III
Die Ausarbeitung der Dialektik
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart . Weimar
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Einleitung
445 Anmerkungen
529 Namenregister
Abkürzungen
Der MEW wurde der Vorzug vor der MEGA gegeben, weil diese Aus-
gabe allgemein zugänglich ist. Zudem ist die MEGA-Edition zur Zeit
der Abfassung dieses Werks noch nicht abgeschlossen.
Weitere Abkürzungen, von denen in einzelnen Kapiteln Gebrauch
gemacht wird, sind beim ersten Zitieren des betreffenden Werks nach-
gewiesen. Die Anmerkungen sind für jedes Kapitel gesondert nume-
riert; entsprechend werden in jedem Kapitel beim ersten Zitieren eines
Werks die bibliographischen Angaben aufs neue voll angegeben.
Einleitung
Philosophie nicht mehr nur als Interpretation der Welt betrieben wird
(deren Ergebnis dann durchaus zu einem Instrument im Handeln zur Ver-
änderung der Welt werden konnte), sondern ihr eigenes Tun als Weltver-
änderung begreift, indem sie sich selbst als Theorie in ein Verhältnis der
Theorie zu der sie übergreifenden Praxis setzt. 5 Wenn dieser Bruch auch
erst von der nachhegeIschen Philosophie ausdrücklich vollzogen wurde,
so ist er doch in der Theoriestruktur des HegeIschen Philosophierens
schon angelegt6 und bestimmt dessen Systemcharakter.
Hegels Philosophie, auf deren systematisch abgeschlossene Ge-
stalt wir heute immer noch mit Ratlosigkeit und oft genug mir Unbe-
hagen zurückblicken, ist die am meisten entwickelte und ausgearbei-
tete Form dessen, was wir »spekulative Philosophie« nennen; und ob
das ein Ruhmestitel oder ein Schimpfwort sei, scheint auch noch kei-
neswegs ausgemacht. Im späteren 19. und 20. Jahrhundert erfuhr sie
von ganz entgegengesetzten Seiten schärfste Kritik, ja Verdammung.
Einmal durch Positivismus und Empirismus, mit dem Argument, er-
fahrungsüberschreitende Aussagen über die Welt im ganzen seien un-
zulässig und produzierten nur Scheinprobleme der Philosophie; die
ungeheuere Erweiterung der Einzelwissenschaften und ihre zur Un-
überschaubarkeit sich ausbreitende Spezialisierung geben den Grund
für diese Hegel-Kritik ab. Der andere Einwand kommt vom Marxis-
mus und richtet sich gegen Hegels Idealismus, der die Totalität von
Welt als »Idee«, das aktive Prinzip dieser geschichtlich bewegten Welt
als »absoluten Geist« fasst; so wird die Darstellung des Weltprozesses
zur Selbstentfaltung des Begriffs des Geistes. Marx nennt es einen
»Fehler bei HegeI«, dass der »Gegenstand als Gedankenwesen«, das
Subjekt immer als »Bewusstsein oder Selbstbewusstsein« erscheine 7 ;
die Wirklichkeit, um die es gehe, bestehe jedoch in den materiellen Ver-
hältnissen, innerhalb derer das Bewusstsein von ihnen und die Gedan-
ken über sie allererst auftreten. Dieser Rekurs auf die materiellen Ver-
hältnisse sprengt allerdings die deduktive Notwendigkeit eines die
Totalität abbildenden Systems der Begriffe, das sich als solches immer
geschlossen darstellen muss; denn die unendliche Kette der Bedingun-
gen für jedes Einzelseiende und die prinzipielle Verlängerbarkeit jeder
Gegenwart in die Zukunft gestatten keinen Abschluss des Ganzen und
lassen zum mindesten für den endlichen Verstand die Einzeltatsache
kontingent erscheinen.
Die positivistische Hegel-Kritik braucht uns hier nicht zu beschäf-
tigen. Das Elend der Zersplitterung des wissenschaftlichen Einzelwis-
sens, das sich nicht mehr zur Einheit eines Weltbilds zusammenfügt,
Einleitung 3
volution«. Darum ist jede Rede über Dialektik politisch, auch wenn es
sich scheinbar »nur« um Begriffsstrukturen handelt.
Marx hatte diese Dialektik von Philosophie und Politik bei Hegel
begriffen. Er schreibt in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten,
Hegel habe »den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Be-
wegung der Geschichte gefunden«; und er fügt hinzu, seine Gegen-
stände seien aber nur »Gedankenwesen - daher bloss eine Entfrem-
dung des reinen, d.i. abstrakten philosophischen Denkens.«13 Indem die
»Gedankenwesen« dem Denken als von ihm unabhängige Wesenheiten
(»mit der Anmassung der Wirklichkeit<0 entgegentreten, verkehrt sich
in ihnen, die doch als Inhalte des Denkens nur Abbilder der äusseren
Wirklichkeit sind, diese äussere, materielle Wirklichkeit in eine ideelle,
die sich im spekulativen Denken offenbart. Die Wahrheit des spekula-
tiven Denkens liegt, nach der Deutung von Marx, gerade darin, dass es
als Verselbständigung des »Gedankenwesens« erkennbar wird und
damit durch Umkehrung wieder als Repräsentation der materiellen
Wirklichkeit aufgefasst werden kann.
Die materielle Wirklichkeit, um die es Marx geht und die er durch
Umkehrung in Hegels System der Begriffe wiederfinden will, ist die
ausgedehnte Mannigfaltigkeit der Natur und die »Betätigung des Men-
schen als eines wirklichen Gattungswesens«, die bei Hegel nur als »gei-
stige Momente« vorkommen l 4, weil sie als Inhalte des Wissens zu Ge-
genständen der Philosophie geworden sind. Dies ist für die von Marx
und Lenin vorgeschlagene Lesart der Hegeischen Philosophie, ihre
materialistische Umkehrung, von entscheidender Bedeutung. Denn
diese Lesart geht darauf aus, das »System der Wissenschaft« wieder in
Beziehung zu dem zu setzen, wovon die Wissenschaft systematisches
Wissen ist. Und das kann nur die im Wissen gewusste Wirklichkeit sein.
Werden Natur und Geist als Inhalte der Wissenschaften gefasst, so
sind sie der Philosophie nur als System der Begriffe von den wirklichen
natürlichen und geistigen Sachverhalten gegeben. Indem die Philoso-
phie die Erkenntnisbewegung der Wissenschaften in die Selbstbewe-
gung der Begriffe übersetzt, bewirkt sie zweierlei: Erstens kann sie die
Kontingenz des Erfahrungswissens in die Notwendigkeit der Selbstbe-
stimmung des Begriffs aufheben, und zweitens vermag sie die unend-
liche Gegenstandsfülle der Welt und den ihr entsprechenden unendli-
chen Erkenntnisprogress in einem endlichen System von Begriffen
modellhaft abzubilden. Sie zahlt dafür den Preis, dies nur in
objektiv-idealistischer Form leisten zu können, die darin besteht, die
Wirklichkeit als Geist aufzufassen.
6 Einleitung
dert, die aber nur dies sind, in die eine Idee, in ihre Wahrheit zurück-
zugehen. Aus diesem Urteil ist es, dass die Idee zunächst nur die eine, all-
gemeine Substanz ist, aber ihre entwickelte, wahrhafte Wirklichkeit ist,
dass sie als Subjekt und so als Geist ist.«18 Die Wissenschaftlichkeit des
philosophischen Begriffs (seine »Dialektizität«, indem er an sich selbst
die unterschiedene Einheit von Idee und Natur denkt) schlägt um in
die Idealität des Absoluten. Gerade an diesem Umschlag aber wird die
Einheit von Methode und System Hegels sichtbar. Hier stellt sich das
Problem seiner materialistischen Lesart.
Die Frage nach einer materialistischen Lesart Hegels ist nicht will-
kürlich. Sie hat einen historischen und einen systematischen Grund.
Historisch stellt sie sich unausweichlich im Hinblick auf die Weiterent-
wicklung der Dialektik nach HegeI: Feuerbach und der junge Marx
haben ihre Hegel-Rezeption und -Kritik so aufgebaut, dass sie einen
materiellen Wirklichkeitsgehalt - die sinnliche Wirklichkeit bei Feuer-
bach, die materiellen Verhältnisse bei Marx - in der Gestalt der speku-
lativen Denkformen aufdecken wollten, der spätere Marx und Lenin
haben daraus das Programm abgeleitet, Hegel »vom Kopf auf die
Füsse zu stellen«.
Nun kann aber auch aus systematischen Gründen kein philosophisch
reflektierter Materialismus darauf verzichten, die Frage nach dem »Ge-
samtzusammenhang« (Engels) zu stellen, der doch nie als Gegenstand
unserer stets endlichen (sinnlichen oder praktischen) Erfahrung gege-
ben sein kann, sondern immer nur als Idee konstruiert wird. Indessen
gibt es keine Erfahrung von Teilen (und des Weiterschreitens von Teil zu
Teil), in die nicht die Idee des Ganzen als Horizont jedes bestimmten
Einzelnen oder jedes Weltsegments ausdrücklich oder unausdrücklich
einginge. Weil das reflektierende und konstruierende Denken immer die
Möglichkeiten und Grenzen der Erfahrung und des natürlichen Be-
wusstseins überschreitet und das Absolute oder Unendliche oder die
Totalität der Welt nur als Ergebnis des Denkens konstituiert oder »sich
gibt«19, ist jede Philosophie, die diese ihr genuinen Gegenstände zum
Inhalt hat, eo ipso und unausweichlich idealistisch: Ihre Gegenstände er-
scheinen ihr als Inhalt und nur als Inhalt des Denkens; und daran ändert
es nichts, wenn diesen Gegenständen der Name »Materie« beigelegt wird
und sie gar mit materiellen Qualitäten ausgestattet werden; denn auch
dies sind Inhalte des Denkens. Hegels Konstruktion der absoluten Idee
ist also auch für den Materialismus nicht einfach ein obsoletes Requisit
idealistischer Philosophie, sondern ein unter materialistischen Intentio-
nen zu bedenkender Problemlösungsansatz.
8 Einleitung
Band stellt das werdende Wissen dar. Die Phänomenologie (...) fasst die
verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges in sich, durch
welchen er reines Wissen oder absoluter Geist wird (...) Ein i}Veiter Band
wird das System der Logik als spekulativer Philosophie und die zwei
übrigen Teile der Philosophie, die Wissenschaften der Natur und des Gei-
stes enthalten.« Der so konzipierte Entwicklungszusammenhang, der
von der sinnlichen Gewissheit zum absoluten Wissen führt und von da
zur Wissenschaft der Logik übergeht (der sich dann die Realphiloso-
phie der Natur- und Geisteswissenschaften anschliessen sollten), re-
präsentiert die Deduktion der Systematik der Wissenschaften. Er geht
deshalb von jenen Anschauungsgehalten aus, die uns als erste vor jeder
wissenschaftlichen Organisation unseres Wissens gegeben sind, und
zeigt, welche Erfahrungen das Denken mit diesen seinen ersten Inhal-
ten macht, es wird dargestellt, wie das Denken, das sich auf sich selbst
richtet, d. h. seine eigene Tätigkeit reflektiert, über den jeweils erreich-
ten Reflexionsstand hinaus fortgetrieben wird, bis es sich selbst ganz
und gar als inhaltlich erfülltes begreift. »Das Ziel, das absolute Wissen,
oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinne-
rung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation
ihres Reiches vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres
freien, in der Form der Zufalligkeit erscheinenden Daseins ist die Ge-
schichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wis-
senschaft des erscheinenden Wissens.«21 An dieser Stelle entspringt die
Logik als die Wissenschaft von der begrifflichen Gestalt des Wissens,
mithin als Grundlage der Wissenschaften von Natur und Geist. 22
1. Hauptstück
Hegels Entwurf
der Systematisierung der Dialektik
1. Kapitel:
Die ontologische Inversion
Mit dem ausgereiften Werk Hegels - also mit dem Dreischritt von
Phänomenologie des Geistes, Wissenschaft der Logik und En?Jklopädie der phi-
losophischen Wissenschaften - tritt die Entwicklungsgeschichte des dialek-
tischen Denkens auf eine neue Stufe. Hatten sich bis dahin dialektische
Denkfiguren als spezielle methodische Antworten auf systematische
Probleme der Philosophie ausgebildet - mit den grossen Entwick-
lungsschüben in den Werken des späten Platon, des Neuplatonismus
(vor allem Plotins und Proklos'), des Nicolaus Cusanus, Leibniz' und
schliesslich des deutschen Idealismus von Kant über Fichte zu Schel-
ling -, so nimmt nun bei Hegel die Dialektik zum erstenmal die Gestalt
einer konstruktiv durchgeführten, aus der Natur des Begriffs = Natur
der Sache begründeten logisch-ontologischen Systematik an, in der die
bisher in der Geschichte der Philosophie ausgearbeiteten Elemente der
Dialektik aufgenommen werden und in ihrem Zusammenhang inte-
griert sind. In diesem Sinne ist Hegels Philosophie der Abschluss einer
mehr als zweitausendjährigen Entwicklung und die Erschliessung eines
neu bestimmten Feldes der Philosophie (so wie dies in einer anderen
Hinsicht die kalkulatorische Formalisierung der Logik erreicht hat).
