«l95 - was in der Konsequenz zu Kants
Antinomienlehre führen muss. Kants Vorwurf, dass die Metaphysik ein
Terrain besetzt halte, für das sie unzuständig sei, trifft mithin die Schul-
philosophie seiner Zeit zu Recht; allerdings überschreitet auch er,
indem er sich an die Urteils form als konstitutiv für das Denken bindet,
die Grenzen der Verstandestätigkeit nicht und kann von daher die Dia-
lektik nur als »Logik des Scheins« qualifizieren. So muss Kant zwar zu-
geben: »Die Metaphysik ist nothwendig. Ihr Grund ist die durch empi-
rische Begriffe niemals zu befriedigende Vernunft«. Er behauptet nun
aber ohne Umschweife: »Alle Erkenntnis besteht aus Urtheilen; d. h.
ich muss eine Vorstellung als Prädicat auf ein Subject beziehen«; und
er legt dieser Beziehung die urteils theoretische Version des Satzes
vom verbotenen Widerspruch axiomatisch zugrunde: »nulli subiecto
competit praedicatum ipsi oppositum (...) Das Principium contradic-
tioms ist ein Criterium der Wahrheit, dem keine Erkenntniss wider-
streiten darf.«l96 Von dieser Voraussetzung her wird Metaphysik nun
allerdings unmöglich und muss transzendentalphilosophisch in Er-
kenntnistheorie aufgehoben werden; oder wie Hegel drastisch von
Kant sagt: »Der Idee kann kein kongruierender Gegenstand in der
Sinnenwelt gegeben werden. Es kommt darauf an, wie man die Welt
ansieht; aber die Erfahrung, Betrachtung der Welt heisst Kant nie
etwas anderes, als dass hier ein Leuchter steht, hier eine Tabaksdose.
Das ist nun allerdings richtig; das Unendliche ist nicht in der Welt, in
der sinnlichen Wahrnehmung gegeben. Und vorausgesetzt, was wir
wissen, sei Erfahrung, ein Synthetisieren von Gedanken und Ge-
fühlsstoffen, so kann allerdings das Unendliche nicht erkannt werden,
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 75

in dem Sinne, dass man eine sinnliche Wahrnehmung davon hat.«197


Und Hegel resumiert: »Dies ist vollendete Verstandesphilosophie, die
auf Vernunft Verzicht tut; sie hat sich so viele Freunde erworben
wegen des Negativen, auf einmal von dieser alten Metaphysik befreit
zu sein«, allerdings mit dem Stossseufzer: »Trostlose Zeit der Wahr-
heit, wo vorbei ist alle Metaphysik, alle Philosophie, - nur Philoso-
phie gilt, die keine ist!«198
In seiner Pedanterie hat Wolff radikal sichtbar gemacht, was den
inneren Widerspruch im Herzen der klassischen Metaphysik aus-
machte: die Bindung ihres Vernunftbegriffs an den der formalen
Logik. Die Metaphysik denkt demzufolge in Identitäten, sie verbietet
den Widerspruch, sie setzt den Ausschluss des Dritten. (Dass Leibniz
einen Ansatz zur Fundierung der Metaphysik in spekulativer statt in
formaler Logik machte, wurde nicht rezipiert). So konnte die Meta-
physik ihrem eigenen Anspruch, die Theorie der Welt im ganzen, die
Theorie der Totalität zu sein, nicht gerecht werden; denn das Ganze
ist nur in der Zeit, mithin als Werden, wirklich das Ganze - An-
ders-sein-können und Anders-werden ist das geschichtliche Wesen
des Seins. Das war das theoretische Resultat der Revolution, dem sich
die Philosophen - ob progressive oder konservative - zu stellen hat-
ten. Selbst noch der späte Schelling geht von dieser Erfahrung aus
(wenn er sie dann auch fideistisch wendet): »Da aber das Gegenwär-
tige, abgeschnitten von der Vergangenheit, nicht eigentlich begriffen
werden kann, ist insofern die wirkliche Erkenntnis der Gegenwart nur
möglich, wenn sie im Zusammenhang mit der Vergangenheit be-
trachtet wird. Dasselbe gilt von der Zukunft (...) Indem die Gegen-
wart bereits den Keim der Zukunft in sich trägt, ist sie nicht erkenn-
bar ohne die Zukunft (...) Das ganze Gebäude der Zeit muss bis auf
den Grund abgetragen werden, um es zu begreifen.« Die Metaphysik
habe dieses Destruktionswerk nicht zu Ende vollzogen; der Begriff
der einen Welt, der einen Substanz verkehre die tatsächliche in eine lo-
gische Folge: »Das Successive meines Denkens hebt sich im Gegen-
stande meines Denkens selbst wieder auf. Es ist kein wirkliches Ge-
schehen, durch welches A zu B fortgeht; es ist in dieser Folge nichts
Geschichtliches. Ein geschichtlicher Zusammenhang fordert also eine
wirkliche Succession im Gegenstande, nicht bloss in meinem Denken.
Der Zusammenhang zwischen A und B muss durch ein wirkliches Ge-
schehen vermittelt sei.«199 Die wirkliche Revolution ist die Negation
der bestehenden Wirklichkeit, nicht nur ihre Aufhebung als Moment
in der Totalität des absoluten Begriffs. 2DD
76 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Der Begriff der Revolution, die Theorie des Anders-werdens, darf


nicht im Begriff der Totalität, im Gegenstand der metaphysischen
Theorie untergehen. Das Konzept der Zeitlichkeit muss radikal durch-
gehalten werden. Dies also, dass die Metaphysik, konsequent »zu
Ende« gedacht, »zu Grunde« gehen muss, ist die Stossrichtung der He-
gelschen Metaphysik-Kritik. Sie bestimmt die Argumentation der §§ 26
- 36 der EniJiklopädie in drei Schritten.
1. Schritt (§ 28). Der Vorwurf, mit dem Hegel die Metaphysik-Kritik
beginnt (und der schon deren zentraler Punkt ist), richtet sich auf die
Urteils form des metaphysischen Denkens. Sie bezog nämlich die
Denkbestimmungen (als einzelne und bestimmte) derart auf ihren
Gegenstand, als ob »die Erkenntnis des Absoluten in der Weise ge-
schehen könne, dass ihm Prädikate beigelegt werden«. Von solchen Prädi-
katen gilt aber: »Die Denkbestimmungen, so wie sie sich unmittelbar,
vereinzelt vorfinden, sind endliche Bestimmungen. Das Wahre aber ist
das in sich Unendliche, welches durch Endliches sich nicht ausdrücken
und zum Bewusstsein bringen lässt.«201 Nun wäre es aber gerade die
Aufgabe der Metaphysik, an ihrem Gegenstand die Fixierung auf das
hic et nunc Bestimmte aufzulösen, also die festen Denkbestimmungen
wieder zu »verflüssigen«. Dagegen ist es die Aufgabe des Verstandes,
das Einzelne in diesem oder jenem Augenblick in dieser oder jener Be-
ziehung als solches in seiner Endlichkeit festzuhalten und damit über-
haupt erst Erkenntnis zu ermöglichen. Aber »das Endliche besteht (...)
in Beziehung auf sein Anderes, welches seine Negation ist und sich als
dessen Grenze darstellt<<202 und ist also gerade nicht das Absolute und
Wahre. Die Metaphysik verfährt nun so, dass sie ihren Gegenstand, das
Absolute, durch Prädikamente des endlichen Denkens kennzeichnete
(und Hegel dachte dabei wohl ebensosehr an Spinoza wie an Wolff).
Das heisst, »sie nahm die abstrakten Denkbestimmungen unmittelbar
auf und liess dieselben dafür gelten, Prädikate des Wahren zu sein (...)
Aber Vernunftgegenstände können durch solche endliche Prädikate
nicht bestimmt werden, und das Bestreben, dies zu tun, war der Man-
gel der alten Metaphysik.«203 Die hier kritisierte Metaphysik ist, wie die
Ausführungen in der Phänomenologie zeigen, für Hegel identisch mit der
Aufklärung (also mit der Philosophie der Französischen Revolution),
von der er sagt: Sie ist »als absoluter Begriff ein Unterscheiden von Un-
terschieden, die keine mehr sind, von Abstraktionen oder reinen Be-
griffen, die sich selbst nicht mehr tragen, sondern nur durch das Ganze
der Bewegung Halt und Unterscheidung haben (...) Denn weil dies reine
Selbstbewusstsein die Bewegung in reinen Begriffen, in Unterschieden
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 77

ist, die keine sind, so fällt es in der Tat in das bewursslose Weben, d.i.
das reine Fühlen oder in die reine Dingheit zusammen.«204 Gegen jede
solche Verstandesansicht gilt aber der auch schon in der Phänomenologie
formulierte Einwand: »Ihr Unrecht besteht darin, solche abstrakte For-
men, wie dasselbe und nicht dasselbe, die Identität und Nichtidentität, für
etwas Wahres, Festes, Wirkliches zu nehmen und auf ihnen zu beru-
hen. Nicht das eine oder das andere hat Wahrheit, sondern eben ihre
Bewegung.«205 Hegel setzte dann in der Wissenschaft der Logik die Dia-
lektik als die Auflösung der Bestimmungen im Prozess der »Fortbe-
stimmung des Begriffs«206 und damit das Verfahren, die Konstruktion
des Ganzen durch die logische Form der Bewegung der Geschichte zu
vollziehen (weshalb dann die absolute Idee nur in der Gestalt der Me-
thode ihrer Konstruktion, nicht aber als gegenständliches Konstrukt
darzustellen ist).
2. Schritt (§ 30). Da die formale Logik und die von ihr abhängig ge-
machte Metaphysik ihre Gegenstände nicht aus der Entwicklung des
Begriffs und damit als bewegte, sich verändernde gewinnen, können
sie sie nur aus der Vorstellung als fixe Gegenstände übernehmen.
»Ihre Gegenstände waren zwar Totalitäten, welche an und für sich der
Vernunft, dem Denken des in sich konkreten Allgemeinen angehören
(...) Aber die Metaphysik nahm sie aus der Vorstellung auf, legte sie als
fertiggegebene Subjekte bei der Anwendung der Verstandesbestimmun-
gen darauf zugrunde und hatte nur an jener den Massstab, ob die Prä-
dikate passend und genügend seien oder nicht.<<207 Die Bindung an die
Vorstellung, die ihre Gegenstände nach den Regeln des Verstandes
konstituiert, führt zur Ausbildung dessen, was später die »metaphysi-
sche Denkweise« genannt wurde - nämlich die Vernachlässigung des
universellen Zusammenhangs der Erscheinungen und Prozesse und
des Widerspruchs als ontologischer Formbestimmtheit von Verände-
rungen und vor allem Entwicklungen. 208 Die Orientierung der Meta-
physik auf einen statischen, starren Seins- und Substanzbegriff209
führt letztlich zu den Paradoxien der Bewegung oder den Antinomien
des Anfangs und damit zur Selbstaufhebung der metaphysischen
Wahrheit. Nur eine Wirklichkeit, die in sich selbst das Prinzip ihrer
Veränderung trägt21O , kann sich als Natur- und Menschheitsge-
schichte darstellen; die Ergebnisse der Wissenschaften lassen einer
metaphysisch-theologischen Interpretation keinen Raum. »Diese Me-
taphysik war kein freies und objektives Denken, da sie das Objekt
nicht frei aus sich selbst bestimmen liess, sondern dasselbe als fertig
voraussetzt.«211
78 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

3. Schritt (§ 32). Der erste und zweite Einwand hängen eng mitein-
ander zusammen. Das Aufklauben metaphysischer Bestimmungen aus
der Vorstellung heisst auch ihre Subsumption unter Verstandeskatego-
rien. Damit aber ist zugleich - wie sich schon am Beispiel der Auf-
klärungspositionen gezeigt hat und wie es uns die Kantschen Antino-
mien vor Augen führen - das Beharren metaphysischer Systeme auf
einem einseitigen, ausschliessenden Standpunkt verbunden. Daraus
zieht Hegel seinen dritten Einwand: »Diese Metaphysik wurde Dog-
matismus, weil sie nach der Natur der endlichen Bestimmungen an-
nehmen musste, dass von '?JVei entgegengesetZfen Behauptungen, dergleichen
jene Sätze waren, die eine wahr, die andere aber falsch sein müsse.«212
Auch hier verfehlt die Metaphysik ihre eigentliche Intention, die Selbst-
darstellung des Seins in der Mannigfaltigkeit der Seienden als eine (lo-
gisch oder historisch plurale) explicatio zu fassen und also als in aspek-
tualer (monadischer) Vielheit gegeben zu erfahren. Die ontologische
Denkfigur der Analogie (zum Beispiel bei Proklos 213), ver mittels derer
die Mannigfaltigkeit sich zur Einheit des Ganzen (der Welt) zusam-
menschliesst, lässt wissenschaftstheoretisch den Dogmatismus einer
innerweltlichen Position nicht zu. 214 Eine dogmatische Metaphysik
ignoriert ihren eigenen analogischen Charakter und gibt sich so, als ob
das Absolute in direktem Hinblick, in der intentio recta, erkennbar wäre.
Wieder wird von Hegel die Dialektik dagegen gesetzt: »Das Wahrhafte,
das Spekulative ist dagegen gerade dieses, welches keine solche einsei-
tige Bestimmung an sich hat und dadurch nicht erschöpft wird, son-
dern als Totalität diejenigen Bestimmungen in sich vereinigt enthält,
welche dem Dogmatismus in ihrer Trennung als ein Festes und Wahres
gelten.« In einem damit wird auch die Einstellung als eine meta-
physische zurückgewiesen, die wir heute »positivistisch« nennen wür-
den: »In der Tat aber ist das Einseitige nicht ein Festes und für sich
Bestehendes, sondern dasselbe ist im Ganzen als aufgehoben enthal-
ten.«215
So lässt sich Hegels Kritik an der traditionellen Metaphysik auf die
drei Einwände bringen, dass diese Verstandes bestimmungen auf Ver-
nunftgegenstände anwende, starre Gegenstände aus der Vorstellung in
die Vernunfttätigkeit übernehme und in die dogmatische Verabsolutie-
rung partikulärer Standpunkte verfalle. Dagegen werden die Fortbe-
stimmung des Begriffs, die Selbstbewegung und Selbstbestimmung des
Objekts und das Prinzip der Totalität der Bestimmungen als Verfahren
der spekulativen Philosophie (also der positiven Seite der Dialektik)
herausgestellt. Es wird deutlich, dass Hegel die Metaphysik, indem er
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 79

die »metaphysische Denkweise« destruiert, in ihr eigentliches Recht


wieder einsetzt: als Philosophie der Veränderlichkeit und Zeitlichkeit
des Seins, das heisst als Theorie der Revolution. Die Legitimität der
theoretischen Behandlung jener metaphysischen Gegenstände, die Kant
als blosse Trugbilder des dialektischen Scheins gelten lassen wollte, wird
bei Hege! wiederhergestellt. Seine Wissenschaft der Logik ist der Untersu-
chung eben dieser metaphysischen Gegenstände unter Anwendung
neuer Verfahrensmassstäbe gewidmet: »Werfen wir nach den bisher an-
gestellten Erörterungen noch einen Blick auf das Verfahren dieser Me-
taphysik überhaupt, so ergibt sich uns, wie dasselbe darin bestand, dass
sie die Vernunftgegenstände in abstrakte, endliche Verstandesbestim-
mungen fasste und die abstrakte Identität zum Prinzip machte C...) In
der spekulativen Philosophie ist der Verstand zwar ein Moment, aber
ein Moment, bei dem nicht stehen geblieben wird.«216
Wir sehen nun, dass Hege!s Metaphysik-Kritik die Kritik daran ist,
dass die traditionelle Metaphysik, insbesondere in der Form der Lehr-
buch-Metaphysik des 18. Jahrhunderts, ihr eigenes Wesen, als Auf-
klärung die Theorie der revolutionären Vernunft zu sein, nicht erfüllt,
also nicht »auf der Höhe ihrer Zeit« ist. Sie löst das Versprechen nicht
ein, das sie mit der Instituierung der Vernunft als dem Prinzip des Phi-
losophierens und mit dem Entwurf ihrer Inhalte gegeben hatte. Das
Versagen der Metaphysik ist aber nicht einer Schwäche der Philoso-
phen, auch nicht einer ideologischen Verzerrung oder Beschränkung
ihrer Absicht geschuldet, sondern liegt in der Form, die sich die Meta-
physik durch den Massstab der formallogischen Grundgesetze gege-
ben hat. Der richtige Gedanke, die Übereinstimmung von Denken und
Sein in der Einheit des logos - als der vernünftigen Verfasstheit von
äusserer Wirklichkeit und Gedanken - zu begründen, hätte eine neue
Methode des Denkens erfordert, die die Form der Verstandes tätigkeit
in sich aufnimmt, aber überschreitet. Nur unter dieser Bedingung
konnte die Zeitlichkeit des Seins gedacht, also die Theorie der revolu-
tionären Vernunft entfaltet werden. Das war Hegels philosophisches
Programm, dessen »befriedigende Erklärung C•••) allein die Darstellung
der Philosophie selbst«217 sein konnte. Die kritische Untersuchung der
»Stellungen des Gedankens zur Objektivität«, deren erste die Metaphy-
sik ist, gehört zum Vorbegriff der Philosophie, der die bisherigen
Grundpositionen der Philosophie daraufhin prüft, ob sie die Formen
des Bewusstseins, die den Gegenstand der Philosophie ausmachen, als
Widerspiegelung der Entwicklung der ansichseienden Inhalte der Welt
angemessen darzustellen vermögen. Ihre Beschränktheit wird zum
80 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Ausgangspunkt der Erarbeitung des Massstabs, der sich ändert, »wenn


dasjenige, dessen Massstab er sein sollte, in der Prüfung nicht besteht«
(s.o.). So schreitet Hegel zu einer Theorie fort, die, indem sie die Zeit-
lichkeit, Selbstbewegung, Veränderlichkeit des Seins, also die Ge-
schichtlichkeit des Wirklichen zum Massstab machte, die »Algebra der
Revolution« geworden ist.
3. Kapitel:
Aufbauplan und Struktur des
Hegelschen Systems

1. Einteilung und Aufbau der Philosophie im ~stem Hegeis

Der Streit um die Komposition des Hegelschen Systems ist so alt wie
dessen Rezeptionsgeschichte. Nimmt man die Berliner EniJiklopädie als
Grundriss des Systems, wie Hegel es letztlich dachte, so muss man an
den ausgeführten Teilen des Systems - also im wesentlichen der Phä-
nomenologie und der Logik, ergänzt durch die Rechtsphilosophie - merk-
würdige Disproportionen feststellen:
1. Die Phänomenologie erscheint zweimal - einmal sehr ausführlich
als eigenes Werk, eben die Phänomenologie des Geistes von 1807, mit dem
Programmtitel, den ersten Teil eines »Systems der Wissenschaften« zu
bilden; und dann noch einmal als Mittelstück der »Philosophie des Gei-
stes« in der EniJiklopädie, dort aber ohne die inhaltliche Entwicklung
von Geist, Religion und absolutem Wissen,
2. In der Phänomenologie scheint es Ungleichgewichtigkeiten in Um-
fang und Differenzierung ihrer Hauptteile und Kapitel zu geben.
3. Die Logik wird als eigenes Werk in drei Teilen breit entwickelt -
doch die angekündigten (und in der EniJiklopädie auch folgenden)
Stücke, die die formale Gestalt der Logik nun in der Realphilosophie
mit dem Erfahrungsstoff der Wissenschaften ausfüllen sollen, also
eine »Philosophie der Natur« und eine »Philosophie des Geistes« blei-
ben ungeschrieben; offenbar aber nicht deshalb, weil Hegel sie später
nicht mehr als integrale Bestandteile eines »Systems des Wissenschaft«
betrachtet hätte, denn in der EniJiklopädie nehmen sie ja genau die
ihnen schon in der Selbstanzeige der Phänomenologie 1807 zugedachte
Stellung ein. Einzig die Rechtsphilosophie wird als selbständiges Werk
einen Ausschnitt aus der »Philosophie des Geistes« behandeln. (Wir
sehen davon ab, dass die Vorlesungen zur Philosophie der Natur, der
Geschichte, der Religion und zur Ästhetik Positionen aus diesem Pro-
gramm ausführen; denn Hegel hat eben diese Vorlesungen nicht zu
Büchern verarbeitet).
82 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Dass Hegel eine Durchführung des Gesamtplans nach Abschluss


der Logik anscheinend nicht mehr ins Auge fasste und sich mit dem
Abriss der En?Jklopädie begnügte, mag teilweise mit der akademischen
Lehrtätigkeit zusammenhängen, die seine Arbeitskraft voll in An-
spruch nahm; teilweise wohl aber auch mit der Relevanz der einzelnen
Systemstücke in ihrem Verhältnis zueinander. Denn Hegels »Vorbe-
griff« der Logik besagt, dass diese recht eigentlich schon das Ganze der
philosophischen Wissenschaft sei, nämlich »die Wissenschaft der reinen
Idee, das ist der Idee im abstrakten Elemente des Denkens«l; die Phi-
losophien der Natur und des Geistes sind nur noch einmal Wieder-
holungen dessen, »was die Idee als logische ist« 2, in den besonderen
Elementen jener beiden Seinsbereiche, also in der Form der Äusser-
lichkeit 3 und in der Freiheirl Diese Auffassung wird bestätigt durch
Hegels »Einteilung« der Philosophie 5 in Logik, Naturphilosophie und
Philosophie des Geistes, von denen es heisst, »dass die Unterschiede
der besonderen philosophischen Wissenschaften nur Bestimmungen
der Idee selbst sind«, so wie zuvor 6 gesagt worden war: »Jeder der
Teile der Philosophie ist ein philosophisches Ganzes«. Schon von der
Logik gilt aber: »Die Idee ist das Denken nicht als formales, sondern
als die sich entwickelnde Totalität seiner eigentümlichen Bestimmun-
gen und Gesetze.«7 Mit der Darstellung dieser sich entwickelnden
Totalität als dem Logischen, »das die absolute Form der Wahrheit
und, noch mehr als dies, auch die reine Wahrheit selbst ist«8, hat der
Philosoph sozusagen sein ureigenstes Geschäft beendet; er kann die
Ausgestaltung des Systems, die Ausführung des Grundrisses den
Epigonen überlassen.
Vor der Zurückweisung der These vom Herausfallen der Phänome-
nologie aus dem Systemgefüge der Hauptschriften Hegels, ist zunächst
die Frage nach dem Grunde für die doppelte Plazierung der Phänome-
nologie im System und die damit vielleicht zusammenhängende Frage
nach den Gründen für die verschiedene Länge ihrer Kapitel aufzu-
nehmen. Ich übergehe dabei die - für die Rekonstruktion des Denk-
prozesses sicher wichtigen - Unterscheidungen der Entstehungspha-
sen und -stufen des Systems (also insbesondere die Manuskripte der
Jenenser Zeit) und beschränke mich auf die seit dem Erscheinen der
Phänomenologie 1807 feststehende Werkfolge.
Die zweimalige Behandlung der Phänomenologie und ihre thema-
tische Verkürzung um die Teile »Geist, Religion, absolutes Wissen« in
der En?Jklopädie erklärt sich, wenn wir die Intention des Hegelschen
Systems und seiner Begründungsproblematik bedenken. Der System-
Aufbauplan und Struktur des Hegeischen Systems 83

grundriss der EniJklopädie ist nicht weniger als der Entwurf einer Re-
stitution der traditionellen Metaphysik und ihrer Problemarchitektur;
ein Vergleich mit Christian Wolff macht das deutlich. Nun war es aber
nach Kant nicht mehr unbefangen möglich, metaphysische Architek-
tur im Stile der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts zu errichten (ob-
wohl die Nähe der EniJklopädie zu den schulphilosophischen Systemen
unverkennbar und von Hegel auch beabsichtigt ist, wie die Vorrede zur
Heide/berger EniJklopädie antönt9); Hegel hat die Restitution der Meta-
physik in der spekulativen Logik zugleich als eine Kritik der klassischen
Metaphysik durchgeführt. Es blieb also vor dem System und als dessen
Voraussetzung die Aufgabe einer Deduktion des Vermögens und des
Verfahrens der Vernunft beim Überschreiten der Verstandesgrenzen
und bei der Erkenntnis nicht empirischer Gegenstände zu lösen. Kant
hatte diese Voraussetzungen in der Vernunftkritik (die er als Prolego-
menon jeder künftigen Metaphysik und als deren Grenzsetzung ver-
stand) festzustellen versucht und war dabei an die Schranke der Anti-
nomien gestossen, die den Eintritt ins Reich der Metaphysik verwehrt.
Es lässt sich zeigen, dass Kant sich selbst den Weg dadurch versperrt,
dass er die transzendentale Verfassung des Denkens im »Leitfaden
der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe«10 ungeprüft auf die
Strukturen der formalen Logik gründet. Hegel, dessen Kant-Kritik
seine Einsicht in diesen Umstand ausweist, entwickelt unter Vorausset-
zung der Methode transzendentaler Kritik, jedoch an deren Stelle, ein ande-
res Verfahren der Deduktion einer Metaphysik, die als Wissenschaft
wird auftreten können. 11 Dieses Verfahren macht in einem gewissen
Sinne von einem cartesianischen Muster Gebrauch.
Descartes hatte 12 den Anfang des Wissens bei der Sinneserfahrung
gemacht, und Kant war13 diesem Einsatz beim Ersten aller Erkenntnis
gefolgt. Descartes hatte, irritiert durch die Erfahrung der Sinnestäu-
schungen, den Zweifelsprozess in Gang gesetzt und war bei der Unbe-
zweifelbarkeit des »Ich denke« samt seinen ihm zukommenden ~)ein­
geborenen«) Strukturen angelangt; Kant hatte die reine Passivität der
Erfahrung infrage gestellt und war zu Formbestimmtheiten des Er-
kenntnisvermögens vorgedrungen, die sich bei jedem Erfahrungsakt
den sinnlichen Eindrücken schon aufprägen. Descartes wie Kant hat-
ten also die gegebene Bestimmtheit des Objekts als abhängig von der
formalen Verfassung des denkenden (auffassenden) Subjekts erkannt;
und die kritische Philosophie hatte daraus die Konsequenz gezogen,
»dass, ehe daran gegangen werde, Gott, das \'(fesen der Dinge usf. zu er-
kennen, das Erkenntnist'ermijgen selbst vorher zu untersuchen sei, ob es
84 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

solches zu leisten fahig sei.«14 Diese Ausgangslage fand Hegel vor, mit
ihr musste er sich auseinandersetzen.
Hegel hat sich nachdrücklich gegen das analytische Missverständ-
nis gewandt, es könne das Denken (oder das Erkennen) gleichsam von
aus sen wie einen ihm äusserlichen Gegenstand betrachten, behandeln
oder haben. Denken des Denkens (reflektierendes Denken) meint
nicht, dass das Denken zu sich selbst in das Verhältnis der Andersheit
(alteritas) tritt; vielmehr setzt die transzendentale Einstellung einen Un-
terschied des Denkens an sich selbst, d. h. einen Selbstunterschied des
Denkens, der nur im Vollzug des Denkens erfahren werden kann. Jede
Vergegenständlichung des Denkens müsste zur Fixierung von Denk-
bestimmungen führen, die sich im Fortgang des Denkens wieder auf-
lösen würden. (Hier beginnt der Übergang von formaler zu spekulati-
ver Logik oder von der Verstandes- zur Vernunfttätigkeit). Folglich
kann es keine der reinen Vernunft vorgelagerte transzendentale Be-
stimmung ihrer Grenzen geben. »Die Untersuchung des Erkennens
kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sogenannten
Werkzeuge heisst dasselbe untersuchen nichts anderes als es erkennen.
Erkennen wollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt als der
weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Was-
ser wage.«15
Wenn nun aber der Philosoph sich ins Wasser wagen muss, so er-
hebt sich die Frage, an welcher Stelle er das zweckmässigerweise tue
oder vielleicht notwendigerweise tun müsse. Wann »das Nachdenken
überhaupt zunächst das Prinzip (auch im Sinne des Anfangs) der Phi-
losophie enthält«16, so ist damit noch nicht ausgemacht, wOTÜbernach-
zudenken sei. Hier konnte Hegel nun durchaus an die vom Empiris-
mus und von Kant herausgestellte Einsicht anknüpfen, dass die
Inhalte unseres Denkens zunächst nicht als Gedanken oder Begriffe
gegeben sind, sondern als »sensations« (Locke), »impressions«
(Hume), »Anschauungen« (Kant) - also als Sinnesdaten: nihil est in in-
tellectu, quod non fuerit in sensu. In gewisser Weise deckt sich dieser »Ein-
stieg in das Denken« bei seinen primären sinnlich gegebenen Gehal-
ten auch mit Descartes' Anfang des methodischen Zweifels bei den
Sinneseindrücken. Sie sind das, womit die Erkenntnis zuerst und
selbstverständlich anhebt, wenn sie dann auch immer in der Form
von Gedanken festgehalten werden. Beginnt also die Philosophie
beim »Nachdenken« oder ist sie die »denkende Betrachtung der Gegen-
stände<P, so heisst das zugleich, dass sie die Gehalte des Denkens als
»von den Sinnen oder durch die Vermittlung der Sinne empfangen«18
Aufbauplan und Struktur des Hegeischen Systems 85

zu denken hat. So geht Hegel davon aus, »dass der durchs Denken be-
gründete, menschliche Gehalt des Bewusstseins zunächst nicht in
Form des Gedankens erscheint, sondern als Gefühl, Anschauung,
Vorstellung, - Formen, die von dem Denken als Form zu unterscheiden
sind.«19
Dieser Ausgangspunkt liegt nun aber noch völlig ausserhalb des
eigentlichen Feldes der Philosophie, nämlich der denkenden Betrach-
tung der Gegenstände oder der Betrachtung des Gegenstandes in der
Form des Begriffs. 20 Um zu ihrem Anfang als Philosophie zu kom-
men, ohne diesen als beliebigen zu setzen - um sich also selbst zu de-
duzieren, bedarf sie der Beschreibung oder vielmehr der systemati-
schen Rekonstruktion des Weges, auf dem das Denken zum Denken
des Begriffs wird. Was Kant 21 als die »Spontaneität der Begriffe« ein-
führt (wodurch er das Denken zum fixen Gegenstand der Erkenntnis
macht, die er transzendental nennt 22), soll bei Hegel abgeleitet werden.
Die Ableitung hat bei dem zu beginnen, was anfänglich und unmit-
telbar sich selbst gegeben ist, d. h. evident ist; dies ist aber seit Des-
cartes als das Bewusstsein dargetan, dessen Gehalte sich in sinnlicher
Gewissheit zeigen. Die Deduktion des Anfangs der Philosophie muss
also in Prolegomena erfolgen, die den Weg beschreiben von der sinn-
lichen Gewissheit zum Begriff oder das Werden des Wissens, welches
erst als Begriff philosophisches Wissen (und das heisst eigentliches,
wahres, wirkliches Wissen) ist. Diese Prolegomena sind die Phänome-
nologie des Geistes.

2. Die Rolle der Phänomenologie als Anfang

Die Phänomenologie ist also nicht eigentlich der logische Anfang des He-
gelschen Systems 23 , sondern sie geht diesem Anfang vorher. Diese For-
mulierung ist bewusst paradox: Wenn einem Anfang etwas vorhergeht,
so ist dieser Anfang kein Anfang, sondern eine Stelle in einem Ablauf.
Dieser Ablauf ist der Prozess, in dem die Wahrheit des wissenschaftli-
chen Wissens sich ausbildet; wir erfahren diesen Prozess an uns selbst
als Denken. Das Denken ist die letzte Instanz, die uns fraglos, unbe-
zweifelbar gegeben ist und bei der einzusetzen wir uns deshalb ent-
schliessen24; darin liegt das cartesische Moment im Aufbauplan des
Hegelschen Systems. Allerdings hat schon Spinoza darauf aufmerksam
gemacht, dass die unbezweifelbare Selbstgegebenheit des Denkens, auf
die Descartes für die Begründung der Erkenntnis rekurrierte, nicht
86 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

auch schon den Grund des Denkens enthält, sodass der Einsatz beim
Denken zwar erkenntnistheoretisch, nicht aber ontologisch evident ist;
er ist willkürlich, determiniert aber die weitere Problemexposition.
Hegel war sich des besonderen Charakters dieser Entscheidung durch-
aus bewusst und stellte sich mit ihr auf den Boden der neueren Philo-
sophie. »Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst un-
mittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, dass es
der Anfang der Logik, des Denkens für sich, sein soll. Nur der Ent-
schluss, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich dass
man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden.«25
Dass der Anfang als unmittelbar gesetzt werden müsse, liegt in der
Natur des Anfangens; als vermittelt gesetzt, müsste ja die Vermittlung
dargestellt, also die Anfänglichkeit des Anfangs aufgehoben werden.
Die unmittelbare Weise des Denkens aber ist das Denken des Seins des
Denkens: cogito ergo sum = sum cogitans. Als mit dem Begriff des reinen
Denkens identischer Begriff des reinen Seins enthält dieser erste Inhalt
des Denkens noch keine Unterschiede oder Bestimmtheit. »Das reine
Wissen, als in diese Einheit zusammengegangen, hat alle Beziehung auf
ein Anderes und auf Vermittlung aufgehoben; es ist das Unter-
schiedslose; dieses Unterschiedslose hört somit selbst auf, Wissen zu
sein; es ist nur einfache Unmittelbarkeit vorhanden (...) In ihrem wahren
Ausdrucke ist daher diese einfache Unmittelbarkeit das reine Sein.«26
Aber dieses Wissen des Begriffs >Sein< ist »ganz abstrakt«2 7 und mit-
hin ein Wissen, das erst gewonnen werden musste. Der Anfang der
Wissenschaft ist nicht der Anfang der Erfahrung, sondern abgeleitet
aus der Erfahrung. Der Begriff des reinen Seins als Inhalt des reinen
Wissens ist das Resultat einer methodischen Rekonstruktion dessen,
was Wissen ist (so wie das reine cogito des Descartes das Resultat des
methodischen Zweifels). Die methodische Rekonstruktion dessen, was
Wissen ist, muss dem wissenschaftlichen System des Wissens vorher-
gehen; aber sie hat selbst auch einen Ort innerhalb dieses Systems,
denn das System repräsentiert ja das Ganze des Wissens und das Wis-
sen des Ganzen. Darum hat die Phänomenologie zweimal ihren Platz im
Werk Hegels. Sie führt auf das System des Wissens, indem sie das Wer-
den des Wissens entwickelt, und sie ist ein Sektor im System des Wis-
sens, denn das Werden des Wissens ist ja selbst ein Moment im Ganzen
des Wissens, und der »Geist im Verhältnis«28 - nämlich im Verhältnis
der »zwei Momente, des Wissens und der dem Wissen negativen Ge-
genständlichkeit«29 - ist ein Moment im Prozess der Selbstverwirkli-
chung des absoluten Geistes.
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 87

Dass das Werden des Wissens, die Phänomenologie des Geistes, im Werk
Hegels zugleich innerhalb und ausserhalb des Systems der Wissen-
schaft seinen Platz hat, eröffnet die Möglichkeit einer materialistischen
Interpretation des Verhältnisses von Wissen und Gegenständen, von
Begriff und Sein, von System der Wissenschaft und Welt. Die Argu-
mentationsstrategie einer solchen Interpretation sei, wenn sie hier auch
nicht voll durchgeführt werden kann, doch kurz angedeutet. Das
»Werden des Wissens« oder die »Erfahrung des Bewusstseins« - dies
sind Hegels eigene Charakterisierungen des Inhalts der Phänomenologie
- hat im System der Wissenschaften einen späten und nachgeordneten
Platz, nämlich als zweite Unterabteilung der ersten Abteilung der »Phi-
losophie des Geistes«, die dem subjektiven Geist gewidmet ist. Die
Phänomenologie des Geistes vermittelt in der En:v'klopädie3o zwischen der
Anthropologie und der Psychologie; erstere hat den subjektiven Geist,
welcher sich in den Individuen verwirklicht, in seiner Naturform (-
man könnte auch sagen: im Elemente der Natur -) zum Gegenstand,
letztere den Geist, der sich in sich bestimmt, also auf sich selbst be-
zieht3! oder sich selbst setzt. 32 Die wirklichen Modi des Selbstbezugs
oder des Sich-selbst-setzens schliessen das Bewusstsein auf allen Stu-
fen seiner Entfaltung ein - als biosses Bewusstsein, als Selbstbewusst-
sein und als Vernunft. Das heisst, um von der Naturform des Geistes
zur Geistform des Geistes (oder zum Für-sich-sein des Geistes) zu
kommen, muss die Entstehung des Bewusstseins aus der Natürlichkeit
des Geistes entwickelt werden. Das geschieht im Aufstieg von der sinn-
lichen Gewissheit als der unmittelbaren Beziehung auf den Gegen-
stand 33 zur Vernunft, in der das Selbstbewusstsein, das Bewusstsein
des Bewusstseins, sich als mit den Gegenständen vermittelt und
zusammengeschlossen weiss. So heisst es vom Selbstbewusstsein, es
sei »die Gewissheit, dass seine Bestimmungen ebensosehr gegenständ-
lich, Bestimmungen des Wesens der Dinge, als seine eigenen Gedanken
sind.«34 Und dem entspricht die Charakterisierung der Vernunft in der
Phänomenologie: »Nur erst die Gewissheit, alle Realität zu sein, ist sie in die-
sem Begriffe sich bewusst, als Gewissheit, als Ich, noch nicht die Realität in
Wahrheit zu sein.«35 Die Vernunftphilosophie ist gerade Aufhebung des
Idealismus, insofern sie gegen die »einfache Einheit des Selbstbewusst-
seins und des Seins« den Unterschied zwischen beiden festhält: »Denn
ihr Wesen ist eben dieses, im Anderssein oder im absoluten Unterschied
unmittelbar sich selbst gleich zu sein.«36
Der subjektive Geist in seinen theoretischen Modi der Anschau-
ung, der Vorstellung und des Denkens und in seinen praktischen Modi
88 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

des praktischen Gefühls, der Triebe und der Willkür und der Glückse-
ligkeit37 existiert in jener vernünftigen Form, die als Identität des We-
sens der Dinge und der Gedanken in deren festgehaltenem Unter-
schied bestimmt ist, welcher »nicht nur die absolute SubstaniJ sondern
die Wahrheit als Wissen ist.«38 Was diese Wahrheit des Wissens aber in
Wahrheit ist, können wir erst auf der Stufe des absoluten Geistes aus-
machen, dessen vorerst nur subjektiven Aspekt der Unterabschnitt
»Psychologie«39 darstellt.
Das Werden des Wissens oder die Genesis der Vernunft, als welche
»die Natur dessen, was ist, in seinem Sein sein Begriff zu sein«4o sich
zeigt, steht, wie wir jetzt sehen, im Aufbau des Hegelschen Systems an
einem durch die Natur begründeten und diese zum Geist vermitteln-
den Ort. Das Wissen hat in der Totalität keine genetisch oder ontologisch erste
Steife, es ist das Produkt des »Verhältnisses des Geistes.«41 Der Geist
aber ist die Wahrheit der Natur und »hat für uns die Natur zu seiner
Voraussetzung.«42 Das Wissen vom Gegenstand >Welt< ist im absoluten
Wissen mit diesem Gegenstand identisch, denn wir haben die Welt im
ganzen gegenständlich nur in der Weise des Wissens von ihr; aber auf
dem Wege dahin ist uns im Wissen von einzelnen Gegenständen das
Sein dieser Gegenstände als unterschieden vom Bewusstsein gegeben
und der Geist ist »ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der
Welt als selbständiger Natur ist. 43
Eine detaillierte Interpretation des Begriffs des Geistes wird hier zu
einer materialistischen Substruktion im System Hegels vordringen, die
von Hegel selbst allerdings sogleich wieder durch den Hinweis auf den
absoluten Status des Geistes verdeckt wird. 44
Nun tritt aber in der Entwicklung des Systems die Logik als abgelei-
tet aus der Phänomenologie auf. Sie entspringt dem seiner Form als Begriff
bewusst gewordenen Wissen. Für dieses ist »der Begriff das eigene
Selbst des Gegenstandes.«45
Eine Philosophie, die sich als System der Wissenschaft versteht,
muss folglich bei der Entwicklung des Begriffs, als der Form des wah-
ren Wissens, von der gegenständlichen Welt ausgehen; sie stellt also die
Logik als die Konstruktion ihrer eigenen Verfassung an den Anfang
und schickt ihr die Bedingungen der Entstehung der Logik voraus.
Darin liegt der spekulative Charakter der Philosophie, ihre Methode als
Konstruktion des Gegenstandes in der Abbildform des philosophi-
schen Systems. »Auf diesem sich selbst konstruierenden Wege allein,
behaupte ich, ist die Philosophie fähig, objektive, demonstrierte Wis-
senschaft zu sein.«46
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 89

Das spekulative Konstrukt des Wissens setzt indessen seinen ma-


teriellen Gegenstand, die Natur voraus, lässt ihn aber im Rahmen einer
Wissenschaftslehre ausser Betracht. Denn »der Begriff des Geistes hat
seine Realität im Geiste.«47
Und das eben ist »das Wissen der absoluten Idee«48, das heisst auch
»reines Wissen«, nämlich solches, das nicht mit dem Anderssein seines
Gegenstandes behaftet ist; denn sein Gegenstand, die Welt im ganzen,
das Totum, ist ja nicht anders denn als absolute (von allen Limitationen
befreite) Idee, sie ist, und kann nur sein, der Inhalt des absoluten, von
der Äusserlichkeit der gegenständlichen Welt abgehobenen Geistes.
Doch die Absolutheit des absoluten Wissens am Ende der Phänomeno-
logie, des reinen Wissens am Anfang der Logik, der absoluten Idee an
deren Ende, des absoluten Geistes am Ende der EniJiklopädie ist selbst
Resultat der konstruktiven Methode und hat also die in den besonde-
ren Gegenständen der Erfahrung manifeste Gegenständlichkeit in sich
aufgenommen, wenn auch im Fortgang der dialektischen N egationen 49
die gegenständlichen Bestimmungen aufgehoben und so spekulativ die
Einheit der unterschiedlichen Bestimmungen im Unendlichen als Idee
gesetzt wurde. 50 Die absolute Idee ist die reine Form der Totalität, die
jedoch sich nur in den Inhalten der Realphilosophie zeigt: »Sie ist der
einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie (00') Die Natur und der
Geist sind überhaupt unterschiedene Weisen, ihr Dasein darzustellen,
Kunst und Religion ihre verschiedenen Weisen, sich zu erfassen und
ein angemessenes Dasein zu geben; die Philosophie hat mit Kunst und
Religion denselben Inhalt und denselben Zweck; aber sie ist die höch-
ste Weise, die absolute Idee zu erfassen, weil ihre Weise die höchste, der
Begriff ist. Sie fasst daher jene Gestaltungen der reellen und ideellen
Endlichkeit sowie der Unendlichkeit und Heiligkeit in sich und begreift
sie und sich selbst.«51 Wiederum verweist die Idee auf ihr Anderes, die
Mannigfaltigkeit daseiender Gegenstände in ihrem Zusammenhang;
Idealität und Realität sind nur zu begreifen in der notwendigen Form
des Unterschieds, der ein Selbstunterschied in der Form des Übergrei-
fens ist.
Hans Friedrich Fulda berührt in seiner Erörterung von Vorbegriff
und Begriff52 der Philosophie das Problem dieses Selbstunterschieds,
insofern dieser nicht erst am Ende des Systems auftritt (obwohl er dann
erst hervortreten kann), sondern das bewegende Prinzip des
System-Aufbaus ist. Das Andere der Idee, die Vielheit besonderer und
in ihrer Besonderheit identisch festzuhaltender Gegenstände, ist der
Inhalt der vorwissenschaftlichen Erfahrung und der Einzelwissen-
90 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

schaften und wird dem Anfang der Philosophie vorausgesetzt. Diese


Voraussetzung gilt es aufzuheben, wenn der Gesamtzusammenhang,
das Ganze, das Unendliche gedacht werden sollen. Es ist daher nach
Fuldas richtiger Beschreibung die Funktion des Vorbegriffs der Phi-
losophie, »das Zurückstellen von Voraussetzungen anzuregen, die
den Zugang zur spekulativen Philosophie versperren C...) Hegel zählt
vier solcher Voraussetzungen auf: 1. die der fixen Gültigkeit von be-
schränkten und entgegengesetzten Verstandesbestimmungen überhaupt;
2. die eines gegebenen, vorgestellten schon fertigen Substrats, welches Mass-
stab dafür sein soll, ob eine jener Gedankenbestimmungen ihm ange-
messen sei oder nicht; 3. die des Erkennens als eines bIossen Beziehens
solcher fertigen und festen Prädikate auf irgendein gegebenes Sub-
strat, 4. die des Gegensatzes des erkennenden Subjekts und seines
damit nicht zu vereinenden Objekts, »von denen jedes für sich ein
Festes und Wahres sein soll«. Doch wäre es falsch zu meinen, dass diese
Voraussetzungen aus dem Denken ganz und gar eliminiert werden
könnten; sie bleiben vielmehr auch im spekulativen Denken erhalten, je-
doch so, dass sie immer zugleich überschritten werden. Der Übergang
zum spekulativen Begriff »kann nicht heissen, dass die nicht-spekulative
Auffassung von Philosophie damit verschwunden wäre; vielmehr ist sie
in einem eindeutig gemachten, gegen Missverständnisse geschützten
Verständnis von spekulativer Philosophie als Monismus der Idee aller-
erst endgültig stabilisiert. Die nicht-spekulative Auffassung von Philoso-
phie und der spekulative Begriff von Philosophie sind nun so koordi-
niert, dass ein endliches, philosophierendes Subjekt, welches beides ist -
nicht-spekulatives Denken sowohl als spekulativ begreifender Geist -,
kohärent vom einen zum anderen übergehen und in beiden mit sich
übereinstimmen kann.«53
Das endliche denkende Subjekt kann die Unendlichkeit der Welt im
ganzen immer nur in einem methodischen Überspringen seiner eige-
nen Endlichkeit, nicht aber durch deren Leugnung, erreichen; das ist
die Verfahrensweise der Dialektik: »Die Einsicht, dass die Natur des
Denkens selbst die Dialektik ist, dass es als Verstand in das Negative
seiner selbst, in den Widerspruch, geraten muss, macht eine Hauptseite
der Logik aus.«54 So verhält sich das vernünftige Denken dergestalt,
»dass es über das natürliche, sinnliche und räsonierende Bewusstsein
sich erhebt in das unvermischte Element seiner selbst und sich so ein
sich entfernendes, negatives Verhältnis zu jenem Anfange gibt.«55 In der
Entwicklung seiner selbst gewinnt es dann allerdings den Anfang, nun
aber als vermittelten, zurück.
Aufbauplan und Struktur des Hegelschen Systems 91

Auch Wolfgang Wieland 56 hält die Einsicht in die Bewahrung der


nicht-spekulativen Erfahrung im spekulativen Denken für einen
Schlüssel zum Hegel-Verständnis; er postuliert die »hermeneutische
Hypothese«, »dass in Hegels Logik die klassische Logik weiter gilt.«57
Dies zeige sich am explikativen Verfahren der Logik: »Jeder einschlä-
gige Begriff wird unter der Voraussetzung betrachtet, adäquater Aus-
druck des Absoluten zu sein. Doch es scheint, als würde diese Voraus-
setzung einzig zum Zwecke ihrer Falsifizierung eingeführt. So wird auf
diese Weise immer nur gezeigt, dass es sich bei den in betracht gezoge-
nen Kategorien um endliche Kategorien handelt. Die Absolutheitshy-
pothese hat hier die Funktion, die Endlichkeit des Endlichen aufzu-
weisen.«58 Die endliche Struktur des menschlichen Denkens, die sich in
der semantischen Struktur der Apophansis manifestiert, lässt es gar
nicht zu, sich auf den Standpunkt des Absoluten zu stellen: »Dieses
endliche Bewusstsein kann niemals den >Standpunkt< der Logik bezie-
hen. Das Logische bleibt vielmehr immer sein Gegenstand; das reine
Denken ist keine Möglichkeit, die vom endlichen Geist verwirklicht
werden könnte. So stellt sich der endliche Geist, wenn er die Wissen-
schaft der Logik entwickelt, keineswegs auf den Standpunkt Gottes (...)
Die Hegelsche Theorie ist dennoch keine Theorie über den sich auf
das Absolute richtenden endlichen Geist; sie bleibt eine vom endli-
chen, sich seiner Endlichkeit bewussten Geist betriebene Wissen-
schaft, die das Absolute zum Inhalt hat. Diese Differenz wird erst auf
der letzten Stufe der logischen Entwicklung, nämlich auf der Stufe der
absoluten Idee, vermittelt.«59 Dieser Charakterisierung Wielands
stimme ich voll zu. Sie spricht genau das aus, was eben mit der Formu-
lierung angedeutet wurde, dass die Idee nur im Selbstunterschied be-
griffen werde. Darin liegt die von Wieland angesprochene Diffe-
renz-Form der Logik beschlossen, dass nämlich die Logik nicht ist, was
sie darstellt. »Die >Wissenschaft der Logik< darf aber mit jenem Absolu-
ten in der Gestalt des >Logischen<, das ihr Gegenstand ist, nicht ver-
wechselt werden. Es besteht hier eine Differenz, die etwa der Differenz
von Natur und Naturphilosophie entspricht.«6o Später werden wir
sehen, dass die Beschreibung dieser Differenz durch die Spiegel-Meta-
pher erfolgen kann.
Auch Fuldas Erwägungen führen (vielleicht malgre lui) in diese
Richtung. Er sagt: »Die Selbstbewegung des Begriffs im spekulativen
Denken (...), obwohl eine des durchaus autonomen Begriffs, könnte
sich nicht verständlich machen, ohne dass ein endliches, philosophie-
rendes Subjekt sein nicht-spekulatives Denken betätigt und sein Ver-
92 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

ständnis von spekulativer Philosophie, sowie ihres Gegenstandes und


Inhalts, in einer Reihe von Vorbegriffen zu fassen versucht.«61 Damit
fasst er die Differenz zwischen einem an endliche und kontingente Er-
fahrungsgegenstände gebundenen Denken und dem Bedürfnis des
Denkens nach Totalität62 in die Differenz von Subjektivität und Ob-
jektivität »der Redeweise«. Er sieht in den Bemerkungen der §§ 9-20
der En?Jklopädie einen »Hinweis auf einen Produktions idealismus«,
demzufolge der Gegenstand des spekulativen Denkens ein Erzeugnis
der geistigen Tätigkeit des Denkenden ist. Andererseits heisst es aber:
»Allerdings muss man zugeben, dass Hegel in der Exposition seines
Vorbegriffs diese >subjektivistische< Redeweise nicht konsequent
durchgehalten hat; vielmehr hat er sie mehrfach mit objektivistischen
Äusserungen vermischt, und zwar in einer Weise, die andeutet, dass es
ihm auf den Unterschied der Sprechweisen - und damit auch auf die
Gegensätzlichkeit ihrer Voraussetzungen - nicht ankommt.«63 Fulda
sieht in dieser Unentschiedenheit der Redeweise die Ursache dafür,
dass entgegengesetzte Interpretationen Hegels gleichsam im Recht zu
sein scheinen, einmal nämlich eine gleichsam kantianisierende »subjek-
tivistische Lesart«, zum anderen ein »spinozistischer«, naturalistischer
oder materialistischer Gegenentwurf; und er hat sichtlich Schwierig-
keiten, diese beiden Aspekte in der Einheit des Hegelsehen Konzepts
zusammenzuschliessen.
Es scheint mir hingegen, dass es Hegels zentrales Problem war,
dieser Zerfällung der neuzeitlichen Philosophie in einen »subjektivi-
stischen« Zweig (in der Linie Descartes - Kant) und einen »objektivi-
stischen« (in der Linie Spinoza - Wolff) eine Konzeption entgegen-
zusetzen, in der die beiden »Extreme« vermittelt und aufgehoben sind
(sodass in der Tat die eine »Redeweise« auf die andere würde abgebil-
det, bzw. die eine in die andere würde überführt werden können). Man
muss diese monistische Intention Hegels ganz ernst nehmen. Ihr ge-
recht werden konnte Hegel nur durch die Ausbildung jener dialekti-
schen Figur des Selbstunterschieds, in der der Dualismus der Glieder
als Gegensätze (enantfa) zugleich festgehalten und in der Einheit des
übergreifenden Glieds aufgehoben ist. Durch sein ganzes Oeuvre hin-
durch bemüht Hegel sich, die die formale Logik überschreitende Logik
des Selbstunterschieds und des Übergreifens zu explizieren.
Könnte eine spiegeltheoretische Deutung nicht eine Auflösung die-
ser Schwierigkeit bringen? Das Denken des denkenden Subjekts er-
zeugt seinen Inhalt so, wie der Spiegel das Spiegelbild vermöge seiner
Beschaffenheit, spiegelnd zu sein, intern »erzeugt«. Doch ist diese Er-
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 93

zeugung nichts anderes als die Darstellung des dem Spiegel externen
Gegenstands. Es scheint mir, dass Hegel eben dieses im Sinn hat,
wenn er sagt: »Indem im Nachdenken ebensosehr die wahrhafte Natur
zum Vorschein kommt, als dies Denken meine Tätigkeit ist, so ist jene
ebensosehr das Erzeugnis meines Geistes, und zwar als denkendes Sub-
jekt.«64 Es kommt darauf an, das »ebensosehr« richtig zu verstehen.
Das Entstehen des Spiegelbildes ist ebensosehrein Zum- Vorschein-kommen
der Sache selbst als auch ein Erzeugnis des Spiegels, und es ist das eine nur,
indem es das andere ist. Die Spiegel-Metapher rekonstruiert die Struk-
tur dieses »ebensosehr«, und Hegels Ausführungen in § 24 der En?y-
klopädie scheinen dafür eine Bestätigung zu liefern. Fuldas Vermutung,
es komme Hegel auf den Unterschied von subjektiver und objektiver
Sprechweise nicht an, wäre dann widerlegt und die Einheit beider
Sprechweisen als eine Einheit im Selbstunterschied nach Art des Spie-
gel-Verhältnisses begriffen.
Die Frage nach einer spiegel theoretischen Deutung ist nicht so weit
hergeholt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag (und wir werden
auf dieses Problem im weiteren immer wieder stossen, was damit zu-
sammenhängt, dass die Dialektik die Logik des Selbstunterschieds ist
und der Selbstunterschied sich an der ontischen Struktur der Spiege-
lung explizieren lässt 65). Und schliesslich hat Hegel selbst das Mittel-
stück - also das zwischen Sein und Begriff vermittelnde Stück - der Logik
über der Struktur des Reflexionsverhältnisses aufgebaut und das Wesen
schlechthin als »Reflexion in ihm selbst« charakterisiert. 66 Reflexion in
ihm selbst ist die Figur des Selbstunterschieds: Etwas ist es selbst, und
indem es sich als das bestimmt, was es ist, bestimmt es sich zu einem
Anderen als es ist. Jedes So-sein eines Seienden ist, weil es »so« be-
stimmt ist, die Bestimmtheit des Seienden durch ein Anderes, das es
bestimmt. Hegel hat dieses Selbstverhältnis in den drei Momenten der
Reflexion auseinandergelegt. Indem X sich als es selbst identisch mit
sich und damit verschieden von Anderen setzt, setzt es die Anderen als
das mit ihm Nicht-Identische und also als Grenze seiner selbst (setzende
Reflexion). X setzt sich durch das Negieren der Anderen in bezug auf sich
selbst, oder durch das Negieren dessen, dass die Anderen (als Andere,
von ihm Verschiedene) es negieren: »Diese sich auf sich beziehende
Negativität ist also das Negieren ihrer selbst. Sie ist somit überhaupt so
sehr aufgehobene Negativität, als sie Negativität ist.«67 Indem sich selbst
als aufgehobene Negation, setzt es zugleich das Andere, ausser ihm Sei-
ende, gegen dessen Anderssein es sich als sich selbst behauptet. X ge-
winnt seine Identität vermittels des Anderen, gegen das X sich ab-
94 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

grenzt.; es setzt darin eine Äusserlichkeit: »Es ist zugleich bestimmt als
Negatives, als unmittelbar gegen eines, also gegen ein Anderes. So ist die Re-
flexion (...) indem sie (...) von dem Unmittelbaren als ihrem Anderen an-
fängt, äussere Reflexion.«68 Im Hin und Her dieses Setzens seiner selbst
und des Anderen bestimmt sich X zu dem, was es in diesem Verhältnis
ist. Sein So-sein ist dieses Reflexions-Verhältnis: »Die bestimmende Re-
flexion ist überhaupt die Einheit der setzenden und der äusseren Reflexion.
(...) Die Reflexionsbestimmung ist von der Bestimmtheit des Seins, der
Qualität, unterschieden; diese ist unmittelbare Beziehung auf Anderes
überhaupt; auch das Gesetztsein ist Beziehung auf Anderes, aber auf
das Reflektiertsein in sich.«69 Die Kategorien der Seinslogik sind un-
genügend, ihren eigenen ontologischen Status auszuweisen; erst indem
ihre Konstitution im Prozess aufgezeigt wird, zeigen sie ihren Charakter
als innerweltliche, d. h. als Momente eines RelationensystemsJo
Es wäre ein fundamentaler Irrtum, die drei Aspekte der Reflexion
- setzende, äussere und bestimmende zu sein - als Stufen einer Ab-
folge im Konstitutionsprozess des Substanz-Subjekts oder als verschie-
dene Glieder einer logischen Beziehung zu sehen. Sie sind ein und dasselbe
in verschiedener Hinsicht (d.h. Hinsicht auf die Relata des Reflexions-
verhältnisses). Indem X sich setzt, setzt es sein ihm äusserliches Ande-
res und bestimmt sich durch diese negative Beziehung; das ist sein
Selbstsein. Indem X einen Gegenstand setzt, setzt es sich ihm entge-
gen und bestimmt sich; das ist sein gegenständliches Wesen. Und
indem X sich bestimmt, setzt es sich und seinen Gegenstand, letztlich
die Welt; das ist die Einheit seiner Besonderheit und des Allgemeinen,
seine MonadizitätJl In diesem Reflexionsverhältnis tritt das Seiende
aus der Verschlossenheit in seinem Ansichsein heraus und wird Für-
sichsein - also Selbstverhältnis als Weltverhältnis. Der Selbstunter-
schied des Fürsichseins in der Reflexionsgestalt des Anundfürsichseins
ist die Bedingung der Möglichkeit eines ontologischen Verhältnisses,
das den Titel Wahrheit trägt (und das sich als verum oder als falsum reali-
sieren kann).

3. Die Wahrheit als Gegenstand der Philosophie

Eher beiläufig bemerkt HegeP2, die Philosophie habe »die Wahrheit zu


ihrem Gegenstande« - und diese Beiläufigkeit ist auffällig, denn von
der Vorrede zur Phänomenologie an wird die Wahrheit als das ausgespro-
chen, worum es dem Wissen geht, und dass »die Philosophie der Form
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 95

der Wissenschaft näherkomme - dem Ziele, C...) wirkliches Wissen zu


sein«73, nennt Hegel als den Inhalt seiner Bemühungen. Dennoch
kommt es ihm weder in der Phänomenologie noch in der Logik in den
Sinn, eigens den Gegenstand der Philosophie zu bestimmen, obwohl er
sich an verschiedenen Orten und in verschiedener Weise darüber äus-
sert, was das Tun der Philosophie sei; so heisst es zum Beispiel in der
Phänomenologie: »Die innere Notwendigkeit, dass das Wissen Wissen-
schaft sei, liegt in seiner Natur, und die befriedigende Erklärung hier-
über ist allein die Darstellung der Philosophie selbst«74; und in der
Logik: »Es kann nur die Natur des Inhalts sein, welche sich im wissen-
schaftlichen Erkennen bewegt, indem zugleich diese eigne Reflexion des
Inhalts es ist, welche seine Bestimmung selbst erst setzt und erzeugt.«75 (Was
das bedeutet, hat die Analyse des Reflexionsverhältnisses gezeigt). Und
weiter heisst es dann: »Ihre Selbstbewegung ist ihr geistiges Leben und
ist das, wodurch sich die Wissenschaft konstituiert und dessen Darstel-
lung sie ist.«76 Also: Die Philosophie soll die Wissenschaftlichkeit des
Wissens dartun, indem sie in der Bewegung der Erkenntnisinhalte sich
selbst konstruiert.
Nun vollzieht sich die Bewegung der Erkenntnisinhalte zunächst in
den Weisen der Anschauung und der Vorstellung. Die angeschaute und
vorgestellte Sukzession der Gegenstände und ihrer Zustände - »in der
Gestalt nämlich, wie die Zeit das Dasein ihrer Momente vorstellt«77,-
ist die Form, in der uns die Bewegung, Veränderung der Erkenntnisin-
halte gegeben ist. Das verständige Denken hält deren Verschiedenheit
als die verschiedenen Identitäten der jeweils besonderen Inhalte Ccarte-
sisch: cogitationes) fest, deren Gemeinsamkeit dann in der von jedem
Inhalt gereinigten Form der Identität, in den vom Gehalt abgetrennten
formalen Bestimmungen der Logik liegt; sie sind das abstrakt Allge-
meine, aber eben auch nur dieses. Sobald das Denken seiner selbst ge-
wiss werden, auch die abstrakte Form seiner Allgemeinheit gewinnen
will, muss es sich wieder auf die in ihm bewegten Inhalte einlassen.
Damit aber verändert sich der Gegenstand der Logik; diese bleibt nicht
länger nur auf die »Formen, die nur an dem Gehalt, nicht der Gehalt selbst
seien«78 beschränkt. Vielmehr: »Die Unvollständigkeit dieser Weise,
das Denken zu betrachten, welche die Wahrheit auf der Seite lässt, ist
allein dadurch zu ergänzen, dass nicht bloss das, was zur äusseren Form
gerechnet zu werden pflegt, sondern der Inhalt mit in die denkende
Betrachtung gezogen wird C...) Mit dieser Einführung des Inhalts in die
logische Betrachtung sind es nicht die Dinge, sondern die Sache, der Be-
griff der Dinge, welcher Gegenstand wird.«79
96 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Gegenstand der Logik ist also der Begriff in seiner Identität und in
der Bewegung, die diese Identität aufhebt, als »der sich bewegende und
seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff.«80 Nun ist aber
der bewegte Inhalt der Begriffe Gegenstand der Natur- und Geistphiloso-
phie. In der Logik wird hingegen die inhaltliche Bewegung der Begriffe,
also der Prozess des Denkens als Denken oder das Wesen des Denkens
dargestellt; ihr Gegenstand ist »das Denken oder bestimmter das begrei-
fende Denken.«81 Weil aber das begreifende Denken immer ein inhaltlich
bestimmtes ist, kann der Gegenstand der Logik von dem der Natur-
und von dem der Geistphilosophie nicht verschieden sein. Wohl aber ist
er von ihnen im Modus seines Sich-darstellens unterschieden. Der Ge-
genstand jeder philosophischen Disziplin ist die Idee: »Die Idee ist das
Denken nicht als formales, sondern als die sich entwickelnde Totalität
seiner eigentümlichen Bestimmungen und Gesetze, die es sich selbst
gibt, nicht schon hat und in sich vorfindet (...) aber das Denken als sol-
ches macht nur die allgemeine Bestimmtheit oder das Element aus, in der die
Idee als logische ist.«82 Das bedeutet: »Die Logik ist die Wissenschaft
der reinen Idee, das ist der Idee im abstrakten Elemente des Denkens.«83
An dieser Stelle müssen wir den Terminus »Idee« noch gleichsam
als Chiffre für etwas Unerkanntes stehen lassen - ein Wort, dessen Sinn
sich erst im Verlauf der Darstellung der Wissenschaft der Logik ergibt.
Wohl aber sagt uns § 19 der EniJIklopädie, dass die »Reinheit« der Idee
darin besteht, dass diese »im abstrakten Elemente des Denkens« - also
nicht in den konkreten Elementen der Natur und des Geistes - auftritt.
Der Begriff des Begriffs, der von der Bestimmtheit des Inhalts zu sei-
ner Bewegung (Fortbestimmung) im Denken übergeht und deren
Wesen als die Bestimmung des vernünftigen Denkens fasst, ist mithin
der Begriff des reinen Denkens oder das reine Denken selbst, da ja
Denken nichts anderes als Begreifen ist. Nun bestimmt aber Hegel die
Wahrheit dadurch, dass er von ihr »behauptet«, »an dem Begriffe allein
das Element ihrer Existenz zu haben.«84
Hat die Logik das begreifende Denken zu ihrem Gegenstand und
zwar so, dass sie als selbst begreifendes Denken dieses zu ihrem Ge-
genstand hat, so bedeutet das, dass sie die Wahrheit der Wahrheit oder
»die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert«85 zum Gegen-
stand hat und zugleich selbst ist. So kann Hegel sagen, dass »das Logi-
sche die absolute Form der Wahrheit und, noch mehr als dies, auch die
reine Wahrheit selbst ist.«86
Etwas, das sich selbst zum Gegenstand hat, reflektiert sich oder
spiegelt sich. Das Logische spiegelt sich als Denken, und dies geschieht
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 97

in Begriffen. Nehmen wir die Metapher »spiegeln« genau, so ist das


Denken der Spiegel und der Begriff (= Bestimmen und Fortbestim-
men des Begriffs) ist das Gespiegelte, und zwar in der Weise eines sich
verändernden Inhalts in Einheit mit der Form der Bewegtheit; nun
muss es noch einen bespiegelten Gegenstand geben, denn der Spiegel,
und mit ihm das in ihm Gespiegelte, ist ein anderes als das Bespie-
gelte.8 7
Also muss die logische Form des Denkens, die sich im Bestimmen
des Begriffs äussert88 , ihr reales Korrelat in der Form-Inhalt-Einheit
des Gegenstands haben, darin also, dass die gegenständliche Welt selbst
logisch ist und daher das Logische nicht die Gestalt des Bewusstseins,
sondern die des Seins darstellt. Nichts anderes sagt Hegel: »Insofern
gesagt wird, dass Verstand, dass Vernunft in der gegenständlichen Welt ist,
dass der Geist und die Natur allgemeine Gesetze habe, nach welchen ihr
Leben und ihre Veränderungen sich machen, so wird zugegeben, dass
die Denkbestimmungen ebensosehr objektiven Wert und Existenz
haben.«89
Hegel unterscheidet auf ungewöhnliche Weise Ding und Sache; die
Sache wird mit dem Begriff des Dings gleichgesetzt. 9o Die Sache (res)
liegt ausserhalb des Bewusstseins von ihr (cogitatio), sie ist gleichsam das
substantielle Sein - die Substanzen werden bei Descartes als res extensa
und res cogitans bezeichnet, die res cogitans ist etwas anderes als das cogi-
tare, sie ist das im Ich des cogito als dem identischen Substrat der wech-
selnden cogitationes erfasste, also von den cogitationes unterschiedene Sein
(sum cogitans). Wie sich das cartesische Ich bildet im Strom der cogitatio-
nes, in der Sukzession der bestimmten Gedanken, so entsteht die Sache
in der Sukzession der Bestimmungen bei Hegel, durch welche das hier
und jetzt in sinnlicher Gewissheit angeschaute, noch unbestimmte
Ding expliziert und damit in seiner Besonderheit vorgestellt wird; erst
auf den Begriff gebracht, stellt sich nun das Ding als die Sache dar, die
es ist. Der Explikationsvorgang - das Bestimmen, durch welches das
Ding auf den Begriff gebracht wird - vollzieht sich im Denken und
nur im Denken, aber dieses Denken ist gegenständlich, es hat seinen
Inhalt als einen, dessen Sein ausser ihm liegt. »Indem Denken als tätig
in Beziehung auf Gegenstände genommen wird, das Nachdenken über
etwas, so enthält das Allgemeine als solches Produkt seiner Tätigkeit
den Wert der Sache, das Wesentliche, das Innere, das Wahre.«91 Das Wahre
erweist sich als die im Begriff hergestellte Übereinstimmung zwischen
Denken und Gegenstand, die dadurch apriori garantiert wird, dass der
wahre Gegenstand nur in seinem Begriff »das Element seiner Existenz«
98 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

hat und anders als durch den Begriff gar nicht als wahrer Gegenstand,
sondern nur als dinglicher Gegenstand existiert. (Das bedeutet auch,
dass es keinen absolut unwahren Begriff geben kann, worauf noch
zurückzukommen ist). Für das Selbstbewusstsein, das den Begriff als
Resultat des Bestimmens des Gegenstands durch das Denken (prädi-
kation) erfährt, entsteht daraus der idealistische Schein, die Sache
selbst sei das Produkt des Selbstbewusstseins: »Das Ding der sinnlichen
Gewissheit und des Wahrnehmens hat nun für das Selbstbewusstsein
allein seine Bedeutung durch es; hierauf beruht der Unterschied eines
Dings und einer Sache.«92 Die Aktivität, in welcher das Selbstbewusst-
sein sich so erfährt, als ob es die Wahrheit des Gegenstands erschaffe,
ist jedoch nicht die Wahrheit des Gegenstands, sondern nur die des
Selbstbewusstseins selbst, in der die Eigenschaft des Gegenstands ver-
schwindet: »In der Sache selbst also, als der gegenständlich gewordenen
Durchdringung der Individualität und der Gegenständlichkeit selbst,
ist dem Selbstbewusstsein sein wahrer Begriff von sich geworden, oder
es ist zum Bewusstsein seiner Substanz gekommen. (00') Die gegenständ-
liche Wirklichkeit ist ein Moment, welches (00') keine Wahrheit mehr für
sich hat; diese besteht nur in der Einheit desselben mit dem Tun, und
das wahre Werk ist nur jene Einheit des Tuns und des Seins, des Wo//ens und
Vollbringens.«93 Erst im absoluten Wissen wird dieser Widerspruch auf-
gehoben.
Michael Theunissen hat richtig erkannt 94 , dass in Hegels Wahr-
heitsbegriff die seiende Wirklichkeit und der Begriff nicht einfach un-
terschiedslos zusammenfallen, sondern in einer Differenz gehalten
werden, die in den Termen »entsprechen« und »kongruieren« mitge-
dacht ist. Die wahre Wirklichkeit ist nicht der Begriff, sondern ent-
spricht ihm oder ist ihm kongruent. Allerdings kommt man zu der
wahren Wirklichkeit des Gegenstands auch nicht anders als durch das
kritische Denken, indem nämlich geprüft wird, ob und inwieweit der Ge-
genstand so ist, wie er sich zeigt. 95 Das Sich-Zeigen des Gegenstands
in den vorbegrifflichen Weisen des Bewusstseins ist noch kein Ausweis
für sein wahres So-sein; im Gegenteil, in der Prüfung ändert sich der
Gegenstand parallel zur Veränderung des Wissens von ihm, denn die
in der Phänomenologie beschriebene Erfahrung »ist ein Geschehen der
ständigen Horizonterweiterung, welche dadurch zustande kommt,
dass das Bewusstsein seine Horizonte stets aufs neue thematisiert.«96
Jedoch: Der Gegenstand verändert sich mit der Erweiterung des Wis-
sens, nicht weil er vom Bewusstsein abhängig ist, das ihn horizontisch
denkt97 , sondern weil er sich anders als in seiner Unmittelbarkeit dar-
Aufbauplan und Struktur des Hegelschen Systems 99

stellt, sobald er mit seinen Bedingungen vermittelt wird. In der nur be-
grifflich zu fassenden Relationalität, die die »Weltlichkeit« oder »Wirk-
lichkeit« des Gegenstands erst ausmacht, ist er nicht mehr das, als was
er sich zunächst zeigte. So entsteht Wahrheit in der Bestimmung des
Begriffs - nicht als ein »massstäblicher Horizont«, wie Theunissen
meint (der damit eine Art Kantsches Ideal als Deus ex machina zur Be-
gründung von Wahrheit herbeizaubert); sondern als Resultat der kriti-
schen Prüfung, die auf einen Prozess fortschreitender Weiterbestim-
mung des Gegenstands (mit dem infinitesimalen Ende seiner notio
completa) führt. Jede endliche Begriffsbestimmung, die den Gegenstand
ausdrückt, liefert nur eine »relative Wahrheit«; der Begriff entspricht
der Realität in bezug auf den Erkenntniszweck, und diese Entspre-
chung ist zugleich eine Nicht-Entsprechung im ganzen, eine »Unange-
messenheit (...) die in seinem Wesen liegt.«98 Hegel sagt, dass diese Un-
angemessenheit im »Werk des Bewusstseins«, in seinem »Tun« (das die
Fortbestimmung des Begriffs ist) erfahren werde; von daher entstehe
die Zweideutigkeit, den Gegenstand an sich als das im Tun bloss Ge-
dachte, mithin als den Begriff, und das Tun selbst als die Realität auf-
zufassen oder ebenso umgekehrt »die ursprüngliche Natur« als das Sein
und das Tun als den werdenden Begriff'J9. Erst das spekulative Verfah-
ren, in dem der Begriff als notio completa mit allen Inhalten der Welt ge-
füllt wird, gewinnt den approximativen Zugang zur absoluten Wahr-
heit, d. h. der Wahrheit im Absoluten. Dies ist die Methode, in der
Begriff und Realität kongruieren, und im Absoluten, in der »Idee«, ist
diese Kongruenz perfekt. IOO In allen Realisationen des Endlichen da-
gegen, in denen Begriff und Realität in der Weise des Selbstunter-
schieds als Einheit zusammengeschlossen sind, hat diese Entspre-
chung die Gestalt des »Übergreifens«, und zwar so, dass für Hegel der
Begriff die Realität übergreift, was in der Tat die Struktur des Wissens
ausmacht: Im Begriff ist die Realität »enthalten«, wie im Spiegel das
Spiegelbild des Gegenstands, und der Spiegel ist die Einheit seiner
selbst und seines Gegenstands. Diesen Status des Wissens oder des Be-
griffs zu reflektieren, ist der Inhalt der spekulativen Philosophie. lOl

4. Die Vermitteltheit der Wahrheit und die Sache selbst

In der EniJ'klopädie, die ja die Konstruktion des absoluten Wissens in


der Phänomenologie schon hinter sich hat, ehe sie diese im System noch
einmal rekonstruiert, kann der idealistische Selbstbetrug des Selbstbe-
100 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

wusstseins schon durchschaut, die scheinbare Erschaffung des wah-


ren Gegenstands als ein Vermittlungsprozess dargestellt werden. Das
Denken greift in das dinglich Gegebene gleichsam experimentell
durch Bestimmungen ein, die Negationen sind (omnis determinatio est
negatio, heisst es bei Spinoza -), um so identifizierbare Merkmale an
ihm festzustellen. Es ist die Arbeit des Denkens, die die Vorstellung
verändert. Dadurch kommt zu Bewusstsein, was das Ding an sich ist.
Das Denken schafft nicht den wahren Gegenstand, sondern zeigt ihn
als Begriff, wie der Spiegel das Bespiegelte als Spiegelbild zeigt. Hegel
hat den medialen Charakter des Denkens - seinen Spiegelcharakter -
klar ausgesprochen: »Durch das Nachdenken wird an der Art, wie der
Inhalt zunächst in der Empfindung, Anschauung, Vorstellung ist,
etwas verändert; es ist somit nur vermittels einer Veränderung, dass die
wahre Natur des Gegenstands zum Bewusstsein kommt.«102
Es wäre falsch, den medialen Charakter des Denkens nach dem
Modell des Werkzeugs zu interpretieren, obwohl die Rede vom Verän-
dern das nahelegt. Denn das »Nachdenken über (...)« verändert ja
nichts an dem Inhalt der Anschauung oder Vorstellung (und schon gar
nichts an deren Gegenstand), sondern rückt nur die eine oder andere
Seite des Angeschauten/Vorgestellten in den Blick. Die Abfolge der
Veränderungen am Modus des »In-seins« des Gegenstandes in den An-
schauungen/Vorstellungen ist vergleichbar mit dem Übergang der
Aufmerksamkeit von einem Moment zum anderen oder mit dem
Übergang von einer deutlichen Perzeption in der Leibnizschen Mo-
nade zu einer anderen deutlichen Perzeption. Es wird die Art der Ge-
gebenheit verändert, nicht der Zustand des Gegebenen. So hat das
Denken zum Schluss nicht einen veränderten Gegenstand (wie der mit
dem Werkzeug arbeitende Mensch), sondern die wahre Natur des Ge-
genstands.
Immerhin wird uns hier etwas darüber ausgesagt, als was Wahrheit
zu verstehen sei. Wahrheit ist die durch das Denken zu Bewusstsein ge-
kommene Fülle der Momente, die einem Gegenstand zukommen; ab-
solute Wahrheit ist die vollständige Repräsentation dieser Fülle (die
notio completa) des Gegenstands. Wahrheit im strengen Sinne ist also der
Seins status des absoluten Begriffs und der absoluten Idee; jedoch ist es
zulässig, von unvollständigen Begriffen oder besonderen Begriffen ihre
relative Wahrheit (und das heisst zugleich ihre relative Unwahrheit)
auszusagen. Für jeden unvollständigen Begriff ist der Grad seiner rela-
tiven Wahrheit, die Grenze seiner Geltung festzustellen. Das ist die
Tätigkeit des kritischen Verstandes, die Matrix dieser Tätigkeit sind die
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 101

Regeln der formalen Logik. Diese liefert das notwendige Instrumenta-


rium des verständigen Denkens, des Denkens des Besonderen. Das
schlechthin Allgemeine, die Totalität, bleibt per definitionem davon
ausgeschlossen. Allerdings ist, wie die Abschnitte über den allgemeinen
und besonderen Begriff in der Logik 103 zeigen, das oberste Allgemeine
wiederum nur auf dem Wege über die Besonderen und in der Reflexion
auf die Besonderheit zu gewinnen, sodass das vernünftige Denken, das
in der spekulativen Logik zu sich selbst kommt, das verständige Den-
ken zur Bedingung hat und seine Beziehung zur formalen Logik be-
stimmen muss.
Die Wahrheit ist der Gegenstand der Philosophie, die Wahrheit
zeigt sich im Begriff, der Begriff bildet sich im Denken. So wird die Phi-
losophie von den Gegebenheitsweisen der Anschauung, Vorstellung
usw. abgehoben: Sie hat es nicht mit den Dingen, mit den Gegenstän-
den der Erfahrung zu tun, sondern mit deren Vermitteltheit im Den-
ken, durch welche sie sich erst so darstellen, wie sie »in Wahrheit« sind.
Vermitteltheit heisst aber, dass das Einzelne nicht als Einzelnes, son-
dern im Zusammenhang mit seinen Bedingungen, letz dich im Gesamt-
zusammenhang der Welt begriffen wird (also auch im Zusammenhang
mit seinen Wirkungen, weshalb Teleologie bei Hegel keinen theologi-
schen oder subjektiv-idealistischen Horizont zu haben braucht). Wahr-
heit gibt es also nur in der Systemform des Wissens, die die Konstruk-
tion der Vermitdungen ist; das ist die Wissenschaft. »Die wahre Gestalt,
in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche
System derselben sein.«104 Dieser Satz schliesst ein, dass es Gestalten der
Wahrheit gibt, die sozusagen vorläufig sind und noch nicht die eigent-
liche, »wahre« Gestalt der Wahrheit. Diese Zwischenstufen auf dem
Wege zur Wahrheit, welche selbst Momente der Wahrheit sind und an
ihr teilhaben, entwickelt die Phänomenologie des Geistes, ihr Ganzes ist die
philosophische Wissenschaft. Dass Philosophie Wissenschaftslehre sei,
weist auf Fichte zurück und gibt der Philosophie jenen Charakter des
reflexiven, indirekten Gegenstandsbezugs, der intentio obliqua, der in der
Kantschen Transzendentalphilosophie am nachdrücklichsten, aber
noch undialektisch, herausgearbeitet worden war. Kant und Fichte ste-
hen im Hintergrund der Hegelschen Problemstellung, als Systeme, die
zwar das Problem des Verhältnisses von Ding und Begriff, von Objekt
und Subjekt, von Nicht-Ich und Ich, von Welt und Einzelnem formu-
liert, aber nur unzureichend aufgelöst hatten.
Wieder ist Hegels sorgfaltige Differenzierung zu beachten. Er un-
terscheidet Wissen, Wissenschaft, System der Wissenschaft. Wissen ist
102 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

mehr als Erfahrung, Erfahren geht in Wissen über, wenn ich den
Grund des Erfahrungsinhalts und seiner Bestimmtheit kenne, durch
welche er als identischer Erfahrungsinhalt und als verschieden von an-
deren Erfahrungsinhalten festgehalten wird. Wissen ist also »die Wahr-
heit dessen, als was sich der Unterschied und die Identität ergeben hat,
- die Reflexion-in-sich, die ebensosehr Reflexion-in-Anderes und um-
gekehrt ist.«105 Insofern diese Reflexion »die reine Vermittlung über-
haupt« ist 106, geht sie vom einzelnen Ding zum Zusammenhang über.
Im Wissen ist wohl die einfache »sensation« Lockes, die »impression«
Humes enthalten, doch wird bereits über diesen biossen Stoff des Wis-
sens hinausgegangen und die systematische Form der Verknüpfung
mit anderen angelegt; sonst wäre es kein Wissen. Darum kann Hegel
sagen: »Die innere Notwendigkeit, dass das Wissen Wissenschaft sei,
liegt in seiner Natur, und die befriedigende Erklärung hierüber ist allein
die Darstellung der Philosophie selbst.«107 Wissen drängt dahin, sich
als wissenschaftliches Wissen zu bestätigen, diese Bestätigung wird ihm
aber erst beglaubigt, wenn es die Reflexionsbestimmung des Grundes
nicht bloss als ein methodologisches Postulat (wie im Satz vom
Grunde, »vermöge dessen wir bedenken, dass sich keine Tatsache als
wahr oder existierend, keine Aussage als wahr herausstellen kann, ohne
dass es einen zureichenden Grund gäbe, warum es sich so und nicht
anders verhält, obschon diese Gründe uns oft nicht bekannt sein kön-
nen«108), sondern aus der Natur der Sache ableitet. 109
Diese Ableitung oder die Erklärung für den Wissenschaftscharak-
ter des Wissens und die Form der Wissenschaftlichkeit liefert die Phi-
losophie, sie ist die Wissenschaft von dem Status der Wissenschaften,
dank ihrer schliessen sich diese zum System der Wissenschaft, das
heisst zum wissenschaftlichen System der Wahrheit (= der wahren Ge-
stalt der Wahrheit) zusammen. Dieses System ist aber nicht am Anfang
mit dem ersten Wissen gegeben, sondern muss durch das sich reflek-
tierende wissenschaftliche, das philosophische Denken konstruiert wer-
den. Das darin liegende aktive Moment der Selbstdarstellung der Sache
selbst im Werden des Wissens drückt Hegel in der Gleichung von Sub-
stanz und Subjekt aus. »Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, wel-
ches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heisst, welches in Wahrheit
wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder
die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. (...) Dass das
Wahre nur als System wirklich oder dass die Substanz wesentlich Sub-
jekt ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist
ausspricht.«ll0 Der Gesamtprozess der Konstruktion des Wahren ist
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 103

Geist - auf welchen Terminus wir später zurückkommen; hier genügt


es vorerst, den Systemcharakter des Wissens als Prozess, das Werden
des Wissens nach strengen Konstruktionsregeln weiter zu erläutern.
Dem Wissen vorausgeht die Anschauung von Dingen, die Vorstel-
lung von Sachverhalten, das Gefühl von Ich-Zuständen und derglei-
chen (wie Hegel sagt). Auf dieser Ebene von unmittelbarer Gegeben-
heit und Reflexion, von sinnlicher Gewissheit, Wahrnehmung und
Selbstbewusstsein ist der Stoff des Wissens angesiedelt, den wir in den
Akten des Bewusstseins auffassen. Es war Kants Fehler, diesen Wis-
sensinhalt von der Wissensform zu trennen und die stoffliche Seite in
der Anschauung artverschieden gegen die formale Seite im Begriff zu
stellen. »Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die
Begriffe aber auf Funktionen. Ich verstehe aber unter Funktion die
Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemein-
schaftlichen zu ordnen. Begriffe gründen sich also auf der Sponta-
neität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität
der Eindrücke.«!!!
So muss für Kant der Begriff »leer« bleiben!!2, die Synthesis von
Anschauung und Begriff bleibt unbegriffen und einer geheimen und
überindividuellen Macht geschuldet, der »transzendentalen Apperzep-
tion«. »Der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Be-
ziehung auf den Verstand ist: dass alles Mannigfaltige der Anschauung
unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apper-
zeption stehe.«!13 Hegel kritisiert, dass damit natürlich nichts erklärt
und ein Name an die Stelle einer Beziehung gesetzt ist, die doch kon-
struiert werden müsste. Zwar anerkennt HegeI, dass Kant eine Deduk-
tion der Wissens form (nämlich in der transzendentalen Deduktion der
Kategorien) versucht habe. »Es gehört zu den tiefsten und richtigen
Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, dass die Einheit,
die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die urspTÜnglich-{ynthetische Einheit
der Apperzeption, als Einheit des: Ich denke, oder des Selbstbewusstseins
erkannt wird.«!!4 Er wirft aber Kant vor, bei ihm werde der Begriff »als
etwas bloss Subjektives genommen, aus dem sich die Realität, unter wel-
cher, da sie der Subjektivität gegenübergestellt wird, die Objektivität zu
verstehen ist, nicht herausklauben lasse.«!!5 Damit aber bleiben das in
Begriffsform konstituierte Wissen und die ihm vorangehenden For-
men der Realitätsgegebenheit unüberbrückbar voneinander getrennt,
Kant kommt über die Grenzen einer dualistischen Erkenntnispsycho-
logie auch transzendentalphilosophisch nicht hinaus. >>jenes Verhältnis
des Verstandes oder Begriffs zu den ihm vorausgesetzten Stufen (...) wird
104 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

sowohl in der gewöhnlichen psychologischen Vorstellung als auch in


der Kantischen Transzendentalphilosophie so angenommen, dass der
empirische Stift, das Mannigfaltige der Anschauung und Vorstellung,
zuerstJiir sich da ist, und dass dann der Verstand dazu hintrete, Einheit
in denselben bringe und ihn durch Abstraktion in die Form der Allge-
meinheit erhebe. Der Verstand ist auf diese Weise eine für sich leere
Form, welche teils nur durch jenen gegebenen Inhalt Realität erhält, teils
von ihm abstrahiert, nämlich ihn als etwas, aber nur für den Begriff Un-
brauchbares weglässt.«116 Dagegen hat die Philosophie gerade das Ent-
stehen der wahren Form des Wissens, der Wissenschaft, aus den vor-
wissenschaftlichen Anfängen heraus zu entwickeln, wenn sie ihren
Gegenstand, die Wahrheit, hervorbringen will. (Hervorbringen heisst
nicht: Erzeugen; sondern: An den Tag bringen, aus dem Dunklen,
Verborgenen herausführen, pro-ducere). »Das Wissen, wie es zuerst ist,
oder der unmittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewusstsein. Um
zum eigentlichen Wissen zu werden oder das Element der Wissen-
schaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es sich durch
einen langen Weg hindurchzuarbeiten.«117 Diese Entwicklung ge-
schieht in der Weise, dass gewonnene Wissensinhalte festgehalten und
neue Wissensinhalte gewonnen werden, dass die Wissenschaft also
immer zugleich als Gebilde und Prozess erscheint. »Die Wissenschaft
stellt sowohl diese bildende Bewegung in ihrer Ausführlichkeit und
Notwendigkeit, als das, was schon zum Momente und Eigentum des
Geistes herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar.«118 Die Philoso-
phie gewinnt in der Rekonstruktion der Form der Wissens gewinnung
und der Form des Gewussten »die Einsicht des Geistes in das, was Wis-
sen ist.«119 Das geschieht dadurch dass die bloss unmittelbare Auffas-
sung des Gegenstandes in den vorwissenschaftlichen Weisen des Be-
wusstseins im Begriff aufgehoben wird, sodass mit dem Begriff erst
die volle Wirklichkeit des Gegebenen in seiner Gewordenheit offen-
liegt. 120
Daraus ergibt sich ein doppelter Aspekt im Werden des Wissens:
Das Denken fördert die Wahrheit des Wissens zutage, die implizit be-
reits in den Weisen der Anschauung und Vorstellung enthalten, aber
eben im Schein der Unmittelbarkeit verborgen war, indem es das Sy-
stem der Wissenschaft konstruiert, also das Element der Wissenschaft,
in welchem die Wahrheit offenbar werden kann, erzeugt. Wenn Hegel
also davon spricht, dass das Denken das Element der Wissenschaft er-
zeuge, so heisst das nicht, dass das Denken den Gegenstand in seiner Wirk-
lichkeit, will sagen in seinen Vermittlungen und in seinem Sich anders-
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 105

werden, erzeugt; indem das Denken vielmehr die Vermittlungen ent-


deckt, sie offenlegt und im Zusammenhang darstellt, erzeugt es das Ele-
ment der Wissenschaft, in dem die wahre Gestalt der Wahrheit sich zeigt
(analog wie das Ding sich im Element des Lichts zeigt). Eben das ist die
Wahrheit des Wissens, die erst mit dem Begriff hervortritt und die die
Inhalte der Anschauung, Vorstellung usw. als nur unvollständige An-
sichten der Sache selbst erkennen lässt - Ansichten, welche nur in dem
vom Begriff dargestellten Ganzen ihren Grund haben. »Die Philoso-
phie aber gibt die begriffene Einsicht, was es mit der Realität des sinnli-
chen Seins für eine Bewandtnis habe, und schickt jene Stufen des Ge-
fühls und der Anschauung, des sinnlichen Bewusstseins usf. insofern
dem Verstande voraus, als sie in dessen Werden seine Bedingungen,
aber nur so sind, dass der Begriff aus ihrer Dialektik und Nichtigkeit als
ihr Grund hervorgeht, nicht aber, dass er durch ihre Realität bedingt
wäre.«121 Die Realität der vorbegrifflichen Erkenntnis besteht immer
nur in der Unmittelbarkeit des Vereinzelten und kann so nicht die Be-
dingung der Wahrheit als Einsicht in den Vermittlungszusammenhang
sein. Nicht durch Abstraktion, sondern durch Negation der Einzelhei-
ten wird der Begriff gewonnen, und er vollendet die vorbegrifflichen
Weisen der Realitätsgegebenheit, indem er den Gegenstand in allen sei-
nen, auch zeitlich auseinanderliegenden Bestimmungen fasst, also aus
der Extensionalität seiner Präsentation in die Intensionalität seiner in-
dividuellen Einzelheit überführt. »Indem der Begriff das eigene Selbst
des Gegenstandes ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es nicht ein ru-
hendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich
bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Be-
griff.«122 Hier ist schon ein Hinweis auf die Interpretation der Logik
angelegt: Der Begriff ist das Selbst des Gegenstandes, also nicht nur
dessen So-und-so-erschcinen, sondern seine Identität, die in der zeitli-
chen Ausdehnung ja nur eine Identität im Sich anders werden sein kann,
sodass jedes Selbst einer Sache nur in ihrem Werden wirklich ist, jede
Sache also zugleich als Subjekt (als sich Bewegendes, Wirkendes) be-
griffen werden muss. Die Präsenz dieses Nacheinander von Entfal-
tungszuständen des Gegenstandes ist aber nur im Wissen gegeben, eben
als sein Begriff. Die genetische Konstruktion des Begriffs als den zu-
gleich historischen und logischen Prozess der Entstehung des wissen-
schaftlichen (= philosophischen) Wissens vollzieht die Phänomenologie
des Geistes. Sie entwickelt die Formen des Bewusstseins zur Form der
Vernunft in der Arbeit des Bewusstseins an sich selbst. Aber erst die
Logik entfaltet das System der Vernunft als solches, in dem seine
106 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Bestimmungen nicht mehr nur Formen des Bewusstseins sind, son-


dern zugleich solche des Gegenstandes (der Sache selbst), die sich im
Wissen zeigen. In der Logik wird die transzendentalphilosophische
Wende der neuzeitlichen Philosophie zurückgenommen, ihr Gehalt
aufgehoben.