Die so zur Systemgestalt gewordene Dialektik beansprucht, an die
Stelle der alten Metaphysik zu treten und deren Erbe zu sein. Die
höchst entwickelte und selbst schon durch und durch dialektische Me-
taphysik von Leibniz, als Entwurf eines Strukturmodells von Welt, ist
sozusagen die »Kunstform«, die der \X!issenschaftsförmigkeit des He-
gels ehen Systems entspricht und ein Modell entwirft, wo Hegel den
Gipfel der Theorie in der Transparenz einer Konstruktionsmethode
findet. Gerade weil die letzte Stufe der vorkantischen Metaphysik bei
Leibniz in vielen Aspekten und in ihrer inneren Architektur in grosser
Nähe, wenn auch wohl definiertem Unterschied zu Hegels Systement-
wurf steht, musste es Hegels systematisches Interesse sein, den Bruch
seiner Philosophie mit der »alten Metaphysik« deutlich zu machen, also
die Übergangsstellen zu einer neuen Denkweise eher zu durchschnei-
14 Hegels Entwurf der S)'stematisierung der Dialektik
den, als die Vermittlungen hervorzuheben. Dies umso mehr, als die
Übergänge von »metaphysischer« zu »dialektischer« Denkweise! in der
alten Metaphysik im wesentlichen durch Probleme induziert werden, die
mit der Einheit und Vielheit der Natur, mit der Bewegtheit der Natur-
seienden und dem Verhältnis von Sein und Bewegung überhaupt und
mit der Ausarbeitung eines spekulativen Weltbegriffs zusammenhän-
gen 2. So war die klassische Metaphysik seit Aristoteles sei es am Seins-,
sei es am Substanzproblem orientiert\ während es nach der transzen-
dentalen Wende kaum mehr anders möglich war, als metaphysische Pro-
bleme unter der Perspektive der Subjektivität zu stellen 4 und die Ge-
schichtlichkeit der Welt primär nicht mehr unter der Form der
Naturgeschichte, sondern der Geschichte der menschlichen Gattung
und der Entfaltung der Wesens bestimmungen der Subjektivität, also als
Geschichte der Vernunft und der Freiheit darzustellen 5. Mit der politisch
hervorgetretenen, aber wesensphilosophisch begründeten Beziehung
der Vernunft auf Freiheit - der eigentlichen metaphysischen Leistung
der Aufklärung - war die ontologische Frage entstanden, wie das Abso-
lute selbst oder die oberste Vernunfteinheit, in der alles umfasst und
ein-gebildet sein soll, zugleich als frei, das heisst auf noch unentschie-
dene Möglichkeiten bezogen sein könne und also in seinem innersten
Wesen zeitlich sein müsse. Die Metaphysik des Absoluten musste in Ge-
schichtsphilosophie transformiert, ihre wesentlichen Erscheinungsfor-
men mussten in der Philosophie des Politischen und des Staats (des »Ob-
jektiven Geistes«) dargestellt werden. Diese Wende von der Metaphysik
zur Geschichtsphilosophie hat Hegel vollzogen - auf der Basis der po-
litischen Erfahrungen seiner Gegenwart, das heisst der Epoche der
Französischen Revolution, der Institutionalisierung der bürgerlichen
Gesellschaft als Staatsform und der damit zugleich verbundenen wider-
sprüchlichen Doppelbewegung von Restauration und Fortschritt6 •
Damit wird Hegels Philosophie seit der Antike das erste durchge-
bildete System, in dem Metaphysik und Politik nicht nur äusserlich mit-
einander verbunden oder allenfalls als wesentlich korrelierende Glieder
einer durch das Weltverhältnis des Menschen bestimmten Wirklichkeit
gedacht werden, sondern von Grund auf eine und dieselbe kategoriale
Gestalt haben, für welche (wie sich zeigen wird) Hegel den Terminus
Geist fruchtbar mache. Es möchte scheinen, dass Hegel die Idee der
griechischen Polis (oder in anderer Weise auch der römischen Repu-
blik) wieder aufnahm, in welchen Formen der organisierten Gesell-
schaft sich das Individuum als Polisbürger (oder civis Romanus) ver-
wirklichte und so an der allgemeinen Vernunft teilhatte, indem es sie
Die ontologische Inversion 15
meinheit des Zwecks nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Be-
sonderheit, die ihr Recht behalten muss, fortschreiten kann«14. Freiheit
wird also zugleich als Daseinsmodus des Vernünftig-Allgemeinen und
als »Besonderung des Ich« im »Setzen seiner selbst als eines bestimm-
ten«15 begriffen, und ihr eigentliches Sein ist nicht das eine noch das an-
dere, sondern« die Vermittlung des Besonderen durch das Allgemeine
als dialektische Bewegung«16. In dieser Charakterisierung erweist sich
der neuzeitliche Begriff von Politik als aus demselben Zentrum konsti-
tuiert wie der neuzeitliche Begriff von Metaphysik (die seit Descartes
über dem Struktur modell des Selbstverhältnisses konstruiert ist und also
auf Freiheit als den Daseinsmodus der Selbstgründung und Selbstbe-
gründung rekurriert, welche ihrerseits nur in der Konstitution und durch
die Realisierung des Vernünftig- Allgemeinen sind, was sie sind 17 . Als
Aufgabe einer Philosophie, die diesen Doppelaspekt von Freiheit be-
greifen und handlungsfähig machen will, nennt Dieter Henrich die Ent-
faltung »einer Weise des Verstehens«, »in der das Bewusstsein es vermag,
sich selber und zugleich seine Bedingtheit zu erfahren und sich denkend
über sie zu verständigen.«18
Das eben ist der Standpunkt der neueren Philosophie - oder, wie
Hegel sagt, »der Standpunkt des philosophischen Bewusstseins über-
haupt«19; jener Philosophie also, die in der durch die Erfahrungen der
cartesischen Fundierung der Weltgewissheit im cogito und später der
transzendentalen Reflexion Kants hindurchgegangenen und transfor-
mierten Metaphysik sich manifestiert. »Wie aber die subjektive Freiheit
aufkommt und der Mensch aus der äusseren Wirklichkeit in seinen
Geist heruntersteigt, so tritt der Gegensatz der Reflexion ein, welcher
in sich die Negation der Wirklichkeit enthält«2o (was bedeutet, dass die
planmässige Umgestaltung der Wirklichkeit nach Zwecken dadurch
freigesetzt wird). Das Bewusstsein dieser reflexiven Negation der
Wirklichkeit ist das Selbstbewusstsein als Freiheit - Befreiung von der
Notwendigkeit durch Einsicht in die Notwendigkeit und die in ihr lie-
genden Möglichkeiten. Die Formulierung des Weltverhältnisses in der
Reflexion als Selbstverhältnis ist - und das ist der politische Sinn der
Metaphysik, der metaphysische Sinn der Politik - die Verwirklichung
der Autonomie des Menschen, die innere Freiheit des Bewusstseins der
Freiheit als Bedingung der Möglichkeit seiner äusseren Freiheit: »Es ist
also als die Bestimmung der geistigen Welt (...) als der End:vveck der Welt
das Bewusstseins des Geistes von seiner Freiheit und eben damit die
Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt angegeben worden.«21 Dies ist
eine wichtige Einsicht Hegels: dass die wirkliche Freiheit, also die poli-
Die ontologische Inversion 17
tische, nicht ohne das Bewusstsein der Freiheit, also das Philoso-
phischwerden der Politik, erlangt werden kann.
Zu diesem Dasein-in-der-Reflexion führt der Lauf der Weltge-
schichte 22 : »Die Weltgeschichte ist nichts als die Entwicklung des Be-
griffs der Freiheit. Die objektive Freiheit aber, die Gesetze der reellen
Freiheit fordern die Unterwerfung des zufälligen Willens, denn dieser
ist überhaupt formell« - hier wird die politische Freiheit wieder von
einem metaphysischen Begriff der Welt her gedacht -. »Wenn das Ob-
jektive an sich vernünftig ist, so muss die Einsicht dieser Vernunft ent-
sprechend sein, und dann ist auch das wesentliche Moment der sub-
jektiven Freiheit vorhanden«23 - nämlich die Selbstbestimmung aus
Vernunftgründen. Dieser Weg hat eine einsinnige Richtung, der Fort-
gang auf ihm ist irreversibel. Ist erst einmal eine notwendige Bestim-
mung der Freiheit im Gedanken gefasst, so kann dieser Stand der
Menschheit (status humanitatis, wie es bei Thomasius hiess) ideell nicht
mehr verlassen, wenn auch wohl faktisch unterdrückt werden. (Das ist
die Differenz zwischen Metaphysik und Politik). Daher ist die neuere
Philosophie - das »Projekt Moderne«, wie es heute modisch heisst -
keine zufällige und austauschbare Theorie des menschlichen Welt-
verhältnisses, sondern das notwendige Resultat des Fortschritts im
Bewusstsein der Freiheit als des geistigen Gehalts der Weltgeschichte.
Darum kann Hegel sagen: »Euro pa ist schlechthin das Ende der Welt-
geschichte«. Das bedeutet: »Der Orient wusste und weiss nur, dass
Einer frei ist, die griechische und römische Welt, dass Einige frei seien,
die germanische Welt weiss, dass Alle frei sind.«24 Im Dreischritt von
der orientalischen Welt über die europäische Antike der griechischen
Poleis und der römischen Republik bis zur christlich-germanischen
Welt, die in der Französischen Revolution gipfelt, verwirklicht sich die
Freiheit als der Zustand der Selbstbestimmung des Menschen durch
das Recht. Metaphysik, Geschichtsphilosophie und Politik erweisen
sich als Aspekte ein und desselben Verhältnisses - des Reflexionsver-
hältnisses von Wirklichkeit und Begriff, des Selbstverhältnisses des
Menschen als Ins-Lieht-treten dieses Reflexionsverhältnisses. 25
pologie, die im 17. Jahrhundert ihren Ursprung hat. Der Staat, der Frei-
heit verwirklicht, ist der Staat, der die Vernunftanlage des Menschen
zur vollen Entfaltung bringt und die Bedingungen für ihre Anwendung
schafft. Schon Leibniz fordert, es »wäre der Herr schuldig, seines
Knechtes Freiheit durch Erziehung zu befördern«2G. Karrt hat diesen
Gedanken dahin erweitert, in der geschichtlichen Entwicklung eine all-
gemeine Wesens- (Natur-)Gesetzlichkeit sehen zu wollen: »Alle Natur-
anlagen eines Geschöpfs sind bestimmt, sich einmal vollständig und
zweckmässig auszuwickeln«27. Und dieser Gedanke wird ergänzt: »Man
kann die Geschichte der Menschengattung im grossen als die Vollzie-
hung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich-
und, zu diesem Zwecke, auch äusserlich-vollkommene Staatsverfas-
sung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle
ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann«28. Womit Kant
noch näher an Hegel heranrückt, ist die Einsicht, dass die Idee eines
solchen Vernunftzwecks der Natur dem Hervortreten dieses Zwecks
selbst förderlich sei, dass also die Menschen für die Verwirklichung
ihres Wesens selbst verantwortlich sind, indem sie sich reflexiv zu sich
selbst verhalten. Herder war es dann, der die Geschichte der Erziehung
oder Entwicklung des Menschengeschlechts auf jenen Punkt bezog,
wo der höchste Stand der Kultur, das heisst für ihn der Humanität, Ver-
nunft und Freiheit, erreicht wurde: Europa, wo »der Stand der Wissen-
schaft, der nützlichen Tätigkeit, des wetteifernden Kunstfleisses« sich
»zu einer Humanität und Vernunft verbanden, die mit der Zeit den
Erdball umfasste.«29
Das humanistische Pathos der Herderschen Geschichtsauffassung
steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem Selbstgefühl, mit dem
hier der Vorrang Europas aus seiner zivilisatorischen Überlegenheit
abgeleitet und begründet wird. Die historische Faktizität wird gleich-
sam als Rechtsgrund für den »Rang, der ihm damit vor anderen Völ-
kern gebührt«3o, in Anspruch genommen. Die metaphysische Qualität,
das Gattungswesen am weitesten herausgebildet zu haben, erscheint
ganz naiv als politische Qualität. Erst Hegel hat den verschiedenen
Formen der Entwicklung des Selbstbewusstseins der Menschheit jene
Selbständigkeit gegeben, die sie »zu Momenten des einen Geistes, zu
dem einen und demselben gegenwärtigen Geiste macht«. Diese Geister
sind, sagt er, »der Organismus unserer Substanz.«3!
Die Sonderstellung Europas an der Spitze des »Fortschritts im Be-
wusstsein der Freiheit« wird damit einerseits philosophisch legiti-
miert: Hier hat sich nämlich im Herzen der metaphysischen Systema-
Die ontologische Inversion 19
Identität nur ein Moment ist). Die Entfaltung dieser Differenz, die
Hegel dann in der Logik in der Analyse der Reflexion vornimmt, er-
schliesst die logische Verfassung eines Seins, das im Selbstsein (der
Identität) zugleich sein Anderssein (die Identität von Identität und
Nicht-Identität) ist. Das ist das Wesen der Zeit. Das »Eins ist, es ist un-
mittelbar; denn seine Sichselbstgleichheit ist eben die Unmittelbarkeit; es
ist die Gegenwart. Dies Itzt schliesst schlechthin alles Andere aus sich
aus, es ist schlechthin einfach. Aber diese Einfachheit und sein Sein ist
ebenso das unmittelbar Negative seiner Unmittelbarkeit, scin Aufhe-
ben seiner selbst; die Grenze, welche sich aufhebt, Grenze zu sein, und
ein Anderes ist. (...) Das Itzt ist, dies ist die unmittelbare Bestimmtheit
der Zeit, oder ihre erste Dimension. Halten wir das IVichtsein ihres Seins
fest, gegen sie, die als seiend gesetzt ist, so dass dies Nichtsscin sie auf-
hebe, so setzen wir die Zukunft; es ist ein Anderes, welches das Negieren
dieses Itzt ist; die zweite Dimension.«41
Die Zeitlichkeit als die Grundkategorie des Seins ist gewiss an der
Erfahrung der revolutionären Dynamik der Geschichte gewonnen.
Aber Hegel beschränkt sich nicht darauf, in der Zeitlichkeit die Form-
bestimmtheit der menschlichen Weltgeschichte herauszuarbeiten, son-
dern er subsumiert auch das Sein der Natur unter das Gesetz univer-
seller Bewegtheit, Veränderung, Entwicklung. Die Natur, die er hier im
Blick hat, wird allerdings durch die Naturwissenschaften (so wie er sie
in seiner Zeit kennt) und deren Begriffsbildung nur partiell abgedeckt;
ihr sind auch jene Wirkungsweisen zuzurechnen, die etwa bei Herder
und Goethe, aber auch beim jungen Schelling artikuliert werden. 42 Das
heisst, die Natur - als Totalität der Naturprozesse, als deren Wechsel-
wirkungen, als Hervorbringung aller jener Gestaltungen des natürli-
chen Seins, als deren höchste der Geist hervorgeht - ist Subjekt, so wie
sie Substanz ist. Hegels Naturbegriff ist nicht von der Mechanik, son-
dern von der Biologie her geprägt, wenn cr ihn auch in der Mechanik
seiner Zeit schon aufzufinden sich bemüht. Nicht die Maschine, son-
dern der Organismus ist das Paradigma. Für den Menschen als Natur-
wesen bedeutet das, dass sein Naturverhältnis (in dem er seine blosse
Natürlichkeit überwindet) vermittelt ist durch die grundlegende und
bedingende Schicht der natürlichen Bedürfnisse, die sich fortbilden zu
einem System der Bedürfnisse und darin den materiellen Boden unse-
rer gesellschaftlichen Existenz finden. 43 »Das Dasein, der Umfang der
natürlichen Bedürfnisse, ist im Element des Seins überhaupt eine Menge
von Bedürfnissen; die Dinge, die zu ihrer Befriedigung dienen, werden
I'erarbeitet; ihre allgemeine innere Jl,fiig/ichkeit, als äussere, als rorm gcsetzt.
22 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Dies Verarbeiten aber ist selbst ein Vielfaches; es ist das sich zum Dinge
Machen des Bewusstseins.«44
Hier wird der Ursprung der Gesellschaft und des Geistes aus der
Natur als Geschichtlichkeit der Natur selbst gedacht. In der Vermitt-
lung der Bedürfnisse durch gesellschaftliche Arbeit entspringt »allgemei-
nes, geistiges Sein. Arbeit Aller und für Alle, und Genuss - Genuss Aller;
jeder dient dem Anderen und leistet Hilfe - oder das Individuum hat
hier erst als einzelnes Dasein.«45 Es wird ein Universum der natürlichen
und gesellschaftlichen Zusammenhänge konzipiert, das gemäss einer
allgemeinen Bewegungsform, die sich in die Bewegungsformen der
einzelnen Seinsregionen spezifiziert, organisiert ist. Das ist der meta-
physische Grund, warum die Logik zugleich allgemeine Ontologie sein
kann.
ontisch als ein Selbstunterschied der Natur erscheint; denn der Geist, das
erkennende Bewusstsein und die Geschichte mit allen ihren Objektiva-
tionen (subjektiver und objektiver Geist), ist ein Produkt und Moment
der Natur, wenn auch von ihr unterschieden und ihr entgegengesetzt.
Ontologisch indessen ist diese Einheit ein Selbstunterschied des Geistes;
denn im (geistigen) Wissen ist, reflexiv, der Geist selbst enthalten und
die Natur als das von ihm Unterschiedene und sein Gegensatz; und nur
im Wissen, das heisst im Geiste, ist die Natur als substantielles Ganzes
aller Seienden und ihrer Beziehungen präsent.
Nun ist die »Umkehrung«, die hier statthat, noch radikaler als nur
die Überführung von Sein in Wissen. Man darf sagen, dass jedes Sei-
ende, das einen Gegenstand als seinen Gegenstand »hat«, diesen Gegen-
stand »weiss«, und dieses Wissen kann in sehr verschiedenen Graden
von Deutlichkeit vorliegen. 48 Unterschieden von diesem Wissen ist
aber jenes Wissen, das zugleich darum weiss, dass es einen Gegen-
stand als seinen Gegenstand »hat«, bzw. ihn »weiss.«49 Man könnte, mit
Josef König, die Differenz zwischen beiden Weisen des Wissens als
die zwischen einem äusserlich Wahrgenommenen und einem inner-
lich Wahrgenommenen bezeichnen. 50 Um einen Gegenstand »inner-
lich«, also als wahrgenommenen Gegenstand wahrzunehmen, muss er
zunächst als Gegenstand »äusserlicher« Wahrnehmung gegeben sein.
Ich kann nur wissen, dass ich zum Beispiel meinen Freund Joachim
sehe, wenn ich ihn sehe. Das Wissen um meine Wahrnehmung ist die
letzte Stufe eines Rückmeldevorgangs, auf der ich meiner selbst inne-
werde, indem ich mich als in diesem Augenblick so und so bestimm-
tes Ich vergegenständliche. 51 Die äussere Reflexion, in der ich mir das
Ding als meinen Gegenstand aneigne, schlägt um in die Selbst-Be-
stimmung (die bestimmende Reflexion), in der Ich als diesen oder
jenen Gedanken enthaltend festgestellt wird. Diese Selbst-Bestim-
mung wird bewusst, indem ich das Wahrgenommene als von mir wahr-
genommenes benenne oder aussage. 52 In der Benennung wird der singuläre
Wahrnehmungs inhalt zum allgemeinen Wesen, damit aber auch das
Ich zum allgemeinen oder Gattungswesen. In der Entfaltung seines
Gattungswesens, da heisst in der Vermittlung der Einzelheit zur All-
gemeinheit verwirklicht der Mensch das, was als Geist die wahrhafte
Einheit des Ganzen darstellt. Diesen Umschlag, der in der Phänome-
nologie im absoluten Wissen vollendet ist, hat Hegel seit der letzten
Phase seiner Jenaer Vorlesungen im Blick: »Der absolut freie Geist,
der seine Bestimmungen in sich zurückgenommen, bringt nun eine
andere Welt hervor; eine Welt, welche die Gestalt seiner selbst hat. (...)
Die ontologische Inversion 25
Die Philosophie entäussert sich ihrer selbst - kommt bei ihrem An-
fange, dem unmittelbaren Bewusstsein an - das eben das entzweite
ist. (...) Diese Entzweiung ist das ewige Erschaffen, d. h. das Erschaf-
fen des Begri.ffes des Geistes - (...) sein ist das Tun, diese Bewegung -
er hat sich die Einheit herzustellen - ebenso in Form der Unmittel-
barkeit, er ist die Weltgeschichte.«53
Der Geist, der eine Welt schafft, die die Gestalt seiner selbst hat,
kommt zu sich selbst in der spekulativen Philosophie als »wissendes
Wissen, Geist, Wissen des Geistes von sich.«54 Dieses Wissen enthält
nun ein Doppeltes: Das Wissen des Gegenstandes in der intentio recta
und das Wissen des Wissens vom Gegenstande in der intentio obliqua.
Im reflexiven Wissen ist es jedoch ein und dasselbe Wissen, das sich
selbst und das von ihm unterschiedene Wissen des Gegenstandes über-
greift. Es sind darum nicht nur zwei Weisen des Wissens zu unter-
scheiden, sondern in einer dieser Weisen - nämlich dem reflexiven oder
selbstbewussten Wissen - ist das Wissen im Se/bstunterschied; die zwei
Weisen des Wissens sind in äusserem Unterschied eben zwei gegenein-
ander abhebbare Weisen des Wissens, aber im reflexiven Wissen sind
sie ein innerer Unterschied des reflexiven Wissen selbst. 55
Erst auf dieser Stufe der Betrachtung treten die Differenz und das
Verhältnis von Sein und Denken deutlich zutage. Das reflexive Wissen
- das Bewusstsein, das Denken i. e. S. - seti! sich, will sagen seine Ord-
nung oder Formbestimmtheit, als übergreifend über den Gegenstand,
der als direkt gewusster sein Inhalt ist. 56 Dies ist die Form, unter der al-
lein das Wissen von Sein konstituiert wird. Das Sein aber ist unabhän-
gig davon das Sein der Dinge. »Das Ding ist, es ist nicht im Sein - son-
dern es ist selbst. (...) Sein ist Form der Unmittelbarkeit.«57 So bliebe es
in blosser Anschauung die vorgängige ontische Wirklichkeit. Was in der
Anschauung ist und in dieser Weise gewusst (perzipiert) wird, ist so, wie
es angeschaut wird. Erst im Wissen des Wissens stellt sich die Frage, ob
etwas so ist, wie es angeschaut wird. »Es soll aber in seiner Wahrheit ge-
setzt werden.«58 Im bewussten Verhalten zum gewussten Gegenstand
vollzieht sich die »Umkehrung«, die ich die »ontologische Inversion«
nenne. Das ontische Ansichsein wird als vermittelt begriffen. Dass die-
ser Umschlag sich im Prozess von Arbeit und Sprache vollzieht und
also an eine besondere Bewegungsform der Natur (und dann aus der
Natur heraus in den Geist) gebunden ist, hat Hegel sich in seinen
Jenaer Entwürfen erarbeitet; die Phänomenologie ist die Konsequenz dar-
aus und die erste Systemstufe, die sich aus diesem geklärten Begriff
von Spekulation ergibt.