5. Die Begriffsform der Wirklichkeit

Die logische Form, in der das Wissen über einen Gegenstand explizit
vorliegt ist die Prädikation, das Urteil, in dem die Eigenschaften von
einem Gegenstand ausgesagt werden. Wahrheit »im Elemente der Wis-
senschaft« - und das ist, wie wir gesehen haben für Hegel die wahre
Gestalt der Wahrheit - manifestiert sich zunächst als Aussagenwahr-
heit, die Form des Denkens, in der dieses zu sich selbst kommt, ist die
Aussage. Darin unterscheidet es sich von allen anderen Bewusstseins-
akten. Seit dem Organon Aristoteles ist das Urteil als die definitive Ge-
stalt der wissenschaftlichen Wahrheit festgestellt. Im Urteil wird, so
scheint es, der Begriff gebildet, sei es dass das Prädikat seinen Inhalt
oder seinen Umfang angibt. Wir wissen von einem Gegenstand S
immer nur so viel, wie durch seine Prädikate PI> P z, P 3 (...) angegeben
wird. Wird die Urteils theorie von ihrer Beziehung auf die vorprädika-
tive Erfahrung (die Anschauung, Vorstellung USw.) abgelöst, so bleibt
der Gegenstand ein leeres X, das erst durch die prädikativen Inhalte der
Urteils akte konkretisiert wird. Die mittelalterliche Unterscheidung von
Dass-sein und So-sein drückt diese Auffassung vom Wissen aus. Hegel
hat dieses Verständnis von der Natur des Urteils das »gewöhnliche« ge-
nannt. »Gewöhnlich denkt man beim Urteil zuerst an die Selbständigkeit
der Extreme, des Subjekts und Prädikats, dass jenes ein Ding oder eine
Bestimmung für sich und ebenso das Prädikat eine allgemeine Bestim-
mung ausser jenem Subjekte etwa in meinem Kopfe sei.«lZ3 Das ist die
Form der Verstandes tätigkeit, die im Auseinanderhalten verschiedener
Momente besteht.
So gewinnt das Urteil für die Logik den Vorrang vor dem Begriff,
der aus ihm hervorgeht als sein Resultat oder der in es eingeht als sein
Baustein. Kants Kritik der reinen Vernunft geht noch ganz und gar von
diesem Vorrang des Urteils aus. Kant schreibt: »Wir können aber alle
Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, sodass der Ver-
stand überhaupt als ein Vermogen Zu urteilen vorgestellt werden kann.
Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das
Aufbauplan und Struktur des Hegeischen Systems 107

Erkenntnis durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich, als Prädikate


möglicher Urteile, auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbe-
stimmten Gegenstande.«124 Hegel jedoch kehrt das Verhältnis um. Im
Urteil wird nach seiner Interpretation des Denkens der Begriff nicht
gebildet, sondern seine Bestimmtheit geseti! »Das Urteil ist die am BegrijJe
selbst gesetZfe Bestimmtheit desselben (...) Das Urteil ist dies Setzen der
bestimmten Begriffe durch den Begriff selbst. Das Urteilen ist inso-
fern eine andere Funktion als das Begreifen oder vielmehr die andere
Funktion des Begriffs, als es das Bestimmen des Begriffes durch sich
selbst.«125
Hegel reisst die Akte, in denen das Wissen entsteht, nicht ausein-
ander, zerlegt die Auffassungsinhalte nicht in voneinander unabhängig
zu betrachtende Bestandteile, sondern sieht sie als Einheit, die im Be-
griff wirklich ist. Der Begriff an sich wäre inhaltslos, enthielte nicht
schon die vorprädikative Wahrnehmung des Gegenstands die ihm in-
härierenden Prädikate. So wird im Urteil nur explizit, was im Begriff
schon gegeben ist, nämlich: »Der Begriff ist das Freie und ist Totalität,
in dem jedes der Momente das Ganze ist, das er ist, und als ungetrennte
Einheit mit ihm gesetzt.«126 Nur dass der Begriff, solange er nicht im
Urteil expliziert ist, seinen in Anschauung, Vorstellung, Gefühl usw. ge-
gebenen Inhalt noch nicht in der wahren Gestalt der Begriffs zeigt,
nämlich nicht als Vermitteltes; er ist dann nur »der formelle, der Begriff
im Anfang oder der als unmittelbarer ist.«l27 Der Begriff, der erst in der
Form seines Namens vorliegt, ist »noch unvollständig« und »nur erst
zur abstrakten Wahrheit gekommen«, aber nicht deshalb, weil er etwa
»jener vermeintlichen Realität-, die im Gefühl und Anschauung gege-
ben sei, entbehre«, sondern weil »der Begriff noch nicht seine eigene, aus
ihm selbst erzeugte Realität sich gegeben hat.«128 Diese seine Realität
ist es aber, sich als unendlich vermittelt zu wissen, das heisst jede be-
sondere Bestimmung in einer einzelnen Prädikation als unvollständig
zu erkennen. Die im Urteil fixierte prädikative Bestimmtheit des Be-
griffs bleibt unvollständig, weil jedes Prädikat nur ein einseitiges Mo-
ment des vollständigen Begriffs von einer Sache ist. Das Wesen des phi-
losophischen Begriffs im Unterschied zum biossen Verstandesbegriff
liegt darin, dass er die Grenze seiner eigenen Definition aufhebt, seinen
jeweiligen Begriffsgehalt immer wieder überschreitet und dieses Über-
schreiten zum Moment seiner Wirklichkeit macht.
Dieser Prozess des Überschreitens vollzieht sich in einer Serie von
Prädikationen, sodass das Urteilen (als Prozess - und nicht das ein-
zelne bestimmte Urteil) die Vermittlung des Begriffs mit sich selbst, die
108 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Reflexion des Begriffs in sich ist. Das einzelne Urteil gibt dann den
»Begriff in seiner Besonderheit, als unterscheidende Beziehung seiner
Momente«129, es setzt also den Begriff voraus - wenn auch zuerst in
seiner »formellen Abstraktion«13o, in welcher er das Resultat ist, das aus
der Realitätsgegebenheit in Anschauung und Vorstellung hervor-
geht. l3l Im Durchgang durch die Urteils akte und im dialektischen
Aufheben ihrer Endlichkeit, also im Fortgang von Bestimmung zu
Bestimmung des Begriffs ~)als eine Bestimmung des Gegenstandes
selbst«132) verwirklicht sich das Wissen von der Sache selbst, die Wahr-
heit des Wissens, die Idee. Die eigentliche Funktion der Logik ist es
nicht, die Regeln des Unterscheidens und Verknüpfens (der Klassifi-
kation) anzugeben - das ist nur ihre partielle Aufgabe; sondern den
Prozess des Bestimmens und Überschreitens (Fortbestimmens) zu
beschreiben, der den Weg von der determinatio (= negatio) über die negatio
(= negatio negationis) zur nächsten determinatio ausmacht. Die Identität des
auf diesem Wege Unterschiedenen ist Gegenstand der Logik. In die Ein-
heit der »schlechthin intensiven Totalität«133 zurückgenommen - als In-
tegration aller in der Extension durchschrittenen Bestimmungen - ist
dies die Idee. Sie ist »das Wahre an undfür sich. Ihr ideeller Inhalt ist kein
anderer als der Begriff in seinen Bestimmungen.«134 In der Idee hat die
Logik ihren Zweck gefunden, der zugleich ihr Grund ist.
Der »Begriff in seinen Bestimmungen« ist das Vernünftige. Aber er
ist gerade nicht das Vernünftige als der einzelne, so und nicht anders
bestimmte Begriff; als solcher ist er ein Verstandes begriff, eine not-
wendige Stufe der Erkenntnis, die die Identität eines Gegenstandes fi-
xiert - aber noch nicht der vernünftige Begriff, der erst durch das Fort-
bestimmen und letztlich in der Totalität der Bestimmungen eines sich
in der Zeit verändernden Gegenstandes gebildet wird. Daher sagt
Hegel im ersten Satz der Begriffslogik: »Was die Natur des Begriffes sei,
kann so wenig unmittelbar angegeben werden, als der Begriff irgend-
eines anderen Gegenstandes unmittelbar aufgestellt werden kann.«135
Im ersten Festhalten der substantiellen, in ihrem Selbstsein (= Unter-
schiedensein gegen andere) gesetzten Sache - ~)Beides, das identische
und das negative Beziehen, ist ein und dasselbe; die Substanz ist nur in
ihrem Gegenteil identisch mit sich selbst«136) - wird im Begriff nur »die
unmittelbar einfache Identität«137 gedacht. Der Begriff ist »in seiner
einfachen Beziehung auf sich selbst absolute Bestimmtheit.«138 Damit
ist er aber erst der Ausgangspunkt der Bewegung, die das substantielle
Sein in sich selbst als substantielles Verhältnis - das heisst als Refle-
xion-in-sich - vollzieht. Die Begriffe, an die sich die Alltagserfahrung
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 109

und auch noch die Einzelwissenschaften halten, sind solche isolierten


bestimmten Begriffe und mithin nur vorläufige Momente des philoso-
phischen Begriffs: »Sie sind nur bestimmte Begriffe (...), indem das An-
dere, in das jede Bestimmung übergeht (...) nicht als Besonderes, noch ihr
Drittes als Einzelnes oder Subjekt bestimmt ist (...) Was gewöhnlich unter
Begriffen verstanden wird, sind Verstandesbestimmungen, auch nur aIIge-
meine Vorstellungen: daher überhaupt endliche Bestimmungen.«139
Die Unmittelbarkeit jener Begriffe, die nichts als Verstandesbe-
stimmungen sind, wird in dem Prozess der unendlichen Reflexion auf-
gelöst, in dem sich jede Identität als bestimmt durch ihr Gegenteil, die
Nicht-Identität des anderen, erweist. Dieser Prozess, dessen Struktur
in den Bestimmungen der Reflexion zu Anfang der Wesenslogik dar-
gelegt wurde!40, ist prinzipieII unabschliessbar, weil die in der bestim-
menden Reflexion erreichte Bestimmtheit stets wieder Voraussetzung
und Ausgangspunkt einer neuen, weiterführenden setzenden Reflexion
ist. »Diese unendliche Reflexion in sich selbst, dass das Anundfür-
sichsein erst dadurch ist, dass es Gesetztsein ist, ist die Vollendung der
Substanz. Aber diese VoIIendung ist nicht mehr die Substanz selbst, son-
dern ist ein Höheres, der Begriff, das Subjekt.«!4! Das bedeutet, dass in
der Reflexivität des Substanzseins (als substantieIIes Verhältnis) die
Substanz zu sich selbst in ein Verhältnis tritt, dass sie sich für sich selbst
darstellt, was sie an sich ist (welches darsteIlende Verhältnis erst eine
Wahrheitsrelation ist) und dass dieses mit ihr identische von ihr Unter-
schiedensein ihre SelbstdarsteIlung in der Form des Begriffs ist. Der
voIIständige Begriff, der das Integral dieser Reflexionsprozesse wäre,
müsste die unmittelbar einfache Identität vermittelt als Selbstbezie-
hung wiederhersteIlen. »Diese Identität hat so sehr die Bestimmung der
Negativität; sie ist die Negation oder Bestimmtheit, welche sich auf
sich bezieht; so ist der Begriff Einzelnes.«!42 Darum ist das Einzelne,
das Subjekt, »der als Totalität gesetzte Begriff.«!43 Das ist erst der Ver-
nunftbegriff und von ihm gilt: »Die Momente des Begriffes können in-
sofern nicht abgesondert werden; die Reflexionsbestimmungen sollen
jede für sich, abgesondert von der entgegengesetzten, gefasst werden
und gelten; aber indem im Begriff ihre Identitätgesetifist, kann jedes sei-
ner Momente unmittelbar nur aus und mit den anderen gefasst wer-
den.«!44 Genau um dieser Dialektik willen aber entzieht sich der Ver-
nunftbegriff den Verstandes bestimmungen. Diese werden jede für
sich, abgesondert von den entgegengesetzten, aufgefasst; und so ma-
chen sie gerade den bestimmten Begriff aus, der aber einseitig und
unvoIIständig bleibt. Sie in ihrer Entgegensetzung als Identität zu den-
110 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

ken, erfordert das In-einander-Reflektieren der Verstandesbegriffe zur


Totalität des »schlechthin Konkreten« - und das Produkt dieser Totali-
sation ist der »Begriff des Begriffs«, der in der Unmittelbarkeit des Be-
stimmtseins noch nicht erscheint, sondern die Form ist, unter der wir
das Fortbestimmen als Prozess und Methode denken. Erst auf dieser
Stufe einer zweiten Reflexion, die die unendliche Iteration der ersten
Reflexion in eine ideelle Einheit zusammenfasst, ist die Substanz »das
Absolute, das an und für sich seiende Wirkliche.«145 - an sich als das
»alle Wirklichkeit und Möglichkeit in sich enthaltende Wesen«146, für
sich als das sich auf sich selbst Beziehende im absoluten Verhältnis der
Wechselwirkung; anundfürsich, also als Totalität des Einzelnen samt
allen seinen Beziehungen, wird diese Wirklichkeit indessen nur in der
Darstellung ihrer selbst für sich selbst, und diese Darstellung, die allein
Wahrheit sein kann, ist der philosophische Begriff. Er drückt aus, dass
die Substanz, die sich im Wechselwirkungsverhältnis selbst bestimmt,
dadurch Subjekt ist. 147
Der Gedanke des Identisch-Werdens von Begriff und Wirklichkeit
in der Objektivität, die die »Bedeutung des anundfürsichseienden Be-
griffs« hat 148 , lässt sich auf drei Stufen entfalten. Zunächst einmal muss
festgehalten werden: Die Objektivität ist zugleich die unendliche und ex-
tensive Mannigfaltigkeit selbständiger Seiender und die intensive Ein-
heit des Mannigfaltigkeit als Welt, von der alle diese Seiende nur un-
selbständige Momente sind. Der § 194 der En:;yklopädie spricht diesen
widersprüchlichen Doppelaspekt von Vielheit und Einheit, von Be-
sonderheit und Allgemeinheit aus: »Das Objekt ist unmittelbares Sein
durch die Gleichgültigkeit gegen den Unterschied, als welcher sich in
ihm aufgehoben hat, und ist in sich Totalität und zugleich, indem
diese Identität nur die ansichseiende der Momente ist, ist es ebenso
gleichgültig gegen seine unmittelbare Einheit; es ist ein Zerfallen in
Unterschiedene, deren jedes selbst die Totalität ist. Das Objekt ist
daher der absolute Widerspruch der vollkommenen Selbständigkeit des
Mannigfaltigen und der ebenso vollkommenen Unselbständigkeit der
Unterschiedenen.«
Auf dieser Stufe der Gegebenheit der Vielen und ihrer Verknüp-
fung durch Mechanismus, Chemismus und Teleologie erscheint die
Einheit als Leistung des subjektiven Begriffs. Dieser hat seine reine Ge-
stalt im Selbstbegriff des Ich: Das Ich, das sich selbst denkt, indem es
denkt und in seinem Denken nichts anderes ist als Ich - das ist das car-
tesische cogito = ego cogitans. Das »ich denke« ist der einzige subjektive
bestimmte Begriff, dem an sich selbst - ohne Beziehung auf ein An-
Aufbauplan und Struktur des Hegeischen Systems 111

deres, ihm Äusseres - Objektivität zukommt; denn der Gegenstand des


»ich denke« ist unterschiedslos identisch mit dem Inhalt des »ich denke«.
Das Ich (als reines cogito) ist der Begriff seiner selbst als daseiend: sum
cogitans. Das ist das Resultat der cartesischen Reduktion, die Hegel- auf
dieser Stufe - mitvollzieht: »Ich habe wohl Begriffe, das heisst be-
stimmte Begriffe; aber Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff
zum Dasein gekommen iSt.«149
Demgegenüber besteht aber die Objektivität des Objekts darin,
dass dieses nicht einfach das unmittelbare Dasein einer bestimmten
Sache ist, sondern in ihm die Vermittlung ihrer Bedingungen und Be-
stimmungen eingeschlossen ist: »Unter Objekt aber pflegt man nicht
bloss ein abstraktes Seiendes oder existierendes Ding oder ein Wirkli-
ches überhaupt zu verstehen, sondern ein konkretes, in sich vollständiges
Selbständiges; diese Vollständigkeit ist die Totalität des Begriffs.« Also
ist die Inhärenz des nicht unmittelbar Präsenten nur gedacht, (nicht an-
geschaut oder vorgestellt), das heisst nur in der Form des Begriffs ge-
geben. Aber »dass das Objekt auch Gegenstand und einem Anderen Äus-
seres ist, dies wird sich nachher bestimmen, insofern es sich in den
Gegensatz zum Subjektiven setzt.«150 Und Hegel sagt gleich darauf,
dass die Form, in die der Begriff übergeht, »von der Bestimmtheit, wie
sie dem Begriffe angehört und in ihm erscheint, verschieden ist«151, und
dass im Objekt, dem »Produkt dieses Übergangs«, der »Begriff nach
seiner eigentümlichen Form verschwunden ist«. Richtig sei zu sagen:
»Wie allenthalben ist die spekulative Identität nicht jene triviale, dass
Begriff und Objekt an sich identisch seien.«152
Der Begriff erzeugt also nicht die Wirklichkeit in ihrer Objektivität,
sondern er stellt sie dar, das heisst er stellt sie zusammengefasst, kon-
zentriert vor uns hin - eben als Objekt; und hinstellen Oat. ponere) ist
dasselbe wie deutsch setzen - im Griechischen ein und dasselbe Wort
tithemi (wovon thesis abgeleitet ist). Heisst es also, der Begriff sei das Ge-
setztsein der Substanz, als der Form, in der Wirkliches existiert, so be-
deutet das nicht, dass der Begriff die Wirklichkeit als Vermitteltheit
von Sein und Wesen herstellt, sondern dass er sie darstellt und hinstellt.
Und das ist die dritte Stufe, auf der der widersprüchliche Doppelaspekt
der Objektivität, zugleich extensive Vielheit und intensive Einheit der
Vielheit zu sein, vermittelt durch die Subjektivität des Begriffs im Sinne
des transzendentalen Synthesis, zur spekulativen, das heisst unterschie-
denen Identität von Begriff und Objektivität aufgehoben wird. 153
So sind wir zur Begriff~rm der Wirklichkeit gelangt. Noch aber ist
der Weg zu betrachten, den endliches, extensionales Denken gehen
112 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

muss, um seinen unendlichen Gegenstand zu vergegenwärtigen. Die-


ser Weg beginnt, wie wir gesehen haben, bei der ersten einzelnen Be-
stimmung, die in der Prädikation ausgesprochen ist; ihr geht schon das
Wort voraus, das den Begriff benennt und formell und unmittelbar,
also nicht eigentlich als Begriff, setzt. »Was mehr ist als ein solches
Wort, der Übergang auch nur zu einem Satze, enthält ein Anderswerden,
das zurückgenommen werden muss, ist eine Vermittlung (...) Die Ver-
mittlung ist nichts anderes als die sich bewegende Sichselbstgleichheit,
oder sie ist die Reflexion in sich selbst.«154 Jetzt wird das, was im Begriff
enthalten ist, als sein Bestimmungsmoment auf ihn bezogen; die Ko-
pula bezeichnet keine Gleichheit, sondern einen Einschluss: praedicatum
inest subiecto. Das Subjekt aber, dem das Prädikat einwohnt, muss mehr
sein als nur das, was das Prädikat von ihm aussagt; die Bestimmtheit des
Prädikats, durch welches der Begriff ein besonderer wird, erweist sich
als unvollständig, sie muss ergänzt, modifiziert, vielleicht korrigiert
werden. Das ist der Prozess der Fortbestimmung, in ihm geschieht
schrittweise das »Setzen« (Heraussetzen, ins Licht setzen) der Beschaf-
fenheit dessen, was »an sich« dem Gegenstand einwohnt. So tritt der
Gegenstand im Urteil gleichsam sich selbst entgegen, wird für sich, das
heisst er wird zu sich in ein Verhältnis gesetzt, mit sich vermittelt.

6. Intensionalität als Reflexion in sich

Das Seiende in seinem bestimmten Sein (= Dasein) wird so durch Un-


terscheiden von anderem und damit zugleich Bestimmen seiner selbst
in ein doppeltes Reflexionsverhältnis versetzt: Es setzt ein Anderes, als
es selbst ist, sich entgegen und setzt sich damit selbst als das bestimmte
Andere des unbestimmten Anderen - Reflexion-in-sich (»setzende Re-
flexion«); das in sich reflektierte Dasein bleibt bei sich selbst, insofern
im reflexiven Zurückkehren zu sich selbst das Andere verschwindet.
»Die Reflexion ist also die Bewegung, die, indem sie die Rückkehr ist,
erst darin das ist, das anfängt oder das zurückkehrt.«155
Das Zurückkehren ist jedoch die Folge des Umkehrens am Ande-
ren, das als Anderes gesetzt wird: »Die reflektierende Bewegung ist
somit (...) als absoluter Gegenstoss zu sich selbst zu nehmen.«156 Indem ich
zu mir zurückkehre, weil ich auf das Entgegenstehen (= den Wider-
stand) eines Anderen gestossen bin, erfahre ich in der Affirmation mei-
ner selbst als eines beschränkten Daseins (also in der Negation des un-
endlichen Kontinuierens meines Seins) zugleich affirmativ das Sein des
Aufbauplan und Struktur des Hegeischen Systems 113

Anderen; und indem ich die bestimmte Weise seines Widerstands er-
fahre, bestimmt sich das Sein des Anderen im Unterschied zu mir als
dessen bestimmtes Dasein und damit als bestimmte Negation meines
Daseins. Im Setzen des Anderen wird meine Reflexion-in-mich zugleich
Reflexion-meiner-in-ein-Anderes 0>äussere Reflexion«): Ich bin nicht
mehr nur da, ich existiere, das heisst ich bin über mich hinaus, bezogen
auf Anderes, insgesamt auf Welt. »Die Existenz ist die unmittelbare
Einheit der Reflexion-in-sich und der Reflexion-in-Anderes.«157 Set-
zende und äussere Reflexion sind aber nur abstrakt unterschiedene
Momente des einen Reflexionsverhältnisses, in dem sich das Seiende
als durch seine Beziehung zur Welt bestimmtes Seiendes erweist 0>be-
stimmende Reflexion«).
Steht am Anfang der Wesenslogik die Strukturerhellung der Refle-
xion als des universellen Verhältnisses, in dem die Seienden zueinander
stehen, sich bestimmen und eine Welt bilden, so folgt darauf die Dar-
stellung dieser Welt als Erscheinung, das heisst das Erscheinen der Ein-
zelnen füreinander und damit als Momente ihres Verhältnisses, welches
die eine Welt ist; und die Welt der Erscheinung - »Diese unendliche Ver-
mittlung ist zugleich eine Einheit der Beziehung auf sich, und die Exi-
stenz ist zu einer Totalität und Welt der Erscheinung, der reflektierten
Endlichkeit entwickelt«158 - diese Welt der Erscheinung leitet über zur
Wirklichkeit, die das substantielle Sein der Erscheinung ist: »Die Exi-
stenz ist unmittelbare Einheit des Seins und der Reflexion, daher Er-
scheinung (...) Das Wirkliche ist das Gesetifsein jener Einheit, das mit sich
identisch gewordene Verhältnis.«159 In der Substantialität des Seins ist
die »Totalität der Akzidenzen« als Einheit gedacht, sodass sie »den
Reichtum des Inhalts offenbart«.16o Die substantielle Form (= Form-
bestimmtheit der Substanz) ist die intensionale Einheit der unendli-
chen Reflexion, >>Und die Wahrheit der Substanz ist der Begriff«161, in-
sofern er die Manifestation dieser Einheit und die erscheinende (sich
zeigende) Substanz ist.
So ist die Substanz (= das Sein der Wirklichkeit) die Einheit des An-
sichseins der Daseienden und ihrer wechselseitigen Reflexionen als Re-
flexion-in-sich und Reflexion-in-Anderes, und die Substantialität ist
der Titel für die Einheit der in universeller Wechselwirkung stehenden
Mannigfaltigkeit, Anundfürsichsein als die Verhältnis form einer Welt,
die ist, indem sich jedes ihrer selbständigen Elemente als unselbständi-
ges Moment auf jedes andere bezieht. Die eigene notwendige Fortbe-
stimmung der Substanz ist das Setzen dessen, was an undfür sich ist, der
Begriff nun ist diese absolute Einheit des Seins und der Reflexion, dass das
114 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

An- und Fürsichsein erst dadurch ist, dass es ebenso so sehr Reflexion oder
Gesetz/sein ist, und dass das Gesetz/sein das An- und Fürsichsein ist.«162
Das Tun des Denkens ist die Explikation des als ursprüngliche Ein-
heit vorprädikativ Gegebenen, der Substanz. Diese ist »das Absolute«,
»die Sache als das reflexionslose Unmittelbare (...) die Totalität der Be-
stimmungen der Sache, - die Sache selbst«163; jedoch »um dieser unmit-
telbaren Identität und Gegenwart der Substanz in den Akzidenzen willen
ist noch kein realer Unterschied vorhanden. In dieser ersten Bestimmung
ist die Substanz noch nicht nach ihrem ganzen Begriffe manife-
stiert.«164 Die an sich seiende Substanz, dem Denken vorgegeben, wird
in dessen Tätigkeit des Bestimmens und Fortbestimmens zur fürsich-
seienden. »Die Bewegung der Substantialität (...) besteht darin, 1. dass
die Substanz (...) sich zu einem Verhältnisse unterscheidet (...) 2. Das
andere Moment ist das Fürsichsein, oder dass die Macht sich als sich auf
sich selbst beziehende Negation setzt, wodurch sie das Vorausgesetzte
wieder aufhebt. - Die aktive Substanz ist die Ursache; sie wirkt, das
heisst sie ist nun das Setzen.«165 Im Unterscheiden wird ein Moment der
Substanz aus ihr heraus als ihr Anderes gesetzt, die Substanz erscheint
als aktive und ihr gesetztes Moment als ihr Anderes wird zu der ihr ent-
gegengesetzten passiven Substanz. »Die Ursache bringt eine Wirkung,
und zwar an einer anderen Substanz hervor (...) Die Ursache wirkt auf
die passive Substanz ein, sie verändert deren Bestimmung.«166 Diese Be-
ziehung schlägt um, denn mit Rücksicht auf jede besondere Substanz
ist jede andere besondere Substanz zugleich gesetzt (passiv) und um-
gekehrt setzend (aktiv); und sie ist passiv, indem sie aktiv ist, die Akti-
vität ist übergreifend. »Die aktive Substanz wird durch das Wirken, das
heisst indem sie sich als das Gegenteil ihrer selbst setzt, was zugleich
das Aufheben ihres vorausgesetz/enAndersseins, der passiven Substanz, ist,
als Ursache oder ursprüngliche Substantialität manifestiert.«167 Indem
die Substanz sich in der Wechselwirkung der Substanzen vollendet,
kommt sie zu sich selbst als die Aufhebung der besonderen Substanzen
in der Totalität, als welche sie Begriff ist. »Diese Wechselwirkung (...),
diese unendliche Reflexion in sich selbst, dass das An- und Fürsichsein
erst dadurch ist, dass es Gesetztsein ist, ist die Vollendung der Substanz.
Aber diese Vollendung ist nicht mehr die Substanz selbst, sondern ein
Höheres, der Begriff, das Suijekt.«168 Dies ist die philosophische Be-
gründung des der Phänomenologie vorausgeschickten Postulats, es
komme »alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso
sehr als Suijekt aufzufassen und auszudrücken.«169 Wiederum zeigt
sich, dass das Verfahren der Phänomenologie die Logik voraussetzt; nur
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 115

die Logik kann die Identität von Substanz und Subjekt ableiten, die die
Phänomenologie als Entwicklung der Bewusstseinsgestalten sozusagen
transzendental konstruiert: »Die lebendige Substanz ist ferner das Sein,
welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heisst, welches in Wahr-
heit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens,
oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst iSt.«170
Die Darstellung in der Logik kontrastiert aufschlussreich mit Kants
Analogien der Erfahrung. Kant war in der Abfolge der Kategorien Sub-
stantialität - Kausalität - Wechselwirkung ausgegangen von dem Cha-
rakter einzelner Erkenntnisgegenstände, hatte dann deren Verknüpfungs-
weisen betrachtet und schliesslich die Idee des Gesamtzusammenhangs
an den Antinomien scheitern lassen; und er musste zu diesem Ergebnis
kommen, weil er von der Menge der endlichen Einzelnen fortschrei-
tend in die »schlechte Unendlichkeit« der reinen Quantitätsvermehrung
gerät. Hegel hingegen führt von der Substanz über die bloss vermit-
telnde Funktion der Kausalität zur Wechselwirkung als der aus der Sub-
stanz selbst abzulesenden Totalität der Bestimmungen, die nun abgelei-
tet sich als Voraussetzung des Seins der einzelnen Substanz erweist,
welche dann nichts anderes als der Ausdruck dieser Wechselwirkung
(sagen wir kühn: repraesentatio mundl) ist - ein wahrhaft monadologi-
sches Konzept!
Jede Substanz ist das (passive, gesetzte) Resultat der Wechselwir-
kung aller Substanzen und jede ist zugleich aktiv (aktives, setzendes)
Moment dieser Wechselwirkung. Die Wechselwirkung aber erscheint
nicht unmittelbar an der einzelnen Substanz, sondern muss aus dem
Prozess des Bestimmens ihrer Besonderheiten hergeleitet werden und
offenbart sich folglich erst im Begriff. »Der Begriff hat daher die Sub-
stanz zu seiner unmittelbaren Voraussetzung, sie ist das an sich, was er
als Manifestiertes ist. Die dialektische Bewegung der Substanz durch die Kau-
salität und Wechselwirkung hindurch ist daher die unmittelbare Genesis
des Begrifft, durch welche sein Werden dargestellt wird.«J71 - Nun stellt
der Begriff nichts anderes dar, als was die Substanz an sich schon ist;
folglich kann die Verfassung des Begriffs, die universelle Wirklichkeit
als Vermitteltheit jedes Einzelnen mit allem und die Totalität der Be-
stimmungen im Verfahren der Fortbestimmung zu konstruieren, nur
die Rekonstruktion der Seinsweise der Substanz sein. Das wird in der En-
?Jklopädie mit hinreichender Deutlichkeit gesagt: »Die Substanz ist hier-
mit die Totalität der Akzidenzen, in denen sie sich als deren absolute
Negativität, das ist als absolute Macht und zugleich als den Reichtum
allen Inhalts offenbart. Dieser Inhalt ist aber nichts als diese Manifestation
116 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

selbst.«!72 Die Substanz ist die Wirklichkeit, und der Abschnitt »Wirk-
lichkeit« in der Logik! 73 ist ganz der Explikation des Substanz-Seins ge-
widmet: Kausalität und Wechselwirkung (Verhältnisse von Substanzen
zueinander), durch die hindurch die Substanz sich in ihrer dialektischen
Verfassung, dem Wesen nach aktiv und zugleich passiv sich beschrän-
kend zu sein, manifestiert: passiv als Bedingtsein, aktiv als Tätigkeit, in
der Beziehung beider Aspekte aufeinander als die Sache = die Mitte
zwischen Bedingung und Tätigkeit.17 4 Das Ganze dieser vermittelten
Sachhaltigkeit (realitas) ist die Substanz, und ihre Substantialität besteht
darin, dass »aller Inhalt nur Moment (ist), das allein diesem Prozesse
angehört.«175 Dies aber ist die Wirklichkeit, und sie ist nicht ein Deri-
vat des Begriffs, der an dieser Stelle im Gang der Hegelschen Logik
noch gar nicht konstituiert ist - die Begriffslogik folgt ja erst, nachdem
die Wirklichkeit ihre höchste Stufe, die der »absoluten Substanz«!76 er-
reicht hat, »die absolute Substantialität der Unterschiedenen (...), die ur-
sprüngliche Einheit substantieller Verschiedenheit.«!77 Das ist die Wirk-
lichkeit, in der Wesen und Existenz zusammenfallen: »Die Existenz ist
unmittelbare Einheit des Seins und der Reflexion, daher Erscheinung (...)
Das Wirkliche ist das Gesetifsein jener Einheit, das mit sich identisch ge-
wordene Verhältnis.«178

7. Der dialektische Sinn des absoluten Idealismus

Aber diese Wirklichkeit bleibt stumm in sich verschlossen, solange sie


nur das Fürsichsein der Ansichseienden in äusserlicher Wechselwirkung
ist. Erst im wissenschaftlichen Wissen wird die Wirklichkeit als Wirk-
lichkeit offenbar. Denn sie ist substantielles Verhältnis. Ein Verhältnis
existiert als Verhältnis nur, indem es als ein solches dargestellt wird; was
heisst, dass ein Verhältnis eine ideelle Entität ist. Der Begriff konstitu-
iert sich also auf dem Boden der Wirklichkeit, indem diese sich in ein-
facher Identität als das zeigt, was sie wirklich ist, nämlich als Vermittelt-
heit jedes selbständig auftretenden Elements mit der Totalität aller
anderen. »Das abstrakt Unmittelbare ist wohl ein Erstes; als dies Ab-
strakte ist es aber vielmehr ein Vermitteltes, von dem also, wenn es in
seiner Wahrheit gefasst werden soll, seine Grundlage erst zu suchen ist.
Diese muss daher zwar ein Unmittelbares sein, aber so, dass es aus der
Aufhebung der Vermittlung sich zum Unmittelbaren gemacht hat.«!79
Eine gen aue Untersuchung des Unterschiedes, in dem Wirklichkeit
und Begriff sich halten, zeigt uns, dass Hegels System gerade nicht »auf
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 117

dem Standpunkt des absoluten Idealismus«180 steht, sondern diesen


Standpunkt als Moment des Systems bestimmt. Die Realität löst sich
nicht einfach im Begriff auf, so als ob dieser die einzige Realität sei;
sondern sie hat die gleiche Form wie der Begriff und wird daher von
diesem erkannt. Das »reine Wissen« ist »die letzte, absolute Wahrheit
des Bcwusstseins«181 aber das Bewusstsein weiss »von gegenständli-
chen Dingen, im Gegensatz zu sich selbst und von sich selbst im
Gegensatz gegen sie.«182 Über dieser Dualität ist der ganze Erkenntnis-
prozess aufgebaut. »Das unmittelbare Dasein des Geistes, das Bewusst-
sein, hat die zwei Momente, des Wissens und der dem \'Vissen negati-
ven Gegenständlichkeit.«183 Erst am Ende dieses Weges steht die
Einsicht, dass die Zweiheit, die auf dem Standpunkt des Bewusstseins
hervortritt, zwar nicht wegfallt, sich wohl aber als ein Selbstunterschied
eines Identischen erweist: Die Begriffsform ist die Form der substan-
tiellen Wirklichkeit selbst, deren extensive Unendlichkeit in der inten-
siven des Begriffs abgebildet wird. So kann sie von einem endlichen Ver-
stand durch den Begriff und nur durch den Begriff erkannt werden;
die nichtbegriffliche Erkenntnis des Unendlichen müsste die unmittel-
bare Anschauung, die intuitio originaria Gottes sein. (Es ist definitiv für
das HegeIsche Verständnis des Namens Gott, dass er die Äquivalenz
von Begriffsform und Substanzform zum Thema seines Systems
macht; damit wird die Gleichsetzung von absolutem Geist und Gott im
traditionellen, theologischen Sinn ausgeschlossen, Gott wird zu einem
terminus technicus für die Totalität des Weltprozesses wie die monas
monadum für die Weltstruktur säkularisiert).
Den Standpunkt des Begriffs als den des absoluten Idealismus zu
bestimmen, kann aber nicht bedeuten, einen Standpunkt ausserhalb
der Differenz von Begriff und Wirklichkeit zu beziehen, so als sei diese
Differenz »realistisch« oder »idealistisch« beschreibbar - je nach dem
Standpunkt des Betrachters. Denn jene Differenz wird nur vom Stand-
punkt des Begriffs aus richtig bestimmt: »Der Standpunkt des Begriffs
ist überhaupt der des absoluten Idealismus, und die Philosophie ist be-
greifendes Erkennen, insofern, als in ihr alles, was dem sonstigen Be-
wusstsein als ein Seiendes und in seiner Unmittelbarkeit Selbständiges
gilt, bloss als ein ideelles Moment gewusst wird.«184 Anders ist die un-
endliche Extension der Wirklichkeit gar nicht von einem endlichen Be-
wusstsein aufzufassen. Insofern ist die Idealität des Ganzen oder des
Absoluten, das heisst ihre auffassbare Erscheinung allein in der Form
des Begriffs gegeben, der das »schlechthin Konkrete« ist. Konkretheit
ist die Begriffsform, in der die extensiven materiellen Inhalte im wissen-
118 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

schaftlichen System erkennbar werden. Daher schränkt Hegel die


Seinsweise des Begriffs wieder ein: »Allerdings ist der Begriff als Form
zu betrachten, allein als unendliche, schöpferische Form, welche die
Fülle alles Inhalts in sich beschliesst und zugleich aus sich entlässt (...)
Gleichwohl ist der Begriff (...) das schlechthin Konkrete, und zwar in-
sofern, als derselbe das Sein und das Wesen und damit den ganzen
Reichtum dieser beiden Sphären in ideeller Einheit in sich enthält.«185
Dass der Begriff als Form - wir könnten auch sagen als »substan-
tielle Form« - zu denken ist, macht die innere Spannung des Verhält-
nisses von Begriff und Wirklichkeit nur noch deutlicher. Eine Form
wäre keine Form ohne einen Inhalt, dessen Form sie ist und den sie in
ihre Form einschliesst. Das anschauliche Bild dafür ist das eines Ge-
fässes, das Wasser, Wein, Getreidekörner oder was sonst auch immer
enthält. Die Redeweise, dass die Form etwas »in sich beschliesst« und
»aus sich entlässt«, macht von diesem Schema-Bild Gebrauch. Die seit
Aristoteles in der Philosophie fortwirkende Dialektik von hyle und
morphe, von materia und forma wird hier mitgedacht. Was zunächst als
wirklich erscheint, ist »das sinnlich Konkrete, überhaupt unmittelbar
Wahrnehmbare«, dasjenige, was wir »mit den Händen greifen« können.
Das ist die Wirklichkeit in ihrer Extensionalität, und auch der Verstan-
desbegriff drückt sie noch aus. Der philosophische Begriff dagegen,
der die Wirklichkeit als Eins - also intensional- fasst (aber eben darum
nicht in reeller, sondern in »ideeller Einheit«), wird nur gewonnen,
wenn uns »Hören und Sehen vergangen« ist. Der Begriff zeigt uns, wie
die Wirklichkeit in Wahrheit beschaffen ist, nämlich als universeller Zu-
sammenhang aller reell Einzelner, sodass jedes Einzelne formal durch
das Ganze bestimmt ist, das Ganze jedoch material aus den Einzelnen
besteht; diese materiale Verknüpfung ist die Form. Darum kann Hegel
sagen, der Gegensatz von Form und Inhalt sei im Begriff »dialektisch,
das heisst durch sich selbst überwunden«. »Dabei muss man dann frei-
lich den Begriff in einem anderen und höheren Sinne auffassen, als sol-
ches in der Verstandeslogik geschieht.«186
Um den Realitätsgehalt von Hegels sogenannt »absolutem Idealis-
mus« zu erkennen und das Verhältnis des philosophischen Systems zur
Wirklichkeit als gegenständlicher (in ihrer Objektivität) zu bestimmen,
kommt alles darauf an, die Gleichsetzung von Sein und Begriff, die
Hegel vornimmt, im Lichte des gerade Gesagten als einen Selbstunter-
schied zu verstehen. Formulierungen wie jene, dass »der Begriff das ei-
gene Selbst des Gegenstandes ist«187, oder es sei »die Natur dessen, was
ist, in seinem Sein sein Begriff zu sein«188, heben nur für ein vorder-
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 119

gründiges Verständnis und bei ungenauem Lesen den Unterschied 'l}Vi-


schen Sein und Begriffauf. Das »Absolute als solches« ist die Wirklichkeit,
in Bezug auf sich selbst ist dieser ein »absolutes Verhältnis« (= »das
Absolute als Verhältnis zu sich selbst«), und als solches ist sie die Sub-
stanz189 , von der wir schon gehört haben, dass sie die Voraussetzung
des Begriffs ist.1 9o Das ist evident: Wozu soll die Wirklichkeit sich ver-
halten ausser zu sich selbst, da es ausser ihr nichts gibt - denn das ganz
und gar Unwirkliche wäre ja nichts; und was ausser sich nichts hat und
per definitionem nichts haben kann, ist absolut. Nun gibt es aber in-
nerhalb des Wirklichen eine Art von Wirklichkeit, die das Gegenteil
von Wirklichkeit ist, das Bild. Das Bild ist natürlich wirklich, aber das,
was es darstellt, ist im Bild gerade nicht wirklich, sondern nur abgebil-
det (- auf den gemalten Stuhl van Goghs kann ich mich nicht setzen,
wohl aber auf den Stuhl, den van Gogh zum Modell seines Bild-Stuhls
genommen hatte -); das Bild eines Gegenstands ist zwar nicht die
Wirklichkeit dieses Gegenstands, indessen selbst ein wirklicher Gegen-
stand, sodass die Unwirklichkeit des Abgebildeten selbst ein Moment
der Wirklichkeit des Bildes, mithin der Wirklichkeit insgesamt ist. So
nimmt der Bewusstseinsinhalt an der Wirklichkeit des Bewusstseins
teil, aber im Modus der gegenständlichen Unwirklichkeit seiner selbst;
denn es ist ein Sonderfall, dass das Bewusstsein seinen Gegenstand -
als Phantasiegebilde - selbst erzeugt, sodass Inhalt und Gegenstand
des Bewusstseins dasselbe sind, im Regelfall ist es vielmehr so, dass der
Gegenstand des Bewusstseins ausserihmwirklich ist. In strenger Analo-
gie dazu ist der Inhalt des bestimmten Begriffs das Bild des Gegen-
standes, dessen Begriff er ist, wirklich als seiender Gedanke, aber un-
wirklich im Hinblick auf das Sein des Gegenstandes, den er ausdrückt.
Damit aber der Inhalt eines Bildes als Abbildung eines bestimmten
Gegenstandes und dieser als das Abgebildete identifiziert werden kön-
nen, muss zwischen beiden irgendeine Übereinstimmung bestehen
(die, wie uns die Geschichte der Bildkunst zeigt, nicht photographisch
exakt zu sein braucht). Diese Übereinstimmung zwischen Bewusst-
seinsinhalt und Gegenstand meinen wir ja, wenn wir sagen, dass wir
etwas wissen. Dieses Wissen ist wahres Wissen nur als Denken, dem aber
etwas anderes vorhergeht, insofern »der durchs Denken begründete
menschliche Gehalt des Bewusstseins zunächst nicht in Form des Ge-
dankens erscheint, sondern als Gefühl, Anschauung, Vorstellung, - For-
men, die von dem Denken als Form zu unterscheiden sind.«191 Wie im
Denken die Bewusstseinsinhalte zur Wahrheit kommen, haben wir
schon früher erörtert. Wahrheit ist jedoch keine Seinsweise des Gegen-
120 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

stands, sondern eine Weise seine Darstellung in einer bestimmten Form.


Die Darstellung des Gegenstands im Bewusstsein und die Reflexion
dieser Darstellung im Denken stellen eine '\!Peite Welt dar, die innere des
Bewusstseins, die von der äusseren unterschieden ist. Der Inhalt der
Philosophie - so heisst es - sei kein anderer »als der im Gebiete des le-
bendigen Geistes ursprünglich hervorgebrachte und sich hervorbrin-
gende, zur Welt, äusseren und inneren Welt des Bewusstseins gemachte
Gehalt, (...) die Wirklichkeit.«l92 Der Gegensatz des Bewusstseins be-
steht darin, Inhalte (als Wissen) zu haben, die gegenständlich ausser
ihm sind. Die Konstruktion des wissenschaftlichen Systems der Wahr-
heit geht nun darauf aus, die Übereinstimmung (nicht das Zusammen-
fallen!) beider Seiten dieses Gegensatzes zu erweisen, da »es für den
höchsten Endzweck der Wissenschaft anzusehen ist, durch die Er-
kenntnis dieser Übereinstimmung die Versöhnung der selbstbewussten
Vernunft mit der seienden Vernunft, mit der Wirklichkeit hervorzubrin-
gen.«193 Diese Stelle lässt sich doch nicht anders deuten also so, dass die
Wirklichkeit eine Vernunftstruktur (Logizität) besitzt, die mit der Logi-
zität des Selbstbewusstseins in Übereinstimmung gebracht werden
kann, also nicht von vornherein in Übereinstimmung sich befindet. In
gewisser Weise könnte man sagen, dass der Erweis durch eine Art Fal-
sifizierungsmethode über die Widerlegung der Adäquatheit des einzel-
nen Erfahrungsbegriffs (= Tatsachenwahrheit, verite defai!) und den da-
durch erzwungenen Übergang zum Begriff des Begriffs als einer
intensionalen Totalität geführt wird. Der vorbegriffliche Bewusstseins-
inhalt wird im Begriff zunächst als jeweils dieser besondere bestimmt,
aber der besondere bestimmte Begriff wird als ungenau, unvollständig
dargetan, insofern seine eigenen Bedingungen in ihn (in seine Be-
stimmtheit) nicht eingegangen sind und er in eine Kette weiterer Be-
stimmungen überführt werden muss (»Fortbestimmen<0. Die Kon-
struktion des unendlichen Prozesses von Bestimmen, Aufheben
(Negation) der Bestimmungsgrenze, Neubestimmen usw. führt auf die
Idee einer universell verknüpften 0>vernetzten«, rückgekoppelten)
Mannigfaltigkeit - einer Totalität von Einzelheiten oder Welt, deren
Ordnung äquivalent sein muss jener Ordnung, die in den Konstruk-
tionsregeln des Denkens vorliegt; denn das Denken entnimmt diese
Regeln für die Konstruktion der Welt aus nichts anderem als der
tatsächlichen Verfasstheit der Sachen, so wie sie gegeben sind. Das
besagt die Formulierung, dass der Begriff »sich die Realität gibt«194_
»Sich-geben« heisst ja nicht Erschaffen -, nämlich in der Form der Re-
flexion. So wird der Gegensatz des Bewusstseins, der im Denken des
Aufbauplan und Struktur des Hegelschen Systems 121

Angeschauten bewusst wird, im Denken des Denkens wieder aufgeho-


ben. »Insofern gesagt wird, dass Verstand, dass Vernunft in der gegenständ-
lichen Welt ist, dass der Geist und die Natur allgemeine Gesetze habe,
nach welchen ihr Leben und ihre Veränderungen sich machen, so wird
zugegeben, dass die Denkbestimmungen ebenso sehr objektiven Wert
und Existenz haben.«195
Hans Friedrich Fulda hat zu Recht und mit Nachdruck darauf hin-
gewiesen l96 , dass Hegels Idealismus von jedem Beigeschmack des Sub-
jektivismus freigehalten werden muss. »Der Idealismus, wie ihn Hegel
vertritt, beinhaltet nicht die These, alles Wissbare sei nur ein durch >Ich<
- den selbsthaften Kern in jedem Selbstbewusstsein - oder gar durch ein
vereinzeltes Bewusstseinssubjekt Gesetztes - das muss man vulgärmar-
xistischen Hegelkritikern und vielen anderen ad nauseam klarmachen.
Der Idealismus besagt vielmehr, alles Endliche sei kein wahrhaft Seien-
des, sei nicht ontos on, sondern >ideell<, das heisst ein im wahrhaft Un-
endlichen Aufgehobenes. Man tut gut, von der Bedeutung des Eigen-
schaftswortes >ideell< aus auch das Substantivum >Idee< in seiner
Hegelschen Bedeutung zu verstehen. Denn Idee ist für Hegel nicht ein
Produkt eines Denkens oder einer Subjektivität oder gar diese selbst; son-
dern eben jenes Eine, in dem alles Endliche aufgehoben ist: Etwas,
wovon es der Natur nach nur ein Einziges gibt.«197 Idee ist also - darin
stimme ich Fulda uneingeschränkt zu - der Titel für das unendliche
Totum, für die Welt im ganzen. Ich meine aber - und darin liegt dann die
Anweisung zu einer materialistischen »Übersetzung« Hegels -, dass der
Titel Idee darum von Hegel gewählt wurde, weil wir dieses Ganze nur
idealiter und nie materialiter als Gegenstand haben können, seiner also
nur »spekulativ«, im Spiegel des Denkens, gewahr werden, und dass die
angemessene Weise des Gewahrwerdens dieser empirisch nicht gegebe-
nen Wirklichkeit die dialektische und nicht die formallogische Weise des
Denkens ist. Ich stimme Fulda also zunächst wieder zu, wenn er
schreibt: »Indem die Idee sich - in philosophischer Wissenschaft - dar-
stellt, manifestiert sie sich. Eine Manifestation ist eine Erscheinung, in
der das sich Manifestierende vollkommen durchsichtig wird. Zu einer
Erscheinung gehört aber allemal zweierlei: Dasjenige, das da erscheint -
hier die Idee -, sowie das Medium, in welchem das Erscheinen stattfin-
det - hier das Denken.«198 Aber ich möchte das hier ausgedrückte Ver-
hältnis des Sich-Manifestierens oder Erscheinens um ein Glied erwei-
tern. Im Denken erscheint die Idee wie im Spiegel das Spiegelbild,
sodass wir ebenso sagen können, die Idee ist das Denkbild, gleichsam die
Widerspiegelung, eines Wirklichen, so wie wir sagen können, das Spie-
122 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

gelbild sei die Manifestation oder Erscheinung eines Wirklichen (und


nur eines Wirklichen). Die Wirklichkeit, welche sich im Denken als Idee
spiegelt, ist nur eben kein Einzelseiendes in dieser Welt, sondern die Welt
selbst im ganzen; und da diese uns nicht in der Anschauung oder durch
Abstraktion von Anschauungen gegeben ist, bedarf es einer besonderen
Methode, eben der spekulativen, um zu ihr zu gelangen.
Wirklichkeit und Begriff sind dasselbe und nicht dasselbe. Sie sind
dasselbe, insofern sie dieselbe Form der Vermitteltheit und des setzen-
den Gesetztseins haben und folglich die Wirklichkeit in der Form des
Begriffs expliziert werden kann; sie sind auch dasselbe, insofern sie
nicht jede eine sozusagen undurchdringliche Einheit sind, materia prima
oder notio primitiva, sondern ein substantielles Verhältnis. Die Substanz
ist »die unmittelbare Wirklichkeit selbst, und diese als absolutes Re-
flektiertsein in sich, als an und für sich seiendes Bestehen.«199 Aber die
Gestalten, in denen sich das an und für sich seiende Bestehende als
Vermitteltes, das heisst als Totalität manifestiert, erweisen die Inten-
sion des identischen Seins als Extension (mithin als äusseres Verhält-
nis); das identisch eine Absolute geht über in die Vielheit der bestimm-
ten Besonderen und verhält sich so zu sich selbst (Selbstverhältnis).
Die materielle Extensionalität der mannigfaltigen Welt kann sich als
Einheit dann nur in der formellen Relationalität ihrer Partikel, in ihrem
Scheinen ineinander (universelle Reflexivität, Wechselwirkung, reprae-
sentatio mundt1) zeigen; dies aber ist die Form des Begriffs (als die Form,
in der die Vermitteltheit der Substanz sich darstellt) - eine Form, die
nicht nur dem subjektiven Verstand, sondern der objektiven Wirklich-
keit selbst, also Natur und Geschichte, zukommt. Der Begriff ist nicht
nur »Aktus des selbstbewussten Verstandes, nicht der subjektive Verstand
(. ..), sondern der Begriff an und für sich, welcher ebensowohl eine Stufe
der Natur als des Geistes ausmacht.«2oo
Die Begriffsform der Wirklichkeit meint also nicht einen geheim-
nisvollen, gar göttlichen Ursprung der reellen, materiellen Welt, son-
dern sie kann selbst als die Form des Reellen, (mit einem von Marx
stammenden Terminus) als ein »materielles Verhältnis« begriffen wer-
den. Die Gleichsetzung von Idee und Natur am Ende der Logik (auf
die Lenin so nachdrücklich hingewiesen hat 201 ) kommt insofern nicht
überraschend, sondern wird von langer Hand vorbereitet durch die
Konstruktion der Begriffsform der Wirklichkeit, der Vernünftigkeit
des Wirklichen, der rationalen Struktur oder Logizität des Seins.
Dass die rationale Struktur der Wirklichkeit, die »Vernünftigkeit«
der Welt, von der subjektiven Seite der Logik, vom Begriff« her ange-
Aufbauplan und Struktur des Hegeischen Systems 123

gangen und von daher der Übergang zur Objektivität des Begriffs (=
Äquivalenz zur Wirklichkeit) vollzogen wird, hängt damit zusammen,
dass für Hegel- wie wir gezeigt haben - die transzendentale Wende der
neuzeitlichen Philosophie unhintergehbar war. Descartes und Kant lie-
gen bis zur Wissenschaft der Logik wie ein Schatten über der neueren Phi-
losophie. Die religiöse Gewissheit, dass Gott die Welt nach seinem
Plan geschaffen habe und sie folglich seinem unendlichen Verstande
angemessen, also selbst rational geordnet sei (wenn auch vielleicht
nach einer höheren als von Menschen einzusehenden Ordnung),
konnte nicht einfach mehr vorausgesetzt, sie musste begründet wer-
den. Diese Begründung aber konnte nur vom Wissen, das wir von der
Welt haben, ausgehen. Die Genesis des Wissens musste nun die Ga-
rantie für die Logizität der Welt liefern, und nur in der Einsicht in die
Verfassung des wahren Wissens war auch die wahre Verfassung der
Welt einzusehen. Die Verfassung des wahren Wissens aber ist die des
Begriffs - nicht in seiner abstrakten Bestimmtheit durch endliche Prä-
dikationen, sondern als unendliche Bewegung seines Inhalts, der in sei-
ner Besonderheit mit allem anderen in der Welt vermittelt und also To-
talität (= Allgemeinheit) ist. »Die Philosophie betrachtet (...) nicht das
Abstrakte oder Unwirkliche, sondern das Wirkliche, sich selbst Set-
zende und in sich Lebende, das Dasein in seinem Begriffe. Es ist der
Prozess, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft, und diese
ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus. Diese
schliesst also ebensosehr das Negative in sich, dasjenige, was das
Falsche genannt werden würde, wenn es als solches betrachtet werden
könnte, von dem zu abstrahieren sei.((202 Die Identität seiner Be-
stimmtheit, in der sich der verständige Begriff setzt (und die Wahres
und Falsches voneinander abstrahierend unterscheidbar macht), ist
zwar notwendige Form des Denkens, aber doch Schein, weil die Wirk-
lichkeit im Prozess gerade die Aufhebung der Identität einschliesst.
»Das Bestehen oder die Substanz eines Daseins ist die Sichselbst-
gleichheit; denn seine Ungleichheit mit sich wäre seine Auflösung. Die
Sichselbstgleichheit aber ist die reine Abstraktion; diese aber ist das
Denken (...) Dadurch nun, dass das Bestehen des Daseins die Sich-
selbstgleichheit oder die reine Abstraktion ist, ist es die Abstraktion sei-
ner von sich selbst, oder es ist selbst die Ungleichheit mit sich und seine
Auflösung, - seine eigene Innerlichkeit und Zurücknahme in sich, -
sein Werden.«21l3
Insofern die Substanz sich selbst in ihr Werden auflöst, ist auch das
wahre Wissen von ihr nur im Werden des Wissens erreichbar. Im Wer-
124 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

den des Wissens vermittelt sich der bestimmte (sichselbstgleiche) Be-


griff mit der Totalität der Bestimmungen seines Gegenstandes und
wird wahres Wissen. Wie lässt sich der Sinn dieser zugleich positiv-spe-
kulativen und negativ-dialektischen Methode auf einfache (wenn auch
wohl vereinfachende) Weise fassen? Hegel versteht sie als unterschie-
den vom formallogischen Denken der Wissenschaften. Dieses besteht
darin, dass die besondere Bestimmung eines Gegenstandes festgehal-
ten wird - also zum Beispiel die Tatsache, dass Wasser bei 0° gefriert
und bei 100° zu Dampf wird. Nur so können Erkenntnisse über die
Dinge gewonnen und Naturgesetze formuliert werden. Im spekulati-
ven Denken hingegen wird jeder einzelne Gegenstand und Sachverhalt
als Moment eines grösseren Zusammenhangs - letztlich als Moment
der Welt im ganzen - begriffen. Kein Einzelnes wird isoliert betrach-
tet, sondern als bedingt (oder, wie Hegel sagt, »vermittelt«) durch alle
anderen; die »Vermittlung« ist grundlegender als die blosse abstrakte
Identität. So wird jede fixe Bestimmtheit aufgelöst in eine Logik des
Übergangs und der Entwicklung. »Das Wahre ist das Ganze. Das
Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende
Wesen.«2114
Der spekulative Begriff denkt diesen Prozess und fasst ihn als ein
Ganzes und erreicht damit erst die Wahrheit des Wissens - und nur als
Inhalt des Wissens ist das Ganze des Prozesses gegeben. »In dem
Ganzen der Bewegung, es als Ruhe aufgefasst, ist dasjenige, was sich in
ihr unterscheidet und besonderes Dasein gibt, als ein solches, das sich
erinnert, aufbewahrt, dessen Dasein das Wissen von sich selbst ist, wie
dieses ebenso unmittelbar Dasein ist.«2115 Im erinnernden Wissen ist
das Dasein des Erinnerten als Erinnertes identisch mit dem Dasein des
Gegenstandes als Gewesensein (in der Differenz zu seinem einstigen,
jetzt vergangenen Dasein). Die Zeitlichkeit des Seins ist als Einheit nur
im Begriff gegenwärtig und ihre Struktur fällt mit der Struktur des
(spekulativen) Begriffs zusammen. Mit dieser Erkenntnis geht die Phti-
nomenologie in die Logik über: »Das Sein ist absolut vermittelt; - es ist
substantieller Inhalt, der ebenso unmittelbar Eigentum des Ich, selbst-
isch oder der Begriff ist. Hiermit beschliesst sich die Phänomenologie
des Geistes. Was er in ihr sich bereitet, ist das Element des Wissens. In
diesem breiten sich nun die Momente des Geistes in der Form der Ein-
fachheit aus, die ihren Gegenstand aus sich selbst weiss. Sie fallen nicht
mehr in den Gegensatz des Seins und des Wissens auseinander, sOn-
dern bleiben in der Einfachheit des Wissens, sind das Wahre in der
Form des Wahren, und ihre Verschiedenheit ist nur Verschiedenheit
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 125

des Inhalts. Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen
organisiert, ist die Logik oder spekulative Philosophie.«206 Die Logik als
Darstellung der Bewegung des Begriffs fällt dann mit der Darstellung
der Bewegung der Wirklichkeit zusammen, ihre Methode ist »die einzig
wahrhafte. Dies erhellt für sich schon daraus, dass sie von ihrem Ge-
genstande und Inhalte nichts Unterschiedenes ist; - denn es ist der In-
halt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fort be-
wegt.«207 Das Programm, den Gegensatz des Bewusstseins in der
Wahrheit aufzuheben, wird damit eingelöst, allerdings um den Preis,
die Differenz zwischen der Darstellung der Wirklichkeit und der Wirk-
lichkeit selbst verdeckt zu lassen.
Der Fortgang vom Einen zum Anderen ist in der äusseren Welt
prinzipiell unabschliessbar. Daher kann das Ganze weder in der An-
schauung noch in der Verstandes tätigkeit vergegenwärtigt werden, da
beide endlich sind und nur endliche Zusammenhänge auffassen kön-
nen. Totalität ist nur als Idee gegeben, sie wird nicht vorgestellt, son-
dern begriffen, und zwar als Antizipation des Ergebnisses eines un-
endlichen Prozesses. Wir haben die Welt im ganzen nie als reellen
Gegenstand, sondern immer nur als ideelles Bild - als Spiegelbild der
Wirklichkeit im Denken. Und das besagt das Wort spekulativ, das mit
dem lateinischen sperulum = Spiegel verwandt ist (worauf Hegel hin-
deutet).
Wenn aber das Einzelne gerade eine Abstraktion und das eigentlich
Wirkliche nur der Gesamtzusammenhang ist, so erreicht unsere Er-
kenntnis erst da, wo sie spekulativ ist, die Wirklichkeit - nie direkt, son-
dern immer nur in Gestalt des Spiegelbildes. Dies ist - so meine ich -
die Lehre der HegeIschen spekulativen Philosophie, und dies ist dann
zugleich der Grund dafür, dass sie idealistisch ist, mithin die Welt als
Idee und die Idee als das Wirkliche begreift. Und nur in der systemati-
schen Darstellung des Prozesses, in dem die Idee für uns entsteht, ge-
winnt diese Philosophie ihre innere Überzeugungskraft.
Jean Hyppolite 208 hat die Deutung vorgeschlagen, der Prozess der
Konstituierung der Idee sei der Prozess, in dem die Logik des Seins in
eine Logik des Sinns überführt werde. »L'essence n'est plus condition,
mais devient le sens de la n~alite, ce sens c'est cette realite en tant que
comprehension de soi, non plus seulement en tant que comprise. Avec
la troisieme partie de la Logique alaquelle Hegel a don ne le nom de 10-
gique subjective, le sens se substitue a l'essence, la logique devient logi-
que du sens proprement dit, et ce sens s'identifie a Ja realite qui se fait,
i! est rEtre meme, !'Etre du debut qui s'etait !ui-meme reve!e comme
126 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

sens. L'Idee absolue par laquelle la logique se termine est ce sens


comme Etre, ce retour a l'immediat qui est la realite me me de la me-
diation.<<209 Die Übereinstimmung von Wirklichkeit und Vernunft im
Logos, der das Erscheinen derselben Logizität ist, die in der Wirklich-
keit als dem absoluten Verhältnis und im absoluten Geist als dessen
Wahrheit oder Offenbarwerden herrscht, manifestiert sich darin, dass
im Aufbau der Logik das Sein seinen Sinn zeigt. »Dans cette ouverture
qui permet aux existants de la Nature, et de l'histoire elle-meme, de
s'eclairer, de se concevoir, l'Etre se comprend comme cet engendre-
ment eternel de soi-meme; c'est la Logique au sens de HegeI, le savoir
absolu. L'homme alors existe comme l'etre-Ja naturel en qui apparait la
conscience de soi universelle de l'etre. 11 est la trace de cette conscience
de soi, mais une trace indispensable sans laquelle elle ne serait pas. Lo-
gique et Existence se joignent icy, si l'Existence est cette liberte de
l'homme qui est l'universel, la lumiere du sens.«210 Nun ist Sinn aber
nichts anderes als das Reflexionsverhältnis, in dem ein erstes Unmittel-
bares vermittelt durch seine Relationen im Prozess seines Werdens in
sich selbst zurückscheint, in ein »Selbstverhältnis« tritt und damit sei-
ner bewusst wird. Dies ist das Wissen, in dem die Wahrheit des Seins
als Begriff hervortritt. Sinn und Sein vereinigen sich, aber nur in einer
Differenz, die das Reflexionsverhältnis nicht aufhebt, als welches allein
der Sinn sich in einem nie zu Ende kommenden Prozess konstituiert -
logos heauton auxön, wie es bei Heraklit (B 115) heisst.
Dieser Prozess ist auf beiden Seiten real unabschliessbar - denn
das Sein, das sich in der Pluralität der Auseinanderseienden, in der Ex-
tensionalität des Materiellen immer in einem äusserlichen Verhältnis
seiner Teile befindet, ist in ständiger Bewegung; schon Aristoteles und
Leibniz haben die Bewegung des Universums in sich als ein notwendi-
ges Moment seiner Existenz als Mannigfaltigkeit hervorgehoben. Aber
auch der Sinn perpetuiert sich, denn jedes Reflexionsverhältnis reflek-
tiert sich selbst, und so weiter in unendlicher Iteration. Die sinnkonsti-
tuierende Reflexion ist aber nichts anderes als das wirkliche absolute
Verhältnis der Seienden in seiner Entwicklung. Der Sinn ist das Selbst-
verhältnis einer geschichtlichen, also sich als Logos manifestierenden
Wirklichkeit. »Mais ce sens n'est pas un autre monde derriere l'hi-
stoire.«211 Denn die Bewegtheit der Substanzen als ein Reflexions- und
Wechselwirkungsverhältnis wird immer extensional als ein in der Zeit
ablaufender und nur zeitlich darstellbarer Vermittlungsprozess begrif-
fen. Jeder Begriff dieser Vermittlung ist aber nur ein Glied in der un-
endlichen Kette, löst sich im Fortbestimmen auf und fixiert sich aufs
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 127

neue. Der Sinn erscheint als ein flüchtiges Spiegelbild der zeitlichen
Notwendigkeit des Seins. »La Logique hegeIienne sera donc bien la
dialectique de ces essences devoilees a travers la conscience humaine.
Ce n'est pas l'homme qui fait la philosophie, mais a travers l'homme la
philosophie se fait et la philosophie de la philosophie est la prise de
conscience d'une pareille genese ideale, un essai pour constituer la
metaphysique comme une Logique de la philosophie.«212 (...) »Le Logos
n'est pas une essence, il est l'element ou l'etre et le sens se reflechissent
I'un dans I'autre, ou l'etre s'apparait comme sens et le sens comme etre,
il est genese absolue, et c'est le temps qui est l'image de cette mediation,
non inverse.«213 Die wechselseitige Reflexion von Sinn und Sein ist das
wirkliche Verhältnis der Geschichtlichkeit des Seins, aber dieses exi-
stiert nur als Idee, in der intensionalen Einheit der zeitlichen Extension
wirklich, als solche Idee aber eben wirklich. In der Idee vereinigen sich
Sinn und Sein, das heisst der Begriff ist »als konkrete Totalität identisch
mit der unmittelbaren Objektivität. Diese Identität ist einerseits der
einfache Begriff und ebenso unmittelbare Objektivität, aber andererseits
gleich wesentlich Vermittlung und nur durch sie als sich selbst aufhe-
bende Vermittlung jene einfache Unmittelbarkeit; so ist er wesentlich
dies, als fürsichseiende Identität von einer ansichseienden Objektivität un-
terschieden zu sein und dadurch Äusserlichkeit zu haben, aber in die-
ser äusserlichen Totalität die selbstbestimmende Identität derselben zu
sein. So ist der Begriff nun die Ideu(214
Hier fassen wir den Ursprung des idealistischen Formprinzips der
Hegelschen Philosophie (und zugleich auch das Prinzip der Möglich-
keit seiner »Umkehrbarkeit« im Sinne des Leninschen Programms).
Denn die Einheit der Idee, in der die gegensätzlichen Momente als
»konkrete Totalität« zusammengehen, erweist sich als ein in sich Un-
terschiedenes. In einer Hinsicht als die Unterschiedenheit von »einfa-
chem Begriff« und >>unmittelbarer Objektivität«, in anderer Hinsicht als
die »Vermittlung«, die sich selbst in die einfache (nun aber aus Grün-
den gewusste) Unmittelbarkeit der Substanz wieder aufhebt. Deren
»fürsichseiende Identität« - die des Begriffs - bleibt aber von ihrer »an-
sichseienden Objektivität« unterschieden, dem Begriff entspricht also
eine Äusserlichkeit, das heisst ein materielles Sein, auf der Seite der
Objektivität. Schliesslich aber sind beide Seiten - Begriff und äusserli-
ches Sein - in einem Verhältnis verknüpft, das erst die im zeitlichen
Prozess der Vermittlung sich selbst bestimmende Identität der äusser-
lichen, also unmittelbaren Totalität der Substanz ausmacht. Dieses Ver-
hältnis lässt sich als Spiegelverhältnis interpretieren.
4. Kapitel:
Das Ganze des Systems

1. Hegels En?Jklopädie-Konzept
Das an einem spekulativen Beriff des Ganzen orientierte Wissen-
schaftsverständnis, das Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwickelt
und dessen kategorialen Grundriss er in der Wissenschaft der Logik ent-
wirft, bestimmt auch das Konzept seiner Enzyklopädie, die EniJklopä-
die der philosophischen Wissenschaften und damit eine begründete Syste-
matik des ganzen Wissens sein soll. Hegel hat dieses Konzept in drei
Anläufen ausgestaltet, die jeweils etwa ein Jahrzehnt auseinanderliegen:
1808 in der Fassung für den Unterricht am Aegidiengymnasium zu
Nürnbergl, 1817 als Begleittext für seine Vorlesungen an der Univer-
sität Heidelberg, 1827 und 1830 in der endgültigen Fassung, die seinen
Berliner Vorlesungen zugrunde gelegt wurde. 2 Die sich durchhaltende
Grundauffassung Hegels vom wissenschaftlichen Wissen und ihre
Entwicklung am stofflichen Detail ist also über die gesamte Reifezeit
des Philosophen (die man mit der Ausarbeitung der Phänomenologie be-
ginnen lassen kann) zu verfolgen.
Von der Nürnberger Gymnasialfassung an bleibt die Dreiteilung in
Logik - Naturphilosophie - Geistphilosophie und auch deren Reihen-
folge erhalten. 3 Hegel folgt damit dem Programm, das er in der Selbst-
anzeige der Phänomenologie vorgezeichnet hatte. 4 Dort wird die Phänome-
nologie ausdrücklich als »Vorbereitung zur Wissenschaft« bezeichnet.
Dem steht gegenüber, dass Hegel allen Fassungen der EniJklopädie je-
weils eine Einleitung vorausschickt, die nicht etwa den Gang der Phäno-
menologie reproduziert, sondern den dort entwickelten Wissenschafts be-
griff zugrundelegt und expliziert. 5 Diese Einleitung wird von 1808 bis
1827 immer umfangreicher, seit 1817 kommt am Anfang des Logik-Teils
noch der »Vorbegriff« hinzu 6, in dem die Stellungen des Gedankens zur
Objektivität, also der Typ des Philosophierens, an dem die philosophi-
schen Wissenschaften jeweils orientiert sind, erörtert werden. Diesen
Typus repräsentiert für Hegels System die Logik, die zugleich Ontologie
der Gegenstandsregionen und Wissenschaftslehre, d. h. Lehre von den
Formbestimmtheiten wissenschaftlicher Begriffsbildung ist.
Das Ganze des Systems 129

Rosenkranz hat in seinen Erläuterungen Zu Hegels En?Jklopädie7 die


methodologische Priorität und zugleich die innere Beschränkung der
Logik (als deren erster Teil) richtig erkannt. Er schreibt zu § 18: »Die
Einteilung der Philosophie muss den Begriff des absolut Wahren nach
seiner Einheit, seinem Unterschied und seiner Totalität enthalten (...).
Der Begriff des Seins ist von dem des Denkens untrennbar. Die Logik
ist, wie man gewöhnlich sagt, die Wissenschaft von den Gesetzen des
Denkens, aber diese Gesetze sind keine ihm äusserlichen, vielmehr
seine eigene Notwendigkeit (...). Im Verhältnis zum Konkreten sind die
Kategorien des reinen Denkens nur abstrakte Formen des Seins.«8 Erst
in der Entäusserung der Vernunft, in der Übertragung ihrer intensiven
Begrifflichkeit in die extensive Materialität der Dinge und ihrer Ver-
hältnisse wird die konkrete Seiendheit der Natur erreicht: »Im abstrak-
ten Elemente des Denkens ist die Idee Vernunft an sich; im konkreten
Elemente der Raumzeitlichkeit wird die Idee durch ihre Materialisie-
rung zur Natur (...). Als eine in sich selbständige Gestalt der Idee hat
die Natur aber ihre eigenen Kategorien. Raum, Zeit, Materie, Schwere,
Kohäsion, Magnetismus usw. sind Naturkategorien, von denen inner-
halb der Bestimmungen der Idee nur als logischen nichts zu finden
ist.«9
Dass Natur und Idee nicht dualistisch als Verschiedene aufgefasst
werden dürfen, sondern dass korrekterweise gesagt werden muss, »die
seiende Idee aber ist die Natur«lO, hat Hegel schon am Anfang der En-
?Jklopädie ausgesprochen: »In der Natur ist es nicht ein Anderes als die
Idee, welches erkannt würde, aber sie ist in der Form der Entäusserung,
so wie im Geiste ebendieseIbe als fir sich seiend und an und für sich wer-
dend«11 Wenn Rosenkranz sagt, »die Natur betrachtet Hegel als das An-
dere der logischen Idee, worin sie sich selbst äusserlich wird«!!, so
übersieht er, dass Hegel an dieser Stelle gerade die missverständliche
Rede vom »Anderen« zurückweist. Vernunft, Natur, Geist sind Mani-
festationen der Idee und als solche nicht Andere, sondern Unterschie-
dene ein und desselben. Die Natur ist die an sich seiende Idee, der
Geist die für sich seiende Idee, die Vernunft die Idee im abstrakten Ele-
mente des reinen Denkens. Insoweit gibt Rosenkranz Hegel auch rich-
tigwieder: »Im abstrakten Elemente des Denkens ist die Idee Vernunft
an sich. 12 Nur die radikal monistische Konzeption sieht er nicht - dass
nämlich die drei Manifestationen der Idee Modi des Selbstverhältnisses
des Wirklichen als eines bewegten, Bestimmungen des Wirklichen als
»Fluxion« sind: »Eine solche Bestimmung, in der die Idee erscheint, ist
zugleich ein fliessendes Moment; daher ist die einzelne Wissenschaft
130 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

ebensosehr dies, ihren Inhalt als seienden Gegenstand, als auch dies,
unmittelbar darin seinen Übergang in einen höheren Kreis zu erken-
nen.«13 Und Hegel zieht daraus die Konsequenz für jede mögliche phi-
losophische Enzyklopädie: »Die Vorstellung der Einteilung hat daher das
Unrichtige, dass sie die besonderen Teile der Wissenschaften nebenein-
ander hinstellt, als ob sie nur ruhende und in ihrer Unterscheidung sub-
stantielle, wie Arten, wären.«14
Hegel erarbeitet in der Wissenschaft der Logik ein neues wissen-
schaftslogisches Paradigma - die Logik des Gesamtzusammenhangs in
der Zeit, also in der Form der Bewegung. Die Realisierung des Pro-
gramms der EniJ'klopädie wird so an die spekulative Methode gebun-
den, Totalität dialektisch als »Darstellung der dem Begriff durch seine
Negativität immanente Bewegung« zu konstruieren. »Um dies richtig
zu verstehen, muss man den wahren Begriff als die Totalität aller die-
ser Bestimmungen auffassen. Nicht die Einheit, die von den Unter-
schiedenen abstrahiert, nicht der Unterschied, der dem Positiven das
Negative entgegensetzt, sind für sich schon die Wahrheit, sondern sie
sind es erst in ihrer Einheit als Vermittlung des Gegensatzes, der eben
nur dadurch zum Widerspruch wird, dass über ihn nicht zu seiner Auf-
lösung fortgegangen wird.«15 Die Auflösung des Widerspruchs kann
eben nicht darin bestehen, dass die Diversität der vielen Singulären auf
eine »Einheitswissenschaft« zurückgeführt wird, in der als oberster
Gattung wissenschaftlichen Wissens alle Spezifikationen aufgehoben
wären. Vielmehr ist »das dialektische Moment C•••) das eigene Sichaufhe-
ben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre ent-
gegengesetzten.«16 Und weiter: »Es ist dasselbe überhaupt das Prinzip
aller Bewegung, alles Lebens und aller Betätigung in der Wirklichkeit.
Ebenso ist das Dialektische auch die Seele alles wissenschaftlichen Er-
kennens C...). Das Nähere aber ist, dass das Endliche nicht bloss von
aus sen her beschränkt wird, sondern durch seine eigene Natur sich auf-
hebt und durch sich selbst in sein Gegenteil übergeht.«17 Das Absehen
vOn dem Besonderen, das in jedem Zustand der Entwicklung enthal-
ten ist, hätte einen Realitätsverlust der Philosophie als Wissenschaft des
Ganzen zur Folge, durch den sie ihre eigentümliche Aufgabe, Orien-
tierung in der Welt zu geben, nicht mehr erfüllen, ihren eigentümlichen
Gegenstand, die inhaltliche Fülle der Welt als Einheit, nicht mehr er-
reichen würde. 18 Rosenkranz bemerkt also richtig: »Die Möglichkeit
einer höhern Einheit, als die der bloss generischen Identität ist, muss
also den Grund enthalten, durch welchen der Widerspruch aufgeho-
ben werden kann.«19 Die »Einheit unterschiedener Bestimmungen«,
Das Ganze des Systems 131

die erst die bei zahlreichen Discreta verbleibende verständige Anwen-


dung der Kategorie Identität in das Vernunftkontinuum übergehen
lässt und dann die Identität von Identität und Nicht-Identität denken
muss, ist nur in der Form der Bewegung, des »Fliessens« auszudrücken:
»Das Spekulative oder Positiv- Vernünftige fasst die Einheit der Bestim-
mungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auf-
lösung und ihrem Übergehen enthalten ist.«2o
Die Einheit der unterschiedenen Bestimmungen ist nun allerdings
nur denkend zu gewinnen, in der Anschauung und Vorstellung sind sie
ja eben gerade als unterschiedene gegeben. Insofern zeigt die spekula-
tive Methode ihren Gegenstand allein im Spiegel des Denkens, als gespie-
gelten also (d. h. als gedachten) und nicht in der intentio recta des empi-
rischen Zugriffs. »Weiter ist das Spekulative überhaupt nichts anderes als
das Vernünftige (und zwar das Positiv-Vernünftige), insofern dasselbe
gedachtwirdt.«21 Eine philosophische Enzyklopädie hat dieser spekula-
tiven Form Rechnung zu tragen - sie muss den Zusammenhang der
Wissensgehalte der Wissenschaften gemäss der kategorialen Struktur
der Abbildung der Welt im Denken und durch das Denken konstru-
ieren. Die Wahrheit der Konstruktion wird durch die Identität von Ver-
nunftform des Denkens und Vernunftform der Wirklichkeit verbürgt,
deren Titel »Idee« ist. »Die Idee ist das Wahre an undftir sich, die absolute
Einheit des Begriffs und der Objektivität. Ihr ideeller Inhalt ist kein andrer
als der Begriff in seinen Bestimmungen; ihr reeller Inhalt ist nur seine
Darstellung, die er sich in der Form des äusserlichen Daseins gibt und
diese Gestalt in seine Idealität eingeschlossen, in seiner Macht, so sich
in ihr erhält.«22 Auf seine etwas hausbackene Weise sagt Rosenkranz
das so: »Ohne Vernunft wäre die Natur nicht ein Kosmos, sondern ein
Chaos; ohne die Natur wäre der Geist ein Schattenwesen, so wie ohne
Bewusstsein die Vernunft eine bloss empfindende Seele.«23
Diese Einheit des Begriffs und der Objektivität in der Idee, die die
»Befreiung vom Gegensatz des Bewusstseins« ist24, realisiert sich im
absoluten Geist, in dem die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, die im
endlichen Erkennen der Wissenschaften zu ihrem Begriff gebracht
werden, in die Einheit der Welt aufgehoben sind, die im Begriff des Be-
greifens erscheint. Um diesen Welt-Begriff und das ihn hervorbrin-
gende Wissen geht es in der EniJ'klopädie.
»Die Wissenschaft ist die begreifende Erkenntnis des absoluten
Geistes. Indem er in Begriffsform aufgefasst wird, ist alles Fremdsein
im Wissen aufgehoben, und dies hat die vollkommene Gleichheit mit
sich selbst erlangt. Es ist der Begriff, der sich selbst zum Inhalt hat und
132 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

begreiftt.«25 Dieser Schlussparagraph 208 der Nürnberger En?Jklopädie


fir die Oberklasse ist wegweisend. Wissenschaft erscheint hier im Singu-
lar; und da der § 1 mit dem Plural anhebt - »Eine Enzyklopädie hat den
gesamten Umkreis der Wissenschaften nach dem Gegenstande einer
jeden und nach dem derselben zu betrachten«26 -, ist diese Verände-
rung beachtlich. Sie signalisiert den Übergang vom Besonderen der
verschiedenen Wissenschaften zur inneren Einheit des wissenschaftli-
chen Wissens, als dem zusammenhängenden Ganzen der in Begriffen
sich zeigenden Gegenstandswelt. Hier, wo zum erstenmal ein Abriss
des gesamten Systems, das Hegel vorschwebte, vorliegt, lässt sich des-
sen Verhältnis zur wirklichen Welt, lässt sich die Bedeutung von Wis-
sen, Wissenschaft und philosophischer Wissenschaft noch unverdeckt
von den Konfigurationen der Ausführung erkennen (ähnlich wie die
Grundidee eines Kunstwerks im bozzetto deutlicher sichtbar wird).
Der Übergang von den Wissenschaften zur Wissenschaft wird in
den §§ 5 und 6 vollzogen. Dort heisst es: »In einer gewohnlichen Enzy-
klopädie werden die Wissenschaften empirisch aufgenommen, wie sie
sich vorfinden (00')' Die philosophische Enzyklopädie aber ist die Wissen-
schaft von dem notwendigen, durch den Begriff bestimmten Zusam-
menhang.«2 7
Von dieser philosophischen Enzyklopädie heisst es dann, sie sei
»eigentlich die Darstellung des allgemeinen Inhalts der Philosophie,
denn was in den Wissenschaften auf Vernunft gegründet ist, hängt von
der Philosophie ab.«28 Das Wissenschaftliche an den Wissenschaften
ist nicht ihr gegenständlicher Gehalt, sondern die Weise, in der dieser
gegenständliche Gehalt erscheint, dargestellt ist. Im Unterschied zu an-
deren Darstellungsarten (z. B. des Gefühls, der Anschauung, der Vor-
stellung, der Einbildungskraft usw.) ist die wissenschaftliche die des
Begriffs. Die Verfassung des Begriffs ist es, die Bestimmungen des Ge-
genstands zu unterscheiden (dihairesis) und ihren Zusammenhang her-
zustellen (ljnthesis) - in diesen beiden Bewegungen des Denkens voll-
zieht sich die Erkenntnis: »Die Erkenntnis ist die Darstellung eines
Gegenstandes nach seinen daseienden Bestimmungen, wie dieselben in
der Einheit seines Begriffs befasst sind.«29 Die Wissenschaften liefern
Erkenntnisse und ermöglichen Erkenntnis, indem sie fortschreitend
und sich erweiternd 30 die Bestimmungen des Gegenstands feststellen
und festhalten.
Gerade darin liegt nun aber auch ihre Unzulänglichkeit. Feststellen
und festhalten bedeutet, die aufgefasste Bestimmung zu einer dauern-
den und präsentischen zu machen. Omnis determinatio est negatio - das in
Das Ganze des Systems 133

der Definition ausgeschlossene Andere bleibt ausgeschlossen. Wissen-


schaften von endlichen Gegenstandsbereichen sind ihrer logischen
Verfassung nach plural, sie halten sich in der Alteritas und verfehlen
darum immer den Grund, aus dem die Andersheit erst als solche her-
vortreten kann: die Einheit der in sich als Vielheit unterschiedenen
Welt. Die einzelnen Wissenschaften haben keinen Welt-Begriff, obwohl
sie nur aus einem Welt-Begriff heraus sich als besondere Wissenschaf-
ten begründen können. Die Wissenschaften verweisen so von sich aus
auf »das Ganze der Wissenschaft.«3! In der Phänomenologie hatte Hegel
gesagt, »dass das Wissen nur als Wissenschaft oder als ~stem wirklich
ist und dargestellt werden kann.«32 Auch jede Einzelwissenschaft, die
einen endlichen Gegenstandsbereich darstellt, ist systematisch; aber
kein Teilsystem oder Subsystem, das sich ja gerade durch seine Gren-
zen definiert, erfüllt letztlich den Begriff des Systems, der die Systema-
tik der Begriffe insgesamt zu denken hätte. So ist die Erkenntnis zwar
an die Begriffsform gebunden, kann indessen in der Verstandestätig-
keit des bestimmenden Denkens das Versprechen auf vollständige Be-
stimmung des Begriffs nicht einlösen. Denn »der Begriff ist das Ganze
der Bestimmungen, zusammengefasst in ihre einfache Einheit.«33 Es
bedarf der »begreifenden Erkenntnis«, in der der Begriff »sich selbst
zum Inhalt hat und sich begreift.«34
Diese Formel, derzufolge der vollständige Begriff allein das Wahre
ist, hat seit eh und je zu dem Missverständnis geführt, Hege! habe
damit die gegenständliche Wirklichkeit, die materielle Natur und ihre
Verhältnisse, zu einem Abgeleiteten, Sekundären, gar vom Bewusstsein
als dem Träger (und in gewissem Sinne Produzenten) Abhängigen de-
klariert. Eine genaue Lektüre Hegels verbietet eine so simple Interpre-
tation. Schon die Gegenüberstellung der §§ 94 und 208 in dem hier be-
sprochenen Nürnberger Text muss zu denken geben.
Die philosophische Wissenschaft ist die »begreifende Erkenntnis«.
Erkenntnis aber ist »die Darstellung eines Gegenstandes nach seinen
daseienden Bestimmungen«. Daseiende Bestimmungen sind aber ge-
rade jene, die in ihrer äusserlichen Realität an sich vorkommen. Sie sind
in ihrer Mannigfaltigkeit als seiend vorausgesetz!, damit das Denken an
ihnen tätig werden kann, indem eS sie auffasst, feststellt und festhält, zu
anderen Bestimmungen übergeht usw. So schliessen die daseienden Be-
stimmungen sich in der Darstellung des Gegenstandes zusammen - und
dies ist die Einheit seines BegriJls.35 Der Wortlaut ist unzweideutig! Auf
diese Beschreibung dessen, was im Erkennen geschieht, folgt dann der
resumierende Satz: »Diese Bestimmungen, als im Begriff enthalten ge-
134 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

setzt, sind das Erkennen oder die im Elemente des Denkens sich reali-
sierende Idee.«36
Die Rede vom Elemente des Denkens setzt zum mindesten ein von
diesem unterschiedenes »Element« voraus - dieses ist, wie wir zuvor
gesehen haben, das Sein als Dasein, Realität, als das »Reelle oder
Etwas«37, und in der Form des Reflexionsverhältnisses als Wirklichkeit,
»das selbständige Verhältnis.«38 Erst als sich in der Tätigkeit des Den-
kens zeigt, dass Wirklichkeit nie das Einzelne allein an sich ist, sondern
die Vermitteltheit des Einen mit dem Anderen und als solche Wechsel-
wirkung in sich oder als allgemeine Substanz Wechselwirkung mit
sich 39 , kann der Begriff als die »Darstellung des Gegenstandes nach
seinen das ei enden Bestimmungen«, d.h. als das Sich-Zeigen der Wirklich-
keit begriffen werden.
Was Hegel am Ende der Nürnberger Enzyklopädie für die Ober-
klasse unter dem Titel Wissenschaft begreift, bleibt auch in den späteren
Ausarbeitungen der Enzyklopädie erhalten. Dann aber wird dem der
Titel Philosophie gegeben. 4o Und diese Wissenschaft = Philosophie
(oder die Wissenschaft vom wissenschaftlichen Wissen) nimmt die
ganze Entwicklung der Wissenschaften und ihrer Wissens bestände in
sich auf. »Diese Bewegung, welche die Philosophie ist, findet sich
schon vollbracht, indem sie am Schluss ihren eigenen Begriff erfasst,
d.i. nur auf ihr Wissen Zurücksieht.«41 In diese Bestimmung, derzufolge
die Philosophie das ganze Wissen der Wissenschaften in seinem ge-
schichtlichen Werden und in seinem jeweils gegenwärtigen Umfang
von der Idee des Ganzen aus zurückschauend umfasst, mündet Hegels
Wissenschaftsphilosophie, als welche Hegel seit der Phänomenologie sein
System verstanden hat. 42
Dass Philosophie das »System der Wissenschaft« sei, das die Ge-
samtheit der Wissenschaften in sich einschliesse, kann Hegel aber des-
halb sagen, weil für ihn die Philosophie die Erscheinung des Wahren
oder das Sich-Zeigen der Wahrheit ist. 43 Die Wissenschaft ist der Be-
reich des (objektiven) Geistes, in dem die Wahrheit sich in der einzigen
ihr zukommenden Weise, nämlich begrifflich, konstituiert - und das
heisst eben nicht einfach vorfindiich ist, sondern durch die begriffliche
Darstellung des vorbegrifflich Gegebenen die Form erhält, in der sie
Moment der Wahrheit ist. Wahrheit ist ein Modus der Gegebenheit der
Realität, des Wirklichen im Denken.
Hegels Begriff des Wahren ist an der klassischen Formel orientiert,
dass Wahrheit die Übereinstimmung des Gegenstandes mit seinem Be-
griff sei - und zwar in zweifacher Hinsicht: Übereinstimmung des da-
Das Ganze des Systems 135

seienden Gegenstandes mit dem Begriff von ihm im Denken (Bewusst-


sein); und Übereinstimmung des als daseiend erscheinenden Gegenstan-
des mit der wesentlichen Totalität seiner Bestimmungen, die in seinem
Begriff gefasst ist (also Übereinstimmung von Erscheinung und Wesen);
beide Hinsichten aber kommen darin auf dasselbe hinaus, dass sie eine
adaequatio rei et intellectus einfordern (wie wir gesehen haben), weil ja die
Totalität der Bestimmungen oder das Wesen der Sache nicht im jewei-
ligen Zeitpunkt des Daseins, sondern nur in der Integration durch das
vernünftige Denken gegeben ist. 44 Die Wissenschaften setzen diese
Adaequation als Möglichkeit bei ihrem Tun voraus. Es ist die Aufgabe
der Philosophie als Wissenschaft der Begründung der Wissenschaften,
diese Adaequation nicht nur zu behaupten, sondern in der Entstehung
und Form des Wissens entspringen zu lassen und in ihrer Systematik
zu entfalten. Die Philosophie muss die Möglichkeit wissenschaftlichen
Wissens und damit die Notwendigkeit der Möglichkeit von Adaequa-
tion (= notwendige Möglichkeit der Adaequatheit in beiden Hinsich-
ten) aufzeigen. 45
Von Nürnberg bis Berlin versucht Hegel in den Enzyklopädie-Ver-
sionen, den so exponierten Begriff der Wahrheit als allein wissen-
schaftlicher immer schärfer zu fassen und differenzierter darzustellen.
In der Nürnberger Enzyklopädie heisst es, der Begriff sei adaequat, »in
welchem die Objektivität und die Subjektivität gleich ist oder das Da-
sein dem Begriff als solchem entspricht.«46 Ihre letzte Formulierung
findet diese Bestimmung der Wahrheit in der EniJIklopädie von 1830:
»Dies Erkennen ist so das Anerkennen des Inhalts und seiner Form und
die Befreiung von der Einseitigkeit der Formen und Erhebung derselben
in die absolute Form, die sich selbst zum Inhalt bestimmt und identisch
mit ihm bleibt und darin das Erkennen jener an und für sich seienden
Notwendigkeit ist.«47 Auch noch in dieser letzten Fassung bleibt die
Spannung zwischen Sein und Bewusstsein erhalten. Die Anerkennung
des Inhalts als einer selbständigen, vom Bewusstsein unabhängigen,
ihm vorgegebenen Sache - das bedeutet die ontische Priorität des
Da-Seienden vor der Erkenntnis, nicht nur in einem ewig unbekannten
Ansichsein, das sich für uns in Erscheinungen auflöst, sondern in sei-
ner vollen Sachhaltigkeit (Realität) als so und so bestimmtes Seiendes.
Aber die jeweilige Bestimmtheit, so oder so zu erscheinen, also die prä-
dikative Form, unter der die Sache als gewusste sich im Wissen dar-
stellt, muss als vorläufige erkannt und aufgehoben werden. Erst durch
diese Befreiung von der Positivität des Wissens und der Wissenschaften
wird es möglich, die relative Wahrheit des positiven Wissens der Wis-
136 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

sensehaften zu begründen und ihre Relativität zu bestimmen. Denn die


absolute Form des Wissens, in der alle positiven Formen einzelner Wis-
sensinhalt aufgehoben sind, ist eben der Begriff davon, dass der voll-
kommene Begriff einer Sache das in der Zeit sich ausbildende Ganze
aller Bestimmungen, die Welt, impliziert, und dass dieser Begriff des
Begriffs dann allerdings in intensionaler Weise dasselbe ist wie die Welt
in der extensionalen Weise der »schlechten Unendlichkeit«. In der Hei-
delberger En?JIklopädie hat dieses Verhältnis den noch fast neuplato-
nisch klingenden Ausdruck gefunden, dass das Bewusstsein »diese
Welt als Seiende« ausser sich erfährt und dieses Ausser-ihm-sein als
einen Mangel in sich empfindet. Die »subjektive Idee« strebt daher
dahin, »diesen ihren Mangel in sich aufzuheben und die Gewissheit des
Objektiven mit ihr, durch Aufnahme der seienden Welt in sich zur Wahrheit
zu erheben.«48
Die Differenz zwischen Sein und Bewusstsein bleibt in dieser Iden-
tität erhalten. Sie ist der Selbstunterschied innerhalb eines und dessel-
ben. Dem Bewusstsein, das seiner selbst innewird und darin die abso-
lute Gewissheit erfährt (die der Gewissheit des cartesischen cogito
entspricht), erscheint dieser Selbstunterschied als ein Unterschied sei-
ner selbst und des Anderen, das in ihm als Gewusstes ist - sein Ande-
res. »Die Vernunft ist die Gewissheit des Bewusstseins, alle Realität zu
sein.«49 Hegel aber schränkt dieses Selbstverständnis des seiner selbst
gewissen Bewusstseins sogleich wieder ein: »Das Selbstbewusstsein ist
aber nicht nur für sich, sondern auch an sich alle Realität erst dadurch,
dass es diese Realität wird oder vielmehr sich als solche erweist.«50 Der
Aufweis dieser Identität vollzieht sich gerade nicht im Bewusstsein des
Einzelnen, also nicht im besonderen Wissen besonderer Inhalte; und
auch nicht im einzelnen Selbstbewusstsein, das in der Reflexion-in-sich
seines besonderen Wissens sich stets nur als endliches konstituieren
kann. Daher führt das sich selbst reflektierende Selbstbewusstsein über
die Partikularität des Individuums, des unmittelbar seiner selbst gewis-
sen Ich oder Selbst, hinaus zum »Wahrhaften an und für sich«, zum
Wesen als Geist. 51 Geist aber wird die Subjektivität des Bewusstseins
nur dadurch, dass sie sich durch alle Stufen der weltlichen Existenz
hindurch objektiviert, »totalisiert«, und damit gerade die Individualität
hinter sich lässt. Die Natur als die daseiende Realität, zu der auch noch
die anthropologische Seite des subjektiven Geistes gehört, dann der
subjektive Geist als das in der Einzelheit sich in sich reflektierende Sein
des Selbstbewusstseins, der objektive Geist als die prozessuale Ver-
mittlung und Institutionalisierung der subjektiven Tätigkeiten und
Das Ganze des Systems 137

ihrer Gegenstände und schliesslich die Integration aller dieser Prozesse


in den Gestalten des absoluten Geistes, deren höchste und klarste
Wirklichkeit die Philosophie ist - diese Abfolge von Manifestationen
der Totalität auf verschiedenen Ebenen ist der Inhalt der En?Jklopädie,
die damit das Gattungsleben der Menschheit repräsentiert.
»Der Prozess der Gattung bringt diese zum Fürsichsein. Das Produkt
desselben, weil das Leben noch die unmittelbare Idee ist, zerfallt in die
beiden Seiten, dass nach der einen das lebendige Individuum, das zuerst
als unmittelbar vorausgesetzt wurde, nun als ein Vermitteltes und Er-
zeugtes hervorgeht; dass nach der andern aber die lebendige Einzelheit,
die sich um ihrer ersten Unmittelbarkeit willen negativ auf die Allgemein-
heit bezieht, in dieser untergeht, und die Idee hiermit als freie Gattung für
sich in die Existenz tritt: der Tod der einzelnen Lebendigkeit ist das Her-
vorgehen des Geistes.«52 Geist wird zum metaphysischen Titel für das sich
in sich reflektierende (und darin seiner selbst bewusst werdende) Welt-
geschehen - die Einheit von Natur- und Menschheitsgeschichte. »Der
für sich seiende Geist oder der Geist als solcher ist also - im Unter-
schiede von dem sich selber unbekannten, nur uns offenbaren, in das
Auseinandersein der Natur ergossenen, an sich seienden Geiste - das
nicht bloss einem Anderen, sondern sich selber Sichoffenbarende
oder, was auf dasselbe hinauskommt, das in seinem eigenen Elemente,
nicht in einem fremden Stoffe seine Offenbarung Vollbringende.<P
Das sich selber sich Offenbaren des Geistes ist die Wissenschaft, die
das besondere Wissen der Wissenschaften in die Einheit des Systems
überführt.
Das Erkennen, als Leistung des einzelnen Subjekts, ist nur ein Mo-
ment dieses Prozesses. Es hält sich innerhalb der Grenzen des beson-
deren Wissens. »Das Erkennen ist endlich (...). Die Wahrheit, zu der es
kommen kann, ist daher gleichfalls nur die endliche, nicht die unendliche
des Begriffs.«54 In der Wissenschaft objektviert sich das individuelle
Erkennen zu einem Resultat der Gattungstätigkeit und Gattungsge-
schichte des Menschen. 55 Immer noch aber bleibt dieses Wissen end-
lich, auf endliche Gegenstände oder Gegenstandsbereiche bezogen
und sie in Definitionen, Klassifikationen und Theoremen bestim-
mend. 56 Die so gewonnenen Verstandesbegriffe blieben kontingent
und ohne fundamentum in re, wenn sie nicht in einem Begriff, der den
Status ihrer Begrifflichkeit angibt, fundiert würden. Anders gesagt: Sie
wären bodenlose Produkte einer konstitutiven Leistung des Bewusst-
seins, wenn nicht das Bewusstsein selbst noch in einem übergreifenden
Weltverhältnis verankert werden könnte. »An diesem subjektiven ldea-
138 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

lismus, wonach dasjenige, was den Inhalt unseres Bewusstseins bildet,


ein nur Unsriges, nur durch uns Gesetztes ist, hat das unbefangene Be-
wusstsein mit Recht Anstoss genommen.«57 Dass dieses Weltverhältnis
als wissenschaftlich begründetes nicht einfach durch die Glaubensan-
nahme eines naiven Realismus, es bestehe eine mehr oder weniger ge-
naue Entsprechung zwischen Aussenwelt und Bewusstseinsinhalt,
gesichert werden kann, hat Hegel als Erbteil der transzendentalen
Wendung der neuzeitlichen Philosophie übernommen.
Die Ausarbeitung eines spekulativen Wahrheitsbegriffs ist Hegels
Antwort auf dieses Problem der Wissenschaftsbegründung. »Die End-
lichkeit des Erkennens liegt in der Voraussetzung einer vorgefundenen
Welt.«58 Die vorgefundene Welt ist aber immer ein zufalliger Weltaus-
schnitt, der sich dem erkennenden Subjekt darbietet: Ausschnitt, was
den Umfang der Erfahrung angeht (insbesondere der vorwissenschaft-
lichen Alltagserfahrung), aber auch, was die methodische Selektion der
Forschungsgegenstände und -aspekte in den Wissenschaften betrifft;
zufällig, weil diesem (wie jedem) Ausschnitt die Begründung aus der Sy-
stematik des Ganzen und damit die Notwendigkeit seines So-seins er-
mangelt. »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert«59, ist im
Status der verites de fait noch nicht gefunden. Die verite de raison, die Ver-
nunftwahrheit bedarf einer transempirischen, die Empirie gerade auch
noch in ihrer wissenschaftlichen, methodisch reflektierten Form aller-
erst ermöglichenden Grundlegung. Um diese geht es in Hegels Wis-
senschaftsverständnis. Der Stossseufzer aus der Naturphilosophie -
))Wann wird die Wissenschaft einmal dahin kommen, über die meta-
physischen Kategorien die sie braucht, ein Bewusstsein zu erlangen
und den Begriff der Sache statt derselben zugrunde zu legen«6o - kann
dafür als ein Indiz genommen werden.
In den Wissenschaften kann der Grund dafür, dass »die Objekti-
vität mit dem Begriff identisch ist«61 nicht angegeben werden; sie
haben es bloss mit jener formellen Wahrheit oder Richtigkeit zu tun,
die besagt, »dass ich wisse, wie etwas ist.«62 Dieses endliche Wissen von
endlichen Gegenständen und Sachverhalten bleibt aber vorläufig, weil
das, was ist, unter der Form der Zeitlichkeit sich als veränderlich er-
weist, und weil das Wissen, wie etwas ist, immer nur eine endliche Zahl
von Bedingungen seines So-seins erfasst. Nur die Methode, in der das
Wahre als das Ganze entwickelt, aber nie gegenständlich abgeschlossen
gefasst wird, kann dahin führen, im Begriff der absoluten Idee die in
sich selbst unterschiedene Einheit von Sein und Denken, von Objek-
tivität und Begriff aufzufinden. Es wäre ein grobes Missverständnis,
Das Ganze des Systems 139

unter der Idee, wie Hegel sie denkt, eine Art Entität oder (gegenüber
der materiellen Wirklichkeit »eigentliche«) Substanz zu verstehen. Die
absolute Idee ist »die reine Form des Begriffs, die ihren Inhalt als sich
selbst anschaut. Sie ist (...) die Identität mit sich, in der aber die Tota-
lität der Form als das System der Inhaltsbestimmungen enthalten ist.«63
Als solche ist sie die »absolute und alle Wahrheit«64, und das heisst die
»Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst«65; und das ist eine Er-
läuterung der Formel von »der Wissenschaft der Dinge in Gedanken
gefasst.«66 Notwendig ist diese Übereinstimmung dann und nur dann,
wenn der Gedanke alle möglichen Inhalte der Welt einschliesst, sodass
von ihm nichts mehr negiert werden kann - der absolute Begriff. Nun
ist aber die extensionale Totalität, die Welt, die Natur, nie als ganze Ge-
genstand der Anschauung, der Vorstellung oder des bestimmten Be-
griffs von etwas, sondern nur in der Intensionalität des absoluten Be-
griffs gegeben, des Begriffs vom vollständigen Begriff (notio completa),
der die Totalität der (Begriffs)Form als das wissenschaftliche System
der Inhaltsbestimmungen darstellt. Insofern werden in der absoluten
Wahrheit die Objektivität der Welt und die Subjektivität des Begriffs
identisch, obwohl (und indem) sie unterschieden bleiben. Weil in der Ex-
trapolation ins Unendliche, aufs Ganze, sich das Sein (die Welt) und das
Denken (das Wissen) notwendig verhalten wie Gegenstand und Spie-
gel des Gegenstands, kann für endliches Denken (bestimmtes Wissen
der Wissenschaften) der Ort im Horizont der Frage nach dem Wahr-
heitsverhältnis (= der Idee) angegeben werden. Das ist der Sinn dessen,
was Hegel mit »spekulativer Philosophie« als Wissenschaft von der
Möglichkeit von Wissenschaften intendiert. Diesen Sinn will und muss
er in der Realphilosophie einlösen.