26 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Dass Hegels »System der Wissenschaft« (so der Obertitel zur Phänome-
nologie des Geistes, die als dessen erster Teil bezeichnet ist), das er später
in der En:v,klopädie der philosophischen Wissenschaften entfaltete, die Kritik
der klassischen Metaphysik einschliesse, ja wesentlich mit zum Inhalt
habe, ist nicht nur weithin die Auffassung der Hegel-Interpreten 1, son-
dern wird auch vielfach bestätigt durch Äusserungen von Hegel selbst,
nicht zuletzt in den §§ 28 - 32 der EniJklopädie und in den program-
matischen Sätzen, die das Aufgehen der herkömmlichen Metaphysik in
der objektiven Logik postulieren. 2 Michael Theunissen 3 hat gar die
These aufgestellt, »der systematische Text der >Logik< präsentiere deren
Gegenstand derart, dass die Entfaltung der Sachverhalte durch ein Po-
stulat angeleitet ist, das die Einheit von Kritik und Darstellung ver-
langt.«4 An dem Verständnis Hegels als eines Kritikers der traditionel-
len Metaphysik sollen hier auch keine Zweifel angemeldet werden.
Dennoch ist Hegels Verhältnis zu Gegenstand und Verfahren der Me-
taphysik toto coelo verschieden von dem Kants, der die Destruktion
der Metaphysik durch Eliminierung ihrer Gegenstände aus dem Be-
reich des Wissbaren vollzogen hatte. 5 Gleichermassen gegen Trans-
zendental- und commonsense-Philosophie ist Hegels Verteidigung der
Metaphysik gerichtet: »Indem so die Wissenschaft und der gemeine
Menschenverstand sich in die Hände arbeiteten, den Untergang der Me-
taphysik zu bewirken, so schien das sonderbare Schauspiel herbeigeführt
zu werden, ein gebildetes Volk ohne Metaph)'Sik zu sehen, - wie einen sonst
mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes.«" Und
Theunissen bemerkt richtig: »Freilich folgt die von ihm betriebene Auf-
hebung der Metaphysik dem Gesetz, das er allen Aufhebungsprozessen
vorschreibt: Sie ist keine Destruktion, sondern Rückführung auf den
Grund.«7 Man könnte daher wohl- mit Blick auf Aristoteles - von einer
Restitution der Metaphysik durch Hegel in neuer (nämlich dialektischer)
30 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Gestalt sprechen und die Metaphysik~Kritik Hegels, - nur als eine sol~
che an der schulphilosophischen Lehrbuchsystematik auffassen.
Indessen bliebe auch diese Deutung noch unzureichend (obschon
sie einen oberflächlichen Teil der Wahrheit ausmacht). Die Aufhebung
der Metaphysik in die objektive Logik hängt aufs engste mit Hegels
Konstruktion des Systems der Wissenschaft (= Philosophie) zusammen
und ist ein Korollar seiner das Herzstück dieser Konstruktion ausma~
chenden Lehre vom Begriff, von der Fortbestimmung des Begriffs,
vom absoluten Begriff. In der Konstruktion der Logik über dem Prin~
zip der Fortbestimmung des Begrifft - vom einfachen Sein bis zur absoluten
Idee -liegt das Neue und im eigentliche Sinne »Moderne« von Hegels
Philosophie. In dieser Konstruktion wird die Transformation der klas~
sischen Metaphysik als der Lehre von den allgemeinsten und obersten
Bestimmungen des Seienden in die Theorie der Einheit von Absolutheit
und Geschichtlichkeit, also in die Dialektik, vorgenommen. In dieser
Transformation bewahrt Hegel die Inhalte der Metaphysik, die Wissen-
schaft der Logik ist selbst Metaphysik, die Metaphysik-Kritik Hegels
selbst metaphysisch, aber erweitert um die Dimension der Geschichte.
Diese Erweiterung findet ihren Ausdruck in der Bestimmung des Ab-
soluten als Geist (im HegeIschen Verständnis), der sich in den verschiede-
nen Weisen des subjektiven Geistes und des objektiven Geistes manife-
stiert. Wir werden die Fülle dieses Begriffs, der eine Chiffre für den
dialektischen Prozess ist, erst als Resultat einer Analyse des HegeIschen
Systems explizieren können. Hier genügt zunächst die Feststellung, dass
in den Weisen des Geistigseins der Selbstunterschied hervortritt, demzu-
folge das, was ist, nur wirklich ist, indem es sich und seine Gegenstände
weiss und gewusst wird. »Das Offenbaren, welches als die abstrakte Idee
unmittelbarer Übergang, Werden der Natur ist, ist als Offenbaren des Gei-
stes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt, ein Setzen, das als Refle-
xion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist.«8
Erst im System der universellen Reflexivität stellt sich die Totalität
der Momente her und ist jedes mit allem vermittelt. Im Begriff wird
diese Totalität gefasst, und der Begriff ist nur Gegenstand des Geistes
und dessen eigentlicher Inhalt. »Der Begriff kann als solcher wesent-
lich nur mit dem Geiste aufgefasst werden, dessen Eigentum nicht nur,
sondern dessen reines Selbst er ist.«9 Dies ist aber nicht so zu deuten,
als gäbe es einen (sozusagen obersten) Geist, der den Begriff aller Be-
griffe in deren inhaltlicher Simultaneität auf einmal präsent hätte. Das
wäre ein mystisches All-Wissen 0>im Nu«, wie es bei Meister Eckhart
heisst). Demgegenüber hält Hegel fest, dass der Geist selbst ein Wer-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 31
den ist: »Der ganze Geist nur ist in der Zeit, und die Gestalten, welche
Gestalten des ganzen Geistes als solchen sind, stellen sich in einer Auf-
einanderfolge dar; denn nur das Ganze hat eigentliche Wirklichkeit und
daher die Form der reinen Freiheit gegen Anderes, die sich als Zeit aus-
drückt.«10 Das Ganze, das sich als Zeit ausdrückt, bringt sich jedoch
hervor in der Zeit, in dem Geschehen, in dem seine Momente einander
ablösen und das Vergangene in der jeweiligen Gegenwart nur er-innert
ist. So ist der Geist wirklich immer nur als Zei~eistund als solcher der In-
begriff des jeweils gegenwärtigen Zustands einer Epoche, das heisst als
der objektive Geist der Inbegriff von deren politisch-gesellschaftlich-
rechtlichen und kulturellen Verwirklichungen; und nur als solcher kann
er philosophisch sein und sich in Metaphysik ausdrücken. 11 »Hegel re-
flektiert nicht allgemein auf die Geschichtlichkeit der Philosophie und
des Geistes überhaupt, er will den gegenwärtigen Vollzug der Meta-
physik bestimmen. Sie kann für ihn dann und nur dann Erkenntnis des
Seins bleiben, wenn sie zugleich Erkenntnis der eigenen Zeit ist.«12
Der Weg von der Logik zur Rechtsphilosophie macht das deutlich. Es ist
nämlich so, »dass Hegel Staat und Gesellschaft in die metaphysische
Theorie einbezieht und sie als Verwirklichung (actualitas) des Seins im
geschichtlichen Dasein versteht.«13 Hegels Kritik der klassischen Me-
taphysik hat als selbst metaphysische eine unaufuebbare politisch-histori-
sche Dimension, die mit seiner Konzeption von der Verwirklichung
des Geistes in weltgeschichtlichen Epochen verknüpft ist. 14
Den Zusammenhang zwischen Metaphysik und Politik hat schon
der junge Hegel unzweideutig ausgesprochen. In einem der Entwürfe
für eine Einleitung zur Verfassungs schrift von 1800 schreibt er: »Alle
Erscheinungen dieser Zeit zeigen, dass die Befriedigung im alten Leben
sich nicht mehr findet; es war eine Beschränkung auf eine ordnungs-
volle Herrschaft über sein Eigentum, ein Beschauen und Genuss seiner
völlig untertänigen kleinen Welt und dann auch eine diese Beschrän-
kung versöhnende Selbstvernichtung und Erhebung im Gedanken an
den Himmel (...) durch Metaphysik erhalten die Beschränkungen ihre
Grenzen und ihre Notwendigkeit im Zusammenhang des Ganzen.«15
Die Herrschaftsverhältnisse im feudalabsolutistischen Staatswesen, die
apolitische ökonomische Selbstgenügsamkeit des Bourgeois, der sich
noch nicht zur Selbstbestimmung des Citoyen durchgekämpft hat, und
die widersprüchliche Apologie dieser Ordnung durch die Religion - in
zugleich diesseitiger Selbstvernichtung und jenseitiger Erhebung - wer-
den diagnostiziert. Die Metaphysik aber als die sinngebende Konstruk-
tion der Totalität aus ersten Prinzipien 16 liefert den Begriff dieser
32 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
dieser Zeit zeigen, dass die Befriedigung im alten Leben sich nicht
mehr findet«. Und nach der Charakterisierung des alten Zustands fährt
Hegel fort: »Einesteils hat die Not der Zeit jenes Eigentum angegrif-
fen, andernteils ihre Geschenke in Luxus die Beschränkung aufgeho-
ben und in beiden Fällen den Menschen zum Herrn gemacht und seine
Macht über die Wirklichkeit zur höchsten. Unter diesem dürren Ver-
standesleben ist auf einer Seite das böse Gewissen, sein Eigentum, Sa-
chen, zum Absoluten zu machen, grösser geworden und damit auf der
anderen Seite das Leiden der Menschen; und kein besseres Leben hat
diese Zeit angehaucht.«21 Die berühmte Stelle aus § 195 der Rechtsphilo-
sophie über die Dialektik von Luxus und Vermehrung der Not - dort
ökonomisch aus der Bewegung des Systems der Bedürfnisse in der bür-
gerlichen Gesellschaft entwickelt - deutet sich hier schon in der ab-
strakten Gegenüberstellung von »einesteils - andernteils« an.
Bleibt in der Frühschrift die Konfrontation der in der politischen
Wirklichkeit auftretenden Gegensätze auch noch abstrakt - das Prinzip
ihrer Vermittlung wird nicht angegeben -, so wird der reale Wider-
spruch der gesellschaftlichen Mächte doch schon durchaus als die
Triebkraft der Entwicklung begriffen. »Das beschränkte Leben als
Macht kann nur dann von Besserem feindlich mit Macht angegriffen
werden, wenn dieses auch zur Macht geworden ist und Gewalt zu
fürchten hat.« Aber als naturwüchsiges Geschehen, als blosser Konflikt
der partikularen Interessen ist dieser Widerspruch noch nicht
geschichtlich, nicht Fortschritt. »Als Besonderes gegen Besonderes ist
die Natur in ihrem wirklichen Leben der einzige Angriff oder Widerle-
gung des schlechteren Lebens, und eine solche kann nicht Gegenstand
einer absichtlichen Tätigkeit sein.« Die Aufgabe der Metaphysik (und
ihre Würde) ist es, den Prozess der Veränderung nicht als zufälligen
hinzunehmen, sondern als die Realisierung des realen Allgemeinen zu
begreifen, des Gesetzes der Geschichte, und ihm so die Richtung zu
weisen. Nicht die Kontingenz der Gegensätze, sondern die Notwen-
digkeit des Selbstwiderspruchs im Besonderen, das doch mit dem An-
spruch auf Allgemeinheit sich durchgesetzt hatte, macht die geschicht-
liche Wirklichkeit vernünftig. »Das Beschränkte kann durch seine
eigene Wahrheit, die in ihm liegt, angegriffen und mit dieser in Wider-
spruch gebracht werden; es gründet seine Herrschaft nicht auf Gewalt
Besonderer gegen Besondere, sondern auf Allgemeinheit; diese Wahr-
heit, das Recht, die es sich vindiziert, muss ihm genommen und demje-
nigen Teile des Lebens, das gefordert wird, gegeben werden.«22 Die
Metaphysik ist die politische Instanz, die die Wahrheit des Allgemeinen
34 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
ins Recht setzt gegen »die Unwahrheit des erscheinenden Wissens, dem
dasjenige das Reellste ist, was in Wahrheit vielmehr nur der nicht reali-
sierte Begriff ist.«23 Aus eben diesem Grunde kann Joachim Ritter mit
Recht sagen: »Die Vernunft der Revolution ist für Hegel mit der Ver-
nunft der überlieferten Philosophie identisch; sie wird politisch in der
französischen Revolution verwirklicht.«24
2. Geschichtliche Vernunft
das alte Material bedarf daher einer Umbildung, die dem jetzigen
Standpunkte der Philosophie gemäss ist.«35 Dieses Umbildungspro-
gramm bezieht sich auf die klassische Metaphysik. Von ihr heisst es:
»Die Metaphysik ist die Tendenz zur Substanz; - ein Denken, eine Ein-
heit wird festgehalten gegen den Dualismus, wie bei den Alten das Sein.