2. Der Übergang zur Natur

Längst ist das, dem Positivismus des späten 19. Jahrhunderts ent-
stammende, Vorurteil widerlegt, Hegel habe in der Naturphilosophie
- dem 2. Teil der En?JIklopädie - und in den auf die Naturwissen-
schaften bezüglichen Partien der Logik seine spekulative Phantasie
fern aller Erfahrung schweifen lassen; genauere wissenschafts ge-
schichtliche Untersuchungen haben gezeigt67, dass Hegels Naturphi-
losophie insgesamt auf dem Stand des empirischen Wissens seiner
Zeit sich befand. 68 Dieser Nachweis, der wohl die Legende von der
Wirklichkeitsferne der Spekulation widerlegt, scheint allerdings wenig
140 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

für die Frage auszugeben, welche Bedeutung Hegel für das heutige
Wissenschaftsverständnis hat. Und die Antwort auf diese Frage ist
auch nicht von einer Untersuchung über die Anwendbarkeit (oder
Nicht-Anwendbarkeit) der Kategorien Hegelscher Naturphilosophie
auf die Theorienbildung gegenwärtiger Naturwissenschaften zu er-
warten, sondern eher davon abhängig, ob die Begriffsform der
Hegelschen Ontologie eine jeder einzelwissenschaftlichen Theorie-
bildung vorgelagerte Ebene der allgemeinen Verfasstheit des Wirk-
lichkeit beschreibt (einschliesslich des Reflexionsverhältnisses, wel-
ches sich in der Beziehung der tätigen und erkennenden Subjekte zur
Wirklichkeit herstellt). In dieser Hinsicht hat Renate Wahsner sicher
die richtige Perspektive angegeben: »Die Bedeutung der Naturphilo-
sophien jener klassischen Systeme liegt also nicht etwa darin, über sie
die naturwissenschaftliche Methode in die Philosophie einzuschmug-
geln. Dennoch kommt ihnen bei der Suche der Philosophie nach
einem wissenschaftlichen Status eine unverzichtbare Rolle zu - eine
unverzichtbare Rolle für die Objektivierung ihres Gegenstandes. Ge-
nauer müsste man vermutlich sagen: für das Begreifen des neuzeitlichen
Objektivierungspnnzips, auf dem die Naturwissenschaften im moder-
nen Sinne sämtlich beruhen.«69 Selbst wenn Hegel in seinem Ver-
ständnis des Objektivierungsprinzips der Naturwissenschaften dieses
verfehlt haben sollte (wie Renate Wahsner zu zeigen versucht), so
würden doch die Anforderungen, die er an ein solches Prinzip stellt,
an ihnen selbst geprüft werden müssen und könnten den Geltungs-
anspruch behalten, wenn sie den Status des Verhältnisses von Subjekt
und Welt unter den Bedingungen der Endlichkeit und Zeitlichkeit
des Subjekts und der universellen Zeitlichkeit und Bewegtheit der
Welt thematisieren.?o Hegel hat einen paradigmatischen Weltentwurf
geliefert, der einen Horizont angibt, innerhalb dessen sich das Selbst-
verständnis der Naturwissenschaften und ihrer Methodologie be-
gründen lässt - ohne dass dies unbedingt mit den Gründen gesche-
hen müsste, die Hegel selbst ausgeführt hat. Seine Ausarbeitung eines
ontologisch fundierten Naturbegriffs geht aber weit über das, was die
neueren (messenden) Naturwissenschaften zu ihrem Gegenstand ma-
chen, hinaus und zielt auf eine allgemeine Dialektik der Natur als
Theorie des Gesamtzusammenhangs und der in ihm sich entfalten-
den Bewegung (oder Bewegungsformen, wie Engels später sagen
wird). Die Bedeutung dieses Konzepts für die Wissenschaften (die ja
immer - ob sie es wissen oder nicht - eine Ontologie implizieren) ist
nicht von diesen her abzufragen, sondern von der Tragfahigkeit der
Das Ganze des Systems 141

Hegelschen Methode, die das Werden des Ganzen mit dem Prozess
der Spezifikation der Natur verbindet, abhängig.
Lenin hat in der bemerkenswerten Gleichung des § 244 der EniJ-
klopädie - »die seiende Idee aber ist die Natur« - einen Schlüssel zur
Struktur des Hegelschen Systems erkannt.7 1 Im absoluten Idealismus
der Logik ist ein geheimer Materialismus versteckt, wenn die Idee,
indem sie ist (und also nicht nur gedacht wird), die Naturist. Denn Natur
- das heisst materielle Wirklichkeit. Es klingt fast wie bei Feuerbach,
wenn Hegel im § 246 (Zusatz) sagt: »Die Naturdinge denken nicht und
sind keine Vorstellungen oder Gedanken.«72 Erst dadurch, dass wir sie
im theoretischen (= betrachtenden) Verhalten aus ihrem Status der Un-
mittelbarkeit und Singularität in ein Allgemeines transformieren 73 ,
werden sie zu etwas Geistigem: »Dadurch, dass wir die Dinge denken,
machen wir sie zu etwas Allgemeinem; die Dinge sind aber einzelne,
und der Löwe überhaupt existiert nicht.«74 Und Hegel nennt das aus-
drücklich »diese Verkehrung« - eine Formulierung, die das Marx-En-
gels-Leninsche Programm der »Umkehrung Hegels« aus Hegel selbst
zu begründen erlaubt. Nur in der Form der Allgemeinheit ist das sin-
guläre Ding objektiv, das heisst für ein Subjekt gegeben. Die Gegeben-
heit besteht darin, dass das der Identifikation sich entziehende flüch-
tige sinnliche Datum durch seine Bestimmungen zur »Sache selbst«
vermittelt wird, die sich allein im Begriff zeigt: »Die Allgemeinheit ist
die Objektivität des Gegenstandes. (Allgemeinheit ist, dass sich der Ge-
genstand allgemein finde. Die innerliche Allgemeinheit ist der Begriff,
sein Wesen).«75
Der Begriff des Allgemeinen wird hier offenkundig in zweifacher
Bedeutung gebraucht. Einmal ist das Allgemeine das, was »sich allge-
mein findet«, also das für erkennende und handelnde Subjekte am Ge-
genstand Gemeinsame. Das Einzelne ist selber ein Allgemeines, insofern
es für alle in gleicher Weise erfahrbar ist; diese Allgemeinheit manife-
stiert sich in der Sprache, das Wort ist der allgemeine Ausdruck der sin-
gulären Sache (gegenüber der Singularität der sinnlichen Empfindung)
und die Bedingung der Möglichkeit gemeinschaftlicher Praxis. - Zum
zweiten ist das Allgemeine aber das Wesen der Sache selbst, das heisst
das nicht bloss hier und jetzt Erscheinende, sondern die unter der
Oberfläche liegenden Momente seines Seins und Wirkens, einschhess-
lich der Bedingungen, die sein So-sein bestimmen, in ihrer logischen
und zeitlichen Kette. In diesem Sinne ist im Begriff jedes Einzelnen die
ganze Welt in der spezifischen Perspektive ihrer Verknüpfungen mit
diesem Einzelnen enthalten, jedes Einzelne ist ontologisch ein Integral
142 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

der Welt und somit eine besondere Form des Allgemeinen, weil jedes
andere Einzelne ja dasselbe in anderer Perspektive ist7 6 ; der Begriff ist
Ausdruck der besonderen Allgemeinheit, als Einheit eine Chiffre der
Totalität und Titel für die Universalität der Bestimmungen jedes Seien-
den, die immer nur in der Methode des Transzendierens endlicher Be-
stimmtheit, der »Fortbestimmung des Begriffs«, erreicht werden kann.
Wenn Hegel von Natur spricht, so hat er primär nicht die Naturge-
setze im Blick, sondern die Mannigfaltigkeit der Naturseienden, die in
ihrer Diskretheit und Diversität von den Abstraktionen der Naturwis-
senschaften gerade nicht erfassten singulären »ersten Substanzen« des
Aristoteles, das ontische Dieses-da (tode tl), das sich in seiner Einzelheit
dem verständigen Denken und der Logik der Klassifikationen entzieht.
Der Hegelsche Naturbegriff hat jene Dimension der ästhetischen An-
schauung bewahrt, die von Leonardo da Vinci ausgesprochen wurde:
»Die Natur hat so viel Freude am Wechsel und verfügt über eine solche
Fülle, dass man selbst unter den Bäumen derselben Art nicht eine
Pflanze findet, die einer anderen annähernd gleicht, nicht nur die
Bäume, sondern ihre Äste, Blätter und Früchte sind niemals alle ganz
gleich.«77
Die Natur als das Andere der Idee (d. h. als das, wovon die Idee eben
die Idee ist) oder als das Andere des Geistes ist durch diese Entgegen-
setzung von abstrakt Allgemeinem und Singulärem nicht negativ be-
stimmt, sondern in ihrer Eigenart, als anschaulich gegebene in zer-
streuter Vielheit zu erscheinen, während der Geist seine Gegenstände
in einem konstruktiven Zusammenhang sub specie unitatis vorstellt und
begreift, und im Begriffe dann jedes Einzelne als das konkrete Allge-
meine erkennt. Aber die anschauliche Zerstreutheit und Vielheit ver-
harrt nicht im Erscheinungsmodus als Agglomerat von Disparatem,
sondern wird vom Denken mehr und mehr als Interaktion, als »Inein-
anderpassen und Zweckmässigkeit«78 erfasst und so als Geist zu sich
selbst, zu seinem Wesen gebracht. »Das Werden der Natur ist das Wer-
den zum Geist.«79 Die im Denken erscheinende Natur als Einheit ist die
Natur, die sich in ihrem geistigen Wesen zeigt, und demgemäss
gehören die Naturwissenschaften zum Geist, und die Naturphilosophie
ist eigentlich die geistige Form, in der die Natur sich der philosophi-
schen Betrachtung darstellt (und darstellen muss). »Die Intelligenz fa-
miliarisiert sich mit den Dingen freilich nicht in ihrer sinnlichen Exi-
stenz; aber dadurch, dass sie dieselben denkt, setzt sie deren Inhalt in
sich (00')' Dieses Allgemeine der Dinge ist nicht ein Subjektives, das uns
zukäme, sondern vielmehr, als ein dem transitorischen Phänomen ent-
Das Ganze des Systems 143

gegengesetztes Noumen, das Wahre, Objektive, Wirkliche der Dinge


selbst.«8o Darauf richtet sich die Darstellung der BniJklopädie.
Diese besondere Betrachtungsweise ergibt sich daraus, dass Hegel
seine Philosophie als ein System der Wissenschaften und nicht als
ein System des An-sieh-seienden anlegt. Die gegenständliche Natur
kommt in allen Teilen dieses Systems vor, als anschauliche in der
Ästhetik, als vorgestellte in der Religionsphilosophie, als materielle
Basis der Gesellschaft in der Rechtsphilosophie, als anthropologisches
Substrat des Geistigen in der Lehre vom subjektiven Geist. Jedesmal
werden andere Aspekte von ihr sichtbar; diejenigen, die in den Natur-
wissenschaften thematisch sind, bilden nur eine Seite des gegenständ-
lich Seienden ab.
Das Verhältnis Idee-Natur ist also nicht als eines verschiedener Ge-
genstandsbereiche zu verstehen. In ihm drückt sich vielmehr die Dif-
ferenz von Allgemeinem und Einzelnem, die Einheit von Einheit und
Vielheit aus. Den theoretischen Rahmen gibt das Universalienproblem
ab.
Die Einzelheit der »ersten Substanzen«, des singulären Seienden,
das nur in der Anschauung gegeben ist und dessen wir in der sinnlichen
Gewissheit unmittelbar innewerden, ist die auszeichnende Bestimmt-
heit des Naturseienden. Mit guten Gründen verstehen sich darum die
Naturwissenschaften als konstruierend, weil sie Allgemeingegenstände
setzen, und als transzendental, weil ihre Verfahren und damit auch die
von ihnen konstruierten Gegenstände von der Formbestimmtheit des
logisch-analytischen Verstandesdenkens geprägt sind. Dies ist der
Sachgrund, aus dem die transzendentale Wende bei Kant hervorgeht
und legitimiert ist. Die Einzelheit des Einzelnen wird erkenntnistheo-
retisch ausgeklammert und zur Nicht-Intelligibilität erklärt.8 1 Hegel
kann dagegen die Substanz nur als Subjekt bestimmen (wie es seit der
Phänomenologie sein Programm ist), wenn er ihre Einzelheit intelligibel
macht, also in Allgemeinheit aufhebt. Er tut dies, indem er die Einzel-
heit des Einzelnen als vermittelt erweist. Die »Unmittelbarkeit« der
»Sache, die an und für sich ist« wird im Verlauf der durch das Denken
an ihr vorgenommenen Bestimmungen ihres So-seins dargetan als
»durch Aufheben der Vermittlung hervorgegangen.«82 In dieser Un-
mittelbarkeit ist sie »ein qualitatives Eins oder Dieses.«83 Ihr qualitati-
ves So-sein macht ihren Anschauungsgehalt aus. Sobald dieses jedoch
erkannt werden soll, muss es in seinen Bestimmungen »gesetzt« werden,
die ihrerseits auf die sie begründenden und bedingenden Bestimmun-
gen verweisen, usf. Jedes Einzelne ist so ein Konkretes als die Totalität
144 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

aller Bestimmungen, durch die es zu seinem besonderen So-sein ver-


mittelt ist, also ein Allgemeines,s4 Nicht die formale Allgemeinheit von
Klassifikationssystemen, sondern die dialektische Allgemeinheit allsei-
tiger Bestimmtheit oder Universalität jedes Einzelnen (derzufolge jedes
Einzelne das Allgemeine in besonderem Modus ist) ist die Begriffs-
form, in der die Natur primär, d. h. qualitativ erfasst wird,ss Für Hegel
ist, wie wir am Übergehen von Allgemeinheit in Universalität sehen,
der Begriff einer Sache selbst (wie für Leibniz) nur dann erfüllt (= notio
completa), wenn er alle Bedingungen und Bestimmungen der Sache ent-
hält. Die vollständige Reihe der Bedingungen und die vollständige
Menge der Bestimmungen ist aber die Welt selbst. So geht die theore-
tische Beziehung auf das singuläre Naturding über in die spekulative
Methode der Konstruktion der Totalität. Der Begriff von der Natür-
lichkeit des Naturdings konstituiert sich nur in der Form der Idee der
Totalität, und das dieser Idee entsprechende Seiende ist die ganze Natur.
So sagt Hegel in der Vorlesung von 1819/20: »Die Natur wird hier be-
trachtet als die verkörperte unmittelbare Idee, sie ist die Idee selbst. Die
Naturphilosophie ist die Darstellung der Idee selbst in einer konkreten
Form, in der Form der Äusserlichkeit.«86 Der Satz bestätigt notabene
die Leninsche Interpretation des Schlusses der Logik.
Die ganze Natur ist die in Raum und Zeit ausgebreitete (res extensa).
Der Begriff der Natur hingegen fasst die ausgebreiteten Einzelheiten
als Ganzes, als Einheit. Dem Begriff gegenüber bleibt die Natur, wie
sie ist, also etwas Äusserliches. Aber im Begriff manifestiert sich das
Wesen der Natur als Einheit der Welt oder Gesamtzusammenhang.
»Das Wesen der Natur selbst geht das Äusserliche nichts an.«87 Die Ex-
tensionalität der Natur »in der Bestimmung des Auseinander, der un-
endlichen Vereinzelungß8 ist ihrem Begriff (als Totalität) äusserlich; je-
doch die auseinander seienden Einzeldinge sind ja die Naturdinge, und
deshalb existiert die Natur als solche im Modus der Äusserlichkeit:
»Die Natur hat sich als die Idee in der Form des Andersseins ergeben. Da
die Idee so als das Negative ihrer selbst oder sich äusserlich ist, so ist die
Natur nicht äusserlich nur relativ gegen diese Idee (und gegen die sub-
jektive Existenz derselben, den Geist), sondern die Äusserlichkeit macht
die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist.«89 Eben das besagt, in
Aufnahme eines platonisch-scholastischen Terminus, die Formel: »Die
Natur ist die Idee in der Form des Andersseins« (altentas). Die Idee der
Natur stellt die Einheit dar, das »Sein überhaupt«, »eine einfache Be-
ziehung auf sich«90; das materielle Sein der Natur ist die Vielheit der
verschiedenen jeweils anderen Dinge. Dieser zweifache Aspekt der
Das Ganze des Systems 145

Natur, zugleich intensional und extensional konstruiert werden zu müs-


sen, ist »der Widerspruch der Idee, indem sie als Natur sich selber äus-
serlich ist«, »der Widerspruch einerseits der durch den Begriff gezeug-
ten Notwendigkeit ihrer Gebilde und deren in der organischen Totalität
vernünftigen Bestimmung, - andererseits deren gleichgültigen Zufal-
ligkeit und unbestimmbaren Regellosigkeit.«91
Hegels Konzept des Verhältnisses von Idee und Natur, von Begriff
und Sache selbst zielt darauf, die Sphäre des Bewusstseins (res cogitans),
in der wir als Subjekte die Welt der Sachen und Sachverhalte als Ob-
jekte präsent haben - wir setzen im Bewusstsein die Sachen als Ob-
jekte92 -, auf die Sphäre des »Seins überhaupt« oder des An-sich 93 (res
extensa) abbildbar zu machen, also die Dialektik von res cogitans und res
extensa als Parallelismus von Konstrukten zu begreifen, deren dialekti-
sche Beziehung aufeinander als »Einheit der Gegensätze« erst die
Wahrheit ausmacht. Die Extensionalität der materiellen Wirklichkeit
und die Intensionalität der Wirklichkeit des Begriffs sind die zwei
Modi, in denen das eine substantielle Sein sich darstellt. 94
Die Naturwissenschaften folgen dem extensionalen Konstruk-
tionsprinzip, ohne damit die Natur als unendliche Totalität begreifen
zu können (denn Extensionalität führt immer nur zur »schlechten Un-
endlichkeit«). Die Naturphilosophie hat hingegen ihre Bestimmung
und ihren Zweck darin, »dass der Geist sein eigenes Wesen, d.i. den Be-
griff in der Natur, sein Gegenbild in ihr finde.«95 Hat diese Unter-
scheidung Hegels, so müssen wir uns fragen, ausserhalb seines Systems
des absoluten Idealismus einen wissenschaftsphilosophischen Sinn? Ist
sie es, die in materialistischer Umkehrung noch in Engels' Programm
einer Dialektik der Natur als »Wissenschaft des Gesamtzusammen-
hangs« wirksam ist?96 Kommt hier die wahre Rationalität der Philoso-
phie gegenüber der biossen Scheinrationalität einer sich verselbstän-
digenden Empirie zum Vorschein, auf die sich doch offenbar Engels
bezog, wenn er schrieb: »Es zeigr sich hier handgreiflich, welches der
sicherste Weg von der Naturwissenschaft zum Mystizismus ist. Nicht
die überwuchernde Theorie der Naturphilosophie, sondern die aller-
platteste, alle Theorie verachtende, gegen alles Denken misstrauische
Empirie (...) Man verachtet in der Tat die Dialektik nicht ungestraft.«97
Was Hegel Naturphilosophie nennt, entspricht in der klassischen
Einteilung der philosophischen Disziplinen dem Teil der Metaphysica
specialis, der sich mit der Kosmologie und im Speziellen mit der
Lehre vom Körper befasste. Gegenüber dem Bild der Metaphysik des
17. Jahrhunderts hatte sich jedoch der innere Aufbau dieser Disziplin
146 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

entscheidend verändert: Kosmologie war jetzt nur noch als Ent-


wicklungs theorie der Natur zu konzeptualisieren. 98 Hegel hat die
Wendung der Wissenschaften zu einer naturgeschichtlichen Betrach-
tungsweise zum Ausgangspunkt seines Philosophieverständnisses ge-
macht und radikaler als alle seine Vorgänger und Zeitgenossen nicht
nur die Metaphysica specialis, sondern auch die sie formell begrün-
dende Ontologie als eine Theorie von der begrifflichen Struktur der
Entwicklung und Zeitlichkeit nicht nur der Gegenstände, sondern
auch der Kategorien selbst aufgebaut. Schon in den frühen Schriften
lässt sich Hegels Intention auf eine entwicklungstheoretische Fas-
sung der Metaphysik erkennen; so heisst es zum Beispiel in dem Sy-
stemfragment von 1800: »So ist das ausser unserem beschränkten
Leben gesetzte Leben ein unendliches Leben von unendlicher Man-
nigfaltigkeit, unendlicher Entgegensetzung, unendlicher Beziehung;
als Vielheit eine unendliche Vielheit von Organisationen, Individuen,
als Einheit ein einziges organisiertes getrenntes und vereinigtes
Ganzes - die Natur.«99 Und mit dem Begriff »Leben« wird die kon-
zeptuelle Trinität von Evolution-Teleologie-Sinnkonstitution zusam-
mengefasst.
In der Betonung der lebendigen Organisation der Natur ist gewiss
der Einfluss Herders spürbar, der den »Erdball (...) eine grosse Werk-
stätte zur Organisation verschiedenartiger Wesen« genannt und »Bil-
dung, bestimmte Gestalt, eigenes Dasein« als allgemeine Kategorien
aus dem Prozess der Wechselwirkung aller Wesen aufeinander abgelei-
tet hatte. 100 Auch Goethes dezidiert evolutionistische Naturauffassung
hat mit Sicherheit auf den jungen Hegel eingewirkt. 101
Das Stichwort für die Einbettung dieser metaphysischen Vision in
die zeitgenössische philosophische Problemlage kam aber zweifellos
von Schelling, der seit 1797 in einer schnellen Folge von Publikatio-
nen seine Naturphilosophie vorgetragen hatte. 102 Ganz dem Geiste
Herders verwandt, hat Schelling einen Begriff des Organischen in
den Mittelpunkt der Naturphilosophie gestellt, der mit Hegels Idee
des unendlichen sich organisierenden Lebens übereinstimmt. »Nun ist
aber der Mechanismus allein bei weitem nicht das, was die Natur aus-
macht C...) Jedes organische Produkt bestehtfür sich selbst, sein Dasein
ist von keines anderen Dasein abhängig. Die Organisation aber pro-
duziert sich selbst, entspringt aus sich selbst (...) Kein einzelner Teil
konnte entstehen, als in diesem Ganzen, und dieses Ganze selbst be-
steht nur in der Wechselwirkung der Teile. In jedem anderen Objekt sind
die Teile willkürlich, sie sind nur da, insofern ich teile. Im organisierten
Das Ganze des Systems 147

Wesen allein sind sie real, sie sind da ohne mein Zutun, weil zwischen
ihnen und dem Ganzen ein oijektives Verhältnis ist. Also liegt jeder
Organisation ein Begriff zugrunde, denn wo notwendige Beziehung
des Ganzen auf Teile und der Teile auf ein Ganzes ist, ist Begriff.«103
Ein natürliches Wesen ebenso als äussere materielle Organisatiqn wie
als in ihm wirkenden organisierenden Begriff aufzufassen, schien
zunächst in Anknüpfung an Spinoza und Leibniz möglich zu sein.
Bald aber merkte Schelling, dass die Objektivität der Naturdinge in
den Wissenschaften einerseits, ihre begriffliche Konstruktion in der
Reflexionsform der Philosophie andererseits nach Kants Erkenntnis-
kritik nicht mehr naiv im Naturding selbst identifiziert werden konn-
ten. Seine Bemühungen galten seit 1799 dem Versuch, einen natur-
philosophischen Realismus und einen transzendentalphilosophischen
Idealismus systematisch miteinander zu vereinigen: »Nach dieser An-
sicht, da die Natur nur der sichtbare Organismus unseres Verstandes
ist, kann die Natur nichts anderes als das Regel- und Zweckmässige
produzieren, und die Natur ist gez:!Vungen, es zu produzieren. Aber
kann die Natur nichts als das Regelmässige produzieren, und produ-
ziert sie es mit Notwendigkeit, so folgt, dass sich auch in der als selb-
ständig und reell gedachten Natur und dem Verhältnis ihrer Kräfte
wiederum der Ursprung solcher regel- und zweckmässigen Produkte
als notwendig muss nachweisen lassen, dass also das Ideelle auch hinwie-
derum aus dem Reellen entspringen und aus ihm erklärt werden muss. Wenn es
nun die Aufgabe der Transzendentalphilosophie ist, das ReUe dem
Ideellen unterzuordnen, so ist es dagegen Aufgabe der Naturphiloso-
phie, das Ideelle aus dem Rellen zu erklären: beide Wissenschaften
sind also eine, nur durch die entgegengesetzte Richtung ihrer Aufga-
ben sich unterscheidende Wissenschaft.«104
Schelling löst dieses Verhältnis zunächst durch eine Art K.omple-
mentaritätsprinzip. Aber es liegt auf der Hand, dass damit die Frage
nach dem konstitutiven Prinzip der wechselseitigen Entsprechung von
Natur- und Transzendentalphilosophie, von Realität und Idealität un-
abweisbar wird. Hegel hat dafür das Denkmodell der Äquivalenz von
Äusserlichkeit (Extensionalität) der Natur und Innerlichkeit (Intensio-
nalität) des Begriffs eingeführt (was an Schellings Gedanken von 1797
anknüpft) und die Einheit von extensionaler Bestimmung der Vielheit
und intensionalen Konzentration des Vielen in der Einheit des Begriffs
in die absolute Idee verlegt, die ja nur in der Konstruktion ihrer selbst
durch die prozessuale Methode der Fortbestimmung erscheint und als
solche die Natur ist.
148 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Der Fortschritt Hegels über Schelling hinaus liegt in der logischen


Bewältigung des Problems, wie das Verhältnis von seiender Totalität
und werdender/vergehender Vieiheit der einzelnen Dinge gedacht
werden müsse. Schelling blieb bei der Apriorität der Natur als Ganzheit
stehen, die er dann mit allen Attributen eines göttlichen Subjekts aus-
stattete. (Der Weg zum späten Schelling beginnt schon hier). »Nicht
also wir kennen die Natur, sondern die Natur ist apriori, d. h. alles Ein-
zelne in ihr ist zum voraus bestimmt durch das Ganze oder durch die
Idee einer Natur überhaupt. Aber ist die Natur apriori, so muss es auch
möglich sein, sie als etwas, das apriori ist, zu erkennen.«105 Die apriori-
sche Einheit der Natur als das Erste, aus dem alle Bewegung zum Vie-
len hin stammt lO6 , muss dann als reine Produktivität aufgefasst werden,
als eine natura naturans, die sich dauernd in die Menge der Seienden
entäussert und zum Produkt (natura naturata) vergegenständlicht. »Jene
Identität der Produktivität und des Produkts im ursprünglichen Begriff
der Natur wird ausgedrückt durch die gewöhnlichen Ansichten der
Natur als eines Ganzen, das von sich selbst die Ursache zugleich und
die Wirkung und in seiner (durch alle Erscheinungen hindurchgehen-
den) Duplizität wieder identisch.«107 Wir denkenden Wesen, die wir zu
dieser Menge produzierter Seiender gehören, und also Teile der natura
naturata sind, können zur ursprünglichen Einheit der Natur nur in der
Umkehrung dieses Prozesses permanenter Entäusserungen kommen.
Schelling spricht von »Involution«: »Diese Involution kann aber (00')
nichts Reelles sein: sie kann also nur als Akt vorgestellt werden, als ab-
solute Synthesis, welche nur ideell ist, und gleichsam den Wendepunkt der
Transzendental- und Naturphilosophie bezeichnet.«108
Es wird deutlich, wie nah Schelling hier dem späteren Hegelschen
Konzept der absoluten Idee als Methode schon kommt und wie er,
ohne sich zu einem wirklich entwicklungs theoretischen Konzept vor-
zuarbeiten, die Richtung seines Denkens mit dem Terminus der »abso-
luten Synthesis« blockiert. 1119 Immerhin konnte Hegel bei Schelling den
Gedanken finden, dass die erfahrene Natur als nicht-identische Viel-
heit die äussere Wirklichkeit des nur ideellen Begriffs sei, und von da
aus zu seiner logischen Formel des übergreifenden Allgemeinen vor-
dringen, dergemäss die Identität des einen Begriffs die Nicht-Identität
seiner vielen Bestimmungen einschliesse, ja radikaler, dass die Identität
nur in der Form der Nicht-Identität sei und dass wirkliche Identität nur
in der Konfiguration der Identität von Identität und Nicht-Identität
bestehe - oder dass der absolute Begriff nur in der Natur wirklich
sei. l111
Das Ganze des Systems 149

3. Naturphilosophie als Theorie der Entwicklung und


der Geschichtlichkeit der Natur
Hegel hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die strenge Form der
Dialektik, die auf dem Selbstunterschied der Identität als Identität von
Identität und Nicht-Identität beruht, nicht die Widerspiegelungsform
der kontingenten Mannigfaltigkeit der Naturdinge ist, sondern das
Gattungsverhältnis des Allgemeinen und Besonderen und dessen Zeit-
aspekt, das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität im Prozess
definiert. Die Dialektik ist - wie ihr Sonderfall, die formale Logik - eine
Begriffs-Struktur. Formale und dialektische Logik aber gelten, weil sie
den Logos des Seins, der Seinsverhältnisse ausdrücken, was besagt, dass
ihnen die Struktur der Sache selbst, der Wirklichkeit entspricht.
Das Sein der Natur offenbart sich als Werden, das Ganze der Natur
ist Naturgeschichte. Geschichtlichkeit ist die Kategorie, die den Natur-
prozess und die Geschichte der künstlichen Welt oder des Geistes
übergreift. Andererseits ist das Natursein ontisch das Erste, die Welt
des Geistes ruht auf der Natur auf, entwickelt sich in ihr und aus ihr
und ist ihr insoweit entgegengesetzt, als sie die Natur im Selbstunter-
schied verwirklicht und sie in sich selbst reflektiert.!!! Die Geschichte
ist ein Kontinuum, die Diskretheit ihrer Gestalten ist eine Art dieses
Kontinuums. Der Begriff der Entwicklung hält die Einheit von Konti-
nuität und Diskontinuität als Arten der Kontinuität selbst fest - und
dies ist der naturphilosophische Begriff der Natur, zu dem es gehört,
dass das Kontinuum Naturgeschichte in der Äusserlichkeit der Er-
scheinungen zur Mannigfaltigkeit der Arten zerfällt. »Der Natur ist ge-
rade die Äusserlichkeit eigentümlich, die Unterschiede auseinanderfallen
und sie als gleichgültige Existenzen auftreten zu lassen (...) Die Uner-
messlichkeit der Natur, welche zunächst elen Sinn in Erstaunen setzt,
ist eben diese Äusserlichkeit (...) In dieser Äusserlichkeit haben die Be-
griffsbestimmungen den Schein eines gleichgültigen Bestehensund der T/er-
einzelung gegeneinander; eier Begriff ist deswegen als Innerliches.«!!2
Die Beschreibung, Systematisierung und theoretische Durchdringung
dieser Mannigfaltigkeit ist das Geschäft der Wissenschaften. Sie liefern
den ausgebreiteten Stoff, aus dem erst die Einheit des Begriffs gebildet
werden kann. Insofern bezieht sich die Dialektik immer auf die Wis-
senschaften, aber als eine sie überschreitende metatheoretische Kon-
struktion. »Nicht nur muss die Philosophie mit der Naturerfahrung
übereinstimmend sein, sondern die Entstehung und Bildung der philoso-
phischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung
150 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

und Bedingung.«l13 Die Einheit der Natur liegt aber in keiner Erfah-
rung vor, wenn sie auch, als Bedingung ihrer Möglichkeit, in ihr ent-
halten ist. Die Einheit ergibt sich aus der Vernunftform des Begreifens,
sie ist im Begriff gegeben. Die Naturphilosophie ist darum nicht die
verallgemeinernde Lehre von den Eigenschaften und speziellen Geset-
zen der Naturdinge und kann auch nicht angeben, was die Wissen-
schaften tun sollen oder nicht tun dürfen (ausser dem allgemeinen Ra-
tionalitätsgebot, das die Grenze von Wissen und Glauben oder Meinen
festlegt). Ihre Aufgabe ist es vielmehr, ein Konzept von der Einheit der
Welt zu entwerfen, das den Wissenschaften gegenständlichen Halt bie-
tet und methodische Selbstvergewisserung ihres epistemologischen
Status vermittelt. 114
Hegel hat sich immer gegen die Verwechslung und Vermischung
philosophischer und wissenschaftlicher Begrifflichkeit gewehrt. Es ist
eine ironische Wendung der Philosophie- und Wissenschafts ge-
schichte, dass gerade seine Naturphilosophie nur in dauernder Ver-
wechslung dieser Begriffssphären rezipiert wurde. Unterschieden hatte
Hegel ja tatsächlich schon in den ersten Paragraphen der En?Jklopädie
den Charakter der Philosophie - »das reflektierende Denken, welches
Gedanken als solche zum Inhalte hat« - von dem der Wissenschaften -
die »ihre Gegenstände als unmittelbar von der Vorstellung zugegeben
sowie die Methode des Erkennens für Anfang und Fortgang als bereits
angenommen voraussetzen.«115 Wer also den metatheoretischen Charak-
ter seiner Naturphilosophie verkennt, hat bereits ein von ihm aufge-
stelltes Verbot verletzt.
Sicher hat Hegel, durch zahlreiche Verweise auf naturwissen-
schaftlich erforschte Sachverhalte, das Missverständnis gefördert, es
gehe ihm um eine allgemeine Naturlehre, während doch - besonders
wenn man dem Skelett der Vorlesung folgt - deutlich werden kann,
dass er eine Ontologie der Natur als Evolution vorlegen und mit dem
Evolutionsprinzip das Kantsche Problem der »Spezifikation der
Natur« lösen wollte. Valerio Verra hat darauf hingewiesen, dass Hegel
dabei weit über die Entwicklungstheoretiker seiner Zeit hinausgegan-
gen ist, indem er das avancierte Konzept Goethes, die Entwicklung als
Metamorphose auf »ein Schema zurückzuführen, das (...) in den be-
sonderen Produkten lebt und besteht« und »die verschiedenen Natur-
gestalten durch Modifikation eines einzigen Organs, das heisst durch
die Umwandlung der Teile zu begreifen«, als blasse Ansicht der Ober-
flächenerscheinung kritisiert und stattdessen »die dialektisch entgegen-
gesetzte Funktion von Gattung und Art wie von Gattung und Indivi-
Das Ganze des Systems 151

duum im Lebensprozess« als logische Struktur des Naturprozesses be-


stimmt.1 16 Die Gattung erhält sich im Naturprozess im Verschwinden
der Individuen - das Einzelne geht unter, das Allgemeine bleibt; sonst
wäre die Natur tot, kein Prozess, sondern ununterschiedene statische
Einheit. Die Prozessualität der Natur, ihre Lebendigkeit, ist der Tod
der Individuen: »Die Momente des Prozesses der Gattung aber (...) fal-
len auseinander und existieren als mehrere besondere Prozesse (...), en-
dend damit, dass die Gattung als solche sich erhält, indem das Indivi-
duum in die Existenz als Allgemeines übergeht, was der natürliche Tod
ist.«117 Das Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen enthält als blos-
ses Werden und Vergehen noch keine Entwicklung. Erst die Besonde-
rung der Gattung in Arten - »Einfälle der Natur und ihr Bestimmt-
werden durch äussere Umstände«118 - lässt das Entgegengesetzte der
Gattung innerhalb ihrer hervortreten und damit eine Lebensform in
die andere übergehen. Die dialektisch-logische Unterscheidung von
Gattung und Art im Modus des Übergreifens über das Gegenteil ist die
Formbestimmung, dergemäss die Natur notwendig als zufällige Evolu-
tion begriffen werden muss. Hegel hat hier das logische Prinzip der
Darwinschen Entwicklungsbiologie vorgezeichnet.
Damit gewinnt Hegel einen Ausgangspunkt, von dem aus er das
(theologische) Konzept einer linearen Teleologie der Natur überwinden
kann. Die Natur ist Selbstbewegung, die dem Prinzip der Selbsterhal-
tung des Ganzen subsumiert ist. Die Natur = das Sein überhaupt konti-
nuiert sich in ihrem Sein; das heisst, sie ist sich selbst Zweck, die Zweck-
mässigkeit der Natur manifestiert sich in dem Erhaltungsgesetz. Das gilt
schon für die einfachste Weise der Natur, die Materialität: »Die erste
Stufe ist die Materie überhaupt (...) Materie ist das ausschliessende Für-
sichsein. Dieser Widerspruch ist in Eins gesetzt. Sie leistet Widerstand
und ist zugleich ein Fortgesetztes.«119 Die Materie selbst bringt den Un-
terschied hervor, durch den die Eine Natur zur Vielheit wird, weil sie als
extensionale die notwendige Möglichkeit der Begrenzung, also der
Ver-Körperung besitzt. »Die Materie bringt den Unterschied hervor auf
eine äusserliche Weise (...) Das Setzen ihrer Besonderheit ist zunächst
Unterschied des Raumes, als das Konkrete, Reale, daher es besondere
Körper sind.«120 Der Prozess der fortschreitendenDifferenzierung liegt
in der Materialität der ersten Natur und geht aus ihr hervor. Entwicklung
kann also dem Konzept der Natur als Selbstzweck eingefügt werden.
Auch darauf hat Verra hingewiesen: »Im Selbstzweck ist das Resultat der
Anfang. Anfang und Ende sind gleich. Die Selbsterhaltung ist fortdau-
erndes Selbstreproduzieren und umgekehrt.«121
152 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Nur ein solches au fond naturalistisches Verständnis der Wirklich-


keit - mit dem Geist als höchstem Resultat des Naturprozesses und in
der Tat damit auch als dessen Wahrheit und Integral- konnte den über-
lieferten Begriff von Teleologie überwinden, ohne doch das Konzept
der Zweckmässigkeit der Natur (die sich in der Dialektik von Notwen-
digkeit und Zufall herausbildet) aufgeben zu müssen. In der Idee des
Gesamtzusammenhangs wird die Naturteleologie aufgehoben, wie wir
es bei Engels in der Dialektik der Natur (sehr hegelisch) wiederfinden
werden. Erhaltungsgesetz und Selbstorganisation werden als Momente
ein und desselben Ursprungsprinzips gefasst.
Am Anfang von § 249 der EniJklopädie hat Hegel dieses Prinzip
ausgesprochen: »Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten,
deren eine aus der anderen notwendig hervorgeht und die nächste die
Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so, dass die
eine aus der anderen natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren,
den Grund der Natur ausmachenden Idee.«122 Zunächst mag der
zweite Teil dieses Satzes verblüffen. Wird da nicht gerade die Natur als
Anfang, aus dem sich alles entwickelt, wieder negiert? Natürliche Er-
zeugung würde bedeuten: Erzeugung nach dem Prinzip des Wider-
spruchs zwischen Gattungsallgemeinem und Besonderung der Arten
und gemäss dem Zufall der äusseren Umstände, die die eine Besonde-
rung begünstigen, die andere benachteiligen (wie wir oben gesehen
haben). So vollzieht sich die Entfaltung der Natur in die Mannigfaltig-
keit der Arten und Formen. Dass diese Mannigfaltigkeit sich jedoch in
Stufen oder Reiche der Natur - die des Anorganischen, des Organi-
schen, des Beseelten, des Geistes - gliedert, ist nicht mehr zufällig, son-
dern folgt aus einem inneren Gesetz der Materie selbst, aus ihrer Ex-
tensionalität, Undurchdringlichkeit und Widerständigkeit, aus der
Apriorität des Auseinanderseins und der Negativität. 123 Es ist die Idee
der Materie, sich zu diversifizieren: »Die Materie bringt den Unter-
schied hervor auf eine äusserliche Weise« - nämlich in der Form ver-
schiedener Seiender. »Die Form ist wesentlich Teil der Idee, daher sie
ebensowenig als die Materie für sich ist. Keine Materie ist ohne Form;
die Form muss an der Materie hervortreten.«124 Hervortreten der
Form aber ist Hervortreten der Unterschiede, so ist das Prinzip der
Entwicklung von Anfang an festgelegt.
Am Beispiel der Kategorie Teleologie, die zentral für Hegels Natur-
begriff ist, weil Natur als ganze - von der nackten Materie bis zum
Hervorgehen des Geistes - als »Leben« charakterisiert wird, tritt ein
weiterer Aspekt der HegeIschen Naturphilosophie hervor. Evolution
Das Ganze des Systems 153

in der Natur wird nicht einfach von einem Standpunkt ausserhalb der
Natur beschrieben. Die Evolution der Natur ist zugleich eine Evolu-
tion ihrer begrifflichen Darstellung: Die Kategorien entwickeln sich
parallel zum Naturverhältnis des Geistes als der Gestalt der Selbstre-
flexion der Natur. Teleologie meint etwas anderes bei Aristoteles als bei
HegeI, obwohl der Terminus sich auf denselben Sachverhalt, die ente-
lechiale Selbstorganisation des Seienden, bezieht und also auch wieder
etwas meint, was in der Verschiedenheit gemeinsam bleibt. Hegel Ge-
schichte der Philosophie, die mit der Philosophie der Weltgeschichte
zusammen gelesen werden muss, entwickelt die Historizität des Seins-
verständnisses als Funktion des Seinsverhältnisses. Und das gilt eben nicht
nur für die Geschichte der Menschheit oder des Geistes, sondern auch
für die Natur.
Die Auffassung der Natur als eines Systems von Relationen, deren
Glieder sich wechselseitig bestimmen und explizieren - d. h. die Auf-
fassung des materiellen Seins als substantielles Verhältnis oder Struk-
tur, nicht als Substrat125 - hat Hegel in mannigfachen Varianten ausge-
führt. Nehmen wir die knappe Form der Vorlesungen von 1819/20:
»Die erste Bestimmung ist, dass die individuelle Körperlichkeit ein Ver-
hältnis in sich ist C•••). Körperliche Bestimmtheit ist wesentlich Verhält-
nis-Bestimmtheit. Diese ist zuerst ein formelles Verhältnis, dass der
Körper in sich ist, zugleich reflektiert in sich und in anderes, Beziehung
auf anderes, die aber wesentlich Reflexion in ihm selbst ist, sein eige-
nes Immanentes C•••). Hier ist also wieder der Raum als Moment, weil
das Materielle überhaupt Verhältnis ist; zum Verhältnis gehören aber
zwei Seiten, das Materielle als Schweres, als Besonderes, verhält sich zu
seiner unmittelbaren Allgemeinheit oder Gattung, zum Raum, das Be-
sondere zum Abstraktum oder Allgemeinen C•..) Verhältnis ist dieser
Widerspruch, dass jede Seite für sich ist, und ebenso unselbständig, die
eine ist nur bestimmt durch die andere, da sie im Verhältnis in Bezie-
hung auf ein Anderes ist; ein Anderes ist ihr Sein, dies ist das Verhält-
nis der Idealität, so ist es negiert, und ein anderes ist in ihm gesetzt.«126
Wirklich werden die Materien in Beziehung auf Andere, durch die sie
sich wieder auf sich selbst zurückbeziehen. In dieser Doppelbewegung
der Beziehung auf anderes und Reflexion in sich entsteht das »gegen-
ständliche Wesen«, das sich selbst Gegenstand werden kann, indem es
einen Gegenstand hat, und das damit zum Subjekt wird. »Das totale In-
dividuum, wie es Gestalt ist, ist es in der Beziehung nur auf sich; die
wahrhafte Individualität ist ein Subjekt.«127 Diese Form der Selbstbe-
züglichkeit oder des Selbstverhältnisses, aus der die Hinordnung auf
154 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

die Erfüllung der eigenen Möglichkeiten (Anlagen, Tendenzen, Poten-


zen!28) hervorgeht, nennen wir in Orientierung an der bewussten
Form der Zwecksetzung mit dem allgemeineren Ausdruck Zweckmässig-
keit!29 - »diese Negation der Äusserlichkeit und Unmittelbarkeit.«13o In
diesem Sinne ist die Teleologie die höchste kategoriale Bestimmung der
Objektivität, in der diese als sich selbst erhaltendes, sich reproduzie-
rendes System, als Organismus, als Weltprozess kenntlich wird.!3!
Hegels Philosophie ist die Ausformulierung eines neuen Welt- und
Wissenschaftsverständnisses, dessen Konturen seit Leibniz und Vico,
seit der EnC)'clopedie und Herder, seit Rousseau und Kant immer deut-
licher hervortraten. Er hat die Logik der Geschichtlichkeit nicht nur für
die Phänomenologie des Bewusstseins und für die Welt des objektiven
und absoluten Geistes - Geschichte, Gesellschaft, Kunst, Religion, Phi-
losophie - als die Darstellung der sich historisch-dialektisch entwickeln-
den Begriffe durchgeführt, sondern hat sie eben auch im Bereich der
Natur als kategoriales Raster ausgearbeitet. Die Verfassung der Natur ist
selbst zeitlich-geschichtlich. Da nehmen Hegels allgemeine Bestimmun-
gen der Zeit eine zentrale Stelle ein: »Die endlichen Dinge sind über-
haupt in der Zeit, die Zeit ist ihre abstrakte Seele oder Dialektik (00')' Die
Zeit ist das Sein, das nicht ist, indem es ist, und das Nichtsein, das ist,
indem es nicht ist. Diese abstrakten Bestimmungen drücken das Werden
aus, die sich verändernde Veränderung.«!32 Raum und Zeit aber sind re-
lativ auf die Materie, »weil Raum und Zeit nichts für sich sind, sondern
ihre Wahrheit in der Materie haben«. Die Materie aber »bezieht sich auf
sich selbst und ist die Negation der Beziehung auf das Andere. Dieses
Fürsichsein ist die Negativität, die von der Zeit herkommt.«133 Ohne
diese Fundierung der »Stufen der Natur« einschliesslich ihrer obersten,
des Geistes, in der Materialität und ohne die Beziehung der Intensiona-
lität des Begriffs auf die Extensionalität der Materie ist Hegels System
nur zur Hälfte verstanden. Diese Beziehung mitgedacht, erweist es sich
als Metaphysica generalis und specialis der gesamten natürlichen und
geistig-gesellschaftlichen Welt, oder als eine Wissenschaftslehre, die die
Wissenschaft vom Sein selbst geschichtlich macht.

4. Der Geist als Reflexioniform der Welt

Dass die Natur ihre Wahrheit im Geiste habe, wie § 381 der En?Jklopä-
die zur Einführung des Begriffs des Geistes sagt, lässt sich nur dann
verstehen, wenn wir Geist nicht als eine immaterielle Substanz der Ma-
Das Ganze des Systems 155

terie entgegensetzen, wie es die spätantike und christliche Pneuma-Lehre


getan hat. Vielmehr haben wir schon in der Betrachtung der Natur ge-
sehen, dass diese das, was sie ist - nämlich Gesamtzusammenhang aller
materiellen Seienden und ihrer Beziehungen - an dem, als was sie sich
zeigt, nicht unmittelbar erkennen lässt. Keinem endlichen individuellen
Wesen, auch keinem denkenden, ist die Natur in der Anschauung oder
Vorstellung als ganze gegeben. Sie kann nur als Integral des Gattungs-
prozesses des Denkens, als Resultat der unendlichen Fortbestimmung
des Begriffs, d. h. als Übergang von einem bestimmten Begriff zum an-
deren usw., konstruiert werden. Gegenständlich wird sie erst im Den-
ken des Denkens, dem Denken der series notionutII, und also in ihrer
Wahrheit als das Ganze nur als Produkt einer Reflexion, die die Ab-
straktion vom anschaulichen Dieses-da aufnimmt. In dieser Tätigkeit
des Denkens des Denkens, die die äusserliche Vielheit und Zerstreut-
heit der Einzelseienden hinter sich lässt, wird Natur gegenständlich als
die im Begriff gefasste prozessuale Beziehungstotalität - und dies
nennt Hegel eine geistige Wesenheit. Diese ist dem Natursein nicht
entgegengesetzt, wie zwei Substanzen einander entgegengesetzt sind,
sondern so wie Innerlichkeit und Äusserlichkeit derselben Substanz.
»Wir wissen, (...) dass in der Natur Dieses neben Diesem besteht, Die-
ses nach Diesem folgt, - kurz, dass alles Natürliche ins Unendliche aus-
einander ist; dass ferner die Materie, diese allgemeine Grundlage aller
daseienden Gestaltungen der Natur (...) ausser unserem Geiste besteht
(...). Alle Tätigkeiten des Geistes sind nichts als verschiedene Weisen
der Zurückführung des Äusserlichen zu der Innerlichkeit, welche der
Geist selbst ist, und nur durch diese Zurückführung, durch diese Idea-
lisierung oder Assimilation des Äusserlichen wird und ist er Geist.«u4
Die Theorie des Geistes ist also aufbauend auf der Theorie der Natur
(als allgemeiner Ontologie des materiell Seienden) zu begreifen und
wie diese als Entwicklung - nun nicht als Spezifikation des Materiellen
in der Zeit, sondern als Differentiation der Reflexionsgestalten in der
Gattungsgeschichte - darzustellen. »Die Betrachtung des Geistes ist
nur dann in Wahrheit philosophisch, wenn sie den Begriff desselben in
seiner lebendigen Entwicklung und Verwirklichung erkennt.«135 Dabei
kommt der Geist als »konkreter« zunächst als die Reflexionsform des
Bewusstseins in den Blick: In seinen Naturformen (Anthropologie) als
Bewusstsein (von der sinnlichen Gewissheit bis zur Vernunft - das ist
der Gang der Phänomenologie, verkürzt um ihre Objektivationen) und als
die Einheit seiner »Tätigkeitsweisen« (psychologie); dieses Ganze ist
der Bereich des subjektiven Geistes.
156 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Wie in der Philosophie der Natur geht es auch in der Philosophie


des Geistes um die allgemeinen Prinzipien einer Lehre vom menschli-
chen Geist und von den Institutionen der Gesellschaft. Wie also die
Philosophie der Natur die Rolle der Kosmologie in der klassischen
Einteilung der Metaphysica specialis übernimmt, so die Philosophie
des subjektiven Geistes die der Psychologia rationalis. 136 Bemerkens-
wert ist, dass die Stelle der Theologia rationalis bei Hegel aufgelöst
wird. An Kosmologie und Psychologie schliesst sich als dritte Abtei-
lung die Lehre von objektiven Geist, der sich in der Weltgeschichte er-
füllt. Eine Philosophie, die die wirkliche Welt im ganzen als Prozess
denkt, muss in der Systematik des Aufbaus die Geschichte an die Stelle
Gottes treten lassen. Diese »Säkularisierung« des Gegenstands der
Theologia rationalis erfordert indessen einen weiteren Schritt, in dem
das Absolute nun nicht mehr gegenständlich, geschaut, geglaubt und
gesetzt, sondern in der Weise eines Konstruktionsmodells durch eine
Methode vergegenwärtigt wird. Konsequenterweise können die an-
schauliche Form dieser Vergegenwärtigung durch das Ideal in der
Kunst und die vorgestellte Form durch Glaubensinhalte in der Religion
nur als uneigentliche Epiphanien des Absoluten gelten, die es nach Art
von Analogien evozieren, während allein in der Reinheit des Begriffs
des Begreifens, der noesis noeseos das Absolute selbst sich zeigt.
Da aber auf jeder Stufe des Geistes die Versteinerung des Seins in
der Darstellungsform der Substantialität aufgelöst wird in den Prozess
wechselseitiger Reflexion ineinander und damit zugleich der Reflexion
in sich, welche die Selbstveränderung der Sache in Gang hält, gibt die
Seinsweise des Geistes die universelle Struktur der werdenden, beweg-
ten, sich verändernden Welt an, und jedes innerweltlich E1;scheinende
hat als eine Manifestation des Geistes zu gelten. »Die Bestimmtheit des
Geistes ist daher die Manifestation.«137 Als sich eh und je manifestie-
render ist der Geist universell; seine Manifestationen sind die Manife-
stationen der Welt im ganzen in der besonderen Gestalt jedes ihrer
Glieder oder Momente.
Es bedürfte nun einer sehr eingehenden Analyse (die hier nicht
durchgeführt werden kann) zunächst des Aufbaus der drei Teile der
En:(J'klopädie und dann eines Vergleichs mit der grossen Logik, um zu
zeigen, dass die Bewegungsformen, denen gemäss die drei gros sen
Gattungsmanifestationen des Geistes - Natur, subjektiver und objekti-
ver Geist - sich entfalten und darstellen, jeweils in ihrem Elemente
denselben Formbestimmtheiten und -gesetzlichkeiten unterliegen, die
so etwas wie ein Apriori dialektischen Folgens bilden (und in der Kon-
Das Ganze des Systems 157

vergenz von sequi und consequi von Hegel auch als Schlussformen, als »Ein-
heit von bestimmten Extremen«138 behandelt werden). Die Logik steht
dann vor den drei Teilen der Realphilosophie als Lehre von diesen
apriorischen Formbestimmtheiten an sich - eine Lehre, die diese
Formbestimmtheiten in ihrer formalen Bewegung rein an sich selbst
vorführt und sie aus dieser Bewegung mit Notwendigkeit hervorgehen
lässt. Der Gang der Logik ist also ebensosehr die Methode der Dialek-
tik wie deren System - und die von gedankenlosen Hegel-Interpreten
in der Folgezeit vorgenommene Trennung von System und Methode
ist nichts anderes als der untaugliche Versuch, dem Gehalt der Dialek-
tik (oder besser: des Spekulativen) mit Verstandesoperationen auf die
Spur kommen zu wollen.
Dass eben dieses in sich bewegte, in sich reflektierte wirkliche
Ganze mit dem Terminus Geist benannt wird, ist ein Erbstück abend-
ländischer Philosophietradition.Im Terminus Geist fliessen der logos des
Heraklit und der nous des Anaxagoras zusammen. Dass eine extensio-
nale Vielheit als intensionale Einheit und das Besondere als Allgemei-
nes gefasst und eingesehen werden, liegt in diesen Wörtern. In letzter
Instanz ist Geist das Absolute, weil als Totalität relationslos und nur in
sich selbst bezüglich. Das sagt die Anmerkung zu § 384 der EniJklopä-
die: ))Das Absolute ist der Geist, dies ist die höchste Definiton des Absolu-
ten.«139 Und die Bezüglichkeit oder Reflexion in sich des an sich be-
zugslosen Ganzen wird im Zusatz ausdrücklich erläutert: »Auf dieser
Stufe verschwindet der Dualismus einer selbständigen Natur oder des
in das Auseinander ergossenen Geistes einerseits und des erst für sich
zu werden beginnenden, aber seine Einheit mit jenem noch nicht be-
greifenden Geistes anderseits, (...) sodass dies Andere jeden Schein der
Selbständigkeit gegen ihn verliert, vollkommen aufhört, eine Schranke
für ihn zu sein, und nur als das Mittel erscheint, durch welches der
Geist zum absoluten Fürsichsein, zur absoluten Einheit seines An-
sichseins und seines Fürsichseins, seines Begriffs und seiner Wirklich-
keit gelangt.«140
Das sind Bestimmungen, die sich in der Entwicklung des HegeI-
schen Systems längst ergeben haben. Hier werden sie nun als Resultat
vorgestellt. Hegels ganze Philosophie ist Geistphilosophie - aber nicht als
Abwertung des Materialität, sondern als Prinzip von deren Einheit. Die
Antithese von Natur und Geist ist eine vorläufige, vor-spekulative:
»Wir haben gesagt, der Geist negiere die Äusserlichkeit der Natur, assi-
miliere sich die Natur und idealisiere sie dadurch. Diese Idealisierung
hat im endlichen, die Natur ausser sich setzenden Geiste eine einseitige
158 !-legels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Gestalt; hier steht der Tätigkeit unseres Willens wie unseres Denkens
ein äusserlicher Stoff gegenüber.«141 Demgegenüber erkennt das spe-
kulative Denken das Geistige in der Vielheit der Dinge: »Die Philoso-
phie hat also gewissermassen nur zuzusehen, wie die Natur selber ihre
Äusserlichkeit aufhebt, das Sichselbstäusserliche in das Zentrum der
Idee zurücknimmt oder dies Zentrum im Äusserlichen hervortreten
lässt.«142 Dies ist eben das Geistige, dass es gedacht werden muss und
nicht angeschaut werden kann und der Geist folglich wirklich nur ist,
wenn er sich begreift: »Der Begriff des Geistes hat seine Realität im
Geiste.«l43 So fügen sich Anfang und Ende des 3. Teils der En?Jklopä-
die zusammen.
Man muss sehen, dass sich im Aufbau der En?Jklopädie zwei Bau-
pläne durchdringen: Einmal jener der Metaphysica specialis, demzu-
folge die gesamte Realphilosophie eine Spezifikation der Geistphiloso-
phie ist: Natur als der Geist in seiner Äusserlichkeit, subjektiver Geist
als der Geist in seiner Individualisierung, kraft deren er sich in die Sub-
strate-Subjekte seiner Tätigkeit auseinanderlegt; objektiver Geist als
das Gattungsgeschehen; absoluter Geist als die Selbstdarstellung seiner
Entwicklung und Manifestationen. Zum zweiten jener Bauplan, der
sich aus der Selbstdarstellung des Geistes ergibt: Formale Struktur
(Logik), äusserliche Realität (Natur - wozu dann auch die gesamte ma-
terielle Seite der Menschheitsgeschichte gerechnet werden müsste 144),
Selbstverhältnis (Geist in endlicher Gestalt und als absoluter). Die
Schnittstelle dieser beiden Baupläne lässt sich an der Bedeutungsver-
schiebung erkennen, die der Geistbegriff erleidet, wenn er von einem
universellen Formbegriff der Welt im ganzen, der die Natur übergreift,
zu einem Begriff intensionaler Selbstbezüglichkeit transformiert wird,
der die extensionale Natur-Welt sich entgegenstellt. Hegel versucht, die
Bruchstellen in der Systematik, die durch diese Bedeutungsverschie-
bung entstehen, in den Schluss-Figuren der letzten Paragraphen der
En?Jklopädie zu verklammern. 145
Logik, Natur und Geist stehen in einem dreifachen Verhältnis von
Extremität und Vermittlung zueinander. Jedes dieser drei Verhältnisse
ist eine Manifestation des Absoluten oder die sich zeigende, offenba-
rende Wahrheit; nur alle drei zusammen aber, jedes die anderen deu-
tend, indem es sie verkehrt, sind jedoch die ganze Wahrheit, insofern
erst sie zusammen die Perspektivität des Wahrheit je des einzelnen
sichtbar werden lassen. 146
Der erste Schluss hat »das Logische zum Grunde als Ausgangspunkt
und die Natur zur Mitte (00')' die den Geist mit demselben zusam-
Das Ganze des Systems 159

menschliesst. Das Logische wird zur Natur und die Natur; zum Gei-
ste.«!4 7 Die ist, wie man sieht, die Abfolge in der Enifklopädie. Hier hat
die Natur die Stellung, dass Idee und Geist sich in ihr als ihrer materi-
ellen Bedingung treffen. Aber da die Natur in dieser Stellung bloss lo-
gischer »Durchgangspunkt und negatives l\Ioment«!48 ist, sich jedoch
als reale Grundlage erweist, hebt sich dieser Standpunkt des Idealis-
mus!49 auf und geht in den Materialismus über, der die reale Grundlage
als solche zum Ausgangspunkt nimmt.
Der zweite Schluss, den man den materialistischen nennen könnte,
setzt dann die Natur als Erstes voraus und schliesst sie mit dem Logi-
schen durch den Geist zusammen.!SO Das heisst, der Geist erkennt den
logos in der Natur, die Einheit der Welt wird in ihrer Vernunftstruktur
gefunden, die Extreme der reinen aposteriorischen Äusserlichkeit der
Natur und der apriorischen Idealität der Logik finden sich im Geiste
durch ihn vermittelt. »Die Wissenschaft erscheint als ein subjektives
Erkennen, dessen Zweck die Freiheit und es selbst der Weg ist, sich die-
selbe hervorzubringen.«!5! Die Materialität der Welt erweist sich als des
Geistes bedürftig, um sich als Grundlage behaupten zu können.
Sind nun der Idealismus der Logik und der Materialismus der Na-
turphilosophie als ineinanderübergehende (und damit unselbständige)
Aspekte eines und desselben Verhältnisses kenntlich geworden, so
wird der dritte Schluss eben diese Perspektivität der Begründungslinien
und ihre wechselseitige Angewiesenheit aufeinander aufzeigen. »Der
dritte Schluss ist die Idee der Philosophie, welche die sich wissende Ver-
nunft, das Absolut-Allgemeine, zu ihrer Mitte hat, die sich in Geist und
Natur entzweit, jenen zur Voraussetzung als den Prozess der subjektil1en
Tätigkeit der Idee und diese zum allgemeinen Extreme macht, als den
Prozess der an sich, objektiv, seienden Idee.«!52 Das ist der Weg, den das
System der Wissenschaft geht: Es hebt an mit der Tätigkeit des Geistes
(Phänomenologie), legt deren formale Strukturen frei (Logik) und ent-
wickelt in ihnen die reale Verfassung des Welt-Seins »als ihre (der sich
wissenden Vernunft) Manifestationen, (...) dass die Natur der Sache,
der Begriff, es ist, der sich fortbewegt und entwickelt, und diese Bewe-
gung ebensosehr Tätigkeit des Erkennens ist, die ewige an und für sich
seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und ge-
niesst.«!53
Logik - Natur - Geist; Natur - Geist - Logik; Geist - Logik -
Natur - das sind die drei Schluss-Figuren, mit denen die Enifklopädie
den Sinn ihrer Entwicklung des Systems der philosophischen Wissen-
schaften resumiert. Jeweils das Mittelglied des vorhergehenden ist der
160 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Ausgangspunkt des folgenden Schlusses - und der dritte liesse sich so


wieder in den ersten überführen. Aber Hegel bringt diese Spirale zum
Halten; denn er erkennt, dass der ontologische Status der Logik als Mit-
telglied ein anderer ist als der von Geist und Natur in den vorherge-
henden Schlüssen. Die Logik erweist sich nämlich als die Spiegelebene,
an der sich die Verfassung des Geistes als die der Natur spiegelt. Sie ist
mehr als nur ein Mittel der Überführung eines Aspekts des Absoluten
in den anderen. Das ist sie zwar, in einem nivellierten Verständnis,
auch; aber sie ist darüber hinaus das Medium, in dem die Logizität des
Seins offenbar wird. Diese Logizität, deren formale Struktur die Logik
darstellt, offenbart sich im Reflexionsverhälrnis, das der Geist ist. Der
Geist reflektiert sich selbst und die Natur. Erst in diesem Übergreifen
des Denkens (als sich selbst reflektierenden Reflektierens) über die sei-
enden Gegenstände, die die Welt sind, tritt die Logizität der Welt zu-
tage, wird sie offenbar, gewinnt sie also den Status der Wahrheit.
Darum muss in der spekulativen Konstruktion der Einheit der Welt der
Geist die Natur, das Denken das Sein, die Idealität die Materialität
übergreifen. Der dritte Schluss ist die Wiederherstellung des Idealis-
mus im Selbstunterschied.
Dies ist Hegels letztes Wort: Anders als in der (Spiegel)Gestalt des
Geistes ist die Welt nicht zu haben. Das ist die Erkennrnis der spekula-
tiven Philosophie, darum ist sie spekulativ. Anders aber als Aristoteles,
für den die höchste Weise des Sich-Verhaltens zur Welt die theoria war,
hat Hegel die tätige Seite des Lebens nicht aus dem Auge verloren. In
der Idee des Guten vermittelt er die theoretische Form des Erkennens
mit der praktischen als zweckvoller Tätigkeit. Und die praktische Idee
stellt er über die theoretische. 154 Hier wird der Impuls zur Weiterent-
wicklung der Dialektik einsetzen.
5. Kapitel:
Der Widerspiegelungscharakter
des Hegelschen Systems

Die Analyse des Hegelschen Systems führt uns auf die Figur des
Selbstunterschieds als logisch-ontologischer Struktur der Idee. Das
Seiende, dessen So-Sein an sich selbst dieses Verhältnis und nichts an-
deres ist und das also dieses Verhältnis rein darstellt, ist der Spiegel.! Die
Spiegelmetapher ist in diesem Sinne immer wieder in der Philosophie-
geschichte gebraucht worden. 2 Hegel selbst hat in einer mit Bedacht
gewählten falschen Etymologie das Spekulative auf den Spiegel bezo-
gen. Die Spiegelstruktur eines im Selbstunterschied sich herstellenden
Selbstverhältnisses ist eine logische - und in konsequenter Deutung des
Logischen auch eine ontologische - Formbestimmtheit. Das Widerspie-
gelungstheorem, von dem im folgenden die Rede ist, entwirft ein on-
tologisches Modell zur Interpretation des Sinns von Spekulation. Es
wäre ein Missverständnis anzunehmen, es sei ein erkenntnistheoreti-
sches Konzept (wie manche sogenannte »Widerspiegelungstheoreti-
ker« meinen); das ist es erst in einem sehr abgeleiteten Sinne, primär
und genuin drückt es eine ontologische Struktur oder Formbestimmt-
heit von Welt aus. Dieses ist auch der philosophische Grundgedanke,
der die Widerspiegelungstheorie in ihrer originären Fassung bei Lenin
bestimmt. Widerspiegelungstheoretisch fallen die Welt als ganze und
die absolute Idee nicht dualistisch in zwei Entitäten auseinander, son-
dern werden begriffen als ein und dasselbe in den unterschiedenen
Modi der Realität und der Idealität oder auch der Extensionalität und
Intensionalität. Die Genese der Idee aus der Entwicklung der Formbe-
stimmungen der Objektivität im Übergang vom zweiten zum dritten
Abschnitt der Begriffslogik legt die Konstruktion eines Spiegelverhält-
nisses von Begriff und Wirklichkeit nahe, das als Ganzes durch den
Terminus Idee ausgedrückt wird.
Da nun aber der ideelle Charakter dessen, was als das Absolute oder
das Ganze Inhalt der Idee oder schlechthin die Idee ist, nicht in Zwei-
fel gezogen werden kann, sondern vielmehr gerade die Garantie dafür
ist, dass dieser Inhalt überhaupt vergegenwärtigt werden kann und
162 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

nicht einfach erfahrungs transzendent bleibt, so muss entweder Hegels


strikter »Monismus der Idee«3 festgehalten werden, demzufolge die ab-
solute Idee der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie sei;
oder man muss die Idee selbst in einer Weise interpretieren, die ihre
methodisch begründete und exakte Rückübersetzung in die materielle
Welt menschlicher Lebenserfahrungen erlaubt. Mir scheint es nur ak-
zeptabel, Hegels »Monismus der Idee« (als philosophisches, das heisst
theoretisches System oder Konstrukt des Denkens) aufrechtzuerhal-
ten, wenn das Verhältnis dieses Systems zur Lebenspraxis und den in ihr
gemachten gegenständlichen Erfahrungen so bestimmt wird, dass die
Lebenspraxis nicht einfach in der Idee, zu der sich die Begriffe als zu
ihrer Wirklichkeit entwickeln, verschwindet. Auch meine ich, in Hegels
Werk selbst finden sich zahlreiche Hinweise und Indizien, dass dem Sy-
stem der Gedankentotalität etwas vom Gedanken Unterschiedenes
entspreche; ich halte es daher für legitim, nach dem Verhältnis dieser
Unterschiedenen zu fragen.
Wir haben bisher darzustellen versucht, wie Hegel aus der Genesis
des Begriffs die Einsicht gewinnt, dass die Struktur der Wirklichkeit
und die Form des Begriffs isomorph sind und dass folglich das er-
kenntnistheoretische Problem, die Übereinstimmung von Begriff und
Sache, von Erkenntnisinhalt und Wirklichkeit zu erweisen, in der Ge-
nealogie der Logik aufgehoben werden kann. Die Strukturisomorphie
von Wirklichkeit und Begriff meint nicht deren ontische, wohl aber
deren ontologische Identität - also eine Identität im Selbstunterschied.
Genau diese ist das Prinzip einer dialektischen Ontologie. Der Begriff
ist nicht die Sache selbst, aber nur als Begriff erscheint die Sache selbst;
sonst erschienen nur jene unvollständigen Momente ihrer, die gerade
nicht sie selbst sind. Anders gesagt: Extensional ist die Sache selbst nie
gegeben als sie selbst, aber nur extension al ist sie real, also Sache. Die-
sen Widerspruch im Sein selbst, den Widerspruch zwischen Totalität
und Partikularität, muss das Denken aushalten; das ist die Aufgabe der
Spekulation.
Klar wird der ontologische Charakter der Identität von Begriff und
Sache selbst bei der ersten (und letzten) Sache, welche ist - der Welt im
ganzen. Die Welt im ganzen - prinzipiell nur als unendlich zu denken
und darum extensional nicht darzustellen - ist identisch mit dem Be-
griff von ihr, eben weil es keinen nichtbegrifflichen Ausdruck für sie
gibt. Aber die Welt ist nicht Begriff, sondern realer Begriff, und einen sol-
chen Begriff, in dem die Wirklichkeit und der Begriff eins sind, nennt
Hegel Idee: »Die Idee ist das Wahre an undfür sich, die absolute Einheit des
Der Widerspiegelungscharakter des HegeIschen Systems 163

Begriffs und der Objektivität. Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Be-
griff in seinen Bestimmungen; ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstel-
lung, die er sich in der Form äusserlichen Daseins gibt und diese Gestalt
in seiner Idealität eingeschlossen, in seiner Macht, so sich in ihr erhält.«4
Begriff und Idee sind indessen nur als Resultat ihrer Bestimmungen
mithin als Prozess des Erkennens oder im Werden des Wissens das, was
sie sind; und da dieser Prozess nicht an einem Punkte zur Koinzidenz
aller seiner Momente gerinnt und folglich nicht als besonderes Resultat
zu fassen ist, ist das Wissen, das den Begriff und die Idee bildet, nur in
der Gesamtheit seines Werdens der Wirklichkeit isomorph.
Wenn also Hegels Feststellung richtig ist, das Verstandesdenken in
seiner Alltagsgestalt wie auch in seiner wissenschaftlichen Präzisierung
reiche nicht aus, um das einzelne Wirkliche in seinem wahren Sein,
nämlich als vermitteltes Moment des Ganzen, zu erfassen, so ergeben
sich daraus Konsequenzen, denen sich keine Philosophie entziehen
kann - auch eine materialistische nicht. Die erste dieser Konsequenzen
ist, dass die in prädikativen Sätzen formulierten bestimmten Tatsa-
chenfeststellungen, die den Inhalt einzelwissenschaftlichen Wissens
ausmachen, gerade nur als vorläufige und unzulängliche Bestimmun-
gen der Gegenstände genommen werden dürfen. Die Festigkeit und
Unauflösbarkeit der im prädikativen Urteil ausgesprochenen Identität
von Subjekt und Prädikat ist ein »logischer Schein«, der das wirkliche
Übergehen der Bestimmungen in ihr Anderssein nicht ausdrückt.
»Ohnehin ist die Form des Satzes oder bestimmter des Urteils unge-
schickt, das Konkrete - und das Wahre ist konkret - und Spekulative
auszudrücken; das Urteil ist durch seine Form einseitig und insofern
falsch.«5 Die philosophische Denkbewegung, die die Vermittlung des
einen mit dem anderen, den Gegensatz und Zusammenhang, die Ein-
heit der Widersprüche mitvollziehen muss, um die Sache in ihrer wah-
ren Gestalt darzustellen, muss - da auch sie von Prädikationen ausgeht
- in der Satzform die Auflösung des Satzes betreiben. Das war Hegels
Programm schon in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: »Der phi-
losophische Satz, weil er Satz ist, erweckt die Meinung des gewöhnli-
chen Verhältnisses des Subjekts und Prädikats und des gewohnten Ver-
haltens des Wissens. Dies Verhalten und die Meinung desselben
zerstört sein philosophischer Inhalt; die Meinung erfährt, dass es an-
ders gemeint ist, als sie meinte, und diese Korrektion seiner Meinung
nötigt das Wissen, auf den Satz zurückzukommen und ihn nun anders
zu fassen.«6 Aber das ist immer nur wieder möglich, indem die Nega-
tion einer .bestimmten Aussage wieder in die Form einer bestimmten
164 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Aussage gefasst wird: »Formell kann das so ausgedrückt werden, dass


die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des
Subjekts und des Prädikats in sich schliesst, durch den spekulativen
Satz zerstört wird und der identische Satz, zu dem der erste wird, den
Gegenstoss zu jenem Verhältnisse enthält.«7 Erst in dieser doppelten
Bewegung des Denkens - Affirmation und Negation - wird das
»Zurückgehen des Begriffs in sich«8 dargestellt.
Die formale Logik, die auf dem Standpunkt der Endlichkeit des
Urteils verharrt, kann darum immer nur eine besondere Seite der sie
übergreifenden dialektischen oder spekulativen Logik zum Ausdruck
bringen. Und es ändert nichts an der Beschränktheit dieses Ausdrucks,
dass dieser in und wegen seiner Beschränktheit unerlässlich für unser
Denken und die Abbildung der Wirklichkeit im Denken ist. Um jedoch
das Endliche als konkret, als Ergebnis eines unendlichen Bestim-
mungsprozesses und als Ausgangspunkt für einen unendlichen Pro-
zess von Fortbestimmungen zu begreifen, muss vom Aussagesatz der
formalen Logik zum spekulativen Satz, das heisst zur spekulativen Me-
thode, übergegangen werden.
Schon Leibniz ging davon aus, dass die Bestimmung des Einzelnen
und Besonderen, wie sie in prädikativen Aussagen vollzogen wird,
prinzipiell nicht abgeschlossen werden kann, weil jede besondere Be-
stimmung eines So-seins wieder auf eine ihr vorausliegende Bestim-
mung oder Bedingung verweist - und so fort in einer unendlichen
Reihe von Determinanten. Wird dieses »Fortbestimmen« als Wesen des
spekulativen Satzes verstanden, so ist dieser nichts anderes als die
»äusserungstheoretische«9 Reproduktion der spekulativen Methode.
Das Konzept des spekulativen Satzes zielt darauf, die Rekonstruktion
(oder Widerspiegelung) der Unendlichkeit des wahrhaft Wirklichen im
Medium der Aussage zu vollziehen. Der Inhalt der Logik kann darum
nur den Inhalten der »vormaligen Metaphysik« entsprechen. Diese
werden nun aber nicht als Gegenstände der Vorstellung (als welche die
vormalige Metaphysik sie aufnahm 10) behandelt, die in Prädikaten dar-
gestellt werden könnten, sondern sind eben nur auf dialektische Weise,
durch Fortbestimmung des Begriffs im Schritt von Position zu Nega-
tion, Negation der Negation usw. zu gewinnen, in welchem Fortschrei-
ten jede Beschränkung durch eine einzelne Bestimmung durch eine
neue, selbst wiederum einzelne Bestimmung aufgehoben wird, jede
Negation also ihrerseits eine Position ist. Das Resultat dieses spekula-
tiven Verfahrens ist der spekulative Begriff; ihm entspricht die Kon-
zeption der notio completa bei Leibniz.
Der Widerspiegelungscharakter des Hegelschen Systems 165

Leibniz hat den idealen Charakter der notio completa, des vollstän-
digen Begriffs eines Sache, für einen endlichen Verstand als Auffor-
derung verstanden, die den Gesetzen der einzelwissenschaftlichen
Erkenntnis (auch der vorwissenschaftlichen) und also der formalen
Logik unterliegende Erfahrung von Tatsachenwahrheiten (viritis deJai!)
durch ein spekulatives metaphysischen System zu fundieren und zu in-
tegrieren, das auch einer übergreifenden dialektischen Logik bedarf,
um auf strenge Weise formuliert werden zu können. Die Grundfigur
dieses Modells des Gesamtzusammenhangs ist bei ihm die universelle
Repräsentation: Jede Substanz ist ein Spiegel der ganzen Welt, aber auf
je singuläre Weise, die durch den einmaligen Ort im Ganzen definiert
ist.
Dieser Leibniz-Gedanke liegt auch dem Hegelsehen System zu-
grunde. Es ist Hegels im Gang der Phänomenologie ausgeführte Einsicht,
dass keine Einzelerkenntnis, kein bestimmter Begriff aus sich selbst
begriffen werden und begründet werden kann, dass vielmehr der Be-
griff des Begriffs in einem unendlichen Prozess von Vermittlungen ge-
bildet wird. Diese Methode der Konstruktion des spekulativen Begriffs
durch die Entwicklung der Bestimmungen als explicatio des im Ganzen
liegenden Sinns, durch den erst die Bedeutung des Einzelnen konstitu-
iert wird, verweist aber auf die Kette der realen Bedingungen, an der
die Realität des Einzelnen hängt und durch die es mit allem anderen
verknüpft ist. Bei Leibniz ist das Prinzip, aus dem die notio completa einer
Sache in der Erkenntnis zu gewinnen ist, das principium rationis sufficien-
tis; und der Grund hat bei Leibniz sowohl einen logischen (auch hier
schon: spekulativ-logischen) wie einen ontologischen Charakter: Er ist
Erkenntnisgrund und Seinsgrund. Die notio completa eines Seienden und
die reale Inhaltsfülle der Substanz sind kongruent.
Die von Leibniz in der Idee der Monade gesetzte Identität wird bei
Hegel entwickelt; der Begriff, der sich selbst zur subjektiven Realität
hat, und die objektive Welt als die Schranke des Subjektiven sind die
beiden Entgegengesetzten, und sie sind »darin identisch, dass sie Idee
sind«. Aber: »Diese Einheit wird nun durch das Erkennen gesetzt.«!!
Erkennen ist der Prozess der Bestimmung des Gegenstands, bis er mit
der nur von mir zu denkenden Idee des Ganzen, des Absoluten ver-
schmilzt. Der formale Gehalt der Dialektik, nämlich das Übergehen
einer endlichen Bestimmtheit des Begriffs von einer Sache in eine an-
dere, ihr entgegengesetzte Bestimmtheit (und das heisst auch: in eine
andere Sache), ist gerade nicht formaliter, sondern nur durch den Fort-
gang inhaltlicher Erfüllungen, durch sachhaltige Explikation des Be-
166 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

griffs darzustellen. Hans Friedrich Fulda betont zu Recht, das Dialek-


tische trete »zunächst nicht als Negativität Entgegengesetzter zutage,
sondern als Verdrängung einer ersten und Hervorgehen einer zweiten
Bestimmung, die den Charakter der Besonderung des anfänglich All-
gemeinen, der Relativierung des Absoluten, des Negativen eines posi-
tiven Ersten und der Verendlichung des Unendlichen hat. Erst innerhalb
dieses Zweiten kommt es dann nochmals zu einer Differenzierung, die
Entgegengesetzte als solche und in ihrer wechselseitigen Negativität zu
thematisieren verlangt; und erst im Verlauf des Prozesses solcher Ne-
gativität kommt es zu einem Widerspruch und dessen Auflösung.«12
Diese Bewegung wird durch die Andersheit der aufeinanderfolgenden
Bestimmungen ausgedrückt, ihre Gesetzlichkeit besteht darin, dass es
nicht ein beliebiges, unbestimmtes Anderes, sondern die jeweils be-
stimmte Negation ist, die folgt. Aus der noch unentfalteten Idee des
Ganzen gehen so die unendlich vielen Besonderungen in geregeltem
Ablauf hervor, bis schliesslich als Integral dieses Weges das Ganze in
seiner Mannigfaltigkeit (nun explizit) wiederhergestellt ist.
Diese Bewegung des Begriffs und am Begriff ist nur dann erklär-
lich, wenn der Begriff seine Inhalte gerade nicht selbst aus sich erzeugt.
Der bestimmte Begriff - ohne die äussere Wirklichkeit, auf die er sich
bezieht - wäre ja genau so bestimmt, wie er im prädizierenden Urteil
gedacht wird. Im Urteil selbst ist keine Instanz vorhanden, die zu ent-
scheiden erlaubt, ob die ausgesagten Prädikate unvollständig sind oder
in andere übergehen; und es ist auch kein Indiz darin enthalten, das uns
eine solche Annahme nahelegen würde. Das ist an Nominaldefinitio-
nen, die ihren Gegenstand vollständig bestimmen (als einen vom be-
stimmenden Denken selbst festgelegten), leicht zu zeigen. Nur wenn
der Begriff etwas meint, das durch die endliche Definition des Begriffs
nicht erschöpfend ausgesagt ist, wird in der Beziehung des Begriffs auf
das Gemeinte (die Sache) die Erweiterung der endlichen Verstandes-
definition nötig und der Prozess des Fortbestimmens in Gang gesetzt.
Wäre eine 0>idealistische«) Priorität des Begriffs gegenüber der Wirk-
lichkeit gegeben, so wäre die Objektivität des Begriffs schon ein Merk-
mal der Urteils form und brauchte nicht erst in einem zweiten Schritt
der HegeIschen »Logik des Begriffs« gesichert zu werden; dann wäre
aber auch nicht einzusehen, warum der Begriff nicht schon von An-
fang an, in seiner Spontaneität, der wahre Begriff sein sollte. Nur die -
mit Husserl gesprochen - »Intentionalität« des Begriffs, die in seiner
Verstandes form nur unvollkommen erfüllt wird, zwingt zur Ausarbei-
tung einer Methode, durch die die Wahrheit des zeitlichen Ganzen im
Der Widerspiegelungscharakter des HegeIschen Systems 167

Werden des Wissens, nicht auf dem jeweiligen Wissensstand, eingeholt


werden kann. Erst dann gewinnt der Begriff Objektivität. Er ist als Be-
griff das eine Extrem; »das andere Extrem ist die Schranke des Sub-
jektiven, die objektive Welt.«!3 Beide Extreme sind vermittelt einmal im
Erkennen als der Beziehung, in der das äusserliche Objektive in die
Subjektivität reflektiert ist; und zum zweiten in der Praxis als der Be-
ziehung, in der die Subjektivität ins äusserliche Objektive reflektiert ist.
(Marx nennt das dann die »gegenständliche Tätigkeit«).
Der Isomorphie von Wirklichkeitsstruktur und Begriffsform ent-
spricht also die Äquavalem: von Wirklichkeit und Wissen, jeweils im
ganzen. Die Seinsweise, die durch diese Übereinstimmung definiert ist,
nennt Hegel Geist. Geist ist das Einsseins von Wirklichkeit und Idee -
oder Verwirklichung der Idee (als subjektiver, objektiver und absoluter
Geist) -; aber Einssein meint nicht Zusammenfallen in ein Ununter-
schiedenes, sondern Eins im Unterschied, also im Selbstunterschied.
Dies drückt sich darin aus, dass der Geist einmal das der Natur ent-
gegengestellte Element ist, in dem das Wirkliche ist - nämlich die ein-
fache Unmittelbarkeit des Allgemeinen, das sich nicht in die Vielheit
der Besonderungen entäussert hat: Die »reine Geistigkeit als das All-
gemeine, das die Weise der einfachen Unmittelbarkeit hat«, steht der
Natur gegenüber, deren »erste und unmittelbare Bestimmung (...) die
abstrakte Allgemeinheit ihres Aussersichseins, dessen vermittlungslose
Gleichgültigkeit« ist.!4 Dem entspricht, dass es im Aufbau des HegeI-
schen Systems eine Philosophie des Geistes und eine Philosophie der
Natur nebeneinander gibt. Dann aber wieder ist der Geist das Abso-
lute!5 und übergreift Natur und Geist: »Der absolute Geist (...) ist dem
Inhalte nach der an und für sich seiende Geist der Natur und des Gei-
stes.«!6 In dieser doppelten Weise ist er das übergreifende Allgemeine,
und er ist dies, indem er auch noch die Struktur der Natur, nämlich
deren universellen Vermittlungszusammenhang (Gesamtzusammen-
hang) darstellt und ist. Der Geistbegriff ist eine Chiffer für eine kom-
plexe Beziehung, die es erst noch zu dechiffrieren gilt.
Was der Geist sei, erfahren wir nur vermittels der Gestalten des Be-
wusstseins, weshalb die Phänomenologie des Geistes eine Rekonstruktion
der Gestalten des Bewusstseins ist, aber so, dass diese sich aus der Un-
mittelbarkeit der Erfahrung in die Vermitteltheit des Begriffs erheben.
Denn »in dem Begriffe, der sich als Begriff weiss, treten hiemit die Mo-
mente früher auf als das er/üllte Ganze, dessen Werden die Bewegung
jener Momente ist. In dem Bewusstsein dagegen ist das Ganze, aber un-
begriffen, früher als die Momente.«!7 Beide Gegebenheitsweisen lassen
168 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

sich nicht voneinander ablösen. Denn das Begreifen kann den Gegen-
stand der Erfahrung nur in seine Momente auseinanderlegen, weil die-
ser zuvor in der Erfahrung als ganzer auftrat; das apophantische Urteil
leitet sein Recht und seine Wahrheit aus dem Grundsatz ab: praedica-
tum inest subiecto. »Es muss aus diesem Grunde gesagt werden, dass
nichts gewusst wird, was nicht in der Erfahrung ist (...) Denn die Erfah-
rung ist eben dies, dass der Inhalt - und er ist Geist - an sich, Substanz,
also Gegenstand des Bewusstseins ist. Diese Substanz aber, die der Geist ist,
ist das Werden seiner zu dem, was er an sich ist; und erst als dies sich in
sich reflektierende Werden ist er an sich in Wahrheit der Geist.«18 Geist
ist weder der Gegenstand noch das Bewusstsein, sondern die Bezie-
hung beider, in welcher die Vermitteltheit der Sache selbst und ihre
Zeitlichkeit an ihr selbst als Einheit gefasst wird. Das heisst: Geist ist
»die Verwandlung (...) des Gegenstands des Bewusstseins in Gegenstand
des Selbstbewusstseins (...) oder in den Begriff.«19 Ist der Gegenstand des
Bewusstseins in der Äusserlichkeit der vielen Verschiedenen (diversa)
gegeben und das Verstandesurteil das logische Abbild des Naturseins,
so wird in der Bewegung des Bewusstseins, in der es zum Selbstbe-
wusstsein wird (und die die Bewegung ist, die als Ganze der Geist ist),
diese Vielheit wieder in die Einheit des Begriffs zurückgenommen - in
eine Innerlichkeit, die das Verschiedene in einer Repräsentation zu-
sammenfasst. »Ent-äusserung« und »Er-innerung« sind die Hegelschen
Termini für diesen gegenläufigen Prozess, der erst als Ganzes absolu-
ter Geist ist. Extensionalität und Intensionalität sind die korrespondie-
renden Termini (oder Aspekte) in der Theorie der Logik. Durch diese
Verwandlung des Äusseren ins Innere beziehungsweise in ihr konstitu-
iert sich die Identität von Wirklichkeitsstruktur und Begriffsform, von
Wirklichkeit und Wissen. Als Wissen ist der Geist wieder Bewusstsein
von sich, der vermittelte Begriff schlägt um und zurück in die Unmit-
telbarkeit. »Die Wissenschaft enthält in ihr selbst diese Notwendigkeit,
der Form des reinen Begriffs sich zu entäussern, und den Übergang des
Begriffs ins Bewusstsein. Denn der sich selbst wissende Geist, ebendarum
dass er seinen Begriff erfasst, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich
selbst, welche in ihrem Unterschiede die Gewissheit von Unmittelbaren ist,
oder das sinnliche Bewusstsein.«2o Diese Bewegung vom Gegenstand hin
zum Begriff und zurück zum Gegenstand ist die Reflexion, die »voll-
endete gegenständliche Darstellung«, in welcher die Substanz an sich in
ihren Bestimmtheiten als Begriff sich zeigt, und also »das Werden der-
selben zum Selbst«, nämlich zu dem, was sie als erkannte für sich ist:
Aktive Substanz im Prozess ihres Wirkens in der Welt, also Wirklich-
Der Widerspiegelungscharakter des HegeIschen Systems 169

keit, also Subjekt. 21 Das reflexive Sich-Darstellen ist Widerspiegelung


seiner selbst, und diese Beziehung ist Geist (oder nous, wie Hegel mit
Anaxagoras sagt).
Geist ist also nicht einfach im Sinne einer Zweisubstanzenlehre ein
spirituelles Gegenstück zur Materie und dieser entgegengesetzt; er ist
auch nicht einfach vergegenständlichtes, zum System geronnenes Be-
wusstsein-Selbstbewusstsein; Bewusstsein und Selbstbewusstsein sind
nur Momente des Geistes, insoweit er nämlich »in der Form der Bezie-
hung auf sich selbst ist (...) - subjektiver Geist«22; ebenso ist er auch ob-
jektiver Geist nämlich »in der Form der Realität als einer von ihm her-
vorzubringenden und hervorgebrachten Welt«23, nur das Moment, in
dem die miteinander vermittelten subjektiven Geister die allgemeinen
Zwecke zum institutionellen System ihrer Kollektivität (Gemeinsam-
keit) machen: Recht, Moral, Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat
und deren Manifestationen und Apparate (Erziehungswesen, Sozial-
einrichtungen, Polizei etc.). Subjektiver wie objektiver Geist sind in-
dessen nur »uneigentlich« Geist, nämlich die endliche Reflexion, sub-
jektiv im Erkennen 24, objektiv in der Teleologie. 25 Erst der absolute
Geist ist die Einheit aller Momente des Unendlichen - und er ist in die-
ser jede Verstandestätigkeit übersteigenden Form der Vernünftigkeit
der Inhalt des spekulativen Begriffs, und nur in der Gegebenheitsweise
des spekulativen Begriffs ist er wirklich. »Der Begriff des Geistes hat
seine Realitätim Geist.«26 Die Identität von Realität und Begriff ist aber
die Idee. Absoluter Geist ist der Terminus für die Totalität des Prozes-
ses der Vermittlungen von jedem mit allem, der in der absoluten Idee
ausgedrückt wird. Geist ist der Strukturbegriff, der den Modus der
Einheit von Welt benennt (und Hegel sagt Geist, weil die Welt ein uni-
verselles Reflexionssystem ist und traditionell Reflexion als geistige Ak-
tivität galt). Die Idee ist das Spiegelbild dieser Prozess-Struktur, dieses
Subjekt- Objekts, dieser Subjekt- Substanz - die Form des Erkennens,
in dem die Zweiheit von Begriff und Gegenstand zurückgenommen ist
ins reine Abbilden (oder »Spiegeln«) der Sache selbst, weshalb Hegel
sagen kann, die Idee sei Anschauen. 27 Den Widerspiegelungscharakter
der Idee gegenüber der Realität hat Hegel im prädikativen »als« kennt-
lich gemacht, das in den beiden entscheidenden Paragraphen 553 und
554 der Enifklopädie zweimal auftaucht. Er sagt, »dass diese (seil. Rea-
lität im Geiste) in der Identität mit jenem (seil. dem Begriff des Gei-
stes) als das Wissen der absoluten Idee sei.«28 Die Realität des Geistes
spiegelt sich im Wissen dergestalt, dass ich die notwendige Einheit von
Realität und Begriff des Geistes denke (das heisst diese Einheit mit
170 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Notwendigkeit denken muss) und so erfahre, dass die Idee als Abbild
des Geistes nicht irgendein Bild, sondern das Spiegelbild der Sache
selbst ist. (Selbstverständlich immer im Status des Selbstunterschieds).
Darum ist sie das Wissen, für welches die Substanz als solche ist. »Als
solche« heisst als geistige,und das bedeutet als eine und allgemeine und
als zurückkehrende und zurückgekehrte Identität, die beiden letztgenannten
Bedeutungen sind nichts anderes als Bestimmungen dessen, was abso-
lut geistig ist. »Der absolute Geist ist ebenso ewig in sich seiende als in
sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität, die eine und allge-
meine Substanz als geistige, das Urteil in sich und in ein Wissen, für welches
sie als solche ist.«29 Die Substanz, die die Voraussetzung und der Ge-
genstand des philosophischen Wissens = Systems ist, erscheint im
Spiegel des Wissens als geistige. Der Prozess, in dem sie, die zunächst
unmittelbar als reines Sein bestimmt und dann in ihre mannigfaltigen
Momente ausgelegt wurde, erscheint, ist die spekulative Bewegung des
Denkens, sein Spiegel-Sein = Reflexion.
Den Widerspiegelungscharakter des HegeIschen Systems machen
die Paragraphen 381-384 der EniJ'klopädie besonders deutlich, in
denen der »Begriff des Geistes« erörtert wird. Es geht hier um die Ex-
position der Philosophie des Geistes, nachdem die Philosophie der
Natur abgehandelt ist; es geht also um den Übergang der Natur zu
einem Anderen. Dieses Andere ist der Geist, der hier also zunächst
noch nicht als absoluter Geist, aber doch schon im Blick auf das Ab-
solute vorgestellt wird. Der Geist ist nur, sofern es die Natur gibt, sie
muss gedacht werden, damit der Geist gedacht werden kann; denn im
Geiste stellen sich die Inhalte der wirklichen Welt, der natürlichen Welt
dar, auf sie ist alles Geistige bezogen. »Der Geist hat fir uns die Natur
zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit und damit deren absolut Erstes er
ist.«30 Daran, dass die Natur dem Geiste vorhergeht und der Geist sie,
die es als die Sache selbst gibt, reflektiert, kann kein Zweifel sein. Doch
vollzieht sich in der Reflexion eine Umkehrung, die wir begreifen müs-
sen, wenn die Behauptung, der Geist, der die Natur voraussetzt, sei
»deren absolut Erstes«, nicht unsinnig erscheinen soll. Die Naturge-
genstände, die als Bewusstseinsinhalte Momente des Geistes sind, der
dadurch ist und sich erhält, dass er sie »in seiner Macht« (= potentia)
hat (wie wir oben von der Idee hörten31 ), sind immer nur als bedingte
gegeben, und so bedingen sie auch den Geist, in dem sie aufgehoben
sind.
Dass den bestimmten Einzelnen, den »endlichen Dingen« etwas
vorhergeht und als Seinsgrund vorhergehen muss, weil nur in Bezug
Der 'W'iderspiegelungscharakter des HegeIschen Systems 171

auf ein Umfassendes eine de-finitio, eine Bestimmung und Ausgren-


zung möglich ist, hat keineswegs die Bedeutung der Nichtigkeit des
Endlichen und Einzelnen, Deren Negativität ist vielmehr die Negati-
vität eines Positiven, das sich auf anderes bezieht, das selbst wieder
eine Position ist, Die Positivität des Ganzen ist als Korrelat der Nega-
tivität (= Begrenztheit, Beschränktheit) des Einzelnen gefordert, als lo-
gisches Apriori (das begrifflicher Ausdruck des materialen Apriori der
Grenze ist), wenn es auch nie Inhalt der Erfahrung sein kann und
darum empirisch keine Positivität besitzt. Aber die logisch-metaphysi-
sche Positivität des unendlichen Ganzen oder Absoluten ist garantiert
und allerdings auch nur garantiert, wenn die empirische Positivität des
Einzelnen und Endlichen kein blosser Schein ist. »Allerdings muss den
endlichen Dingen als solchen dadurch ihr Recht angetan werden, dass
man sie als ein Nicht-Letztes und als über sich hinausweisend betrach-
tet. Diese Negativität der endlichen Dinge ist indes ihre eigene Dialek-
tik, und um diese zu erkennen, hat man sich zunächst auf ihren positi-
ven Inhalt einzulassen.«32 Die spekulative Positivität des Ganzen ist an
die Dialektik (position - Negation - Negation der Negation) des End-
lichen gebunden und erscheint nur in der Tätigkeit des Begreifens.
Jenes unbedingte absolute Erste aber, das allen Bedingtheiten vor-
hergeht, die Substanz (Spinozas), die monas monadum (Leibniz'), die
Welt oder Natur im ganzen, ist eben nicht gegeben, sondern nur gedacht,
in der Form des Begriffs als das Integral aller Gegebenheiten in Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als solches erscheint es nur, in-
sofern es »im Geiste« konstruiert wird, es ist das Produkt der Bewusst-
seinsinhalte als Einheit im Geiste; hier knüpft sich eine Verbindung zu
Kants transzendentaler Einheit der Apperzeption. Nun ist die Wahr-
heit eines Gegenstandes gerade die Offenbarkeit der Gesamtheit seiner
Bedingungen, die Wahrheit eines Naturgegenstandes also offenbart
sich durch die Einsicht in den Gesamtzusammenhang der Natur. In
äusserer Realität ist dieses Offenbaren das »Werden der Natur«, als Er-
kenntnis oder als Geistestätigkeit (also Darstellung des Gesamtzusam-
menhangs, der erst durch die Konstruktion der Idee gegeben wird), ist sie
»Setzen der Natur« als Welt des Geistes. »Das Offenbaren, welches als das
Offenbaren der abstrakten Idee unmittelbarer Übergang, Werden der
Natur ist, ist als Offenbaren des Geistes, der frei ist, Setzen der Natur als
seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt
als selbständiger Natur ist.«33 Der Genitiv ist mehrdeutig: Die Welt ist
der Stoff des Geistes, sie ist der Inhalt des Geistes, sie ist das Produkt
des Geistes - und alle drei Aspekte konvergieren. Wenn wir diese Kon-
172 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

vergenz in einem Modell ausdrücken wollen, so drängt sich das Bild


des Spiegels auf. Der Spiegel ist nur, was er ist, indem er die stoffli-
che äussere Welt spiegelt, er enthält diese Welt in sich als Spiegelbild,
und er erzeugt sie als seine Welt, indem er sie reflektiert. Wenn wir die
Tätigkeit des Geistes als Spiegelung fassen, können wir Hegel verste-
hen, der sagt, sie sei »ein Setzen, das als Reflexion zugleich Vorausset-
zen der Welt als selbständiger Natur ist«. Absolut ist dieses voraus-
setzende Setzen, weil die Idee als Totalität nicht in schlechter
Unendlichkeit bedingt sein kann durch die unabschliessbare Kette der
innerweltlichen Gründe, die immer nur eine Pluralität, nie aber eine
Totalität ergäbe, sondern spekulativ erzeugt ist gemäss dem Bilde der
Monade, wie Leibniz sie als »einen wahren Spiegel der ganzen Welt«
bezeichnet hat. Insofern ist in der Wahrheit des Geistes »die Natur
verschwunden« - sie ist aus ihrer Äusserlichkeit in den Geist als Spie-
gelbild hineingenommen, »er-innert« worden; und da die Idee die
Konstruktion der Einheit der Natur (Welt) ist, hat sich in dieser Spie-
gelung der Geist »als die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee ergeben,
deren Oljekt ebensowohl als das Suljekt der Begriff ist. Diese Identität
ist absolute Negativität, weil in der Natur der Begriff seine vollkommene
äusserliche Objektivität hat«34; der Geist ist so die Negation des posi-
tiven materiellen Seins der Natur, die er nur als virtuelles Bild, in po-
tentia, zeigt.
Tatsächlich liegt hier sogar ein doppeltes Spiegelungsverhältnis vor:
Die Idee ist die logische Darstellungsform der Einheit der Natur (Sub-
stanz, Welt) und als solche ein Spiegel der realen (aber erfahrungs-
transzendenten) Welt-im-ganzen. Der absolute Geist aber ist nicht ein-
fach die Wirklichkeit der absoluten Idee, sondern das Wissen der
absoluten Idee 35 , und das heisst die Spiegelung der Idee, der Spiegel
des Spiegels, die Reflexion der Reflexion. Als Wissen der Idee kann der
Geist die Konstruktion der Idee rekonstruieren (die Geistphilosophie
kehrt also an den Ausgangspunkt der Logik zurück) und damit das Wi-
derspiegelungsverhältnis selbst ausdrücken (spiegeln); sonst hätten wir
gar keinen Begriff von dem, was ideelles Sein und Widerspiegelung ist.
Indem im Geiste jedoch nicht nur die Welt sich spiegelt (wie in der
Idee), sondern sogar noch dieses Spiegelungsverhältnis selbst, lässt die
Isomorphie von Begriffsform und Wirklichkeitsform sich darstellen;
diese Darstellung hat die Formel, dass die Natur wie der Geist die glei-
che Verfassung haben, nämlich diejenige, die wir als vernünftige oder
logische Ordnung beschreiben können; Geist und Natur stimmen
darin überein, dass der logos ihr Prinzip ist - und damit ist nicht irgend-
Der Widerspiegelungscharakter des HegeIschen Systems 173

eine Beschaffenheit des menschlichen Denkens oder der Subjektivität


gemeint, sondern die gesetzliche, geordnete Struktur der Welt, die das
Denken spiegelt.
Wenn der Geist die Widerspiegelung der die Welt widerspiegelnden
Idee ist - also Spiegelung der Spiegelung oder Erkentnnis des Wider-
spiegelungsverhältnisses, als welches der Begriff in eminentem Sinne
der in die Idee übergegangene Begriff ist - so fragt sich nun, wie diese
doppelte Widerspiegelung ontologisch zu verstehen ist. Denn der für
sich seiende Geist, in dem sich der Begriff der Sache spiegelt und der
im Begriff von sich sich selbst spiegelt und im Begreifen des Begriffs
sich als gespiegelter erkennt - dieser Geist, dem bewusst wird, dass sein
Inhalt die Sache selbst in der Spiegelform des Begriffs ist, bleibt doch
derselbe, wenn auch seiner selbst bewusst gewordene Geist, der als an
sich seiender in der Natur seine äussere Wirklichkeit besitzt. Es ist der
an sich seiende Geist, der als für sich seiender Geist den Begriff seiner
selbst zum Gegenstand hat und sich so selbst erkennt: Selbsterkennt-
nis ist letztlich die Figur des HegeIschen Systems.36
Der am Anfang des 3. Teils der EniJ'klopädie stehende § 377 hat dies
ausgesprochen, mit der deutlichen Warnung, Selbsterkenntnis nicht als
ein psychologisches Verhalten, sondern als ein ontologisches Verhält-
nis von universellem Charakter zu verstehen. Selbsterkenntnis hat eben
die Struktur der Reflexion und ist damit der Titel für die universelle
Verfasstheit der Seienden in ihrer Weltlichkeit. Wenn Selbsterkenntnis
in diesem Sinne als das in der bestimmenden Reflexion beschriebene
allgemeinste Verhältnis jedes Seienden zu sich, vermittelt durch die an-
deren Seienden, ist, so muss zwischen der Struktur der Selbsterkennt-
nis und der Selbsterkenntnis als Bewusstseinsform wohl unterschieden
werden, wenn man nicht einer mystischen All-Beseelung das Wort
reden will. Leibniz' Distinktion zwischen universeller perceptio und spe-
zieller apperceptio gilt auch für HegeI; sonst könnte er nicht schon die un-
terste Stufe der Natur, ihr Auseinandergelegtsein in stoffliche Einzelne,
als »Fürsichsein« bezeichnen: »Die Materie ist die Form, in welcher das
Aussersichsein der Natur zu ihrem ersten Insichsein kommt, dem ab-
strakten Fürsichsein, das ausschliessend und damit eine Vielheit ist,
welche ihre Einheit, als das fürsichseiende Viele in ein allgemeines Für-
sichsein zusammenfassend, in sich zugleich und noch ausser sich
hat.«37 Auf höherer Stufe des Zusichselbstkommens ist die Natur-
sache dann eine organische, strukturierte Einheit: »Das Organische ist
die Naturtotalität, eine fürsichseiende Individualität, die sich in sich zu
ihren Unterschieden entwickelt.«38 Hier wird ein durchgängiges
174 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Kontinuum von Selbstverhältnissen mit zunehmender Komplexität


gedacht, und gerade deshalb kann »Geist« als Strukturbegriff für eine
reflexiv konstruierte Welt = Einheit der Mannigfaltigkeit gebraucht
werden, ohne dabei Geist als »denkende Substanz« (res cogitans) zu ver-
stehen. Hegel sagt mit aller Deutlichkeit: »Die Naturdinge denken
nicht und sind keine Vorstellungen oder Gedanken.«39 Das Für-
sichsein der Naturdinge ist mithin nicht dasselbe wie Selbstbewusst-
sein oder auch nur Bewusstsein, - aber es hat die gleiche Reflexions-
struktur wie Selbstbewusstsein: Jedes Ding ist nur, indem es sich
durch andere auf sich selbst bezieht und sich so »setzt«. Zugleich be-
deutet dies aber auch, dass kein Ding schon explizit das ist, was es sei-
nem Vermögen (potentia) nach sein kann; denn es setzt sich immer
aufs neue in der Iteration der Reflexionen und wird so als es selbst ein
anderes; das gilt sogar schon für den Stein, der einen Hang hinab-
rollt, oder für eine Welle, die sich an der Klippe bricht. Dies hat Hegel
an Heraklit als seinen eigenen Gedanken wiedererkannt: »Hier sehen
wir Land. Es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik
aufgenommen.«4o Das sich selbst mehrende Wesen des logos, von dem
Heraklit in Fragment B 115 spricht, ist es, worin Hegel das
Geist-Wesen der wirklichen Totalität, der totalen Wirklichkeit findet,
die nie nur das ist, was sie ist, sondern immer ein Mehr an Möglich-
keit oder Tendenz enthält. 41
Die Form, in der das substantielle Selbstverhältnis (also die univer-
selle Konfiguration vom Typ »Selbsterkenntnis«) sich manifestiert, ist
der Begriff. »Der Begriff nun ist diese absolute Einheit des Seins und
der Reflexion, dass das Anundfürsichsein erst dadurch ist, dass es ebenso-
sehr Reflexion oder Gesetzfsein ist und dass das Gesetzfsein das Anundfor-
sichsein ist.«42 Der Begriff ist zunächst als bestimmter Begriff nicht der
»absolute Begriff« oder Begriff des Begriffs, sondern der Begriff eines
bestimmten Seienden, eines Gegenstandes in seiner Besonderheit, die
die »Negativität überhaupt«43 ist, durch die er sich im Unterschied zu
anderem denkt44 und mithin darstellt. Die Selbsterkenntnis des Geistes
ist als Selbsterkenntnis im Spiegelbild (= Begriff) eines anderen, näm-
lich des Gegenstandes, das, was sie ist. Es gibt keine direkte Selbster-
kenntnis, nur eine solche in der Reflexion, die durch das andere ver-
mittelt ist. Das Spiegelbild des Gegenstandes (sein Begriff) zeigt den
Gegenstand nun aber nicht rein als solchen, sondern vermittelt mit der
Welt, durch welche Vermittlungen er als dieser Gegenstand bestimmt ist
- und in dieser Vermitteltheit ist der Gegenstand nicht extensionales
So-sein, sondern intensionale Fülle des Seins, »absolute Bestimmtheit
Der Widerspiegelungscharakter des HegeIschen Systems 175

oder Einzelnes«45 - und das ist in einem vor-hegelschen Sprachge-


brauch die Monade.
Vom Gegenstand heisst es dann in der Phänomenologie des Geistes, die
Totalität seiner Bestimmungen mache ihn an sich zum geistigen
Wesen 46 , und eben indem sich das Bewusstsein »zu dem Gegenstande
nach der Totalität seiner Bestimmungen verhalten« muss 47 , stellt sich
ihm das geistige Wesen des Gegenstandes an sich als Begriff dar, und nur
indem es sich so darstellt, ist es als der Gegenstand in der Totalität sei-
ner Bestimmungen - wirklich. Nur wenn wir diesen Unterschied von
Geist und Begriff als einen zwischen dem Gegenstand und seiner Dar-
stellung festhalten, können wir die Rolle der Logik im HegeIschen Sy-
stem als Konstruktion der Welt im Spiegel des \'Vissens begreifen. Die
Wissenschaft der Logik erweist sich dann als Darstellung dieses Wider-
spiegelungsprozesses, das heisst als die Rekonstruktion der Erzeugung
des Spiegelbildes der gegenständlichen Wirklichkeit, welche das wis-
senschaftliche Wissen ist. »In dem Wissen hat also der Geist die Bewe-
gung seines Gestaltens beschlossen, insofern dasselbe mit dem über-
wundenen Unterschiede des Bewusstseins behaftet ist. Er hat das reine
Element seines Daseins, den Begriff gewonnen (...) Indem also der
Geist den Begriff gewonnen, entfaltet er das Dasein und Bewegung in
diesem Äther seines Lebens und ist Wissenschaft (...) Der sich selbst wis-
sende Geist, ebendarum, dass er seinen Begriff erfasst, ist er die un-
mittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschiede die
Gewissheit vom Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewusstsein.«48 Im Be-
griff, als seinem Spiegelbild, ist der Geist in unmittelbarer Gleichheit
mit sich selbst sich gegenständlich, aber eben als von sich unterschie-
den, wie das Spiegelbild vom gespiegelten Seienden selbst - und er-
schaut sich damit selbst in sinnlicher Unmittelbarkeit, als Bild, sodass
am Ende der Phänomenologie der Kreis zum Anfang, zur sinnlichen Ge-
wissheit, geschlossen ist.
Aber anders als in der Form des Begriffs erfahren wir den Gegen-
stand nicht total, das heisst in seinem geistigen Wesen, das seine Wirk-
lichkeit ausmacht. Der Geist stellt sich zwar im sinnlichen Bewusstsein
dar, aber als solcher, als Geist ist er nur vermittels des Begriffs gegeben;
das besagt, er ist nur in der Form eines Spiegelbildes gegeben, und nur
darin, dass er das geistige Wesen des Gegenstandes spiegelt, gewinnt
der Begriff seine Realität als Begriff - so wie der Spiegel als Spiegel nur
real ist, wenn er spiegelt, nämlich ein Spiegelbild hervorbringt. Der
Spiegel »gibt sich Realität«, indem er den Gegenstand reflektiert und so
dessen Bild in sich erzeugt; die Formulierung »sich geben« ist hier
176 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

doppeldeutig, insofern der Spiegel die Realität von aussen nimmt und in
sich als Bild hineinnimmt, zugleich aber sich selbst damit als Spiegel erst
Realität verleiht. Das äusserliche Ding wird ihm dabei als Moment und
Bestimmung seiner selbst zum eigenen, allerdings virtuell (ideell). Genau
so beschreibt Hegel die Seinsweise des Begriffs: »Die Realität, die er (scil.
der Begriff) sich gibt, darf nicht als ein Äusserliches aufgenommen, son-
dern muss nach wissenschaftlicher Forderung aus ihm selbst abgeleitet
werde.«49 Diese Ableitung ist die Durchführung der dem Denken imma-
nenten Bewegung, seine spekulative Verfahrensweise, die von der sinn-
lichen Gewissheit zum absoluten Wissen fortschreitet, vom einfachen
Begriff des Seins als des unbestimmten Unmittelbaren 50 zum Begriff
der Idee als des Systems der Inhaltsbestimmungen. In diesem Prozess
des Fortbestimmens bringt das Denken erst die geistige Wesenheit des
Gegenstandes hervor (= bringt sie an den Tag) und gibt ihr die Form
äusserlichen Daseins, eines reellen Inhalts, als Darstellung seiner »in-
neren Tätigkeit«, seines ideellen Inhalts. Denn »die Idee ist das Wahre
an und für sich (... ) Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Begriff in
seinen Bestimmungen, ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstellung, die er
sich in der Form äusserlichen Daseins gibt und diese Gestalt in seiner
Idealität eingeschlossen, in seiner Macht, so sich in ihr erhält.«51 Nur im
spekulativen Begriff wird die Nichtigkeit des Einzelnen in der Wirk-
lichkeit seiner Vermittlungen zum Ganzen aufgehoben und also die
Realität der Sache selbst absolut. Der Begriff und sein Gegenstand
werden eins, weil ausserhalb des Begriffs, der die zeitliche Extension
des Fortbestimmens in sich zusammenfasst, das Absolute nicht gegen-
ständlich sein kann; denn es erscheint ausserhalb des Begriffs ja nur in
der series rerum, der Reihe der bedingten Einzelnen. Dies meint Hegel
mit dem Terminus Idee. Darum gibt es nur die Idee als solche, nicht die
Idee von etwas. »Die Idee ist nicht zu nehmen als eine Idee von irgendet-
was, so wenig als der Begriff bloss als bestimmter Begriff. Das Abso-
lute ist die allgemeine und eine Idee, welche als urteilend sich zum Sy-
stem der bestimmten Ideen be sondert, die aber nur dies sind, in die eine
Idee, in ihre Wahrheit zurückzugehen.«52 Begriff, Idee und Geist fallen
wieder zusammen, der Unterschied von Begriff und Geist ist ein Selbst-
unterschied des Begriffs, der als Begriff der Begriff vom geistigen
Wesen der Sache ist.
Das »geistige Wesen der Sache« ist aber nicht irgendeine spirituelle
Substantialität oder substantielle Spiritualität, sondern besagt nichts
anderes, als dass die Unmittelbarkeit der Sache, die uns in Anschauun-
gen und Vorstellungen gegeben ist und die wir mit Verstandesurteilen
Der Widerspiegelungscharakter des Hegeischen Systems 177

identifizieren, gerade nicht das Sein der »Sache selbst« ist, sondern nur
ihre Erscheinung. Das volle Sein der Sache selbst offenbart sich erst in
der Darstellung der Vermittlungen, durch die es geworden und be-
gründet ist, das heisst erst in der Einheit von Sein und Reflexion.
Darum sagt HegeI, der Begriff sei die Manifestation der Substanz. Of-
fenbaren, darstellen und manifestieren sind Terme, die nicht das Sein
selbst, sondern die Repräsentation oder das Bild des Seienden betref-
fen. Wer diese Differenz nicht festhält, verfehlt den Sinn dessen, was
Hegel mit Begriff meint.
Der Prozess der Vermittlungen, in denen die Sache zur Sache selbst
wird, ist extensiv unabschliessbar, unendlich. Die Totalität aller Ver-
mittlungen ist die Welt in ihrer Zeitlichkeit oder das in sich selbst dif-
ferente Absolute. »Man kann daher wohl sagen, dass mit dem Absoluten
aller Anfang gemacht werden müsse, so wie aller Fortgang nur die Dar-
stellung desselben ist, insofern das Ansichseiende der Begriff ist. Aber
darum, weil es nur erst ansich ist, ist es ebensosehr nicht das Absolute,
noch der gesetzte Begriff, auch nicht die Idee; denn diese sind eben
dies, dass das Ansichsein nur ein abstraktes, einseitiges Moment ist. Der
Fortgang ist daher nicht eine Art von Übetjluss; er wäre dies, wenn das
Anfangende in Wahrheit schon das Absolute wäre; das Fortgehen be-
steht vielmehr darin, dass das Allgemeine sich selbst bestimmt und fir
sich das Allgemeine, d. i. ebensosehr Einzelnes und Subjekt ist. Nur in
seiner Vollendung ist es das Absolute.«53 Diese Passage aus dem letzten
Kapitel der Logik ist sozusagen das Programm der HegeIschen Philo-
sophie. Dieses Programm wird, am Schluss des Ganzen, für den Leser
noch einmal resumiert. Die in ihm enthaltenen methodischen Schritte
sind die des Erkennens als Begreifen: »Die konkrete Totalität, welche
den Anfang macht, hat als solche in ihr selbst den Anfang des Fortge-
hens und der Entwicklung« - das ist die Sache, wie sie als Gegenstand
uns im ersten Zugriff in ununterschiedener Ganzheit gegeben ist und
wie wir sie in der Verstandes tätigkeit, durch analytisches Herauspräpa-
rieren ihrer unterschiedenen Bestimmungen (prädizierend), näher
explizieren; diese Verstandestätigkeit »ist die erste Stufe des Weiterge-
hens, - das Hervortreten der Differen'?J das Urteil, das Bestimmen über-
haupt.«54 Diese Methode ist analytisch, sie zerlegt den Zusammenhang
aller in die Disparatheit der Einzelnen. »Sie ist aber ebensosehr synthe-
tisch, indem der Gegenstand, unmittelbar als einfaches Allgemeines be-
stimmt, durch die Bestimmtheit, die er in seiner Unmittelbarkeit und
Allgemeinheit selbst hat, als ein Anderes sich zeigt.«55 Damit geht die
Sache in die Totalität ihrer Bedingungen, Bestimmungen und Begrün-
178 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

dungen über und wird aus der unmittelbar aufgefassten Sache zur be-
griffenen Sache selbst, die sich in der Objektivität des Begriffs darstellt.
»Diese Beziehung eines Verschiedenen, die er (scil. der Begriff) so in
sich ist, ist jedoch das nicht mehr, was als die Synthese beim endlichen
Erkennen gemeint ist« - das heisst die Konstruktion des Begriffs geht
über die transzendentale Synthesis hinaus, sie ist nicht nur die Synthe-
sis des bestimmten einzelnen Gegenstandes, sondern dessen Vermitt-
lung mit der Totalität der Welt, also mit dem Absoluten. »Dieses sosehr
synthetische als analytische Moment des Urteils, wodurch das anfängli-
che Allgemeine aus ihm selbst als das Andere seiner sich bestimmt, ist das
dialektische zu nennen.«56 Damit kommt Hegel dann zu dem Resultat,
das die Bestätigung seines bisherigen Verfahrens ist: »Der Gegenstand,
wie er ohne das Denken und den Begriff ist, ist eine Vorstellung oder
auch ein Name; die Denk- und Begriffsbestimmungen sind es, in denen
er ist, was er ist. In der Tat kommt es daher auf sie allein an, sie sind der
wahrhafte Gegenstand und Inhalt der Vernunft (...) Das Unmittelbare
ist nach dieser negativen Seite in dem Anderen untergegangen, aber das
Andere (...) ist das Andere des Ersten, das Negative des Unmittelbaren, also ist
es bestimmt als das Vermittelte, - enthält überhaupt die Bestimmung des
Ersten in sich.«57 Dieses Ineinanderaufgehen ist die Leistung des ver-
nünftigen Begriffs, der die Verstandesbestimmungen nicht neben ein-
ander und gegen einander stehen lässt, sondern ihre Bewegung als Ein-
heit von unterschiedenen Momenten aufzeigt und in eins
zusammenfasst. Darum ist die werdend-seiende Wirklichkeit nur in der
Reflexionsform des Begriffs präsent - und die Wirklichkeit als Begriff
nennt Hegel- Idee.
Nun ist es sicher nicht sinnvoll zu behaupten, die äussere Wirklich-
keit, auf die wir uns beziehen, wenn wir materiell tätig sind, aber auch
wenn wir denken, sei nur Gedanke, Begriff, Idee als Inhalt des Den-
kens. Ich meine auch nicht, Hegel habe dies tatsächlich angenommen
und sagen wollen. Vielmehr kommt es darauf an, dass die äussere
Wirklichkeit dem Denkenden in der Form von gedanklichen Reprä-
sentationen gegeben ist, die in einem System, der Wissenschaft,
kohärent dargestellt werden sollen. Der Gesamtzusammenhang, die
Welt, ist in dem potentiellen Zusammenhang ihrer zu konstruierenden
Darstellungen, und das heisst als Idee, ausgedrückt. Eben darum entwirft
Hegel seine neue (zur alten sich kritisch verhaltende) Metaphysik als
»System der Wissenschaft«. Im logischen (notwendigen) Zusammen-
hang der Bestimmungen des Seienden wird die disparate Mannigfaltig-
keit des Erfahrungswissens als Einheit der Welt fassbar. Anders als in
Der Widerspiegclungscharakter des HegeIschen Systems 179

der methodischen Ordnung des Denkens zeigt sich die erfahrene ma-
terielle Vielheit nicht als gegenständliche Einheit. Darum ist jede Phi-
losophie, auch die materialistische, im Hinblick auf die Totalität von
Welt spekulative Konstruktion der Idee.
Da es aber nicht plausibel gemacht werden kann und nicht sinn-
voll ist, einen Gedankeninhalt als letzte und wahrhafte Entität zu set-
zen; da vielmehr jeder Gedankeninhalt auf die Gegenstände des Den-
kens rückbezogen ist, an hand derer überhaupt Denken erst bestimmt
wird; und da diese Gegenstände im praktischen Verhalten des Den-
kenden zur Welt ausser ihm gegeben sind; da ja schliesslich Hegel
selbst die objektive Gegebenheit der materiellen, natürlichen Gegen-
stände in der Form des Andersseins der Idee in sein Dialektikkonzept
aufgenommen hat - aus allen diesen Erwägungen scheint es mir
posthcgelianisch akzeptabel geboten, den gesamten Bereich der ge-
danklichen, begrifflichen, ideellen Repräsentationen als Widerspiege-
lungen der äusseren Wirklichkeit und schlechthin das Denken als Wi-
derspiegelung des Seins zu verstehen. Das Widerspiegelungsmodell
erlaubt die Übernahme der HegeIschen Dialektik-Konzeption in eine
materialistische Dialektik - unter der Bedingung einer »Übersetzung«
oder »Dechriffrierung« des idealistischen Konstruktionsprinzips der
Selbstentfaltung des Begriffs.
Eine materialistsche Dialektik ist natürlich aufgefordert, die Prio-
rität der »natürlichen« gegenüber der »transzendentalen« Einstellung zu
begründen. Auch muss die Aussagekraft der Spiegel-Metapher genau
geklärt werden. Hier entstehen in der Aneignung Hegels neue Pro-
bleme in der Geschichte der Dialektik. Die Richtung, in der deren Lö-
sung unternommen wurde, sei hier nur kurz angedeutet. Die materiali-
stische Entscheidung der Grundfrage erfolgt nicht unbegründet. Für
die Begründung ist Marx' Ausgang von der »gegenständlichen Tätig-
keit« richtungweisend, innerhalb welcher sich der Übergang vom prak-
tischen zum theoretischen Verhältnis vollzieht. Die Entscheidung hält
sich selbst im Rahmen einer dialektischen Konfiguration, nämlich der
des übergreifenden Allgemeinen: Materielles Sein ist Gattung seiner
selbst und seines Gegenteils, des Bewusstseins, bzw. des ideellen Seins.
Und es gehört zu den noch zu klärenden Eigentümlichkeiten dieses
dialektischen Verhältnisses des Übergreifens, dass es spiegelbildlich
verkehrt erscheinen kann: Dem Denken erscheint die äussere Wirk-
lichkeit als Idee und mithin als eine Art des Denkens; darin liegt die
notwendige Möglichkeit des Idealismus und zugleich die strukturelle
Möglichkeit seiner materialistischen Umkehrung.
180 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Die materialistische Lesart der HegeIschen Philosophie, die Lenin


vorgeschlagen hat, hängt davon ab, dass die idealistische Konstruktion
des Systems, den Weltprozess als Entäusserung und Rückkehr in sich selbst
der Idee darzustellen, begriffen wird als Widerspiegelung der materiel-
len Bewegung der Welt im ganzen; zugleich muss aber auch begriffen
werden, dass das Ganze eben nur in der Form des Systems spekulati-
ver Begriffe, mithin als Spiegelbild, erfasst werden kann, da das Un-
endliche dem direkten Zugriff des menschlichen Verstandes entzogen
ist. Nur dann, wenn eine spekulative Metaphysik einen Erfahrungsge-
halt des wissenschaftlichen Denkens wiedergibt, hat es einen Sinn, sie
vom Kopf auf die Füsse zu stellen; Hegels eigenes Verständnis des
Verhältnisses von Spekulation und Erfahrung muss hier stets in Erin-
nerung behalten werden.
Es gibt Gründe, Hegels System als solche Wiedergabe von Erfah-
rungsgehalten des wissenschaftlichen Denkens zu begreifen. Die Phä-
nomenologie beschreibt explizit das »Werden des Wissens«. Die Wissen-
schaft der Logik entwickelt die »Stellungen des Gedankens zur
Objektivität« im Medium des reinen Denkens selbst. Die Enifklopädie
entwirft das System der Wissenschaften in der Absicht, ihre philoso-
phische Ordnung erkennen zu lassen. In allen drei Werken geht es
darum, im philosophischen Vorgehen die »absolute Einheit des Be-
griffs und der Objektivität« herzustellen. 58 Wenn auch immer der Be-
griff die Darstellung (repraesentatio) des Begriffenen ist, so erscheint
doch dem begreifenden Denken umgekehrt das äusserliche Dasein des
Begriffenen nur als Darstellung dessen, was im Begriff bereits gedacht
war, und dies umso mehr, als die Erscheinung des äusserlichen Daseins
gerade erst durch das begreifende Denken in ihrem Wesen erkannt und
durchsichtig gemacht wurde. Die Dialektik von Wesen und Erschei-
nung, also der gesamte Inhalt des zweiten Buchs der Logik, gibt das
Modell dafür ab, die Verkehrungsstruktur der Spekulation als Aus-
druck des sie konstituierenden Reflexionsverhältnisses (Reflexion des
Wissens zu sein), zu verstehen: Die im Begriff dargestellte Welt wird
vom begreifenden Denken als die wirkliche gesetzt, die an und für sich
seiende Welt wird als die verkehrte, den Begriff darstellende bestimmt.
»Die an und für sich seiende Welt ist also selbst eine in sich in die
Totalität des mannigfaltigen Inhalts unterschiedene Welt: sie ist iden-
tisch mit der erscheinenden oder gesetzten, insofern Grund derselben,
aber ihr identischer Zusammenhang ist zugleich als Entgegensetzung
bestimmt, weil die Form der erscheinenden Welt die Reflexion in ihr
Anderssein ist, sie also in der an und für sich seienden Welt wahrhaft so
Der Widerspiegelungscharakter des Hegeischen Systems 181

in sich selbst zurückgegangen ist, als diese ihre entgegengesetzte ist. Die
Beziehung ist also bestimmt als diese, dass die an und für sich seiende
Welt die verkehrte der erscheinenden ist.«59 So kehrt sich in dem Vorge-
hen der Philosophie das Verhältnis von realer äusserer Welt und ihrer
Abbildung im Begriff um: »Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der
Begriff in seinen Bestimmungen, ihr reeller Inhalt ist nur seine Dar-
stellung, die er sich in der Form des äusserlichen Daseins gibt.«6o
So lässt sich an der Wesenslogik die Verfassung des Verkehrungs-
verhältnisses ausmachen, in dem die materielle Wirklichkeit und ihre
ideelle Abbildung zueinander stehen. Da jedoch die Wesenslogik den
Übergang vom Sein zum Begriff vollzieht und also in das Reich des Be-
griffs hinüberführt, als dessen Produkt sich die Idee entwickelt, kann
sie zwar die Genesis und Struktur der Verkehrung von Wesen und Er-
scheinung aufzeigen, also die Fetischisierung der Unmittelbarkeit ent-
larven, aber durchaus keine Analogie gewinnen, die den Begriffs-Feti-
schismus zu durchschauen erlaubte und damit den idealistischen
Charakter des Systems als Verkehrung biossiegte. Das Prinzip der Er-
zeugung des HegeIschen Systems bleibt ihm selbst verborgen. Gerade
dieses aber müsste offengelegt werden, wenn die HegeIsche Philoso-
phie systematisch gelesen werden soll.
Es lässt sich indessen zeigen, dass Hegel selbst einen Hinweis auf
die Entschlüsselung des spekulativen Sinns seines Systems gegeben
hat. Geht man nämlich von dem Schluss der Logik aus, der die absolute
Idee als Natur begreift - »diese seiende Idee aber ist die Natur«61 - so
lässt sich der ganze Gang der Logik interpretieren als die Konstruktion
der Totalität von Welt (= Natur) im Medium des Gedankens (= Idee).
Die idealistische Form wird dann nicht einfach als Ausdruck von
falschem Bewusstsein verstanden, sondern als der notwendige Schein,
der durch die Abbildung der unendlichen Totalität im endlichen par-
tiellen Bewusstsein entsteht, so als sei die Methode der Erzeugung der
absoluten Idee die Methode der wirklichen Erzeugung der Welt. Wird
das Ganze des Systems als idealistische Verkehrung genommen, dann
kann es auch als ganzes »vom Kopf auf die Füsse gestellt« werden oder
)>umgestülpt« werden, und es ist zu zeigen, dass die Verkehrung eine
notwendige Form der spekulative Abbildung einer nichtempirischen
Gegenständlichkeit (der Totalität) ist und also selbst einen Widerspie-
gelungscharakter hat.
Was kann es also bedeuten, die spekulative Philosophie im Sinne
von Marx und Lenin »materialistisch zu lesen«? Es kommt offenbar
darauf an, den Spiegel-Charakter der Philosophie zu erkennen, die
182 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Notwendigkeit des idealistischen Scheins zu durchschauen und das


ideelle Ganze des Gedankensystems wieder in die reelle Bewegung der
Wirklichkeit zu überführen. Hat Hegel selbst, wenn er am Schluss der
Logik die absolute Idee der Natur gleichsetzt, diesen Übergang nur an-
gedeutet, so hat Marx dagegen diesen Gedanken in den Pariser Manus-
kripten ausdrücklich aufgegriffen: »Die sich als Abstraktion erfassende
Abstraktion weiss sich als nichts; sie muss sich, die Abstraktion, aufge-
ben und so kömmt sie bei einem Wesen an, welches gerade ihr Gegen-
teil ist, bei der Natur. Die ganze Logik ist also der Beweis, dass das ab-
strakte Denken für sich nichts ist, dass die absolute Idee für sich nichts
ist, dass erst die Natur etwas ist.«62
Das Verhältnis von Geist, Natur und Idee hat Hegel selbst in sei-
nen allgemeiner Erörterungen zur Idee des Erkennens thematisiert.
Der Ort, an dem dies geschieht, ist selbst schon ein Indiz. Hegel hat
seine Philosophie, wie wir gesehen haben, als System der Wissenschaft
konzipiert. Wissenschaft ist die eigentliche Form der Erkenntnis des
Wahren, das Wahre ist die Übereinstimmung zwischen dem, was die
Sache selbst ist und wie sie sich zeigt. Diese Übereinstimmung ist im
spekulativen Begriff hergestellt, der somit erst das ist, was jedes Er-
kennen zu sein anstrebt - »die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit
existiert.«63Im spekulativen Begriff wird die Sache selbst »in ihrer Aus-
führung« dargestellt, in ihm ist nicht »das Resultat das wirkliche Ganze,
sondern es zusammen mit seinem Werden.«64 Diese Ausführung der
Sache - ihre Bedingtheit, Vermitteltheit, Zeitlichkeit - ist gerade nicht
durch Anschauung oder Vorstellung, also in sinnlich-materieller Dies-
heit (haecceitas), in der Weise der aristotelischen »ersten Substanz«, des
tode ti, gegeben; sie ist nur begrifflich-intensional rekonstruierbar und
darum »geistiges Wesen«. Dass die Wahrheit als Totalität sich nur in-
direkt, in der Konstruktion des Ganzen als Prozess, zeigt, berechtigt
Hegel zu der Behauptung: »Das Geistige ist allein das Wirkliche; es ist
das Wesen oder Ansichseiende, - das Verhaltende und Bestimmte, das An-
derssein und Fürsichsein - und in dieser Bestimmtheit oder seinem
Aussersichsein in sich selbst Bleibende; - oder es ist an und für sich.«65
Diese Behauptung begründet sich aus dem Charakter des wissenschaft-
lichen Wissens, System eines geschichtlichen Ganzen zu sein: »Dass
das Wahre nur als System wirklich oder dass die Substanz wesentlich
Subjekt ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als
Geist ausspricht.«66 So ist der Geist das Andere der Natur - sofern
Natur das Reich der Erscheinungen, der Gegenstände der Anschauun-
gen und Verstandes bestimmungen ist. Aber gerade in dieser Beschrän-
Der Widerspiegelungscharakter des Hegeischen Systems 183

kung ist die Natur nicht als Ganzheit der materiellen Welt; und so heisst
»das Andere der Natur« eben auch: Die Natur in einem anderen .Me-
dium, dem des Begriffs.
Diese Doppelbedeutung der Logik, das System der Begründung
wissenschaftlichen Wissens und der Ort der Epiphanie des Absolu-
ten zu sein, ist in Hegels Erörterung der allgemeinen Momente des
Erkennens ausgesprochen. Die Phänomenologie des Geistes hatte zum
Begriff des absoluten Geistes geführt, der die sinnlich-materielle
Wirklichkeit als Inhalt des wahren Wissens schon aufgehoben hatte.
Die Wissenschaft der Logik beginnt an diesem Punkt. Sie ist die »letzte
Wissenschaft«, wenn das Erkennen, wie es sich gehört, von der Er-
fahrung ausgeht. Aber die Erfahrungen mit den Sachen liegen auf
dem Standpunkt des Systems (zu dem die Beschreibungen der Er-
fahrungen des Bewusstseins nur Prolegomena sind) schon hinter
dem Denken; es beginnt mit den Formbestimmungen der denken-
den Abbildung der Wirklichkeit. Und insofern ist die Logik die »erste
Wissenschaft«, die zu dem System der Wissensinhalte hinführt als die
Wissenschaft von den notwendigen Formen, in denen die Gegen-
stände gedacht werden müssen, um erkannt werden zu können: »Die
Idee des Geistes dagegen, welche logischer Gegenstand ist, steht schon in-
nerhalb der reinen Wissenschaft; sie hat daher ihn nicht den Gang
durchmachen sehen, wie er mit der Natur, der unmittelbaren Be-
stimmtheit und dem Stoffe oder der Vorstellung verwickelt ist (. ..); sie
hat diesen Gang bereits hinter sich oder, was dasselbe ist, vielmehr
vor sich, - jenes, insofern die Logik als die letile Wissenschaft, dieses,
insofern sie als die erste genommen wird, aus welcher die Idee erst in
die Natur übergeht.«67
Die DoppelsteIlung der Logik, die »erste« und die »letzte« Wissen-
schaft und in beidem dasselbe zu sein, ist formal eine Spiegelstruktur.
Erste Wissenschaft ist sie für sich selbst, indem sie und nur sie allein die
unendliche Totalität in der Einheit des absoluten Begriffs konstruiert
und als absolute Idee, in der der Begriff mit der von ihm gemeinten
Wirklichkeit aus methodischen Gründen zusammenfällt, vor uns hin-
stellt. Das ist die Sache und das Tun der spekulativen Philosophie, und
jede Einzelheit der Erfahrungswelt wie auch deren Nexus ist ableitbar
und wird realphilosophisch abgeleitet aus der absoluten Idee (EniJklo-
pädie, 2. und 3. Teil). Sich selbst als erste Wissenschaft, nämlich als Wis-
senschaft des Absoluten begreifend, ist für die Logik der einzige Ge-
genstand die absolute Idee (»Monismus der Idee«) und Philosophie ist
der Sache nach Idealismus.
184 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

Letzte Wissenschaft aber ist die Logik für uns, indem wir in ihr,
nach dem Durchgang durch die Erfahrungswelt der materiellen Wirk-
lichkeit und ihrer ~)materiellen«, wie Marx sagte) Verhältnisse, die Welt
als ganze im Integral der absoluten Idee methodisch konstruiert haben,
das heisst ein Bild von ihr erzeugt haben. Dieses Bild ist mit dem, was
es abbildet, identisch und muss dies sein, weil das Abgebildete nicht an-
ders als in der Konstruktionsmethode gegenständlich wirklich ist. Ich er-
kenne die Welt in ihrem Bilde, denn ich sehe als Bild sie selbst, wie sie
sich zeigt. Ein Bild, das mit seinem Vorbild identisch ist, ist ein Spie-
gelbild.
Dass die Logik für die Erfahrung des Denkens die »erste Wissen-
schaft« ist, verdankt sie der Tatsache, dass sie für die Erfahrung des
Seins die »letzte Wissenschaft« ist. Ihre Apriorität ist die Widerspiege-
lung der Empirizität des inhaltlichen Wissens. Denn ihre Methode ist
das zur Einheit zusammengefasste Bild des methodischen Gangs
durch die Erfahrungswelt, und darum ist ihre Form nicht abgetrennt
von den Inhalten, deren Form sie ist, darzustellen: »Es kann nur die
Natur des Inhalts sein,welche sich im wissenschaftlichen Erkennen be-
wegt, indem zugleich diese eigene Reflexion des Inhalts es ist, welche seine Be-
stimmung selbst erst setzt und erzeugt.«68
Der Schluss der En?JIklopädie bestätigt diese spiegel theoretische
= spekulative (denn keinen anderen Sinn hat der Terminus, wie sich
nun zeigt) Auslegung. Hier wird der Begriff der Philosophie in drei
Schritten oder »Schlüssen« entfaltet - so genannt, weil deren Form der
einer Abfolge von allgemeinem Obersatz, besonderem Mittelsatz und
beschliessendern Einzelsatz isomorph ist. Philosophie erscheint in die-
sen drei Schritten, und sie erscheint zunächst so, dass das Logische der
Ausgangspunkt ist, die allgemeinen Inhalte der Logik in die Gestalten
der Natur übergehen und deren extensionale Mannigfaltigkeit im Tun
des Geistes zur Einheit zusammengeschlossen wird und sich so als
Geist erweist. 69 Dies ist der Weg der neueren Philosophie, seit Descar-
tes im cogito und seiner logischen Verfassung den gewissen Grund alles
Philosophierens entdeckt hat. Hegels System selbst, wie es die En?JI-
klopädie in ihren drei Teilen entwickelt, folgt in seinem Aufbau dieser
ersten Erscheinungsweise des Philosophierens, die der Philosophie
den zwingenden Charakter der Deduktion verleiht und ihre Gestalt des
Systems (in der allein sie als wahre sein kann) verbürgt. Indem diese
Deduktion darauf führt, dass alle Wirklichkeit in der Einheit des Man-
nigfaltigen als Geist gefasst werden muss, geht sie in die zweite Er-
scheinungsform der Philosophie über, in der die Mannigfaltigkeit der
Der Widerspiegelungscharakter des Hegeischen Systems 185

Natur vorausgesetzt wird, ihre Struktur als geistige begriffen wird und
damit die Verfassung der Welt (= die Begriffsform der Wirklichkeit)
als Resultat gewonnen werden kann 70; dies ist der Gang der Phänome-
nologie des Geistes von der sinnlichen Gewissheit zum absoluten Wissen:
»Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen
und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt, und dadurch
seinen Begriff ebenso realisiert als er in dieser Realisierung in seinem
Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen; es ist der sich in Geistsgestalt
wissende Geist oder das begreifende Wissen (...) Die Substanz hat, als
Subjekt, die erst innere Notwendigkeit an ihr, sich an ihr selbst als das
darzustellen was sie an sich ist, als Geist. Die vollendete gegenständliche
Darstellung ist erst zugleich die Reflexion derselben, oder das Werden
derselben zum Selbst.«71 Die Reflexion des Geistes in sich ist die Idee,
sie ist es, die in der Phänomenologie des Geistes sich im absoluten Wissen
herausbildet. Nun aber erweisen sich Natur und Geist als die Daseins-
weisen oder Elemente der Wirklichkeit, in die die erscheinende Idee
auseinandertritt und die sie zugleich als ihre Mitte zusammenhält und
vereinigt; dies ist die wissende Vernunft, also die Philosophie in actu,
in der Konstruktion der Idee als spekulative Methode. Dies ist die in
der Wissenschaft der Logik vollzogene Bewegung des Begriffs, und die
gesamte Philosophie hat darum keinen anderen Gegenstand als die
Idee, und das Werden des Wissens oder die Fortbewegung des Be-
griffs ist der Prozess, in dem die Idee erscheint (hervortritt). Absolute
Idee, absoluter Geist, absolutes Wissen fallen in der Natur der Sache
zusammen: »Das Sich-Urteilen der Idee in die beiden Erscheinungen
bestimmt dieselben als ihre (der sich wissenden Vernunft) Manifesta-
tionen, und es vereinigt sich in ihr, dass die Natur der Sache, der Be-
griff, es ist, die sich fortbewegt und entwickelt, und diese Bewegung
ebensosehr die Tätigkeit des Erkennens ist, die ewige an und für sich
seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und ge-
niesst.«72 Vermittelt im ersten Schluss die Natur das Logische mit dem
Geiste, im zweiten Schlusse der Geist die Natur mit dem Logischen,
so nun im dritten Schlusse das Logische den Geist mit der Natur - und
dies ist, so sagt Hegel, »die Idee der Philosophie«. Mit diesem dreifa-
chen Sich-ineinander-Spiegeln der Reiche des Logischen, der Natur
und des Geistes schliesst Hegel das System der philosophischen Wis-
senschaften die EniJIklopädie ab.
Es kann aber nicht bei dem bIossen Bewusstwerden dieser Spiege-
lungsverhältnisse und damit des Umkehrungsverhältnisses von Wirk-
lichkeit und Idee bleiben: Indem ich ein Spiegelbild noch einmal spie-
186 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik

gele, wird es keine reelle Wirklichkeit. Erst wenn ich den Spiegel selbst,
mein Denken, als ein Moment der Wirklichkeit ausser mir erfahre und
benutze, wenn ich die Spiegelung in meine »gegenständliche Tätigkeit«,
die die Welt real verändert, eingehen lasse - erst dann ist das ideelle Bild
des Ganzen ein bewusster, rationaler und mit der Kategorie des
Zwecks zu vermittelnder Teil der Realität geworden. Die Marxschen
Feuerbachthesen zielen auf diesen Umschlag. Die Forderung der Ein-
heit von Theorie und Praxis ist die materialistische Antwort auf den
Idealismus der spekulativen Philosophie. Sie verwirft diese nicht, son-
dern bestimmt ihren Ort und ihre Funktion im geschichtlichen Pro-
zess. Hegel vom Kopf auf die Füsse stellen heisst also, die Herausfor-
derung des spekulativen Denkens annehmen und dessen spekulativen
Charakters, mithin seiner Widerspiegelungsstruktur, innezuwerden.
Dem Blick, der den Spiegel als solchen erkennt, zeigt sich im Spiegel-
bild die Sache selbst.
11. Hauptstück

Die Kritik der Hegelschen Künstruktion


des Absoluten
1. Kapitel:
Die junghegelianische Auflösung
der Philosophie im Vormärz

Die Periode, mit der wir es hier zu tun haben, ist in der Philosophie
zeitlich so genau definiert wie selten sonst eine. Sie reicht vom Tode
Hege!s im November 1831 bis zur Formulierung des Kommunistischen
Manifests im Februar 1848. Sie nimmt ihren Ausgang von der Vollen-
dung der idealistischen Systemphilosophie, deren Anspruch und Ge-
schlossenheit im Werk Hege!s seitdem nichts Gleichartiges und Eben-
bürtiges mehr zur Seite gestellt wurde; sie findet ihren Abschluss in der
Formulierung eines geschichts- und revolutions theoretischen Pro-
gramms, das dem Begriff in den gesellschaftlichen Verhältnissen seine
Wirklichkeit verschaffen soll. Hege! hatte die Idee der Philosophie, das
System der (in Gedanken erfassten!) Wirklichkeit zu sein, entwickelt,
durchsichtig gemacht und in ihrem enzyklopädischen Grundriss aus-
geführt. Die der Idee der Philosophie entsprechende Wirklichkeit kann
nur eine vernünftige sein; die - auf berüchtigte Weise missdeutete -
Gleichung von Vernunft und \X'irklichkeit in der Vorrede zur Rechtsphi-
losophie2 spricht das aus. Hege! hat nicht behauptet, die gesellschaftliche
Wirklichkeit, die er vorfand, sei die wirkliche Vernunft. Im Gegenteil,
gerade weil die Philosophie Konstruktion des vernünftigen Systems
der Wirklichkeit ist, wird sie zum Instrument der Kritik des bloss Fak-
tischen. Darum konnte Hege!, auf die Diskrepanz zwischen den Prä-
skriptionen seiner Philosophie und den tatsächlichen Verhältnissen an-
gesprochen, die souveräne (und nur scheinbar arrogante) Antwort
geben: »Um so schlimmer für die Wirklichkeit.« Die philosophische
Vernunft hat normativen Charakter, indem sie das Wesen der Wirklich-
keit beschreibt. Hege!s gesamtes philosophisches Werk ist die Durch-
führung dieses Programms.
Die Darstellung der Wirklichkeit in den drei »Elementen« des Den-
kens, der Natur und der Manifestationen des Geistes - zusammenge-
fasst in der hn?yklopädie und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt
in deren Schluss paragraphen - sollte die Form angeben, in der die
Mannigfaltigkeit der Welt als Einheit gedacht werden und diese Einheit
190 Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des Absoluten

in einem Entwicklungsprozess sich herstellen könne. HegeIs System


trat an die Stelle der klassischen Metaphysik. Es formulierte einen »Ab-
schlussgedanken.«3 Die Kritik seiner Zeitgenossen, vor allem und am
härteten die Schellings4, richtete sich gegen die Konstruktionsmethode
und die Resultatform dieses Abschlusses, also gegen den metaphysi-
schen Anspruch der HegeIschen Philosophie. Die Auseinandersetzung
zu HegeIs Lebzeiten waren Kontroversen innerhalb der spekulativen
Philosophie und deren Intentionen und Ausführungen. 5
In den anderthalb Jahrzehnten nach HegeIs Tod, in den Kämpfen
um die aktuelle, weltanschauungsbildende Rolle der HegeIschen Philo-
sophie, verlief die Rezeption in anderen Bahnen, als sie durch die He-
gelsche Systemstruktur vorgezeichnet war. Phänomenologie, Logik und
En:?J'klopädie waren da nicht die umstrittenen Gegenstände der Hegei-
rezeption, vielmehr waren sie so einhellig akzeptiert, dass Bruno Bauer
1842 schreiben konnte: »Sein System ist das herrschende geworden; es
ist klar wie der Geist, auf dessen Denkgesetze es sich gründet.«6 Was
die Hegel -Nachfolger in einen rechts- und einen linkshegelianischen
Flügel spaltete, war die Frage nach der Richtung der politischen und
kulturpolitischen Konsequenzen seiner Philosophie, wie sie sich in der
Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie manifestierten. Anders
gesagt, die Frage, ob HegeIs Philosophie für das gesellschaftliche BeuJusst-
sein der Deutschen dasselbe leiste, was die französische Revolution für
die gesellschaftliche Wirklichkeit Frankreichs bewirkt hatte: die Aufrich-
tung demokratischer Prinzipien in der Politik und laizistischer Prinzi-
pien in der Kultur. Die Rechtshegelianer sahen in HegeIs Philosophie
gerade einen Schutz vor den Folgen der Revolution, die Linkshegelia-
ner benutzten sie, im Grundsätzlichen zustimmend und durch Kritik
am Detail, als Antrieb für die revolutionäre Weiterentwicklung der ge-
sellschaftlichen Lage Deutschlands. Und beidseits dieser Flügel des
Hegelianismus gab es dann noch eine reaktionäre Kritik an HegeI, die
den Linkshegelianern recht gab und HegeIs Philosophie selbst schon
als Brutstätte revolutionären Geistes bekämpfte: und eine liberale Kri-
tik, für die Hegel als der Staatsphilosoph des preussischen Absolutis-
mus galt und destruiert werden mussteJ In jedem Falle aber wurde He-
gels Philosophie als Politicum, nicht als Metaphysicum aufgefasst und
ums tri tten. 8
Die aus der Diskussionslage des 19.Jahrhunderts entstandene Front-
steIlung ist jedoch nur scheinbar eine Verzerrung des HegeIschen Phi-
losophierens. Die Einheit von metaphysischer und politischer Inten-
tion Hegels - und dies gerade als Resultat seiner Erfahrung der
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 191

französischen Revolution - hat in unserer Zeit Joachim Ritter wieder


nachdrücklich hervorgehoben: »Hegels Satz >Was vernünftig ist, das ist
wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig< spricht den Kernge-
danken aller Philosophie aus, dass die Seinsvernunft die gründende
Substanz der Wirklichkeit und ihre Wahrheit sei.« Und er zieht das
Fazit: »Die Vernunft der Revolution ist für Hegel mit der Vernunft der
überlieferten Philosophie identisch; sie wird politisch in der französi-
schen Revolution verwirklicht.«9
Wenn wir heute Weltgeschichte als Inhalt von Hegels Philosophie
begreifen und diese doch zugleich von ihrem metaphysischen Kern her
deuten, dann ist damit der politisch-emanzipatorische Gehalt dieser
Philosophie von seinem Grund her lebendig gemacht. Denn »Hegel
setzt die traditionelle metaphysische Theorie unmittelbar und als diese
mit der Erkenntnis der Zeit und der Gegenwart gleich. C•••) Sie erhält
die Aufgabe, die politische Freiheit der Revolution in ihrem Wesen zu
begreifen; der Grund soll philosophisch bestimmt werden, auf dem
durch die Revolution >alles basirt< wird.«l0
Die Einheit von Metaphysik und Politik liegt im Konzept der Welt-
geschichte als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« und damit als
Prozess der Selbstverwirklichung der Vernunft in der Herstellung ver-
nünftiger Verhältnisse; es war die französische Revolution, die nach
Hegels Auffassung für seine Gegenwart die aktuelle Phase dieses Pro-
zesses in Gang gesetzt hat. Dieser Prozess darf allerdings nicht so ver-
standen werden, als ob er sich linear und unabhängig von dem histori-
schen durchsetze - und schon gar nicht so, als ob die Geschichte ein
einfacher »Fortschritt in der Freiheit« wäre. Fortschritt im BeuJUsstsein
der Freiheit besagt vielmehr, dass ein einmal gewonnener Stand von
Selbstbewusstsein der menschlichen Gattung, ein einmal gewonnener
Begriff von der in der Vernünftigkeit gegründeten Form der Freiheit
des l\Ienschen, die sich im Begriff selbst als der Form des Wissens der
Wahrheit bildet, nicht wieder verloren gehen kann und jeder faktische
Rückfall in unfreie Verhältnisse eben darum als solcher erkennbar und
denunzierbar ist.
Es liegt darüber hinaus in der dialektischen Bewegung des Ver-
nünftigen selbst, die über jeden - einmal als für seine Zeit vernünftigen
- Zustand hinaustreibt, dass sie die I<ritik ihrer selbst zum Wesen der
Philosophie macht. Hegel und Schelling hatten, als sie das Kritische jour-
nal der Philosophie 1802 herauszugeben begannen, die I<ritik als das Ver-
hälnis entwickelt, in dem der Fortgang der Philosophie gemäss ihrer ei-
genen Idee sich gegenüber dem jeweils nur beschränkten und
192 Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des Absoluten

subjektiven Zustand in einer (bestimmten) Philosophie realisiere.!! Wer


also Hegel richtig verstanden hat, kann nach Hege! die Prinzipien Hegels
nur in der Kritik an Hegels eigener Durchführung dieser Prinzipien ver-
wirklichen und zugleich weiterentwickeln. Die Dialektik ist selbstrefle-
xiv und damit auch generativ, das heisst sich aus sich selbst fortbildend.
Der Doppelcharakter jeder Philosophie, die als Bestimmung der Distanz
zwischen der Normativität der Vernunft und der Faktizität des Wirkli-
chen immer kritisch und als philosophischer Systementwurf doch zu-
gleich auch Setzung eines positiven Modells ist, drückt sich in der Ein-
heit von destruktiver und konstruktiver Tätigkeit des Denkens, von
Kritik und Antizipation aus und realisiert sich nur in der Bewegung des
philosophischen Denkens, also in der Geschichte der Philosophie, die
denkend zu durchmessen erst die Philosophie zum Bewustsein ihrer
selbst bringt.
Dieser philosophische Begriff der Kritik als das Prinzip der Ge-
schichtlichkeit der Philosophie und ihres Fortschreitens durch Nega-
tionen ihrer jeweils ausgebildeten Gestalten verengte sich nun aller-
dings in der Zeit, die unmittelbar auf Hegels Tod folgte und die unter
dem Eindruck der französischen Juli-Revolution von 1830 stand. Die
Jungdeutschen waren geneigt, die Philosophie ganz über Bord zu wer-
fen und Kritik nicht mehr grundsätzlich auf die Verfassung des Politi-
schen, sondern vordergründig nur mehr auf die politisch-sozialen Zu-
stände zu beziehen. Nach dem Verbot ihrer Schriften 1835 waren sie
denn auch schnell zur Akkomodation an die absolutistische Staats-
macht bereit. Die kleinbürgerlich-rebellische Geste der Empörung
liess sich nahtlos durch die Bekundung der Unterwerfung ersetzen.
Börne, der den Jungdeutschen nahestand, hat diese prinzipienlose
Selbstverleugnung nicht mitgemacht. Doch auch ihn trifft die Feststel-
lung, dass das theorie ferne liberale Kritik-Verständnis sich als schein-
radikal in der Praxis selbst dementierte.
Wohl aber darf es als ein gemeinsames Bewusstsein der Literaten
nach 1830 - unabhängig von ihren ideologischen Differenzen - ge-
nommen werden, sich in einer Zeit der Krisis, in einer Zeitwende zu
fühlen.!2 Grundsätzlicher als von Börne und den Jungdeutschen wurde
dieses Krisenbewusstsein von den Junghegelianern in der Form einer
philosophischen Kritik des Zeitalters ausgedrückt. Nicht ohne An-
massung nimmt Bruno Bauer sogar eine quasi messianische Funktion
für die Kritik in Anspruch: »Die Kritik ist die Krisis, welche das Deli-
rium der Menschheit bricht und den Menschen wieder sich selbst er-
kennen lässt.«13
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 193

Es ist charakteristisch für das junghegelianische Verständnis von


Kritik, dass sie deren politischen Gehalt, den doch gerade ihre Gegner
stets wahrgenommen und denunziert hatten, nun in einem allgemeine-
rcn philosophischen Sinn »aufheben« wollten. Die Jungdeutschen hat-
tcn ihre literatur- und philosophiekritischen Arbeiten und Pamphlete
als Momente des politischen Kampfes verstanden. Die »theoretische
Partei«, von der Marx im Gegensatz zur »praktischen« sprechen wird!4,
mochte in dieser Situation selbst als Wortführer politischer Kritik er-
scheinen. Bruno Bauer wehrt sich dagegen und möchte Kritik prinzi-
pieller gefasst sehen: »C...) trotzdem, dass ihre wahren, entscheidenden
Entwicklungen über die Politik hinausgingen, musste sie doch noch
dem Schein verfallen, dass sie politisiere, und dieser unvollkommene
Schein hatte ihr die meisten der oben bezeichneten Freunde gewon-
nen.«!5
Die Kritik habe sich zu läutern begonnen, fährt Bauer fort und
richte sich nun auf einen »Weltzustand«, dessen »geistiges Wesen« auf
ein neues Niveau gehoben werden solle.!6 Selbst Arnold Ruge, der
doch ein viel geschärfteres politisches Bewusstsein besass als Bauer,
schreibt im Vorwort zu den Haifischenjahrbüchern 1841, dass diese zwar
in grösserem Masse als je eine gelehrte Zeitschrift Bedeutung für die
Tagesangelegenheiten gewonnen hätten, jedoch nicht zu befürchten
sei, dass sie einer >>ungehörigen Praxis« verfallen oder jemals »einen un-
mittelbaren Einfluss« ausüben würden. 17 Kritik ist eine geistige Waffe
(was Marx dann mit dem berühmt gewordenen Dictum beantwortete,
die Waffe der Kritik könne allerdings die Kritik der Waffen nicht erset-
zen).!8 Gegen eine unmittelbar politische Stossrichtung gibt Ruge der
Intention der Haifischen jahrbücher eine andere Wendung: »Dagegen ist
die Wirkung der Jahrbücher einzig und allein ihr Verhältnis zur Bil-
dung. C...) Der letzte Sieg ist der Sieg im Geiste C...) Das Prinzip, um das
sich jetzt alles dreht, ist die Autonomie des Geistes.«!9
Ruge wird zwar im Zug der Auseinandersetzung mit den rechts-he-
gelianischen und antihegelianischen Gegnern radikaler, aber es bleibt
ein idealistischer Radikalismus, der von der philosophischen I<ritik die
Herstellung der gesellschaftlichen Freiheit erwartet. Nachdem er unter
dem Druck der preussischen Zensur die Haffischen jahrbücher aufgeben
und in Dresden als Deutsche jahrbücher fortsetzen musste, legte er sich
Rechenschaft ab über die Rolle der Philosophie und die Stellung der
Hegelschen dazu. Da wurden in einem seltsamen unpolitischen Plato-
nismus die Philosophen die Könige der Geschichte: »Es gibt nur ein
Himmelszeichen, welches der geistigen Welt leuchtet und warm macht,
194 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

das ist die Wahrheit, und der Name dieses Gestirns heisst - Philoso-
phie. (...) Der Philosoph ist ein Apostel der Zukunft. Dies ist sein Be-
griff. (...) Die Last eines solches Bewusstseins nimmt kein Gott von un-
seren Schultern, wenn wir es nicht selbst tun, indem wir erkennen, dass
nur das Selbstbewusstsein, welches auf seinen gewonnenen Inhalt re-
flektiert und zurückkommt, also die philosophische Kritik auch die Be-
wegung die Weltgeschichte macht.«2o
Der weltgeschichtliche Demiurg kann nun allerdings kein einzel-
ner, bestimmter Philosoph sein, sondern nur die Philosophie in der
Unabgeschlossenheit ihres kritischen Fortschreitens. Keine einzelne
besondere Philosophie - auch die Hegels natürlich nicht - ist die Rea-
lisierung der Idee der Philosophie im ganzen, sondern bestenfalls die
Reflexion der Methode ihrer Konstruktion und ihre Repräsentation
einer bestimmten Perspektive. Philosophie ist eben »ihre Zeit in Ge-
danken erfasst« und insofern die Widerspiegelung der faktischen Ver-
hältnisse, wenn auch im Modus der Vernünftigkeit und das bedeutet:
als Kritik und Antizipation. Die Vollendung des HegeIschen Systems
konnte darum zu seiner Zeit immer nur das Denken des Absoluten
unter den Bedingungen der Faktizität der bürgerlichen Gesellschaft,
des preussischen Staates und der weltanschaulichen Ausdrucksformen
dieser Wirklichkeit sein. Die fortschreitende Entfaltung kapitalistischer
Produktionsverhältnisse und der damit vernüpfte Emanzipationspro-
zess der Bourgoisie in den institutionellen und ideologischen Formen
des Liberalismus richtete sich kritisch-umwandelnd auf jene Wirklich-
keit, die Hegel in Gedanken erfasst hatte und schloss demzufolge auch
die Kritik der HegeIschen Philosophie ein. Nicht zufällig sind es die
Rechtsphilosophie und die Religionsphilosophie, an denen die Oppo-
sition zu Hegel manifest wird. Die Kritik der Junghegelianer richtet
sich gegen Hegels Gesellschaftslehre 21 und gegen die Äquivokation
von absolutem Idealismus und Theologie. 22 Zwei Programms ätze
mägen diese doppelte Frontstellung illustrieren. Ludwig Feuerbach be-
ginnt seine Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie (1843) mit dem
berühmten Diktum, das als Paradigma für den »Entlarvungs-Gestus«
der kritischen Philosophie des Vormärz gelten kann: »Das Geheimnis
der Theologie ist die Anthropologie, das Geheimnis aber der spekulativen
Philosophie die Theologie.«23 Und ganz parallel dazu schreibt Marx in der
Kritik der Hege/sehen Staatsphilosophie (1841/42): »Hegel geht vom Staate
aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demo-
kratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum versubjekti-
vierten Menschen.«24
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 195

Beide Sätze vollziehen eine Umkehrung: Feuerbach von der Theo-


logie und spekulativen Philosophie in Anthropologie, Marx vom Real-
Allgemeinen des Staates in die wirklichen handelnden Subjekte. Beide
Umkehrungen vertauschen das Verhältnis von Idee und Mensch, die
Rollen von Subjekt und Objekt oder von Subjekt und Prädikat. Die
praktische politische Opposition gegen die Wirklichkeit, die sich in He-
gels System manifestiert hatte, wird theoretisch zur philosophischen
Destruktion eben dieses Systems.
Die schon erwähnte Einleitung Ruges zu den Deutschen Jahrbüchern
reflektiert diesen Prozess, mit Hegel gegen Hegel zu philosophieren,
d. h. an der Denkbewegung von Phänomenologie und Logik festzuhalten
und diese gegen den positiv-faktischen Gehalt von Rechts-, Religions-
und Geschichtsphilosophie zu kehren. Der Ausgangspunkt bleibt das
Hegelsche System: »Hegel hatte seine Philosophie ausdrücklich als
die Philosophie schlechthin und als den wahrhaft allgemeinen Ver-
nunftsprozess (Methode, Entwicklung) dargestellt, und in gründli-
chen Werken wissenschafdich bewiesen (... ).«25 Aber genau diese
Struktur des wissenschafdichen Systems forderte den »Abschlussge-
danken«. In der Logik konnte Hegel den Abschluss offen halten: Die
absolute Idee ist die Methode des spekulativen Denkens. Die Archi-
tektur des Systems beruht aber auf der Parallelität von Logik, Natur-
philosophie und Geistphilosophie. Die Naturphilosophie endet mit
dem »Tod des Natürlichen«, das immer nur das Einzelne ist; was vom
Gattungsleben bleibt, ist die »konkrete Allgemeinheit, der Geist (...) -
dieselbe Natur im neuen Element des Geistes.«26 Und die Philosophie
des Geistes wiederum schliesst ab im absoluten Wissen der Philoso-
phie, die »die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit« ist. 27 Marx
wird darum das Umschlagen von spekulativer Apriorität in empirische
Faktizität kritisieren. 28 Ruges Ausspruch, die Philosophie sei »die freie
Macht der werdenden Geschichte«29 kollidiert mit diesem Systemab-
schluss: »Dass der Philosophie diese zukunftsbildende Kraft und Auf-
gabe zugeschrieben werden müsse, leugnet nun Hegel ausdrücklich,
indem er die Kritik dessen, was wirklich ist, allerdings als ein hinter die-
ser Wirklichkeit herkommendes Geschäft betrachtet, daraus aber für
die ganze Philosophie nicht den Schluss zieht, dass dieses Hinterher-
kommen, als das Letzte, nun doch in Wahrheit das Neueste, also damit
die folgende, die zukünftige, der empirischen Wirklichkeit vorausge-
eilte Stufe des Geschehens sei. In der wissenschafdichen Dialektik
lehrt und übt Hegel fortdauernd die wahre Idealität, der Regress auf
das Vorhandene gibt ihm überall den Progress, die Kritik der erreich-
196 Die Kritik der Hegeischen Konstruktion des Absoluten

ten Stufe ist unmittelbar in der Orientierung über das, was sie hat und
ist, ein Neues geworden; in der Weltgeschichte dagegen will er der Phi-
losophie durchaus die Initiative nicht zugestehen.«3o
Ruge war philosophisch klug genug, nun zu sehen, dass er an die
Stelle der im absoluten Wissen bei sich selbst bleibenden Idee ein an-
deres Prinzip setzen musste, von dem aus die Einheit der Welt als ge-
schichtlicher Prozess konstituiert werden konnte. Innerhalb der Selbst-
reflexivität der Philosophie, deren cartesianischen Bannkreis die
Philosophie bis auf Marx nicht verlassen hat, kann dieses Prinzip
alternativ zu den vermittelten Objektivationen des absoluten Geistes
nur im Selbstbewusstsein (dem sich selbst unmittelbar absoluten) ge-
funden werden: »Diese Konsequenz gibt nun erst den wahren Monis-
mus des Geistes, indem sie auf der Einsicht beruht, dass der Prozess
der Geschichte von dem Prozess des Selbstbewusstseins überhaupt
nicht verschieden sein könne. Das Fichtische Ich und das Sollen der
Kantischen Autonomie, dieser kategorische Imperativ, ist also in höhe-
rer Form wiederhergestellt. (00.)«31
Hegels objektiver Idealismus wird zurifckbuchstabiert in den sub-
jektiven Idealismus seiner Vorgänger. Ruges gedrängte programmati-
sche Ausführungen sind die klarste und philosophisch konsequenteste
Formulierung der für alle Linkshegelianer geltenden Ausgangsposition
einer »kritischen Theorie.«32
Es kann hier nicht unsere Absicht sein, die Feldzüge der junghege-
lianischen kritischen Kritik nachzuzeichnen. Zu oft bewegen sie sich
auf Nebenkriegsschauplätzen, und philosophisch bleibt das Niveau
der Kriik, von emotionalem Eifer mehr als von den Anstrengungen des
Begriffs bestimmt, meist soweit unter dem kritisierten Gegenstand,
dass daraus kaum ein theoretischer Gewinn zu ziehen ist. Die Heilige
Familie und die Deutsche Ideologie haben zudem die Kritik der kritischen
Kritik mit polemischem Scharfsinn und grösster Ausführlichkeit vor-
genommen. Wohl aber ist es für die grundlegende Wandlung des Phi-
losophie-Begriffs, die sich im Vormärz vorbereitet und die sich in der
These von der Aufhebung der Philosophie durch ihre Verwirklichung
niederschlägt, von grösster Bedeutung, die Problemstellung zu charak-
terisieren, der sich eine Philosophie gegenüber sah, welche Hegel nicht
ignorierte, sondern ernst nahm.
Zunächst einmal gilt es überhaupt zu verstehen, warum die Hegel-
Kritik sich in der Thematik der Religionskritik entfaltete. 33 In Hegels
Konzept des absoluten Geistes war es ja gerade nicht angelegt, die
Theologie als den geheimen, verborgenen Kern der spekulativen Me-
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 197

taphysik aufzufassen. Eher umgekehrt: Zwar ist der Inhalt der wahr-
haften Religion der absolute Geist 34, aber doch nur in den Formen
des Gefühls, der Anschauung und der Vorstellung35 , also eben nicht
im Modus der Wahrheit, der ja nur dem Begriff zukommt. Die Stufen
des religiösen Bewusstseins werden durch die Philosophie überwun-
den. Das religiöse Gefühl hält sich ganz in der Subjektivität des
Fühlenden und enthält keine Bürgschaft für eine Wahrheit: »Wenn
das Gefühl wahrhaft, echter Natur sein soll, so muss es dieses durch
seinen Inhalt sein; das Gefühl als solches macht ihn aber nicht dazu,
dass er wahrhafter Natur sei.«36 In der Anschauung habe ich zwar
einen Gegenstand, aber mein Selbstbewusstsein ist von ihm getrennt:
»In der Anschauung ist die Totalität des religiosen Verhältnisses, der Ge-
genstand und das Selbstbewusstsein auseinandergefallen. Der religiöse
Prozess fällt eigentlich nur in das anschauende Suljekt und ist in die-
sem doch nicht vollständig, sondern bedarf des sinnlichen, ange-
schauten Gegenstandes. Andererseits ist der Gegenstand die Wahrheit
und bedarf doch, um wahrhaft zu sein, des ausserihm fallenden Selbst-
bewusstseins.«37 Die höchste Form des religiösen Bewusstseins ist
dann die Vorstellung, die die singuläre Anschauung in die Allgemein-
heit des Gedankens überführt. Von ihr heisst es: »Allein was zunächst
den Inhalt für sich betrifft, so gilt dieser in der Vorstellung als ein Ge-
gebenes, von dem nur gewusst wird, dass es so ist.«38 Dazu bemerkt
Hegel in der Vorlesung von 1821: »Vernunft ihrer Form und Noth-
wendigkeit nach nichts Gegebenes. (...)«39 - und das kann doch nichts
anderes bedeuten, als dass die religiöse Vorstellung in der reflexiven
Bewegung des Begriffs aufgelöst werden muss. 411 Hegels Religionsphi-
losophie ist Religionskritik, der spekulative Inhalt der Religion ist nicht
mehr Religion, sondern Philosophie, das heisst Begriffvom Absoluten:
»So ist es, dass sich die Vorstellung in die Form des Denkens auflöst,
und jene Bestimmung der Form ist es, welche die philosophische Er-
kenntnis der Wahrheit hinzufügt.«41
Hegels Wortlaut scheint zweideutig zu bleiben. Wird Religion
durch Philosophie überwunden als eine unreife Vorstufe begrifflicher
Wahrheit und muss als ihr eigentlicher spekulativer Inhalt, der erst in
der Philosophie herauskommt, die Weltlichkeit der unendlichen Welt
entdeckt werden? Oder geht die Religion in die Philosophie ein als ein
und derselbe Inhalt, nämlich als Gott, in anderer Form? Kar! Löwith
hat »Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie« in dieser Zwei-
deutigkeit belassen, ja er sieht in der Zweideutigkeit deren wesentlichen
Charakter und den Ursprung der Positionen der Hegel-Nachfolge:
198 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

»Mittels dieser Unterscheidung und Erhebung der Religion aus der


Form des Gefühls und der Vorstellung in die des Begriffs geschieht bei
Hegel die positive Rechtfertigung der christlichen Religion und zugleich
auch ihre Kritik. An die Zweideutigkeit dieser kritischen Unterschei-
dung knüpft alle nachhegelsche Religionskritik an (...) Was aus Hegels
zweideutiger Aufhebung geschichtlich hervorging, war eine entschiedene
Destruktion der christlichen Philosophie und der christlichen Religion.«42
Mir scheint Löwith nur zur Hälfte recht zu haben. Sicher ist Hegels
Sprache, wahrscheinlich auch sein Selbstverständnis zweideutig. Ganz
eindeutig aber ist der philosophische Sinn, den seine Bestimmungen be-
sitzen; Gott wird zu einem Terminus, der äquivalent ist dem prozes-
sualen Totum der Welt und austauschbar mit der Idee des Absoluten in
ihrer ontologischen (nicht theologischen) Bedeutung, die in der Ausar-
beitung einer aus immanenten Gründen entwickelten Konzeption der
Welt gewonnen wird. »Der metaphysische Begriff Gottes ist hier, dass
wir nur vom reinen Begriff zu sprechen haben, der durch sich selbst real ist.
Die Bestimmung Gottes ist also hier, dass er die absolute Idee ist, d.h.
dass er der Geist ist.«43 Dies aber ist die Bestimmung der absoluten
Idee, wie wir sie aus der Wissenschaft der Logik kennen. Sie ist zugleich
Substanz - nämlich als die Objektivität des Ganzen - und Subjekt -
nämlich als das tätige Sichselbsthervorbringen des Ganzen; genau so
wird schon in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes das Thema der
Philosophie angegeben, und die Religionsphilosophie wiederholt den
Topos: »Die mit sich identische Substanz ist die Einheit, die als solche
die Grundlage ist, aber als Subjektivität ist sie das, was sich ewig her-
vorbringt. Dass nur diese Idee die absolute Wahrheit ist, das ist Resul-
tat der ganzen Philosophie; in seiner reinen Form ist es das Logische,
aber ebenso Resultat der Betrachtung der konkreten Welt.«44 In diesen
Sätzen wird das Programm eingelöst, einen spekulativen Begriff der
Religion an die Stelle der vorstellenden Religion zu setzen 45 - und der
Begriff der Religion (gen. obi.) ist nicht mehr Religion, sondern der
Ausweis, warum und wie das Absolute in der Form der Vorstellung als
Religion erscheine. Der Schein-Charakter des Religiösen wird entlarvt,
aber als ein Schein, der einen Grund in der Sache selbst hat. Gott ist die
im Ich werdende Vorstellung der Totalität einer Welt, die in ihrem Pro-
zess der Erfahrung nicht als Totalität gegeben ist. »Gott ist die Bewe-
gung zum Endlichen und dadurch als Aufhebung desselben zu sich
selbst; im Ich, als dem sich als endlich Aufhebenden, kehrt Gott zu sich
zurück und ist nur Gott als diese Rückkehr. Ohne Welt ist Gott nicht
Gott.«46
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 199

Hegels Religionskritik ergibt nur einen Sinn auf dem Boden des
objektiven Idealismus. Das Selbstbewusstsein, das sich im Unterschied
zur Welt konstituiert, ist nicht der transzendentale Grund (Kant) oder
Schöpfer (Fichte) der Einheit der Objektwelt, sondern das Medium, in
dem diese gegenständlich erscheint: »Dies ist die Wahrheit, dass die
Natur, das Leben, der Geist durch und durch organisch ist, dass jedes
Unterschiedene nur ist der Spiegel dieser Idee, sodass sie sich an ihm
als Vereinzeltem darstellt, als Prozess an ihm, sodass es diese Einheit
an ihm selbst manifestiert.«47 Als Spiegel vermag es die Einheit speku-
lativ, in der Bewegung des Begriffs, nicht aber empirisch abzubilden.
Im religiösen Verständnis ist Gott ein Name, der diese Bewegung ab-
kürzt, stillsteIlt und damit unwahr darstellt. Ein spekulatives Verständ-
nis Gottes aber ist das der absoluten Idee, dergemäss »die Natur, das
Leben, der Geist durch und durch organisch ist.«48
Hegels Philosophie blieb insofern der klassischen Metaphysik und
damit auch deren Verwandschaft mit der Theologie nah, als er an der
ontologischen Realität des Allgemeinen festhielt, ja diese in der Kon-
zeption des absoluten Begriffs noch verstärkte. Die Weltgeschichte
und ihre Objektivationen - Staat, bürgerliche Gesellschaft, Bildung
usw. - absorbieren das Individuum als Instanzen aus eigener Mächtig-
keit. Wenn die Kritik an Hegel dem Antrieb entsprang, das System des
Bestehenden wieder in den Fluss des Geschehens und der Verände-
rung aufzulösen, so musste notwendigerweise das kritische Indivi-
duum (als handelndes Subjekt) zum Träger dieser Bewegung werden.
Das Ich bekommt dann die zentrale Stelle für das Verständnis der Welt.
Das gilt ebenso für Feuerbach, der das »Sinnenwesen Mensch« (das in
der Sinnlichkeit primär das Einzelne und seine eigene Einzelheit er-
fährt) an die Stelle der Idee setzt und das Allgemeine zum ideologi-
schen Schein degradiert, wie für Bauer, der das Selbstbewusstsein wie-
der inthronisiert (und dafür den Rückgriff auf Kant und Fichte
benötigt), wie auch für Stirner, der das Weltverhältnis nur noch als sein
eigenes sehen will: »Meine Sache ist (...) alleine das Meinige, und sie ist
kein Allgemeines, sondern ist einzig, wie Ich einzig bin.«49 Kempski
stellt richtig fest, dass sich für Bruno Bauer im Verständnis der Religion
»der Akzent von der absoluten Idee auf das Selbstbewusstsein ver-
schob«50 - und diese Charakterisierung gilt sogar auch für Arnold
Ruge, der den Willen des Bürgers als Ursprung des Staats versteht und
Fichtes Tatkraft in Hegels Spekulation injizieren möchte.
Die Philosophie der Junghegelianer ist der Aufstand der subjekti-
ven Spontaneität gegen die objektiven Vermittlungen des Daseins. Das
200 Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des Absoluten

Ich wird nicht als Schnittpunkt der Beziehungen gedacht, in denen es


- als natürliches und gesellschaftliches Wesen - steht, es ist nicht (wie
bei Hegel) das Medium, in dem das Absolute erscheint, sondern selbst
das Absolute, vom dem alle Wirklichkeit ausgeht und abhängt. Das
Selbstbewusstsein ist der Akt, in dem das Weltlichwerden der Welt als
meine eigene Tat angeschaut wird. Stirner, der darin nur den Junghe-
gelianismus zu seiner absurden Konsequenz weitertreibt, hat diesen
Anspruch des Ich, selber das Absolute zu sein, in extremer Radikalität
formuliert: »Ich bin alles in Allem (...) Ich bin Alles und Nichts (...) Das
>absolute Denken< ist dasjenige Denken, welches vergisst, dass es mein
Denken ist, dass Ich denke und dass es nur durch Mich ist. Als Ich aber
verschlinge Ich das Meinige wieder, bin Herr desselben, es ist nur
meine Meinung, die ich in jedem Augenblicke ändern, d. h. vernichten,
in Mich zurücknehmen und aufzehren kann. Feuerbach will Hegels
>absolutes Denken< durch das übenvundene Sein schlagen. Das Sein aber
ist in Mir so gut überwunden als das Denken.«51
Es ist leicht einzusehen, dass die junghegelianische Hegelkritik kei-
nen Fortschritt über Hegel hinaus, sondern einen Rückschritt zum
vorhegelianischen Idealismus Fichtes darstellt - und das gilt nicht nur
für den erkenntnistheoretischen Subjektivismus der Bauer, Ruge und
Stirner, sondern auch für den anthropologischen Feuerbachs; dessen
Forderung, die Philosophie müsse auf Nichtphilosophie gegründet
werden, ist schon bei Fichte antizipiert: »Leben ist ganz eigentlich
Nicht-Philosophieren. Philosophieren ist ganz eigentlich Nicht-Leben.«52
Vollends der Rekurs auf das Selbstbewusstsein (oder das reine Ich) als
absolute und unmittelbare Instanz, in der alles weltliche Sein konzen-
triert ist, hat sein Vorbild und seine philosophische Begründung in
Fichtes Wissenschaftslehre. Das »Ich an sich« komme im Bewusstsein
vor (sagt Fichte), aber »nicht als Gegenstand der Erfahrung: denn es ist
nicht bestimmt, sondern wird lediglich durch mich bestimmt, und ist
ohne diese Bestimmung nichts, und ist überhaupt nicht ohne sie; son-
dern als etwas über alle Erfahrung Erhabenes.«53 In diesem Ich fallen
Denken und Gedachtes in eins, sie sind dasselbe, und darum gilt: »Das
Ich ist das sich selbst Setzende, und nichts weiter.«54 Wir werden uns
dieser Selbstsetzung »unmittelbar« bewusst, indem wir darauf achten,
unter welcher Bedingung wir der Gegenstände bewusst werden: »Jedes
Objekt kommt zum Bewusstsein lediglich unter der Bedingung, dass
ich auch meiner selbst, des bewusstseienden Subjekts mir bewusst sei
(...) Es gibt ein Bewusstsein, in welchem das Subjektive und das Ob-
jektive gar nicht zu trennen, sondern absolut Eins und ebendasselbe
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 201

sind.«55 Das Selbstbewusstsein aber ist »ein Tun, und absolut nichts
weiter«56, ein actus purus, aus dem die Mannigfaltigkeit der Welt her-
vorgeht: »Ein transzendentaler Idealismus würde ein solches System
sein, welches aus dem freien und völlig gesetzlosen Handeln der Intel-
ligenz die bestimmten Vorstellungen ableitete.«57
Nun erfolgt die Rückkehr zu Fichte bei den Junghegelianern nicht
willkürlich. Wir hatten gesehen, dass Hegel die Wirklichkeit Gottes -
als Vorstellung - in das seine Endlichkeit aufhebende Ich gelegt hatte,
wobei für Hegel in dem Prozess des spekulativen Denkens diese Auf-
hebung gerade im Begreifen der absoluten Idee als Methode geschieht.
Die Theologie indessen, sofern sie auch noch die seelsorgerische
Funktion des Theologen, also ihre praktische Seite im Blick hat, kann
nun diesen Prozess nicht anders als im Selbstbewusstsein des Ich, des
gläubigen Individuums, lokalisieren.
Genau diese Konsequenz hat der Theologe Wilhe1m Vatke gezo-
gen, ein Hegelianer und enger Freund von David Friedrich Strauss. Er
fasste, unter Ausklammerung der Objektivität der absoluten Idee,
Gott als das Prinzip des Selbstbewusstseins. Kempski hat richtig ge-
sehen, dass Bauer bei dieser theologisch einleuchtenden Korrektur Vatkes
an Hegel einsetzt: »Für die reale Befreiung des Selbstbewusstseins
braucht man Gott nicht zu bemühen, wenn man den Menschen als
Menschen ernst nimmt, liegen die Möglichkeiten seiner realen Freiheit
ja in ihm, man braucht nur durch die Kritik sein Bewusstsein zu reini-
gen von dem, was diese Freiheit beschränkt, was den Menschen sich
selbst entfremdet.«58 Damit aber sind, an ihrem problemgeschichtli-
chen Ursprung, die Hauptmotive des Junghegelianismus wie in einem
Nucleus zusammengefasst: Kritik des Bewusstseins als Kritik der Re-
ligion, der Entfremdung, der Ideologie; Rückführung der Bewusst-
seinsgestalten auf das anthropologische Wesen des Menschen. Dass
Bauer die Entmythologisierung des Christentums beginnt, dass bei
ihm die Religionen als Stufen der Selbstentfremdung des Menschen
aufgefasst werden, dass cr das Ende der Philosophie als ein politisches
Ereignis, als Korrelat des Untergangs der bürgerlichen Welt betrach-
tet59 - das macht ihn sozusagen zum Fokus der kritisch-rebellischen
Bewegung, die man als die eigentliche »Philosophie des Vormärz« be-
zeichnen kann.
Marx und Engels haben schon früh darauf hingewiesen, dass
Bauer das in Hegels Philosophie enthaltene Fichtesche Element iso-
liert herausdestilliert und allein dieses aufgenommen habe: »In Hegel
sind drei Elemente, die spinozistische .\"ubstanz, das Fichtesche 5"elbstbewusst-
202 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

sein, die Hegeische notwendig widerspruchsvolle Einheit von beiden,


der absolute Geist. (...) Strauss führt den Hegel auf spinozistischem Stand-
punkt, Bauer den Hegel auf Fichteschem Standpunkt innerhalb des
theoretischen Gebietes konsequent durch.«6o An Feuerbach hatte
Marx über Bauer lapidar geschrieben: »Das Bewusstsein oder Selbstbewusst-
sein wird als die einzige menschliche Qualität betrachtet.«61 Die Rück-
wendung zu Fichte wird bis in den Wortlaut hinein von Marx und
Engels kenntlich gemacht. Heisst es von Bauer »in seiner eigenen
Bewegung vollzog er sodann die Bewegung, welche die Philosophie
des Selbstbewusstseins als absoluten Lebensakt beschreibt« - so ent-
spricht das Fichtes absolutem Anfang: »Die Intelligenz ist dem Idealis-
mus ein Tun, und absolut nichts weiter; nicht einmal ein Tätiges soll man
sie nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas Bestehendes gedeu-
tet wird, welchem die Tätigkeit beiwohne (...) Die Intelligenz (...) ist ein
durch sie selbst und ihr Wesen (...) bestimmtes Handeln«, und von die-
sem Bewusstsein sagt Fichte: »Jeder muss es durch Freiheit in sich
selbst hervorbringen.«62 Und wird Bauers Position folgendermassen
charakterisiert: »Es liegt also im >Begriff< des Begriffs der Persönlich-
keit, >sich selbst beschränkt zu setzen<<< - so hören wir wiederum
Fichte, der sagt: Das Ich »begreift seinen Akt als ein Handeln überhaupt
(...) Jenes Handeln ist eben der Begriff des Ich, und der Begriff des Ich
ist der Begriff jenes Handelns, beides ist ganz dasselbe (...) So gewiss
ich mich setze, setze ich mich als ein Beschränktes (...) Diese meine Be-
schränktheit ist, da sie als Setzen meiner selbst durch mich selbst be-
dingt, eine ursprüngliche Beschränktheit.«63 Hegel hatte das Bewusst-
sein und Selbstbewusstsein des Philosophen als Resultat der
Objektivität dargestellt, die es in seiner (ja nur scheinbaren) unmittel-
baren Absolutheit setzt; die Junghegelianer heben den Inhalt dieser
Vermittlung (die den Inhalt der Wesenslogik ausmacht) wieder auf. Das
gilt nicht nur für Bauer. Marx hat in einem Brief an Ruge, der der Pla-
nung der Deutsch-Franzijsischen Jahrbücher gilt, pauschal den Vorwurf er-
hoben, es sei »eine allgemeine Anarchie unter den Reformern ausge-
brochen.«64 Und wenn der alte Engels im Rücklick auf jene Tage des
Vormärz Stirner als den eigentlichen Vater des Anarchismus nennt,
ohne dessen Prinzip des Einzigen Proudhons »harmlose, nur etymolo-
gische Anarchie« nie von Bakunin zur Doktrin der Tathandlung fort-
entwickelt worden wäre,65 so zielt auch er auf den individuellen Sub-
jektivismus, der das gemeinsame Merkmal der >>undankbaren Söhne
Hegels«66 war. Heine hat mit Recht die philosophische Inanspruchnahme
Fichtes für diesen Subjektivismus zurückgewiesen; denn »das Fichte-
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 203

sche Ich ist kein individuelles Ich, sondern das zum Bewusstsein ge-
kommene allgemeine Welt-Ich. Das Fichtesche Denken ist nicht das
Denken eines Individuums C...); es ist vielmehr ein allgemeines Denken,
das sich in einem Individuum manifestiert.<P Der Transzendentalis-
mus Fichtes wird von den Junghegelianern ganz unbekümmert anthro-
pologisiert; bei ihnen sind das Selbstbewusstsein und das Ich das
jeweils individuelle, private, vereinzelte des jeweils denkenden Philo-
sophen, ein »Dieses-da« und keineswegs selbst ein Allgemeines. So
musste ihnen auch die Geschichte, in deren Name sie gegen Hegel ange-
treten waren, wieder entgleiten, weil sie die geschichtliche Wirklichkeit
nur in ihrem eigenen Kopfe, als ihre persönliche »theoretische Revolu-
tion« finden konnten. 68 Feuerbach hat das wohl gesehen und am reli-
giösen Selbstbewusstsein durchschaubar gemacht, aber auch er hat die
Anwendung seiner I<ritik auf das säkularisierte, anthropologische Ich
nicht beachtet: »Mit der Erscheinung einer Gottheit in einer bestimm-
ten Zeit und Gestalt ist an sich schon die Zeit und der Raum selbst auf-
gehoben, und es lässt sich daher nichts weiter erwarten als das lvirkliche
Ende der Welt. Geschichte lässt sich nicht mehr denken: sie ist zweck-
und sinnlos; Inkarnation und Historie sind absolut unverträglich miteinan-
der; wo die Gottheit selbst in die Geschichte eintritt, hört die Ge-
schichte auf.«69 Nun tritt aber von Bauer bis zu Feuerbach das indivi-
duelle Ich, der wirkliche Mench an die Stelle Gottes, und in ihm hebt
sich der Gang der Geschichte auf, sobald er aus seiner Entfremdung in
sich selbst, d. h. in sein individuelles Selbstbewusstsein, zurückgekehrt
ist. Die religiöse Ahistorizität schlägt um in eine anthropologische.
Ruge hat diese Antinomie erkannt, aber nicht auflösen können. »Das
Absolute erreichen wir nur in der Geschichte, in ihr wird es aber auch an
allen Punkten erreicht, vor und nach Christus; der Mensch ist überall in
Gott, die letzte historische Form aber der Form nach die höchste und
die Zukunft die Schranke alles Historischen.«7o Das Historische, das
nicht in der Gattungsgeschichte wirklich wird, gerinnt zur eschatologi-
schen, soteriologischen Zeitlosigkeit des hier und jetzt absolut Gewor-
denen; es ist zukunftslos. Was dann bleibt, um die Historizität wieder-
zugewinnen, ist nur die Kritik, die Destruktion des Bestehenden.
Schon die Junghegelianer haben Hegel auf die »negative Dialektik« re-
duziert71 und ihn damit der Härte des Begriffs beraubt, aus der allein
politische Konsequenzen zu schöpfen gewesen wären. Was bleibt, ist
das immer wieder neue Umwälzen der Theorie und deren Privatisie-
rung. »Der Umgestaltungsakt der Gesellschaft reduziert sich auf die
Hirntätigkeit der kritischen I<ritik.«72 Hier kann man die Schluss folge-
204 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

rung vorwegnehmen: Die Politik wird literarisiert (statt die Literatur


politisiert) - und eben dies ist der Grund, warum sich Marx und Engels
nicht nur von den Junghegelianern trennten, sondern sich polemisch
gegen sie wendeten. Das Stichwort ist: Phrase. »Die junghegelianischen
Ideologen sind trotz ihrer angeblich >welterschütternden< Phrasen die
grössten Konservativen. Die jüngsten von ihnen haben den richtigen
Ausdruck für ihre Tätigkeit gefunden, wenn sie behaupten, nur gegen
Phrasen zu kämpfen. Sie vergessen nur, dass sie diesen Phrasen selbst
nichts als Phrasen entgegensetzen, und dass sie die wirkliche beste-
hende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser
Welt bekämpfen.«73
Wir haben die junghegelianische kritische Philosophie bisher
gleichsam im Spiegel ihrer Antithesen gezeigt: Zum ersten im Blick auf
HegeI, der durch eine Kritik überwunden werden soll, die sich des
Rückgriffs auf Fichte bedient - ein Vorgang, der sich von da an wie-
derholen wird; das transzendentale Ego Husserls, die sich selbst schaf-
fende Existenz Sartres sind Varianten desselben Musters. Zum zweiten
lies sen wir die Junghegelianer in dem Bilde erscheinen, das die Polemik
von Marx und Engels von ihnen entwirft. Dieses Verfahren hat seinen
guten Grund. Die philosophische Substanz der Strauss und Bauer,
Ruge und Stirner ist in der Tat so dünn, so sehr aus zweiter Hand be-
zogen und zugleich so verworren entwickelt, dass eine Darstellung
ihrer Positionen zu einem langweiligen und unergiebigen Geschäft
werden würde. Karl Löwith, der sich dieser Mühe unterzogen hat, er-
zeugte die Spannung, die seinen Studien zum »revolutionären Bruch im
Denken des 19. Jahrhunderts«74 eignet, aus den Eckpunkten des Drei-
ecks Hegel-Marx-Nietzsche, auf die die auctores minores bezogen
werden. Der Vormärz ist eine Zeit der Gärung - »die Gärung ist gross«,
heisst der Refrain eines Nestroy-Couplets -, nicht eine der Reife; das
gilt auch für die Frühschriften von Marx und Engels, obschon in ihnen
die Umrisse des späteren Werks schon hervortreten.
Die politische Gärung dauert bis 1848, bis dahin reicht die Periode
des Vormärz. Aber im Innern der geistigen Strömungen, die die Fer-
mente dieser Gärung waren, hatte der Zersetzungs prozess schon
längst begonnen. Das Erscheinen der Deutsch-Franziisischen Jahrbücher,
die Ruge und Marx noch als Herausgeber vereinten, ist zugleich schon
das Signal für die Trennung bürgerlich-liberaler und revolutionärer
Theorie. Die beiden Abhandlungen, die Marx dort 1844 veröffent-
lichte - ZurJudenfrage und Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie75 - geben
der kritischen Dialektik eine neue Wendung.
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 205