Die Philosophie auf eigenem, eigentümlichem Boden verlässt gänzlich
die Theologie dem Prinzipe nach.«36 Descartes hat die Allmacht der
Vernunft in der Selbstgewissheit des cogito (als dem einzig absolut Ge-
wissen) begründet; bleibt mir nichts als eben dieses, noch von allen
Weltinhalten entleerte, »ich denke«, so muss ich, soll ich dem Solipsis-
mus entgehen, Gott und die äussere Welt aus diesem »ich denke«, aus
seiner formalen Verfassung deduzieren können. Gott ist dann nicht be-
gründend, sondern selbst durch das Ich begründet und als logisches
Mittelglied zwischen Ich und Welt in deren Deduktion eingeschoben.
Die aus dem cogito deduzierte Welt kann dann aber keine andere Seins-
verfassung haben als eben die, die in der Vernünftigkeit des cogito ange-
legt ist. Die gleiche Übereinstimmung von Vernunftverfassung des
Denkens und Seinsverfassung der Welt geht in Spinozas Anspruch ein,
aus Definitionen und Axiomen, die intuitiv dare et distincte eingesehen
werden können, nach Art der Geometrie ein System der Erscheinun-
gen (Modi) der Welt und der Normen des Handelns ableiten zu kön-
nen, das schlüssig als bewiesen zu gelten habe. Die Voraussetzung der
Universalität der Vernunftstrukturen liegt bereits im Konstruktions-
prinzip von Spinozas Ethik, ehe er cogitatio und extensio als Attribute der
einen und einzigartigen Substanz aufgewiesen und damit den Zusam-
menfall aller möglichen Aspekte oder Attribute von Welt der Form
nach mit deren in der cogitatio bestätigter Rationalität konstatiert hat. -
Schliesslich sei Leibnizens gedacht, der seine These, dass unsere Welt
die beste aller möglichen sei, auf die absolute Geltung des Identitäts-
prinzips und der aus ihm hergeleiteten Logik der Verknüpfungen
stützte - wobei er als erster die umfassende Gestalt einer Logik der
Kompossibilitäten, die über die traditionelle aristotelische und mathe-
matische Logik hinausgeht, unter einem übergreifenden Rationalitäts-
begriff konzipierte. Das ontologische Prinzip der Rationalität (an das
auch Gottes Entscheidungen gebunden sind) erlaubt dann keine an-
dere Wirklichkeit des Ganzen als die allen anderen als möglich fingier-
baren Welten qualitativ überlegene, also bessere.
Alle diese Metaphysiken haben als essentielle und unverzichtbare
Voraussetzung, dass die Wirklichkeit von derselben Formgesetzlichkeit
sei wie der sie denkende logos. Weil aber in diese Formgesetzlichkeit das
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 37
setzt. Hegel entdeckt hier das Prinzip der dialektischen Vernunft als
ebenso logisches wie politisches, nämlich die Negativität, die dem Be-
sonderen anhaftet, weil es ein Besonderes ist, gegen seine Selbstinstitu-
ierung und Verewigung als allgemeine Wahrheit zu mobilisieren, das
heisst den Widerspruch in der Sache selbst zur Triebkraft des Fort-
schritts zu machen. Aber dieses Hervortreiben des Widerspruchs ist
nicht eine beliebige Zerstörung der allgemeinen Ordnung, die durch
die besondere nur unangemessen dargestellt wurde; sondern die Ablö-
sung des als unwahr sich erweisenden Besonderen geschieht in dem
Kontinuum des geschichtlichen Fortschritts, der den allgemeinen Ge-
halt des Besonderen, dass nämlich überhaupt eine Ordnung sei, nicht
negiert, sondern gerade in der Negation der Besonderheit bestätigt:
»Dem Positiven des Bestehenden, das eine Negation der Natur ist, wird
seine Wahrheit, dass Recht sein soll, gelassen.«45 Das gesellschaftlich
Bestehende ist darum eine »Negation der Natur«, weil diese der blosse
Kampf der Besonderen gegeneinander ist. Dem Hobbes'schen bellum
omnium contra omnes, das der anarchischen Verfassung der bürgerlichen
Gesellschaft gemäss dem Prinzip des »laisser-faire, laisser-aller«, des
freien Spiels der Kräfte, entspricht, setzt Hegel die durch die Metaphy-
sik, die »den Zusammenhang des Ganzen denkt« (s.o.), instituierte und
garantierte Ordnung des Allgemeinen entgegen. Sie ist es, auf die hin
jede besondere Ordnung transparent ist, und sie muss gegen jede be-
sondere Ordnung gewendet werden, indem dieser in ihrer Partikula-
rität immer nur relative Wahrheit zukommt, sie aber an sich selbst und
abgelöst von ihrer Funktion im Prozess des historischen Fortschreitens
absolut unwahr ist.
Die Besonderheit des Besonderen ist der ontologische Grund für
das Recht der Revolution. Diese setzt den Anspruch des Allgemeinen
gegen das Besondere durch (der immer nur im Durchgang durch die
»bestimmte Negation«, also die neue Bestimmtheit realisiert wird -
denn das Wahre ist ja erst das Ganze). Das Denken der vernünftigen
Verfassung der Wirklichkeit (in ihrer Allgemeinheit) ist so die Kritik
der schlechten Wirklichkeit (in ihrer Besonderheit), wie sie existiert. So
ist das Denken, in dem das Allgemeine sich als solches darstellt, die re-
volutionäre Macht schlechthin, die wirkliche Negativität, die dem Posi-
tiven (dem in seiner Besonderheit Gesetzten) sich entgegenstellt und es
zu Fall bringt. Diesen in der Verfassungs schrift schon aufscheinenden
Gedanken expliziert die En:::yklopädie im Zusatz 3 zu § 19 in aller
Schärfe: »Durch das Denken war dem Positiven seine Macht genom-
men. Staatsverfassungen fielen dem Gedanken zum Opfer; die Reli-
40 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Hegels Begründung, dass die Vernunft selbst das Prinzip der revolu-
tionären Veränderung sei, ist metaphysisch und schliesst zugleich die
Kritik der bisherigen Metaphysik ein. Die Vernunft, die das Allge-
meine in sein Recht setzt und damit die Destruktion jedes Partikulären
b,etreibt, bezieht ihr kritisches Instrumentarium gegenüber allem Be-
stehenden und ihr logisches Instrumentarium der Konstruktion des
Allgemeinen aus der spekulativen Verfassung des Denkens, jeden
Gegenstand der Verstandestätigkeit als beschränkt und unbeständig
hinter sich zu lassen und damit jede fixe Identität aufzulösen, bis
schliesslich in der absoluten Idee das Ganze aller Partikularitäten als
das wahre Sein und als die reale Allgemeinheit, die sich in jedem Be-
sonderen manifestiert, erkannt wird. Die ontologische Kategorie der
Totalität/Universalität und die logische Kategorie der Allgemeinheit
fallen in der absoluten Idee zusammen; und von der absoluten Idee er-
hält jedes Existierende als Besonderes sein Todesurtei1. 56
Bei Hegel treffen die spekulative Idee des Absoluten, die in der
Metaphysik Spinozas ihre neuzeitlich reinste Gestalt gefunden hatte,
und der empirische Gehalt der Geschichte, der in der Erfahrung der
Französischen Revolution sich zwingend aufdrängte, zusammen.
Kar! Löwith hat darauf hingewiesen, dass in der Komposition von Ab-
solutheits-Metaphysik und historischer Zeitlichkeit eine Aporie ent-
steht, deren Überwindung die Bewegung des HegeIschen Philosophie-
rens in gang hielt. Denn das Absolute sei per definitionem ausser der
Zeit, ewige Gegenwart des hen kai pan, und die Zeit sei nur die Weise,
in der das Moment, der (an sich unwahre) Teil des Ganzen sich zum
Ganzen verhalte. »Indem Hegel (...) den Geist als Wille und Freiheit be-
griff, bleibt das Verhältnis des Geistes zur Zeit, die er griechisch als im-
merwährende Gegenwart und als Kreislauf bestimwt, in der Tat ein
Widerspruch und Rätsel.<P
Diese von Löwith manichäisch aufgerissene Dichotomie - Zeitlo-
sigkeit des Absoluten, des Geistes, der Wahrheit versus Zeitlichkeit des
44 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
phie und den Verzicht auf einen Begriff des Verhältnisses von Kon-
tinuität und Diskontinuität im Prozess der Realisationen menschli-
cher Existenz. Indem der Historismus die Verschiedenen in ihrem
Anderssein voneinander isoliert und Geschichte als Sequenz von
gleichwertigen Stellen auf dem Zeitstrang auffasst, verliert er wieder
den von der Aufklärung bis zu HegeF6 gewonnenen Begriff von
Zeitlichkeit, in dem die Gerichtetheit, Tendenzialität, die Idee des
Fortschritts inhäriert. Zeit wird dann bloss zur formalen Verfassung
des Nacheinanders von Zuständen, während Hegel sie als das Prinzip
inhaltlich miteinander verknüpfter, durch bestimmte Negationen sich
produzierender Entwicklungsstufen auf dem Wege zur Freiheit auf-
fasste. Sein, Zeit und Freiheit (als begriffenes Sein77)bildeten für ihn
eine strukturelle Einheit.
Eben diese Einheit, in der die Dichotomie von Absolutheit und
Zeitlichkeit aufgehoben ist, fasst Hegel mit dem Terminus »Geist«. Der
logische Aspekt des Geistes ist der Begriff, als welcher intensional, aber
nicht explizit die Totalität aller Bestimmungsmomente des Begriffenen
in sich umfasst. Wie die Leibnizsche Monade die perspektivische Re-
präsentation der ganzen Welt ist, so ist auch der Hegelsche Begriff nur
als (unendliche) Kette aller seiner Bestimmungen vollständig (notio com-
pleta), d. h. wahrer Begriff. Daseiend, also explizit ist er aber nur in der
extensionalen Abfolge dieser Bestimmungen, mithin ist die Zeit »der
daseiende Begriff selbst.«78 Die Momente des Ganzen werden als aus-
einander seiende aufgefasst und so zu Inhalten der Erfahrung und des
Wissens, in welchem sie wieder zusammengefasst in ihre Einheit
zurückgeführt und »auf den Begriff gebracht« werden. Dieser Prozess
ist die Wirklichkeit des Geistes, zu der »Aufhebung der Äusserlichkeit«
und »Zurückführung des Äusserlichen zu der Innerlichkeit« gehärt.7 9
Alle Stufen, auf denen der Geist sich auf dem Wege zur Zusammen-
fassung des Ganzen konstituiert, sind vorläufige Manifestationen des
Absoluten, Phasen der »Zurückführung des Äusserlichen zu der Inner-
lichkeit«; prinzipiell und idealiter ist die »Bewegung des Bewusstseins«,
in welcher das Wissen des Ganzen wird, »die Totalität seiner Momente«
- und »diese Totalität seiner Bestimmungen« ist es, die den Geist »an
sich zum geistigen Wesen« macht 80 , denn Totalität in sich kann nicht
extensional, in natürlicher Äusserlichkeit gegeben sein. So ist »der ab-
solute Geist (...) ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende
und zurückgekehrte Identität«81, und der Prozess des Zurückkehrens,
also das zeitliche Durchlaufen seiner Explikationen, ist unabtrennbar
von der Herstellung der Identität. »Ehe daher der Geist nicht an sich,
48 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewusster Geist
seine Vollendung erreichen.«82 Die Vollendung des Geistes ist jedoch
nicht und nie seine Realisation auf einer bestimmten Stufe der ge-
schichtlichen Entwicklung, in einer bestimmten Gegenwart, auf wel-
cher der daseiende Geist - weil Dasein bestimmtes, also nicht absolu-
tes Sein ist 83 - ein bestimmter Geist ist.