Bis dahin hält Marx sich in den Grenzen des vormärzlichen Jung-
hegelianismus.7 6 Zwar äussert er sich schon als Redakteur der Rheini-
schen Zeitung in sarkastischer Weise kritisch über die Berliner Stamm-
tischrunde, und aus dem Sarkasmus leuchtet schon die spätere
wissenschaftliche Akribie und das Gespür für ideologische Verkehrun-
gen hervor: »Ich fordere auf, weniger vages Räsonnement, grossklin-
gende Phrasen, selbstgefällige Bespiegelungen und mehr Bestimmt-
heit, mehr Eingehen in die konkreten Zustände, mehr Sachkenntnis an
den Tag zu fördern C...) Ich begehre dann, die Religion mehr in der Kri-
tik der politischen Zustände, als die politischen Zustände in der Reli-
gion zu kritisieren, da diese Wendung mehr dem Wesen einer Zeitung
und der Bildung des Publikums entpricht, da die Religion, an sich in-
haltslos, nicht vom Himmel, sondern von der Erde lebt, und mit der
Auflösung der verkehrten Realität, deren Theorie sie ist, von selbst
stürzt.«77
Dabei geht es deutlich um Qualitätsfragen. Dessenungeachtet
bleibt seine eigene Argumentationsstrategie auf der Linie der linken
Hegelianer. In einer Entlarvung des philosophischen Widersinns der
historischen Rechtsschule, die ein Feuerwerk ironischer Inversionen
abbrennt, wird der reaktionäre Sinn des bloss Positiven so artikuliert,
dass Hegels Gleichung von Vernunft und Wirklichkeit gleichsam im
Umkehrungsverfahren ihre kritische Bedeutung zeigt. So heisst es von
Gustav Hugo, dem Verfassr eines Lehrbuchs des Naturrechts, das als
»das alte Testament der historischen Schule« zu gelten habe: »Er sucht
daher keineswegs zu beweisen, dass das Positive vernünftig sei; er sucht zu
beweisen, dass das Positive nicht vernünftig sei. C.•.) Wäre die Vernunft der
Masstab des Positiven, so wäre das Positive nicht der Masstab der Vernunft.«78
Der letzte Satz ist Ehrenrettung und Restitution Hegels.
Der Ton dieses Aufsatzes passt ganz in den Stil der junghegeliani-
schen Polemiken - und in gewissem Sinne gilt das auch noch für die
Heilige Familie und die Deutsche Ideologie. Der Inhalt ist indessen präziser,
die Pointen sind zugespitzter. Das Phrasenhafte der Bauersehen Er-
güsse fehlt ganz. Das Fazit wird wie ein ironisches Dictum gezogen: Es
geht um »das Recht der willkürlichen Gewalt.«79
Das ist prägnant und die Ableitung philosophisch und unterschei-
det sich von dem lamentierenden und bramarbasierenden Ton der
Bauerschen Streitschriften. Die institutionelle Wirklichkeit der Verge-
sellschaftung der Individuen, die Dialektik von »Freiheit und Ord-
nung«,80 wird von »Bauer und Konsorten« über dem Selbstverwirkli-
chungsdrang des abstrakten Ich vergessen. Einzig Tribut gezollt wird
206 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

»dem schwellenden, drängenden subjektiven Pathos vom Standpunkt


der Freiheit, d. h. der absoluten und freien Subjektivität, um deren Reali-
sierung und Objektivierung es sich denn doch einzig handelt.«81 Das
schreibt Ruge, der doch noch der besonnenste und am meisten poli-
tisch denkende Kopf der Junghegelianer ist. Und in demselben Brief
ergänzt er dieses Bekenntnis: »Das Geschrei nach Subjektivität und
Persönlichkeit ist der dunkle Drang und das Gefühl, dass die Objekti-
vität des Geistes der tote Geist (...) ist, dem das freie Subjekt, dem die
Kinder Gottes mit ihrem absoluten Inhalte geopfert werden. Nicht die
Ordnung ist der Zweck, sondern das Subjekt, und zwar das Subjekt mit
dem absoluten Inhalt, das freie Subjekt. (...) Hegels Organismus ist nun
aber der starre, und sowohl das Ausschliessen des Sollens der Kritik (...)
als auch die Anerkennung des objektiven Geistes, als des Zwecks, dem
Subjekt gegenüber.«82
Da wird die Reflexion ganz und gar der Empfindung, die Vermitt-
lung der Spontaneität geopfert. Die Dialektik bleibt auf der Strecke
und wird nur noch in der verkürzten Form der Negation in Gang ge-
halten - als kritische Theorie, die sich selbst schon als Tat versteht und
verstehen muss, weil das politische Tun des sich auf sich selbst als »ab-
soluten Inhalt« beschränkenden Einzelnen nur verbal sein kann.
Die Themen und Materialien einer Philosophie, die den Systeman-
spruch der klassischen Metaphysik negiert, sind bei den Junghegelia-
nern schon da: der wirkliche Mensch - und nicht nur der Begriff des
Menschen; seine wirklichen Gedanken, gespeist aus seinen sinnlichn
Erfahrungen - und nicht das Denken an sich; die bürgerliche Gesell-
schaft, die Arbeit als Selbsterzeugung und Selbstbefreiung des Men-
schen und als Aneignung von Welt; die Entfremdung; die Bildung und
Humanität; die Kritik der Religion. Die Themen allerdings sind nicht
neu, sie kommen allesamt schon in Hegels Philosophie vor - in der
Phänomenologie des Geistes, in der Rechtsphilosophie, in der Religionsphiloso-
phie. Auf diese drei Werke bezieht sich auch vor allem die Kritik der
Junghegelianer.8 3 - das Systemkonstrukt der En?Jklopädie, die strenge
Methodik der Wissenschaft der Logik, denen gegenüber sich eine Hegel-
Kritik eigentlich bewähren müsste, sind kein Schlachtfeld für die kriti-
schen Feldzüge der Rebellen. Man mag daran sehen, dass es ihnen
nicht um die philosophische Form ging, in der sich die Widerspiege-
lung der Wirklichkeit vollzieht, auch nicht um das Widerspiegelungs-
verhältnis, in dem Wirklichkeit und Bewusstseinsabbildung zueinan-
der stehen, sondern um die abstrakte Anwendung der Philosophie;
d. h. es ging ihnen nicht um die Reflexion des Wissens, sondern um
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 207

den unmittelbaren Zugriff auf die Wirklichkeit - wobei ganz hege-


lisch die Gestalten des »objektiven Geistes«, Religion, Bildung, Wis-
senschaft, als Momente dieser Wirklichkeit gelten. Marx wird dann in
der Methode der Kritik der politischen Ökonomie zeigen, dass der Aber-
glaube, Wirklichkeit sei unmittelbar aufzufassen, selbst schon ein ideo-
logisch vermitteltes und verzerrtes Wissenschaftsverständnis darstellt
und dass an Hegels Analyse der Reflexion kein Weg vorbeigeht. Die
HegeIsche Logik ist, wie Lenin dann feststellt, die Voraussetzung für
die Logik des Kapitals.
Doch dahin ist es noch ein weiter Weg. An seinem Anfang steht die
Forderung nach der Aufhebung der Philosophie. Arnold Ruge war es,
der diese Forderung aus Hegel selbst herleiten wollte, Bruno Bauer
geht ähnliche Wege. Löwith fasst Ruges Argumentation zusammen:
»In Hegel haben die Menschenrechte ihr philosophisches Selbstbe-
wusstsein erreicht, und die weitere Entwicklung könne nichts anderes
als dessen Verwirklichung sein (...) Die Aufgabe des fortschreitenden
Geistes der Zeit ist daher: Hegels Philosophie mittels der dialektischen
Methode von sich selbst zu befreien, (...) indem sie den noch beste-
henden Widerspruch zwischen dem >Begriff< und der >Existenz< durch
theoretische Kritik und praktische Revolution beseitigt.«84 Das ist eine
recht gut Charakterisierung des vormärzlichen, »aufgeregten« Den-
kens. »Kritik« ist dessen grosses Stichwort - aber wir sollten im Ge-
dächtnis behalten, dass die »Kritik der kritischen Kritik« das Pathos der
Kritik mit dem negativen Index »Phrase« versehen hatte. In der Kom-
bination beider deutet sich auch die Bedeutungsverschlechterung von
»Kritik« an: Bei Kant war der Terminus im Titel der drei »Kritiken«
noch als theoretischer Gattungsbegriff gemeint: Untersuchung eines
Sachgebietes in der Form unterscheidender Bestimmung der ihm zu-
kommenden Eigenschaften, also auch Grenzziehung und Zurückwei-
sung von Kompetenzüberschreitungen. Schon bei Kant war der Aus-
druck allerdings missverständlich, wie Herders Metakritik zeigt; denn
für Herder schliesst Kritik eine zustimmende oder ablehnende Bewer-
tung ein, einen »Richterspruch.«85 In der nachhegeIschen Zeit - und
wohl unter dem Einfluss der HegeIschen Dialektik, die die Macht des
Negativen so hoch für den Fortschritt einschätzte - bekommt dieser
richtende Aspekt von Kritik mehr und mehr den Akzent des Verurtei-
lens, statt des Urteilens; so in J. E. Erdmanns Versuch einer wissenschaftli-
chen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie von 1834. Kritisieren
wird zu einem destruktiven Tun, Kritik wirkt entlarvend und wird in
dieser Konnotation sozusagen identisch mit Ideologiekritik, die eben-
208 Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des Absoluten

falls (nach Vorläuferschaft in der Aufklärung) ein Produkt des Vor-


märz ist. So liegt der Umschlag von der Kritik als theoretischem Tun
- Destruktion eines geistigen Gehalts - zur Kritik als Praxis - De-
struktion wirklicher Verhältisse - in der Tendenz der Junghegelianer,
ihre Theorie selbst schon als wirkliche Praxis, ihre »Hirn tätigkeit« als
revolutionäre Tat aufzufassen. Ruge hat in diesem Sinne, von der »ob-
jektiven Kritik« gesprochen, welche der Fortgang der Geschichte
selbst, der historische Prozess als Negation des Bestehenden ist. Von
hier ist der Übergang zu Marx' Diktum, dass die Waffen der Kritik
nicht die Kritik der Waffen ersetzen könnten, naheliegend.8 6 Die ma-
terielle Gewalt wird von Marx unter den Topos Kritik subsumiert. Das
ist ganz und gar aus dem Geiste des Junghegelianismus, aber über die-
sen hinaus gedacht. Philosophie als Kritik wird verwirklicht, wenn die
Kritik zur Tat wird; in der Tathandlung aber wird die Kritik als Philo-
sophie aufgehoben. Bei Marx blitzt, wie wir später sehen werden, in
den weiteren Sätzen an dieser Stelle der dialektische Charakter der
Einheit von Theorie und Praxis auf und wird bald genauer bestimmt
und ausformuliert werden. Die Philosophen des Vormärz indessen
lassen den Umschlag, weil sie ihn noch als metabasis eis allo genos, als
Übersprung aus dem Reich des begrifflichen Allgemeinen in des gat-
tungsverschiedene Reich der individuellen Tat verstehen und also
nicht praktisch »konstruieren« können, nur rhetorisch geschehen.
Heinrich Heine hat dieser Rhetorik die Metapher ihrer Selbstaufhe-
bung ins Stammbuch geschrieben:

Dem Konsul trug man ein Beil voran


Zu Rom, in alten Tagen.
Auch du hast deinen Liktor, doch wird
Das Beil dir nachgetragen.
Ich bin dein Liktor, und ich geh
Beständig mit dem blanken
Richtbeil hinter dir - ich bin
Die Tat von deinem Gedanken.
2. Kapitel:
Feuerbachs anthropologischer Materialismus

1. Die Substantialität der Natur im Herzen der Geistphilosophie

Es war nicht die allzu offensichtliche Hegelkritik der Junghegelianer,


die den entscheidenden Anstoss zu einer Strukturveränderung der He-
gelschen Dialektik gab. Das Unbehagen an der »Positivität« der Hegel-
schen Philosophie - vielleicht weniger durch Hegel selbst als durch
seine konservativen Nachfolger ausgelöst! - hat den philosophischen
Umbruch vorbereitet, indem es Bruchstellen in dem Verhältnis von Sy-
stem und Wirklichkeit artikulierte. Aber der kritische Impuls der Jung-
hegelianer hätte nicht ausgereicht, um der philosophischen Stringenz
Hegels eine Alternative entgegenzusetzen.
»Da kam Feuerbachs Wesen des Christentums. Mit einem Schlage
zerstäubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Um-
schweife wieder auf den Thron erhob. Die Natur existiert unabhängig
von aller Philosophie, sie jst die Grundlage, auf der wir Menschen,
selbst Naturprodukte, erwachsen sind; ausser der Natur und den Men-
schen existiert nichts, und die höheren Wesen, die unsere religiöse
Phantasie erschuf, sind nur die phantastische Rückspiegelung unseres
eigenen Wesens. Der Bann war gebrochen, das >System< war gesprengt
und beiseite geworfen, der Widerspruch war, als nur in der Einbildung
vorhanden, aufgelöst. - Man muss die befreiende Wirkung dieses Bu-
ches selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen.«2
Diese noch nach 45 Jahren enthusiastische Äusserung des alten Engels
lässt erkennen, dass Feuerbach als eine philosophische Wende erlebt
wurde. An die Stelle der Idee tritt die Natur, und das Gelenk, das die
ideelle Welt mit der natürlichen verbindet, ist das sinnliche, naturhafte
Wesen Mensch, der kraft seines Reflexionsvermögens sich selbst in
ideelle Gebilde projiziert. Naturalismus und Ideologiekritik werden aus
einem und demselben Prinzip ableitbar, sobald nur dem Selbstbewusst-
sein die leibliche sinnliche Materialität des Menschen als Naturwesen
substituiert wird. Der Begriff war nun wieder der Begriff von einem
begriffenen Substrat und nicht eine metaphysische Entität mit speku-
lativem Eigenleben.
210 Die Kritik der Hegeischen Konstruktion des Absoluten

Die Erinnerung von Engels bezeichnet einen historischen Ein-


schnitt. Problemgeschichtlich setzt die philosophische »Kehre«, die
sich mit Feuerbachs Denkansatz verknüpft, mit seiner Abhandlung Zur
Kritik der Hegeischen Philosophie 1839 ein und wird weitergeführt in den
Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie 1842 und den Grundsät-
zen der Philosophie der Zukunft 1843 3 . Das Wesen des Christentums 1841 fallt
mitten in diese Periode und geht an philosophischer Programmatik
nicht über die genannten kleineren Schriften hinaus; indessen machte
die religionskritische Atmosphäre bei den Junghegelianern gerade
diese Schrift zum Schlüsselerlebnis, ungeachtet ihrer philosophischen
Mängel, die Engels beim Namen nennt'!, und die sich in den kleineren
Schriften wie auch in den vorhergehenden philosophiehistorischen Ar-
beiten nicht finden.
Um die Feuerbachsehe Wende in der Problemstellung der Philoso-
phie nach Hegel richtig einzuschätzen, ist es nützlich, auf seine Erlan-
ger Vorlesungen über Logik und Metaphysik von 1830/31 zurückzu-
gehen, die noch ganz auf dem Boden der HegeIschen Systematik
bleiben, jedoch schon Richtungsweiser für die späteren Lösungs-
ansätze der auf diesem Boden entspringenden Probleme enthalten. 5
Der Aufbau dieser Vorlesungen folgt im wesentlichen dem Gang der
HegeIschen Wissenschaft der Logik. Allerdings deuten sich schon in der
Einleitung Akzentverschiebungen an, die als Vorzeichen für die spätere
Entwicklung Feuerbachs genommen werden dürfen. Zunächst heisst
es: »Die hegelisehe Logik ist das Organ der Philosophie selbst. (00')
Ohne Studium und Erkenntniss der Principien der hegelischen Philo-
sophie ist gar keine Philosophie möglich.«6 Doch dann folgt die Ein-
schränkung, »dass ich diese Logik zwar lehre in der Bedeutung der Phi-
losophie, aber nicht in der Bedeutung der höchsten Philosophie, (00')
sondern als die, die einen leeren Raum in sich hat, einen freien Platz, in
welchem leeren Raume die Elemente werdender, neuer aus der Logik
sich entwickelnder Philosophie einstweilen nur wie die Atome des De-
mokrit und Leucipp sich bewegen.«7
Wie sich die zufällig umherschwirrenden Elemente einer neuen
Philosophie ordnen werden, ist hier noch nicht gesagt. Deutlicher
zeichnet es sich dann ab in den Erörterungen über Natur und Sub-
stanz 8, die mit den Äquivokationen des Naturbegriffs spielen 9 : Natur
als Wesenskern von etwas und Natur als das Ganze der äusseren Welt
(im Unterschied zum Geiste). Im einen Fall meint Natur, »dass einer
ist, wie er ist« und »nicht unterschieden zwischen seinem Wesen und
seinem Äussern, (00') innere Nothwendigkeit«. So ist die Natur »die
Feuerbachs anthropologischer Materialismus 211

erste, unzertrennlichste Einheit eines Prädicats, einer Bestimmung,


eines Unterschiednen mit dem Subjekt«. Und dies gilt nun ebenso
sehr von der Natur = Wesen eines bestimmten Seienden wie auch
von der (spinozistischen) Natur als dem Einen und Ganzen der Welt.
Der Umschlag von dem Gegenstandsbegriff der Weltnatur in den
Reflexionsbegriff der Wesensnatur wird von Feuerbach ausdrücklich
vollzogen und aus dem Bewusstseinsverhältnis hergeleitet: »Das Be-
wusstsein unterbricht diese Einheit und Nothwendigkeit, die das
Wesen der Natur ausmacht.«10 Und daraus folgt nun eine metaphysi-
sche Wendung, von der aus der Weg zum späteren Materialismus
Feuerbachs gangbar wird: »Die Natur ist, weil sie ist, der Geist ist,
weil er will; (00') das Sein der Natur ist mit ihr identisch, ihr Sein ist
desswegen mit ihrem Wesen identisches, und darum noth1J/endiges Sein,
das Sein des Geistes ein freies, denn der Geist unterscheidet sich
selbst von seinem Sein, und durch diesen Unterschied ist sein Sein ein
freies, ein gewolltes Sein. Die Natur handelt, bewegt sich, bestimmt
sich, ist thätig, wie sie ist, nach ihrem Sein, sie hat kein Muster, keine
Idee, ihr Maass, ihr Muster ist ihr Sein, welches ihre durchgängige Be-
stimmung ist. Die Pflanze blüht, trägt Früchte, breitet sich aus, aber
ist so und so beschaffen, aber nothwendig, alles, was sie thut, ist iden-
tisch mit ihrem Sein und Wesen; sie muss, aber ihr Muss ist ihre Natur,
es ist kein Zwang, kein Andres, das ihr diese Nothwendigkeit aufer-
legt.«ll
Gegen einen kantianischen Begriff von Natur als Ganzes der im
Kausalnexus verbundenen Phänomene erneuert Feuerbach den spino-
zistischen Naturbegriff, der dem Bewusstsein, das >in< der Natur als
deren Reflexionsgestalt ist, vor- und übergeordnet sein muss. »Das ist
eine sehr kahle Anschauung der Natur, von einem Bedingten zu einer
Bedingung, von dieser wieder zu einer andern fortzugehen; nicht blos
der Wille unterbricht den Causalnexus, sondern auch das 'W'esen schon,
die Natur der Natur. Denn auch das Wesen der Natur und zwar einer
bestimmten ist ein Unbedingtes, ein Punkt, der wie der Wille, von sich
selbst anfängt, aber freilich anders als der Wille. Abstrahiren wir nun
von dem bestimmten Beispiel, von der Pflanze, und heben wir von der
Natur nur die Natur, die reine göttliche Natur heraus, so haben wir den
Begriff der Substanz. Der Begriff der Natur der Natur stellt auch die
Seele dar, die man unterscheiden muss von der Freiheit, Wille. Gott,
das Absolute, Unendliche ist Substanz, absolute reine Natur.«12 Gewiss
lässt sich diese Passage noch >objektiv-idealistisch< interpretieren, aber
sie zeigt die Nahtstelle, an welcher sich der Übergang zu einem natura-
212 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

listischen Materialismus vollziehen lässt. 13 Wenn die Substanz-Natur


nur eine und an sich selbst alles und das Ganze ist und doch als tätige
und wirkende gedacht werden muss, um die Bewegung und Verände-
rung in der Welt zu begründen, so kann diese Tätigkeit nur eine in-
terne innerhalb der Natur-Substanz selbst sein. »Die Substanz ist, als
absolute Wirklichkeit, wirklich nur als wirkend; (...) die Substanz ist
nur wirklich in ihren Accidenzen, sie ist ewig wirkend, ihre Wirkung
sind die Accidenzen, aber die Accidenzen als Zugleich und Ein Zu-
sammen sind die Substanz selbst, (...) was sie bewirkt, fällt bestandlos
wieder in sie selbst hinein und zurück.«14 Diese Darstellung tendiert
auf die Konzeption eines materiellen Gesamtzusammenhangs, wie er
später von Engels gedacht wird. 15 Aber Feuerbach bleibt zunächst
spinozistisch-hegelisch: Die in sich selbst zurückfallende Bewegung
(agere in seipsum) ist verschwindende Bewegung, weil sie in der Identität
des Bewegten mit sich selbst endet und an dessen So-sein nichts än-
dert. »Die Substanz ist daher (...) in starrer, verschlossner Bewe-
gungslosigkeit, (...) so verschwindet eben damit auch die Thätigkeit,
sie sinkt unmittelbar, ungetrennt, zugleich in bewegungslose Ruhe
zurück, die Substanz bleibt nur in sich; (...) die Thätigkeit der Sub-
stanz ist nur ein Schein.«16 Ganz in der Manier Hegels, aber in der
Sache doch sehr anders als er, wird die Aufhebung des Scheins an die
wirkliche Teilung der Substanz (eine ontische dihairesis statt einer logi-
schen) gebunden: »Dieser Schein hebt sich nur dadurch auf, Schein zu
sein, dass wirklich und wahrhaftig gesetzt wird, wovon es nur Schein
ist, dass die Substanz sich wirklich zertheilt, und trennt, dass die Sub-
stanz wirkliche Ursache werde, die aus sich die Wirkung heraus-
lässt.«17 Mit der Teilung der Substanz in wirkliche (= wirkende) Sei-
ende, tätige Substanzen (im Plural) entsteht eine Wechselseitigkeit des
Wirkens; die Kausalität ist nur eine Zwischenphase im Zusammen-
hang der Wechselwirkungen. »Erst hier ist das wahre Verhältniss ge-
setzt, denn beide Seiten des Verhältnisses sind selbst das ganze Ver-
hältniss, so dass Dasselbe in Wahrheit nur mit sich selbst im Wechsel
ist.«18 Dies ist sozusagen die leibnizianische Auflösung der eleatischen
Aporie des Spinozismus. In Übereinstimmung mit Leibniz und Hegel
nennt Feuerbach dieses Selbstverhältnis Geist.
Feuerbach verfahrt hier in einer Weise, in der die Destruktion des
HegeIschen Systemkonstrukts schon angelegt ist. Er projiziert die on-
tologische Begriffsebene der HegeIschen Bestimmungen auf die
Ebene der ontischen Realität. Das heisst, er nimmt den realistischen
Anspruch der HegeIschen Logik unmittelbar wörtlich und interpretiert
Feuerbachs anthropologischer Materialismus 213

kategoriale Verhältnisse als substantiale Relationen. Während bei


Hegel sich die Substantialität in das absolute Verhältnis auflöst und ein
Verhältnis nur in der Form des Begriffs gegeben ist (sodass die Wesens-
logik in den Begriff übergeht19), schlägt bei Feuerbach das absolute Ver-
hältnis der wechselwirkenden tätigen Substanzen wieder zurück in die
eine »Substanz selbst, (...) die ihre Wirkung von sich ausscheidet und
abtrennt, d. h. gegenständlich setzt, aber ebenso diese gegenständliche
Wirkung selbst ist, kurz Dieses (...) ist der Begriff überhaupt des Gei-
stes, der Freiheit, der Subjektivität.«211 So erhält Feuerbach als Resultat
dieser Bewegung nicht den Begriff, sondern einen Begriff der Substanz,
dessen Wesensnatur es ist, Geist zu sein. 21 Damit aber werden nun in
der Tat alle Gedankenbestimmungen, die Hegel als solche des Systems
der Begriffe entwickelt, ohne weitere Vermittlungen als solche des
Reichs der Wirklichkeit interpretiert, welche Wirklichkeit dann nur
noch die des Geistes sein kann, die die Natur unter sich subsumiert.
Der eigentliche spekulative Sinn der Hegelschen Methode wird damit
preisgegeben und als spekulativ nicht mehr die Spiegelung der Wirklich-
keit, sondern die Hinnahme des Spiegelbildes als die Sache selbst be-
zeichnet.
Die Verschiebung im Gebrauch des philosophischen Terminus Spe-
kulationwar ausschlaggebend für die weitere Problem entwicklung. Was
sich hier bei Feuerbach aufzeigen lässt, ist charakteristisch für einen
Perspektivenwechsel, der die gesamte nachhegelsche Philosophie be-
trifft. Die mehrschichtig komplexen Vermittlungen zwischen Begriff
und Wirklichkeit bei Hegel werden auf den Dualismus von Selbstbe-
wusstsein und Natur und damit auf die durch die Namen Fichte und
Spinoza bezeichneten Paradigmata reduziert.
Wir haben gesehen, dass Feuerbach Hegels Substanzbegriff, der
als ein substantielles Verhältnis oder Reflexionsprodukt22 gedacht ist,
wieder auf die spinozistische Substanz als Entität (ens a se) zurück-
brachte. Damit band er sich das Problem auf, wie aus der Unendlich-
keit des Einen Seins der Substanz die konkrete Bestimmtheit der Sei-
enden hervorgehe. Die Bestimmung rückt das einzelne Seiende aus
dem All-Ganzen als Teil-Moment heraus. »Ein bestimmtes Sein ist
nothwendig (...) nicht alles, nicht reines Sein, volles Sein, als bestimm-
tes ist es ein beschränktes, als beschränktes ein beraubtes Sein. Be-
stimmung ist Schranke, Schranke Beraubung, Negation, ein Nicht.«21
Jede Bestimmung oder Definition ist Verneinung des durch die Defi-
nition vom Definierten Ausgeschlossenen. Das ist Spinozas Prinzip
omnis determinatio est negatio. Die >Ent-Grenzung<, Aufhebung der Be-
214 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

stimmtheit, also Verneinung der Verneinung führt auf einen metho-


disch (und nicht nur intuitiv) zu gewinnenden Begriff des Unendli-
chen. Darin sieht Feuerbach eine grosse Leistung Hegels: »Der Be-
griff des Unendlichen, der Affirmation als der Verneinung der
Verneinung ist einer der wichtigsten und fruchtbarsten Begriffe in
der hegeIschen Philosophie; aber Hegel hat es übersehen, im Sein
selbst schon diese Bestimmung zu erkennen, oder wenigstens her-
vorzuheben, er betrachtet es nur als einfache Abstraktion, als einfache,
abstrakte, nicht wahrhafte Verneinung.«24 Seine kritische Anmerkung
soll über Hegel hinausführen. Der Begriff der Unendlichkeit wäre die
schlechthinnige Verneinung aller Grenzen = Verneinungen - aber
eben nur als Gedanke, in der Form eines logischen Prinzips. Das
reine Sein dagegen ist, nach Feuerbachs Argumentation, nicht durch
die Negation aller Bestimmungen bestimmt, sondern gegeben »als das
Nichts aller Bestimmungen« vor jedem Bestimmungsakt, aber in die-
sem vorausgesetzt als das Sein, das sich zum So-sein bestimmt. Feu-
erbach möchte also das HegeIsche Verfahren umdrehen und das Ab-
solute nicht durch Negation der Negation, sondern als absolute und
unhintergehbare Position, als reine (unbestimmte) Positivität gewin-
nen. »So unterschieden die Art des Seins ist, welche Art vom Inhalt
abhängt, so löst sich doch wieder zuletzt auf diese Artenverschie-
denheit in die einfache Unmittelbarkeit des Seins.«25 Diesem mängel-
losen und damit auch qualitätslosen Sein wohnt nun per se die Ten-
denz zur Bestimmung inne, denn um zu sein, muss es Seiendes sein
oder Etwas sein. »Das Sein selbst als Sein ist ein Mangel aller Bestim-
mungen; es ist ja nicht Etwas, Bestimmtes. Das Sein ist die reine Ab-
wesenheit aller Qualität. «26 »Das Sein ist nun allerdings eine Abstraktion,
in der vom Inhalt abstrahirt ist; und es ist allerdings wahr, dass in der
Wirklichkeit das Sein selbst unterschiednes ist (...) Es fragt sich nun
nur, - hier beginnt die Schwierigkeit - wie wird reines Sein bestimm-
tes Sein?«27
Ohne den Duktus der HegeIschen Entwicklung des Begriffs zu
verlassen, hat Feuerbach hier nun eine genau gegensinnige Richtung
eingeschlagen. Vom Begriff des Seins kommt er bereits am Anfang
auf die Realität der Seienden28 - aus der Dialektik von Ganzem und
Teil, von Allgemeinem und Besonderem in die Verschiedenheit von
Diesen und Jenen. »Der wahre Gegensatz ist ein innerer, nothwendiger,
d. h. Diesem ist nur Dieses entgegengesetzt, nichts Anderes; der Gegen-
satz ist darum specijischer Gegensatz.«29 Damit kommt Feuerbach auf
die extensionale, materiale (durch eine räumliche oder qualitative
Feuerbachs anthropologischer Materialismus 215

Grenze gesetzte) Existenz des Einzelnen und mithin auch der Vielen.
Die Grenze entspringt dem Bedürfnis des Seins nach Bestimmung
zum Seienden, ist also nicht eigentlich das Prinzip der Vermitteltheit
des Einen mit dem Anderen, sondern das Prinzip der Selbstbestim-
mung oder Freiheit. »Weil die Realität, das Dasein Etwas ist, so ist das
Etwas Etwas nur vermöge und in seiner Schranke (...). Etwas ist, was
es ist, nur innerhalb seiner Gränze; die Gränze fällt nicht in die Ver-
gleichung eines Subjects, sondern sie ist Ansichsein (...). Die Gränze
ist Beziehung auf sich selbst; ist Identität mit sich selbst.«30 Zwar
kann Feuerbach die Verbindungsfunktion der Grenze nicht leugnen,
aber er lässt sie sozusagen zu einem bloss abgeleiteten, sekundären
Funktionselement werden. »Durch die Schranke steht Etwas (...)
einem Andern entgegen, Etwas bezieht sich nothwendig auf ein And-
res, und ist darum Übergang in Andres, der Veränderung fähig; aber
die Schranke ist durch die Ruhe, der Friede eines Dings mit sich selbst
(...). Denn die Hemmung der Schranke (...) giebt dem Menschen die
Ruhe der Einheit mit sich selber, und die Schranke in der Bestimmung
der Identität ist Freiheit (...) weil seine Schranke seine Selbstgewiss-
heit, Affirmation ist.«3! Hier haben wir das ontologische Gegenstück
zur junghegelianischen Hypostasierung des Selbstbewusstseins. Eben
diese Substantialisierung des Ich macht aus dem reinen Subjekt kriti-
schen Denkens oder gar der reinen Tathandlung den leiblichen, sinn-
lichen Menschen. Aus einem naturalistischen Materialismus in der
Nachfolge Spinozas wird so ein anthropologischer Materialismus, der
die Subjekttheorie der Moderne adaptiert hat.
Aber gegen die Überrealität des Allgemeinen und des Ganzen in
der Begriffs-Ontologie Hegels hat Feuerbach als Prinzip der Materia-
lität die Bestimmtheit des Singulären wieder in ihr Recht eingesetzt. An
diesem Akzent seiner frühen Vorlesungen wird er nun festhalten und
ihn allmählich so verstärken, dass daraus das Zentrum seiner eigenen
Philosophie werden kann. Noch in der Leibniz-Monographie von 1837
wird die Leibnizsche Synthese von Singularität der Monade (deren jede
von allen anderen unterschieden ist) und Universalität ihrer Seinsbe-
dingung (insofern jede wie alle anderen vollinhaltlich bestimmt ist
durch die Widerspiegelung der ganzen Welt)32 und damit das Allge-
meine als übergreifend über sein Gegenteil, das Besondere, akzeptiert;
anders könne der Geist nicht denken: »Der Materialist mag sich sträu-
ben und wehren wider den Geist, soviel er will, er straft sich immer
selbst Lügen; denkt und sagt er: Nur das Sinnliche ist real, nur die Ma-
terie ist Wesen, so will er damit nicht einen nur sinnlichen Schall ausspre-
216 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

chen, sondern eine Wahrheit, einen Gedanken, einen Satz, der Sinn und
Verstand hat, und er gesteht dadurch indirekt ein, dass nur das real ist,
was einen Verstand, eine geistige Bedeutung hat.«33 Das Buch über
Bayle, beginnend mit dem Hymnus auf das Fleisch gegenüber dem
Geist34, bringt den Übergang: Bayles Skeptizismus wird als berechtig-
ter Einspruch gegen die Dominanz des Universellen gewertet. »Wie
Bayles Philosophie eine okkasionelle, so ist auch sein Skeptizismus
ein okkasioneller (...). Bayle ist ein in der Mannigfaltigkeit seiner Tätig-
keit zu ergreifender Geist; man kann nicht sagen, was er ist, ohne ihn
im besonderen zu geben. Der Begriff ist unendlich, wenn er der
wahre; man kann ihn in keinem Satze, keiner einfachen Definition
geben: Je spezieller, je distinguierter, desto besser, wenn der Gegen-
stand ebendiese Spezialität fordert.«35 Der Umschlag vom hegeliani-
schen Begriffsidealismus zu einem nominalistisch, empiristisch
durchdrungenen Materialismus wird sozusagen am Doppelpunkt
sichtbar; der Satz zuvor resumiert noch durchaus den Hegelschen Be-
griff vom Begriff - seine Unendlichkeit, die Unangemessenheit von
Satz und Definition; nach dem Doppelpunkt aber wird daraus eine
ganz und gar unhegelsche Konsequenz gezogen - die immer weiter
gehende Spezifikation singulärer Aussagen und die Beschränkung auf
diese. Mit der Begeisterung für Bayle, der ihm im Rahmen des Pro-
jekts Geschichte der neueren Philosophie einen eigenen Band wert war, der
selbst grösseren Umfang bekam als die Leibniz-Monographie, löste
Feuerbach sich vom Hegelianismus und einem Hegelschen Philoso-
p hievers tändnis. 36
Leibniz wie Hegel haben die Einheit der Welt im Begriff in der
logisch-ontologischen Konzeption der notio completa = des absoluten
Begriffs gedacht und durch die Formel ausgedrückt: praedicatum inest
subiecto. Das bedeutet, dass die Vielheit der Prädikate Oetztlich deren
Allheit im absoluten Begriff) in der Einheit des Subjekts aufgehoben
sein muss (und das gilt auch für die Modi der Substanz bei Spinoza). Es
ist der Sinn einer spekulativen Logik, auf diesem Wege den metaphysi-
schen Begriff von Welt oder Totalität aller Erscheinungen zu konstru-
ieren, während eine >apophantische< Logik von Subjekt und Prädikat als
getrennten Elementen des Satzes und ihrer Zuordnung ausgeht. Feu-
erbach kehrt nun, mit seinem Votum für die Spezifikation des Begriffs,
zur selbständigen Besonderheit des Prädikats zurück, das er vom Sub-
jekt löst. Die Prädikate werden ihm zu Zeichen der >eigentlichen< Wirk-
lichkeit: »Die Prädikate haben eine eigne, selbständige Bedeutung; (...) sie
betätigen, bezeugen sich selbst.«37
Feuerbachs anthropologischer Materialismus 217

2. Die Inversion von Sul,!/ekt und Prädikat

Dieser Satz aus dem Wesen des Christentums enthält den philosophischen
Schlüssel zur junghegelianischen Hegel-Kritik. Die Formel von der
Vertauschung von Subjekt und Prädikat zur Kennzeichnung der Sy-
stemstruktur Hegels kommt allenthalben vor, bei Feuerbach und Marx
bekommt sie allerdings eine präzise philosophische Bedeutung. Feuer-
bach war sich durchaus darüber im klaren, dass seine Wendung gegen
Hegel einen Frontwechsel im Universalienstreit darstellte. »Ist die
Logik erhaben über den den Streit der Nominalisten und Realisten (um
mit alten Namen einen natürlichen Gegensatz zu bezeichnen) ? Wider-
spricht nicht die >Logik< in ihren ersten Begriffen gleich der sinnlichen
Anschauung und ihrem Advokaten, dem Verstande?«38 Im universa-
lientheoretischen Sinn gilt es für Feuerbach als ausgemacht, »dass, was
das Subjekt oder Wesen ist, lediglich in den Bestimmungen desselben
liegt, d.h. dass das Prädikat das wahre Subjekt ist«39 - das ist die nomi-
nalistische Position. Weil das logische Verhältnis von Subjekt und Prädi-
kat ontologisch (in Opposition zu Leibniz und Hegel) in dem Sinne in-
terpretiert wird, dass nur das empirisch Besondere, durch welches das
Subjekt in diesem oder jenem Falle bestimmt wird als das, was es dann
und nur dann (= in diesem Augenblick, in dieser Hinsicht, in dieser Be-
ziehung) ist, als das Wirkliche zu gelten habe, konnte diese Formel eine
solche prägende Wirkung haben.
Während sie bei Feuerbach doch nur auf die sinnliche Anschau-
ung geht41l , versteht Ruge die Inversion von Subjekt und Prädikat po-
litisch. »Die Hegelsche Rechtsphilosophie, um sich als >Spekulation<
oder als absolute Theorie zu verhalten, also die >Kritik< nicht hervor-
treten zu lassen, erhebt die Existenzen oder die historischen Bestimmt-
heiten zu logischen Bestimmtheiten (...). Hegel unternimmt es also, den
erblichen König, die Majorate, das Zweikammersystem usw. als logi-
sche Notwendigkeiten darzustellen, während es doch nur darauf ankom-
men konnte, alles dies als Produkte der Geschichte nachzuweisen
und als historische Existenzen zu erklären und zu kritisieren.«41 Die hi-
storischen Existenzformen sind die realen Prädikate, die das ideelle
Wesen bestimmen. Bei Marx' Kritik des Hegelschen Staatsrechts, die
von der Feuerbachsehen Formel reichlich Gebrauch macht, muss
man an diesen von Ruge gesetzten politischen Akzent denken, wenn
man die Sinnverschiebung verstehen will, die dann in der Kritik des
biossen »Anschauungs-Materialismus«, also in den Feuerbach-Thesen
gipfelt.
218 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

Die Inversions-Formel erhält ihre programmatische Schärfe erst in


den »Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie«: »Wir dür-
fen nur immer das Prädikat zum Subjekt und so als Subjekt zum Objekt
und Prinzip machen - also die spekulative Philosophie nur umkehren, so
haben wir die unverhüllte, blanke Wahrheit.«42 Im lf1:sen des Christentums
war das Verhältnis von Subjekt und Prädikat bezogen auf die Eigen-
schaften, die dem unbekannten Gott beigelegt werden: »Jede Bestim-
mung, welche die Gottheit Gottes ausmacht, wird durch sich selbst be-
stimmt und erkannt, Gott aber durch die Bestimmung, die Qualität (00')'
Wenn aber Gott als Subjekt das Bestimmte, die Qualität, das Prädikat aber
das Bestimmende ist, so gebührt ja in Wahrheit dem Prädikat, nicht dem
Subjekt, der Rang des ersten Wesens, der Rang der Gottheit.«43 Feuer-
bach ergänzt dann ganz richtig, dass der Umschlag vom Prädikat ins
Subjekt stattfindet, wenn die Eigenschaften insgesamt einer Person zu-
geschrieben werden, ohne dass die in der Allegorie festgehaltene Dif-
ferenz zwischen Bedeutung und Sein bewusst bleibt; das Subjekt Gott
ist dann Produkt einer Personifikation, ein menschenweltliches Verhält-
nis wird zu einer eigenen wirkenden Entität hypostasiert (ein Vorgang,
der dem analog ist, den Marx später als Fetischismus beschreiben wird).
Man könnte dies durchaus als eine kritisch konkretisierte Darstellung
dessen auffassen, was Hegel als den Mangel der Religion betrachtet,
nämlich an das Vermögen der Vorstellung gebunden zu bleiben. Feuer-
bach aber geht einen entscheidenden Schritt weiter. Weil er die Inhalte
der spekulativen Konstruktion mit den weltlichen Gegenständen, die in
der spekulativen Darstellung als Begriffe gefasst werden, identifiziert,
muss er die ganze Hegelsche Philosophie als eine idealisierte Theologie
auffassen, deren Subjekt, die absolute Idee, nur die Hypostase aller Prä-
dikate des Weltlaufs ist und also ein entpersonalisiertes Analogon zu
Gott darstellt. Im einzelnen ist dann das System der Begriffe eine Fik-
tion des Denkens, der als reale Referenz allein die sinnlichen Anschau-
ungen entsprechen, auf die es zurückgebracht werden muss. Die Sinn-
lichkeit des leibhaft lebendigen Menschen hat sich an die
Abstraktionsgebilde des Denkens entäussert. »Das Wesen der Logik
Hegels (ist) das transzendente Denken, das Denken des Menschen, ausser
den Menschen gesetzt (00')' Abstrahieren heisst das Wesen der Natur ausser die
Natur, das Wesen des Menschen ausser den Menschen, das Wesen des
Denkens ausser den Denkakt setzen. Die Hegelsche Philosophie hat
den Menschen sich selbst entfremdet, indem ihr ganzes System auf diesen
Abstraktionsakten beruht.«44 Was im Denkakt des Menschen als dessen
Prädikat enthalten ist, wird als Begriff zum Subjekt des Gedankens.
Feuerbachs anthropologischer Materialismus 219

Dass nur die Entäusserung des subjektiven Inhalts des Denkpro-


zesses an die Objektivität des Begriffs, der von jedem anderen subjek-
tiven Denken aufgenommen werden kann, jene Allgemeinheit stiftet,
die die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation ist, wird zu
einem offenen Problem für Feuerbach, der doch gerade die Gemein-
schaft von Ich und Du so stark akzentuiert hat: »Der Trieb der Mittei-
lung ist ein Urtrieb, der Trieb der Wahrheit (...). Was wahr, ist weder
mein noch dein ausschliesslich, sondern allgemeil1. Der Gedanke, in dem
sich Ich und Du vereinigen, ist ein wahrer (...). Alle Demonstration ist
daher nicht eine Vermittlung des Gedankens in und für den Gedanken
selbst, sondern eine Vermittlung mitte1st der Sprache zwischen dem
Denken, imviefern es meines ist, und dem Denken des al1derl1, imJ!iefern es
seines ist, (...) oder eine Vermittlung des Ich und Du zur Erkenntnis der
Identität der Vernunft, oder eine Vermittlung, durch die ich bewähre,
dass meil1 Gedanke nicht meiner, sondern Gedanke al1 ul1dfiir sich ist,
welcher daher ebensogut wie der meinige der Gedanke des andern sein
kann.«45 Wenn die Allgemeinheit der Begriffe aber eine entäusserte,
entfremdete ist, obzwar unerlässlich für die Kommunikationsgemein-
schaft der Menschen, so muss es eine tragende Schicht des J\Ienschseins
geben, in der sich die Gattung noch vor der Vermittlung durch die Ver-
nunft bildet. Das ist die Liebe, in der »als der höchsten, als der absolu-
ten Macht und Wahrheit« sich der Mensch »als ein liebendes, herzliches,
selbst subjektiv menschliches Wesen anschaut (...). Das Herz gibt mir
das Bewusstsein, dass ich Mensch (...). Die Liebe ist das Band (...) zwi-
schen (...) dem Allgemeinen und dem Individuellen (...). Die Liebe ist
aber nichts andres als die Betätigung, die Verwirklichung der Einheit
der Gattung durch die Gesinnung. Die Gattung ist kein blosser Ge-
danke; sie existiert im Gefühle, in der Gesinnung, in der Energie der
Liebe (...). Die Vernunft ist selbst nichts andres als die tlJ1iz'ersale Liebe.«46
Hat Feuerbach die Inhalte des religiösen Glaubens, wenn auch anthro-
pologisch als Projektion des menschlichen \X'esens, so doch als Ideolo-
gie und damit als historisch Gewordenes entlarvt, so fiel er nun wieder
auf eine quasi metaphysische, ahistorische Position zurück, indem er
ein emotionales Apriori als Struktur des Gattungswesens 47 annahm.
Es war Feuerbach durchaus gegenwärtig, dass zwischen der Unmit-
telbarkeit des Erlebens und der Vermitteltheit der Kommunikationsge-
meinschaft die Konstitution des begrifflich Allgemeinen aus der sin-
gulären Anschauung heraus stattfindet; und er war sich bewusst, dass
dieser Übergang sich bereits in der sinnlichen Gewissheit des >Dieses<
vollzieht. »Welch ein gewaltiger Unterschied ist zwischen dem >Diesen<,
220 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

wie es Objekt des abstrakten Denkens, und ebendemselben, wie es Ob-


jekt der Wirklichkeit ist! Dieses Weib Z. B. ist mein Weib, dieses Haus mein
Haus, obgleich jeder von seinem Hause und seinem Weibe wie ich sagt:
dieses Haus, dieses Weib.«48 Das >Dieses-da< erfüllt sich nur in der An-
schauung, die dem Hinweis folgt. Das Wort >dieses< aber ist von leerer
Allgemeinheit, und erst wenn man die ursprüngliche individuelle prak-
tisch-gegenständliche Beziehung schon ausser Betracht gelassen hat,
greift Hegels Dialektik der ständigen Selbstaufhebung des Hier und
Jetzt. »Das phänomenologische Hier unterscheidet sich in nichts von
einem andern Hier, das ich fixiere; es eweist sich daher auch als ein allge-
meines, weil es in der Tat schon ein allgemeines ist; aber das reale Hier
ist eben auf reale Weise von einem andern Hier unterschieden, es ist aus-
schliessliches Hier (...). Hegel widerlegt nicht das Hier, wie es Gegenstand
des sinnlichen Bewusstseins und uns im Unterschiede vom reinen Den-
ken Gegenstand ist, sondern das logische Hier, das logische Itzt. Er wi-
derlegt den Gedanken des Diesseins, der haecceitas; er zeigt die Unwahr-
heit des Einzelseins, wie es in der Vorstellung als eine (theoretische) Realität
fixiert wird. Die >Phänomenologie< ist nichts anderes als die phänomeno-
logische >Logik<. - Nur aus diesem Gesichtspunkt lässt sich das Kapitel
von der sinnlichen Gewissheit entschuldigen.«49 Hegels Philosophie ist
Philosophie als System der Wissenschaften, als Wissenschaftslehre - ihr
Ausgangspunkt ist das Wissen t'on den Sachen und nicht die Sache selbst.
Das Wissen von den Sachen aber drückt sich in den Prädikaten aus, die
der Sache selbst, als dem Subjekt, zugeschrieben werden. Werden nun die
Inhalte des Wissens, die Prädikate, zum Gegenstand der Philosophie, so
treten sie in der Systematik des Philosophierens an die Stelle der wirkli-
chen Gegenstände, der Subjekte, und diese werden (in je ihrer Einzelheit)
zu Indices oder Prädikaten des Gewussten in seiner Allgemeinheit. Aber
»das Einzelne gehärt dem Sein an, das Allgemeine dem Denken«50, und
so verkehrt sich das Fundierungsverhältnis von Sein und Denken. 51
Feuerbach ist hier dem dialektischen Zusammenhang von Materia-
lismus und Idealismus, dem Widerspiegelungsverhältnis von Ontischem
und Logischem auf der Spur. Er nennt den Umschlagpunkt, an dem der
naive Realismus der »natürlichen Welteinstellung« in den Idealismus der
Reflexionsphilosophie transformiert wird. »Das Denken ist eine unmit-
telbare Tätigkeit, inwiefern es Se/bsttätigkeit ist.«52 Im Denken erfahre ich
ein Erstes, Unhintergehbares - das ist der seit Descartes gesicherte Aus-
gangspunkt der Moderne. Das Denken aber ist nichts ohne den Gegen-
stand, auf den es sich bezieht; reflektiert es seine Selbsttätigkeit, so denkt
es sich als >sein< denkend, als >sein< enthaltend. 53 Das heisst, es greift über
Feuerbachs anthropologischer Materialismus 221

das Sein über. »Das >über sein andres< - das >andere des Denkens< ist aber
das Sein - >übergreifende< Denken ist das seine Naturgrenze überschreitende
Denken. Das Denken greift über sein Gegenteil über - heisst: Das Den-
ken vindiziert sich, was nicht dem Denken, sondern dem Sein zukommt. Dem Sein
kommt aber die Einzelheit, Individualität, dem Denken die Allgemeinheit zu.
Das Denken vindiziert sich also die Einzelheit- es macht die Negation der
Allgemeinheit die wesentliche Form der Sinnlichkeit, die Einzelheit, Zu
einem Moment des Denkens.«54 Dieses Übergreifen ist notwendig, es ist die
Verfassung des Denkens. Daraus entspringt der idealistische Schein, das
Sein sei eine Funktion des Denkens. Alles, was ist, ist ja prinzipiell im
Denken enthalten (es ist denkbar), und sofern es nicht im Denken ent-
halten ist, ist es auch nicht für uns. »Wo der Mensch aber nichts ausser
sich mehr hat, da sucht und findet er alles in sich, da setzt er an die Stelle
der wirklichen Welt die imaginäre, die intelligible Welt, in der alles ist, was
in der wirklichen, aber auf abstrakte, l·orgestellte Weise.«55
Statt auf dieser Spur zu bleiben, lenkt Feuerbach nun aber sofort
auf seine Hauptstrasse ein, die ideologiekritische Destruktion der reli-
giösen Hypostasen, und verzichtet auf die ontologische Bestimmung
des Verhältnisses von Seins-Welt und Denk-Welt, von Welt des prakti-
schen Verhaltens und Welt des theoretischen Betrachtens. »Wo der
Mensch kein Wesen ausser sich mehr hat, da setzt er sich in Gedanken ein
Wesen, welches als ein Gedankenwesen doch zugleich die EigeflSchaften eines
uJirklichm Wesens hat, als unsinnliches zugleich ein sinnliches Wesen, als ein theo-
retisches Objekt zugleich ein praktisches ist (...). Die Vorstellung ist ihm
keine Vorstellung mehr, sondern der Gegenstand selbst, das Bild kein Bild
mehr, sondern die Sache selbst, der Gedanke, die Idee Realität.«56 Feu-
erbach gibt damit den Schlüssel zu einer materialistischen Interpreta-
tion von Hegels »rationeller Mystik«5 7 aus der Hand, den er mit der Er-
kenntnis vom »gegenständlichen Wesen« des Menschen schon
besessen hatte. Die Antithese zur Konstruktion des Begriffs bleibt die
sinnliche Vorstellung; befangen im Dualismus von Sinnlichkeit und
Vernunft, gewinnt Feuerbach keinen Raum für eine eigenständige on-
tologische Qualität der Praxis.

3. Das gegenständliche Wesen des Menschen

Ungeachtet seiner radikal materialistischen Intention bleibt für Feuer-


bach das Gattungswesen des Menschen ein bloss ideelles, durch Sprache
gestiftetes Phänomen. Die Sprache ist die Bewusstseinsgestalt, die das
222 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

Allgemeine nicht nur ausdrückt (wie der Begriff), sondern selbst er-
zeugt (in der Vermittlung der Sprechenden zur Gemeinsamkeit eines
Gemeinten). »Die Sprache ist nichts anderes als die Realisation der Gat-
tung, die Vermittlung des Ich mit dem Du, um durch die Aufhebung
ihrer individuellen Getrenntheit die Einheit der Gattung darzustel-
len.«58 Die Innerlichkeit des Ich hat keine Sprache, sprechend >ent-äus-
sert< sich das Individuum an ein Anderes, das angesprochene Du, die
besprochene Sache. »Das Einzelne, welches wir in der sinnlichen Ge-
wissheit meinen, können wir daher gar nicht einmal aussprechen.«59 Es
bedarf stets eines vermittelnden Aktes, durch den das Wort für den
einen und den anderen zum Träger derselben Bedeutung wird. Darum
insistiert Feuerbach darauf, dass die Demonstration letztlich ein sinnli-
cher Hinweis ist (obwohl er mit der Aquivokation spielt, dass Demon-
stration ja auch Beweisführung - also ein logisches Verfahren - be-
sagen kann). Das Allgemeine konstituiert sich aber nicht nur in der
durch Hinweis sinnlich nachvollziehbar gemachten Gemeinsamkeit
eines \X'ortsinns für A und B und andere; sondern auch, in der defini-
torischen Funktion des »Dieses« (worauf Feuerbach nicht eingeht):
>Dieses ist ein Haus< ist ein Hinweis, der dem Phonem >Haus< eine sinn-
lich erfüllte Bedeutung gibt, es zum Semem macht. In diesem
Sprechakt verändert sich aber der Status von >Dieses<; es zeigt nicht
mehr nur ein Singuläres auf, sondern das Singuläre als >etwas von die-
ser Art<.611 Wir können nun auch andere Häuser als solche bezeichnen
und erkennen, wir können das Wort gebrauchen, ohne dass es durch
die sinnliche Präsenz der Sache ausgewiesen sein muss. Diese reale Ver-
selbständigung des Allgemeinen kann Feuerbach nicht bedenken, weil
für ihn unumstösslich gilt: »Dem sinnlichen Bewusstsein sind alle
Worte Namen, nomina propria (...). Die Sprache gehört hier gar nicht
zur Sache (...). Dem sinnlichen Bewusstsein ist eben die Sprache das Un-
reale, das Nichtige.«61
Hier stossen wir auf den in der nominalistischen Systematik Feuer-
bachs liegenden Grund, warum er zu einem wirklichen Begriff der Pra-
xis nicht vorstossen konnte - ein Mangel, der dazu führte, dass Marx
und Engels die Feuerbachsche Position so schnell hinter sich liessen.
Das sinnlich Einzelne kann zwar als notwendiger Gegenstand des Sin-
nenwesens Mensch erkannt werden, und eine gegenständliche Gerich-
tetheit, ein gegenständliches Tun gegenüber den Einzelnen mag dann
durchaus zum \X'esen des Menschen gehörig betrachtet werden und
zeigt sich in empirischer Feststellung. Dass aber das gegenständliche
Tun des einzelnen Menschen über diesen bestimmten Akt hinaus zu
Feuerbachs anthropologischer Materialismus 223

einer >Praxis< wird, in der mehreres und verschiedenes Tun eines und
desselben l'vIenschen sich unter einem Zweck zu einer zusammenhän-
genden Tätigkeit formiert und dass gar mehrere Menschen sich zu
einer solchen Tätigkeit vereinigen und zu diesem Behufe miteinander
kommunizieren, ist ohne den realen Sinn von Allgemeingegenständ-
lichkeiten, Begriffen, gedanklichen nicht-sinnlichen Synthesen nicht
erklärbar.
Der Materialismus Feuerbachs gerät so an seinem nominalistischen
Sensualismus in einen Widerspruch. Der ontologische Ansatz, der Feu-
erbachs Hegel-Kritik fundiert, wird zunächst mit einer starken Plausi-
bilität vorgetragen: »Der Beweis, dass etwas ist, hat keinen andern Sinn,
als dass etwas nicht nur Gedachtes ist. Dieser Beweis kann aber nicht aus
dem Denken selbst geschöpft werden. Wenn zu einem Objekt des Den-
kens das Prädikat des Seins hinzukommen soll, so muss zum Denken
selbst etwas vom Denken Unterschiednes hinzukommen.«62 Von da aus
spinnt sich der Faden der Argumentation, die zu dem Postulat hin-
führt: »Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Anti-
these, mit der Nichtphilosophie zu beginnen.«63
Die Philosophie ist das Denken, die Nichtphilosophie das Sein
selbst - nicht der Gedanke >sein<. »Sein ist die Grenze des Denkens.«M
An dieser Grenze entsteht dem Denken sein Gegenstand - wie jede
Grenze eines Einzelnen der Ort ist, an dem ihm das Andere gegen-
ständlich wird. »Ein Objekt, ein wirkliches Objekt wird mir nämlich
nur da gegeben, wo mir ein auf mich wirkendes Wesen gegeben wird,
wo meine Selbsttätigkeit - wenn ich vom Standpunkt des Denkens aus-
gehe - an der Tätigkeit eines andern Wesens ihre Grenze - Widerstand
findet.«65 Da das Denken nichts anderes ist als das Denken eines Ge-
dachten (seines Inhalts), ist das Wesen des Denkens dadurch bestimmt,
dass es einen Gegenstand in sich aufnimmt. »Das aber, worin sich ein
Wesen befriedigt, ist nichts andres als sein gegenständliches Wesen (...). Was
aber ein Wesen ist, das wird nur aus seinem Gegenstande erkannt; der Ge-
genstand, auf den sich ein Wesen notwendig bezieht, ist nichts anderes
als sein offenbares Wesen.«66 Daraus folgt: »An dem Gegenstande wird
daher der Mensch seiner selbst bewusst: das Bewusstsein des Gegenstan-
des ist das Selbstbewusstsein des Menschen.«67 Hieraus leitet sich nun
Schritt für Schritt die Weltverschränkung des Menschen ab. EinWe-
sensmerkmal des Menschen ist, dass er denkt. Das Denken ist ganz
und gar gegenständlich, auf Gegenstände ausser ihm bezogen und von
ihren Repräsentationen erfüllt. »Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand (...).
Aber der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesentlich, notwendig
224 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

bezieht, ist nichts andres als das eigne, aber gegenständliche Wesen dieses
Subjekts.«68 Wir erkennen uns selbst, indem wir die Inhalte unseres Be-
wusstseins erkennen; sie sind es, die das bestimmen, was wir sind, sie
sind die Prädikate unseres Subjektseins. Also erkennen wir uns selbst
an und in den Gegenständen, auf die wir uns beziehen. Der Mensch
hat kein anderes Wesen als das, woran er sich selbst entäussert. »Der
Gegenstand des Menschen ist nichts andres als sein gegenständliches
Wesen selbst.«69
In diesen Umrissen einer materialistischen Anthropologie steckt
das ganze Material, von dem Marx dann Gebrauch machen wird, wenn
er die Wirklichkeit des Menschen aus der Geschichte seines durch Ar-
beit vermittelten Stoffwechsels mit der Natur erklärt. Feuerbach hat
das durchaus auch im Blick, aber er gleitet darüber hinweg. 7o Die dia-
lektische Bewegung von Entäusserung und Rückkehr zu sich selbst
durch die zweckvolle Veränderung des Gegenstands - diese reflexive
Bewegung der Arbeit und des teleologischen Bewusstseins 71 - ver-
schwindet bei Feuerbach, weil er seinen Begriff von Gegenständlich-
keit ausschliesslich an der sinnlichen Perzeption orientiert. So kommt
das Neue seines anthropologischen Materialismus nicht zur Entfal-
tung, weil er erkenntnistheoretisch auf den vorkritischen Sensualismus
zurückfällt. Während jedoch die junghegelianische Kritik an Hegel sich
vordergründig an die Anwendung der Hegelschen Philosophie auf die
zeitgenössische Wirklichkeit hält (und darum eine Fraktion des Hege-
lianismus bleibt), stellt Feuerbach die Frage nach dem Verhältnis der
Struktur des Hegelschen Systems zur Wirklichkeit überhaupt. Damit
hat er das philosophische Feld abgesteckt, auf dem eine neue Gestalt
der Dialektik hervorkommen konnte.
3. Kapitel:
Die Unmittelbarkeit der Tat
als Aufhebung der Philosophie

Die Junghegelianer hatten das Prinzip der philosophischen Kritik bis


zu jenem Punkte vorangetrieben, an dem sie in die Aufhebung der Phi-
losophie überging. Ruge hatte der Philosophie ihre Grenze angewie-
sen; als theoretische Kritik sollte sie die praktische Revolution, das ist
die Verwirklichung des in der Philosophie zu sich selbst gekommenen
Selbstbewusstseins einleiten. Verwirklichung der Philosophie konnte
dann aber nichts anderes als die Aufhebung der Entzweiung in der Re-
flexion, die Aufhebung der Trennung von Begriff und Existenz sein.
Auch Bruno Bauer lässt in der Aufhebung der Selbstentfremdung am
Ende der Philosophie die entgegengesetzten Momente der Reflexion
in eins zusammenfallen: »Alle Gegensätze, an denen die frühere Zeit
sich abquälte und vergeblich abquälen musste, weil sie die wesentliche
Realität und die Geschiedenheit beider Seiten voraussetzten, fallen
jetzt zusammen und sind damit gelöst.« Von nun an gilt, dass »nur das
Ich lebt, schafft, wirkt und alles ist.«l Georg Lukacs hat mit grosser
Deutlichkeit gezeigt2 , dass es - ganz anders als bei Marx und Engels
-für die gesamte junghegelianische Hegel-Kritik charakteristisch ist, die
HegeIsche Einsicht in die Vermitteltheit jedes Daseienden wieder auf-
zugeben; und die Unmittelbarkeit »der Identität des Menschen mit sich
selber herzustellen.«' Für diese Unmittelbarkeit wird eine Erlebnisevi-
denz in Anspruch genommen, die wie eine frühe Vorstufe zum le-
bensphilosophischen Irrationalismus anmutet. So fordert Kar! Grün
eine Wissenschaft, »die an ihr selbst Leben werde, C•••) die Auflösung
der Wissenschaft in das Leben.«4
Indessen blieb bei den Junghegelianern die Aufhebung der Philo-
sophie selbst eine philosophische - sie vollzog sich im Bewusstsein und
für das Bewusstsein als Akt der Negation der Reflexion. Das heute mo-
dische Wort »Selbstverwirklichung« liesse sich ohne grosse Gewaltan-
wendung auf die Stimmungslage dieser vormärzlichen Ich-Philoso-
phen übertragen; hören wir nur Bruno Bauers Bruder Edgar: »Keine
philosophischen Dogmen, keine wissenschaftlichen Lehrsätze, keine
226 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

Spekulationen wollen wir dem Volk aufbürden; wir wollen nur vermit-
tels der Philosophie das Terrain gewinnen, auf dem wir selbständig
handeln, weil wir uns selbst fühlen und von allen äusseren Schranken
frei sind (...) Ist er (der Mensch) aber zu diesem Bewusstsein gelangt, so
schüttelt er alle Autorität ab, die ihn bisher hinderte, er selber zu sein.
Er hat vor nichts mehr Respekt als vor sich selbst. Alle Tradition, aller
Glaube, alle Demut, alle Beherrschung muss seinem siegreichen Selbst-
bewusstsein weichen, und hiemit hat der Mensch erst den Boden ge-
wonnen, auf dem er als Mensch handeln kann.«5 Die Befreiung hält
sich in der Innerlichkeit des Ich - und genau so bei Stirner, ja auch bei
Feuerbach; Marx und Engels werden ihren Spott über diese Art von
»Verwirklichung der Philosophie« ergiessen. Bruno Bauer aber schreibt
mit rhetorischem Pathos 1841 an Marx: »Es wäre Unsinn, wenn Du
Dich einer praktischen Carriere widmen wolltest. Die Theorie ist jetzt
die stärkste Praxis, und wir können noch gar nicht voraussagen, in wie
grossem Sinne sie praktisch werden wird«; und er spricht davon, dass
»der Terrorismus der wahren Theorie reines Feld machen« müsse. 6 Die
Verwirklichung der Philosophie war also die Theorie selbst. Die Ver-
bindung zwischen Theorie und sozialer Bewegung war von den Jung-
hegelianern nicht gefunden, ja nicht einmal als Problem empfunden
worden.
Das gilt auch zunächst noch von Moses Hess, dem unter den Phi-
losophen des Vormärz dieser Widerspruch schliesslich am deutlichsten
bewusst geworden ist, und der die Nahtstelle bezeichnet, an der das
Problem sichtbar wird, aus dem heraus dann bei Marx und Engels die
junghegelianische Philosophiekritik in ein ganz anderes Begreifen von
Philosophie umschlägt. In der Entwicklung von Hess vor 1848 sind
drei Phasen unterschieden worden: eine religionsphilosophisch-mes-
sianische; eine an Fichte orientierte, die das Selbstbewusstsein zum An-
gelpunkt der geschichtlich-philosophischen Konzeption macht (und in
der eine enge Verwandtschaft mit Bauer, ja sogar mit Stirner besteht);
und schliesslich eine von Feuerbach beeinflusste, in der an die Stelle des
individuellen Selbstbewusstseins das Gattungswesen des Menschen
tritt.7 Tatsächlich gehen die Elemente der drei Phasen jedoch in einan-
der über. Der messianische Impetus bleibt, in säkularisierter Form,
auch nach Hess' Übergang zum Atheismus erhalten, das Gattungswe-
sen des Menschen wird nie klar von seiner Ich-haftigkeit abgehoben
und führt zu einem, gleichsam prä-sozialdemokratischen, Kantianis-
mus in der dualistischen Auffassung von Notwendigkeit des Ge-
schichtsprozesses und Freiheit des Sollens, des moralischen Subjekts.s
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 227

Struke hat diesen theoretisch unbewältigten Dualismus treffend zu-


sammengefasst: »Seine Auslegung der Weltgeschichte als Heilsgesche-
hen gipfelte in der Konstruktion eines historischen und sozialen
Determinismus, die auch dem ökonomischen Geschichtsprozess dia-
lektische Gesetzmässigkeit zusprach (...) Das praktische Programm
von Hess sieht jedoch ganz anders aus. Es verlässt den Boden der Dia-
lektik und nimmt in naturrechdicher Form ethische Prinzipien zum
Leitfaden C...) Das praktische Programm von Hess vertritt einen ausge-
sprochen ethischen Sozialismus und bringt in aufschlussreicher Weise
die Zwiespältigkeit seiner Geschichtsauffassung zum Ausdruck. Der
Geschichtsphilosoph Hess arbeitet mit der Kategorie der historischen
Zwangsläufigkeit, aus der sich für das Handeln ein naturnotwendiges
Müssen oder Nicht-anders-können ergibt. Der ethische Sozialist Hess
dagegen arbeitet mit der Kategorie des SoUens, bei dem es sich um ein
moralisches Müssen handelt.«9
Gerade dieser kantianisierende Dualismus führt aber Hess und sei-
nen Mitstreiter für den »wahren Sozialismus«, Kar! Grün, zur Kritik an
der bIossen Bewusstseinsphilosophie der Junghegelianer. Theoretische
Kritik ist eben noch keine praktische Veränderung der gesellschafdi-
chen Wirklichkeit, die Erkenntnis der historischen Notwendigkeit ent-
bindet nicht von der moralischen Pflicht zum Engagement. Dieser
Zwiespalt zwischen theoretischer und praktischer Vernunft trat in der
Selbstbezüglichkeit der reinen Bewusstseinsphilosophie nicht zutage.
Wird Geschichte nicht als religionsphilosophisch zu deutendes Schick-
sal, als Sündenfall oder Heilsgeschehen, wie eine dem Menschen
fremde Macht hingenommen, sondern als vom Menschen selbst ge-
schaffenes Produkt seines Wollens und seines Tuns aufgefasst - dann
kann Geschichtserkenntnis ihre Wahrheit nur in der Selbsterkenntnis
entdecken. Die Religion erweist sich als die objektive Gestalt des ent-
fremdeten Bewusstseins, Religionskritik führt auf die Subjektivität als
Ursprung der mythologischen Gegenstände. Strauss, Bauer und Feuer-
bach stimmen darin überein. Wenn die Fetische der Metaphysik ent-
zaubert werden, setzen wir uns der delphischen Mahnung gnothi sau-
ton - erkenne dich selbst! - aus. Das verschleierte Bild von Sals wird
enthüllt - und ist ein Spiegel. So formuliert Hess im Anklang an Bruno
Bauer: Ich stellt sich (oder setzt sich) sich selber vor als ein anderes,
kommt aber durch die Aufhebung dieser Reflexion wieder zu sich,
nachdem es gleichsam durch die Entdeckung seines eigenen Lebens im
Spiegel ausser sich gekommen. Es sieht ein, dass das Spiegelbild sein
eignes ist.«l11
228 Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des Absoluten

Auch hier also hebt die Philosophie beim Ich an - und dieses Ich
ist das natürliche der Feuerbachschen Anthropologie, in eins gesetzt
mit dem Selbstbewusstsein Bruna Bauers: »Die verschiedenen Arten
oder Erregungen des Selbstbewusstseins, welche sich in der Zeit als
verschiedene Momente, Stufen, Schichte, Geschichten - im Raume als
verschiedene Exemplare oder Naturen darstellen, sind wirklich das
Produkt einer und derselben Tätigkeit, die das Selbstbewusstsein am
Ende als seine eigne erkennt (...) Der Wechsel, die Verschiedenheit des
Lebens kann nicht als ein Wechsel des Gesetzes der Tätigkeit, als ob-
jektiv verschiedenes Leben, sondern nur als eine Verschiedenheit des
Selbstbewusstseins begriffen werden.«!!
Nun steckt aber in der Einsicht, dass die Geschichte nicht ein Ge-
schick Gottes, sondern das Produkt des Menschen ist, mehr als nur der
Rekurs auf das Selbstbewusstsein. Denn »Leben ist Tätigkeit«!2, das
Denken, das in die Wirklichkeit eingreift, ist nicht mehr Denken, son-
dern Handeln: »Das wirkliche Denken der Wirklichkeit - ist die Tat.«!3
Die Tat aber ist die Aufhebung der Form des biossen Denkens, die Ver-
wirklichung der Philosophie geschieht also als Aufhebung der Philoso-
phie. So fordert Grün in seiner Kritik an Feuerbach diesen auf: »Lass
uns doch die neue Philosophie sogleich mit, lass uns alle Philosophie
verwirklichen, d. h. ihrer Form nach aufheben!«!4 Und Hess gibt einer
Broschüre den Titel »Die letzten Philosophen«; er schreibt darin, »dass
die Philosophie als solche überwunden, negiert, verwirklicht werden
müsse«, es sei der wahre Sozialismus, der »nicht bloss ausspricht, dass,
sondern wie die Philosophie als blasse Lehre zu negieren und im ge-
sellschaftlichen Leben zu verwirklichen« sei.!5
Philosophie und Wirklichkeit stehen sich hier als einander aus-
schliessende Konzepte gegenüber. Philosophie ist der blosse Schein
des Wirklichen, eine falsche, die sich den Seinsstatus der eigentlichen
Wirklichkeit angemasst hat, sodass es zu der Umkehrung kommt, als
sei das äussere Leben eine »leere Reflexion des leeren Ich, der Schatten
eines Schatten.«!6 Denkendes und Gedachtes werden in der Reflexions-
philosophie auseinandergerissen und unter der Dualität von Subjekt
und Objekt vorgestellt, was aber nichts anderes bedeutet, dass auch das
sich vorstellende Subjekt zum Objekt seiner selbst wird. Die Philoso-
phie ist der Ausdruck dieser Entfremdung des Menschen von sich
selbst, Ausdruck seiner Vergegenständlichung zum Substanz-Subjekt.
Erst wenn die Subjektivität jeder Gegenständlichkeit entkleidet ist,
wenn das Subjekt sich der Verdinglichung (wie man später sagen wird)
entledigt hat und sich rein als Tat (und nichts sonst) begreift, wird auch
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 229

die Entfremdung verschwinden; das ist die Menschwerdung des Men-


schen.
In dieser modernen Version des Entfremdungsgedankens lebt ein
gnostisch-frühchristliches Theologoumenon (in einer terminologisch
verkehrten Gestalt) wieder auf:!7 Es ist die Lehre, dass das eigentliche
Selbst des Menschen in der Welt »in der Fremde« sei und aus ihr erlöst
werden müsse, um wieder in die göttliche Lichtwelt aufzusteigen.
>Ent-fremdung< (verbal) heisst dann der Prozess, in dem der Mensch
aus der Fremde herausgeführt wird. Hegel wendet diesen Gedanken in
seinen Jugendschriften zunächst in radikal christologischer Sicht: Die
Heilsgewissheit dürfe nicht an eine transzendente Macht, den gnädigen
Gott, und nicht an eine äussere Verheissung gebunden werden, son-
dern müsse in der Innerlichkeit des Gläubigen, im Leben der Christus-
nachfolge verankert sein. Gott selbst erscheint als ein Fremdes, gegen
das sich das Selbstbewusstsein behaupten müsse: »Hütet euch, das
Rechttun und die Liebe als eine Abhängigkeit von Gesetzen und Ge-
horsam gegen Gebote zu nehmen und sie nicht als aus dem Lebendi-
gen kommend zu betrachten. (...) Ihr setzt für euch wie für andere vor
der Tat ein Fremdes, ihr erhebt zu einem Absoluten ein Fragment des
Ganzen des menschlichen Gemütes; stellt darin eine Herrschaft der
Gesetze und Knechtschaft der Sinnlichkeit oder des Individuums
auf.«18 Das »Königreich Gottes« ist selbst die Fremde, die »Einheit
durch Herrschen, durch Gewalt eines Fremden über ein Fremdes (...),
die aus der Schönheit und dem göttlichen Leben eines reinen Men-
schenbundes - dem Freiesten, was möglich ist - ganz entfernt werden
muss.«19 In dieser radikalen Aufsässigkeit der Subjektivität hätten sich
die Junghegelianer wiedergefunden (die diesen Text nicht kannten).
Hegel selbst hat diesen Begriff der »Fremde« schon bald aufgegeben ..
Zugleich verschiebt sich die Bedeutung des Verbums >entfremden< im
Sinne eines Reflexionsbegriffs. Es benennt nun den Vorgang, in dem
etwas sich selbst als fremdes entgegengestellt wird, und in dieser Be-
deutung wird das Wort durchgängig in der Phänomenologie des Geistes
verwendet. Weltimmanent kann Fremde nicht mehr als ein Ort an
sich gedacht werden, sondern nur als Relationsbegriff, als Bezeich-
nung des Andersseins (altentas), als ein Selbiges, das sich entzweit. Nun
ist aber dieses Aus-sich-heraus-gehen und Sich-in-ein-anderes-Iegen, in
ihm Sich-finden nicht mehr eo ipso böse (wie in der Gnosis), sondern
eine notwendige Stufe im Werden des Selbstbewusst-seins, das erst in
der Reflexion durch Anderes auf sich selbst seiner innewird: »Derje-
nige Geist, dessen Selbst das absolut Diskrete ist, hat seinen Inhalt sich
230 Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des Absoluten

als eine ebenso harte Wirklichkeit gegenüber, und die Welt hat hier die
Bestimmung, ein Äusserliches, das Negative des Selbstbewusstseins zu
sein.«21l
Hinter diese Position Hegels fallen die Junghegelianer wieder
zurück - und dieser Rückfall hängt aufs engste mit ihrer theologie- und
kirchenkritischen Stossrichtung zusammen. Das freie Selbstbewusst-
sein kann sich gegen die Institutionen von Dogmatik und Kirche nur
restituieren, wenn es sich aus den objektiven Vermittlungen, in denen
es sich entfremdet ist, aus »der Zerrissenheit des Inneren und Entfrem-
dung« wieder auf sich zurückzieht: »Wenn nämlich das freie, mensch-
liche Selbstbewusstsein alle die allgemeinen Bestimmungen, die für den
Menschen gelten und die Menschen untereinander verbinden, als Er-
zeugnis seinen Lebens betrachtet, erkennt und immer in seiner innern
allgemeinen und idealen Welt zusammenhält, hat das religiöse Be-
wusstsein dieselben von dem Selbst des Menschen losgerissen, in eine
himmlische Welt versetzt und so das unstete, schwankend und elend
gewordene individuelle Ich mit dem allgemeinen, wahrhaften Ich, mit
dem einzigen Ich, welches den Namen Menschen verdient, in Zwie-
spalt gesetzt.«21 Es ist das »Gesetz des Herzens«, das hier gegen den
»objektiven Geist« rebelliert und in den »Wahnsinn des Eigendünkels«
verfällt. 22 Genau der von Hegel dekouvrierten Illusion verfallen seine
Kritiker in einer Art von gnostizistischem Aktionismus der Befreiung.
Erst wenn die Subjektivität jeder Gegenständlichkeit entkleidet ist,
wenn das Subjekt sich der Verdinglichung (wie man später sagen wird)
entledigt hat und sich rein als Ta/und nichts sonst begreift - meinen sie
- wird auch die Entfremdung verschwinden; das ist die Menschwer-
dung des Menschen und zugleich das Ende der Philosophie. »Was
durch die moderne Wissenschaft Positives errungen werden kann, liegt
nicht mehr im Gebiete der eigentlichen Philosophie, nicht mehr im
Denken überhaupt (00') Das Positive muss jetzt in einem andern Gebiete
als der theoria gesucht werden (00')'« Was bisher nur im Denken und
durch Denken geleistet wurde, ist jetzt positiv zu verwirklichen. Darum
muss die Philosophie, »um Positives zu erringen, über sich selbst hin-
aus zur Tat fortschreiten.«23
Die zentrale Stellung des aus religionsphilosophischer Quelle stam-
menden Entfremdungstheorems 24 macht auch verständlich, warum
die »Philosophie der Tat« nicht nur die Philosophie, sondern auch die
Politik aufheben will; auch sie ist Manifestation der Objektivation des
Menschen, ist Vollzug der Subjekt-Objekt-Spaltung und muss folglich
verschwinden, wenn erst die Menschen in ihrer Selbstverwirklichung
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 231

ganz sie selbst, ganz menschlich geworden sind. Die Identität des Men-
schen mit sich ist und ist nur in seiner Tat realisiert; sie ist, ganz in der
Diktion Fichtes, Selbsterzeugung und als solche reine Subjektivität =
Freiheit, die durch keine Objekthaftigkeit mehr von sich verschieden,
entäussert, entfremdet ist. »Leben ist - Tätigkeit. Tätigkeit aber ist
Herstellung einer Identität durch Setzen und Aufheben seines Ge-
genteils, Erzeugung seinesgleichen, seiner Sichselbstgleichheit, durch
den Durchbruch der Schranke, welcher Ich Nichtich, Tätigkeit ist, mit
einem Worte, Selbsterzeugung, deren Gesetz der Geist durch seine
Selbsterzeugung erkennt.«25 Dann ist die »Philosophie des Geistes« zur
»Philosophie der Tat« geworden 26 und hat sich verwirklicht, nämlich im
Leben aufgelöst. Dann gilt: »Religion, Philosophie und Politik sind ge-
wesen und werden sich aus ihrer Auflösung niemals wieder erheben.«27
Was von einer positiven Philosophie als Wissenschaft überdauern wird,
ist der Ubergang in Praxis: »Ihre ganze Bedeutung ist die, praktisch zu
werden, die Wissenschaft der Praxis zu sein, die Verhältnisse des Men-
schen menschlich zu gestalten, die Eigentumsfrage, die Frage der Bil-
dung, die Frage der Ordnung und vor allen Stücken die Frage des
Übergangs zu erledigen.«28
Sollte diese Praxis nicht die des Stirnerschen Einzigen sein, so
musste, wenigstens formell, der Übergang vom individuellen Ich zur
Gattung vollzogen werden. Dies ist in der Tat der Weg, den Hess vom
Junghegelianismus zum Sozialismus gegangen ist. Feuerbach hatte die
Philosophie als Theologie entlarvt und diese auf Anthropologie redu-
ziert. Aber das Naturwesen des Menschen ist nicht allein in seiner In-
dividualität zu finden, sondern in seiner Geselligkeit. Darum kann
Hess die Feuerbachsche Entlarvungssequenz - Theologie ist das Ge-
heimnis der Metaphysik, Anthropologie das Geheimnis der Theologie
- noch um ein Glied weiterführen: Sozialismus ist das Geheimnis der
Anthropologie. »Theologie ist Anthropologie - das ist wahr - aber das ist
nicht die ganze Wahrheit. Das Wesen des Menschen, muss hinzugefügt
werden, ist das gesellschaftliche Wesen, das Zusammenwirken der ver-
schiedenen Individuen für den einen und denselben Zweck, für ganz
identische Interessen, und die wahre Lehre vom Menschen, der wahre
Humanismus ist die Lehre von der menschlichen Gesellschaftung, d.h.
Anthropologie ist Sozialismus.«29 Sozialismus wird hier mit Anarchie als
dem paradiesischen Zustand der Selbserzeugung und Selbstbestim-
mung des Menschen gleichgesetzt: »Selbstbestimmung von innen,
Überwindung der äusseren Schranke durch Selbstbeschränkung C•••)
Die Arbeit, die Gesellschaft überhaupt soll nicht organisiert werden,
232 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

sondern sie organisiert sich von selbst, indem jeder tut, was er nicht las-
sen kann, und unterlässt, was er nicht tun kann.«3o Die Selbstbeschrän-
kung der Tat - sozusagen als regulatives Prinzip einer anarchischen Ge-
sellschaft - ist die »praktische Ethik« des »wahren Sozialismus«, ihr
produktives Prinzip ist die Liebe (hier schlägt Feuerbach wieder durch).
Sie hatte der Philosophie, die auf den Verstand gegründet war, gefehlt:
»Hätte sie Liebe gehabt, so wäre sie nicht bei sich selber stehen geblie-
ben, sondern hätte sich aufgeopfert und wäre zur Tat übergegangen.«3!
Darum muss die Philosophie (wie die Politik) sich in einen Sozialismus
der Liebe auflösen: »Der Sozialismus ist tatsächliche Philosophie, ist
das Leben der zu Verstand gebrachten Liebe.«32
Im Kommunistischen Manifest werden Marx und Engels die »schön-
geistigen Redeblumen, durchtränkt von liebesschwülem Gemütstau«
verhöhnen, mit denen sich der »wahre Sozialismus« feuilletonistisch
schmückte. Die rhetorische Diktion der Hess und Grün verdeckt je-
doch nur ein philosophisches Versagen. Hess erkannte durchaus, dass
der junghegelianische Rückzug auf das individuelle Selbstbewusstsein
als der historisch bestimmenden Substanz weder dem ontologisch-an-
thropologischen Wesen des Menschen noch den Wirkungsgesetzen
der Geschichte entspricht; dass vielmehr die Gattungsgeschichte und
ihre Determinanten begriffen werden müssen, wenn die Philosophie in
ihre Verwirklichung übergehen soll. »Der Mensch kann sich als einzel-
nes Individuum gar nicht betätigen. Das Wesen der menschlichen
Lebenstätigkeit ist eben das Zusammenwirken mit anderen Individuen
seiner Gattung.«33 Kaum anders könnte das auch in den Pariser Ma-
nuskripten von Marx stehen. Solche Einsichten mögen Hess in der Zu-
sammenarbeit mit Marx und Ruge an den Deutsch-Franzijsischen Jahr-
büchern gekommen sein. Dort findet sich der Satz, dass »die natürliche
Weltanschauung (...) in der Gattung das Leben selbst, im Individuum
dagegen nur das Mittel zum Leben erblickt (...) Unsern Philistern, un-
sem christlichen Krämern und jüdischen Christen, ist das Individuum
Zweck, das Gattungsleben dagegen Mittel des Lebens. Sie haben sich
eine aparte Welt für sich geschaffen.«34 Tatsächlich aber bleibt im »wah-
ren Sozialismus« diese Erkenntnis ein bloss verbales Bekenntnis, weil es
Hess und Grün nicht gelingt, die Vermittlung zwischen der Besonder-
heit der individuellen Zwecke und der Gattungsallgemeinheit des Ge-
schichtsprozesses herzustellen. Sie stehen auf Feuerbachs Position,
wie Marx sie in der 9. und 10. Feuerbach-These charakterisiert hat;
denn ihre Konzeption von Praxis ist eben die der singulären Tathand-
lung: »Das Individuum ist die einzige Wirklichkeit der Idee; nur in ihm
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 233

kann das Leben überhaupt zum Selbstbewusstsein kommen, da keine


Identität, kein Ich denkbar ist ausser der Tat (...) Das Allgemeine ist
mithin unwirklich, nur eine Abstraktion des Individuums, welches die
Idee reflektiert, welcher es angehört sich aber im Gegensatz zu ihr,
nicht als ihre Wirklichkeit begreift (...) Das Allgemeine kommt, mit an-
deren Worten, aus den Individuen zu seinem Selbstbewusstsein, und
der Mensch, der die Lebensidee, das Allgemeine, als sein Leben er-
kennt, ist seine höchste oder vollkommenste Wirklichkeit.«35 Diese
Passage kann den ihr innewohnenden Widerspruch nicht verbergen.
Der Schluss scheint das Real-Allgemeine, die »Idee - und das wäre die
Bewegungsform der Gesellschaft, den Individuen überzuordnen; aber
dann soll dieses Allgemeine eben doch in der individuellen Tat, »in
einer unendlichen Reihe von Individuen, im unendlichen Sichanders-
werden oder Sichselbsterzeugen wirklich« werden. 36 Die Selbsterzeu-
gung wird aber, wie wir oben gesehen haben, ganz fichteanisch aufge-
fasst. Dieser Widerspruch reproduziert sich bei Grün: »Die wahrhafte
Persönlichkeit ist zugleich wahrhafte Allgemeinheit, die Allgemeinheit
ist noch tot und leer, ein abstrakter Begriff, solange sie nicht im einzel-
nen lebendige Wahrheit geworden ist. Die wahrhafte Persönlichkeit
setzt die Allgemeinheit der Persönlichkeit; die Allgemeinheit der Per-
sönlichkeit ist die Idee der Menschheit, der zu sich selbst gekommenen
Gattung.«37 Wieder streift der Wortlaut dicht an ein von Marx vorge-
tragenes Konzept, die allseitig entwickelte Persönlichkeit, der soziali-
stische Mensch. Die Aufhebung des Gegensatzes von Einzelheit und
Allgemeinheit ist ja dialektisch-logisch auch schon von Hegel vorge-
zeichnet worden. 38 Aber das entscheidende sachliche und begriffliche
Moment des Marxschen und des HegeIschen Gedankens fällt bei Hess
und Grün weg, die Vermittlung. Für Marx wie für Hegel erscheint im
Einzelnen das Allgemeine nur vermittelt, und die Vermittlung ge-
schieht im gesellschaftlichen Prozess und seiner theoretischen Abbil-
dung. Die »wahren Sozialisten« hingegen wollen, wie die Junghegelia-
ner, die unvermittelte Präsenz des Weltgeists im Singulären: »Der
Sozialismus überwindet diesen historischen Begriff eines Mittelgliedes
zwischen Individuum und Menschheit.«39 Eine schwärmerisch-anar-
chistische Vorstellung von der Gesellschaft ist die Konsequenz: »Wir
brauchen nichts mehr, als die Lichtatmosphäre der Freiheit anzuerken-
nen, nichts mehr als die Wächter der Nacht abzuschaffen, um uns alle-
samt freudig die Hände drücken zu können.«4o Es bestätigt sich die
Richtigkeit der Stossrichtung der eingangs zitierten Kritik von Lukacs
an den »wahren Sozialisten«. Das Programm der Verwirklichung der
234 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