Man könnte nun, ohne Hegel zu vergewaltigen, eine Extrapolation
wagen: Der inhaltlich bestimmte Geist ist immer unvollendeter Geist
und als solcher Zeitgeist. Der reine Begriff des Geistes - von allen be-
stimmten Inhalten abgetrennt und als Prinzip des Vollzugs seiner in-
haltlichen Bestimmungen genommen - ist dann nichts anderes als die
reine Zeit, und dem absoluten Geist, gerade weil er »ewig in sich sei-
ende Identität« ist, inhäriert die Zeitlichkeit als Bedingung seiner Ver-
wirklichung,s4 Jede inhaltlich bestimmte Gestalt des Geistes »ist inder
Zeit und hat dem Inhalte nach wesentlich ein besonderes Prinzip« und
»geht in die allgemeine Weltgeschichte über.«85 Der Geist hat sein Dasein als
diese Bewegung, die in § 549 der EniJ'klopädie beschrieben wird; »die
Weltgeschichte (00') ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der
Zeit.«86 Damit hat Hegel das traditionelle metaphysische Konzept von
der Ewigkeit des Seins in seine geschichtliche Bewegung aufgelöst. Die
Ewigkeit des Seins ist seine Wirklichkeit als Geschichte, deren Fort-
schreiten in allen ihren Stadien in der intensionalen Präsenz des Geistes
als Totalität gedacht, nicht aber in der Extensionalität des Daseins »ge-
habt« werden kann. Die traditionelle eleatische Metaphysik wird so -
unter Bewahrung ihrer Probleme - in die Dialektik des Werdens trans-
formiert.
Wie die Ewigkeit des Seins ist auch dessen Identität (= Wider-
spruchsfreiheit in sich) ein Axiom der klassischen Metaphysik. 87 So-
lange das Sein als das eine, ewige, unbewegte begriffen wurde, musste
auch seine Identität unumstösslich gedacht werden. Eine Welt, die als
die Einheit des Mannigfaltigen oder als die Einheit von Einheit und
Vielheit konzipiert wird, ist hingegen an sich selbst widersprüchlich,
denn sie schliesst Bestimmungen ein, die als simultane Bestimmun-
gen ein und desselben einander logisch ausschliessen. Hegel hat mit
der Überführung der Prinzipien der Metaphysik, denen er als »ver-
ständigen Abstraktionen« ihr relatives Recht in der Philosophie als
der scientia generalis zuweist und deren Unzulänglichkeit für die Kon-
struktion des Ganzen er zugleich dartut, in die dialektische Bewegung
des Denkens nicht nur die Betrachtung sub specie aeternitatis in eine
Konstruktion des Absoluten sub specie temporalitatis überführt; sondern
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 49
Aufhebung einer Schranke ist aber ein Akt der Befreiung, der welthi-
storische Sinn der ontologischen Formbestimmtheit durch die Negati-
vität ist die Freiheit, die sich im Willen ausdrückt und in dem von jeder
Bestimmung absehenden absoluten Willen ihre reine Existenz hat.
»Man muss also wissen, was der Wille an sich ist (...) Der absolute Wille
ist dies, frei sein zu wollen« - im Unterschied zu »Neigung, Trieb, Be-
gierde.« »Die Freiheit des Willens selbst, als solche, (...) ist sogar das,
wodurch der Mensch Mensch wird, also das Grundprinzip des Gei-
stes.«90 Dieser formelle Wille ist die Triebkraft der Revolution, denn
er geht auf die Veränderung, und im Augenblick des Umsturzes, noch
ehe er sich aufs neue gegenständlich bestimmt, ist er die absolute Frei-
heit - und diese ist »reine Metaphysik, reiner Begriff oder Wissen des
Selbstbewusstseins (...) Hiermit ist der Geist als absolute Freiheit vor-
handen (...) Und zwar ist er (...) reell allgemeiner Wille aller Einzelnen
als solcher (...), sodass jeder immer ungeteilt alles tut und, was als Tun
des Ganzen auftritt, das unmittelbare und bewusste Tun eines Jeden
ist.«91 In einer historischen Epoche, die der Untergang einer alten
und die Geburtsstunde einer neuen Gestalt des Geistes ist - Gegen-
wart im emphatischen Sinne, an der für einen kurzen Augenblick die
Schranken der Vergangenheit nicht mehr und die der Zukunft noch
nicht teilhaben - geschieht der Umschlag von einer Bestimmtheit in
ihr Gegenteil, und er ist die unwiderstehliche Wirklichkeit der absolu-
ten Freiheit: »Diese ungeteilte Substanz der absoluten Freiheit erhebt
sich auf den Thron der Welt, ohne dass irgendeine Macht ihr Wider-
stand zu leisten vermöchte.«92 Wer an diesem Umschlag teilhat, er-
lebt, dass seine Gegenwart zu keiner Zeit mehr gehört, sondern die
selbst zeitlose Grenze zwischen zwei Zeiten ist. Walter Benjamin hat
das mit seinem Gespür für Diskontinuitäten bemerkt: »Das Bewusst-
sein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolu-
tionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die
Grosse Revolution führte einen neuen Kalender ein (...) Die Kalen-
der zählen die Zeit also nicht wie Uhren. Sie sind Monumente eines
Geschichtsbewusstseins (...) Noch in der Juli-Revolution hatte sich
ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewusstsein zu seinem
Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen
war, ergab es sich, dass an mehreren Stellen von Paris unabhängig von
einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde.«93
Der Übergang von einer Identität zu einer neuen Identität ist nicht
mehr mit dem kontinuierlichen Massstab der Uhren zu messen; er ge-
schieht »plötzlich« (exaiphnes, wie es bei Platon heisst), und das ist es,
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 51
als von Natur gelten und die Freiheit des Subjekts würde wegfallen; frei
ist das Subjekt nur im Kampfe.«114 Diese individuelle Freiheit in der
Entfremdung ist eigentlich Unfreiheit- wie Hegel mit Blick auf die antike
Polis bemerkt: »Freie Völker haben nur Bewusstsein und Tätigkeit für
das Ganze; moderne sind für sich als einzelne unfrei, - bürgerliche Frei-
heit ist eben die Entbehrung des Allgemeinen, Prinzip des Isolie-
rens.«115
So steht der freie Wille zwar am Anfang der Rechtsphilosophie, aber
nicht anders als das einfache unbestimmte Sein am Anfang der Logik
oder die sinnliche Gewissheit am Anfang der Phänomenologie, wovon das
Denken sich abstossen muss, um auf seinen Weg zu gelangen. So heisst
es: »Der an und für sich freie Wille C•••) ist C•••) in sich einzelner Wille eines
Subjekts.«116 Aber nur wer Hegel mit dem Vorverständnis des Sub-
jekt-Fetischismus unserer Zeit liest, kann diese Formulierung als eine
positive Bestimmung der Freiheit auffassen. Genau das Gegenteil be-
deutet sie für Hegel: Abtrennung vom Allgemeinen, Beliebigkeit, We-
senlosigkeit. Die Differenz des »an und für sich freien Willens« zur
wahren Freiheit notiert Hegel in den Randbemerkungen: »Seine Rea-
lität, Gegenständlichkeit hat noch gar keinen Inhalt, der aus sich selbst
bestimmt wäre«. Im Zusatz heisst es ergänzend: »Die abstrakte Iden-
tität ist es, welche hier die Bestimmtheit ausmacht; der Wille wird da-
durch einzelner Wille - die Person.« Und in den Randbemerkungen zu
§ 35 wird abfällig erläutert: »Ich will dieses oder jenes, Bedürfnisse,
Laune, Einfall. Kein Mensch hat Respekt davor, besonderer Wille.«117
Deutlicher kann nicht gesagt werden, dass der Wille gerade kein Prinzip
des objektiven Geistes, sondern nur ein Vehikel auf dem Wege zum
Begriff ist. Hegel Theorie des Politischen gibt dem Voluntarismus
nicht den mindesten Sukkurs.
Dass Freiheit nicht in der Beschränktheit des Besonderen, sondern
nur in der Universalität des Allgemeinen ihr Element habe, in dem sie
wirklich werden könne, hat Hegel so oft wiederholt, dass es sich er-
übrigt, dafür eigens Belegstellen anzuführen. Insofern verweist seine
Theorie des Politischen in ihrer Grundlegung auf die in der Wissenschaft
der Logik erarbeiteten Einsichten 118, und Hegel hat diesen Verweis
selbst ausdrücklich ausgesprochen, wenn er in § 7 der Rechtsphilosophie
auf die §§ 163 - 165 der EniJiklopädie, die den Begriff als solchen be-
handeln, Bezug nimmt, um das Verhältnis von Einzelheit und Allge-
meinheit zu klären. Denn das Recht, insoweit es das System der kom-
possiblen Willensakte der Einzelnen ist, kann nur aus der Einsicht in
die ontologisch-dialektische Verfassung dieses Verhältnisses deduziert
56 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
werden - und eben diese Deduktion fordert Hegel von der Rechtsphi-
losophie.1 19
Nach Hegels Konzeption der Einzelheit enthält das Einzelne in
seinem Begriff die Universalität des Allgemeinen und ist also selbst
Allgemeines - jene monadische Bestimmung, die besagt: »Das Ein-
zelne ist dasselbe, was das Wirkliche ist (...) Die Einzelheit ist aber nicht
in dem Sinne nur unmittelbarer Einzelheit zu nehmen, nach der wir von
einzelnen Dingen oder Menschen sprechen (...) Jedes Moment des Be-
griffs ist selbst der ganze Begriff aber die Einzelheit, das Subjekt, ist
der als Totalität gesetzte Begriff.«120 Wichtig ist, dass die besondere Exi-
stenz der Person gerade jenes Erfordernis, die Totalität in sich zu setzen,
nicht erfüllt, sondern ihren Eigensinn und Eigenwillen als Rechtsper-
son gegen die Anderen geltend macht, mithin gerade nicht Allgemein-
heit der einen, mannigfaltig sich be sondernden Gesellschaft, sondern
bloss Gemeinschaft der Vielen in Koexistenz ausdrückt. »Es ist von
grösster Wichtigkeit sowohl für das Erkennen als auch für unser prak-
tisches Verhalten, dass das bloss Gemeinschaftliche nicht mit dem
wahrhaft Allgemeinen, dem Universellen, verwechselt wird.«121 Für die
allgemeine Bestimmung des Rechts als System der gesellschaftlichen
Gattungseinheit bleibt daher das »Bürgerliche Recht« ein untergeord-
netes Moment. »Weil die Besonderheit in der Person noch nicht als
Freiheit vorhanden ist, so ist alles, was auf die Besonderheit ankommt,
hier ein Gleichgültiges (...) Das abstrakte Recht ist also nur erst blosse
Möglichkeit und insofern gegen den ganzen Umfang des Verhältnisses
etwas Formelles.«122 Dass die Zivilrechts ordnung eine solche von
»Rechtspersonen« (natürlichen und juristischen) ist, macht sie zu einem
vorläufigen Moment des öffentlichen Rechts, des »inneren Staats-
rechts«, durch welches die persönlichen besonderen Rechtstitel erst
zum Allgemeinen vermittelt werden. Der syntaktisch komplexe erste
Satz des § 260 der Rechtsphilosophie macht die Dialektik dieses Verhält-
nisses deutlich: »Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit;
die konkrete Freiheit aber besteht darin, dass die persönliche Einzelheit
und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung
und Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der
bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Inter-
esse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen das-
selbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für
dasselbe als ihren End'?JVeck tätig sind.«123
Man muss der Syntax dieses Satzes genau folgen: Konkrete Freiheit
erhebt sich nicht über die persiJnliche Einzelheit und deren besonderen Inter-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 57
als Person zu sein, was in das Verhältnis der Erscheinung, der Bezie-
hung auf eine andere Person gesetzt, sich zur Pflicht des anderen, mein
Recht zu respektieren, entwickelt (...) Die Endlichkeit des objektiven
Willens ist insofern der Schein des Unterschieds der Rechte und der
Pflichten.«127
Die Rechtsordnung regelt - in der Weise des positiven Rechts, also
formell - die Rechte und Pflichten der besonderen Willen (personen)
gegeneinander. Sie ist a limine die Bewegungsform der Besonderen in
ihren Verhältnissen zueinander, sie ist als »abstraktes Recht« noch nicht
die Form des Verhältnisses selbst. So entsteht auf dem Niveau der
Rechtsordnung in ihrer wirklichen Gestalt und Funktion ein Wider-
spruch: idealiter ist das Gesetz das Allgemeine, dem die Besonderen zu-
gehören und aus dem sie hervorgehen; realiter ist das Gesetz gerade das
Gesetztsein des Besonderen als Besonderen, das Prinzip der Partiku-
larität, sodass es eine Kollision des Rechts mit sich selbst in seinen ver-
schiedenen Geltungsansprüchen gibt. 128 Aus diesem Widerspruch ent-
springt die Geschichtlichkeit des Rechts; sie ist in dem logischen
Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem begründet, und dieses
logische Verhältnis ist die Formbestimmtheit der ontischen Verfassung
des Wirklichen.
Die Einsicht, dass das Recht geschichtlich ist und in einem in der
ontischen Verfassung der Wirklichkeit begründeten Wandel und Ent-
wicklungsprozess steht, ist in den §§ 30 und 31 der Rechtsphilosophie
ausgesprochen. Die These von der Geschichtlichkeit des Rechts ist
dem eigentlichen System des Rechts vorangestellt, weil sie als dedu-
ziert erst am Ende, im Unterabschnitt über die Weltgeschichte, er-
scheinen kann. So gilt zunächst in logischer Allgemeinheit (und also
durch die Wissenschaft der Logik begründet): »Jede Stufe der Entwick-
lung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das
Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist.«129 Die
besondere Bestimmtheit des allgemeinen Rechtsprinzips macht die-
ses zum positiven Recht und bedingt dessen Einseitigkeit, derzufolge
es abstraktes und formelles Recht ist: »Der Formalismus des Rechts
aber (und weiterhin der Pflicht) entsteht aus dem Unterschiede der
Entwicklung des Freiheitsbegriffs. Gegen formelleres, d.i. abstrakteres
und darum beschränkteres Recht hat die Sphäre und Stufe des Gei-
stes, in welcher er die weiteren in seiner Idee enthaltenen Momente
zur Bestimmung und Wirklichkeit in sich gebracht hat, als die konkre-
tere, in sich reichere und wahrhafter allgemeine, eben damit auch ein
höheres Recht.«130 Indessen bleiben die Einseitigkeiten der einander
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 59
Die Begründung der Theorie des Rechts und Staats auf die Geschicht-
lichkeit menschlicher Lebensformen mündet also in die Geschichts-
philosophie (Rechtsphilosophie §§ 341-360, EniJklopädie §§ 548-552), in
der die Aufeinanderfolge von Staats- und Rechtsformen als Hervor-
treten und Selbstverwirklichung des objektiven Geistes konstruiert
wird. Die Geschichte der Formationswechsel, das heisst die Ge-
schichte der »welthistorischen Reiche«143, lässt die Staatsformen als
nicht-kontingente Erscheinungen des Weltgeistes, ihre Ablössung im
Prozess der Befreiung des Geistes zu sich selbst als Notwendigkeit
von Revolutionen erkennen. Von ihrem Schluss her gewinnt der An-
fang der Rechtsphilosophie mit den Bestimmungen des positiven Rechts
in § 3 sein Fundament.
Das Konzept der Weltgeschichte kann aber nicht wie der Begriff
des Rechts in § 2 »als gegeben aufgenommen«werden 144, es ist zu ent-
wickeln. Menschliche Geschichte, wie wir sie kennen, ist das Element,
in dem sich immer schon konstituierte Gesellschaften bewegen; und
die Konstitution von Gesellschaften vollzieht sich in der Ausbildung
ihrer Rechtsformen (Verkehrsformen).1 45 Die vor jeder Spezifikation
in verschiedene Gesellschaftsformationen liegenden, ihnen allen zu-
kommenden allgemeinen Bedingungen (Hegel sagt zuweilen: anthro-
pologische) sind es, aus denen das Werden des Rechts und der not-
wendige Verlauf der Geschichte deduziert werden müssen. In diesem
Sinne mag man von einer »Ontologie des gesellschaftlichen Seins«146
sprechen, die Hegels System zugrunde liegt. Diese hat ihren Kern
darin, dass sie die Geschichdichkeit des Menschen, die geschichdiche
Bewegung seiner »Fortbestimmung« (und das ist: des Fortschritts) aus
dem Naturverhältnis hervorgehen lässt und so die Kategorien der
Geschichdichkeit (als formbestimmend für und Bedingungen der
Möglichkeit von konkreter Geschichte) ableitet. Das unmittelbare Ob-
jekt des ersten Willensaktes ist der ein natürliches Bedürfnis befriedi-
gende Gegenstand oder Zustand: »Die Bestimmungen des Unter-
schieds, welcher der sich selbst bestimmende Begriff im Willen setzt,
erscheinen im unmittelbaren Willen als ein unmittelbar vorhandener
Inhalt - es sind die Triebe, Begierden, Neigungen durch die sich der Wille
in der Natur bestimmt findet.«147 Die handschrifdichen Notizen He-
gels hierzu werden noch deudicher: »Ich finde mich so und so be-
stimmt - habe diese Triebe - auch physische Bedürfnisse, Essen und
Trinken - muss, Notwendigkeit wie das Tier.«148 Die (modern ge-
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 63
erkannt und damit für das Selbstbewusstwerden der Gattung ein histo-
rischer terminus ante quem angegeben.
Es wird noch einen langen Weg brauchen, bis Hegel von hier aus
zu einem Begriff von Geschichte und Gesellschaft gelangen wird, in
dem die produzierenden Individuen im Gattungsprozess so aufgeho-
ben sind, dass diese Aufhebung gerade erst den Sinn von Freiheit aus-
macht. Hier wird zunächst (durchaus auf dem Stande der National-
ökonomie seiner Zeit l52) das arbeitsteilige Produzieren noch auf die
individuellen Subjekte als, wenn auch fragmentarisch, Handelnde be-
zogen. Wohl aber erkennt Hegel schon, dass Arbeit zum bIossen Ver-
zehr des Produkts nicht weiterführen würde. »Wird das Objekt
schlechthin vernichtet«, so bleibt »dieser Genuss der rein sinnliche; die
Sättigung, welche die Wiederherstellung der Indifferenz und Leerheit
des Individuums ist (...) er ist bloss negativ, weil er auf die absolute Ein-
zelheit desselben und hiemit auf das Vernichten des Objektiven und
Allgemeinen geht.«153 Die Allgemeinheit und Dauer des Arbeits-
verhältnisses ist erst dann gegeben, wenn das Produkt in Besitz über-
geht. Diesen Übergang vom Verzehr zum Besitz konstruiert Hegel in
drei Schritten: »Die Beziehung des Subjekts auf das Objekt, oder die
ideale Bestimmung desselben durch die Begierde, das ist die Besitzer-
greifun&' - alsdann die reelle Vernichtung seiner Form, denn das Objek-
tive oder die Differenz bleibt, oder die Tätigkeit der Arbeit selbst, - end-
lich der Besitz des Produkts oder die Möglichkeit, es als ein (für sich
Reelles) sowohl durch eine erste Beziehung seiner Materie nach, als
durch die zweite der Vernichtung seiner Form und der Formgebung
durch das Subjekt, - zu vernichten, und zum Genusse, der aber ganz
ideell bleibt, überzugehen.«154
Hier hat Hegel das Argumentationsmuster ausgearbeitet, in dem
das individuelle Eigentum nun als ein universelles Menschenrecht er-
scheint. Der Mensch wird zum Menschen als gesellschaftliches, sich
selbst bestimmendes Wesen erst durch den Besitz, also durch die An-
eignung der gegenständlichen Inhalte seiner Zwecke. An dieser Aus-
gangsposition hat Hegel auch später insofern festgehalten, als er ein
»absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen« postuliert.1 55
Dies ist die Basis des abstrakten Rechts der bürgerlichen Gesellschaft,
dem die »nähere Bestimmung zugrunde liegt: Ich als Einzelner; - Ge-
meinschaft nur Willkür - So tritt jeder in den Staat - als Freier- (...) meine
Wirklichkeit ist Privateigentum.«156 Hiervon ausgehend, kann Hegel die
bürgerliche Gesellschaft nicht aufheben, indem er die Eigentumsver-
hältnisse umstürzen würde (denn diese sind ja notwendige Bedingung
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 65
bloss ideell und ohne Realität ist. In der Realität ist hingegen die Un-
gleichheit des Lebens gesetzt, und damit das Verhältnis von Herrschaft
und Knechtschaft.«16o Anerkennung des anderen als Individuum (und
d. h. als Privatperson = Eigentümer) bedeutet Gehorsam nicht gegen
das Allgemeine und Gesetz, sondern gegen das Besondere )>Und des-
wegen ist es hier ein Verhältnis der Knechtschaft, denn die Knecht-
schaft ist der Gehorsam gegen Einzelnes und Besonderes.«161 Die Bin-
dung an die Besonderheit eines Zustands ist aber zugleich die
Herausforderung, diese Besonderheit im Verhältnis zur Allgemeinheit
aufzuheben, »in das Entgegengesetzte umzuschlagen«, also das Beste-
hende umzustürzen. Das Prinzip der dialektischen Bewegung selbst
enthält das Moment der Revolution. »Die absolute Bewegung oder der
Prozess des sittlichen Lebens« ist »die Differenz des Allgemeinen und
Besonderen, aber zugleich die Aufhebung derselben.«162 Diese Bewe-
gung wird gelenkt durch die Organisation der Arbeit zur Befriedigung
des Systems der Bedürfnisse und vollzieht sich, als Totalität, über die
individuelle Tätigkeit hinweg. »Keiner ist für die Totalität seines Be-
dürfnisses für sich selbst. Seine Arbeit oder, welche Weise des Vermö-
gens der Befriedigung seines Bedürfnisses, sichert ihm nicht diese Be-
friedigung. Es ist eine fremde Macht, über welche er nichts vermag,
von welcher es abhängt, ob der Überfluss, den er besitzt, für ihn eine
Totalität der Befriedigung ist. Der Wert desselben, d. h. dasjenige, was
die Beziehung des Überflusses auf das Bedürfnis ausdrückt, ist unab-
hängig von ihm und wandelbar.«163
So verschwinden die abstrakten, metaphysischen Bestimmungen
des Menschen als anthropologische im Prozess der Arbeit und der Ar-
beitsteilung. Sie werden transformiert in die geschichtsphilosophi-
schen Kategorien, die in der Fortbestimmung des Begriffs der Freiheit
den Prozess der Befreiung, d. h. Selbstverwirklichung des Geistes er-
fassen. Im .'iJstem der Sittlichkeit finden wir die Rohfassung dieser kate-
gorialen Transformation, die aus der philosophischen Anthropologie
(als Teil der Metaphysica specialis) die Geschichtsphilosophie (als Prin-
zip der Politik) hervorgehen lässt. Die Vorlesungen zur philosophi-
schen Weltgeschichte werden dieses Programm einlösen in der Entfal-
tung der Revolutionskategorie Veränderung, der Reformkategorie Verjüngung
und der Totalitätskategorie End'{!JJeck/Vernunftl64, nach denen der Ge-
schichtsverlauf erkannt wird. Diese Erkenntnis »sieht in dem Entste-
hen und Vergehen das Werk, das aus der allgemeinen Arbeit des Men-
schengeschlechts hervorgegangen ist, ein Werk, das wirklich in der
Welt ist, der wir angehören.«165
Hegels Metaphysik~Kritik als Reflex der Französischen Revolution 67
vernünftig, indem (und nur indem) sie wandelbar sind. In jeder Phase
der Rechtsgeschichte, d.h. in jeder positiven Rechtsordnung ist die Ver-
nunft der »sittlichen Totalität« repräsentiert, und eben die latente An-
wesenheit des Ideals der ganzen Menschheitsgeschichte, die Tendenz
zum Fortschritt, bewirkt zugleich die Tendenz zur Aufhebung jeder
(endlichen) Positivität. »Denn nach der Notwendigkeit muss die Tota-
lität als Bestehen der auseinandergeworfenen Bestimmtheiten an ihm
sich darstellen und das einzelne Glied der Kette, unter dem es in der
Gegenwart gesetzt ist, vorübergehen und ein anderes eintreten.«174 An
die Stelle der unwandelbaren Axiome des Naturrechts tritt - ebenso-
sehr gegen einen historistischen oder positivistischen Relativismus