Philosophie ist nicht durchzuführen, wenn nicht an Hegels Grundein-


sichten in die Dialektik festgehalten wird. Die Hegelkritik der Junghe-
gelianer und der »wahren Sozialisten« verfehlt ihre eigene Intention.
Kar! Marx hat von Anfang an erkannt, dass in der richtigen Be-
stimmung des Verhältnisses zu Hegel der Angelpunkt für die Weiter-
entwicklung der Theorie, für das Gelingen von Aufhebung und Ver-
wirklichung der Philosophie, liegt. Nicht zufällig sind drei der
hauptsächlichen Manuskripte, in denen er seine eigenen Positionen
herausarbeitet, der direkten Auseinandersetzung mit Hegel gewidmet:
Die Kritik des Hegeischen Staatsrechts, die Kritik der Hege/sehen Rechtsphiloso-
phie. Einleitung und das sechste Manuskript von Nationalökonomie und
Philosophie (Pariser Manuskripte). Hier, wie schon in den allgemeinen Par-
tien seiner Dissertation, gewinnt Marx in der Auseinandersetzung mit
Hegel den ihm eigentümlichen Begriff der Philosophie, der dann in der
Tat einen »revolutionären Bruch« mit der traditionellen Philosophie
einschliesst und begründet. 41 Damit wird Marx im Vormärz zum Über-
winder der Philosophie des Vormärz.
Zunächst scheint Marx mit den Junghegelianern und den wahren
Sozialisten die Problemstellung gemeinsam zu haben: Die Verwand-
lung der spekulativen Philosophie in Kritik, die Auffassung von der
Geschichte als Prozess der Selbsterzeugung des Menschen, der Über-
gang von der kontemplativen Einstellung zu einer Philosophie der
Tat - und in jeder dieser Hinsichten wird die Philosophie als Philoso-
phie negiert, soll ihr Inhalt, der freie Mensch, velWirklicht werden.
Diese Gemeinsamkeiten verführen dazu, die Frühgeschichte des
Marxschen Denkens in den Kontext der politisch-philosophischen
Ideologie des Vormärz einzuordnen, so als komme seine Lösung von
den Junghegelianern in der Heiligen Familie und in der Deutschen Ideolo-
gie erst mit seiner politischen Zuwendung zum Kommunismus in Paris,
und dabei zu übersehen, dass von Anfang an, seit der Arbeit an der
Dissertation, Marx gegenüber den sonstigen Philosophen des Vor-
märz einen radikal anderen Begriff von Philosophie und mithin auch
von Kritik hat. 42
Es ist die übereinstimmende, wenn auch mit verschiedener Radika-
lität verfolgte Tendenz der nachhegelsehen Linken, die kritische De-
struktion der hegelschen Philosophie, als des abgeschlossenen Systems
der philosophischen Darstellung der Wirklichkeit, in eine Aufhebung
der Philosophie überhaupt einmünden zu lassen. »Ein Herbstgefühl
war da, als wäre nach Hegel nichts Grosses mehr zu schaffen und die
Welt zu Ende gedacht. Als wäre der >Weltgeist< in Hegels Lehre philo-
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 235

sophisch angekommen, dergestalt, dass der Jugend nur übrig bliebe,


ihn aus dem Berliner Schloss, wo er abgestiegen, umzubetten, ihn auf
die linke Seite zu legen, auf die subjekthaft >kritische< Seite des >Selbst-
bewusstseins<.43 Eben dieses »Selbstbewusstsein«, von Strauss und
Bauer über Stirner bis zu Hess der Bezugspunkt aller Kritik an der äus-
seren, objektiven Wirklichkeit, war der Ort jener privaten Subjektivität,
die mit der idealistischen Systemgestalt auch den öffentlichen Auftrag
der Philosophie preisgab. »Man kann in jedem der Hegelschen >Diado-
chen< eine verfehlten Versuch der philosophischen Selbstüberwindung
(...) erkennen.«44 Genau diese Selbstüberwindung der Philosophie als
Rückzug ins individuelle Lebensgefühl des Ich - sei es kontemplativ, sei
es aktionistisch (was nur zwei Seiten der gleichen Ego-Zentrik sind) -
hat Marx nie mitgemacht. Natürlich muss die Verwirklichung der Phi-
losophie ihre Aufhebung bedeuten; denn als Wirklichkeit ist sie ja eben
nicht mehr Philosophie im Reich des Gedankens, sondern Selbster-
zeugung des Menschen als politische Tat im Reiche der materiellen
Verhältnisse. Aber »Aufheben« heisst für Marx wie für Hegel nicht nur
»Vernichten«, sondern zugleich »Aufbewahren« und »auf ein höheres
Niveau heben«. Marx spricht nicht vom Ende der Philosophie (wie
Bauer), nicht von den letzten Philosophen (wie Hess), sondern von der
Aufgabe, die der Philosophie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu-
kommt: »Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet
das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald
der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volks boden ein-
geschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen
vollziehen (...) Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr
Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen
ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht
aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.«45 Ist die Philo-
sophie eine Waffe der Emanzipation, so ist sie jedenfalls nicht annul-
liert, wohl aber verändert. Denn sie wird nun zur universellen Kritik
der Verhältnisse, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknech-
tetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«46: »Es ist zunächst
die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nach-
dem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt
ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven.
Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde,
die Kritik der Religion in der Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die
Kritik der Politik.«47 Und genau dieses Programm vom Dezember 1843 ist
auch schon in der Dissertation von 1840 enthalten: »Allein die Praxis
236 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die einzelne
Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee misst.«48
Gegenüber der bloss negativen Kritik der Junghegelianer, die auf
eine Zersetzung der Positivität der Philosophie hinauslief, hält Marx
hier daran fest, dass Kritik aus einem Kriterium begründet werden
müsse, das den Sollwert gegenüber dem Istzustand angibt. Dieses Mass
wird hier noch mit dem eher kantisch als hegelisch gebrauchten Ter-
minus »Idee« benannt; eine Theorie über die inhaltliche Bestimmung
des historisch-gesellschaftlichen Richtmasses wird erst auf der Grund-
lage des ausgearbeiteten historischen Materialismus geliefert werden
können. Wesentlich ist, dass Marx von seinen Anfängen an der Philo-
sophie als Theorie des Systems gesellschaftlicher Zwecke und damit als
handlungs orientierend einen wohl definierten Platz in der politischen
Selbstverwirklichung des Menschen zuweist. Diese nichtutopische,
jede idealistische Auffassung vom Status der Theorie ausschliessende
Parallelität von Idee und Wirklichkeit hat er dann klar formuliert: »Die
Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die
Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist (...) Werden die theoretischen Be-
dürfnisse unmittelbar praktische Bedürfnisse sein? Es genügt nicht,
dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss
sich selbst zum Gedanken drängen.«49 Diesem weiterentwickelten
Konzept von der Verwirklichung der Philosophie in der Befriedigung
der von Philosophie und Wissenschaften theoretisch bestimmten hi-
storisch-gesellschaftlichen Bedürfnissen und der Entfaltung der Ten-
denzen und Möglichkeiten entspricht durchaus der noch weniger
präzise, aber in der gleichen Richtung zielende Gedanke aus der Dis-
sertation, »dass das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Welt-
lich-Werden der Philosophie ist.«50
Aber auch schon der Doktorand Marx sah, dass die zwecksetzende
oder antizipierende Funktion der Philosophie nicht widerspruchsfrei
mit ihrem historischen Reflexionsgehalt zu vereinigen ist. Wenn eine
Philosophie den Zeitgeist zum Ausdruck bringt, so sind auch ihre nor-
mativen Postulate ein Ausdruck eben dieser ihrer Zeit; und wenn die
Wirklichkeit so beschaffen ist, dass sie das Wesen des Menschen ver-
zerrt, so können auch die von der Philosophie entdeckten oder ent-
worfenen Zwecke und Ideen die historische Tendenz nur verzerrt wie-
dergeben. Die Philosophie muss also ihren Anspruch aufgeben, das
absolute Wissen zu konstruieren oder den absoluten Geist zu reprä-
sentieren; sie könnte diesen Anspruch nur formal (im Konstruktions-
prinzip einer Methode 51 ) einlösen und dann gerade nicht praktisch,
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 237

handlungsorientierend, verwirklichbar sein. Wenn und indem die Phi-


losophie als selbst geschichtliche jedoch in die geschichtliche Wirklich-
keit eingreift, ist sie partikulär und ergreift Partei, sodass sie mit ihrer In-
tention auf Totalitat (- die Philosophie denkt das Wahre, und das
Wahre ist das Ganze -) in Widerspruch gerät. Mit grossem Scharfsinn
hat Marx dieses Problem schon in der Dissertation angesprochen: »Al-
lein diese unmittelbare Realisierung der Philosophie ist ihrem innersten
Wesen nach mit Widersprüchen behaftet, und dieses ihr Wesen gestal-
tet sich in der Erscheinung und prägt ihr sein Siegel auf. Indem die Phi-
losophie als Wille sich gegen die erscheinende Welt herauskehrt, ist das
System zu einer abstrakten Totalität herabgesetzt, das heisst es ist zu
einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht.«S2 Nur
solange dieses Gegenüberstehen sich rein anschauend verhält, kann die
ideelle Totalität des Systems als Abbild der Welt erhalten bleiben. So-
bald indessen der »Trieb, sich zu verwirklichen« das System beseelt,
»tritt es in Spannung gegen Anderes«, nämlich als selbst eine Wirklich-
keit gegen die äussere Wirklichkeit. 53 Wer der Philosophie die Aufgabe
stellt, sich zu verwirklichen, beraubt sie des Scheins von Totalität, der
ihr als Gedankengebilde anhaftet. Sie muss ihre Prätention aufgeben,
ewige Normen zu setzen und ewige Wahrheiten zu begründen; be-
stenfalls kann sie kritisch das Verhältnis ihrer relativen Wahrheit zur ab-
soluten zu bestimmen versuchen. 54 Drei Jahre nach der Dissertation
bekräftigt Marx das in seinem Brief an Ruge vom September 1843:
»Die Philosophie hat sich verweltlicht, und der schlagendste Beweis
dafür ist, dass das philosophische Bewusstsein selbst in die Qual des
Kampfes nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich hineingezogen
ist. Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zei-
ten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu
vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden (... )
Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen
Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und
praktischen Bewusstseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der
existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und
ihren Endzweck entwickeln.«55 Kein Fertigwerden für alle Zeiten,
keine Vorwegnahme kontingenter Ereignisreihen, wohl aber Rekon-
struktion des in der Sache selbst liegenden objektiv möglichen
Wünschbaren, Erstrebenswerten. Auch das Verfahren, wie die objek-
tive Möglichkeit ermittelt werden kann, gibt Marx in dem eben zitier-
ten Brief schon an: Es ist als Auflösung existierender Widersprüche zu
entwerfen: »Was nun das wirkliche Leben betrifft, so enthält gerade der
238 Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des Absoluten

politische Staat, auch wo er von den sozialistischen Forderungen noch


nicht bewussterweise erfüllt ist, in allen seinen modernen Formen die
Forderungen der Vernunft. Und er bleibt dabei nicht stehen. Er unter-
stellt überall die Vernunft als realisiert. Er gerät aber ebenso überall in
den Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit seinen realen Vor-
aussetzungen. Aus diesem Konflikt des politischen Staats mit sich
selbst lässt sich daher überall die soziale Wahrheit entwickeln.«56
Damit ist die Praxis der Philosophie als theoretische bestimmt. Ihr
fallen für ihre Verwirklichung drei Aufgaben zu:
1. Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche;
2. Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Ana-
lysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins;
3. der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien zu ent-
wickelnY
Indem sie diese Aufgabe erfüllt, hebt sie sich auf, und zwar in einem
doppelten Sinne: Sie geht ein in die politische Tat der sich selbst erzeu-
genden Menschen, die aus der Entfremdung zu sich selbst kommen,
und wird als Moment der Tat aufbewahrt. Sie annulliert sich aber auch,
denn mit der Verwirklichung der von ihr gesetzten Prinzipien und
Zwecke treten neue, diesen eigentümliche Widersprüche auf, deren
Auflösung neue theoretische Entwürfe verlangt. Die menschliche Ge-
schichte ist ein in die Zukunft hinein offener Prozess, der sich in man-
nigfachen einander ablösenden Philosophien ausgedrückt findet, die
bisher jede für sich als adäquates Modell des Ganzen auftraten und
sich gegenseitig ins Unrecht setzten: »Indem die Philosophie zu einer
vollendeten, totalen Welt sich abgeschlossen hat - die Bestimmtheit
dieser Totalität ist bedingt durch ihre Entwicklung überhaupt, wie sie
die Bedingung der Form ist, die ihr Umschlagen in ein praktisches Ver-
hältnis zur Wirklichkeit annimmt - so ist also die Totalität der Welt
überhaupt dirimiert in sich selbst, und zwar ist diese Diremption auf
die Spitze getrieben, denn die geistige Existenz ist frei geworden, zur
Allgemeinheit bereichert (...) Die Welt ist also eine zerrissene, die einer
in sich totalen Philosophie gegenübertritt. Die Erscheinung der Tätig-
keit dieser Philosophie ist dadurch auch eine zerrissene und widerspre-
chende; ihre objektive Allgemeinheit kehrt sich um in subjektive For-
men des einzelnen Bewusstseins, in denen sie lebendig ist.«58 Mit der
Einsicht in die Historizität und Parteilichkeit philosophischer Systeme,
in deren Aufhebung durch Verwirklichung, und mit der dadurch erfol-
genden Erweiterung der Philosophie um das Moment der prinzipiellen
Selbstkritik wird eine neue Stufe der Philosophie erreicht, auf der sie
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 239

sich als Mittel (= Instrument und Vermittlung) des gesellschaftlichen


Fortschritts verstehen und ihren relativen Wahrheitsgehalt definieren
und akzeptieren kann, weil sie weiss, dass ihre »Existenz eine histori-
sche ist, zugleich aber als eine philosophische behauptet, also ihrem
Wesen nach entwickelt werden muss.«59 In diesem Sinne wird Philoso-
phie experimentell.
Sie untersucht eine Sache an einem Querschnitt, der in einer Zeit-
ebene durch ihre Entwicklung gelegt wird, einschliesslich der Gründe
ihres Gewordenseins und der Möglichkeiten ihres Werdens; und sie
konstruiert ein Modell der wesentlichen Seiten der Sache, die sich an
diesem Querschnitt zeigen. Die Entwicklung geht weiter, und an einem
neuen Querschnitt wird das Modell verändert oder durch ein anderes
ersetzt. Da aber die Weltgeschichte ein Kontinuum ist, in dem »die Ge-
genwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergangenheit
beladen ist«6o, verlieren auch obsolet gewordene Modelle nicht ihren
Erkenntniswert.
In jedem Falle muss aber eine Philosophie (wie jede Theorie) als
eine bestimmteAbstraktion61 über einer konkreten und veränderlichen Si-
tuation aufgefasst und beschrieben werden. Marx' Vorwurf gegen die
HegeIsche Philosophie - den er explizit von Feuerbach übernimmt -
geht darauf, dass Hegel das Allgemeine nicht aus den eigentümlichen
Verhältnissen der Einzelnen deduziere, nicht also seine logische und hi-
storische Genesis angebe, sondern es als die Verfassung der \X'elt a pri-
ori voraussetze. Damit aber wird die empirisch mannigfaltige Wirklich-
keit zu einem Epiphänomen des absoluten Begriffs, und gar zu einem
Epiphänomen, von dem - das Absolute als Erstes vorausgesetzt - die
Notwendigkeit seines Auftretens nicht einmal mehr aufgewiesen wer-
den kann. 62 Die Vielheit wird einfach vorgefunden, und darin liegt ein
versteckter Empirismus in Hegels System, den dieser nicht themati-
siert. »Das Allgemeine erscheint daher überall als ein Bestimmtes, Be-
sonderes, wie das Einzelne nirgends zu seiner wahren Allgemeinheit
kömmt.«"3 An der konstruktiven Funktion, die Allgemeinheit, Beson-
derheit und Eim;elheit im Aufbau der dialektischen Philosophie haben,
entscheidet sich deren idealistischer oder materialistischer Charakter;
hier setzt die »Umkehrung« an, als welche Marx die materialistische im
Verhältnis zur idealistischen Dialektik begreift. 64
Damit gelangen wir zu dem Punkt, an dem das Philosophiekonzept
des jungen Marx seinen konstruktiven Sinn offenbart; die bloss nega-
tive Dialektik der sich nur als Kritik verstehenden Philosophie der
Junghegelianer und wahren Sozialisten wird überwunden und Hegels
240 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten

spekulative Totalisation durch das Verfahren der Umstülpung für eine


materialistische Philosophie fruchtbar gemacht. 65 Erst die Umstülpung
schliesst aber auch die Möglichkeit der Verwirklichung, den Übergang
zur politischen Praxis ein, ohne dabei auf Fichtes Ich-Philosophie, auf
die begründende Rolle des Selbstbewusstseins und die Autonomie der
Tathandlung zurückfallen zu müssen. In der Weise ihrer kritischen An-
eignung Hegels sind Marx und Engels der philosophischen Opposition
des Vormärz überlegen. Dass sie die Struktur der Hegelschen Logik
nicht aufgegeben, sondern ihr eine materialistische Lesart abgewonnen
haben, gab ihnen einen Boden für die wissenschaftliche Theorie der
Geschichte und der politischen Ökonomie; diese aber hat es nun mit
dem Bereiche zu tun, in dem die Philosophie sich verwirklicht, nämlich
mit der gesellschaftlichen Tätigkeit und ihren Objektivationen, mit der
Konstitution des Gattungswesens Mensch, die erst mit der Aufhebung
der »Vorgeschichte«, also der Entfremdung und der Klassengesell-
schaft als dem wirklichen Grund der Entfremdung, abgeschlossen ist.
Auf diesen Umschlag der Vorgeschichte in die wahre Geschichte der
Menschheit weisen die klassischen Philosophien in der Ausarbeitung
der Rationalität des menschlichen Weltverhältnisses voraus, wenn auch
noch unter Bedingungen der Hemmung durch unzureichende Ent-
wicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Aus der Einsicht in diesen
Verlauf der Geschichte und ihrer philosophischen Reflexion zieht En-
gels die Gewissheit des Übergangs von der Philosophie zum Kommu-
nismus, das heisst der Verwirklichung der Philosophie: »Unsere Partei
muss nachweisen, dass entweder alle philosophischen Anstrengungen
der deutschen Nation von Kant bis Hegel nutzlos gewesen sind -
schlimmer als nutzlos - oder dass sie im Kommunismus enden müs-
sen.«66
IH. Hauptstück

1--1
1--1
1--1
Die »Umkehrung« Hegels
durch den Marxismus
1. Kapitel:
Der Übergang zur materialistischen Dialektik

1. Für und wider Hege!

Der Marxismus ist ganz und gar eine Philosophie, und dies nur, indem
er zugleich mehr als bloss eine Philosophie ist. Die im engeren Sinne
philosophischen Arbeiten von Marx und Engels und Lenin sind nicht
zahlreich, viele davon zudem aus polemischem Anlass geschrieben -
wie die Heilige Familie, die Deutsche Ideologie, der Anti-Dühring, der Mate-
rialismus und ~mpiriokritizismus - oder fragmentarische Stücke - wie die
Dialektik der Natur und Lenins Philosophischer Nachlass. Aus ihnen, für
sich genommen, eine systematische philosophische Grundlage rekon-
struieren zu wollen, die tragfähig wäre, die wissenschaftliche \'JC'eltan-
schauung des Sozialismus zu begründen, schlösse zahlreiche willkürli-
che Extrapolationen ein oder müsste allzu karg bleiben, um das leisten
zu können, was Philosophie als Grundlegungswissenschaft unverzicht-
bar zu leisten hat.
Doch würde eine Rekonstruktion des Philosophie des Marxismus
aus dem Repertoire rein philosophischer Aussagen von Marx, Engels und
Lenin auch den besonderen Charakter der marxistischen Philosophie
nicht treffen und den besonderen Modus und Status von Philosophie
im Marxismus verfehlen. Von ihren Anfängen her haben Marx und
Engels ihre Philosophie zugleich als Verwirklichung und Aufhebung der
Philosophie (in ihrer traditionellen Gestalt) verstanden. Schon in der
Doktordissertation von Marx finden sich in einer ausführlichen
Anmerkung zur Situation der Philosophie nach Hegel die programma-
tischen Sätze: »Die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die
Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit
an der Idee misst. Allein diese unmittelbare Realisierung der Philosophie
ist ihrem innersten Wesen nach mit Widersprüchen behaftet (...)«1 Re-
flexionsverhältnis zu sein, ist das Wesen der Philosophie und ihre ei-
gentliche Bedeutung als besondere Wirklichkeit des Menschseins -
denn nur der Mensch reflektiert sein eigenes Verhältnis zur Welt und
gewinnt in dieser Reflexton die Fähigkeit, Zwecke zu setzen und sich
selbst zu bestimmen, also in Freiheit zu sein. Zwecke setzend und
244 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

damit seine Handlungen anleitend, verlässt der philosophierende


Mensch aber gerade wieder die theoretische Sphäre von Erkenntnis des
Wesens und Konstruktion der Idee und lässt sich erneut darauf ein,
hier und jetzt besondere Zustände herzustellen, er wendet sich als Täti-
ger dem Einzelnen zu und tut genau das, was er als Philosophierender
der Kritik unterzieht. »Indem die Philosophie als Wille sich gegen die
erscheinende Welt herauskehrt, ist das System zu einer abstrakten To-
talität herabgesetzt, das heisst, es ist zu einer Seite der Welt geworden,
der eine andere gegenübersteht.«2 Die unvermittelte Übersetzung der
Philosophie der Reflexion des Allgemeinen in die Lebenstätigkeit als
Gestaltung des Besonderen produziert nur den Schein der Realisierung
der Philosophie und reproduziert in Wirklichkeit die unaufgehobene
Differenz von Theorie und Praxis. »So ergibt sich die Konsequenz,
dass das Philosophisch-werden der Welt zugleich ein Weltlich-werden
der Philosophie, dass ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, dass,
was sie nach aus sen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist.«3
Diese Einsicht des Doktoranden Marx in den Selbstwiderspruch
der Philosophie wird zum Leitmotiv seiner Ablösung vom Hegdianis-
mus. Denn es war genau die Schwäche des Hegelschen Systems, zwar
die Geschichte als allgemeine Idee konstruieren zu können, jedoch die
politische Wirklichkeit nur als Abbild der Idee und nicht als die Wirk-
lichkeit der Einzelnen zu begreifen, aus der sich das Allgemeine kon-
stituiert. In der Kritik an § 301 der Hegelschen Rechtsphilosophie zeigt
Marx diese Verkehrung: »Das Subjektwerden der >allgemeinen Angele-
genheit<, die auf diese Weise verselbständigt wird, wird hier als ein Mo-
ment des Lebensprozesses der >allgemeinen Angelegenheit< dargestellt.
Statt dass die Subjekte sich in der >allgemeinen Angelegenheit< verge-
genständlichten, lässt Hegel die >allgemeine Angelegenheit< zum >Sub-
jekt< kommen. Die Subjekte bedürfen nicht der >allgemeinen Angele-
genheit< als ihrer wahren Angelegenheit, sondern die allgemeine
Angelegenheit bedarf der Subjekte zu ihrerformellen Existenz.«4 Weiter:
»Die Form, welche die allgemeine Angelegenheit in einem Staate ge-
winnt, der nicht der Staat der allgemeinen Angelegenheit ist, kann nur
eine Unform, eine sich selbst täuschende, eine sich selbst widerspre-
chende Form sein, eine Scheinform, die sich als dieser Schein ausweisen
wird.«5 Die philosophische Reflexion des Wesens der res publica als
Reflexion der sich selbst widersprechenden und also unwesentlichen
Form, in der die res publica sich im modernen Staat »im lf/iderspruch der
unvernünftigen Wirklichkeit, die an allen Ecken das Gegenteil von dem ist,
was sie aussagt, und das Gegenteil von dem aussagt, was sie ist«6 mani-
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 245

festiert, führt zur idealistischen Verfestigung des Scheins, als sei die Il-
lusion die Wirklichkeit des Begriffs der Sache selbst. Für das Verhältnis
von Philosophie und Wirklichkeit ist jedoch die bewertende Bemer-
kung zu diesem Paragraphen aus der Kritik des fiege/sehen Staatsreehtsent-
scheidend: »Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen
Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das W1:sen des
Staats ausgibt.«7
Philosophie als Philosophie führt entweder in das leere Sollen des
Kantianismus, der aus einem abstrakten Ideal den Imperativ des Han-
delns herleiten will, welcher dann nur ganz formal bleiben kann; oder
in den Fehler des Hegelianismus, das Wirkliche, weil es absolut als
Ganzes der Geschichte nur das Vernünftige sein kann, auch in den Be-
sonderungen seiner jeweils historischen, relativen Daseinsformen für
vernünftig zu halten. Die Idealität jeder Theorie des Allgemeinen gerät
gegenüber der Realität des Einzelnen ins Unrecht, die blosse Vorstel-
lung von der Realität des Einzelnen bleibt aber ohne Theorie des All-
gemeinen am Schein begriffsloser Wahrnehmung haften.
Marx hat von der Kritik an Hegel das Motiv aufgenommen 8, den
Seinsprimat und die eigentliche Wirklichkeit des Einzelnen nicht preis-
zugeben, und daran hat er, als an einer Grundlage jedes Materialismus,
zeit seines Lebens festgehalten. Anders jedoch als die Bewusstseins-
philosophen, die ihr Rüstzeug aus dem Arsenal Fichtes holten, anders
auch als die irrationalistischen Willens- und Existenzphilosophen, wie
der späte Schelling und Kierkegaard, blieb Marx Aristoteliker: Die reale
Einzelheit ist das Dieses-da (tode tl) der »ersten Substanzen«9, diese sind
logisch wie ontisch das Erste, das Fundament, von dem keine Begriff-
sontologie absehen darf, will sie sich nicht in den luftigen Gespinsten
eines bloss ideellen Seins verfangen. Es war der einhellige Vorwurf der
nachhegeischen Generation, dass Hegel dieser Gefahr nicht entgangen
sei. Da, wo die Auseinandersetzung mit Hegel den politischen und re-
ligionskritischen Vordergrund durchstösst - nämlich bei Schelling und
Feuerbach -, steht das universalientheoretische Problem des Verhält-
nisses von Einzelnem und Allgemeinem, von Ontischem und Logi-
schem, von Wirklichkeit und Begriff im Mittelpunkt. Es genügt nicht,
die Bewegung des tatsächlich Seienden in der Selbstbewegung des Be-
griffs zu fassen; denn das Faktische geht nicht einfach im Begriff auf,
dem es subsumiert wird, die Subsumption selbst ist erklärungs be-
dürftig und muss als Verhältnis zwischen dem factum brutum und der
Wesensform bestimmt werden. \XTesen und Erscheinung sind gerade
nicht identisch, bemerkt Marx viel später, am Kern der Hegelschen
246 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Dialektik festhaltend, sonst bedürfte es keiner Theorie. Die Kritik an


der »seitherigen Philosophie, der Philosophie als Philosophie« richtet
sich also nur gegen die Philosophie, die sich gegenüber der von ihr re-
flektierten Wirklichkeit verselbständigt und gar, idealistisch, ihre Be-
griffswelt an deren Stelle setzt; nicht aber gegen die Philosophie über-
haupt, denn »als Gattungsbewusstsein bestätigt der Mensch sein reelles
Gesellschaftsleben und wiederholt nur sein wirkliches Dasein im Den-
ken, wie umgekehrt sich das Gattungssein im Gattungsbewusstsein
bestätigt und in seiner Allgemeinheit, als denkendes Wesen, für sich
ist.«!O
Die Ausbildung des Gattungsbewusstseins ist es, die die menschli-
che Gattung von allen anderen Gattungen unterscheidet und sie dazu
befähigt, nicht nur Geschichte zu machen (indem die Menschen arbei-
ten und ihren Arbeitsprozess organisieren), sondern auch Geschichte
Zu haben. Da aber das Gattungsbewusstsein immer nur in der Form von
Allgemeinbegriffen existiert, die gerade in der unmittelbaren Wahr-
nehmung keine Deckung finden, entfernt sich das Denken des ge-
schichtlich-gesellschaftlichen Wesens des Menschen von den Erfah-
rungen seiner Lebenswelt und bekommt den Schein einer eigenen, der
eigentlichen Wirklichkeit der Begriffswelt. Daher bemerken Marx und
Engels kritisch: »Für den Philosophen ist es eine der schwierigsten
Aufgaben, aus der Welt des Gedankens in die wirkliche Welt herabzu-
steigen.«!!
Hier treffen Marx und Engels sich in ihrer Frühphase durchaus mit
dem späten Schelling, der Hegels Begriffshypostasen bekämpft hatte.
»Dass etwas ist, so lehrt der spätere Schelling, dies einzelne und wirkli-
che Dasein ist aus Denken und Vernunft nicht ableitbar (...). Die kräf-
tige Hegelkritik Schellings (...) zeigte, wie sich später herausstellte, ge-
rade an dem von Schelling gegen Hegel ausgespielten Existenzmotiv
eine nachdenklich machende Fruchtbarkeit (...). Der Begriff als Welt-
wesen käme ohne Nichtbegriffliches, Nichtlogisches, das reizt und an-
stösst, über ein dürres A = A keinen Schritt hinaus.«!2 Schellings eigene
Erfahrung, dass ihm die logische Geschlossenheit des philosophischen
Systems misslungen war13 und seine nicht aufgegebene Überzeugung,
dass Philosophie nur als System sich erfülle!4, führten ihn zu einer Be-
gründung der Philosophie im reinen vorlogischen und alogischen Sein,
einem actus purus des absoluten Existierens, der nicht mehr in der
Philosophie entwickelt, sondern nur noch als nicht-philosophischer
Grund der Philosophie hingenommen werden konnte. Gegen die ge-
samte Geschichte der Philosophie sei einzuwenden: »Der gemein-
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 247

schaftliche Charakter aller dieser Systeme ist der bloss logische Cha-
rakter, oder, dass in ihnen die bloss logische Verknüpfung gesucht wird
(...). Von jeher, sagt man, ist die Philosophie erklärt worden als eine
durch biosses Denken zu erzeugende Wissenschaft. Das blosse Den-
ken geht aber nicht über den Begriff hinaus (...). Es käme also darauf
an, das Gegenteil dieses Begriffs zu finden.«15 Zunächst klingt dieser
Einwand gegen den Panlogismus kaum anders als der der Linkshegeli-
aner: »Alles ursprüngliche Denken bezieht sich immer auf einen wirk-
lichen Gegenstand.«16 Auch der Zweifel an der Logizität des Weltlaufs
scheint eine kritische Wendung gegen die These von der Vernünftigkeit
des Wirklichen einzuleiten: »Der erste Eindruck (und dieser ist nicht
bloss im Leben entscheidend, sondern auch in der Wissenschaft) die-
ses im Ganzen und Einzelnen so höchst Zufälligen, was wir Welt nen-
nen, kann unmöglich der Eindruck eines durch Vernunftnotwendigkeit
Entstandenen sein (...). Die Welt sieht nach alles weniger aus als nach
einem Erzeugnis reiner Vernunft.«17 Dann aber führt Schellings Weg
über eine »Fundamentalontologie«18 zur Philosophie des Glaubens
oder der Offenbarung: Das erste, nicht-kontingente, also notwendige
und damit begründete Sein muss hingenommen werden. »Ich weiss
nicht von seinem Sein vor seinem Sein. Dies affirmativ ausgedrückt:
ich weiss von seinem Sein nicht eher als eben durch sein Sein.«19 Damit
ist eine neue Art »Empirismus« eingeführt, der sich nicht auf das Zeug-
nis der Sinne und auf die Erfahrung der Gegenständlichkeit, Wider-
ständigkeit der äusseren Welt gründet, sondern aus einer inneren Er-
fahrung seine Gewissheit nimmt. Hier schlägt die vom wirklichen,
existierenden Sein her das Denken kritisierende Philosophie in einen
Irrationalismus um, der die Dialektik der Vermittlungen in der Unmit-
telbarkeit eines Glaubensaktes vernichtet. 2o Die Säkularisierung der
Philosophie wurde mit einem Schlage rückgängig gemacht, die Auf-
klärung und ihr Anspruch, die Welt aus sich selbst, also weltlich zu er-
klären, verworfen, das reifste Produkt dieses Weltlichwerdens der Phi-
losophie, die Hegelsche Philosophie, zur Sackgasse erklärt. Die
Philosophie wird wieder in die Religion als ihren Ursprung zurückge-
führt: »Derselbe, der vor aller Potenz ist, in dem nichts Allgemeines,
und der daher nur absolutes Einzelwesen seyn kann, eben dieser ist der
Inbegriff aller Principe, das alles Seyn Begreifende (...). In diesem das
Seyende-seyn ist seine ewige Gottheit, es ist das, wodurch er sich er-
kennbar macht.«21 Die Restitution der Religion nach der >Weltweisheit<
der Aufklärung - das bedeutete ebenso die Restauration nach der Re-
volution.
248 Die "Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

So war unter denen, die an Hegel festhielten oder auch unter denen,
die kritisch über ihn hinausgehen wollten, der Widerspruch gegen
Schelling ein obligates Exercitium der Selbstverständigung. Kritisierte
man HegeI, so musste man sicher gehen, nicht zu der Mannschaft der
Schellingianer gezählt zu werden. Im Vorwort zu den Deutschen Jahr-
büchern 1841 nennt Ruge den Zusammenhang von Religion und Politik
in Schellings Programm: "War früher Berlin kein Ort für den Trieb und
die geistige Bewegung, die wir soeben beschrieben, so hat seit kurzem
ganz Preussen entschieden die Farbe der Apologetik und der Defen-
sive gegen die neueste Philosophie angenommen. Das romantische
Prinzip ist für den Augenblick entschieden.«22 Und Marx schreibt 1843
an Feuerbach in der Erwartung, dass dieser "doch manches noch über
diesen Windbeutel in petto« hätte: "Ein Angriff auf Schelling ist also
indirekt ein Angriff auf unsre gesamte und namentlich auf die preus-
sische Politik. Schellings Philosophie ist die preussische Politik sub spe-
cie philosophiae.«23 Strauss hatte schon vor Schellings Berufung nach Ber-
lin gegen dessen Rückwendung von der Philosophie zum Glauben
polemisiert24, und Ruge hat die kritische Schrift von Engels über Schel-
lings erste Berliner Vorlesung sogleich besprochen und schreibt in die-
ser Rezension, Schelling appelliere "an die Welt, für welche die Offen-
barung der Philosophie und des freien Geistes keine ist, also an den
alten Gegensatz des Wissens, den Glauben, an das Bewusstein derer,
die hinter der Entwicklung des deutschen Geistes noch weiter als er
selbst zurückgeblieben sind.«25 In der Verteidigung Hegels gegen die
Reaktion waren sich die theoretische und die praktische Fraktion des
Vormärz einig.

2. Die Kritik an Scheiiing

So ist es keineswegs nur ein Zeugnis einer bald überwundenen lebens-


geschichtlichen Phase, dass Engels' erste grössere Publikation, das 1842
anonym erschienene Pamphlet Schejjing und die Offenbarung, eine Schrift
zur Verteidigung Hegels angesichts "des neuesten Reaktionsversuchs
gegen die freie Philosophie«26 war. Hegels Philosophie steht für die
»Philosophie der absoluten Freiheit«27; seine gewaltige Gedankenarbeit
hatte alle auf bIossen Annahmen - Gefühlen, Glaubensakten, An-
schauungen - beruhenden Aussagen aus dem System der Philosophie
ausgeschieden und dieses aus der Entwicklung des Begriffs konstru-
iert, von welchem allein gilt: "Der Begriff ist das Freie«28, weil er durch
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 249

nichts anderes als sich selbst bestimmt wird. Damit war auch die Reli-
gion noch in den Vorhof der Philosophie verwiesen und ihr absoluter
Geltungsanspruch entkräftet worden.
»Alle Grundprinzipien des Christentums, ja sogar dessen, was man
bisher überhaupt Religion nannte, sind gefallen vor der unerbittlichen
Kritik der Vernunft; die absolute Idee macht Anspruch darauf, die
Gründerin einer neuen Ära zu sein. Die grosse Umwälzung, von der
die französischen Philosophen des vorigen Jahrhunderts nur Vorläufer
waren, hat ihre Vollendung im Reiche des Gedankens, ihre Selbst-
schöpfung vollbracht. Die Philosophie des Protestantismus, von Des-
cartes an, ist geschlossen; eine neue Zeit ist angebrochen, und es ist die
heiligste Pflicht aller, die der Selbstentwicklung des Geistes gefolgt
sind, das ungeheure Resultat ins Bewusstsein der Nation überzuführen
und zum Lebensprinzip Deutschlands zu erheben.«29 Das Zitat zeigt,
wie der junge Engels den Kern der Religionskritik der Junghegelianer
herausschält. Es geht nicht um das Christentum, nicht einmal um die
Religion überhaupt, sondern um die Voraussetzungen der politischen
Freiheit in der Autonomie des Selbstbewusstseins. Weil Religion die
Gestalt der Unfreiheit des menschlichen Denkens ist - Hegels grosser
Gegner Schleiermacher erfand das »Gefühl schlechthinniger Abhän-
gigkeit«\O -, ist die Inthronisierung der Vernunft die Revolution gegen
die Unfreiheit, gegen jede äusserliche Bestimmtheit des Selbstseins des
Menschen. Das ist der Geist der Aufklärung, die sich selbst mit der Phi-
losophie gleichsetzte, der nun in Hegel seine Vollendung fand. 31 »Alle
Philosophie hat es sich bisher zur Aufgabe gestellt, die Welt als ver-
nünftig zu begreifen. Was vernünftig ist, das ist nun freilich auch not-
wendig, was notwendig ist, muss wirklich sein oder doch werden. Dies
ist die Brücke zu den gros sen praktischen Resultaten der neueren Phi-
losophie.«32
Dass im Widerstreit zwischen Glauben und Vernunft die Philoso-
phie ein politisches Geschäft besorgt, ist auch schon dem jungen En-
gels klar gewesen. In seinem Aufsatz über Friedrich Wilhe1m IV, der
ein direktes Korrolar zur Schelling-Kritik ist, spricht er den Zusam-
menhang von monarchischem Legitimitätsprinzip, Religion in ihrer
kultisch verbürgten Form, historischer Rechtsschule und romantischer
Philosophie unverhüllt aus: »Indem der König von Preussen es unter-
nimmt, das Prinzip der Legitimität in seinen Konsequenzen durchzu-
setzen, schliesst er sich nicht nur der historischen Rechtsschule an, son-
dern führt er sie sogar weiter fort und kommt fast bei der Hallerschen
>Restauration< an. Zuerst, um den christlichen Staat zu verwirklichen,
250 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

muss er den fast heidnisch gewordencn nationalistischen Beamtenstaat


mit christlichen Ideen durchdringen, den Kultus heben, die Teilnahme
an demselben zu fördern suchen. Dies hat er denn auch nicht unterlas-
sen (...) Ein System hat Friedrich Wilhelm IV, das ist unleugbar, ein
vollkommen ausgebildetes System der Romantik, wie dies auch eine
notwendige Folge seines Standpunktes ist; denn wer von diesem aus
einen Staat organisieren will, muss mehr wie ein paar abgerissene, zu-
sammenhanglose Ansichten zu seiner Verfügung haben. Das theologi-
sche Wesen dieses Systems wäre also vorläufig zu entwickeln.«33
Es mag nützlich sein, den Verächtern Hegels unter den Marxisten
(deren es ja gar nicht so wenige gibt) in Erinnerung zu rufen, dass
Hegel selbst die sowohl religiös befreiende wie politisch revolutionie-
rende Kraft der Vernunft, deren Existenz die wahre Wirklichkeit ist34,
als das Ziel genannt hat, auf das die Moderne hinausläuft und in dem
sie sich vollendet. Beginnend mit der Innerlichkeit des Glaubens im
Protestantismus, der auf die Selbstbestimmung des Subjekts im Den-
ken bei Descartes als philosophische Konsequenz führt, befreit sich
der Mensch zum Reich der Vernunft, die nun in der äusseren Welt ihre
Wirklichkeit findet, die die Menschen in Freiheit gestalten. Der Weg
dahin - das Auseinandertreten von Innerlichkeit des Jenseitigen in der
barbarischen Form der Vorstellung (= Religion) und äusserer Welt
freier Subjekte in der barbarischen Form der Willkür (= Anarchie der
bürgerlichen Gesellschaft) - führt über den »harten Kampf dieser im
Unterschiede«, bis sich die Gesellschaft »zur Vernünftigkeit des Rechts
und Gesetzes heraufbildet.«35 Der ganze § 359, der die Struktur der
Moderne im Kampf zwischen politischer Freiheit und dem durch die
fürchterliche Gewalt der geistigen Macht unfrei gehaltenen Gemüt be-
schreibt, und wie ein Muster für Engels' Entgegensetzung der »äusser-
ste(n) Konsequenz des preussischen Prinzips (...) gegenüber dem
freien Selbstbewusstsein«36 wirkt, hat den Wortlaut: »Die Innerlichkeit
des Prinzips, als die noch abstrakte, in Empfindung als Glauben, Liebe
und Hoffnung existierende Versöhnung und Lösung alles Gegensat-
zes, entfaltet ihren Inhalt, ihn zur Wirklichkeit und selbstbewussten
Vernünftigkeit zu erheben, zu einem vom Gemüte, der Treue und Ge-
nossenschaft Freier ausgehenden weltlichen Reiche, das in dieser seiner
Subjektivität ebenso ein Reich der für sich seienden rohen Willkür und
der Barbarei der Sitten ist - gegenüber einer jenseitigen Welt, einem in-
tellektuellen Reiche, dessen Inhalt wohl jene Wahrheit seines Geistes,
aber als noch ungedacht in die Barbarei der Vorstellung gehüllt ist, und
als geistige Macht über das wirkliche Gemüt, sich als eine unfreie fürch-
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 251

terliche Gewalt gegen dasselbe verhält.«3 7 Engels wusste, warum er


Hegel so vehement gegen Schelling verteidigte. Er wusste es so gut, wie
Friedrich Wilhe1m IV wusste, warum er Schelling zur Ausrottung der
Drachensaat des Hegelianismus nach Berlin berief. Auf dem Felde der
Philosophie wurde die Schlacht gegen die >>unfreie fürchterliche Ge-
walt über das Gemüt« ausgetragen, gemäss jenem Hegel-Satz: »Ist erst
das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht
stand.«38 Engels hat selbst als ungestümer Jungrevolutionär begriffen,
dass die Revolutionierung des Reichs der Vorstellung nicht in der Form
wilder anderer, entgegenzusetzender Vorstellungen erfolgt, sondern
durch Reflexion, die das Reflektierte aufhebt, indem sie es aus der Un-
mittelbarkeit scheinbarer Wirklichkeits abbildung in die Vermitteltheit
einer Bewusstseinsform überführt. 39 »Hegel ist der Mann, der eine
neue Ära des Bewusstseins erschloss, indem er die alte vollendete«. Es
sei zu bedenken, »dass das Bewusstsein über das Alte gerade schon das
Neue ist, dass ein Altes eben dadurch der Geschichte anheimfällt, dass
es vollkommen zum Bewusstsein gebracht wird. So ist Hegel allerdings
das Neue als Altes, das Alte als Neues.«4o
Demgegenüber ist Schellings Spätphilosophie ein Rückfall in die
Barbarei - und das heisst auch: in die logische Widersprüchlichkeit -
der biossen Vorstellung vom Absoluten. In der Vorstellung wird näm-
lich das Absolute - das im Begrijfe gefasst wird als die spekulative Kata-
gorie 41 des absoluten Geistes - wieder personalisiert zum (theisti-
schen) Gott: »Schelling stellt sich wieder die Idee als extramundanes
Wesen, als persönlichen Gott vor, was Hegeln gar nicht eingefallen ist.
Die Realität der Idee ist bei Hegel nichts anderes als - Natur und Geist.
Darum hat Hegel auch das Absolute nicht zweimal. Am Ende der
Logik ist die Idee als ideal-real, aber eben darum ist sie ja sogleich
Natur. Ist sie bloss als Idee ausgesprochen, so ist sie nur ideal, nur lo-
gisch existierend. Das ideal-reale, in sich vollendete Absolute ist eben
nur die Einheit von Natur und Geist in der Idee C...) SO ist das Abso-
lute nicht real ausser Natur und Geist C••.) Die Unvereinbarkeit von Phi-
losophie und Christentum ist so weit gekommen, dass selbst Schelling
in einen noch schlimmem Widerspruch gerät als Hegel. Dieser hatte
doch eine Philosophie, wenn auch ein nur scheinbares Christentum
dabei herauskam; was Schelling aber gibt, ist weder Christentum noch
Philosophie.«42
Der Widerspruch, den Engels hier anspricht, wohnt im Innersten
der Schellingschen Philosophie. Diese lässt die Vernunftphilosophie,
die in Hegels Wissenschaft der LO,gik kulminierte, nur als »negative« gel-
252 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

ten, da sie nur über das »Vernünftige«, das gedanklich Allgemeine han-
dele und niemals zeigen könne, dass dem vernünftigen Wesen, der Es-
senz, auch eine Existenz entspreche, welche eben nur in einem Akt un-
mittelbarer Erfassung, also einem Glaubensakt erfahren werde. Erst
eine Philosophie, die das Weltwesen aus einem ersten und begründen-
den Glaubensakt als existent herleiten könne, sei die wahre »positive
Philosophie«. »Der gute, naive Hegel mit seinem Glauben an die Exi-
stenz philosophischer Resultate, an die Berechtigung der Vernunft, in
die Existenz zu treten!«43, spottet Engels. Hegels Philosophie solle, nach
Schellings Kritik, nur eine Philosophie der l\'Iöglichkeiten sein; anderer-
seits enthalte sie aber doch, ebenfalls nach Schellings Darstellung, genau
nur das, was in Natur und Geist erscheine - also gerade die ganze \'x/irk-
lichkeit. Schelling verwickelt sich, stellt Engels fest, in einen heillosen
\XTiderspruch. Wenn die negative Philosophie »nur das enhält, was in der
Natur und dem Geiste wirklich ist, so schliesst sie die Realität ja ein und
die positive ist überflüssig.«44 So entlarvt sich die Schellingsche Philoso-
phie selbst als ein Vexierbild: »Gott ist nicht vernünftig. So zeigt sich
auch hier, dass das Unendliche nur dann vernünftigerweise real existie-
ren kann, wenn es als Endlichkeit, als Natur und Geist erscheint und eine
jenseitige extramundane Existenz des Unendlichen ins Reich der Ab-
straktionen zu verweisen ist.«45
'W'arauf es Engels ankommt, ist klar: Nicht auf die Rekonstruktion
des Schellingschen Systems, sondern auf dessen weltanschauliche
Konsequenzen. Darin ist Engels' Anti-Schelfing der Form nach noch
ganz junghegelianisch; auch die Junghegelianer deuteten nicht Hegels
System, sondern destruierten seine weltanschauliche Wirkung. Aber im
Inhalt löst sich Engels schon in dieser frühen Zeit von der junghege-
lianischen Hegelkritik, löst sich auch schon von Feuerbach. Er geht
über Hegel hinaus, aber nicht gegen ihn, sondern mit ihm, indem er die
Idee in die Existenz übersetzt und als Idee der Totalität der Existieren-
den wieder zu sich zurückkehren lässt: »Handelte es sich also in der
Logik um die idealen Bestimmungen der Idee, als realer in Natur und
Geist, so handelt es sich nun um diese Realität selbst, um den Nachweis
dieser Bestimmungen in der Existenz, welcher die letzte Probe und zu-
gleich die höchste Stufe der Philosophie ist. So ist allerdings aus der
Logik ein Fortschritt nicht nur möglich, sondern notwendig, und eben
dieser Fortschritt kehrt im selbstbewussten, unendlichen Geist zur Idee
zurück.«46
Dieser Weg, der der Konstruktion der Welt in der Theorie, führt
aber zur materialistischen Umkehrung. Das Absolute ist das durch
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 253

nichts als sich selbst Begründete, die caUJa sui Spinozas, die \X'elt im
Ganzen, ausserhalb derer nichts anderes ist (oder über die hinaus
nichts mehr als grösser gedacht werden kann).47 Davon aber gilt: »Das
ac tu von selbst Seiende kann nur auf die Ewigkeit der 1Iaterie führen,
sobald man logisch schliesst.«48 Engels argumentiert hier streng in der
Tradition der klassischen Metaphysik und zieht die Konsequenzen, die
im Spinozismus angelegt sind. Wenn er auch Feuerbachs ideologiekri-
tische Wendung, derzufolge »das Geheimnis der Theologie die An-
thropologie« sei, akzeptiert, so doch nur als »eine notwendige Ergän-
zung zu der durch Hegcl begründeten spekulativen Religionslehre.«49
Deren metaphysischer Gehalt ist die Verweltlichung des Absoluten:
»Die \Xdt, die uns so fremd war, die Natur, deren verborgene Mächte
uns wie Gespenster schreckten, wie verwandt, wie heimisch sind sie
uns nun! (00') Die Welt ist wieder ein Ganzes, selbständig und frei; sie
hat die Tore ihres dumpfen Klosters gesprengt, das Busshemd abge-
worfen und den freien, reinen Äther zur \Xbhnung erwählt. Sie braucht
sich nicht mehr zu rechtfertigen vor dem Unverstand, der sie nicht er-
fassen konnte; ihre Pracht und Herrlichkeit, ihre Fülle, ihre Kraft, ihr
Leben ist ihre Rechtfertigung. \XTohl hatte einer recht, als er vor acht-
zehnhundert Jahren ahnte, dass die \XTelt, der Kosmos, ihn einst ver-
drängen werde, und seinen Jüngern gebot, der \X'elt abzusagen.«511
Jene zu Gespenstern hypostasierten verborgenen Mächte, deren
Genesis im gesellschaftlichen Prozess später Marx im Fetisch-Kapitel
des Kapital aufdecken wird, sind hier noch als metaphysische Verblen-
dungsgestalten angesprochen. Den Ursprung der Verkehrung in den
Produktionsl'erhältmssen haben Marx und Engels erst in den Analysen
freigelegt, die über die ideologiekritischen Intentionen der Vormärz-
jahre hinausführend zu einer geschichtlichen Begründung der Bewusst-
seinsinhalte und -formen gelangten. Aber Engels sieht auch dann noch
hinter den Gespenstern, die der Dialektik der \X!ertform entsteigen und
die Ausgeburten der Verkehrung des materiellen Verhältnisses in sei-
ner gesellschaftlichen Erscheinung sind, eine ontologische Verfassung
schlechthin - den Widerspruch zwischen der Einzelheit des individuel-
len Bewusstseins und der Besonderheit von zeitgeschichtlichen Bewusst-
seinslagen einerseits und der Allgemeinheit, die im Geltungsanspruch
einer Repräsentation des \'\'eltganzen statuiert wird: »Die Menschen fin-
den sich also vor den \X'iderspruch gestellt: einerseits das Weltsystem
erschöpfend in seinem Gesamtzusammenhang zu erkennen, und and-
rerseits, sowohl ihrer eignen wie der Natur des \Xdtsystems nach, diese
Aufgabe nie "ollständig lösen zu können (00') Tatsächlich ist und bleibt
254 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

jedes Gedankenabbild des Weltsystems objektiv durch die geschichtli-


che Lage und subjektiv durch die Körper- und Geistesverfassung sei-
nes Urhebers beschränkt.«5! Das geht über die Fetisch-Theorie hinaus
und schliesst sie ein, zielt aber letztlich auf die Perspektivität (nicht Re-
lativität !) jeder Erkenntnis (wie jeder Weltbeziehung).52 Nur die Ein-
sicht in diese Perspektivität, dergemäss jedes Individuum tendenziell
die ganze Welt zum Gegenstand hat, aktuell aber immer nur unter dem
besonderen Blickwinkel seines eigenen Standorts (und also in Gestalt
einer Modell-Abbildung), ermöglicht es, zugleich an einem objektiven
Begriff von Wahrheit festzuhalten und der Anmassung zu entgehen,
die eigenen Denkergebnisse für absolute Wahrheiten auszugeben. Mit
dem ihm eigenen Sarkasmus hat Engels diese Anmassung der Lächer-
lichkeit preisgegeben: »Und dann können wir mit Bestimmtheit darauf
rechnen, dass derselbe Menschenfreund uns bei erster Gelegenheit er-
klären wird, alle früherem Fabrikanten ewiger Wahrheiten seien mehr
oder weniger Esel und Scharlatane, seien alle im Irrtum befangen ge-
wesen, hätten gefehlt; das Vorhanden-sein ihres Irrtums und ihrer Fehl-
barkeit aber sei naturgesetzlich und beweise das Dasein der Wahrheit
und des Zutreffenden bei ihm, und er, der jetzt erstandne Prophet, trage
die endgültige Wahrheit letzter Instanz, die ewige Moral, die ewige Ge-
setzlichkeit fix und fertig im Sack. Das ist alles schon so hundertmal
und tausendmal dagewesen, dass man sich nur wundern muss, wenn es
noch Menschen gibt, leichtgläubig genug, um dies nicht von andern,
nein, von sich selbst zu glauben.«53
So wenig Engels also ein weltanschauliches System als endgültig,
absolut oder auch nur als Lehrbuch-Doktrin hinzunehmen und genau
so wenig zu entwerfen bereit war, ebenso wenig hat er jedoch auch den
skeptischen und agnostischen Verzicht auf eine (wenn auch immer
vorläufige und stets wieder zu korrigierende) Integration des Wissens
zu einem Weltbegriff von Philosophie54 und zu einer handlungs leiten-
den Orientierung im Ganzen und aus dem Ganzen gebilligt. Gegenü-
ber einem Verständnis von Philosophie als einer »aparten Wissen-
schaftswissenschaft« hebt Engels im Anti-Dühring die orientierende
Funktion der »einfachen ~'eltanschauung« hervor, in der die Philoso-
phie »)aufgehoben<, das heisst )sowohl überwunden als aufbewahrt<<<
ist- ȟberwunden ihrer Form, aufbewahrt ihrem wirklichen Inhalt
nach.« Und er schliesst an: »~'o Herr Dühring nur )~rortspielerei< sieht,
findet sich also, bei genauerem Zusehen, ein wirklicher Inhalt.«55
Es ist nicht erst der reife Engels, der so spricht, weil er die Bedeu-
tung einer begründeten, mit dem wissenschaftlichen Wissen der Zeit
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 255

vermittelten Weltanschauung für den Emanzipationskampf der Arbei-


terldasse und für die Einheit und Strategie der sozialdemokratischen
Partei erkannt hat. 56 Schon in seinen Studienjahren war Engels sich
dieser Funktion der »Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs« (wie
er später sagen wird) bewusst, darum hält er Hegel- trotz der idealisti-
schen Konstruktion seines Systems, die der junghegelianischen Kritik
ausgesetzt war - so hoch: Es ist »der grosse freie Blick, mit dem Hegel
das ganze Gebiet des Denkens überschaute und die Erscheinungen des
Lebens auffasste«5 7 , der den jungen Engels inspirierte. Allerdings kann
der Entwurf des Ganzen nicht einfach eine der kreativen Phantasie
entspringende poetische Fiktion des freien Denkens sein - »mit dem
beliebten >freien< Denken lässt sich alles als absolut konstruieren«58,
sondern muss aus dem Erfahrungswissen der Welt gewonnen werden:
»Wenn Hegels Kategorien also nicht nur die Vorbilder, nach denen die
Dinge dieser Welt, sondern auch die zeugenden Kräfte, durch die sie
geschaffen worden sind, genannt werden, so heisst dies nichts andres,
als dass sie den Gedankeninhalt der Welt und ihre notwendige Folge
aus dem Dasein der Vernunft aussprechen.«59 Hier liest Engels den
Hegel schon (wie später Lenin 60) auf materialistische Weise, d. h. auf
den materiellen Gehalt der Begriffsentwicklung hin.

3. Die Kritik des Hege/sehen Staatsrechts

Was Engels sich in der Kritik an Schelling erarbeitet, das gewinnt Marx
in der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie -
die Einsicht in den politischen Charakter philosophischer Positionen
und Kategorien. Im philosophischen Selbstverständigungsprozess beider
haben diese Polemiken einen analogen Stellenwert; sie führen zur er-
sten Formulierung des eigenen Ausgangspunkts, von dem aus sich die
philosophischen Fragen perspektivisch organisieren. Keime des Sy-
stemkonzepts gehen im fremden Nährboden auf. Engels wie Marx ste-
hen da noch unter dem starken Einfluss Feuerbachs, und doch zeich-
net sich schon ab, worin sie sich von ihm unterscheiden.
Junghegelianisch ist die Unmittelbarkeit, mit der Marx die Hegel-
sche Rechtsphilosophie auf einen aktuellen politischen Gehalt hin
durchleuchtet und unter diesem Aspekt zerpflückt. Wir werden jedoch
sehen, dass bei aller Schärfe der Kritik auch Marx in der Kritik des
Hege/sehen Staatsrechts den philosophischen Kern des Hegelschen Sy-
stems, seine Logik, verteidigt - eben auch gegen den Missbrauch ver-
256 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

teidigt, den Hegel selbst nach Marx' Meinung in ihrer unvermittelten


Anwendung auf die Faktizität macht. Noch aber nähern sich die Dio-
skuren Marx und Engels von verschiedenen Ausgangspunkten der
neuen Konzeption von Dialektik, die sich aus der Auseinandersetzung
mit Hegel ergeben wird. Der Unternehmer Engels erfährt die Wirk-
lichkeit primär in ihren ökonomisch-sozialen Erscheinungen 61 , der zur
Philosophie übergelaufene Jurist Marx, nun journalistisch tätig, erfahrt
sie als politisch-staatliche Herrschaftsform. 62 Marx gewinnt seinen
Standpunkt in der Analyse der Kategorien, unter denen der Staat theo-
retisch gefasst wird, Engels entwirft seine Perspektive in einer Skizze
zur Kritik der Nationalökonomie. Der einzige erschienene Band der
Deutsch-Frallziisischell}ahrbücher- neben Marx, Engels und Ruge gehör-
ten Heine, Hess und Herwegh zu den Autoren - vereinigte beide Ein-
satzstellen, von denen aus die materialistische Dialektik entwickelt
wurde. Auf diesem Boden finden Marx und Engels zusammen, von da
an gibt es jene Zusammenarbeit, die es erlaubt, die Schriften beider als
sich ergänzende, konvergente und komplementäre Ausformungen ein
und desselben theoretischen Konzepts zu behandeln.
Marx nennt seine Überlegungen Zur Kritik der Hege/sehen Rechtsphilo-
sophie. 61 Tatsächlich behandelt er nur deren allerletzten Teil, den dritten
Abschnitt des dritten Teils, »Der Staat«, also ab § 260. 64 Mag der Ab-
bruch am Schluss mit äusseren Gründen zusammenhängen 65 , so ist die
Beschränkung auf das Staatsrecht und die Ausblendung der übrigen
Systemteile (auf die nur ganz gelegentlich Be7Ug genommen wird) ein
Indiz für die Richtung des Erkenntnisinteresses. Es geht Marx um ein
Verständnis der res publica, um das Wesen und die bewegenden Kräfte
der Staatstätigkeit, um das Verhältnis von Institutionen und der ihnen
zugrundeliegenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten. Go Er deckt die
Differenz zwischen der formellen Erscheinungsform der Staatsstruk-
tur in der Verfassung und den inhaltlichen Bestimmtheiten des politi-
schen Lebens auf und zeigt, dass diese Differenz einen ideologischen
Schein hervorbringt, der den Sinn prozeduraler Ordnungen in ihr Ge-
genteil verkehrt. G7 Immer wieder werden Verfassungs funktion und
wirkliches Funktionieren der staatlichen Gewalt einander konfrontiert.
Aber Marx entlarvt nicht einfach eine Diskrepanz zwischen idealer
Konstruktion und geschichtlicher Realität, sondern er versucht, den
Umschlag aus den tatsächlichen Verhältnissen in ihre ideologische Ab-
bildung in der theoretischen Gestalt des Systems, im Gebrauch der Ka-
tegorien selbst aufzuspüren und also nicht nur zu beschreiben, sondern
philosophisch zu begreifen. 68 Die »empirische Allgemeinheit«, welche
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 257

eine repräsentative Form der Demokratie herstellen soll, wird von


Marx nicht einfach durch die Besonderheit der Interessen der reprä-
sentierenden Individuen ad absurdum geführt, sondern als ein katego-
rialer Unbegriff dargetan, der seine Prätention selbst nichtig macht:
»Der Gegensatz in seiner eigentlichen Form ist: Die Einzelnen tun es
Alle, oder die Einzelnen tun es als Wenige, als Nicht-Alle. In beiden
Fällen bleibt die Allheit nur als äusserliche Vielheit oder Totalität der
Einzelnen. Die Allgemeinheit ist keine wesentliche, geistige, wirkliche
Qualität der Einzelnen. Die Allheit ist nicht etwas, wodurch er die Be-
stimmung der abstrakten Einzelheit verlöre; sondern die Allheit ist nur
die volle Zahl der Einzelnheit. Eine Einzelnheit, viele Einzelnheiten,
alle Einzelnheiten. Das Eins, Viele, Alle - keine dieser Bestimmungen
verwandelt das \X'esen des Subjekts, der Einzelnheit.«69
Diese Argumentation zeigt vortrefflich, wie Marx verfährt und wie
er aus politischen Fragen - hier der Frage nach der Funktion von Re-
präsentationsorganen - einen philosophisch-kategorialen Kern her-
ausschält. 711 Die »eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegen-
stands«, die Marx fordere l , ist nicht jeweils eine besondere Logik,
schon gar nicht eine »Standpunktlogik«, sondern die Rekonstruktion
der logischen Form in den besonderen Verhältnissen und Bewegungs-
weisen einer Gegenstandsregion oder Gegenstandsklasse und also ihre
Konkretisierung in ihrem materiellen Träger. 72 Das ist natürlich auch
schon das Programm der Hegeischen Logik, und Marx macht Hegel
gerade den Vorwurf, dass er in der Recht.rphilosophie diesen Anspruch
nicht eingelöst habe, sondern dass >>unkritischerweise eine empirische
Existenz als die wirkliche Wahrheit der Idee genommen wird, denn es
handelt sich nicht davon, die empirische Existenz zu ihrer Wahrheit,
sondern die Wahrheit zu einer empirischen Existenz zu bringen, und
da wird denn die zunächstliegende als ein reales Moment der Idee ent-
wickelt.«73
Marx begnügt sich nicht damit, diesen systemwidrigen Umschlag
einfach festzustellen; er fasst ihn an seinem Ursprung, nämlich einer
Verkehrung des ontologischen Verhältnisses vOn Realexistenz und
Wesen. Um diesen Widerspruch zu verdeutlichen, bedient Marx sich
des von Feuerbach benutzten Schemas der Vertauschung vOn Subjekt
und Prädikat. Die Prädikate als Titel für jeweils das besondere Allge-
meine - besondere Bestimmungen, die vielen Subjekten zukommen
können - bezeichnen Wesensmerkmale des Subjekts, und die logische
Individuation des Subjekts realisiert sich in der jeweiligen Mischung
oder Kombination, in der die Prädikate dem Subjekt zukommen oder
258 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

dieses an jenen »teilhat.«74 Wird nun die logische (ideale) Existenz der
Allgemeinheiten der ontischen (materiellen) Existenz der Realseienden
vorgeordnet, so erhält die Idee den Charakter der »eigentlichen Wirk-
lichkeit« und das faktisch Seiende wird zu deren biossem Anwen-
dungsfall. »Die Existenz der Prädikate ist das Subjekt. (...) Hegel ver-
selbständigt die Prädikate, die Objekte, aber er verselbständigt sie
getrennt von ihrer wirklichen Selbständigkeit, ihrem Subjekt. Nachher
erscheint dann das wirkliche Subjekt als Resultat, während vom wirkli-
chen Subjekt auszugehn und seine Objektivation zu betrachten ist. (... )
Eben weil Hegel von den Prädikaten der allgemeinen Bestimmung statt
von dem reellen Ens (h]pokeimenon, Subjekt) ausgeht und doch ein Trä-
ger dieser Bestimmung da sein muss, wird die mystische Idee dieser
Träger. Es ist dies der Dualismus, dass Hegel das Allgemeine nicht als
das wirkliche Wesen des Wirklich-Endlichen, d. i. Existierenden, Be-
stimmten betrachtet oder das wirkliche Ens nicht als das wahre Subjekt
des Unendlichen.«75 Diese Stelle zeigt ganz deutlich, dass Marx mit-
nichten an eine nominalistische Entwirklichung des Allgemeinen
denkt, sondern das Verhältnis klären möchte, in dem das Realallge-
meine und das Realeinzelne in ihrem jeweiligen Wirklichkeitsstatus
auseinandergehalten und ineinander verschränkt gedacht werden.
Dabei interessieren Marx weniger die Prädikate, die adjektivisch ausge-
sagt werden, als jene, die sich auf relationale Zugehörigkeiten und Ab-
hängigkeiten beziehen, also als erweiterte Prädikatsnomina oder als ad-
verbiale Bestimmungen formuliert sind. Was in der eben zitierten
Passage in logisch-ontologischer Allgemeinheit festgehaiten wird, be-
kommt gegenständlichen Gehalt in folgendem Abschnitt zu § 279 der
Hegelschen Rechtsphilosophie, wo Hegel die Subjektivität des Staats im
Subjekt des Monarchen erst zu ihrer Wahrheit kommen lässr7 6 : »In
Wahrheit hat die abstrakte Person erst in der moralischen Person, Ge-
sellschaft, Familie etc. ihre Persönlichkeit zu einer wahren Existenz ge-
bracht. Aber Hegel fasst Gesellschaft, Familie etc., überhaupt die mo-
ralische Person, nicht als die Verwirklichung der wirklichen,
empirischen Person, sondern als wirkliche Person, die aber das Mo-
ment der Persönlichkeit erst abstrakt in ihr hat. Daher kommt bei ihm
auch nicht die wirkliche Person zum Staat, sondern der Staat muss erst
zur wirklichen Person kommen. Statt dass daher der Staat als die höch-
ste Wirklichkeit der Person, als die höchste soziale Wirklichkeit des
Menschen, wird ein einzelner empirischer Mensch, wird die empirische
Person als die höchste Wirklichkeit des Staats hervorgebracht. (...) Wür-
den z. B. bei der Entwicklung von Familie, bürgerlicher Gesellschaft,
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 259

Staat etc. diese sozialen Existenzweisen des Menschen als Verwirkli-


chung, Verobjektivierung seines Wesens betrachtet, so erscheinen Fa-
milie etc. als einem Subjekt inhärente Qualitäten. Der l\Iensch bleibt
immer das Wesen aller dieser Wesen, aber diese Wesen erscheinen auch
als seine wirkliche Allgemeinheit, daher auch als das Gemeinsame.«7 7
\XTieder zeigt sich, dass Marx nicht das Individuum als solches, son-
dern erst in seiner Teilhabe an realallgemeinen Entitäten, »Kollektiv-
subjekten« (die mehr sind als die Summe ihrer Teile) in seinem Wesen
begreift. Die wirkliche empirische Person ist Bildungselement dieses
Allgemeinen, jedoch nur in diesem Zusammenhang verwirklicht sie
sich selbst als konkrete Person, als Persönlichkeit. Diese frühe Stellung-
nahme zum Universalienproblem, die den Materialismus mit einer An-
erkennung des Realseins von Allgemeinem verbindet, muss man in Er-
innerung behalten, wenn später die theoretischen Konzepte des reifen
l\farx zu bedenken sind. Marx argumentiert gegen den Hegel der Rechts-
philosophie vom Boden der HegeIschen Logik aus und hält an deren Be-
stimmung des Verhältnisses von Einzelnem und Allgemeinem fest.
Aber er erkennt in der Projektion der Logik auf die Realphilosophie
(hier also die Philosophie der Gesellschaft) ein unvermeidliches quid
pro quo: Was »im abstrakten Elemente des Denkens«78 korrekt als die
logische Idee entwickelt wird (was keineswegs »idealistisch« ist, son-
dern der eigentümlichen Logik des eigentümlichen Gegenstands »Ge-
danke« angemessen), wird zu einer Verkehrung (und also zu einer ide-
alistischen Hypostase), wenn es als Struktur des Realseienden gelten
soll, welches vom Denken doch nur abgebildet, gespiegelt wird. Der
von Marx kritisierte Idealismus Hegels liegt nicht in der Logik als
»Monismus der Idee«79, sondern in der unvermittelten Kongruenz
zwischen Logik und Realphilosophie (und das gilt für die Natur- wie
die Rechtsphilosophie).
Marx hat dies sehr genau konstatiert - und zwar gleich zu Anfang
der Notizen, die er zur HegeIschen Staatsphilosophie anlegt, sozusagen
als deren methodischen Leitfaden. Phänomenologie und Logik sind die
Theorie des Wissens und der Wissenschaft, in welcher sich die empiri-
sche, reale Mannigfaltigkeit der Wissenschaft, das heisst aber die empi-
rische, reale Mannigfaltigkeit der Einzelnen als ideales Ganzes darstellt.
»Die reine Idealität einer wirklichen Sphäre könnte aber nur als Wis-
senschaft existiere.«811 Nicht als Wissenschaft, sondern als Gegenstand
der Wissenschaft existiert aber die Sphäre des Faktischen an sich. »Die
Tatsache, dies wirkliche Verhältnis, wird von der Spekulation als Er-
scheinung, als Phänomen ausgesprochen. Diese Umstände, diese Will-
260 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

kür, diese Wahl der Bestimmung, diese wirkliche Vermittlung sind


bloss die Erscheinung einer Vermittlung, welche die wirkliche Idee mit
sich selbst vornimmt und welche hinter der Gardine vor sich geht. Die
Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklich-
keit ausgesprochen. (...) Die Bedingung wird als das Bedingte, das Be-
stimmende als das Bestimmte, das Produzierende wird als das Produkt
seines Produkts gesetzt.«81 Im integrierenden \X'issen ist dieser Um-
schlag ins Ideelle nötig, es könnte nicht »unmittelbare« sinnliche
Gewissheit bleiben. Den Gang der Phänomenologie will l\Iarx nicht
rückgängig machen. Aber er insistiert darauf, dass das Wissen immer
nur als das Wissen l'on der Wirklichkeit, die es im Element des Denkens
erfasst, verstanden werden darf; der Gefahr einer Verselbständigung
des Wissens zur eigentlichen Wirklichkeit muss immer »kritisch« be-
gegnet werden, sonst setzt sich die Rede in Begriffen an die Stelle der
von den Begriffen gemeinten Sache. Nicht die Inhalte der Hegelschen
Philosophie werden von l\Iarx zurückgewiesen, sondern ihre Darstel-
lung (dass sie, wie es später heisst »auf dem Kopf stehen«). »Der Un-
terschied ruht nicht im Inhalt, sondern in der Betrachtungsweise oder
in der Sprechweise. Es ist eine doppelte Geschichte, eine esoterische
und eine exoterische. Der Inhalt liegt im exoterischen Teil. Das Inter-
esse des esoterischen ist immer das, die Geschichte des logischen Be-
griffs im Staat wiederzufinden. An der exoterischen Seite aber ist es,
dass die eigentliche Entwicklung vor sich geht.«82 Der Sinn der Kritik
der Hege/sehen Rechtsphilosophie ist es, die esoterische Konstruktion auf
ihren exoterischen Gehalt zurückzubringen. Das Verhältnis von wis-
senschaftlicher Darstellung und gegenständlicher Verfasstheit des
Wirklichen muss als Unterschied bestimmt werden - ontisch als eine
Unterschiedenheit der Darstellung von ihrem Gegenstand, logisch als
ein Selbstunterschied der Darstellung vom Dargestellten.
Hegel arbeitet - in einer Theorie des wissenschaftlichen Wissens -
den Selbstunterschied der Darstellung in sich heraus. Zunächst erkennt
er die ideellen logischen Kategorien als solche des realen Gegenstands
und damit von ihm unterschieden an. »Zu Subjekten werden gemacht:
die abstrakte Wirklichkeit, die Notwendigkeit (oder der substantielle
Unterschied), die Substantialität; also die abstrakt logischen Katego-
rien. Zwar werden die >abstrakte Wirklichkeit< und >Notwendigkeit< als
>seine<, des Staats Wirklichkeit und Notwendigkeit bezeichnet.« Dann
aber vollzieht sich die Trennung der ideellen Kategorien von ihrem
substantiellen Inhalt als ein Vorgang im kategorialen Wissen selbst:
»Sie (scil. die abstrakte Wirklichkeit) ist es, >die sich in die Begriffsun-
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 261

terschiede seiner (scil. des Staats) Wirksamkeit dirimiert<. Die >Begriff-


sunterschiede< sind >durch jene Substantialität ebenso wirkliche feste<
Bestimmungen, Gewalten«; der Unterschied von Gegenstand und
Darstellung wird zum Selbstunterschied in der Darstellung. Damit wird
die äussere Gegenständlichkeit aufgehoben und das Sclbstverhältnis
der ideellen Darstellung zu ihrem Inhalt wird zum Subjekt. Es »wird die
Substantialität nicht mehr als eine abstrakte Bestimmung des Staats, als
>seine< Substantialität genommen, sie wird als solche zum Subjekt ge-
macht, denn es heisst schliesslich: >eben diese Substantialität ist aber
der durch die Form der Bildung hindurchgegangene, sich wissende und
wollende Geist<.«83 Geht aus HegeIs Logik der Geist als Inbegriff der
Totalität einer mit sich vermittelten Wirklichkeit hervor, so wird er hier
zu einem mystischen Subjekt des Weltprozesses.8 4
Die Darstellung der Wirklichkeit, d. h. die Realphilosophie, müsste
die Umkehrung des Faktischen in die Idealität der logischen Katego-
rien reflektieren und also die Umkehrung in der Darstellung selbst wie-
der umkehren. Die Philosophie kann nichts anderes tun, als die ideelle
Allgemeinheit der Kategorien konstruieren, das ist ihr Geschäft. Dar-
aus ist Hegel kein Vorwurf zu machen. »Nicht dass das Denken sich in
politischen Bestimmungen verkörpert, sondern dass die vorhandenen
politischen Bestimmungen in abstrakte Gedanken verflüchtigt werden,
ist die philosophische Arbeit. Nicht die Logik der Sache, sondern die
Sache der Logik ist das philosophische Moment.«85 \lCohl aber ist zu
fordern, dass eine kritische Philosophie dieses Verhältnis ihrer Gedan-
ken-Konstrukte zur Faktizität noch mitdenkt; dies versäumt zu haben
und das Verhältnis von Idealität und Materialität daher nicht zu be-
stimmen, ist der Einwand, den der junge J\.Iarx gegen Hegel erhebt.
»Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Inter-
esse. (... ) Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, sondern der Staat
dient zum Beweis der Logik.«86 Wie ein real philosophischer Gebrauch
der Kategorien aussehen müsste, hat Marx kurz skizziert: »\X'äre von
dem wirklichen Geist ausgegangen worden, so war der >allgemeine
Zweck< sein Inhalt, die verschiedenen Gewalten seine Weise, sich zu
verwirklichen, sein reelles oder materielles Dasein, deren Bestimmtheit
eben aus der Natur seines Zweckes zu entwickeln gewesen wäre. \X'eil
aber von der >Idee< oder der >Substanz< als dem Subjekt, dem wirklichen
Wesen ausgegangen wird, so erscheint das wirkliche Subjekt nur als
letztes Prädikat des abstrakten Prädikats.«8 7 Nicht auf den Gebrauch
der Kategorien soll verzichtet werden, sondern ihr Verhältnis zu dem
wirklichen Subjekt muss kenntlich sein.
262 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Marx' Kritik an Hegel ist, wie wir sehen, von Anfang an eine we-
sentlich andere als die der Junghegelianer. Diese haben Hegel in den
Applikationen seiner Rechts- und Religionsphilosophie auf die Aktua-
lität des preussischen Staats und der bürgerlichen Gesellschaft
bekämpft. Marx dustruiert dagegen das Konstruktionsprinzip, aus dem
heraus eine solche Applikation entsprang. Der Verleumdung Hegels als
preussischer Staats philosoph lässt sich mit guten Gründen widerspre-
chen, um so mehr, seit wir die Vorlesungsnachschriften kennen.8 8
Schon Marx und Engels haben sich gegen diese politische Kurzsichtig-
keit empört. Die Diskrepanz zwischen der Dialektik des Begriffs und
den wirklichen gesellschaftlichen Prozessen, die in der konzeptionellen
Anlage der EniJ'klopädie der philosophischen Wissenschaften verdeckt bleibt,
produziert einen neuen Ansatz in der Ausarbeitung der dialektischen
Methode.

4. Philosophie und Ökonomie

Die Differenz zwischen logischen Kategorien und der von ihnen in


abstrakter Allgemeinheit bezeichneten Wirklichkeit hat sich für Marx
in der Analyse der wirklichen Staats tätigkeit ergeben. In diesem Zu-
sammenhang wurde ihm die Bedeutung der Eigentumsverhältnisse
und der in ihnen sich ausdrückenden ökonomischen Grundlagen der
bürgerlichen Gesellschaft deutlich. Im § 306 der HegeIschen Rechts-
philosophie fand er die Charakterisierung der Eigentumsformen: Die
sichere Unabhängigkeit des Grundbesitzes, dagegen »die Unsicher-
heit des Gewerbes, der Sucht des Gewinns und der Veränderlichkeit
des Besitzes überhaupt.«89 Marx notiert dazu: »Die Gegensätze
haben hier eine ganz neue und sehr materielle Gewalt angenommen,
wie wir sie in dem Himmel des politischen Staates kaum erwarten
dürften. Der Gegensatz, wie ihn Hegel entwickelt, ist in seiner
Schärfe ausgesprochen der Gegensatz von Privateigentum und Ver-
mögen.«90
Im folgenden wird nun die Rolle des Privateigentums - »die Macht
des abstrakten Privateigentums über den Staat« und »das Privateigen-
tum« als »Subjekt des Willens«91 - erörtert. Die Verkehrung der condi-
tion humaine wird erkannt: »Das Eigentum ist hier nicht mehr, inso-
fern >ich meinen Willen darin lege<, sondern mein Wille ist, >insofern er
im Eigentum liegt<. Mein Wille besitzt hier nicht, sondern ist be ses-
sen.«92 Zwar erscheint hier das Eigentumsverhältnis noch als rein
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 263

rechtliches, seine ökonomischen Konstitutionsbedingungen kommen


noch nicht in den Blick; aber Marx ist sozusagen auf eine Wendung zur
Ökonomie vorbereitet.
Zu dieser wird er durch Engels geführt, dessen Skizze »Umrisse zu
einer Kritik der Nationalökonomie«9) in den Deutsehfrallziisisehen jahr-
büehem gleichzeitig mit Marx' Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Ein-
leitung erschien. Engels' Vorgehen ist einfach. Er destruiert die natio-
nalökonomische Theorie, indem er die Widersprüchlichkeit ihrer
Kategorien aufzeigt und sie in Verhältnisse auflöst, in denen sie sich in
ihrer Bewegung, als Prozessmomente, erweisen. Wert und Preis, Pro-
duktion und Arbeit, Privateigentum und Konkurrenz werden auf ihre
elementaren Strukturen reduziert und die Widersprüchlichkeit des Sy-
stems als eine der Institution des Privateigentums abgeleitet. In den
Abstraktionen ist die Frische der Unmittelbarkeit der Erfahrungen des
Kaufmanns zu spüren. Die Marxschen Reflexionen zu Hegels Staats-
recht bekommen hier den materiellen Körper, auf den sie sich bezie-
hen können. Und Engels spricht schon aus, dass die theoretischen Ab-
straktionen gegenüber der von ihnen abgebildeten Wirklichkeit »auf
dem Kopf stehen«: »SO steht aber alles in der Ökonomie auf dem
Kopf. (...) Bekanntlich ist diese Umkehrung das Wesen der Abstrak-
tion, worüber Feuerbach zu vergleichen.«94
Der Hinweis auf Feuerbach schlägt die Brücke zu Hege!. Durch
Engels wird Marx so darauf gestossen, dass die Kritik des HegeIschen
Staatsrechts erst dann vollendet und politisch operationalisierbar sein
würde, wenn die Rechtsverhältnisse als abstrakter Ausdruck von öko-
nomischen Verhältnissen würden abgeleitet werden können. Im Au-
gust 1843 hatte Marx die Arbeit an der Hegelkritik abgebrochen. Um
die Jahreswende schrieb Engels den Aufsatz über die Nationalökono-
mie für die Jahrbücher, deren erstes und letztes Heft im Februar 1844
erschien. Und sofort stürzt Marx sich mit Feuereifer in die Lektüre na-
tionalökonomischer Literatur, er liest Ricardo, Smith,J.St. Mill, Say und
andere. Er begreift, dass die philosophische Kritik der politischen Zu-
stände nicht in der Kritik der Philosophie bestehen kann, die diese
Zustände beschreibt, sondern zur Kritik der geschichtlich-gesell-
schaftlichen Bedingungen übergehen muss, aus denen diese Zustände
entspringen und die in der philosophischen Abstraktion ihre begriff-
liche Darstellung gefunden haben. Das Programm der Kritik der Hegel-
sehen Rechtsphilosophie war nur durch eine Analyse der ökonomischen
Konstitutionsprozesse der Gesellschaft einzulösen; aber es blieb ein
philosophisches Programm, das die Totalität der menschlichen Weltver-
264 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

hältnisse und nicht nur die Sphäre von Produktion, Distribution und
Konsumtion erfasst. Die Frucht dieses Studiums waren die Ökono-
misch-Philosophischen Manuskripte, niedergeschrieben zwischen April und
August 1844,95
So unfertig in diesen Notizen auch noch die systematische Durch-
dringung des Stoffs der politischen Ökonomie ist - Marx wird ja ein
Leben lang daran arbeiten, diesen Stoff empirisch detailliert anzueig-
nen und kategorial zu strukturieren -, dürfen diese ersten Skizzen zu
einer materialistischen Dialektik nicht gering geschätzt werden. Marx
hat hier, gerade was den philosophischen Horizont angeht, wesentliche
Leitlinien seines Denkens ausgesprochen, die in seinem späteren \X'erk
präsent bleiben, ohne dass er darauf explizit und mehr als andeutungs-
weise wieder zurückgekommen wäre. \X'eniger die ökonomischen Ein-
zelheiten als der übergreifende geschichtsphilosophische Gesamtent-
wurf interessieren im Hinblick auf die Wendung, die Marx hier der
HegeIschen Dialektik zu geben versucht und von der er später sagt,
dass sie »die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen er-
leidet«, wieder auf ihren rationellen Gehalt zurückbringe. 96
In den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten ist das zentrale Pro-
blem noch nicht das Bewegungsgesetz der Kapitalakkumulation (d. h.
die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstands, den die ka-
pitalistischen Produktionsverhältnisse bilden), sondern allgemeiner die
Form der Verkehrung des menschlichen \X'esens unter den Bedingun-
gen des Privateigentums (d. h. die Logik des Verhältnisses, in dem sich
die menschliche Gesellschaft als eine unmenschliche verwirklicht). Es
geht um einen Prozess, in dem eine Bestimmung des Menschseins nur
als ihr Gegenteil hervorkommt und der unter dem Titel f~·ntfremdung ge-
fasst wird,97 Den Kern dieses Konzepts finden wir am reinsten in den
folgenden Seiten: Das kapitalistische Produktionsverhältnis »stellt das
Produkt der Arbeit also immer fremder dem Arbeiter gegenüber. (...) ;\Iit
der f"erwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschen-
welt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren;
sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in
dem Verhältnis, in dem sie überhaupt Waren produziert. Dies Faktum
drückt nichts weiter aus als das: Der Gegenstand, den die Arbeit pro-
duziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Ifhen, als eine von dem Pro-
duzenten unabhängige Macht gegenüber.«98 Der ökonomische Charakter
des Terminus Entfremdung, der die Erscheinung des Produkts als Ware
und die verwandelte Beziehung des Produzenten zu seinen Produkten
benennt, die ihm als \X'aren gegenübertreten 99 , ist eindeutig. Alle wei-
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 265

teren gesellschaftlichen und anthropologischen Konsequenzen werden


daraus abgeieitet. lIHI
Alle Verhältnisse, die der Mensch eingeht - zu Dingen, zur Natur,
zu anderen l\Ienschen, zu ideellen Gehalten - sind per se !llenscblicbe; for-
mal ist das eine Tautologie, aber keine sinnlose, weil in ihr der l\Iensch
als rezeptiv, Einwirkungen aus der \X'elt empfangend, und aktiv, Wir-
kungen auf die Welt ausübend, gefasst wird 1111 und diese doppelte Rich-
tung des Wirkungs stromes hin und her auf jeder Seite sich in zwei
Aspekten des So-Seins manifestiert: Einmal ist jeder Gegenstand als er
selbst an sich ein \'Virkendes, zum anderen aber auch immer nur das, was
er in diesem Verhältnis ist, infolge der Beziehung des wirkenden Men-
schen auf ihn - und er ist, was er ist, ja nur in den Verhältnissen, in
denen er steht; und umgekehrt gilt das ebenso für den Menschen. 11l2
Jedes Seiende ist, was es ist, indem es für andere und diese für es gegen-
ständlich sind; sonst wäre es nichts. »Ein Wesen, welches seine Natur
nicht ausser sich hat, ist kein natürliches Wesen, nimmt nicht teil am
Wesen der Natur. (00') Die Sonne ist der Gegenstand der Pflanze, ein ihr
unentbehrlicher, ihr Leben bestätigender Gegenstand, wie die Pflanze
Gegenstand der Sonne ist, als Äusserung von der lebensweckenden Kraft
der Sonne, von der gegenständlicben \'('esenskraft der Sonne.« 1113
Diese Formulierung intendiert mit aller Präzision einen ontolo-
gisch qualifizierten Wesens begriff. Das zeigt die folgende Erläuterung:
»Ein ungegenständliches \'(Iesen ist ein Unwesen. Setzt ein \X'esen, wel-
ches weder selbst Gegenstand ist noch einen Gegenstand hat. Ein sol-
ches \X'esen wäre erstens das einzige \X'esen, es existierte kein \X'esen aus-
ser ihm, es existierte einsam und allein. Denn sobald es Gegenstände
ausser mir gibt, sobald ich nicht allein bin, bin ich ein andres, eine andre
\X'irklichkeit als der Gegenstand ausser mir. Für diesen dritten Gegen-
stand bin ich also eine andre Wirklicbkeitals er, d.h. sein Gegenstand. Ein
\Xlesen, welches nicht Gegenstand eines andren \'('esens ist, unterstellt
also, dass kein gegenständliches Wesen existiert. Sobald ich einen Ge-
genstand habe, hat dieser Gegenstand mich zum Gegenstand.«1114
Zuvor schon war gesagt, dass diese gegenständliche Relationalität ein
universelles Seinsverhältnis istlllS; die gegenständliche Relationalität
konstituiert das, was Engels später den Gesamtzusa!llmenballg nennen
wird und ist die genetische Definition des philosophischen Welt be-
griffs, die diesen als Totalität aus der \X'echselwirkung aller einzelnen
entwickelt. 1116
Dass Marx dann in den folgenden Sätzen die Gegenständlichkeit
mit der Sinnlichkeit verknüpft, ist sicher nicht als Verengung der allge-
266 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

meinen Ontologie der Relationalität auf eine Anthropologie gemeint,


wenn auch der Einfluss Feuerbachs hier deutlich durchschlägt. Viel-
mehr geht es Marx in seinen Überlegungen zu Ökonomie und Philoso-
phie um eine Theorie des geschichtlich-gesellschaftlichen Menschen,
d. h. um eine Spezifikation der vorher nur skizzenhaft angedeuteten all-
gemeinen Ontologie. Es geht darum, die Weltgeschichte aus den natür-
lichen Bedingungen des Menschseins herauswachsen zu lassen. 1II7
Darum heisst es: »Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als Natur-
wesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften,
mit Lebenskräften, ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte exi-
stieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe; teils ist er als
natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein leidendes,
bedingtes und beschränktes Wesen, wie es auch das Tier und die
Pflanze ist, d. h. die Gegenstände seiner Triebe existieren ausser ihm, als
von ihm unabhängige Gegenstände; aber diese Gegenstände sind Gegen-
stände seines Bedürfnisses, zur Betätigung und Bestätigung seiner We-
senskräfte unentbehrliche, wesentliche Gegenstände.«108 Natürliche
Ausstattung und Bedürfnisse bestimmen die Weise, in der der Mensch
der gegenständlichen Welt begegnet; sie ist ihm zunächst durch seine
Sinne vermittelt, die sowohl seine Auffassung des Gegebenen wie seine
Bedürfnisbefriedigung steuern. >>Sinnlich sein, d. h. wirklich sein, ist Ge-
genstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Ge-
genstände ausser sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben.
Sinnlich sein ist leidend sein. Der Mensch als ein gegenständliches sinn-
liches Wesen ist daher ein leidendes und, weil sein Leiden empfindendes
Wesen, ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die
nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Men-
schen.«109
Diese Darstellung reicht für das Naturwesen Mensch. Als solches
wird er sich nicht von Tieren höherer Organisation unterscheiden. Erst
durch die bewusste Produktion, die ihn aus der unmittelbaren Bedürf-
nisbefriedigung löst und vermittelte Bedürfnisse höherer Ordnung
entstehen lässt 11O, wird der Mensch zum Menschen. »Zwar produziert
auch das Tier. Es baut sich ein Nest, Wohnungen wie die Biene, Biber,
Ameise etc. Allein es produziert nur, was es unmittelbar für sich oder
sein Junges bedarf; es produziert einseitig, während der Mensch uni-
versell produziert; es produziert nur unter der Herrschaft des unmit-
telbaren physischen Bedürfnisses, während der Mensch selbst frei vom
physischen Bedürfnis produziert und erst wahrhaft produziert in der
Freiheit von demselben; es produziert nur sich selbst, während der
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 267

Mensch die ganze Natur reproduziert; sein Produkt gehört unmittelbar


zu seinem physischen Leib, während der Mensch frei seinem Produkt
gegenübertritt.«lll
Durch die Arbeit verändert sich die Art der Gegenständlichkeit.
Nicht mehr nur der singuläre Gegenstand der Bedürfnisbefriedigung
(oder der Bedrohung) erscheint für den Menschen in der gegenständ-
lichen Tätigkeit gegeben, sondern der Gegenstand als ein Allgemeines,
ein Gegenstand dieser Art und im Zusammenhang mit Gegenständen
anderer Art, also als Gegenstand in universeller Abstraktheit. Zugleich
damit ist auch der Mensch nicht mehr das Individuum singulare seines
sinnlichen Erlebens, sondern als Gattungswesen in seinem spezifi-
schen Menschsein für sich. »Eben in der Bearbeitung der gegenständ-
lichen Welt bewährt sich der Mensch erst wirklich als ein Gattungswesen.
Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie er-
scheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegen-
stand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des
j\l!enschen: indem er sich nicht nur wie im Bewusstsein intellektuell, son-
dern werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von
ihm geschaffenen Welt anschaut.«112 In dieser »Vergegenständlichung«
des Gegenstands ist auch die Bedingung der Möglichkeit der Koopera-
tion, also der gemeinsamen Arbeit und damit des Verhaltens des Men-
schen zum Menschen als Gattungswesen, enthalten. IU Die Arbeit wird
hier als das Medium erkannt, in dem die spezifische Vermittlung des
gegenständlichen Wesens des Menschen sich vollzieht.
Indem sich der Mensch frei und universell zu den Gegenständen
verhält, erhebt er sich nicht nur über die unmittelbare Gegebenheit des
»Dieses-da« zur Auffassung der Allgemeinheit von »Gegenständen-
dieser-Art«, sondern er verhält sich auch selbst als ein »Wesen-die-
ser-Art«, als ein Gattungswesen. »Die praktische Erzeugung einer ge-
genständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Be-
währung des Menschen als eines bewussten Gattungswesens, d.h. eines
Wesens, das sich zur Gattung als seinem eignen Wesen oder zu sich als
Gattungswesen verhält.«114 Das Verhalten des Individuums X zum
Gegenstand Y geht über in das Verhältnis des Menschen zu Gegen-
ständen. Indem am Einzelnen das Allgemeine hervortritt, wird auch
die gesellschaftliche Tätigkeit möglich, die in einer durch Zeichen ver-
mittelten Kommunikation ein eigenes (»zweites«) System von Wirk-
lichkeit - ein System der zu Bedeutungen geronnenen Beziehungen zu
Gegenständlichem - generiert und in sprach-vermittelter Arbeit den
Menschen erst zu seinem Gattungswesen bringt. »Wie die Gesellschaft
268 Die »Umkehrung« Hegels durch den I\larxismus

selbst den iVfenschen als il1enschen produziert, so ist sie durch ihn produ-
ziert. Die Tätigkeit und der Genuss, wie ihrem Inhalt, sind auch der
ExistenZJlIeise nach gesellschaftlich, gesellschaftliche Tätigkeit und gesellschaftli-
cher Genuss. (...) Es ist vor allem zu vermeiden, die >Gesellschaft( wie-
der als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fi.xieren. Das Indi-
viduum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäusserung - erscheine
sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit an-
dem zugleich vollbrachten Lebensäusserung - ist daher eine Äusserung
und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens.«115 Jedes Individuum, weI-
cher Gattung auch immer, ist an sich eine besondere Realisation des
Gattungswesens. Erst dem Menschen wird sein Gattungswesen ihm als
Individuum gegenständlich, also im Für-sieh-sein reflektiert. 116 »Als Gat-
tungsbewusstsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesellschaftsleben und
wiederholt nur sein wirkliches Dasein im Denken, wie umgekehrt das
Gattungssein sich im Gattungsbewusstsein bestätigt und in seiner All-
gemeinheit als denkendes Wesen für sich ist.«117
Auf dieser Stufe der Vergegenständlichung entsteht das Denken
(das immer das Denken des Allgemeinen ist) und mit dem Denken eine
Verdoppelung der Wirklichkeit, die nun in einem System mit kodierten
Beziehungsregeln und Bewegungsgesetzen repräsentiert wird. 118 Auf
dieser zweiten Ebene bildet sich eine Symbolwelt heraus, ideell in der
Form von Begriffen, real in der Form von Institutionen (in denen Be-
griffe wieder in die Realallgemeinheit des gesellschaftlichen Lebens
rückübersetzt werden). Der institutionelle Ausdruck der Vergegen-
ständlichung für das Individuum ist das Privateigentum in der Form der
Fixierung einer fremden Gegenständlichkeit. »Der Mensch eignet sich
sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler
Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören,
Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfi.nden, Wol-
len, Tätigsein, Lieben, kurz alle Organe seiner Individualität, wie die Or-
gane, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe
sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem ~erhalten zum
Gegenstand die Aneignung desselben. Die Aneignung der menschlichen
Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Bestätigung der
menschlichen [Wirklichkeit; menschliche Wirksamkeit und menschliches
Leiden, denn das Leiden, menschlich gefasst, ist ein Selbstgenuss des
Menschen.«119 Die Festlegung dieser Tätigkeit auf ein Ding - die Ver-
dinglichung des Prozesses - fi.ndet im Privateigentum ihre substantielle
Form. Das Privateigentum ist >)flur der sinnliche Ausdruck davon, dass
der Mensch zugleich gegenständlich für sich wird und zugleich vielmehr
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 269

sich als ein fremder und unmenschlicher Gegenstand wird, dass seine
Lebensäusserung seine Lebensentäusserung ist, seine Verwirklichung
seine Entwirklichung, eine fremde Wirklichkeit iSt.«121l
Die Lebensprozesse des Menschen bedeuten Entäusserung und
Vergegenständlichung. Erst dadurch wird der Mensch zum Menschen.
Aber in diesem Prozess geschieht der Umschlag - die Verdinglichung
des angeeigneten Gegenstands und seine Verselbständigung gegenüber
dem Prozess, in dem er erfahren und angeeignet wird, seine Entfrem-
dung. Diese entspringt im Akt der Produktion, sie kommt nicht erst als
ein (verfälschendes) Moment hinzu, »sie zeigt sich nicht nur im Resul-
tat, sondern im Akt der Produktion, innerhalb der produzierenden Tätigkeit
selbst. Das Produkt ist ja nur das Resümee der Tätigkeit, der Produk-
tion. ~'enn also das Produkt der Arbeit die Entäusserung ist, so muss
die Produktion selbst die tätige Entäusserung, die Entäusserung der
Tätigkeit, die Tätigkeit der Entäusserung sein. In der Entfremdung des
Gegenstandes der Arbeit resümiert sich nur die Entfremdung, die Ent-
äusserung in der Tätigkeit der Arbeit selbst.«121 Die Entfremdung ist
der Entäusserung inhärent; sie ist das Pandora-Geschenk, das damit
verbunden ist, dass der Mensch »praktisch und theoretisch die Gat-
tung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegen-
stand macht.«122 Darum ist die Entfremdung nicht nur das Fremdwer-
den der Sache gegenüber dem tätigen Menschen, sondern auch das
Fremdwerden des Menschen gegenüber seiner eigenen Tätigkeit, d. h.
gegen sich selbst: ».lelbstentfremdung.«123 Diese ist keine spirituelle Un-
heilsgeschichte, sondern ein ökonomisches Faktum. Als ein solches ist
die Selbstentfremdung des tätigen Menschen die Entfremdung von sei-
nem Gattungswesen. »Die entfremdete Arbeit macht also das Gattungs-
lJ'eWI des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermö-
gen, zu einem ihm fremden Wesen, zum 111ittel seiner individuellen Existenz.
(...) Eine unmittelbare Konsequenz davon, dass der .\Iensch dem Pro-
dukt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen ent-
fremdet ist, ist die Entfremdung des 111enschen von den 111enschen. Wenn der
Mensch sich selbst gegenübersteht, so steht ihm der andre Mensch ge-
genüber.«I24 Und da die Entfremdung unausweichlich im Produk-
tionsprozess entsteht und der arbeitende Mensch nicht hinter sie zu
einem unmittelbaren Selbstsein zurückgehen kann, wird die Aufhe-
bung der Entfremdung nur am Ende einer Veränderung stehen, die die
in der Produktion entstandenen Bedingungen der Entfremdung besei-
tigt und durch eine andere Form der Institutionalisierung menschlicher
Tätigkeit ersetzt.
270 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Nun hat Marx, wie wir gesehen haben, das Privateigentum als die in-
stitutionalisierte Form der entfremdenden Aneignung der Welt in der
produktiven Tätigkeit des Menschen bestimmt. Der Weg des Menschen
zu sich selbst als einem freien, universellen Wesen wird also über die Ne-
gation dieser Form führen. Die Konsequenz aus der kategorialen (phi-
losophischen) Analyse der ökonomischen Verfassung der Gesellschaft
ist daher nicht mehr einfach ein neuer Begriff der Sache, sondern eine
verändernde (revolutionäre) Tätigkeit, die dieser neue Begriff benennt
und die ihn überhaupt erst inhaltlich näher bestimmt und fortbestimmt.
»Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschli-
cher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschli-
chen Wesens durch und für den Menschen (00') ist die wahrhafte Auflö-
sung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit
dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und
Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen
Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist
das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiss sich als diese Lösung.«125
Und das heisst: Der Kommunismus »als Negation der Negation, als An-
eignung des menschlichen Wesens, die sich mit sich durch Negation des
Privateigentums vermittelt (00') ist nur durch den ins Werk gesetzten
Kommunismus zu vollbringen. Um den Gedanken des Privateigentums
aufzuheben, dazu reicht der gedachte Kommunismus vollständig aus. Um
das wirkliche Privateigentum aufzuheben, dazu gehört eine wirkliche
kommunistische Aktion.«126 In der Praxis geht die Theorie aus der Not-
wendigkeit des Begriffs in seine Verwirklichung, d. h. in ihre Aufhebung
als reine Theorie über. Denn der Begriff der Aufhebung der Entfrem-
dung bliebe ein Begriff innerhalb des Systems der Entfremdung, würde
nicht das Faktum der Entfremdung in seiner Wurzel beseitigt. 127
Marx hat hier den Ort ermittelt, an dem die Kategorie Aufhebung
einen radikal anderen Sinn, nämlich den einer Handlung bekommt. In
der Kritik am logischen Verfahren Hegels kommt er darauf noch ein-
mal zurück: »Der sich selbst entfremdete Mensch ist auch seinem
Wesen, d. h. dem natürlichen und menschlichen Wesen entfremdeter
Denker. Seine Gedanken sind daher ausser der Natur und dem Men-
schen hausende fixe Geister.« Hegel habe diese entfremdeten Gedan-
ken als solche, d. h. als »fixe Geister« behandelt und »jeden derselben
einmal als Negation, d. h. als Entäusserung des menschlichen Denkens,
dann als Negation der Negation, d. h. als Aufhebung dieser Entäusse-
rung, als lvirkliche Äusserung des menschlichen Denkens gefasst; aber
da - als selbst noch in der Entfremdung befangen - ist diese Negation
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 271

der Negation teils das Wiederherstellen derselben in ihrer Entfrem-


dung, teils das Stehnbleiben bei dem letzten Akt, das Sichaufsichbe-
ziehn in der Entäusserung.«128 Was im Reich der Logik (der Wirklich-
keit im Elemente des Denkens) noch sinnvoll als Idee der
aufgehobenen Entäusserung entwickelt werden konnte, hat in der
Rech/sphilosophie als Idee keinen Gegenstand mehr - es bleibt ein ent-
fremdeter Begriff. Marx' Respekt vor Hegels Logik geht eben wegen
dieses Respekts in die Kritik der Rech/sphilosophie über. »Das Positive,
was Hegel hier vollbracht hat - in seiner spekulativen Logik - ist, dass
die bestimmten Begriffe, die allgemeinen fixen Denkformen in ihrer Selb-
ständigkeit gegen Natur und Geist ein notwendiges Resultat der all-
gemeinen Entfremdung des menschlichen Wesens, also auch des
menschlichen Denkens sind und dass Hegel sie daher als Momente des
Abstraktionsprozesses dargestellt und zusammengefasst hat.«129 Da
aber diese Leistung nur im Reiche des Denkens vollbracht wird und das
Verhältnis des Denkens zur Wirklichkeit beim Übergang zur Realphi-
losophie nur als Anschauung und nicht als Praxis gefasst wird, kann
Hegel die Konsequenzen seines Verfahrens in der Rechtsphilosophie nicht
ziehen. »Die inhaltsvolle, lebendige, sinnliche, konkrete Tätigkeit der
Selbstvergegenständlichung wird daher zu ihrer blassen Abstraktion,
der absoluten Negatit'ität, einer Abstraktion, die wieder als solche fixiert
und als eine selbständige Tätigkeit, als die Tätigkeit schlechthin gedacht
wirdt.«110 Die Wirklichkeit der Negativität wäre die wirkliche Negation
des Bestehenden. Die Philosophie als Wissenschaftslehre muss sich
diese metabasis eis al/o genos versagen und sich damit begnügen, »eine To-
talität von Abstraktionen oder die sich erfassende Abstraktion zu
sein.«131 Sie bleibt bei der Interpretation stehen, Aufheben und Nega-
tion bleiben Kategorien des Denkens. Darüber will Marx hinausgehen,
er will die Wirklichkeit der Philosophie ausser dem Denken. Die Einheit
von den appellativen Thesen der Kritik der Hege/sehen Rechtsphilosophie.
Einleitung über die analytische Argumentation der Ökonomisch-Philoso-
phischen Manuskripte bis zum Programmsatz oder »Losungswort« der 11.
Feuerbachthese 132 ist deutlich.

5. Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie

Mit gutem Grund kann man sagen, der um die Jahreswende 1843/44
geschriebene Aufsatz Zur Kritik der Hege/sehen Rech/sphilosophie. Einleitung
sei eine Art Programmschrift des fünfundzwanzigjährigen Kar! Marx.
272 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Geschrieben für den mit Ruge zusammen geplanten und herausgege-


benen ersten Band der Deutsch-Franziisischell Jahrbücher, enthält der Auf-
satz eine Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Politik,
zugespitzt auf das Verhältnis von Philosophie und Politik der unmit-
telbaren Gegenwart von 1844 (also der spannungsvollen Lage, die spä-
ter dann als »Vormärz« bezeichnet wurde). Der Aufsatz zeigt Marx als
ganz selbständigen Denker, der Hegel und Feuerbach verarbeitet und
die Kritik an beiden soweit geleistet hat, dass er sich von ihnen lösen
kann. Die minutiöse Kritik des Hegeischen Staatsrechts, wenig mehr als zwei
Monate zuvor abgeschlossen, ist die inhaltliche Voraussetzung der Kri-
tik der Hege/schell Rechtsphilosophie. Einleitung, der Vergleich beider Arbei-
ten lässt aber auch den raschen und entschlossenen Schritt zur neuen
Form von Philosophie erkennen, den Marx nun getan hat.
Es mag verwundern, dass hier von einer neuen Form yon Philo-
sophie gesprochen wird, wo es doch offenbar um die Negatioll von
Philosophie zu gehen scheint. »Mit Recht fordert daher die praktische
politische Partei in Deutschland die Negation der Philosophie. Ihr Un-
recht besteht nicht in der Forderung, sondern in dem Stehen bleiben
bei der Forderung, die sie ernstlich weder vollzieht noch vollziehen
kann.«113 Der Anfang des Abschnitts, in dem diese Sätze stehen,
macht zwar deutlich, dass sie sich auf die zeitgenössische Philosophie
beziehen, eben auf »die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie«, als »die
einzige mit der offtziellell modernen Gegenwart alpari stehende deutsche
Geschichte.«134 Doch ist daraus kein rettendes Argument für die Philo-
sophie überhaupt zu gewinnen. Marx fällt nicht hinter Hegels Ein-
sicht zurück, jede Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken erfasst. Das
bedeutet, dass Philosophie immer nur in ihrer aktuellen, jetztzeitli-
chen Gestalt Philosophie ist, und als vergangene oder »ewige« nur den
Historiker angeht. (In anderem Zusammenhang gibt Marx diesem
Gedanken die Fassung, die Philosophie habe keine selbständige Ge-
schichte, sie folgt eben, jeweils als Theorie und Ausdruck ihrer Zeit,
der allgemeinen Geschichte, deren Grundmuster das Kommunistische
Manifest enrwirft) .135 Wenn es denn, eine philosophia perennis gibt, so nur
als Strom der Aktualisierungen (und das heisst auch Umdeutungen,
Reformulierungen) von Problemen und Problemlösungsversuchen,
als Vergegenwärtigung von Philosophiegeschichte angesichts hier
und jetzt sich stellender Probleme. Jede Philosophie tritt zu ihrer Zeit
das Erbe der Geschichte der Philosophie an, aber indem sie es antritt,
muss sie damit arbeiten, das heisst, es in ihre eigenen systematischen
Fragen einbringen.
Der Cbergang zur materialistischen Dialektik 273

Die Negation der gegenwärtigen Philosophie ist also die Negation


der Philosophie überhaupt als theoretisch deutender und weltanschau-
lich organisierender Kraft des menschlichen Verhaltens. Der Hinweis
auf die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie - und das kann ja in
diesem Zusammenhang nur die Hegels und seiner Nachfolger sein -
sagt auch genau, worauf sich die Forderung bezieht: Die philosophi-
sche Reflexion der historischen Epoche, das theoretische Modell der
gesellschaftlichen Wirklichkeit soll negiert werden, um die weltan-
schauliche Determinante, die diese Wirklichkeit befestigt, zu eliminie-
ren. Denn die Theorie formuliert den Schein, unter welchem die \X!irk-
lichkeit sich darstellt. In der Kritik des Hege/sehen Staatsrechts hatte Marx
die philosophische Form dieses Scheins durchleuchtet, in der Feti-
schismus-Theorie des Kapitalwird er ihre gesellschaftlichen Ursprünge
aufdecken. Die Kritik der He,gelschen Rechtsphilosophie zieht daraus die
Konsequenz: Aufhebung des philosophischen Scheins durch die poli-
tische Aktion, »die Auflösung der bisherigen \X'eltordnung« durch das
Proletariat.
Also keine Philosophie mehr? Oder Philosophie nur noch als Selbst-
kritik, als Kritik des von ihr erzeugten ideologischen Scheins?U6 So ein-
fach ist die These nicht, J\larx setzt keine Dichotomie von Philosophie
und Nichtphilosophie. Vielmehr macht er sich lustig über die »prakti-
sche politische Partei«, die »glaubt, jene Negation dadurch zu vollbrin-
gen, dass sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Haup-
tes - einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt.«Lr Die
Philosophie, die die Reflexionsgestalt unseres tatsächlichen Verhaltens
ist, gehört unablösbar zu den wirklichen menschlichen Verhältnissen;
denn der Mensch handelt und verhält sich, indem er denkt. Sein-Tun
und Bewusstsein-Reflexion bilden eine Einheit, und darum wäre die un-
mittelbare Aufhebung der Philosophie im handlungssteuernden Bewus-
stsein selbst nur wieder eine Philosophie, wenn auch eine schlechte, ver-
nunftlose. Der Schein, der in der Philosophie Systemgestalt bekommt,
verschwindet nicht dadurch, dass die Philosophie verleugnet wird; denn
als Philosophie ist er nur die theoretische Rekonstruktion der Verzer-
rungen und Verkehrungen, in welchen uns die \v'irklichkeit erscheint.
Den Schein erkennen, heisst die Bedingungen seiner Entstehung erken-
nen; um den Schein aufzuheben, muss man diese Bedingungen aufhe-
ben. Der Schein ist nichts, was dem Wirklichen aufgeklebt wäre; er ist ein
'\loment der Wirklichkeit selbst, »realer Schein.«us
Die Philosophie kann also nur zusammen mit der bestehenden
\X'irklichkeit, mit der »bisherigen Weltordnung« aufgehoben werden.
274 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Diese Aufhebung der Philosophie aber ist - und damit wird die schein-
bar negierte wieder in ihr höheres Recht eingesetzt - ihre Vern'irk/i-
chung. »Ihr könnte die Philosophie nicht aufhebell, ohne sie Zu 1'mJJirk/ichen.«119
Das kann doch nicht heissen, dass der Schein, den die Philosophie pro-
duziert und reproduziert, verwirklicht werden soll - er ist ja schon
wirklicher Schein. Der Philosophie wird mithin eine Qualität zuge-
schrieben, die über die Konstruktion des realen Scheins in der Theorie
hinausgeht. Wiederum ist die Philosophie, von der hier die Rede ist, die
Hegelsehe; sie denkt das Ganze, und sie denkt es als Entwicklung, als
Aufhebung des jeweils positiv Bestimmten in bestimmter Negation
und damit Setzung eines Neuen, als revolutionären Prozess; sie denkt
diesen Prozess als Fortbestimmung des Begriffs und als Fortschritt im
Offenbarwerden der Vernunft, und damit denkt sie Geschichte als
Befreiung des Menschen aus Fremdbestimmungen, Kampf um die
Selbstbestimmung ausVernunftgründen, Emanzipation. Indem Hegel
in der Reflexion des weltgeschichtlichen Ereignisses der Französischen
Revolution deren heroische Illusion, die bürgerliche Gesellschaft als
Gesellschaft freier Menschen, in der der individuelle Wille aller zum all-
gemeinen Willen und das heisst zum Wollen des vernünftigen Allge-
meinen wird 140, zum philosophischen System gestaltet, geht cr über die
Reproduktion des Scheins hinaus und entfaltet den Begriff der Frei-
heit, aber eben als Begriff; als Begriff jedoch, der die wahre Wirklich-
keit zu sein beansprucht, sodass, revolutionär gegen das Bestehende,
die Identität von Vernunft und Wirklichkeit normativ gesetzt werden
kann. 141 Geht es also darum, dass »alle Bedingungen der menschlichen
Existenz unter der Voraussetzung der sozialen Freiheit organisiert«142
werden sollen, so muss das gesellschaftliche System der Freiheit als die
Verwirklichung des vernünftigen Prinzips der Philosophie errichtet
werden.
Die philosophische Theorie wird also zum »Kopf der Emanzipa-
tion«; aber auf dem Kopf geht man nicht, der Prozess der Emanzipa-
tion muss vom Kopf auf die Füsse gestellt werden. 143 Also behält auch
die »theoretische Partei« nicht recht, die in der kritischen Philosophie
selbst schon die Verwirklichung der Emanzipation sieht. Denn »sie be-
dachte nicht, dass die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört
und ihre, wenn auch ideelle, Ergänzung ist.«144 Die politischen Forde-
rungen der Emanzipation sind zwar in der Philosophie ausgesprochen,
aber in der Form des Begriffs, der die eigentliche Wirklichkeit sei. Ge-
rade in dieser Hypostasierung der ideellen Seite des Reflexionsverhält-
nisses von Wirklichkeit und Begriff ist die Philosophie nur Ideologie
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 275

und als solche Befestigung der bestehenden Wirklichkeit; der Idealis-


mus Hegels wird zur Schranke für die Verwirklichung seines Systems
der Vernunft. Dass seine Rechtsphilosophie eine »spekulative« blieb,
macht ihre Grenze aus, die aufzuheben in ihr allerdings dialektisch an-
gelegt ist: »Die Kritik der deutschen Rechts- und Staatsphilosophie, welche
durch Hegel ihre konsequenteste, reichste letzte Fassung erhalten hat,
ist bei des, sowohl die kritische Analyse des modernen Staats und der
mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit als auch die entschiedene
Verneinung der ganzen bisherigen U''eise des deutschen politischen und recht-
lichen Bewusstseins, dessen vornehmster, universellster, zur U' issenschaft
7

erhobener Ausdruck eben die spekulatil'e Rechtsphilosophie selbst ist.«145


Im Prinzip der Hegelschen Philosophie liegt schon die Kritik ihrer spe-
kulativen Form. Aber diese Kritik kann nicht wieder auf die Weise spe-
kulativer Philosophie vollzogen werden, also nicht wieder selbst Philo-
sophie sein. Sie ist, als Verwirklichung der Philosophie, deren
Aufhebung durch gesellschaftliche Praxis. Deren politische Konse-
quenzen sind »im Gegenteil nur durch die Negation der seitherigen Philoso-
phie, der Philosophie als Philosophie, zu erhalten.«146 Darum irrte die
Philosophen partei der Junghegelianer: »Sie glaubte, die Philosophie l'fIwirk-
lichen Zu krilllIen, ohm sie aufzuheben.«14 7
Die Aufhebung der Philosophie in ihrer politischen Verwirklichung
ist nicht die Liquidierung der Philosophie, sondern ihre bewusste Ein-
setzung in ihren Status als höchste, nämlich sich selbst noch reflektie-
rende Reflexionsgestalt einer \X'irklichkeit, die nur in der \X'eise des uni-
versellen Vermittlungszusammenhangs, also in der Reflexion wirklich
ist; es ist der Status der Philosophie als der für jede Orientierung in der
Praxis notwendigen \X'iderspiegelung des Ganzen 148, das in der unmit-
telbaren Praxis nur latent gegeben ist. Erst durch die Philosophie wird
die Praxis an sich eine Praxis für sich.
Es war die Aufgabe und Leistung der Philosophie, die Vermittlung
der individuellen Willen und ihrer Summation in der l'olonte de tous, und
die Vermittlung der Gemeinsamkeit der Individuen zum Allgemeinen,
zur I'Olonte gelIerale, vollzogen zu haben. Aber diese Vermittlung ist erst
nur wirklich im Begriff, solange die Staats funktionen und die Staats-
macht von einer besonderen KJasse der Gesellschaft in Durchsetzung
ihrer partikularen Interessen ausgeübt werden. Es ist genau dieser Zu-
stand, den die Französische Revolution hergestellt hat, obwohl- oder
vielmehr weil - ihre Protagonisten in dem naiven Vorurteil gehandelt
hatten, ihre besonderen Interessen seien identisch mit dem Allgemein-
interesse. 149 Eine solche Umwälzung ist eine »nur politische«, das heisst
276 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

keine allgemeine, die die Vernunft und damit den Menschen in seiner
»Menschheit« (wie Kant sagt) oder »Humanität« (W v. Humboldt) all-
seitig verwirklichen würde. Vielmehr wird die Sonderstellung der poli-
tisch revolutionären Klasse zur Norm erhoben. »\X'orauf beruht eine
teilweise, eine nur politische Revolution? Darauf, das ein Teil der biir-
gerfichen Gesellschaft sich emanzipiert und zur allgemeinen Herrschaft ge-
langt, darauf, dass eine bestimmte Klasse von ihrer besondren Situation
aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt. Diese
Klasse befreit die ganze Gesellschaft, aber nur unter der Vorausset-
zung, dass die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse be-
findet, also z. B. Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben
kann.«!50
Damit eine besondere Klasse ihre Interessen und Wertvorstellun-
gen zu Leitideen der Gesellschaft machen kann, bedarf sie der Zu-
stimmung und Unterstützung auch jener, die andere besondere Inter-
essen haben.!5! Die Besonderheit muss den Schein der Allgemeinheit
erwecken. »Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese
Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der
Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im
Allgemeinen fraternisiert und zusammenfliesst, mit ihr verwechselt
und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird,
ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in \"X'ahrheit die Rechte
und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der so-
ziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen der allgemeinen
Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine
Herrschaft vindizieren.«!52 Die Kritik dieser Verkehrung des Besonde-
ren und Allgemeinen hat Hegel in den §§ 182 bis 256 der Rechtsphiloso-
phie gegeben, in denen er die bürgerliche Gesellschaft behandelt. Die
Allgemeinheit bestehe »eben damit nicht als Freiheit, sondern als 1\'ot-
wendigkeit, dass das Besondere sich zur Form der Allgemeinheit erhebe, in
dieser Form sein Bestehen suche und habe« (§ 186). Das Prinzip dieser
Allgemeinheit ist »der selbstsüchtige Zweck« (§ 183), ihre Daseinsform
der »Verstandes staat«, also gerade nicht die Vernunft.
An diese prinzipielle Einschätzung Hegels kann Marx anknüpfen,
und zwar gerade dadurch, dass er seine Kritik an Hegels Staatsrecht
voraussetzt. Die Annotationen zu § 297 von Hegels Rechtsphilosophie lie-
fern den Schlüssel: »Hegel geht von der Trennung des >Staats< und der
>bürgerlichen< Gesellschaft, den >besonderen Interessen< und dem >an
und für sich seienden Allgemeinen< aus, und allerdings beruht die
Bürokratie auf dieser Trennung.« Aber Hegels Versöhnung des Allgemei-
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 277

nen mit dem Besonderen durch die Institutionen des Staates und seine
Fun~tionäre (die Bürokratie) bleibt scheinbar, weil auf die Konstruk-
tion des Begriffs beschränkt. »Die Aufhebung der Bürokratie kann nur
sein, dass das allgemeine Interesse Jl'irklich und nicht, wie bei Hegel,
blass im Gedanken, in der Abstraktion zum besonderen Interesse wird,
was nur dadurch möglich ist, dass das besondere Interesse wirklich zum
allgemeiJleIl wird (...) Das Subjektwerden der >allgemeinen Angelegen-
heit<, die auf diese \X'eise verselbständigt wird, wird hier als ein J\Ioment
des Lebensprozesses der >allgemeinen Angelegenheit< dargestellt. Statt
dass die Subjekte sich in der >allgemeinen Angelegenheit< vergegen-
ständlichten, lässt Hegel die >allgemeine Angelegenheit< zum >Subjekt<
kommen.« Indem Hegel das Agens der Geschichte in den Begriff des
Allgemeinen verlegt, verfehlt er die handelnden Subjekte. »Die Sub-
jekte bedürfen nicht der >allgemeinen Angelegenheit< als ihrer wahren
Angelegenheit, sondern die allgemeine Angelegenheit bedarf der Sub-
jekte zu ihrer forme/Im Existenz. Es ist eine Angelegenheit der >allge-
meinen Angelegenheit<, dass sie auch als Subjekt existiere.«151
Hegel durchschaut den Widerspruch im Mechanismus der bür-
gerlichen Gesellschaft, die zugleich Reichtum und Armut, Luxus und
Elend hervorbringt. »Die Richtung des gesellschaftlichen Zustands
auf eine unbestimmte Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürf-
nisse, Mittel und Genüsse, welche, so wie der Unterschied zwischen
natürlichem und ungebildetem Bedürfnisse, keine Grenzen hat, - der
Luxus - ist eine ebenso unendliche Vermehrung der Abhängigkeit
und Not ... « (§ 195).
Hier wird die Dissoziation des Allgemeinen in den Gegensatz der
Besonderen, von denen nur das eine sich die Geltung der Allgemein-
heit anmasst, korrekt beschrieben und durchaus auch als Konsequenz
der auf dem individuellen \X'illen und seiner Objektivation im Privatei-
gentum beruhenden Gesellschaftsform erkannt. 154 In der Periode der
Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Klassenver-
hältnisse sah Hegel indessen keine andere Aufhebung dieses Wider-
spruchs als in der Staatstätigkeit, die die Extreme vermittelt und so zur
allgemeinen Geltung gelangt.
25 Jahre später geht Marx an die \X'urzel dieses Verhältnisses:
»Nicht die lJatunl'iichsij; el!tstalldene, sondern die kiinstlich produzierte
Armut, nicht die mechanisch durch die Schwere der Gesellschaft nie-
dergedrückte, sondern die aus ihrer akuten /lußiisullg, vorzugsweise aus
der Auflösung des l\1ittelstandes hervorgehende J\Ienschenmasse bil-
det das Proletariat,«155 Der zerrissene Zustand der bürgerlichen Ge-
278 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

sellschaft geht also nicht aus einem Naturverhältnis der Menschen un-
tereinander, sondern. aus dem Produktionsverhältnis hervor. In die-
sem Produktionsverhältnis vollzieht sich die Auflösung des commune
bonum als Gesellschaftszweck in die Privatinteressen, die absolute
Priorität und Verfassungsvorrang bekommen 156 , und damit zugleich
die Bildung »einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine
Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die
Auflösung aller Stände ist.«15 7 Diese Klasse ist »die Auflösung der Ge-
sellschaft als ein besonderer Stand«158, nämlich als »das Proletariat«.
Sein einziges Interesse, das Interesse der Eigentumslosen, ist die Auf-
hebung des Privateigentums und also die Aufhebung der Bedingungen
aller jener Privatinteressen, die sich dem commune bonum überlagern.
»Wenn das Proletariat die Aujlo'sung der bisherigen Weltordnung verkün-
det, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist
die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die
Negation des Pril1ateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der
Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in
ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun ver-
körpert ist.«159
So erzeugt der Widerspruch der Gesellschaft das Proletariat als all-
gemeine Klasse, das heisst als die Klasse, die als besondere, der Bourgeoi-
sie entgegengesetzte, in ihrem besonderen Interesse den allgemeinen
Gesellschaftszweck verkörpert. Das Proletariat löst damit dem \X'esen
nach ein, was die revolutionäre Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen den
Feudalabsolutismus dem Schein nach - und nach ihrer eigenen hero-
ischen Illusion - gewesen war. »Damit die Ra'ofution eines Volkes und die
Emanzipation einer besondren Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusam-
menfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte,
dazu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andren
Klasse konzentriert, dazu muss ein bestimmter Stand der Stand des all-
gemeinen Anstosses, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein,
dazu muss eine besondre soziale Sphäre für das notorische Terbrechen
der ganzen Sozietät gelten, so dass die Befreiung von dieser Sphäre als
die allgemeine Selbstbefreiung erscheint. Damit ein Stand par excellence
der Stand der Befreiung, dazu muss umgekehrt ein anderer Stand der
offenbare Stand der Unterjochung sein. Die negativ-allgemeine Be-
deutung des französischen Adels und der französischen Klerisei be-
dingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden
und entgegengesetzten Klasse der Bourgeoisie.«16!) Erst das Proletariat
entspricht in Wahrheit dieser Beschreibung.
Der Cbergang zur materialistischen Dialektik 279

Als allgemeine Klasse ist das Proletariat auch die erste Klasse, die
sich die Philosophie widerspruchs frei aneignen kann. Denn die Phi-
losophie, die die Voraussetzungen für die Selbstbestimmung des
i\Ienschen aus Vernunftgründen schafft, weil sie die Vernunftgründe
theoretisch entwickelt, ist die Form des Bewusstseins des Allgemei-
nen. Was das Proletariat, als Klasse, in Wirklichkeit ist, nämlich der
realallgemeine Boden, aus dem der Mensch als das Wesen des Men-
schen - der eigentliche, freie, durch Vernunft selbstbestimmte
Mensch hervorwachsen kann, sobald es sich als besondere, ausge-
beutete, unterdrückte Klasse aufhebt: das ist die Philosophie in Gedan-
ken, die sich verwirklicht, wenn sie zur politischen Macht wird. Zur po-
litischen i\Iacht wird sie, wenn sie die Massen ergreift und deren Aktion
auf die Aufhebung ihrer besonderen Klassenlage, also auf die aktuelle
politische Durchsetzung ihrer potentiellen Allgemeinheit lenkt. (Später
wird dieser Gedanke in der Theorie vom Klassenbewusstsein konkre-
tisiert werden). Indem das Proletariat seine Ketten zerbricht, in denen
es als besondere Klasse gehalten war, und zur allgemeinen Klasse wird,
verwirklicht es die Philosophie. Aber es wird sie nur verwirklichen,
wenn es zuvor seine eigenen Interessen als die allgemeinen erkannt hat,
wenn es also die Philosophie als die theoretische Formulierung seiner
Ziele angeeignet und in sein Handeln aufgenommen hat. Die vernünf-
tige Allgemeinheit der Philosophie kann widerspruchs frei zur volonti
generale des Proletariats werden, weil dessen Interesse, die Auflösung
der Klassengesellschaft und damit die Beseitigung der Herrschaft des
Besonderen über das allgemeine Wohl, identisch mit dem Allgemein-
interesse und also mit dem Programm der Philosophie ist.
Das Proletariat ist aber auch die erste und einzige Klasse, die sich
die Philosophie widerspruchsfrei aneignen muss. Denn nur im Begriff
des Ganzen gewinnt das Proletariat ein Bewusstsein seiner selbst als
einer besonderen Klasse, die sich in der Aufhebung ihrer selbst als allge-
meine Klasse velWirklicht. Die Wirklichkeit des Proletariats als allge-
meine Klasse besteht in der Identität ihres Wollens mit der vernünfti-
gen Allgemeinheit der Philosophie - und das heisst aber auch in der
Aufhebung der Philosophie als (biosse) Philosophie und ihrer Verwirkli-
chung in der Herstellung allgemeiner Vernünftigkeit der menschlichen
Verhältnisse. »Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so fin-
det das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen.«161 Das ist
kein Akt gegenseitiger »Erwählung«; vielmehr drückt sich im Verhält-
nis von Proletariat und Philosophie die geschichtliche Lage der
Menschheit aus, dass unter der Herrschaft des Kapitals alle Besonde-
280 Die »Umkehrung« Hegels durch den l\larxismus

rungen menschlicher Interessen unter die eine Besonderheit des Kapi-


talverwertungsinteresses subsumiert sind und eben jene Klasse, die
keine Kapitalverwertungsinteressen besitzt, in dieser ihrer Besonder-
heit gerade allein das wirkliche Allgemeininteresse verficht. Es ist der
philosophische Status dieser allgemeinen Klasse, alle Besonderheiten
zu übergreifen !62 und in ihrem Klasseninteresse die »völlige W'ieder-
gewinnung des Menschen«!6'> (mithin sogar noch die Interessen ihres
Gegenteils, (der Kapitalisten, als Menschen) zu realisieren. Damit wird
die allgemeine Klasse, die die Klassengesellschaft und damit sich selbst
als Klasse aufhebt, zum Träger der Verwirklichung der vernünftigen All-
gemeinheit. Metaphorisch gesprochen: »Der Kopf dieser Emanzipation
ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.« Und mit der Strenge des Be-
griffs: »Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhe-
bung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die
Verwirklichung der Philosophie.«!64
Die vernünftige Allgemeinheit, die in der Philosophie ihren Begriff
und in der allgemeinen Klasse ihren materiellen Träger findet, wird je-
doch in der Unmittelbarkeit des jeweils einzelnen Verhaltens, der Be-
ziehung zum »Dieses« gerade nicht erkannt und aktualisiert. In Be-
gierde und Genuss, in Anschauung und Gefühl bleibt sie unter der
Erscheinung verborgen. Die Sachverhalte sind nicht das, als was sie
sich prima vista darstellen: Die Blüte zeigt uns nicht das Leben der
ganzen Pflanze und schon gar nicht das Gattungsgeschehen des biolo-
gischen Typus oder der ökologischen Randbedingungen; das Kapital-
verhältnis wird in der Beziehung des Patron zum Arbeiter nicht ein-
sichtig. Was die unmittelbar erfahrene Wirklichkeit zu dem macht, was
sie ist, tritt in der unmittelbaren Erfahrung gerade nicht zutage. Hegels
Phänomenologie des Geistes vollzieht Schritt für Schritt die Destruktion des
Glaubens an die unmittelbaren Gegebenheiten und entfaltet den Be-
griff des Wahren in der Entwicklung der Abstraktion, als welche das
mit seinen Bedingungen Vermittelte sich darstellt; Abstraktionen, die
sich im Aufdecken der Vermittlungen als das eigentliche Konkrete in
der Form des Begriffs erweisen. Was das Denken leistet, ist die Aneig-
nung der Welt in ihren Zusammenhängen. Die Entdeckung und Re-
konstruktion der Zusammenhänge und - da Relationen iterierbar sind
- die Entdeckung der Möglichkeit neuer Zusammenhänge und ihre
Konstruktion sind die Arbeit des Denkens, die Begriffe sind sein Pro-
dukt. Diese Arbeit im Kopfe ist das gedankliche Korrelat der Arbeit an
den materiellen Gegenständen. Dass die Welt uns nicht durch die un-
mittelbare Anschauung, sondern durch die Vermittlungstätigkeit der
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 281

Arbeit als wirkliche Welt gegeben ist, wird in der Phänomenologie des
Geistes als die Geschichte des Bewusstseins, des werdenden Wissens
dargestellt. »Das Grosse an der HegeIschen Phänomenologie und ihrem
Endresultate - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und
erzeugenden Prinzip - ist also einmal, dass Hegel die Selbsterzeugung
des Menschen als einen Prozess fasst, die Vergegenständlichung als
Entgegenständlichung, als Entäusserung und als Aufhebung dieser
Entäusserung; dass er also das Wesen der Arbeit fasst und den gegen-
ständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat
seiner eignen Arbeit begreift.«165
Anders als in der Form des Begriffs ist die Komplexität der in den
einzelnen Arbeits- oder Anschauungsgegenstand eingegangenen und ihn
bestimmenden Momente nicht zu erfassen. Und da die materiell-prakti-
sche Arbeit ihren Gegenstand nicht nur gemäss seiner anschaulichen
Oberfläche, sondern gemäss seiner strukturellen, prozessualen, gesetz-
lichen, typischen Bestimmungen auffassen und behandeln muss, sind
Arbeitsprozess und Erkenntnisprozess eng miteinander verbunden; sie
stehen in wechselseitiger Reflexion zueinander. Ja, im Entwurf des uni-
versellen Zusammenhangs, der Welt als ganzer (was Engels in der Dia-
lektik der Natur dann den »Gesamtzusammenhang« nennen wird), wird
das Wissen selbst absolut, weil die Welt als ganze eben kein Gegen-
stand materieller Tätigkeit, sondern nur noch Gegenstand der Kon-
struktion im Wissen ist; im spekulativen Begriff vollendet der Mensch,
was er in der gegenständlichen Tätigkeit nicht vollenden kann. Bei
Hegel gewinnt daher die »Kopfarbeit« die ontologische Priorität: »Die
Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige
(...) Die Menschlichkeit der Natur und der von der Geschichte erzeugten
Natur, der Produkte des Menschen, erscheint darin, dass sie Produkte
des abstrakten Geistes sind und insofern also geistige Momente, Gedan-
kenwesen.«166 Die Entwicklung des Wissens von den Gegenständen als
Arbeit des Denkens ist nun zwar nur die eine Seite des doppelten Re-
flexionsverhältnisses von Arbeit und Erkenntnis, hat aber insofern ihre
Wahrheit, als die wirkliche Beschaffenheit der Gegenstände nur in der
Form des so produzierten Begriffs und seiner dauernden Fortbestim-
mung offenbar wird. So kann Marx auch festhalten, es sei »das Positive,
was Hegel hier vollbracht hat - in seiner spekulativen Logik - (...), dass
die bestimmten Begriffe, die allgemeinen fixen Denkjormen in ihrer Selb-
ständigkeit gegen Natur und Geist ein notwendiges Resultat der all-
gemeinen Entfremdung des menschlichen Wesens, also auch des
menschlichen Denkens sind und dass Hegel sie - als Momente des Ab-
282 Die »Umkehrung« Hegels durch den I\Iarxismus

straktionsprozesses dargestellt und zusammengefasst hat. Z. B. das


aufgehobne Sein ist das Wesen, das aufgehobne Wesen Begriff, der
aufgehobne Begriff (...) absolute Idee.«167 »Entfremdet« sind diese
Abstraktionen, weil in ihnen der Mensch sich seines sinnlichen, in der
praktisch-gegenständlichen Tätigkeit am einzelnen, sinnlich gegebe-
nen Gegenstand sich bewährenden Wesens entschlägt. Die Philoso-
phie, als das System solcher Abstraktionen, ist die entfremdete, weil
nur als »Bild« (Widerspiegelung) erscheinende Wirklichkeit. Darum
muss die Verwirklichung der Philosophie - also die Rückübersetzung
des Bildes in die Wirklichkeit oder die »Umkehrung« des Spiegelbil-
des - zugleich die Aufhebung der Philosophie als Philosophie, das
heisst als entfremdete Wirklichkeit, sein. Dieser Aufhebungs- (Um-
kehrungs-)prozess beginnt in der Philosophie selbst, und Hegel
macht, wie Marx bemerkt, diesen Umschlagpunkt auch selbst deut-
lich: »Aber was ist nun die absolute Idee? Sie hebt sich selbst wieder
auf, wenn sie nicht wieder von vorn den ganzen Abstraktionsakt
durchmachen und sich damit begnügen will, eine Totalität von Ab-
straktionen oder die sich erfassende Abstraktion zu sein. Aber die
sich als Abstraktion erfassende Abstraktion weiss sich als nichts, sie
muss sich, die Abstraktion aufgeben, und so kömmt sie bei einem
Wesen an, welches grade ihr Gegenteil ist, bei der Natur. Die ganze
Logik ist also der Beweis, dass das abstrakte Denken für sich nichts
ist, dass die absolute Idee für sich nichts ist, dass erst die Natur erwas
ist.«168 Das Naturverhältnis wird hier als allgemeines dem Arbeitsver-
hältnis zugrunde liegendes und durch das Arbeitsverhältnis bestimm-
tes begriffen. Die Verwirklichung der Philosophie als Aufhebung der
Entfremdung des abstrakten Wissens ist daher der »Naturalismus des
Menschen und der Humanismus der Natur.«
Da nun aber die unmittelbare Anschauung dies nicht leistet, son-
dern erst die durch das Wissen und die Konstruktion des Ganzen ver-
mittelte Anschauung, zu der die spekulative Idee übergeht, ist die
Philosophie nicht erwa ein überflüssig gewordenes Stadium der
menschlichen Vorgeschichte, sondern das perennierende Medium, in dem
das methodische Aufsteigen vom Konkreten über das Abstrakte zum
Konkreten immer wieder aufs Neue vollzogen werden muss. Nur die-
ser Prozess ist die Verwirklichung der Philosophie als ihre Aufhebung,
nur in ihm wird die vernünftige Allgemeinheit des (spekulativen)
Wissens zur gesellschaftlichen Arbeit für das commune bonum. Das ist
dann aber nicht mehr das Tun aller und jeder Einzelner, sondern die
Vermittlung dieses Tuns zur Gattungstätigkeit: »Das wirkliche tätige
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 283

Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die Betäti-


gung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d.h. als menschlichen
Wesens, ist nur möglich dadurch, dass er wirklich alle seine Gattungs-
kräfte - was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen mög-
lich ist, nur als Resultat der Geschichte - herausschafft, sich zu ihnen
als Gegenständen verhält, was zunächst wieder nur in der Form der
Entfremdung möglich iSt.«I69 Die Form der Entfremdung gewinnt ihre
Gestalt in der Philosophie, die ihre Zeit in Gedanken erfasst - die also
die Erscheinung des Tuns der Menschen in die Allgemeinheit des ab-
strakten (und historisch relativen) Begriffs übersetzt. Das hat Hegel ge-
sehen, und Marx erkennt es als grosse Leistung: »\X'as also überhaupt
das Wesen der Philosophie bildet, die Entäusserung des sich wissenden Men-
schen oder die sich denkende entäusserte Wissenschaft, dies erfasst Hegel
als ihr Wesen, und er kann daher der vorhergehenden Philosophie ge-
genüber ihre einzelnen Momente zusammenfassen und seine Philoso-
phie als die Philosophie darstellen. Was die anderen Philosophen taten
- dass sie einzelne Momente der Natur und des menschlichen Lebens
als Momente des Selbstbewusstseins und zwar des abstrakten Selbst-
bewusstseins fassen - das weiss Hegel aus dem Tun der Philosophie,
darum ist seine Wissenschaft absolut.«170 Das absolute Wissen, das sich
anmasst, die eigentliche Wirklichkeit selbst zu sein, wird aber entlarvt
als Verkehrung des Verhältnisses von Begriff und Wirklichkeit, das
heisst als ein Wissen, das vom Kopf auf die Füsse gestellt werden
muss. Vom Kopf auf die Füsse stellen bedeutet aber: es als »reines«
Wissen (im dreifachen HegeIschen Sinne) aufzuheben, um es als mate-
rielle Gewalt zu verwirklichen.
2. Kapitel:
Die Einheit von Anthropologie,
Geschichtsphilosophie und Ökonomie

1. Die Historisierung des Seins und des Wissens

Wenn von einem >Theorietypus Marx< in dem Sinne gesprochen würde,


wie man vom Typus transzendentaler, spekulativer oder empiristischer
Erkenntnisbegründung spricht, so würde allerdings das Besondere des
Marxschen Denkens - sowohl hinsichtlich seines theoriegeschichtli-
chen Ortes wie hinsichtlich seines theoretischen Status - von Grund
auf verfehlt. Es sind gerade nicht »die notwendigen kognitiven Struk-
turen«!, die die Verfassung der Marxschen Theorie determinieren, son-
dern die reflexive Bestimmung des Verhältnisses kognitiver Strukturen
und kategorialer Bestimmungen der Wirklichkeit zu den >wirklichen
Voraussetzungen< im materiellen Lebensprozess, in der gegenständli-
chen Tätigkeit der Menschen - also des Verhältnisses der Allgemein-
heit des \'{Tissens und der Wissens formen zu der Singularität von histo-
rischen Ereignissen und von Erlebnisinhalten. (>Erfahrung< ist schon
ein Vermittlungsbegriff, der diesem Verhältnis einen bestimmten Aus-
druck gibt). Es ist kein Zufall, dass die Reflexion dieses Verhältnisses
sich im Prozess der philosophischen Klärung des Marxschen Selbst-
verständnisses auf die Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie
des Geistes zuspitzt (in den Pariser Mantlskripten)2; denn in der PhänoJflmo-
logie war eben das Werden des Wissens von der (scheinbar einfachen)
sinnlichen Gewissheit bis zum absoluten Wissen konstruiert worden.
Das Besondere des Marxschen Denkens ist von zwei Seiten her zu
bestimmen durch Ausschluss dessen, was es nicht ist. Einmal ist es keine
Rückkehr zur intentio recta, in der sich die positiven Wissenschaften,
einschliesslich der >dogmatischen< vorkantischen Metaphysik im Stile
Wolffs, auf ihre Gegenstände richten; das ist es nicht, was Marx und
Engels unter der >reellen Wissenschaft< verstehen, durch die die Men-
schen >von den Hirngespinsten, den Ideen, den Dogmen, den eingebil-
deten Wesen< befreit werden sollen, >unter deren Joch sie verkümmern<.
Natürlich gehört zu der >einzigen Wissenschaft<, der Wissenschaft von
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 285

der Geschichte< (>Geschichte der Natur< und >Geschichte der Men-


schen<, die sich, >solange Menschen existieren<, gegenseitig bedingen)
auch die Erforschung der Tatsachen und ihrer Verknüpfung in direkter
Gegenstandszuwendung; und wenn Marx und Engels Sachverhalte er-
forscht haben, taten sie dies in der Weise positiver Wissenschaftler, also
in der intentio recta.
Aber sie waren auch keine Empiristen. Ihnen war stets bewusst,
dass die Wissensinhalte nicht einfache Verdoppelungen der gegen-
ständlichen Wirklichkeit sind, sondern vermittelt durch den Aneig-
nungsprozess, also durch natürlich vorgegebene und historisch ge-
wordene kognitive Strukturen, die durch die jeweils gegenwärtigen
Produktionsverhältnisse aktuell bestimmt sind. Das methodologische
Postulat, >die Ideenform aus der Praxis< zu erklären, impliziert zwi-
schen Ideen und ihren gegenständlichen Relata eine spezifische Diffe-
renz, welche erst die Erklärungsbedürftigkeit der Ideen ausmacht. Die
Ideen, denen gemäss uns die \X'irklichkeit erscheint, sind etwas anderes
als die Wirklichkeit selbst. Das System der Ideen ist also nur ein wech-
selnder perspektivischer Ausdruck der geschichtlichen, sich verän-
dernden Wirklichkeit, aber als solcher ist >die Ideologie selbst nur eine
der Seiten dieser Geschichte<. Wissen ist also immer nur reflexiv in
Rückwendung auf die Voraussetzungen seiner Entstehung zu gewin-
nen.
Nun ist aber das Marxsche Denken zweitens auch keine Rückkehr
zu einem - sei es transzendentalen, sei es spekulativen, sei es histori-
schen - Entwurf einer in/entio obliqua, in der sich das erkennende
Subjekt (als transzendentales, als gattungsgeschichtliches oder als Mo-
ment des absoluten Geistes) als konstitutiv für die Formbestimmtheit
der erscheinenden Wirklichkeit setzt. Für solchen Subjektivismus, der
sich zeitgenössisch in der Philosophie der Junghegelianer manife-
stierte, hatten Marx und Engels nur beissenden Spott übrig: »Alle wirk-
lichen Ereignisse werden vergessen, das theatrum mundi beschränkt
sich auf die Leipziger Büchermesse und die gegenseitigen Streitigkei-
ten der >Kritik<, des >Menschen< und des >Einzigen<.«} Der Schein, es
könne ein selbständiges, gleichsam angeborenes Reich des Bewusst-
seins geben, dessen Formbestimmtheiten mit denen der äusseren Wirk-
lichkeit nichts zu tun hätten - diese ontologische Hypostase der me-
thodologischen Fiktion des Descartcs -, ist selbst nur ein Produkt des
wirklichen Verhältnisses, in dem das Erkennen zu seinen Gegenstän-
den steht: »Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem
Augenblick an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit
286 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

eintritt. Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewusstsein wirklich


einbilden, etwas anderes als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu
sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen -
von diesem Augenblicke an ist das Bewusstsein imstande, sich von der
Welt zu emanzipieren und zur Bildung der )reinen Theorie<, Theologie,
Philosophie, Moral etc. überzugehen.«4 Die Abtrennung des erkennen-
den Verhaltens von der gegenständlichen Tätigkeit, zu deren Behuf er-
kannt wird, und die daraus resultierende Verselbständigung der Er-
kenntnistheorie sind der Grund des idealistischen Scheins, der »ausser
dem Geist der wirklichen, materiell bedingten Individuen noch einen
aparten Geist voraussetzt.«5
Was Denken und Erkennen sei, kann also weder allein von den Ge-
genständen noch allein von den kognitiven Strukturen her bestimmt
werden; die Annahme einer Priorität der einen oder der anderen - also
die Positionen des erkenntnistheoretischen Realismus oder Idealismus
- geht an der Spezifik ihres Verhältnisses vorbei. Das Verhältnis des Den-
kens zu den Gegenständen ist das Verhältnis zweier »Extreme«6 in einer
materiellen Vermittlung. Der substantielle Träger dieses Verhältnisses
ist der lebendige, tätige Mensch, der sich im >Stoffwechsel mit der
Natur< erhält und fortpflanzt. Die Inhalte des Denkens und Erkennens
sind das Resultat dieses materiellen Stoffwechselprozesses. Das heisst,
die beiden )Extreme< stehen nicht symmetrisch zueinander, die materi-
elle Wirklichkeit übergreift vielmehr die Vorstellungen. »Die Produk-
tion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittel-
bar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr
der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens (00') Die Menschen sind
die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen, etc. etc., aber die wirkli-
chen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte
Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden
Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf (00') Auch die Ne-
belbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Supplemente
ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraus-
setzungen geknüpften Lebensprozesses.«7 Das Übergreifen der materi-
ellen Wirklichkeit über die Vorstellungen ist durch etwas »Mittleres«
»zwischen« beiden Extremen bewirkt, an dem beide »teilhaben«. Dieses
Mittlere ist die gegenständliche Tätigkeit, in welche die Qualität des Ge-
genstands (samt ihren materiellen Kausalitäten) ebenso eingeht wie die
Zweckbestimmtheit (und also die Idealität) des Wollens.
Das bedeutet, dass das theoretische Verhältnis zur Wirklichkeit
(Denken und Erkennen) aus dem praktischen abgeleitet wird. Zunächst
Die Einheit von I\nthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 287

ist jede Theorie (also nicht nur die weltanschaulichen Orientierungen,


die Sinn und Zweckentwürfe, sondern auch die an Faktizität gebunde-
nen empirischen Wissenschaften) der Ausdruck der historisch be-
stimmten gesellschaftlichen Praxis ihrer Zeit; und gesellschaftliche
Praxis bedeutet primär Produktion und Organisation der Produktion
und ihrer Bedingungen sowie des Austauschs und Verkehrs (= Basis,
Produktionsverhältnisse), sekundär aber auch Deutungs- und Sinn-
gebungsprozesse und -institutionen (= Überbau). Da aber in jeden
historischen Zustand immer auch ein Ensemble praktisch-gegenständ-
licher wie theoretischer Ausarbeitungen früherer Perioden eingeht
(Kulturtradition), ist jede Theorie auch Ausdruck der Geschichte einer
Kultur und letzten Endes der Menschheit insgesamt. »Die Geschichte
ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von
denen jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materia-
lien, Kapitale, Produktionskräfte exploitiert, daher also einerseits unter
ganz veränderten Umständen die überkommene Tätigkeit fortsetzt
und andrerseits mit einer ganz veränderten Tätigkeit die alten Um-
stände modifiziert.«8
Der >Theorietypus Marx< lässt sich also vorläufig fassen als eine
radikale Historisierung der Erkenntnis und ihrer Gegenstände (ein-
schliesslich der Natur als Naturgeschichte), begründet in der onto-
logischen Verfasstheit alles Seienden als Seiendes-in-der-Zeit. Kon-
krete Bestimmung einer Sache in einer Theorie ist also immer ihre
Bestimmung im Hinblick auf ihre Zeitstelle - und da das Subjekt von
Theorien, der denkende Mensch, selbst eine bestimmte Zeitstelle
einnimmt, ist die Reflexion dieser Bedingungen der Theorie unver-
zichtbar für die Bestimmung des Geltungscharakters der Theorie. 9
Was Marx und Engels >reelle Wissenschaft< nennen, ist gerade die Re-
flektiertheit der historischen Bedingungen einer Theorie, also die phi-
losophische Brechung des naiven Wahrheitsanspruchs. 111 Wenn nun
die radikale Historisierung von Sein und Wahrheit nicht den Zusam-
menbruch jeder Erkenntnis und ihr Verschwinden in einer biossen
Pragmatik des Willens 11 nach sich ziehen soll, so muss sie sich auf
kategoriale Verhältniskonstanten (z. B. Identität-Nichtidentität; Be-
stimmtheit-Andersheit; Allgemeinheit-Einzelheit u.ä.) beziehen, also
Geschichtlichkeit als Ausdruck einer universalen Dialektik konstru-
ieren; die radikale Historizität fordert eine ontologische Fundierung.
Eine solche theoretische Konstruktion unterliegt ihrerseits dem un-
entrinnbaren Prinzip der Standortbezogenheit, sie hat eine theore-
tisch bestimmbare, aber in ihrer Wirklichkeit nicht theoretische Zeit-
288 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

stelle im historischen Prozess der Praxis, also der wirklichen .Mensch-


heitsgeschichte 12
Auf der ersten Stufe der ontologischen Fundierung, deren die
Marxsche Theorie bedarf, muss die Deduktion der logischen Katego-
rien und Prinzipien als Ausdruck von Formbestimmtheiten der Wirk-
lichkeit vollzogen werden. Auf einer zweiten Stufe ist aus den onto-
logischen Bestimmungen der Materialität und Prozessualität die
Dialektik der Natur als geschichtliche Wissenschaft des Gesamtzu-
sammenhangs, d.h. als Enrwicklungstheorie 13 herzuleiten, die schliess-
lich in eine Lehre vom Menschen und seiner Geschichte einmündet. 14
Im Gegensinne zu diesem deduktiven Aufbau der Systematik verläuft
jedoch die Konstruktion eines geschichtlichen Weltbegriffs. Denn die
>wirklichen Voraussetzungen< für den Standort (die Zeitstelle), von
dem aus die Theorie konstruiert wird, sind »die Menschen, nicht in ir-
gendeiner phantastischen Abgeschlossenheit und Fixierung, sondern
in ihrem empirisch anschaulichen Enrwicklungsprozess unter be-
stimmten Bedingungen.«15 Der Autor einer Theorie ist ein Mensch
unter anderen, im Zusammenhang der koexistierenden und kooperie-
renden Menschen, mit ihnen das Resultat der Geschichte der Gattung
in ihren Besonderungen. Wenn er seine eigene Zeitstelle (reflektiert
durch die Bestimmmung der Zeitstellen der anderen - Vorgänger oder
Zeitgenossen) bestimmt, dann expliziert er das Gattungswesen der
Menschen in seinen historischen Besonderungen. Der Ausgangs-
punkt, zu dem eine epistemologische Reflexion der Konstruktionsbe-
dingungen >reeller Wissenschaft< führt, ist eine geschichtliche Anthro-
pologie.

2. Geschichtliche Anthropologie

Die Grundlage einer geschichtlichen Anthropologie haben Marx und


Engels in der Deutschen Ideologie umrissen: »Die erste Voraussetzung
aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger mensch-
licher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die
körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes
Verhältnis zur übrigen Natur. Wir können hier natürlich weder auf die
physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch auf die von den
Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, die geologischen, oro-
hydrographischen, klimatischen und anderen Verhältnisse eingehen.
Alle Geschichtsschreibung muss von diesen natürlich Grundlagen und
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 289

ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Men-
schen ausgehen (...) Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unter-
scheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein
Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die
Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr
materielles Leben selbst.«16
Die Grundstruktur der historisch-materialistischen Sicht der Ge-
schichte, das Verhältnis von Produktivkräften, Produktionsmitteln und
Produktionsverhältnissen, ist in der anthropologischen These von der
Besonderheit der Reproduktionsform der menschlichen Gattung fun-
diert. Die Bemerkung, diese Voraussetzungen seien >auf rein empiri-
schem Wege konstatierbaf<, sagt etwas über das Verhältnis von philo-
sophischer und einzelwissenschaftlicher Erkenntnis. Die Existenz der
lebendigen menschlichen Individuen ist eine Erfahrungstatsache; auch
die Aufeinanderfolge der Generationen ist über drei bis vier Genera-
tionsstufen noch eine alltägliche Erfahrung jedes einzelnen; eine durch
Zeugnisse (mündliche Berichte, schriftliche und materielle Monu-
mente) vermittelte empirische Kenntnis reicht über weitere Zeiträume
zurück. Auch die Art der Koexistenz und Kooperation der Individuen,
in der sie ihre Lebensmittel und zum mindesten einen Teil ihrer
Lebensbedingungen produzieren, ist eine vortheoretische Erfahrung -
ebenso, dass sie sich darin von anderen Lebewesen unterscheiden. Ab-
getrennt von diesen Erfahrungen gibt es keine >wirkliche, positive Wis-
senschaft<, also keine Wissenschaft, die die Wirklichkeit ausserhalb des
menschlichen Denkens zu ihrem Gegenstand hat und Wissen von
etwas Gegenständlichem (nicht nur Wissen von den Denkformen) ist.
»Da wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also
die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen
Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen.«!7
In diesem Sinne verliert »die selbständige Philosophie (00') mit der Dar-
stellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium.« Denn eine selbständige
Philosophie kann es gar nicht geben, wenn anders Philosophie ja Re-
flexion des Wissens ist. Aber natürlich bleibt das Erkennen auf der
Ebene der ersten Erfahrungen nicht stehen. Erst im Prozess der Ver-
allgemeinerungen (Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten und
wieder zum Konkreten) werden die nicht im Oberflächenschein sicht-
baren Beziehungen, Gesetzlichkeiten, Verhältnisse erkannt, und diese
sind, wenn auch >Gedanken tatsachen< (wie es dann in den Grundrissen
heissen wird), so doch Ausdruck von Wirklichkeit, ja von wesentliche-
rer Wirklichkeit als das blosse Faktum oder Erfahrungsdatum. Hegels
290 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

gegenüber dem Empirismus reicherer Erfahrungsbegriff wird von


Marx und Engels nicht preisgegeben.
Eine >Gedankentatsache< ist natürlich auch >die Menschenge-
schichte<, ist die >Lebensweise< und statt der sinnlichen Welt, die wir
wahrnehmen, »die gesamte, lebendige, sinnliche Tätigkeit der sie aus-
machenden Individuen«18 - also jeweils das, was (in Hegels Termino-
logie) als Begriff erst gedacht werden muss, um zur bewussten Erschei-
nung zu kommen. Marx' Hinweis auf die Wirklichkeit des Wesens, das
die Wissenschaft erst erforschen muss, weil die Erscheinung eben noch
nicht das Wesen ist, benennt einen Bereich, in dem die Philosophie sich
nicht spurlos in der >wirklichen, positiven Wissenschaft< auflöst. Denn
alle Generalisierungen, die die Wissenschaft am Faktischen vornimmt,
sind ohne Reflexion auf die Konstruktionsbedingungen des Allgemei-
nen (bis hin zur notio comp/eta bei Leibniz oder zum spekulativen Begriff
bei HegeI) und auf dessen Realgehalt dem nominalistischen Verdacht
ausgesetzt, bloss flatus vocis zu sein und eines ontischen Korrelats zu
entbehren. Ohne solche Korrelation aber wäre die >reelle Wissenschaft<
keine reelle (nicht einmal in dem Sinne, in dem ein Handelsunterneh-
men reell genannt wird), und eine anthropologische Fundierung der
Geschichte, wie sie in der Deutschen Ideologie vorgenommen wird (oder
gar eine ontologische, wie in der Erörterung der Gegenständlichkeit in
den Pariser Manuskripten) wäre nicht weniger ein Hirngespinst als jene
Beswusstseinsphilosophie, die Marx und Engels bei den Junghegelia-
nern kritisieren.
Wissenschaftliches Wissen hat mithin immer den philosophischen
Gehalt, Wesenswirklichkeiten als Realallgemeines darzustellen. Aber
mit diesem Wesen steht es nun anders als in der klassischen Metaphy-
sik. Es wird nicht mehr als etwas von der Erscheinung Abtrennbares,
als eine separate Essenz oder ein platonisches eidos gedacht, sondern als
das im Konkreten und Besonderen sich manifestierende Allgemeine,
zu dem die Verstandesabstraktionen nur einen Vermittlungsschritt
vollziehen, weshalb sie, für sich genommen, zu einem bIossen und un-
wirklichen Hirngespinst werden; die Kritik an Feuerbach - »so kommt
er nie zu den wirklich existierenden, tätigen Menschen, sondern bleibt
bei dem Abstractum >der Mensch< stehen«19 - richtet sich gegen die
Trennung des klassifikatorischen Allgemeinen von der singulären, ma-
teriellen Existenz, also gegen die Entleerung der realen Fülle des All-
gemeinen. Was dann als >real existierend< übrig bleibt, ist das ebenso ab-
strakte, von seinen Vermittlungen mit der Welt abgeschnittene
Individuum - eben jenes, das im Begriff der Person oder des bürgerli-
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 291

chen Subjekts ideologisiert wurde. 20 Ein solcher Wesensbegriff zieht


aber vom Menschen gerade das ab, was für ihn wesentlich ist, nämlich
die Arbeit, in der er seine Lebensmittel produziert; in ihr erweist er sich
als Naturwesen, weil er a) seine natürlichen (biologischen) Bedürfnisse
befriedigen muss, und b) die in der Natur vorfindlichen Gegenstände
oder die bereits aus Naturmaterialien verfertigten Artefakte unter
Berücksichtigung der Naturgesetze verändern muss. In den Pariser Ma-
nuskripten heisst es dann: »Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als
Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen
Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese
Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe; teils ist
er als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein lei-
dendes, bedingtes und beschränktes Wesen, wie es auch das Tier und die
Pflanze ist, d. h. die Gegenstände seiner Triebe existieren ausser ihm, als
von ihm unabhängige Gegenstände, aber diese Gegenstände sind Gegen-
stände seines Bedü1nisses, zur Betätigung und Bestätigung seiner Le-
benskräfte unentbehrliche, wesentliche Gegenstände (... ) Aber der
Mensch ist nicht nur ein Naturwesen, sondern er ist ein menschliches Na-
turwesen; d. h. für sich selbst seiendes Wesen, darum Gattungswesen, als
welches er sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen
und betätigen muss. Weder sind also die menschlichen Gegenstände die
Naturgegenstände, wie sie sich unmittelbar bieten, noch ist der mensch-
liche Sinn, wie er unmittelbar ist, gegenständlich ist, menschliche Sinn-
lichkeit, menschliche Gegenständlichkeit. Weder die Natur - objektiv-
noch die Natur subjektiv ist unmittelbar dem menschlichen Wesen adä-
quat vorhanden.«21
Diese zweifache Bestimmtheit als Naturwesen und als ein die äus-
sere Natur und seine eigene Natur nach Zwecken veränderndes, ge-
schichtliches Wesen ist es, die in der allgemeinen Kategorie >Arbeit<
vermittelt ist: Arbeitend ist der Mensch in die Natur eingebunden, in
die >ursprüngliche< (die nur eine Ursprungsfiktion ist) und die schon
vom Menschen bearbeitete, aber ihrem Sein nach von ihm unabhän-
gige, ihm vorhergehende 0>Übrigens ist diese, der menschlichen
Natur vorhergehende Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur,
die heutzutage, ausgenommen etwa auf einzelnen australischen Ko-
ralleninseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existiert« - aber es
»bleibt dabei die Priorität der äusseren Natur bestehen«); arbeitend
sind die Menschen zugleich auf sich selbst bezogen (»Was sie sind,
fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie pro-
duzieren, als auch damit, wie sie produzieren«); und sie sind, durch den
292 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

natürlichen Akt der Zeugung und Familienbildung und durch den


daraus hervorgehenden Akt der Arbeitsteilung, aufeinander bezogen
(»Die Produktion des Lebens, sowohl des eigenen in der Arbeit wie
des fremden in der Zeugung, erscheint nun schon sogleich als ein
doppeltes Verhältnis - einerseits als ein natürliches, andrerseits als ein
gesellschaftliches Verhältnis - gesellschaftlich in dem Sinne, als hier-
unter das Zusammenwirken mehrerer Individuen gleichviel unter
welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zwecke
verstanden wird«).22 Die Besonderheit des Menschen ist das Ergebnis
eines Naturprozesses, der sich aus der übrigen Natur herauslöst: Be-
dürfnisbefriedigung, Familienbildung, Arbeitsteilung - und was sich
darin Neues bildet, ist die gesellschaftliche Arbeit, durch die sie sich
von den Tieren unterscheiden.
Von Arbeit wird hier in einer Allgemeinheit gesprochen, die Marx
später mit dem Terminus >Arbeit sans phrase< bezeichnet und damit
angedeutet, dass es sich um eine theoretische Abstraktion handelt (auf
der Vermittlungsebene der verständigen Abstraktion), ein notwendi-
ges theoretisches Konstrukt, um das Kontinuum der Geschichte zu
bestimmen, aber eine blosse Hilfskonstruktion, die es erlaubt, das
Wesen des Menschen in seinen geschichtlichen Unterschiedenheiten
eben als ein am Selbigen Unterschiedenes (diaphoron) und nicht zer-
fallend in disparat Verschiedene (hetera) zu begreifen. Denn in der Tat
kommt es für das historische Wesen des Menschen darauf an, was sie
jeweils produzieren und wie sie produzieren, und dieses Was und Wie
verändert sich in der Produktion selbst, weil »das befriedigte erste Be-
dürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene
Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt - und diese
Erzeugung neuer Bedürfnisse ist die erste geschichtliche Tat.«23 Die
wieder erreichte Stufe der Konkretion nach der Abstraktion der
>Arbeit sans phrase< ist die der historischen Vermitteltheit, aber eben
nicht als freie Selbstsetzung oder als Schöpfung, sondern als Resultat
eines naturgeschichtlichen Entwicklungsprozesses, aus dem die hi-
storische Besonderheit des menschlichen Wesens abgeleistet werden
kann. Methodologisch vollzieht sich diese Ableitung als gegenläufige
(synthetische) Rekonstruktion der Analyse, die von der Erfahrung
des gegenwärtig Gegebenen (hoch arbeitsteilige Produktion) über die
klassifikatorische Generalisierung (Arbeit sans phrase) zurückgeht zu
den einfachen historischen >Momenten< der Arbeit, »die von Anbe-
ginn der Geschichte an und seit den ersten Menschen zugleich exi-
stiert haben.«23
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 293

3. Vom anthropologischen zum hitorischen Materialismus

Die Deutsche Ideologie ist keine, (und enthält keine), philosophische Grundle-
gung. Sie ist eine Streitschrift für den aktuellen theoretischen Partei-
kampf innerhalb des Junghegelianismus, rasch und mit polemischer
Zuspitzung geschrieben. Dennoch enthält sie natürlich, wie jede kriti-
sche Auseinandersetzung, Elemente der eigenen Konzeption, wenn
auch verstreut und nicht in ihrer architektonischen Ordnung. Sie kön-
nen herausgearbeitet werden; um aber die Stützen und Gelenke des
Marxschen Theorieentwurfs herauszuarbeiten, bedarf die Deutsche Ideo-
logie der Ergänzung durch jene Schriften, in denen Marx seine philoso-
phische Selbstverständigung suchte, vor allem also der Kritik der Hegel-
sehen Staatsphilosophie, der Kritik der Hege/sehen Rechtsphilosophie. Einleitung
und der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (Pariser Manuskripte).
In der Deutschen Ideologie war das materialistische Geschichtsver-
ständnis auf die Produktionsweise als den determinierenden Faktor
der gesamten >Lebensweise< einschliesslich des ideologischen Über-
baus gegründet worden; die Argumentationsrichtung geht dabei vor
allem auf die Destruktion des Scheins der Selbständigkeit des Bewusst-
seins, seiner Inhalte und Formen: »Die Vorstellungen, die sich die In-
dividuen machen, sind Vorstellungen entweder über ihr Verhältnis zur
Natur oder über ihr Verhältnis untereinander oder über ihre eigene Be-
schaffenheit. Es ist einleuchtend, dass in allen diesen Fällen diese Vor-
stellungen der - wirkliche oder illusorische - bewusste Ausdruck ihrer
wirklichen Verhältnisse und Betätigung, ihrer Produktion, ihres Ver-
kehrs, ihres gesellschaftlichen und politischen Verhaltens sind.«24 Die
politische Bedeutungslosigkeit einer biossen Veränderung des Bewusst-
seins, der Interpretation der Welt, sollte dargetan werden. »Die Forde-
rung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus,
das Bestehende anders zu interpretieren, d. h. es vermittels einer ande-
ren Interpretation anzuerkennen. Keinem von diesen Philosophen ist
es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie
mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kri-
tik mit ihrer eigenen materiellen Umgebung zu fragen.«25 In dieser Kri-
tik an den Junghegelianern liegt jedoch das positive Postulat, die mate-
rielle Produktion und ihre historischen Besonderheiten zu untersuchen
und den Charakter der theoretischen Verallgemeinerungen zu bestim-
men, die es erlauben, in den spezifischen Andersheiten der Produkti-
onsweisen und im Prozess ihrer Veränderungen das Kontinuum der
Geschichte und die wesentlichen Charaktere des geschichtlichen
294 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Menschseins zu begreifen. Marx' Zuwendung zur Beschäftigung mit


der Ökonomie erfolgte - welche Anlässe auch immer eine Rolle ge-
spielt haben mögen 26 - aus einer theorieinternen (>epistemischen<)
Konsequenz. Wenn die Inhalte der Geschichte materialistisch aus der
Produktionsweise hergeleitet werden, so wird die politische Ökonomie
zur geschichtswissenschaftlichen Grunddisziplin.
Nun geht es aber gerade nicht um einzelwissenschaftliche Theo-
riebildung über die Wirtschafts tätigkeit und die Wirtschafts formen,
sondern um das Ganze der Geschichte, ja des menschlichen Gat-
tungswesens. Nicht die perfekte Produktion, sondern das >Reich der
Freiheit< (wie es im &pital heissen wird) oder >der Naturalismus des
Menschen und der Humanismus der Natur< (in der Sprache der Früh-
schriften) ist der Horizont des anthropologischen, geschichtsphiloso-
phischen und ökonomischen Interesses von Marx und Engels. Von
dieser grundsätzlichen, philosophischen Fragestellung her wird Marx
zu Hegel zurückgeführt, denn »Hegel steht auf dem Standpunkt der
modernen Nationalökonomie.« Diese Kennzeichnung Hegels 27 gilt
aber gerade nicht für seine einzelnen ökonomischen und staatsrechtli-
chen Auffassungen, die gar nicht erörtert werden, sondern für die
theoretische Struktur seiner Philosophie: »Er erfasst die Arbeit als das
Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen (...) Die Arbeit ist
das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäusserung oder als entäus-
serter Mensch.«28 Die zusammenfassende Würdigung der Phänomenologie
des Geistes macht diese Verknüpfung von Ökonomie, Geschichtsphilo-
sophie und Anthropologie als das eigentliche Kernstück des >Theorie-
typus Marx< in seinen Geburtswehen deutlich. (Und dabei dürfen wir
nicht vergessen, dass es der Sinn dieses >Theorietypus< ist, die theoreti-
schen Voraussetzungen für eine Strategie zu klären, die das Programm
>Aufhebung - und - Verwirklichung der Philosophie< umsetzen soll):
»Das Grosse an der HegeIschen Phänomenologie und ihrem Endresultate
- der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden
Prinzip - ist also einmal, dass Hegel die Selbsterzeugung des Menschen
als einen Prozess fasst, die Vergegenständlichung als Entgegenständli-
chung, als Entäusserung und als Aufhebung der Entäusserung; dass er
also das Wesen der Arbeit fasst und den gegenständlichen Menschen,
wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit be-
greift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gat-
tungswesen oder die Betätigung seiner als eines wirklichen Gattungs-
wesens, d. h. als menschlichen Wesens, ist nur möglich dadurch, dass er
wirklich alle seine Gattungskräfte - was wieder nur durch das Gesamt-
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 295

wirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte -
herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was zunächst
wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist.«29
Die >reelle Wissenschaft<, um die es Marx geht, ist also alles andere
als nur die in ihre einzelwissenschaftlichen, >positiven< Disziplinen auf-
gelöste philosophische Wissenschaft. Im Gegenteil. Obwohl die Öko-
nomie Grundlage der >einzigen Wissenschaft der Geschichte< ist, for-
dert Marx in den Pariser Ll1anuskripten nach Erörterung der Lehre von
der Arbeit und dem Arbeitslohn: »Erheben wir uns nun über das Ni-
veau der Nationalökonomie« und an anderer Stelle erläutert er dies:
»Die Nationalökonomie geht vom Faktum des Privateigentums aus. Sie
erklärt uns dasselbe nicht (...) Die Nationalökonomie gibt uns keinen
Aufschluss über den Grund der Teilung von Arbeit und Kapital, von
Kapital und Erde.«10 Nicht die Deskription von Tatsachen führt wei-
ter, sondern die Bewegung ihrer Formbestimmtheit: »Der Gegenstand,
den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als
eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt
der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich
gemacht hat, es ist die vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung
der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung.«3l Indem erwas wirklich wird
(die Arbeit in ihrem Produkt), wird es zu erwas anderem (die Tätigkeit
zum Gegenstand). Das ist »die eigentümliche Logik des eigentümlichen
Gegenstands«, aber sie ist nicht dasselbe wie die einzelwissenschaftliche
Formulierung eines Gesetzes oder einer Verlaufs form in einem speziel-
len Gegenstandsbereich. Kategorien wie >Verwirklichung<, >vergegen-
ständlichung<, dann >Entäusserung< und >Entfremdung< enthalten neben
der deskriptiven Notation sinninterpretierende Konnotationen. In der
Enrwicklung des Begriffs der entfremdeten Arbeit wird dies deutlich:
»Der Mensch ist ein Gattungswesen, nicht nur indem er praktisch und
theoretisch die Gattung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge
zu seinem Gegenstand macht, sondern - und dies ist nur ein andrer
Ausdruck für dieselbe Sache - sondern auch indem er sich zu sich
selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich
zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält (...) Eben in
der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch
daher erst wirklich als ein Gattungswesen (...) Der Gegenstand der Arbeit
ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen (...) Indem
daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner
Produktion entreisst, entreisst sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche
Gattungsgegenständlichkeit.«32
296 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Hier wird die ökonomisch durch die Produktionsweise bestimmte


Lebensweise als ein anthropologisches Wesensmerkmal aufgefasst, aus
dem sich normative Setzungen gegenüber der jeweiligen historischen
Erscheinungsform ableiten lassen; der Umschlag von wissenschaftli-
cher Analyse in politische Strategie und die Einheit beider ist hier an-
gelegt: »Wir gingen aus von einem nationalökonomischen Faktum, der
Entfremdung des Arbeiters und seiner Produktion. Wir haben den Be-
griff dieses Faktums ausgesprochen: die entfremdete, entäusserte Arbeit.
Wir haben diesen Begriff analysiert. Sehn wir nun weiter, wie sich der
Begriff der entfremdeten, entäusserten Arbeit in der Wirklichkeit aus-
sprechen und darstellen lässt.«33 Die zum Begriff konkretisierte Be-
schreibung des Faktums stellt sich als ein politischer, den Menschen als
Gemeinwesen betreffender Sachverhalt dar: »Die entfremdete Arbeit
macht also das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur, als sein gei-
stiges Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel sei-
ner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eignen
Leib, wie die Natur ausser ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschli-
ches Wesen.«33 Im folgenden wird dann dieser Mängelzustand auf die
historisch konkreten Realisationsformen des ökonomischen Verhält-
nisses, die Formen des Privateigentums, bezogen und von daher in
einem ersten Schritt, als Schlussfolgerung und als Zielsetzung, die po-
litische Strategie angelegt: »Der Kommunismus als positive Aufhebung des
Privateigentums als menschlicher Se/bstentfremdung, und darum als wirkliche
Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum
als vollständige, bewusst und innerhalb des ganzen Reichtums der bis-
herigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als
eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen.«34
Dieser Weg von den konstatierbaren Sachverhalten über Generali-
sierungen zu Wesensbestimmungen, aus deren normativem Gehalt
Handlungskonzepte hergeleitet werden, ist der Weg von der Einzel-
heit des Faktischen zur Totalität der Zusammenhänge. Es ist der zwei-
fach gerichtete Weg des Philosophisch-werdens der Wissenschaften
und des Wissenschaftlich-werdens der Philosophie. An die Stelle der
)Hirngespinste<, der fremden Wesenheiten, die doch nur das entfrem-
dete Wesen des Menschen projizieren, tritt die Reflexion als die »theo-
retische Gestalt dessen, wovon das reelle Gemeinwesen, gesellschaftliche
Wesen, die lebendige Gestalt ist, während heut zu Tage das allgemeine Be-
wusstsein eine Abstraktion vom wirklichen Leben ist und als solche
ihm feindlich gegenübertritt.«35 Die Entgegensetzung zwischen eige-
ner Individualität und fremder Totalität (die der Ausdruck der privaten
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 297

Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums ist), wird aufgehoben:


»Der Mensch - so sehr er daher ein besondres Individuum ist, und grade
seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirkli-
chen individuellen Gemeinwesen - ebenso sehr ist er die Totalität, die
ideelle Totalität.«36 Dieser Übergang von der ökonomischen Analyse
zur gattungsgeschichtlichen Zielsetzung im Abschnitt >Privateigentum
und Kommunismus< der Pariser Manuskripte macht die Eigentümlich-
keit des >Theorietypus Marx< sehr deutlich; eine Eigentümlichkeit, die
sich gegen die Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft
bei Kant und seinen Nachfolgern wie gegen die Einheit von theoreti-
scher und praktischer Vernunft als absolute Idee = der vernünftige Be-
griff bei Hegel abhebt.
Um diesen Abstand sowohl gegen den kantianischen Dualismus
von Theorie und Praxis wie gegen die Hegelsche idealistische Einheit
von Theorie und Praxis wahren zu können, bedarf Marx eines mate-
riellen Prinzips, in dem beide Verhältnisweisen des Menschen zur Welt
zusammengeschlossen sind. Dies ist die >gegenständliche Tätigkeit<, in
die einerseits zwecksetzende Bewusstseinsaktivität (und darin einge-
schlossen die theoretische Abbildung der Wirklichkeit, auf welchem
Niveau auch immer) eingeht, in der andererseits aber die bewusst-
seinsunabhängige Existenz der Gegenstände vorausgesetzt ist, auf die
materiell (direkt oder indirekt) eingewirkt wird. Die gegenständliche
Tätigkeit ist der Konstitutionsprozess, in dem sich das Subjekt ebenso
wie die Spezifik des Subjekt Objekt-Verhältnisses herausbilden. Sie
bestimmt die ontologische Verfasstheit des Menschen als Naturwesen
und als geschichtliches Wesen. Die historisch bestimmte Form der ge-
genständlichen Tätigkeit, die jeweilige Produktionsweise einer Epo-
che, wird in der Wissenschaftsdisziplin der politischen Ökonomie re-
flektiert. Marx' Zuwendung zur Ökonomie als Forschungsgegenstand
bedeutet daher keineswegs eine Abwendung von der Philosophie und
Hinwendung zur positiven Einzelwissenschaft, sondern die Ausarbei-
tung der Philosophie als >reelle Wissenschaft< im Felde der empiri-
schen Grundlegung der Geschichtswissenschaft und der Konkretion
des geschichtsphilosophischen Entwurfs (Naturalismus des Men-
schen und Humanismus der Natur = Reich der Freiheit), samt der
dazu gehörigen politischen Strategie der Umwälzung und Neugestal-
tung der gesellschaftlichen Verhältnisse. In dieser philosophischen Einheit
von Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Ökonomie und politi-
scher Praxis realisiert sich, was man den >Theorietypus Marx< nennen
kann.
298 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

4. Die Selbsterzeugung des Menschen im Produktionsprozess

Die Dichotomie der Philosophie, die wahr ist, insofern sie das Realall-
gemeine, das »Gattungssein« in Begriffen formuliert, und Schein ist,
insofern sie für die Begriffe den Status einer eigenen, gar eigentlichen
Wirklichkeit (das ontos on Platons) reklamiert, überwindet Marx in der
Ausarbeitung einer Theorie der Geschichte, in der die Philosophie
einen Ort und Status bekommt, der ihrem reflexiven und totalisieren-
den Charakter gerecht wird und an dem sie zugleich als ein Moment
der materiellen Prozesse des Gattungslebens erkennbar und aus die-
sen ableitbar wird. Diese Geschichtstheorie macht ernst mit dem Po-
stulat, von den Menschen als den wirklichen Voraussetzungen des hi-
storischen Lebensprozesses auszugehen - ein Postulat, das in der
Deutschen Ideologie aufgestellt worden war. Was bestimmt nämlich die-
sen Lebensprozess jedes einzelnen Menschen wie auch der Gattung
Mensch, zunächst betrachtet als den biologischen Bedingungen der
Lebenserhaltung ausgesetzt und von Natur aus genötigt, ihnen Rech-
nung zu tragen? Der Mensch muss, um seine elementaren Bedürfnisse
zu befriedigen, einen »Stoffwechsel mit der Natur« vollziehen. Im Un-
terschied zu den anderen Lebewesen geht der Mensch aber dazu über,
die Stoffe zu seiner Lebenserhaltung nicht nur der natürlichen Umge-
bung zu entnehmen, sondern sie in ihr durch zweckgerichtete Tätig-
keit wieder herzustellen, also aktiv in den Reproduktionsprozess der
Natur einzugreifen (Übergang zu Viehzucht und Ackerbau), um die
eigene Reproduktion von den Zufälligkeiten der Naturumstände un-
abhängig zu machen und zu sichern. Der Eingriff in die Natur erfor-
dert in schrittweiser Entwicklung und Verfeinerung der Verfahren die
Erfindung und Nutzung von Geräten und geregelte, sich an den Na-
turprozessen orientierende Arbeit, also Erkenntnis von den Wir-
kungsweisen der materiellen Objekte und intersubjektive Abstim-
mung des Verhaltens bis hin zur Kooperation. Erkenntnisse
verfestigen sich zu Deutungsmustern, Kooperationen zu gesellschaft-
lichen Institutionen, die ihrerseits wieder Deutungsmuster und Fixie-
rungen von symbolischen Formen hervorbringen. 37 So entstehen Ge-
sellschaftsordnungen und Weltanschauungen als Konsequenzen der
Entwicklung des Systems der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung. 38
Jedes neue, durch menschliche Tätigkeit befriedigte Bedürfnis, das
also nicht mehr unmittelbares Naturbedürfnis ist, sondern als vermit-
teltes ein Moment der »materiellen Kultur«, erzeugt wiederum neue
Bedürfnisse, zum Beispiel nach Mitteln zur Herstellung der Mittel,
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 299

nach Verfeinerung der Mittel, nach gedanklichen Mitteln zur Gewin-


nung und Formulierung von Erkenntnissen (Methoden, Theorien),
nach Institutionen und geistigen Ausdrucksformen der komplexen
Vergesellschaftungsprozesse usw. Die entstandenen Institutionen und
Ideologien wirken nun wieder zurück auf die Entwicklung von Tech-
nik und Wissenschaft, auf die Deutungsmuster von Institutionen und
Erkenntnissen, auf deren Fortbildung, auf die Verhaltens regeln, kurz
auf alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, seine Inhalte
und Formen und mithin auch auf jeden einzelnen Menschen. Grund-
legend bleibt in diesem System von Wechselwirkungen jedoch die Pro-
duktionsweise zur Befriedigung der Bedürfnisse, die, wie aus dem ge-
schilderten Verlauf ersichtlich, bald nicht mehr bloss natürliche,
sondern historisch-gesellschaftliche, zivilisatorische sind und ein
durch den Entwicklungsstand der Produktion bestimmtes Niveau
haben.
Die Produktion als die Weise der Reproduktion des individuellen
und des Gattungslebens ist eine anthropologische Wesenskategorie.
Ihre allgemeine Natur, »unabhängig von jeder gesellschaftlichen
Form«, beruht auf der dem Menschen von Natur aus zukommenden
Arbeitskraft, deren Gebrauch »die Arbeit selbst«39 ist. »Die Arbeit ist
zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin
der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat
vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als
eine Naturrnacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Na-
turkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um
sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form
anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur ausser ihm
wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er ent-
wickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel
ihrer Kräfte seiner Botmässigkeit.«411 Hier wird deutlich dass das öko-
nomische Verhältnis zunächst ein Naturverhältnis ist, obschon eines,
das seine Formbestimmtheit, je weiter es sich entwickelt, umso weni-
ger durch Naturbedingungen erhält. Der Ursprung der Gesellschaft
und der Geschichte aus der Arbeit als einer Naturrnacht muss aber -
aus allgemein ontologischen Gründen und im Hinblick auf die Be-
stimmung des Wesens der Subjektivität und auf eine Theorie des hi-
storischen Subjekts - festgehalten werden. »Der Arbeitsprozess, wie wir
ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist
zweckmässige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneig-
nung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedin-
300 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

gung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbe-


dingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder
Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich
gemeinsam.«41
Als Momente des Stoffwechsels mit der Natur gehen in den Ar-
beitsprozess natürliche Voraussetzungen ein, die vom Menschen zu
Produktivkräften gestaltet werden (einschliesslich der Produktivkraft
Mensch selbst, mit seiner Arbeitskraft und Erkenntnisfähigkeit).
»Jede Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt früherer
Tätigkeit. Die Produktivkräfte sind also das Resultat der angewandten
Energie des Menschen«42, ausgehend immer »von den Naturbedin-
gungen der Arbeit.«43 Die Entfaltung der Produktivkräfte korreliert
der Entwicklung der Produktionsmittel, und deren Organisations-
form sind die Produktionsverhältnisse, das heisst primär die ökono-
mischen Beziehungen oder die Eigentumsverhältnisse, in denen diese
sich ausdrücken; sekundär dann auch die institutionellen und weltan-
schaulichen Regulierungen und Deutungen; insgesamt ist dies das
Lebenselement, in dem sich das historische Dasein der Menschen
einer Epoche gemäss der Besonderheit der Ausbildung dieser Pro-
duktionsverhältnisse vollzieht. Die Veränderung der Produktionsver-
hältnisse setzt eine Veränderung des Niveaus der Produktivkräfte und
Produktionsmittel voraus, d. h. die technische Entwicklung läuft der
gesellschaftlichen vorher; das bedeutet, dass mit der Zeit die Produk-
tionsverhältnisse, deren relative strukturelle Konstanz den Charakter
einer Gesellschaftsformation bestimmt, dem Entwicklungsstand der
Produktivkräfte nicht mehr entsprechen. »Auf einer gewissen Stufe
ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesell-
schaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnis-
sen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigen-
tumsverhältnissen, in denen sie sich bisher bewegt hatten.«44 Was an
die Stelle der alten Produktionsverhältnisse tritt, ist deren bestimmte
Negation, also nicht ein beliebig Anderes, sondern jene Formbe-
stimmtheit, die sich als Ablösung der alten schon in deren Schoss vor-
bereitete und die geeignet ist, die integrale Bewegungsform der frei-
gesetzten Produktivkräfte abzugeben. Das heisst aber auch: »Eine
Gesellschaftsform geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte ent-
wickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktions-
verhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbe-
dingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst
ausgebrütet worden sind.«45
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 301

Die Leistung dieser Geschichtstheorie ist es, dass sie eine theoreti-
sche Einheit von Natur, materieller Geschichte und Ökonomie, Insti-
tutionen und Ideologien herstellt, in der einerseits eindeutige Fundie-
rungsverhältnisse angegeben werden, andererseits aber eine lineare
Ableitung vermieden wird. Biologismus, Ökonomismus, Soziologis-
mus, Psychologismus, Technizismus usw. werden als einseitige und
darum falsche Erklärungsmodelle von Geschichte zurückgewiesen,
aber ihre jeweils richtigen partiellen Perspektiven in der Totalität der
Momente des menschlichen Welrverhältnisses aufgehoben. Weil der
Marxismus (in Ausarbeitung des von Marx angelegten Grundrisses)
eine Theorie des Ganzen als »Wissenschaft des Gesamtzusammen-
hangs« ist, den man nicht vergegenständlichen, sondern nur metho-
disch konstruieren kann, ist er darauf angewiesen, mit den Mitteln der
von Hegel aufgenommenen Dialektik als der inhaltsbestimmten Kon-
struktionsweise der aus der Bewegung von Entgegengesetzten sich bil-
denden Totalität zu arbeiten. Und die Philosophie in allen ihren Teilen
und Disziplinen und als systematischer Modellentwurf des Ganzen ist
die Reflexion dieses formativen Prozesses, in dem das menschliche
Welrverhältnis aus den Bestimmtheiten der Epoche sich konkretisiert.
Die Aufhebung der Philosophie in der politischen Praxis führt also zur
Restitution der Philosophie in der Reflektiertheit der politischen Pra-
xis. Philosophie ist einmal das Produkt dieses gesellschaftlichen Le-
bensprozesses als Teil des weltanschaulichen Überbaus über der Basis
der ökonomischen Beziehungen, zum anderen aber integriert die Phi-
losophie die mannigfaltigen und keineswegs immer homogen erschei-
nenden Momente der Wirklichkeit zu einem möglichst konsistenten
Weltbild und gestattet damit Orientierung im Ganzen und rationale
Zielentwürfe.
Der Geschichtsprozess, in dem die menschliche Gattung sich
selbst, d. h. ihre zivilisatorisch-kulturelle Formbestimmtheit, durch
Produktion erzeugt, ist also in doppelter Weise reflexiv: einmal als
Reflexionssystem der interagierenden Subjekte (Individuen, Gemein-
schaften, Klassen usw.) und sodann als theoretisch reflektierte, hand-
lungsorientierende Abbildung dieses Reflexionssystems. Dem Gesell-
schaftsprozess liegen auf allen seinen Stufen und im Übergang von
einfacheren zu komplexeren Vergesellschaftungsformen jene Struk-
turen zugrunde, die in der Logik der Reflexion, also im Modell der
HegeIschen Philosophie ausgearbeitet wurden. Diese Strukturen sind
aber Begriffsformen, und es kommt darauf an, deren Verhältnis zu
dem real ablaufenden Geschehen zu bestimmen.
302 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

5. Die Dialektik des Verkehrens

Von Feuerbach hatte Marx, wie wir gesehen haben, das Schema der
Subjekt-Prädikat-Vertauschung im HegeIschen System übernommen
und zugespitzt. Der Vorwurf war, dass Hegel die Bewegung des Be-
griffs anstelle der Bewegung der Sache selbst dargestellt habe. Die Be-
griffe aber repräsentieren die Wirklichkeit nicht, wie sie ist, sondern
wie auf sie die bestimmte, also endliche, einseitige gegenständliche
Tätigkeit des Menschen reagiert. Zwischen der Sache selbst, ihrer Er-
scheinung in vergegenständlichter Form und deren Repräsentation im
Begriff gibt es also aspektive Differenzen. Der Begriff kann immer
nur ein Prädikat des Subjekts, der Sache selbst sein und sie nicht einfach
substituieren. Daraus zieht Marx die Konsequenz: »Die Menschen
sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp, aber die wirkli-
chen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte
Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden
Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewusst-
sein kann nie etwas Andres sein als das bewusste Sein, und das Sein der
Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. (...) Die(se) Abstraktionen
haben für sich, getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus kei-
nen Wert.«46 Gegen Hegels Prätention, die Geschichte des Begriffs sei
die wirkliche Geschichte 47 , wendet sich die Bemerkung: »Die Moral,
Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entspre-
chenden Bewusstseinsformen behalten hiermit nicht länger den
Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben
keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren
materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer
Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht
das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt
das Bewusstsein.«48 Aus dem polemischen Kontext gelöst, ist das
natürlich falsch. Selbstverständlich haben Ideen, Probleme, Weltan-
schauungen eine »Geschichte«, das heisst sie entwickeln sich nicht ab
ovo aus den materiellen Verhältnissen, sondern unter Anknüpfung an
vorangegangene Vorstellungen, an Traditionen; sonst gäbe es gar kein
kulturelles Erbe, keine nationalen und lokalen Kulturen, keine Ab-
folge von Stilen, keine Wissenschaftsgeschichte. Ideelle Objektivatio-
nen sind ebenso Instrumente (des Denkens) wie Geräte solche des
materiellen Gebrauchs, die über Generationen weitergegeben werden
können. Der Marxsche Protest richtet sich gegen den Schein der
Autonomie des Ideellen, so als seien Bewusstseinsinhalte ablös bar von
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 303

den Lebensprozessen, in denen sich Bewusstsein bildet. Wenn sie aber


in die Totalität der Lebensprozesse eingebunden sind, so stehen sie
auch in Fundierungszusammenhängen; und die letzte fundierende
Schicht ist die Produktions sphäre und ihre Organisationsform. 49 Aber
Fundierungsverhältnisse sind mehrschichtig und schliessen komplexe
Rückkopplungen ein.
Nicht die leicht einsehbare Dependenz der Bewusstseinsinhalte
von den materiellen Lebensprozessen und ihren Strukturen ist der
Kernpunkt der Marxschen Ideologietheorie, sondern auf dieser allge-
meinen Grundlage die Frage danach, wie sich die Verschiebungen in
den Aspekten von der Sache selbst über ihre Vergegenständlichung bis
zu ihrer Bewusstseinsabbildung vollziehen, was sie bewirkt und auf
welche Weise sie sich verfestigen und verselbständigen. Darauf gaben
Marx und Engels in der Deutschen Ideologie noch keine Antwort, sie insi-
stierten nur auf der sachnahen Analyse des tätigen Lebensprozesses.
Eine Ursprungserklärung ideeller Verkehrungen gibt Marx erst im Fe-
tischismus-Kapitel des Kapitaj50 das nun konkret auf einen Sachbereich
zugeschnitten ist, allerdings auf einen Bereich, der für das gesellschaft-
liche Bewusstsein der Menschen fundamental ist und darum sozusagen
als Muster von Verkehrungsvorgängen dienen kann.
Marx weist selbst auf die Einfachheit dieser sehr ursprünglichen
Verkehrung der Vorstellung gegenüber der Sache hin: »Da die Waren-
form die allgemeinste und unentwickeltste Form der bürgerlichen Pro-
duktion ist, C••.) scheint ihr Fetischcharakter noch relativ leicht zu durch-
schauen. Bei konkreteren Formen verschwindet selbst dieser Schein
von Einfachheit.«51 Um der »metaphysischen Spitzfindigkeit und den
theologischen Mucken« der Ware auf die Schliche zu kommen, braucht
es nur die Einsicht in den Doppelcharakter der Ware: Nur als Ge-
brauchswertist sie nützlich und letztlich verkäuflich, d.h. als Ware zu ver-
markten; aber eben dieser Tausch auf dem Warenmarkt, vermittelt
durch das allgemeine Äquivalent Geld, gibt ihr den Charakter eines
W-ertgegenstands an sich, unabhängig von ihrem Gebrauch. Je differen-
zierter die arbeitsteilige Produktion ist, je universeller der Markt funk-
tioniert 52, um so schärfer sind Gebrauchswert und Tauschwert vonein-
ander getrennt. Der Tauschwert verselbständigt sich als »Wert«, er wird
für den »Wert an sich« gehalten, der sich seines abstrakten Charakters
wegen von dem gegenständlichen Träger ablösen kann und rein an
sich, als Geld, schliesslich überhaupt nur noch als eine Buchungsgrösse
auf einem Kontoauszug Wirklichkeit gewinnt. »Der Wert verwandelt
vielmehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe.«5.1
304 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Der Zugang zu den Gütern der Bedürfnisbefriedigung scheint nun


nicht mehr durch die eigene Arbeit geschaffen, die Werte produziert;
sondern die Arbeit wird der abstrakten Wertform subsumiert. »ln der
Tat befestigt sich der Wertcharakter der Arbeitsprodukte erst durch
ihre Betätigung als Wertgrössen. Die letzteren wechseln beständig, un-
abhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden. Ihre
eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewe-
gung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kon-
trollieren.«54 Was produziert wird, bekommt den Charakter der Ware,
als Ware aber ist das Arbeitsprodukt dem Produzenten fremd, gleich-
gültig: Das Produkt wird nicht mehr für den Gebrauch des Produzen-
ten oder seines Tauschpartners hergestellt, sondern als ein Exemplar
eines anonymen Angebots, nach dem gestern Nachfrage herrschte
oder auch heute keine mehr herrscht. Die Produkte bekommen ein Ei-
genleben, der Wert, der ein Verhältnis zwischen tauschenden Produ-
zenten ist, substantialisiert sich zu einer unabhängigen GrÖsse. »Es ist
nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst,
welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses
von Dingen annimmt.«55 Damit ist das (erste) Resultat des Verkeh-
rungsprozesses erreicht, eine wirkliche Welt von Scheinsubstanzen ist
entstanden56 , deren wahrer Charakter, bloss Gedankendinge zu sein,
verdeckt bleibt. »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also ein-
fach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere
ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitspro-
dukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge
zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produ-
zenten zur Gesamtarbeit als ein ausser ihnen existierendes gesell-
schaftliches Verhältnis von Gegenständen.«57 Entscheidend ist, dass
diese »verkehrte« Welt von substantiellem Schein nicht etwa eine Illu-
sion oder eine Trugwelt ist, sondern als verkehrte ihrerseits eine ge-
sellschaftliche Realität wird und als solche Anerkennung findet. Dass
der substantielle Schein eines Gedankendings, einer Abstraktion sich
den wirklichen agierenden Subjekten überlagern kann, verweist auf
den relationalen Charakter der Wirklichkeit: Das So-sein einer Man-
nigfaltigkeit ist bestimmt durch Verhältnisse und prozessuale Bezie-
hungen, nicht durch das Sein der Substrate und ihre Qualitäten, die
nur als Variable in den Funktionszusammenhang eingehen. Daher hat
es einen guten Sinn, dass Marx fast nie von Materie, sondern fast immer
von materiellen Verhältnissen spricht, wenn er die Materialität der Welt
meint.
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 305

Was Marx hier auf der untersten Ebene der Güterproduktion und
des Tauschs schildert, ist für ihn eine Analogie zur Entstehung religiö-
ser Vorstellungen von transzendenten Wesenheiten, weswegen er die-
ses Verkehrungsverhältnis auch Fetischismus nennt. Er gebraucht im Ka-
pital nun nicht mehr die Parallele zur Hypostasierung der Begriffe bei
HegeI; aber im Duktus der Frühschriften und im Schema der Sub-
jekt-Prädikat-Vertauschung wäre die Rede vom Fetischismus durchaus
möglich gewesen.
Marx' politisch weiterführende Einsicht ist, dass die Verkehrungs-
und Entfremdungsstruktur nicht etwa das Ergebnis bösartiger Machi-
nationen von Ausbeutern oder Spekulanten ist (analog zur These vom
»Priesterbetrug« in der antikirchlichen Polemik der Aufklärung); son-
dern dass sie notwendig aus der Warenform hervorgeht. »Woher ent-
springt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es
Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst.«58 Moralische
Entrüstung, psychische Therapie oder religiöse Erweckung blieben ge-
genüber dem Phänomen wirkungslos. Selbst die Einsicht in den Fe-
tischcharakter von Ware, Geld und Kapital hebt die Realität dieser
Schein-Entitäten nicht auf. Denn »dass der Gebrauchswert der Dinge
sich für den Menschen ohne Austausch realisiert, also im unmittelba-
ren Verhältnis von Mensch und Ding«59, ist eben eine Abstraktion, die
von der Arbeitsteilung und ihren zivilisatorischen Folgen absieht.
Tatsächlich ist jede menschliche Gesellschaft Tauschgesellschaft - auf
verschiedenen Stufen bis hin zu den komplexen Formen des Welt-
markts; eben deshalb, weil das Individuum die Güter, die es zur Befrie-
digung seiner Bedürfnisse braucht, nicht mehr alle selbst herstellt und
nicht mehr herstellen kann, das heisst weil die Gesamtarbeit qualitativ
ungleich unter die Produzenten aufgeteilt ist und das entwickelte Sy-
stem der Bedürfnisse eine in sich differenzierte Totalität von Produk-
tionen als Gesamtproduktion zum Korrelat hat. 6o Die Spezifikation
der Produktion bringt die Vermittlung der Besonderen zum Allgemei-
nen hervor. »Wenn es keine Produktion im allgemeinen gibt, so gibt es
auch keine allgemeine Produktion. Die Produktion ist immer ein beson-
drer Produktionszweig. (...) Endlich ist die Produktion auch nicht nur
besondre. Sondern es ist stets ein gewisser Gesellschaftskörper, ein ge-
sellschaftliches Subjekt, das in einer grössren oder dürftigren Totalität
von Produktionszweigen tätig ist.«61 Das Schlusswort dieses Ab-
schnitts heisst: »Totalität der Produktion.« Totalität ist aber immer der
jeweilige (und transitorische) Zustand eines Totalisierungsprozesses,
der seine eigenen Instanzen ausbildet. 62
306 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

6. Das Su!!jekt der Geschichte

Bis hierher könnte es scheinen, als fasse der Marxismus die menschli-
che Geschichte (und das ihr zugrunde liegende Naturverhältnis) ganz
und gar deterministisch auf. Das Missverständnis liegt nahe, den Mar-
xismus als eine Lehre des historischen Automatismus in der Abfolge
der Gesellschaftsordnungen zu verstehen, für den die Zufalligkeiten
der individuellen Abweichungen keine oder nur eine untergeordnete
Rolle spielen; gerade von einem primär einzelwissenschaftlichen Zu-
gang aus, zum Beispiel als Ökonomismus oder Produktivkraft-Techni-
zismus, hat dieses Missverständnis auch in der politischen Praxis
immer wieder eine Rolle gespielt. Das immanente Entwicklungsgesetz
des historischen Fortschritts aus dem Widerspruch von Produktiv-
kraftentfaltung und Produktionsverhältnissen ist jedoch nur die eine
Seite der Geschichtsdialektik. Die Lehre vom Klassenkampf und von
der Rolle der Arbeiterklasse als dem revolutionären Subjekt ist die an-
dere.
Die arbeitsteilige Produktion und die Fixierung der Produktions-
verhältnisse in formationsspezifischen Eigentumsformen und Institu-
tionen haben aus der gesellschaftlichen Hervorbringung von Werten
(gesellschaftlicher Reichtum) gegensätzliche Aneignungsweisen des
Reichtums entstehen lassen. Die Eigentümer von Produktionsmitteln
sind in der Lage, diejenigen auszubeuten (das heisst unbezahlte Mehr-
arbeit = Produktion eines Mehrwerts von ihnen leisten zu lassen),
die bloss ihre Arbeitskraft in den Produktionsprozess einzubringen
haben. »Das Kapital (...) ist wesentlich Kommando über unbezahlte
Arbeit. Aller Mehrwert, in welcher besonderen Gestalt von Profit,
Zins, Rente usw. er sich später kristallisiere, ist seiner Substanz nach
Materiatur unbezahlter Arbeitszeit. Das Geheimnis der Selbstverwer-
tung des Kapitals löst sich auf in seine Verfügung über ein bestimm-
tes Quantum unbezahlter fremder Arbeit.«63 In der Verschiedenheit
der Eigentumsverhältnisse = Aneignung des gesellschaftlichen Ar-
beitsprodukts beruht die Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen. Die
Klassengegensätze realisieren sich in den politischen Auseinanderset-
zungen um Anteil an der Macht, die die geschichtliche Entwicklung
vorantreiben. »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Ge-
schichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebe-
jer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz Unter-
drücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander,
führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 307

Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestal-


tung der ganzen Gesellschaft endete, oder mit dem gemeinsamen Un-
tergang der kämpfenden Klassen.«64 Klassenkämpfe sind aber Kämpfe
von Menschen mit Lebenserwartungen, Kampfzielen, Organisations-
disziplin, taktischem Geschick und strategischen Konzepten. Ihr Be-
wusstsein bestimmt zwar nicht ihren tatsächlichen Ort im Geschichts-
prozess, wohl aber sind die Erkenntnis der eigenen Klassenlage, die
Einsicht in die Haupt- und Nebenwidersprüche und -fronten einer
Epoche, die Entschlossenheit zur Abschaffung der Herrschaft einer
Klasse über die andere wesentliche Momente, die Voraussetzungen
zum Handeln und zum richtigen Handeln darstellen. Der Klassenkampf
wird zum revolutionären Antagonismus in einer geschichtlichen Situa-
tion, wenn die Subjekte des Klassenkampfs ein Klassenbewusstsein
entwickeln, dessen höchste Form die theoretische Einsicht in die ge-
sellschaftlichen Widersprüche und in die eigene Rolle bei der Über-
windung der Widersprüche ist. Die Dialektik als Erkenntnismethode
wird so zum praktischen Instrument der Politik und verändert zugleich
die von ihr reflektierten Verhältnisse. Für den Marxismus ist die Akti-
vität der Subjekte (und das schliesst den Spielraum der Subjektivität
ein) ein Moment der geschichtlichen Bewegung, die sich in der Dialek-
tik von objektiven Bedingungen und subjektivem Faktor (nach dem
Schema der Reflexionslogik) vollzieht. Dies hält die marxistische Ge-
schichtstheorie auch gegen jede strukturalistische Deutung fest, die
eine Geschichte ohne Subjekt konstruieren möchte 65 und dann nur zu
einer Ideologie von Brüchen statt zum Begreifen revolutionärer Ver-
änderungen als Einheit I'on Bruch und Kontinuität kommen kann. 66
Die historische Funktion revolutionärer Subjekte und die Konsti-
tuierung revolutionärer Subjektivität im Klassenbewusstsein führen
zurück zum Status der Philosophie. Die Reflexion der wirklichen Ver-
hältnisse in ihrer Totalität (die keine Einzelwissenschaft leisten kann)
und in ihrer Allgemeinheit (die kein vortheoretisches Bewusstsein lei-
stet) enthält sowohl die Erkenntnis der eigenen Lage (individuell und
gesellschaftlich) als auch die normativen Kriterien, an denen diese Lage
zu messen ist. Die Philosophie gibt mit der Bestimmung dessen, was
ist, zugleich die Differenz zwischen der Faktizität und dem Begriff, der
von der Wirklichkeit nur unvollständig erfüllt wird; das ist ihre kritische
Funktion. Damit geht aber philosophische Deskription über in nor-
mative Zielsetzung. So gibt die Philosophie dem Klassenbewusstsein
mit der Reflexion des Seins zugleich die Perspektive des Sollens. Der
Begriff dessen, was ist, enthält die Möglichkeiten, die zum ganzen Sein
308 Die »Umkehrung« Hegels durch den ]\Iarxismus

gehören - positive wie negative, Erfüllung wie Vereitelung. Weil die


Philosophie in der Konstruktion des Begriffs das Faktische im Blick
auf das real Mögliche überschreitet, ist sie nicht nur Widerschein dessen,
was ist, (oder gar nur dessen, was der Fall ist), sondern auch Vorschein
dessen, was sein kann. Darum kann Philosophie aus den ideellen Be-
griffs-Konstruktionen übersetzt und überführt werden in die materi-
elle Wirklichkeit. Das ist ihre Verwirklichung als Politik, die zugleich
ihre Aufhebung als Philosophie, nämlich als blosse Begriffskonstruk-
tion ist. Das ist aber auch das Philosophisch-werden der Politik, die so
auch die Verwirklichung der Philosophie sein kann. Die Wirklichkeit
der Philosophie ist selbst ein verhältnis, nämlich das von Gedanke und
Tat.
Für die dialektische Struktur des menschlichen Weltverhältnisses
ist es ausschlaggebend, dass der Mensch nicht einfach so in der Welt ist,
wie es durch seine Beschaffenheit als Lebewesen bedingt ist, sondern
dass er sich selbst durch sein gegenständlich tätiges Verhalten zur Welt
erst zu dem bestimmt, was sein geschichtliches Wesen inhaltlich aus-
macht. Im Gegensatz zum Modell der klassischen deutschen Philoso-
phie vOn Kam bis Hegel ist es für Marx aber nicht das Ich - sei es als
transzendentales Ich oder als geschichtliches Substanz-Subjekt -, das
das Andere, die Welt der Erscheinungen, das Nicht-Ich, die Natur,
»setzt«; vielmehr »konstituiert« sich das Subjekt, indem es sich entäus-
sert, also sich selbst in der objektiven materiellen Welt, als bedingt
durch sie und als handelnd auf sie reagierend, findet und seine Zwecke
in seinen Produkten vergegenständlicht. Das Subjekt übergreift also
nicht transzendental-kategorial das Objekt (wie es in der Struktur der
reinen Erkenntnis scheint), sondern wird als tätiges von der objektiven
Welt übergriffen, deren Beschaffenheit und Gesetze es reflektiert; das
Weltverhältnis des Menschen ist gerade auch, was seine gegenständli-
che Tätigkeit angeht, ein reflektierendes, der Mensch konstituiert sich
durch Widerspiegelung. Für die philosophische Grundlegung des Mar-
xismus gewinnt so die Widerspiegelungstheorie eine primordiale und
zentrale Bedeutung sowohl in ontologischer wie erkenntnistheoreti-
scher Hinsicht.
Soll das Widerspiegelungsverhältnis gesellschaftliche Aktivität und
Erkenntnis materialistisch fundieren, also eine Theorie der Subjekti-
vität einschliessen, so darf seine Bewusstseinsform im Menschen (als
Vorstellen, Denken, Begehren usw) nicht als etwas ganz Anderes vom
Natursein abgetrennt und verselbständigt werden. Diese Bewusst-
seinsform ist vielmehr als eine höchst entwickelte Sonderform der all-
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 309

gemeinen Beziehung zwischen Seienden überhaupt darzutun, eine


Sonderform, die aus der universellen Reflexionsstruktur des In-der-
Welt-seienden erwächst. In der Reflexion - von der einfachsten me-
chanischen bis zur komplexesten bewussten Wechselwirkung - wird
die universelle Formbestimmtheit der Materie als materielles Verbältnis
gefasst, also die seit Leibniz entwickelte Relationen-Ontologie als for-
male Struktur übernommen und - anders als bei Hegel - nicht in der
Bewegung des Begriffs, sondern in den Bewegungsformen des materi-
ellen Seienden aufgesucht. Das Widerspiegelungstheorem macht dann
die Ableitung des Bewusstseins und des Geistigen aus der Materie bzw.
den materiellen Verhältnissen möglich, weil letztere sich nun selbst
schon als Reflexionssystem erweisen. Der materialistische Charakter
des historischen Materialismus und eine monistische Einbindung der
Subjektivität in die Verfassung des materiellen Seins (als der in dessen
Selbstunterschied entstehende Gegensatz) werden so in einer allgemei-
nen Theorie der Welt gesichert, deren Bewegungsformen sich als ein
durchgehender Differenzierungsprozess mit qualitativen Sprüngen in
Natur- und Menschheitsgeschichte darstellen und aus einem einheitli-
chen Prinzip, der genuinen Bewegtheit der Materie hergeleitet werden.
Darauf ist im folgenden Kapitel zurückzukommen.
Für eine materialistische Theorie der Subjektivität wird indessen
bedeutsam, dass die subjektive Tätigkeit nicht aus der Ich-Spontaneität
entspringt, sondern als ein Resultat der Vermittlung des natürlichen
Lebewesens Mensch mit der Welt durch die gesellschaftliche Arbeit be-
griffen wird. So gehen in den Subjekt-Begriff zunächst einmal die
natürlichen Voraussetzungen des Gattungswesens Mensch ein; sodann
aber auch die zur Organisiertheit führende Interaktion der Individuen
bei der gemeinsamen Bewältigung der Aufgaben, die zur Sicherung des
Überlebens zu erfüllen sind, also die Konstitution des Kollektivsub-
jekts als Bedingung für die Konstitution des Individualsubjekts;
schliesslich die institutionellen Medien der gesellschaftlichen Produk-
tion, des Tauschs, des Verkehrs usw. Die Kategorie der materiellen Ver-
hältnisse umgreift alle Bereiche, die bei Hegel als Natur, subjektiver
Geist und objektiver Geist behandelt worden waren; sie erfüllt kom-
plementär die gleiche kategoriale Funktion, die Hegel dem Geist zu-
weist. Marx gewinnt diese Kategorie in einem Reflexionsprozess,
indem er sie als die in den Kategorien des Denkens implizierte Kate-
gorie der »wirklichen Voraussetzungen« freilegt - ein Verfahren, das
dem Gewinnen der Voraussetzungen in der bestimmten Reflexion bei
Hegel entspricht.
310 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Für den Menschen, als das Subjekt der Geschichte, wird damit das
Feld, in dem die objektiven Gegebenheiten der Natur (und im weiteren
des vom Menschen erzeugten Systems der Artefakte, der sog. »zweiten
Natur«) mit den subjektiven Zwecken vermittelt wird, zum eigentli-
chen Boden und Grund seiner Existenz. Dieses Feld von Produktion,
Konsum und Tausch ist der Gegenstand der Ökonomie (als Wissen-
schaft und als Zweig der Lebensgestaltung68). Dass Marx sich von der
»reinen« Philosophie ab- und der Ökonomie zuwandte, war nicht eine
beliebige Entscheidung. Sobald er erkannt hatte, dass der materiale Ge-
halt der Hegelschen Philosophie im Prozess gegenständlicher Verän-
derungen der Welt liegt und dass ihr politisch-metaphysischer An-
spruch, Philosophie der Freiheit zu sein, nur über die Aufhebung der
Entfremdung der Arbeit würde eingelöst werden können, musste die
Sphäre der materiellen Produktion samt den in ihr liegenden struktu-
rellen Unfreiheiten zum bevorzugten Gegenstand einer Philosophie
werden, die ihre Venvirklichung zum Programm gemacht hatte.
3. Kapitel:
Dialektische Ontologie
des Gesamtzusammenhangs

1. EniJ'klopädischer Universalismus

Dass Marx sich nach den philosophischen Erörterungen in den Früh-


schriften mit grosser Ausschliesslichkeit der Erarbeitung und Ausar-
beitung der Kritik der politischen Ökonomie widmete, die doch nach
dem Programm der Pariser Manuskripte die materialistische Konkreti-
sierung einer ihre Geschichtlichkeit begreifenden Philosophie sein
sollte, liess in der Ausgestaltung der marxistischen Theorie eine Leer-
stelle offen, die, bliebe sie unausgefüllt, den Gesamtentwurf - auch in
seinen politischen Perspektiven - bis zur Widersprüchlichkeit sich ver-
schärfenden Zweideutigkeiten aussetzen musste. Die Geschichte des
Marxismus in der Ir. Internationale ist die Folge dieser bei Marx sich
aus seinem Forschungsprogramm ergebenden Einseitigkeit. Zwar ist
die Marxsche politische Ökonomie (wie wir gesehen haben) durchzo-
gen von einem Gerüst philosophischer Begrifflichkeit und Methodik,
die erst ihre geschichtsphilosophische und politische Reichweite aus-
machen; aber sie erscheint in der Durchführung als eine empirische
Wissenschaft von den ökonomischen Strukturen und Prozessen der
Kapitalbildung und -verwertung. Man kann das Kapital ebenso als eine
ökonomische Theorie und ökonomische Soziologie lesen wie als eine
Theorie der geschichtlichen Konkretisierung des gesellschaftlich sich
durch Arbeit, in Produktionsverhältnissen, verwirklichenden Men-
schen. Beide Lesarten ergeben, isoliert voneinander, verschiedene, ja
gegensätzliche Philosophien und politische Konsequenzen.
Friedrich Engels, seit den Anfängen seiner Freundschaft mit Marx
gewissermassen der Enzyklopädist in ihrer Zusammenarbeit, hat das
Risiko einer solchen Theorielücke erkannt und vor allem im Hinblick
auf die politische Wirksamkeit des Marxismus einen systematischen
Grundriss zu entwerfen versucht, in dem die offenen Probleme ihren
Platz finden und ihre Lösungsrichtung erkennbar wird. Gewiss hat En-
gels keine Philosophie im Sinne der gros sen klassischen Systemphilo-
312 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

sophie ausgearbeitet - er hat aber doch die konzeptionellen Eckpfeiler


errichtet, von denen aus der Grundriss eines solchen Systems gezeich-
net werden kann.
Es gehärt zur Ideologiegeschichte der Zeit nach dem 2. Weltkrieg,
zur Geschichte der Revisionismen innerhalb des Marxismus und zum
Phänomen eines pseudomarxistischen Antimarxismus, dass das Werk
von Engels und seine Bedeutung für die Ausarbeitung der marxisti-
schen Theorie verdrängt, unter den Stichworten >Popularisierung< oder
gar >Simplifikation< abgewertet und als Verfälschung (>Ontologisie-
rung<) der genuinen Intentionen von Marx diffamiert wurde. Wer die
Marxsche Kritik der politischen Ökonomie als eine Absage an die Phi-
losophie, als den definitiven »Schritt zur positiv-wissenschafdichen
Kritik des philosophischen Totalitätsanspruchs«l auffasst; wer behaup-
tet, dass Engels »in eine dogmatische Metaphysik zurückfällt«2; wer der
Meinung ist, »insoweit die Natur nicht das Werk des Menschen ist, gibt
es in ihr keine Geschichte. Die Geschichdichkeit ist die Negation der
Natürlichkeit«·'; wer Engels einen Rückfall auf eine »vorkantische
Form der Ontologie« und die »Remystifizierung des Materialismus«
vorwirft4 - sie alle haben, um der Verzerrung des philosophischen
Charakters des Marxismus willen, dem enzyklopädischen Denken von
Engels Unrecht getan und die konstitutive Bedeutung der Zusammen-
arbeit von Marx und Engels für das Ganze der marxistischen Theorie
unterschätzt.
Nennt man Engels den »Enzyklopädisten des Marxismus«, so ist
damit nicht nur die universelle Bildung gemeint, die er - beschlagen auf
zahlreichen Wissensgebieten - in die Ausarbeitung der marxistischen
Theorie eingebracht hat und (wie der Briefwechsel zwischen Marx und
Engels zeigt) seinem Freunde als Material für dessen Arbeiten zur Ver-
fügung stellte. Mit Recht werden die Werke von Marx und Engels als
ein gemeinsames Werk - sei es in der MEW oder in der MEGA - her-
ausgegeben, denn sie sind in einer seltenen Symbiose des Denkens und
Zusammenwachsens des Wissens und der Denkmotive entstanden.
Auch wenn Engels sich bescheiden immer nur als der Dienende in
ihrem Verhältnis verstanden und dargestellt hat und dies im Hinblick
auf die gewaltige Systematik der Kritik der politischen Ökonomie, die
Marx' Lebenswerk ist, auch zutrifft, darf für das Ganze der diese Sy-
stematik tragenden Weltanschauung sein Anteil nicht geringer ge-
schätzt werden. Gerade der scharfsinnige Zugriff von Engels auf die
im 19. Jahrhundert sich ausbreitende Tatsachenkenntnis in Geschichts-
und Naturwissenschaften und seine Intention, vom empirischen Mate-
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 313

rial aus den Übergang zur Dialektik als >objektiver< Struktur der pro-
zessualen Wirklichkeit und als >subjektiver< Gestalt von deren Rekon-
struktion in philosophischer Theorie zu vollziehen, haben die Ausar-
beitung einer wissenschaftlichen Weltanschauung für den Sozialismus
überhaupt erst angestossen und ihr ein konzeptionelles Profil gegeben.
In diesem weltanschaulichen Ganzen sind historischer und dialekti-
scher Materialismus eine binomische Einheit, und auch Marx, nicht nur
Engels, hat das so verstanden. Die geschichtstheoretische Grundle-
gung einer revolutionären Politik sollte im Entwurf eines universellen
Weltmodells verankert werden.
In der Tat ist das eine grundsätzliche und über den politischen Stel-
lenwert der Marx-Rezeption entscheidende Frage: ob man Marx auf
den Kritizismus der Junghegelianer zurückbringen will oder ob man
ihn um jene enzyklopädische Dimension erweitert, die Engels zu dem
durchaus schon universell angelegten Ansatz der Kritik der politischen
Ökonomie hinzugebracht hat und die Marx selbst - wie sein Brief-
wechsel mit Engels mannigfach belegt - als den Horizont seines eige-
nen Denkens verstand und akzeptierte. Ohne die Zustimmung von
Marx hätte Engels wohl auch kaum seine Rezension »Zur Kritik der
politischen Ökonomie« veröffentlicht, in der er den hegelischen Hin-
tergrund und die philosophische Methode der Marxschen Theorie so
nachdrücklich betont. 5
Die Bedeutung, die Marx und Engels der Philosophie für die welt-
anschauliche Integration der Arbeiterklasse beimassen, erhellt aus
ihrem Verhältnis zu Josef Dietzgen, der mit Schriften wie Das Wesen der
menschlichen Kopfarbeit (1869) und Das Acquisit der Philosophie (1887) eine
erkenntnistheoretische Grundlage für das Selbstverständnis und den
politischen Kampf der Sozialdemokratie geben wollte. Ungeachtet der
Vorbehalte, die Marx und Engels gegen das theoretische Niveau und
den methodologischen Dilettantismus von Dietzgen hatten, erachteten
sie dessen Beitrag zur Bildung des Klassenbewusstseins der Arbeiter-
klasse für wichtig genug, um ihn als »Denker« des Sozialismus ernst zu
nehmen (wenn auch die Worte »unser Philosoph«, mit denen Marx auf
dem Haager Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation 1872
Dietzgen vorstellte, nicht ohne einen gewissen ironischen Unterton ge-
wesen sein mögen). Dass Marx jedoch gerade Dietzgen auf dessen
Drängen zusicherte, eine Darstellung der Dialektik schreiben zu wol-
len, ist jedenfalls ein Indiz dafür, dass er die Aufgabe einer philosophi-
schen Grundlegung durch die Kritik der politischen Ökonomie nicht
für erledigt hielt. 6
314 Die »Umkehrung« Hegels durch den i\Iarxismus

Denn Marx arbeitete an seiner Theorie der politischen Ökonomie,


in der die Kategorie Arbeit zum Medium wurde, in dem sich die Ver-
schmelzung von Natur, Mensch und Geschichte vollziehe, mit dem
Blick auf den Zusammenhang der Einzelnen im Ganzen der Welt, mit
dem Blick auf das Ganze des Wissens. 8 Schon Diderot hatte ja in der
EI1C)dopedie für die Ordnung der Bearbeitung der Natur (worin er die
primäre Tätigkeit des Menschen erkannte), »eine sehr umfangreiche
Kenntnis der Naturgeschichte und eine sehr starke Dialektik« ver-
langtY Der junge Engels sah dann, wie aus der industriellen Produktion
die NO!JJ!endigkeit zu einer zusammenfassenden und >totalisierenden<
Organisation des Naturwissens erwächst, und er sieht dann auch, dass
diesem Erfordernis in der ersten Phase seiner Befriedigung - der
französischen Encycfopedie - noch nicht Genüge getan werden konnte:
»Das achtzehnte Jahrhundert fasste die Resultate der bisherigen Ge-
schichte, die bis dahin nur vereinzelt und in der Form der Zufälligkeit
aufgetreten waren, zusammen und entwickelte ihre Notwendigkeit und
ihre innere Verkettung. Die zahllosen durcheinander gewürfelten Data
der Erkenntnis wurden geordnet, gesondert und in Kausalverbindung
gebracht; das Wissen wurde Wissenschaft, und die Wissenschaften
näherten sich ihrer Vollendung, d. h. sie knüpften sich auf der einen
Seite an die Philosophie, auf der anderen an die Praxis an. (...) Der Ge-
danke der Enzyklopädie war für das achtzehnte Jahrhundert charakte-
ristisch; er beruhte auf dem Bewusstsein, dass alle diese Wissenschaf-
ten unter sich zusammenhängen, war aber noch nicht imstande, die
Übergänge zu machen und konnte sie daher nur einfach nebeneinan-
derstellen.«ll1
In der HegeIschen El1?Jkfopädie fand Engels dann die Tendenz des
18. Jahrhunderts erfüllt: Das Wissen über die Welt wird zu einer ebenso
logisch wie historisch entwickelten Einheit. 11 Noch ein halbes Jahr-
hundert später erachtet Engels den HegeIschen Entwurf als ein Para-
digma dialektischen Naturverständnisses; gegen die philosophische
Hilflosigkeit der Naturwissenschaftler ruft er in einem Brief an Marx
Hegel zu Hilfe: »Für den schwachen Verstand der Naturwissenschaft-
ler ist die grosse >Logik< nur hier und da zu gebrauchen, obgleich sie im
eigentlich Dialektischen der Sache weit tiefer auf den Grund geht, da-
gegen die Darstellung in der >Enzyklopädie< wie für diese Leute ge-
macht. (...) Da ich nun den Herren die Strafe, grade aus Hegel zu ler-
nen, erlassen weder kann noch will, so ist hier grade die Fundgrube.«12
Mit dem Stichwort >enzyklopädisch< ist in zweifacher Hinsicht die
Herkunft jenes Erkenntnisantriebs bezeichnet, der für Engels charak-
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 315

teristisch ist: Einmal der Rückbezug auf die französische Aufklärung,


auf das Unternehmen der Enzyklopädisten (mit dem Dialektiker Di-
derot, mit dem Mathematiker d'Alembert an der Spitze und den vom
Universalgelehrten Leibniz ausgehenden - durch Christian Wolff aus-
drücklich an Diderot weitergegebenen - Impulsen dahinter); hier lag
der Antrieb zugrunde, die Summe neuer, das überlieferte Weltbild
sprengender wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre Deutung so aus-
zubreiten, dass sie als Theorie für eine gesellschaftsverändernde Praxis
dienen konnte. Zum zweiten der Anspruch Hegels, die ganze Welt in
einem deduzierbaren Systemzusammenhang nach den Gesetzen dia-
lektischer Logik darzustellen (wiederum mit den Anregungen des uni-
versalphilosophischen Systematikers Leibniz im Hintergrund).
Was Engels an der französischen Ellqclopidie zutiefst beeindrucken
musste, war die von ihr ausgehende weltanschauliche Wirkung auf die
sich formierende bürgerliche Klasse. Zum erstenmal in der Ge-
schichte, so erkannte Engels, wurde durch die Enqclopidie ein Bildungs-
stand breiter Bevölkerungsschichten erreicht, der ihre kontinuierliche
Mitwirkung am politischen Geschehen ermöglichte. »Es gab um jene
Zeit bereits eine aufgeklärte )öffentliche Meinung< in Europa. Wenn
auch noch nicht die )Times< mit der Fabrikation dieses Artikels begon-
nen hatte, so gab es doch jene Art der öffentlichen Meinung, die sich
unter dem gewaltigen Einfluss von Diderot, Voltaire, Rousseau und
den anderen französischen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts gebildet
hatte. (... ) Der Hof Katharinas II. wurde zum Stabsquartier der aufge-
klärten Männer jener Tage.«13 Die Weltanschauung der Massen - also
in jener Zeit der bürgerlichen Produzenten gegenüber dem Adel -
wurde zum politischen Faktor, die )philosophes<, die diese Weltan-
schauung formulierten und die ihre \X'ortführer waren, wurden zum
Medium der geschichtlichen Veränderungen. \X'enn bisher gros se Ein-
zelpersönlichkeiten als die historischen Subjekte betrachtet wurden
(und so sah es Hegel noch), so konstituierte sich nun ein kollektives hi-
storisches Subjekt aus einer gemeinsamen Bewusstseinslage. »Wir
sahen, wie die französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, die
Vorbereiter der Revolution, an die Vernunft appellierten als einzige
Richterin über alles, was bestand. Ein vernünftiger Staat, eine vernünf-
tige Gesellschaft sollten hergestellt, alles, was der ewigen Vernunft wi-
dersprach, sollte ohne Barmherzigkeit beseitigt werden.«14
Schon seit seinen ersten Arbeiten hat Engels seine Aufmerksamkeit
darauf gerichtet, wie die Moderne mit dem Problem der sich für den
einzelnen unübersehbar ausbreitenden Kenntnisse der Tatsachenwis-
316 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

senschaften einerseits und dem gleichzeitig damit entstehenden Be-


dürfnis nach einem Prinzip der Ordnung und Einheit andererseits um-
ging - mit dem Problem also, den Widerstreit zwischen Zerstreuung
der Forschung in die Einzelheiten und Zusammenfassung in einer
Konstruktion des Ganzen zu beheben. In der Philosophiehistorie wird
dieser Widerstreit als der Gegensatz von Empirismus und Rationalis-
mus ausgegeben - Locke contra Descartes und Leibniz, englische Er-
kenntnistheorie contra kontinentale Metaphysik; und diese irre-
führende Simplifikation hat sich in den Schulbüchern festgesetzt.
Tatsächlich sind Empirismus und Rationalismus zwei Seiten derselben
Problemlage und durchdringen sich gegenseitig in der französischen
Philosophie des 18. Jahrhunderts, die zugleich sensualistisch und ratio-
nalistisch war. Das Gemeinschaftswerk der EIIC)'clopedie ist das Ergebnis
dieser Durchdringung und der Versuch, einer neuen Wissenschaftsge-
sinnung sowohl den Boden der Tatsachen zuzubereiten als auch die
Perspektive ihres Zusammenhangs anzulegen. Engels hat in diesem -
sicher nur unzulänglich durchgeführten - Programm der Enzyklopädi-
sten die Aufgabe der philosophischen Reflexion der Neuzeit gesehen.
Es ist charakteristisch für die ganzheitliche Betrachtungsweise von En-
gels, dass er diese Beurteilung der philosophisch-weltanschaulichen
Tendenz des Zeitalters zuerst in einer Abhandlung erörterte, die (nach
seinen eigenen Worten) »genauer auf die Lage Englands und ihren
Kern, die Lage der arbeitenden Klasse eingehen« sollte. Die sozialpoli-
tische Faktizität schien ihm nicht zureichend verstanden, wenn sie
nicht in einen grossen gesellschafts- und geistesgeschichtlichen Rah-
men gestellt würde.
In einer Enzyklopädie, die Handwerk und Manufaktur, Staat und
Politik, Natur und Kultur zusammenfasste und anders als die späteren
Konversationslexika durch systematische Querverweise den Zusam-
menhang der Artikel herstellen wollte (wenn auch diese Systematisie-
rung nicht gelang, sondern additiv blieb), erkannte Engels die Struktur
des Wissens der Neuzeit. Er erkannte aber auch die in dieser Struktur
liegende Tendenz zur Zersplitterung und damit weltanschaulichen Ste-
rilisierung des Wissens und griff darum auf Hegels spekulative Syste-
matik als Paradigma (obschon nicht in ihrer idealistischen Gestalt)
einer integrativen Konzeption zurück. Das Problem des »Gesamtzu-
sammenhangs« steht so am Anfang seines Dialektikverständnisses.
Die »wissenschaftliche Form« der Wissenschaften, die im 18. Jahr-
hundert gewonnen wurde, sieht Engels gerade darin, dass sie »einer-
seits an die Philosophie, anderseits an die Praxis angeknüpft« haben.
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 317

Die Praxis, in der sich das eine mit dem anderen verbunden und von
ihm abhängig erweist, wird zum Medium, in dem die Erfahrung des
Mannigfaltigen in das konstruktive Erfassen des Zusammenhangs
übergeht. Das enzyklopädische Prinzip ist nach zwei Seiten ein Kor-
rektiv: Gegen die Faktenhuberei eines begriffslosen Empirismus und
gegen das überfliegende Denken einer von den Erfahrungswissen-
schaften abgehobenen Philosophie. An diesem (durchaus von Hegel
inspirierten) Konzept hat Engels zeit seines Lebens festgehalten. Ge-
rade da, wo er Hegel später kritisiert, weil dieser der Gewalt des Sy-
stems zum Sich-Abschliessen erlegen sei, hebt er doch den Umfang des
Hegeischen Systems hervor, dessen Verdienst es sei, »ein unvergleich-
lich grösseres Gebiet zu umfassen als irgendein früheres System und
auf diesem Gebiet einen Reichtum des Gedankens zu entwickeln, der
noch heute in Erstaunen setzt. (00') Logik, Naturphilosophie, Philoso-
phie des Geistes und diese letztere wieder in ihren einzelnen ge-
schichtlichen Unterformen ausgearbeitet: Philosophie der Geschichte,
des Rechts, der Religion, Geschichte der Philosophie, Asthetik usw. -
auf allen diesen verschiedenen geschichtlichen Gebieten arbeitete
Hegel daran, den durchgehenden Faden der Entwicklung aufzufinden
und nachzuweisen; und da er nicht nur ein schöpferisches Genie war,
sondern auch ein Mann von enzyklopädischer Gelehrsamkeit, so tritt
er überall epochemachend auf.«lS Es ist nötig, diese hoch anerkennen-
den Passagen umfänglich wiederzugeben, um dem Missverständnis
oder der Verleumdung entgegenzutreten, Engels sei eine Art Positivist
gewesen, der die Philosophie als blasses »falsches Bewusstsein« habe in
den Einzelwissenschaften zugrundegehen lassen wollen. Diese Fehl-
deutung ist es allerdings, die es dann erlaubt, das Konzept der »wissen-
schaftlichen 'X'eltanschauung«, das Engels entwickelt, auf das Niveau
eines populärwissenschaftlich zurechtgezimmerten \1i;'eltbilds herabzu-
drücken und dann als »einfache 'X'eltanschauung« für epistemologisch
irrelevant zu erklärenY' Die wissenschaftliche Weltanschauung ist ge-
rade durch ihren Rückbezug auf ein Konzept von Enzyklopädie be-
stimmt, das in der französischen Aufklärung sein neuzeitliches Para-
digma hat und dem Hegel dann - gegenüber der noch additiven Form
der Wissenssammlung - die philosophische Form des Systems gab.
Die Aufgabe, ein Prinzip zu finden, aus dem das Ganze des \'fis-
sens als Einheit und damit als Korrelat der einen !felt begriffen werden
könne, stellt sich unausweichlich mit dem stets grösser werdenden
Umfang unserer Erkenntnisse. Aber diese Aufgabe ist im Grunde so alt
wie die Reflexion auf das \'rissen des \,('issens, die Iloesis 1l0eSeÖS, wie sie
318 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

seit Platon und Aristoteies, ja eigentlich schon seit des Parmenides


Erörterungen über ali:theia und doxa Zentrum der Philosophie war. Ari-
stoteles hat das deutlich formuliert: »Dass es aber ein Prinzip gibt und
die Ursachen der Seienden, sei es linear (in einer Abfolge), sei es klas-
sifikatorisch (der Art nach) nicht unendlich weitergeführt werden kön-
nen, ist offenkundig. (...) Wenn daher nicht ein Erstes ist, so ist über-
haupt keine Ursache« (994 a I fund 19). Dass wir Welt überhaupt nur
als Welt erfassen können, wenn es einen Grund gibt, der die Einheit der
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verbürgt, ist eine formale Vorge-
gebenheit des Denkens - und es macht die >Grundfrage< der Philoso-
phie aus, ob diese Vorgegebenheit allein in der Verfassung des Denkens
gelegen oder durch die Verfassung der Welt bedingt ist. Wenn dieser
Grund keine >erste Ursache< (also eine Art Gott) sein soll, weil das das
Denken in neue Schwierigkeiten führen würde, dann stellt sich das Pro-
blem als ein dialektisches.
Unabhängig von der Entscheidung der >Grundfrage< lässt sich die
Einheit der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf zwei Weisen theo-
retisch darstellen. Einmal in der Form einer Vernetzung der zunächst
unabhängig voneinander festgestellten Sachverhalte und ihrer gedank-
lichen Rekonstruktionen - der \X'eg, den die französische b'ncyclopedie
gegangen ist und der dem methodischen Vorgehen des Empirismus
entspricht; zum anderen in der Form der Konstruktion, die von ersten
Wahrheiten (Axiomen) oder obersten Gattungsbegriffen ausgeht - den
Weg, den Leibniz und Hege! eingeschlagen haben. Beide Motive - das
der Sammlung des \X'issens und das der Konstruktion des Gesamtzu-
sammenhangs -, die zunächst in der Geschichte der Philosophie un-
verbunden nebeneinander laufen, fasst Engels in eins, um damit dem
letzten Endes noch theologisch fundierten Weltbild, das sich aus dem
Mittelalter über die Reformation in die Neuzeit herübergebildet hatte,
ein alternatives Konzept entgegenzusetzen.!7
Der formale Gegensatz, wie er in den Entwürfen der Ganzheit des
Wissens in der französischen EIlC)'clopMie einerseits, in der Hegeischen
Elli)'klopädie andererseits erscheint, ist nicht der Ausfluss verschiedener
philosophischer Haltungen oder Temperamente, sondern in der wis-
senschaftsgeschichtlichen Situation der Neuzeit begründet. Im 18. Jahr-
hundert wurde zum ersten mal in der Geschichte des Wissens die
Menge der zu integrierenden Fakten für den einzelnen Gelehrten un-
übersehbar, liefen die Methoden des Umgangs mit dem Erfahrungs-
material in den einzelnen Disziplinen auseinander (wodurch die einheit-
stiftende Funktion der Philosophie in die Erkenntniskritik verlagert
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 319

wurde), kam mit der Erforschung der Geschichte ein Wissensgebiet


hinzu, das von ganz anderer Art war als die Naturwissenschaften. Das
Problem einer Klassifikation der Wissenschaften und als Vorausset-
zung dazu einer Dissoziation der Wissensinhalte in voneinander abge-
sonderte Teilbereiche wurde zum Kern wissenschaftlicher Ordnungs-
theorien und der in ihnen entwickelten Begriffe und Schemata - ein
Problem, das bekanntermassen in die Anfänge der Enzyklopädistik
zurückreicht. Während in diesen Anfängen jedoch ein Prinzip der Ein-
heit des Wissens gesucht oder zugrundegelegt wurde, traten nun die
Wissensbereiche mehr und mehr auseinander und wurden nur noch
additiv verbunden, allenfalls in historischer Stufenfolge gesehen. Hegels
Versuch, den Zusammenhang der Wissenschaften und ihrer Gegen-
standsbereiche aus der Begriffsform des Wissens zu konstruieren, im-
plizierte ein genuines Symmetrie-Verhältnis des Begriffs zur gegen-
ständlichen Welt, wie es von einem nominalistisch eingefärbten
Empirismus nicht mehr akzeptiert wurde. Sobald aber das begrifflich
Allgemeine nur mehr als Resultat klassifikatorischer Abstraktionen auf-
gefasst wird (welche von speziellen Erkenntnisinteressen geleitet die
einen oder anderen Schnitte durch die Menge der Fakten bzw. des Wis-
sens von ihnen legen können), wird der Zusammenhang der Dinge und
Sachverhalte kontingent und von subjektiven Setzungen bestimmt. Die
objektive Rationalität einer Weltordnung verflüchtigt sich.
Die Strenge, mit der Marx und Engels am Kriterium der Rationa-
lität festhalten - nicht nur als Rationalität der Form wissenschaftlichen
Wissens, sondern als Struktur der \l(i'irklichkeit der Welt, dergemäss
diese erkennbar ist und wissenschaftlich dargestellt werden kann -
diese Strenge steht in deutlichem Gegensatz zur bürgerlichen Weltan-
schauung des 19. Jahrhunderts, die eine Teilrationalität wissenschaftli-
cher Forschungs- und Erklärungsverfahren sehr wohl mit irrationali-
stischen, fideistischen oder simpel agnostizistischen Auffassungen
verbinden konnte, sobald es sich um Fragen des Ganzen der Welt, des
menschlichen Lebenssinns, des Verlaufs der Geschichte und des
Schicksals von einzelnen und von Völkern oder der Menschheit han-
delte. Die zunehmende Abschottung der Naturwissenschaften von der
Philosophie und die Fixierung des Wissenschaftsideals auf die natur-
wissenschaftliche, mathematische Erkenntnisweise leistete diesem Par-
allelismus von Rationalität und Irrationalismus Vorschub, woraus dann
der positivistisch verengte Rationalitätsbegriff hervorging, der die be-
kannten Diskussionen im 20. Jahrhundert auslöste. 18 Dagegen halten
Marx und Engels an der Einheit einer Weltanschauung fest, die Sinn-
320 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

fragen und Wissensstand, politische Institutionen und soziale Lebens-


formen von einem gemeinsamen Zentrum her versteht und als Einheit
auffasst. In eben der Homogenisierung des Erklärungsmusters für die
Vielheit der Phänomene lag nach ihrer Auffassung die Stärke der Auf-
klärungsphilosophie. Engels hat das ganz klar herausgestellt: »Die fran-
zösischen Materialisten beschränkten ihre Kritik nicht bloss auf reli-
giöse Dinge; sie kritisierten jede wissenschaftliche Überlieferung, jede
politische Institution ihrer Zeit; um die allgemeine Anwendbarkeit
ihrer Theorie nachzuweisen, nahmen sie den kürzesten Weg: Sie wand-
ten sie kühnlich an auf alle Gegenstände des Wissens in dem Riesen-
werk, nach dem sie benannt wurden, in der >Encyclopedie<.«19
Das Prinzip, aus dem eine einheitliche Erklärung der mannigfalti-
gen Phänomene der geschichtlichen Wirklichkeit und ihrer geistigen
Manifestationen möglich wird, fanden Marx und Engels in der Repro-
duktion des menschlichen Lebens durch die gesellschaftliche Produk-
tion und den Tausch, also in den Produktionsverhältnissen; die Repro-
duktion der Gattung durch die Produktion vermittelt zugleich die
spezifische Weise des Menschseins mit der Natur als ihrer Grundlage,
von der sie sich abhebt, ohne sie zu verlassen. In diesem Kerngedan-
ken ist die Einheit von historischem und dialektischem Materialismus
angelegt. Der Ausformulierung dieses Gedankens liegen voraus die
Ausarbeitung der dialektischen Methode durch Fichte und Hegel und
ihre anthropologische Interpretation durch Feuerbach. »Die materiali-
stische Geschichtsanschauung und ihre spezielle Anwendung auf den
modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war
nur möglich vermittelst der Dialektik. C... ) Wir deutschen Sozialdemo-
kraten sind stolz darauf, dass wir abstammen nicht nur von
Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und
Hegel.«20
Der Materialismus, wenn er konsequent die materielle Einheit der
Welt aus der Summe des Wissens rekonstruieren wollte, musste auf
dialektische Konfigurationen der Vielheit der Phänomene kommen.
Im Prospekt der Encyclopidie schreibt Diderot: »Wir haben erkannt,
dass der erste Schritt zu einer sinnvollen und wohldurchdachten Aus-
arbeitung einer EniJklopädie darin bestehen muss, einen Stammbaum
aller Wissenschaften und Künste aufzustellen, der den Ursprung jedes
Zweiges unserer Kenntnisse, ihre wechselseitigen Verbindungen und
ihren Zusammenhang mit dem gemeinsamen Stamm zeigen und uns
dazu dienen sollte, die verschiedenen Artikel in Beziehung zu ihren
Hauptgegenständen zu bringen. C••• ) Die Natur bietet uns nur beson-
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 321

dere Dinge, unendlich viele, ohne irgendeine feststehende und be-


stimmte Einteilung. Alles in ihr ergibt sich durch unmerklich feine
Übergänge.«21 Das bedeutet, dass es ein formales Prinzip der materia-
len Mannigfaltigkeit gibt, das mathematisierbar ist: »Wenn sich die
Dinge nach und nach, in unmerklich feinen Übergängen, verändern, so
muss die Zeit, die nie stillsteht, zwischen den Formen, die einst existiert
haben, den Formen, die heute existieren und den Formen, die in fer-
nen künftigen Jahrhunderten existieren werden, schliesslich den grös-
sten Unterschied hervorbringen.«22 Die Kontinuität enthält selbst die
Diskontinuität, den Bruch, den Umschlag ins qualitativ Neue durch
Vermittlung quantitativer Übergänge. Qualitative Andersheit wird aus-
drückbar in Zeit-Quanten. Diderot erkennt die Dialektik der Natur-
prozesse, aber er erkennt nicht deren logische Struktur, die das prozes-
sual Mannigfaltige in einem theoretischen Modell abbildbar macht.
Dialektik gerät so bei ihm in die Nachbarschaft zur Skepsis. »Wenn die
Erscheinungen nicht miteinander verknüpft sind, gibt es keine Philo-
sophie. C••.) Wenn der Zustand der Dinge aber in unaufhörlicher Ver-
änderung begriffen ist; wenn die Natur trotz der Kette, die die Er-
scheinungen miteinander verbindet, noch am Werk ist, so gibt es keine
Philosophie. Unsere ganze Naturkunde wird dann ebenso vergänglich
wie die Wörter.«23 Zweifellos hat Engels bei Diderot Elemente seines
Begriffs einer Naturdialektik gefunden, wenn auch noch in aporeti-
scher Form.
Dennoch greift Engels - obwohl Diderot näher an der materiellen
Entwicklung der Welt ist - bei der Ausarbeitung der Dialektik der
Natur auf Hegel zurück. Er schreibt: »Allgemeine Dialektik als Wis-
senschaft von den Zusammenhängen im Gegensatz zur Metaphysik
entwickeln. Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen
Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik entwickelt werden. (...)
Und zwar reduzieren sie sich in der Hauptsache auf drei:
das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt;
das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze;
das Gesetz von der Negation der Negation.
Alle drei sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als blosse
Denkgesetze entwickelt.«24 Die idealistische Form der HegeIschen En::()'-
klopädie hindere ihn aber nicht, den durch sie dargestellten (widerge-
spiegelten) Sachverhalt als realen zu erkennen. »Kehren wir die Sache
um, so wird alles einfach und die in der idealistischen Philosophie äus-
serst geheimnisvoll aussehenden dialektischen Gesetze werden sofort
einfach und sonnenklar.«25 Für die weitere Entwicklung der Dialektik,
322 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

insbesondere das Muster der »Umkehrung« Hegels bei Lenin, wird


diese Einsicht nachhaltige Folgen haben.
Es mag auffallen, dass in den vorhergehenden Ausführungen das
Wort »dialektisch« zweimal in jeweils verschiedenen Kontexten auf-
taucht, sowohl als Kennzeichnung der Denkweise von Diderot wie
auch als Definition der Methode Hegels. In beiden Fällen ist Dialektik
auf jenen enzyklopädischen Horizont bezogen, der das Einzelne nur
im Hinblick auf eine - wenn auch immer für das endliche Erkennen
unabschliessbare - Totalität zu fassen erlaubt. Diese Totalität wird in
jedem einfachen Weltverhältnis des Menschen implizit mit gesetzt,
denn jede singuläre Beziehung ist definiert dadurch, dass es ein »Aus-
sen« gibt, ein »Ausserhalb« dieser Beziehung (sonst wäre sie keine be-
stimmte und definierte), und dass von der bestimmten gesetzten Be-
ziehung zu diesem »Ausserhalb«, bzw. zu anderen Momenten in ihm
übergegangen werden kann. Diese horizontische Abschattung unserer
Objektbeziehungen ist immer vorhanden und unaufhebbar. So ist in
der »einfachen Weltanschauung« (oder, um es mit einem Terminus von
Husserl zu sagen, in der »natürlichen WelteinsteIlung«) immer schon
Welt als ganze, d. h. als unendliches Verweisungssystem gedacht, wenn
auch nicht explizit und methodisch. Nur die artifizielle Einstellung
einer sich auf ein Teilgebiet beschränkenden Untersuchung kann von
diesem unbestimmten Welthorizont absehen.
Dass diese Totalität konstruierbar sei, ist das Axiom jeder grossen
Systemphilosophie; dass sie nur spekulativ konstruierbar sei, d. h. dass
sie jeweils an einem endlichen Modell von relativem Wahrheitsgehalt
dargestellt werde, das in unendlicher Annäherung an die absolute
Wahrheit stets wieder kritisch aufgesprengt und negiert, stets wieder
vom spekulativen Kopf auf die empirischen Füsse gestellt werden
muss, ist eine Einsicht, die sich im Fortgang der gros sen metaphysi-
schen Modelle von Leibniz über Fichte und Schelling zu Hegel einge-
stellt hat und dann von Marx und Engels und nach ihnen von Lenin
zum Programm der Philosophie erhoben wurde. 26 Daher schliesst En-
gels in der Tat richtigerweise an Hegel an, wenn er dies auch mit den
materiellen Inhalten, wie sie in der En:v'klopädie gesammelt wurden,
verbindet.
Ohne die Konstruktion von Weltmodellen blieben die Wissen-
schaften in der Mannigfaltigkeit ihrer Gegenstände zerstreut und zer-
splittert; es gäbe keine wissenschaftliche If/eltanschauung. In der dogma-
tischen Verfestigung der Modelle, ohne die beständige, aus der Empirie
gespeiste Kritik an ihnen, gäbe es keine wissenschaftliche Weltanschauung.
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 323

Die Philosophie, deren wesentliche Aufgabe es ist, das vielfältige Wis-


sen integrierende Entwürfe des Ganzen zu geben, hat ebensosehr die
Funktion, solche Entwürfe kritisch aufzulösen und aufzuheben. Kriti-
sches und spekulatives Philosophieren verhalten sich komplementär
zueinander.
Das gilt nicht nur auf dem Felde der sogenannten »theoretischen«
Philosophie, die aus logischen und wahrheitstheoretischen Gründen
am wissenschaftsphilosophischen Postulat der letztlich zu erstreben-
den Kohärenz aller Wissensgebiete orientiert sein muss, sondern
ebenso auf dem Felde der sogenannten »praktischen« Philosophie, die
die Einheit des HandeIns nur in Bezug auf eine interpretative Weltper-
spektive verbürgen kann. Dieses Zusammenhangs waren sich Marx
und Engels stets bewusst. Engels hat später der Philosophie als Dia-
lektik gerade diesen Übergang vom theoretischen wissenschaftlichen
Wissen in die Praxis zur spezifischen Aufgabe gemacht und dabei so-
wohl die Notwendigkeit des enzyklopädischen Systems (Aufhebung
der Widersprüche zwischen den Besonderen in der Zusammenfassung
des Wissens) wie dessen Vorläufigkeit (Vergänglichkeit) gleichzeitig
notiert. 27

2. Politische Praxis und wissenschciftliche Weltanschauung

Der Praxis-Charakter der Theorie, der von den Anfängen Marxschen


und Engelsschen Denkens als das spezifisch Neue des nachhegeIschen
Philosophierens festgehalten wurde und in der 11. Feuerbachthese sein
programmatisches Schlagwort gefunden hat, erforderte nun auch eine
neue Bestimmung, wie philosophisches Denken in die weltverän-
dernde politische Praxis eingehen könne und in sie eingebunden sein
müsse. Dass totalisierende philosophische Weltentwürfe Leitlinien
einer praktischen Weltorientierung enthalten und anbieten, war ja nicht
das Neue; das hat Philosophie immer schon getan. Als Ergebnis einer
hoch elaborierten Denkform blieb sie aber immer Ideologie einer herr-
schenden Klasse, die über ihre >Theorie-Spezialisten< verfügte und
diese in das Herrschaftssystem integrierte. Diese Art >Weltentwürfe<
transformierten das wissenschaftliche Wissen ihrer Zeit in >Herr-
schaftswissen< - sei es zur Apologie und Stabilisierung einer bestehen-
den Ordnung, sei es zur Begründung und Durchsetzung von Interes-
sen einer neu aufstrebenden, d. h. zur Herrschaft strebenden Klasse.
Die geschichtsphilosophische Bestimmung der gegenwärtigen Epoche
324 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

als die des Übergangs zur klassenlosen Gesellschaft, die den politi-
schen Gehalt des historis<;:hen Materialismus ausmacht28 , erfordert nun
auch eine Transformation des wissenschaftlichen \)V'issens in eine neue,
nicht mehr im Dienst von I<lassenherrschaft stehende, weltdeutende
und praxisorientierende Philosophie, die die Massen ergreifen kann,
Dass eine solche Philosophie nicht ohne entwickelte (und also auch
spezialisierte) Kenntnisse erarbeitet werden kann, haben Marx und En-
gels durchaus gesehen, wie ihre Kritik am Dilettantismus Dietzgens
zeigL Dass sie aber aus der speziellen Theorieform der >Fachphiloso-
phie< in eine >einfache Weltanschauung< zu übersetzen sei (und über-
setzbar sein müsse), ergibt sich für das marxistische Verständnis aus
ihrem Status im gesellschaftlichen Leben einer emanzipierten, d, h, zur
Selbstbestimmung fähigen und sich organisierenden Menschheit.
Es wäre ein Irrtum zu glauben, Marx und Engels hätten die kriti-
sche Funktion der Philosophie, nämlich die Auflösung der spekulati-
ven Systeme, an die Steife der Entwicklung neuer Weltmodelle gesetzt, in
denen die Leitvorstellungen für praktisches Handeln auf einen Vers te-
henskontext hin integriert werden, um zielvolles »Tun aller und jeder«
(HegeI) überhaupt erst möglich zu machen. Bliebe Philosophie bei
ihrem kritischen Geschäft, mit dem sie beginnen muss, stehen, so
würde sie sich in der Entlarvung von Ideologien erschöpfen und
schliesslich sich selbst annullieren. Philosophie als Anti-System über-
lies se aber auch das Tun der Menschen einer sich selbst nicht begrei-
fenden Orientierung am nächsten und in seinen Folgen unübersehba-
ren Zweck (Opportunismus).
Für Marx stellte sich diese Frage konkret bezogen auf das Verhal-
ten der Ausgebeuteten in der kapitalistischen Gesellschaft. Das Kom-
munistische Manifest29 und die vielen unmittelbar in den politischen Ta-
geskampf eingreifenden und seine Tendenzen begreifenden Schriften
(von der Darstellung der Pariser Kommune bis zur Auseinanderset-
zung mit den sozialdemokratischen Partei programmen) sind von sol-
chen praktischen Entscheidungsproblemen dominiert; aber sie stellen
sich diesen Problemen immer unter dem Aspekt eines grundsätzlichen
Verständnisses der Strukturen und Verlaufs formen der bürgerlichen
Gesellschaft, deren historisch-ökonomische Entwicklungsgesetze
Marx im Rapita/herausgearbeitet hatte.
Das Rapital setzt den weiteren Horizont der Menschheitsgeschichte
und des menschlichen Naturverhältnisses voraus, das heisst, es erhebt
sich auf einem Boden, der selbst nicht der der ökonomischen Theorie,
sondern einer philosophischen Weltanschauung ist. Engels hat den
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 325

grösseren Teil seiner ausführlichen Rezension von Marx' Kritik der poli-
tischen Ökonomie von 1859 30 diesem systematischen Grundmuster und
seiner methodologischen Bedeutung gewidmet und gezeigt, wie die
»von vornherein auf einen systematischen Zusammenhang des gesam-
ten Komplexes der ökonomischen Wissenschaft angelegt(e)« Untersu-
chung an Hegel anknüpfen und ihn spezifisch verändern musste: »Wie
sonderbar uns auch manches in seiner (Hegels) Philosophie der Ge-
schichte jetzt vorkommen mag, so ist die Grossartigkeit der Grundan-
schauung selbst heute noch bewundernswert, mag man seine Vorgän-
ger oder gar diejenigen mit ihm vergleichen, die nach ihm über
Geschichte sich allgemeine Reflexionen erlaubt haben (...) Diese epo-
chemachende Auffassung der Geschichte war die direkte theoretische
Voraussetzung der neuen materialistischen Anschauung und schon
hierdurch ergab sich ein Anknüpfungspunkt auch für die logische Me-
thode (...) Marx war und ist der einzige, der sich der Arbeit unterziehen
konnte, aus der Hegelschen Logik den Kern herauszuschälen, der He-
gels wirkliche Entdeckungen auf diesem Gebiet umfasst, und die dia-
lektische Methode, entkleidet von ihren idealistischen Umhüllungen, in
der einfachen Gestalt herzustellen, in der sie die allein richtige Form
der Gedankenentwicklung wird. Die Herausarbeitung der Methode,
die Marx' Kritik der politischen Ökonomie zugrunde liegt, halten wir
für ein Resultat, das an Bedeutung kaum der materialistischen Grund-
anschauung nachsteht.«3!
Bezog sich die Kritik der politischen Ökonomie von 1859 noch im we-
sentlichen auf die Kategorien, durch die die ökonomischen Grundla-
gen des Gesellschaftsprozesses (also der Geschichte) begriffen wer-
den, so weitete sich mit der Ausarbeitung des Kapital dieser Horizont
aus; sowohl die Naturgrundlagen als auch die ideologischen Überbau-
konstrukte mussten mehr und mehr berücksichtigt werden, um der
Theorie die Tiefendimension zu geben, in der die kategorialen Ab-
straktionen sich konkretisieren. Das heisst, im Fortgang der Arbeit be-
gann Marx den Umfang des Programms auszuschreiten, das er in der
1859 von der Veröffentlichung zurückgehaltenen Eil1leitul1g32 skizziert
hatte.
Beim Entwurf dieses Horizonts zu seinem Systemwerk, ohne den
der allgemeingültige Modellcharakter des Kapital nicht gesichert wäre,
stützte sich Marx nun aber weitgehend auf die Hilfe von Engels. Wo
Marx über die konkreten Analysen der kapitalistischen Gesellschaft
hinausgeht, vergewissert er sich bei dem aus einem wahrhaft polyhi-
storischen Wissen schöpfenden Freunde. Ob es die Analyse der Urge-
326 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

sellschaft, die Entstehung von Familie, Privateigentum und Staat, die


Feststellung sprachgeschichtlicher Indizien für gesellschaftliche
Frühformen und deren Wandlung ist - immer weiss Engels Rat aus
detaillierter Quellenkenntnis. Die Bedeutung von Engels' ausserge-
wöhnlich breiten historischen Studien für den Prozess der Theorie-
bildung bei Marx kann heute aufgrund des umfangreichen Brief-
wechsels der beiden Freunde genau bestimmt werden; es zeigt sich,
dass die Mitwirkung von Engels bei der Ausarbeitung der Grundge-
danken von Marx eine entscheidende Hilfe war und den Übergang
von der ökonomischen Theorie in eine universale Geschichtsphiloso-
phie durch die Erschliessung zahlreicher Fakten und ihre Verknüp-
fung absicherte. Der grössere Teil dieser Arbeiten von Engels ist im
Werk von Marx versteckt und oft nicht einmal ausdrücklich in dieses
aufgenommen, sondern nur in seine Voraussetzungen eingegangen.
Engels hat hier ein Leben lang eine wahrhaft entsagungsvolle Freun-
desarbeit geleistet. 33
Wo sich ihm seine eigenen Arbeiten zu geschlossenen Abhandlun-
gen gestalten - etwa über den Ursprung der Familie, des Privateigen-
tums und des Staates oder über den Anteil der Arbeit an der Men-
schwerdung des Affen oder über die Entwicklung des Sozialismus von
der Utopie zur Wissenschaft -, tritt der aufklärerische Zug seines Den-
kens, der ihn den französischen Enzyklopädisten so verwandt macht,
deutlich hervor. Geschichte stellt sich ihm, durchaus hegelisch, als
Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit dar, wobei das Bewusstsein der
Freiheit jeweils der Befreiung aus den realen Zwängen überlebter Pro-
duktionsverhältnisse und ihrer institutionellen Abbildungen (Herr-
schaftsformen) entspricht und Freiheit überhaupt als Perspektive der
klassenlosen Gesellschaft aufscheint.
Schon in dem frühen Entwurf der Grundsätze des Kommunismus hat
Engels dieses Ziel der klassenlosen Gesellschaft umrissen: »Welcher
Art wird diese neue Gesellschaftsordnung sein müssen? Sie wird vor
allen Dingen den Betrieb der Industrie und aller Produktionszweige
überhaupt aus den Händen der einzelnen, einander Konkurrenz ma-
chenden Individuen nehmen und dafür diese Produktionszweige durch
die ganze Gesellschaft, d. h. für gemeinschaftliche Rechnung, nach ge-
meinschaftlichem Plan und unter Beteiligung aller Mitglieder der Ge-
sellschaft, betreiben lassen müssen. Sie wird also die Konkurrenz auf-
heben und die Assoziation an ihre Stelle setzen. Da nun der Betrieb der
Industrie durch einzelne das Privateigentum zur notwendigen Folge
hatte (...), so ist das Privateigentum vom einzelnen Betrieb der Indu-
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 327

strie und der Konkurrenz nicht zu trennen. Das Privateigentum wird


also ebenfalls abgeschafft werden müssen und an seine Stelle wird die
gemeinsame Benutzung aller Produktionsinstrumente und die Vertei-
lung aller Produkte nach gemeinsamer Übereinkunft oder die soge-
nannte Gütergemeinschaft treten. Die Abschaffung des Privateigen-
tums ist sogar die kürzeste und bezeichnendste Zusammenfassung der
aus der Entwicklung der Industrie notwendig hervorgehenden Umge-
staltung der gesamten Gesellschaft (00.).«34
Zugleich formuliert Engels schon da die Absage an jedes revoluz-
zerhafte Abenteurerturn. Die neue Gesellschaft ist das Ergebnis ge-
schichtlicher Prozesse, in die die Menschen eingreifen, die aber nicht
aus ihrer Willkür entspringen: »Die Kommunisten wissen zu gut, dass
alle Verschwörungen nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich sind.
Sie wissen zu gut, dass Revolutionen nicht absichtlich und willkürlich
gemacht werden (00') Die aller Wahrscheinlichkeit nach eintretende
Revolution des Proletariats wird also nur allmählich die jetzige Gesell-
schaft umgestalten und erst dann das Privateigentum an Produktions-
mitteln abschaffen können, wenn die dazu nötige Masse von Produk-
tionsmitteln geschaffen ist.«35
In dieser Jugendschrift lässt sich die Grenze zwischen utopischem
und wissenschaftlichem Sozialismus deutlich erkennen. Dass eine Ge-
sellschaftsformation aus der Notwendigkeit, ihre inneren Wider-
sprüche zu überwinden, die Tendenz zu ihrer »bestimmten Negation«
hervorbringt, ist gut hegelisch-dialektisch. 36 Dass es die Produktions-
weise ist, aus der diese Widersprüche entspringen, ist die neue, der sich
entwickelnden Wissenschaft der politischen Ökonomie zu verdan-
kende Erkenntnis, die Marx und Engels Anfang der vierziger Jahre ge-
wonnen haben und deren erste Formulierung in dem schon zitierten
Aufsatz von Engels Umrisse Zu einer Kritik der Nationalokonomie aus den
Deutsch-Franzosischen Jahrbüchern vorliegt; diese Erkenntnis ist in die
Grundsätze eingegangen. Utopisch klingen dagegen noch solche Pro-
gnosen wie »die Verteilung aller Produkte nach gemeinsamer Überein-
kunft oder die sogenannte Gütergemeinschaft«, weil hier die realen
Möglichkeiten und institutionellen Vermittlungsebenen in einer hoch-
komplex produzierenden Massengesellschaft, also die politische Ver-
wirklichung des sozialen Ideals noch ausser Betracht bleiben. Das KOJl/-
munistische Manifest - wenig mehr als einen Monat später gemeinsam
niedergeschrieben - ist dann schon vorsichtiger und zugleich präziser.
Die politische Bedingung der Aufhebung des Privateigentums, der Zu-
sammenschluss des Proletariats zur Klasse und der Klassenkampf bis
328 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

zur Herrschaft des Proletariats wird klar genannt, die Form der Asso-
ziation, die sich erst aus Verlauf und Ergebnissen dieses Kampfs her-
ausbilden kann, wird offen gelassen, aber ihr gesellschaftliches Prinzip
angegeben.
Soll die Philosophie zu jenem Mittel der Emanzipation werden,
von dem Marx sagte, dass »das Proletariat in der Philosophie seine gei-
stigen Waffen finde«37, so muss sie in der Lage sein, »die Massen zu er-
greifen«38, d. h. sie muss den Elfenbeinturm verlassen, in den sie sich
als esoterische Lehre vom Wissens des Wissens zurückgezogen hatte.
Wo immer Philosophie eine politisch-geschichtliche Funktion hatte,
war sie ein Moment des Klassenkampfs, theoretisch die Bewusst-
seinsbildung organisierend und auf Zielvorstellungen orientierend;
und wo Philosophie fehlte oder versagte, blieben Klassenkämpfe zer-
splittert, kurzatmig, schon in ihren Anfängen zum Scheitern verurteilt.
Lenin hat diese Erkenntnis in seiner Theorie der revolutionären Partei
verarbeitet. Damit knüpfte er an Engels an, dem es von seinen politi-
schen Anfängen an darum ging, die Philosophie zum theoretischen In-
strumentarium für die Politik der Arbeiterklasse zu enrwickeln. In die-
sem Sinne versteht sich Engels' Wendung gegen die Philosophie in
ihrer akademisch existierenden Gestalt, gegen die Schulphilosophie
(die oft als eine Wendung gegen die Philosophie überhaupt interpre-
tiert wird). Ihr setzt er die »einfache Weltanschauung« entgegen: »Es ist
überhaupt keine Philosophie mehr, sondern eine einfache Weltan-
schauung, die sich nicht in einer aparten Wissenschaftswissenschaft,
sondern in den wirklichen Wissenschaften zu bewähren und zu betäti-
gen hat. Die Philosophie ist hier also >aufgehoben<, das heisst >sowohl
überwunden als aufbewahrt<; überwunden, ihrer Form, aufbewahrt,
ihrem wirklichen Inhalt nach.«39 Der Zusammenhang macht deutlich,
worum es hier geht: um den Materialismus, der nach seiner »urwüchsi-
gen« antiken Form, die durch den Idealismus negiert wurde, nun wie-
derum als Negation der Negation in moderner Form den Idealismus
ablöst. Es ist die seit Platon idealistische Form der Philosophie, die
überwunden, es sind ihre Wirklichkeitsgehalte (die auch in der ideali-
stischen Form, wenn auch auf verkehrte Weise, präsent waren), die auf-
bewahrt werden sollen. Auf dieser höheren Stufe ist der moderne Ma-
terialismus nun aber »nicht die blosse Wiedereinsetzung des alten,
sondern fügt zu den bleibenden Grundlagen desselben noch den
ganzen Gedankeninhalt einer zweitausendjährigen Enrwicklung der
Philosophie und Naturwissenschaften sowie dieser zweitausendjähri-
gen Geschichte selbst.«411 Das ist der Gehalt der »einfachen Weltan-
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 329

schauung« - einfach nicht, weil sie eine Simplifikation der Wissen-


schaften wäre (denn sie soll ja die ganze Geschichte von Philosophie
und Wissenschaften enthalten und begreifen); sondern weil sie die Viel-
heit der unübersehbar gewordenen Tatsachenkenntnisse in einen Zu-
sammenhang bringt und aufgrund fundamentaler Prinzipien als
Ganzes erkennbar macht (also »erste Wissenschaft« im Sinne der ari-
stotelischen Bestimmung am Anfang der Metap~)'sik ist41 ). Antonio
Gramsci wird später von »Jedermannsphilosophie« sprechen. 42
Dass es bei dieser »einfachen Weltanschauung« auf höchste Präzi-
sion des Denkens ankommt, haben Marx und Engels und später Lenin
oft genug in der polemischen Auseinandersetzung mit anderen Sozia-
listen demonstriert. Da diese »einfache W'eltanschauung«, wie aus-
drücklich gesagt wird, sich auf dem entwickeltsten Stand der Wissen-
schaften halten muss, geht sie von selbst in eine »wissenschaftliche
Weltanschauung« über - obschon deren Ausarbeitung dann natürlich
spezielle Kenntnisse erfordert, aber eben auch die Rückkopplung zur
Alltagserfahrung und die Kontrolle der theoretischen Modellentwürfe
an der Alltagspraxis. Theorie geht gewiss nicht in der Verallgemeine-
rung der Alltagserfahrung auf, aber sie bedarf durchaus der Bewährung
in der Praxis. Allgemeine Weltmodelle, die den jeweiligen Erfahrungs-
stand überschreiten, müssen entworfen werden, damit das Ganze als
Orientierungsrahmen gedacht werden kann; aber als materialistische
dürfen sie keine unwissenschaftlichen oder von den Wissenschaften wi-
derlegten Begründungen oder ausserweltliche Begründungsinstanzen in
Anspruch nehmen, d. h. sie müssen immanent-rational sein. Rationale
Konstruktion von Modellen der transempirischen Totalität der Welt ist
nur mit dialektischen Methoden möglich, darum ist die »Dialektik als
Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs« zu entwickeln. Im Unter-
schied zum Materialismus des Altertums, in dem »die Natur noch als
Ganzes, im gros sen und ganzen angeschaut« wird und daher der Ge-
samtzusammenhang noch »Resultat der unmittelbaren Anschauung«
ist4 1, erfordert das komplexe Wissen der Wissenschaften der Neuzeit
eine besondere methodische Reflexion, die »die klassische deutsche
Philosophie von Kant bis Hegel ausgebildet hat.« Von Hegels »Kom-
pendium der Dialektik« sei auszugehen, allerdings mit einem entschei-
denden Vorbehalt: »Vor allem ist festzustellen, dass es sich hier keines-
wegs handelt um eine Verteidigung des HegeIschen Ausgangspunkts:
dass der Geist, der Gedanke, die Idee das Ursprüngliche, und die wirk-
liche \Xlelt nur der Abklatsch der Idee sei. Dies war schon von Feuer-
bach aufgegeben. Darüber sind wir alle einig, dass auf jedem wissen-
330 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

schaftlichen Gebiet in Natur wie in Geschichte von den gegebenen


Tatsachen auszugehen ist, in der Naturwissenschaft also von den ver-
schiednen sachlichen und Bewegungsformen der Materie; dass also
auch in der theoretischen Naturwissenschaft die Zusammenhänge
nicht in die Tatsachen hineinzukonstruieren, sondern aus ihnen zu ent-
decken und, wenn entdeckt, erfahrungsmässig soweit dies möglich
nachzuweisen sind.«44
In dieser Abgrenzung gegen Hegel ist gesagt, worum es beim Auf-
bau und Ausbau einer wissenschaftlichen Weltanschauung geht: Es
kann keine materialistische Philosophie geben, die den Wissenschaften
die Inhalte und die Deutung ihrer Forschungsergebnisse beschränken
oder vorschreiben würde. Der »Fall Galilei« hat epistemologische und
wissenschaftstheoretische Konsequenzen. Da jede philosophische
Verallgemeinerung von einem endlichen und daher unvollständigen
Wissen aus vorgenommen wird, kann sie keine Priorität oder gar nor-
mative Kraft gegenüber der Erfahrung beanspruchen; so wenig wie Er-
fahrungswissen als endgültig und unwiderruflich behauptet werden
kann. 45 Andererseits gibt es formale Voraussetzungen, die in jedes ge-
dankliche Erfassen von weltlichen Gegebenheiten eingehen. Logik
und Dialektik bleiben mithin als Strukturwissenschaften, als formaler
Rahmen von Ontologien erhalten 46 , ja sie gewinnen sogar eine konsti-
rutive Funktion für die Konstruktion des Gesamtzusammenhangs, die
ja gerade keiner empirischen Kontrolle unterzogen werden kann, son-
dern aus dem - am Corpus des Erfahrungswissens Rechtfertigung
oder Falsifizierung erfahrenden - reinen Begriff des Ganzen (dem Be-
griff des Begriffs) erfolgen muss. Insofern überschreitet diese Kon-
struktion jede bloss empirische Wissenschaft im Blick auf den Hori-
zont von Welt und ist »Weltanschauung«, bleibt aber zugleich
unauflöslich an die Bestätigung durch die Wissenschaften gebunden
und ist also »wissenschaftlich«, das heisst »wissenschaftliche Weltan-
schauung.«
Dem Konzept einer materialistischen (und das heisst wissenschaft-
lichen) Weltanschauung hat Engels einen beträchtlichen Teil seiner
Studien gewidmet. Im gleichen Atemzuge, in dem er im Ludwig Feuer-
bach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie die dialektische
Destruktion eines metaphysischen Wahrheitsbegriffs bekräftigt, aner-
kennt er die Notwendigkeit einer (je vergänglichen) philosophischen
Systematik des Weltganzen »aus einem unvergänglichen Bedürfnis des
Menschengeistes.«47 Hier noch wird es, wie schon fünfundvierzigjahre
zuvor, Hegel als grosse Leistung angerechnet, dass er den kritischen,
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 331

systemsprengenden Charakter seiner Methode (die »negative« Seite der


Dialektik) mit der Ausarbeitung einer enzyklopädischen Systematik
verbunden hatte - obschon der Widerspruch zwischen dem Abschluss
des Systems und der Offenheit der Methode im Rahmen einer ideali-
stischen Konstruktion der Totalität von Begriffen nicht behoben wer-
den konnte. Desungeachtet bleibt der »Reichtum des Gedankens«48 ein
Vorbild für jeden Enzyklopädisten und eine Fundgrube für »unge-
zählte Schätze, die auch heute noch ihren vollen Wert behaupten.«49
Dabei ist es der Zusammenhang, der logisch als Ableitung und histo-
risch als Entwicklung erscheint, um den es Engels geht: Betont heisst
es im Gesamtplan der Dialektik der Natur unter Punkt 4: »Zusammen-
hang der Wissenschaften. (...) St. Simon (Comte) und Hege!.« Die dia-
lektische Konstruktion des Zusammenhangs wird nach der Art der
analogia eJltis begriffen: »Grade die Dialektik ist aber für die heutige Na-
turwissenschaft die wichtigste Denkform, weil sie allein das Analogon
und damit die Erklärungsmethode bietet für die in der Natur vorkom-
menden Entwicklungsprozesse, für die Zusammenhänge im ganzen
und grossen, für die Übergänge von einem Untersuchungsgebiet zum
andern.«511
Das streng philosophisch-hegelianisch gedachte Konzept bildet al-
lerdings nur den Hintergrund seiner politisch-strategischen Realisie-
rung. Engels hatte eine Weltanschauung der Arbeiterklasse im Sinn,
durch die diese sich von der ideologischen Hegemonie der Bourgeoisie
sollte lösen können. Religionskritische und gesellschaftstheoretische
Motive traten so in den Vordergrund: Die Theorie des Sozialismus (Die
EntllJicklung des Sozialismus /'on der Utopie zur Wissenschafl), die Geschichte
der Gesellschaftsformationen (Der Ursprung der Familie, des Pril'ateigen-
tums und des Staats), das Verständnis historischer, vor allem revolu-
tionären Prozesse (Der deutsche BauernkrieiJ, die Abwehr kleinbürgerli-
cher Ideologien (An!i-Dühring) und mit absoluter Priorität die
Vermittlung des Werks von Marx (zu dessen Einzelveröffentlichungen
Engels unablässig Erläuterungen und Vorworte schrieb) und die Fer-
tigstellung der nachgelassenen Bände des Kapital für den Druck. 51 So
blieb das gros se Vorhaben eines weltanschaulichen Rahmenentwurfs,
die Dialektik der Natur, eine unebenmässige Sammlung von Materialien
und Fragmenten.
Doch auch aus den Bruchstücken, in denen uns die Dialektik der
Natur nur vorliegt, ist die Intention und Argumentationslinie von En-
gels zu erkennen. Der Zusammenhang der mannigfaltigen Substrate
und Relationen in der Welt (das heisst ihre Zugehörigkeit zu einer weil)
332 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

wird gewährleistet dadurch, dass sie als Differenzierungen eines und


desselben Ordnungsprinzips begriffen werden können, dessen kon-
krete Beschreibung die Naturwissenschaften auf ihrem jeweiligen Er-
kenntnisstand vornehmen, das aber als »Gedankenabstraktion« diesen
Beschreibungen vorausliegt: »Bewegung in dem allgemeinsten Sinn, in
dem sie als Daseinsweise, als inhärentes Attribut der Materie gefasst
wird, begreift alle im Universum vorgehenden Veränderungen und
Prozesse in sich, von der bIossen Ortsveränderung bis zum Denken
(...) Die ganze uns zugängliche Natur bildet ein System, einen Gesamt-
zusammenhang von Körpern, und zwar verstehn wir hier unter Kör-
pern alle materiellen Existenzen vom Gestirn bis zum Atom, ja bis zum
Ätherteilchen, soweit dessen Existenz zugegeben. Darin, dass diese
Körper in einem Zusammenhang stehn, liegt schon einbegriffen, dass
sie aufeinander einwirken, und diese ihre gegenseitige Einwirkung ist
eben die Bewegung. Es zeigt sich hier schon, dass Materie undenkbar
ist ohne Bewegung.«52
Es ist auffällig, wie nahe Engels hier bei Aristoteles ist (den er vor
Hegel ja auch als einzigen Erforscher der Dialektik gelten lässt).53 Ver-
gleichen wir die einschlägigen Stellen aus der Physik des Aristoteles:
»Die von Natur aus Seienden sind insgesamt oder einzeln als bewegte
(...) Die Natur ist der Urgrund von Bewegung und Veränderung (...)
Aber es gibt keine Bewegung abgelöst von den gegenständlichen Sach-
verhalten: Es verändert sich ja stets das der Veränderung Unterliegende
gemäss seiner Seiendheit, oder gemäss seiner Quantität oder gemäss
seiner Qualität oder gemäss seinem Ort (...) Daher gibt es genau soviele
Arten von Bewegung und Veränderung wie es Arten des Seins gibt.«54
Es scheint mir offenkundig, dass Engels hier nicht eine Verallge-
meinerung des naturwissenschaftlichen Wissens seiner Zeit, sondern
eine »ontologische« Grundlegung für die aus der Sache selbst (der
Natur) hervorgehende Einheit der Wissenschaften geben will. (Daher
auch die strukturelle Verwandtschaft mit Aristoteles). Die Einheit der
Welt muss in einem sachhaltigen, nicht in einem formalen Prinzip lie-
gen: »Die Einheit der Welt besteht nicht in ihrem Sein, obwohl ihr Sein
eine Voraussetzung ihrer Einheit ist, da sie doch zuerst sein muss, ehe
sie eins sein kann (...) Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Ma-
terialität.«55
Materialität besagt (per deftnitionem als res extensa, als Ausgedehntes)
Pluralität von Elementen (partes extra partes), das heisst die Existenz im
Auseinandersein von Andersseienden, Nicht-Identität der Relata in der
Einheit der Relation. Unbewegt würde das Ganze in einem und dem-
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 333

selben Zustand als Identisches verharren, die Andersheit der Elemente


wäre in der Ruhe des Ganzen untergegangen, nicht mehr unterschie-
den. Deshalb muss mit der Materialität als Pluralität von Einzelnen
(ek tes epagoges) die Bewegtheit gedacht werden, beide Kategorien sind
notwendig korrelativ. Damit ist eine erste Bestimmung von Welt ge-
wonnen, hinter die das Denken nicht zurückgehen kann, weil es als
Denken immer Unterscheiden, Auffassen von Verschiedenen in ihrer
Andersheit ist. Die Inhalte des Denkens, die in letzter Instanz auf sinn-
liche Affektion zurückgehen, sind immer schon eine Vielheit; die von
Platon untersuchte Dialektik von Einheit und Vielheit ist jeder Erfah-
rung inhärent, und zwar auf allen Stufen von der reinen Sinnlichkeit bis
zur theoretischen Abstraktion. Wenn Engels von der Dialektik als der
»Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl
der äussern Welt wie des menschlichen Denkens - zwei Reihen von
Gesetzen, die der Sache nach identisch, dem Ausdruck nach aber inso-
fern verschieden sind, als der menschliche Kopf sie mit Bewusstsein
anwenden kann«56, spricht, so zielt er auf diese Identität der allgemei-
nen Formbestimmtheit des Denkinhalts mit der der Denkgegenstände,
die im ursprünglichen Gegebensein von Gegenständen, im Akt des
Auffassens von Welt konstituiert wird. Dann ist - durch komplexe und
komplizierende Vermittlungen hindurch - »die Begriffsdialektik selbst
nur der bewusste Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen
Welt«57 (wobei ein solcher Reflex dann durchaus Verzerrungen unter-
liegen kann).
Die ontologische Fundierungsproblematik zeigt, welche Funktion
für Engels der Philosophie im Aufbau einer wissenschaftlichen Welt-
anschauung zukommt: Sie ist nicht mehr die Universalwissenschaft, in
welcher Rolle sie die besonderen Disziplinen in sich umfassen und re-
glementieren würde; diesen Anspruch hat sie schon seit Beginn der
Neuzeit schrittweise zurücknehmen und dann abgeben müssen. Wohl
aber ist sie nach wie vor die Wissenschaft, die die transempirischen Be-
dingungen der Einheit der Welt und des Wissens erforscht und im Ein-
klang mit dem jeweiligen Stand der Einzelwissenschaften formuliert.
Die Skizze des Gesamtplans von 1878 58 bestätigt diese Deutung: Nach
einer historischen Einleitung, die der Entkräftung der traditionellen
Metaphysik und ihrer Überführung in Dialektik gewidmet sein sollte,
beginnt die systematische Untersuchung der Dialektik der Natur mit der
allgemeinen Theorie der Dialektik als Wissenschaft des Gesamtzusam-
menhangs, und dies ist ihr Hauptstück. Das Programm ist, in der titel-
haften Vorbemerkung des Kapitelentwurfs, der unter der Überschrift
334 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Dialektik steht, angegeben: Allgemeine Natur der Dialektik als Wissenschaft


/IOn den Zusammenhängen im Gegensatz zur Metaphysik Zu enhJ!icke!n. 59 Auch
das Kapitel Grundformen der BeJ/Jegung611 (aus dem wir schon zitiert haben),
gehört in diesen Zusammenhang, wobei die Notiz hinzugenommen
werden sollte: »Metaphysik - Wissenschaft der Dinge - nicht der Bewe-
gungen.«61 Gerade weil die Forschung in den Einzelwissenschaften so
weit fortgeschritten und spezialisiert ist, dass die Fülle ihrer Erkennt-
nisse nicht mehr gesamthaft aufzufassen und unmittelbar als Einheit zu
erfahren ist, bedarf es einer wissenschaftlichen Weltanschauung, wenn die
Wissenschaften nicht in Irrationalismus umschlagen sollen.
»Die Naturforscher mägen sich stellen, wie sie wollen, sie werden
von der Philosophie beherrscht. Es fragt sich nur, ob sie von einer
schlechten Modephilosophie beherrscht werden wollen oder von einer
Form des theoretischen Denkens, die auf der Bekanntschaft mit der
Geschichte des Denkens und mit deren Errungenschaften beruht.
Physik, hüte dich vor Metaphysik, ist ganz richtig, aber in einem
andren Sinn. Die Naturforscher fristen der Philosophie noch ein
Scheinleben, indem sie sich mit den Abfällen der alten Metaphysik be-
helfen. Erst wenn Natur- und Geschichtswissenschaft die Dialektik in
sich aufgenommen, wird all der philosophische Kram - ausser der rei-
nen Lehre vom Denken - überflüssig, verschwindet in der positiven
Wissenschaft.«()2
Genau aus diesem Grunde soll die Dialektik der Natur auch kein
enzyklopädisches Kompendium der Naturwissenschaften sein, son-
dern - auf der Grundlage einer allgemeinen Dialektik als prima philo-
sophia 63 - in »Apen;us über die einzelnen Wissenschaften« ein metho-
dologisches Belegmaterial für den dialektischen Gehalt der natürlichen
Sachverhalte und ihrer Darstellung in den Wissenschaften geben. Al-
lerdings sind solche Streiflichter auf methodologische und ontologi-
sche Probleme in den Wissenschaften nur zu verantworten, wenn der
philosophische Autor sich mit eben diesen Wissenschaften eindring-
lich befasst hat. Die wissenschaftliche Weltanschauung - wie perspek-
tivisch verkürzt sie in jedem einzelnen auch Gestalt gewinnen mag -
entsteht nur auf dem Boden eines enzyklopädischen Wissens, in dem
die aktive Forschung der Disziplinen reflektiert wird. Engels, der ein
unersättlich Lernender war, ist sich dessen wohlbewusst gewesen.
Nicht nur seine eigenen Studien, sondern auch die von ihm gegebenen
Anregungen und Anstösse zielen auf ein sich stetig erweiterndes Cor-
pus des Wissens, »was nur die gesamte Menschheit in ihrer fortschrei-
tenden Entwicklung leisten kann.«64
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 335

Die Relevanz eines so weit gesteckten, auf Totalität der Phä-


nomene gerichteten Forschungsvorhabens für eine marxistische Philo-
sophie liegt auf der Hand. Eine blosse Kritik bestehender Philosophien
und eine Anleitung zu revolutionärem Handeln müssten versagen, blie-
ben sie isoliert bei sich selbst stehen und wüssten nicht den Systemzu-
sammenhang zu klären, in dem die einzelne politische Handlung erst
langfristig ihren revolutionären Stellenwert bekommt. Engels hat den
Grundriss eines Systementwurfs gegeben, aus dem heraus erst eine
zulängliche Strategie gesellschaftsverändernden Verhaltens konzipiert
werden kann. Dieser Grundriss muss als ein Modell verstanden und
benutzt werden. Oft genug ist er auch einfach nur eine Anweisung auf
ein noch zu lösendes Problem - wie die ökologische Problematik heute
zeigt, die aus der Dialektik der Natur eine grundsätzliche Perspektive
erhält. 65
Insofern Engels die Frage nach der Fundierung und Konstitution
von Sachverhalten universal stellt, stösst er auf jenen Problembereich,
der in der klassischen Philosophie als Ontologie bezeichnet wird. So
widerlegt Engels, eindeutig von Marx bestärkt, jene Eiferer, die aus
praktizistischen oder kritizistischen Erwägungen die Möglichkeit einer
marxistischen Ontologie leugnen und Ansätze dazu verteufeln wollen.
Wohl hat Engels gesagt, dass die Philosophie, so wie sie einst bestand,
sich in die Einzelwissenschaften auflösen werde; da die Einzelwissen-
schaften aber nie die Totalität konstruieren können, wird sie im inter-
disziplinären Zwischenraum als Grundlegungswissenschaft in der Ein-
heit von Logik, Erkenntnistheorie und Ontologie wiedererstehen.
Dass Engels diese Perspektive deutlich gewesen ist, scheint mir aus
jenen Positionen seines Werks hervorzugehen, in denen er die Konsti-
tution eines übersummativen Ganzen des \X'issens anspricht. Dennoch
bleibt nicht zu verkennen, dass er, der der kritischen (ideologiekriti-
schen, aber darin immer auch enthalten: erkenntniskritischen) Inten-
tion, wie sie in Feuerbachs Hegel-Kritik und in den Frühschriften von
Marx und Engels Ausdruck findet, verpflichtet war, peinlich darauf be-
dacht blieb, eine dogmatische Verfestigung eines solchen Ganzheits-
entwurfs zu vermeiden, indem er ihn an die Faktizität (und damit auch
an die historische Relativität) der Wissenschaften band. Was Engels an
der Philosophie erhalten wollte, war eben jene Bewegung des vernünf-
tigen Denkens, die Hegel als die Methode der dialektisch-spekulativen
Philosophie gegen die Fixierungen des Verstandes in Gang gesetzt
hatte. Um die Fortbestimmung des Begriffs zu gewährleisten, nahm
Engels die Funktionen der Philosophie aus den Bereichen, die zuvor
336 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

zur speziellen Metaphysik gehörten (Kosmologie, Psychologie, politi-


sche und Moralphilosophie) in die Einzelwissenschaften und deren
Selbstreflexion zurück. Das konnte so scheinen, als verliere die Philo-
sophie ihren Gegenstand - die Welt als Welt, das Seiende als Seiendes -
und werde durch die Wissenschaften ersetif. Tatsächlich aber wurde
die Philosophie in ihrem Prolembestand, der ihr als genuin philoso-
phischer zugehört, bestätigt: Konstruktion von Totalität, Begründung
von Erkenntnis, Konstitution von Sinn (und also eines Systems der
Zwecke) - also als Ontologie der Welt, des Wissens und der Praxis.

3. Gesamtzusammenhang und Dialektik der Natur

Diese Ontologie ist eine geschichtliche - das heisst sie denkt ihren Ge-
genstand als veränderlich, sich verändernd in der Wechselwirkung auf-
einander einwirkender Kräfte. Auf jeder Stufe der Organisation der
Materie realisiert sich diese Bewegtheit in spezifischen Modi->Bewe-
gungsformen<, und zwischen den Stufen gibt es Übergänge und quali-
tative Sprünge. In der Skizze des Gesamtplans zur Dialektik der Natur
erscheint die empirische Seite dieser ontologisch apriorischen Kon-
struktion des Zusammenhangs aller unter dem Stichwort »Apen;us
über die einzelnen Wissenschaften und deren dialektischen Inhalt.«66
Engels ist meist ein genauer Formulierer. Wenn er »Apen;:us« sagt,
dann meint er keine durchgebildete Theorie. Ein Apen;u ist ein auf
eine Pointe zugespitzter Einfall, etwas en passant Aufgelesenes. Der
naturwissenschaftliche Gehalt dieser Apen;us wird also von Engels
selbst charakterisiert als zufällig, illustrativ, einen zeitgebundenen Wis-
sensstand betreffend, evtl. auch nur einen Aspekt, vielleicht bloss eine
Analogie. Die Punkte 1-4 der Skizze dagegen bezeichnen die >Haupt-
sache<, die Überwindung der mit metaphysischen Fixierungen arbei-
tenden Naturphilosophie durch die Dialektik und die Konstruktion
eines Weltbegriffs; die Punkte 6-11 markieren dann Einsatzstellen
einer Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der zeitgenössi-
schen Wissenschaften.
Wenn Engels also die Dialektik als »Wissenschaft des Gesamtzu-
sammenhangs« bezeichnet67 , so hat er damit die notwendig über jede
Rekonstruktion bestimmter Zusammenhänge, die wir in der Beobach-
tung von natürlichen oder geschichtlich-gesellschaftlichen) Prozessen
als nexus rerulJl feststellen, hinausgehende Konstruktion des Horizontes
von Totalität als wesentliches Moment dialektischen Denkens heraus-
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 337

gestellt. Dialektik ist in diesem Sinne das universelle Verfahren der Ver-
knüpfung von Sachverhalten, Gegenstandsbereichen und Teilsystemen
der Welt unter dem Gesichtspunkt, dass jedes mit allen zusammen-
hängt. »Die Beziehungen jedes Dinges (jeder Erscheinung etc.) sind
nicht nur mannigfaltig, sondern allgemein, universell. Jedes Ding (Er-
scheinung, Prozess etc.) ist mitjedelJl verbunden«, schreibt Lenin ganz
in Übereinstimmung mit Engels. 68
Universeller Gegenstand der Dialektik ist demgemäss die Natur,
die Welt als W1?lt, die Einheit des Mannigfaltigen, und der Mensch mit
seiner Geschichte ist ein - obschon wenigstens für ihn selbst ausneh-
mend besonderes - Moment der Natur. Der Gesamtzusammenhang
der Welt ist aber ein solcher in der Zeit, schliesst also eine Geschichte
der Natur ebenso wie die des Menschen ein. Hans Jörg Rheinberger hat
die daraus resultierende Aufgabe formuliert, die wir in Engels' Dialek-
tik der lVatur immer wieder benannt finden: »Die Rekonstruktion der
materialistischen Dialektik als >Wissenschaft des Gesamtzusammen-
hangs< steht, will sie diesen nicht aus Prinzipien deduzieren, vor dem
doppelten Problem, den Ort der Vermittlung dieses Zusammenhangs
selbst als historisches Entwicklungsresultat und die wissenschaftliche
Vermittlung selbst als historisch gewordenes Moment desselben dar-
zustellen.«69
Der Ort der Vermittlung des Gesamtzusammenhangs kann, sofern
er nicht metaphysisch global als die Welt im ganzen intuitiv geschaut
und damit seiner wissenschaftlichen Darstellung enthoben wird, nur in
der universellen Vermitteltheit des Singulären bestimmt werden; das
macht gerade die dialektische Verfassung der Vermittlung aus, dass sie
selbst stets und in jedem Augenblick das Ganze ist, aber immer nur als
Vermitteltheit des Einzelnen erscheint - ein Sachverhalt, den Leibniz
unter dem Titel der repraesentatio lJlundi in der Monade, Hegel als die
vermittelte Unmittelbarkeit des Anfangs oder das An-und-für-sich-sein
des Begriffs gedacht haben; beide fassen das Verhältnis des Einzelnen
zur Totalität als ein spekulatives, dergestalt dass die Einzelmonade ein
»Spiegel der ganzen Welt« und der Begriff die »Reflexion in seinen
Grund« ist. Nichts anderes besagt der Satz, dass in der Vermitteltheit
des Einzelnen die Vermittlung als der Prozess der Welt im ganzen er-
scheint und dass darin (um Rheinbergers Formulierung noch einmal
aufzugreifen) »der Ort der Vermittlung dieses Zusammenhangs selbst
als historisches Entwicklungsresultat« erkennbar wird. So wird Natur
als die Totalität der Relationen, in die ihre Elemente eingehen, zum
Prozess, den Hegel »die dialektische Bewegung der Substanz« nennt. 70
338 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus

Daran knüpft Peter Ruben an, wenn er die Einsicht in die Geschicht-
lichkeit der Natur als Voraussetzung für den Entwurf einer Dialektik
der Natur postuliert: »Man kann ohne Zweifel behaupten, dass mit der
Frage, ob die Natur eine Geschichte habe, der Sinn einer Dialektik der
Natur steht und fällt. Denn es ist ganz unbestreitbar, dass die Dialektik
nur als allgemeiner Ausdruck der HistoriZität der objektiven Realität be-
deutungsvoll ist. >Dialektisch< und >geschichtlich< sind Ausdrücke für
Momente ein und desselben Sachverhalts. Dialektik ist das Allgemeine
der Geschichte; Geschichte ist die unmittelbare Wirklichkeit der Dia-
lektik.«7)