oder gar Dezisionismus gewendet - die Geschichtlichkeit des Ver-
nunftrechts. Und wieder kann man feststellen, dass der Anstoss zu die-
sem theoretischen Konzept aus der politischen Einsicht in die Unhalt-
barkeit bloss gewordener Zustände gekommen ist. In der Abhandlung
über die württembergische Magistratsverfassung heisst es 1798: »Die
ruhige Genügsamkeit an dem Wirklichen, die Hoffnungslosigkeit, die
geduldige Ergebung in ein zu gros ses, allgewaltiges Schicksal ist in
Hoffnung, in Erwartung, in Mut zu etwas anderem übergegangen. Das
Bild besserer, gerechterer Zeiten ist lebhaft in die Seelen der Menschen
gekommen, und eine Sehnsucht, ein Seufzen nach einem reineren,
freieren Zustande hat alle Gemüter bewegt und mit der Wirklichkeit
entzweit (...) Allgemein und tief ist das Gefühl, dass das Staatsgebäude,
so wie es jetzt noch besteht, unhaltbar ist (...) Wie blind sind diejenigen,
die glauben mögen, dass Einrichtungen, Verfassungen, Gesetze, die
mit den Sitten, den Bedürfnissen, der Meinung der Menschen nicht
mehr zusammenstimmen, aus denen der Geist entflohen ist, länger be-
stehen, dass Formen, an denen Verstand und Empfindung kein Inter-
esse mehr nimmt, mächtig genug seien, länger das Band eines Volkes
auszumachen!«175
Dem Überlebten können auch keine Reform oder, mit Hegels Wor-
ten »keine grosssprechende Pfuschereien wieder Zutrauen verschaf-
fen«, im Gegenteil, sie »bereiten einen viel fürchterlicheren Ausbruch,
in welchem dem Bedürfnisse der Verbesserung sich die Rache beige-
sellt und die immer getäuschte, unterdrückte Menge an der Unredlich-
keit auch Strafe nimmt.«176 Der revolutionäre Ton ist unverkennbar, er
gewinnt Nachdruck dadurch, dass dieses Manuskript-Fragment über-
schrieben ist »An das Württembergische Volk«. Die Beziehung zur
Französischen Revolution wird ausdrücklich hergestellt: »Für die Men-
schen von besseren Wünschen, von reinerem Eifer wäre es besonders
70 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Der Grund, aus dem Hegels Metaphysik-Kritik erwächst, wird nun er-
kennbar. Ihrem Gegenstand nach - als Theorie der Totalität von Welt
und des vernünftigen Verhaltens der Menschen in ihr und zu ihr - ist
die Metaphysik eine Wissenschaft von den Prinzipien des Werdens, der
Veränderung; denn die Welt ist in keinem erfahrbaren Augenblick die
ganze, abgeschlossene Wirklichkeit. Der Begriff von Welt schliesst ihre
Zeitlichkeit mit ein; schon Leibniz hat das erkannt, wenn er sagte, »dass
die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergan-
genheit beladen ist.«182 Nichts anderes besagen auch die letzten Passa-
gen der Phänomenologie des Geistes, wenn es zum Beispiel dort heisst,
dass der Geist »sein reines Selbst als die Zeit ausser ihm und ebenso
sein Sein als Raum« anschaue. Der Geist in seiner Extensionalität ist
die Natur, und diese »ist sein lebendiges unmittelbares Werden (...)
und die Bewegung, die das Subjekt herstellt.«183 Ist also die Metaphy-
sik das Denken des Anderswerdens oder das Denken des Seins im
Horizont der Zeit (die Zeitlichkeit des Seins), so ist sie, das Verhalten
72 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
ist, die keine sind, so fällt es in der Tat in das bewursslose Weben, d.i.
das reine Fühlen oder in die reine Dingheit zusammen.«204 Gegen jede
solche Verstandesansicht gilt aber der auch schon in der Phänomenologie
formulierte Einwand: »Ihr Unrecht besteht darin, solche abstrakte For-
men, wie dasselbe und nicht dasselbe, die Identität und Nichtidentität, für
etwas Wahres, Festes, Wirkliches zu nehmen und auf ihnen zu beru-
hen. Nicht das eine oder das andere hat Wahrheit, sondern eben ihre
Bewegung.«205 Hegel setzte dann in der Wissenschaft der Logik die Dia-
lektik als die Auflösung der Bestimmungen im Prozess der »Fortbe-
stimmung des Begriffs«206 und damit das Verfahren, die Konstruktion
des Ganzen durch die logische Form der Bewegung der Geschichte zu
vollziehen (weshalb dann die absolute Idee nur in der Gestalt der Me-
thode ihrer Konstruktion, nicht aber als gegenständliches Konstrukt
darzustellen ist).
2. Schritt (§ 30). Da die formale Logik und die von ihr abhängig ge-
machte Metaphysik ihre Gegenstände nicht aus der Entwicklung des
Begriffs und damit als bewegte, sich verändernde gewinnen, können
sie sie nur aus der Vorstellung als fixe Gegenstände übernehmen.
»Ihre Gegenstände waren zwar Totalitäten, welche an und für sich der
Vernunft, dem Denken des in sich konkreten Allgemeinen angehören
(...) Aber die Metaphysik nahm sie aus der Vorstellung auf, legte sie als
fertiggegebene Subjekte bei der Anwendung der Verstandesbestimmun-
gen darauf zugrunde und hatte nur an jener den Massstab, ob die Prä-
dikate passend und genügend seien oder nicht.<<207 Die Bindung an die
Vorstellung, die ihre Gegenstände nach den Regeln des Verstandes
konstituiert, führt zur Ausbildung dessen, was später die »metaphysi-
sche Denkweise« genannt wurde - nämlich die Vernachlässigung des
universellen Zusammenhangs der Erscheinungen und Prozesse und
des Widerspruchs als ontologischer Formbestimmtheit von Verände-
rungen und vor allem Entwicklungen. 208 Die Orientierung der Meta-
physik auf einen statischen, starren Seins- und Substanzbegriff209
führt letztlich zu den Paradoxien der Bewegung oder den Antinomien
des Anfangs und damit zur Selbstaufhebung der metaphysischen
Wahrheit. Nur eine Wirklichkeit, die in sich selbst das Prinzip ihrer
Veränderung trägt21O , kann sich als Natur- und Menschheitsge-
schichte darstellen; die Ergebnisse der Wissenschaften lassen einer
metaphysisch-theologischen Interpretation keinen Raum. »Diese Me-
taphysik war kein freies und objektives Denken, da sie das Objekt
nicht frei aus sich selbst bestimmen liess, sondern dasselbe als fertig
voraussetzt.«211
78 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
3. Schritt (§ 32). Der erste und zweite Einwand hängen eng mitein-
ander zusammen. Das Aufklauben metaphysischer Bestimmungen aus
der Vorstellung heisst auch ihre Subsumption unter Verstandeskatego-
rien. Damit aber ist zugleich - wie sich schon am Beispiel der Auf-
klärungspositionen gezeigt hat und wie es uns die Kantschen Antino-
mien vor Augen führen - das Beharren metaphysischer Systeme auf
einem einseitigen, ausschliessenden Standpunkt verbunden. Daraus
zieht Hegel seinen dritten Einwand: »Diese Metaphysik wurde Dog-
matismus, weil sie nach der Natur der endlichen Bestimmungen an-
nehmen musste, dass von '?JVei entgegengesetZfen Behauptungen, dergleichen
jene Sätze waren, die eine wahr, die andere aber falsch sein müsse.«212
Auch hier verfehlt die Metaphysik ihre eigentliche Intention, die Selbst-
darstellung des Seins in der Mannigfaltigkeit der Seienden als eine (lo-
gisch oder historisch plurale) explicatio zu fassen und also als in aspek-
tualer (monadischer) Vielheit gegeben zu erfahren. Die ontologische
Denkfigur der Analogie (zum Beispiel bei Proklos 213), ver mittels derer
die Mannigfaltigkeit sich zur Einheit des Ganzen (der Welt) zusam-
menschliesst, lässt wissenschaftstheoretisch den Dogmatismus einer
innerweltlichen Position nicht zu. 214 Eine dogmatische Metaphysik
ignoriert ihren eigenen analogischen Charakter und gibt sich so, als ob
das Absolute in direktem Hinblick, in der intentio recta, erkennbar wäre.
Wieder wird von Hegel die Dialektik dagegen gesetzt: »Das Wahrhafte,
das Spekulative ist dagegen gerade dieses, welches keine solche einsei-
tige Bestimmung an sich hat und dadurch nicht erschöpft wird, son-
dern als Totalität diejenigen Bestimmungen in sich vereinigt enthält,
welche dem Dogmatismus in ihrer Trennung als ein Festes und Wahres
gelten.« In einem damit wird auch die Einstellung als eine meta-
physische zurückgewiesen, die wir heute »positivistisch« nennen wür-
den: »In der Tat aber ist das Einseitige nicht ein Festes und für sich
Bestehendes, sondern dasselbe ist im Ganzen als aufgehoben enthal-
ten.«215
So lässt sich Hegels Kritik an der traditionellen Metaphysik auf die
drei Einwände bringen, dass diese Verstandes bestimmungen auf Ver-
nunftgegenstände anwende, starre Gegenstände aus der Vorstellung in
die Vernunfttätigkeit übernehme und in die dogmatische Verabsolutie-
rung partikulärer Standpunkte verfalle. Dagegen werden die Fortbe-
stimmung des Begriffs, die Selbstbewegung und Selbstbestimmung des
Objekts und das Prinzip der Totalität der Bestimmungen als Verfahren
der spekulativen Philosophie (also der positiven Seite der Dialektik)
herausgestellt. Es wird deutlich, dass Hegel die Metaphysik, indem er
Hegels Metaphysik-Kritik als Reflex der Französischen Revolution 79
Der Streit um die Komposition des Hegelschen Systems ist so alt wie
dessen Rezeptionsgeschichte. Nimmt man die Berliner EniJiklopädie als
Grundriss des Systems, wie Hegel es letztlich dachte, so muss man an
den ausgeführten Teilen des Systems - also im wesentlichen der Phä-
nomenologie und der Logik, ergänzt durch die Rechtsphilosophie - merk-
würdige Disproportionen feststellen:
1. Die Phänomenologie erscheint zweimal - einmal sehr ausführlich
als eigenes Werk, eben die Phänomenologie des Geistes von 1807, mit dem
Programmtitel, den ersten Teil eines »Systems der Wissenschaften« zu
bilden; und dann noch einmal als Mittelstück der »Philosophie des Gei-
stes« in der EniJiklopädie, dort aber ohne die inhaltliche Entwicklung
von Geist, Religion und absolutem Wissen,
2. In der Phänomenologie scheint es Ungleichgewichtigkeiten in Um-
fang und Differenzierung ihrer Hauptteile und Kapitel zu geben.
3. Die Logik wird als eigenes Werk in drei Teilen breit entwickelt -
doch die angekündigten (und in der EniJiklopädie auch folgenden)
Stücke, die die formale Gestalt der Logik nun in der Realphilosophie
mit dem Erfahrungsstoff der Wissenschaften ausfüllen sollen, also
eine »Philosophie der Natur« und eine »Philosophie des Geistes« blei-
ben ungeschrieben; offenbar aber nicht deshalb, weil Hegel sie später
nicht mehr als integrale Bestandteile eines »Systems des Wissenschaft«
betrachtet hätte, denn in der EniJiklopädie nehmen sie ja genau die
ihnen schon in der Selbstanzeige der Phänomenologie 1807 zugedachte
Stellung ein. Einzig die Rechtsphilosophie wird als selbständiges Werk
einen Ausschnitt aus der »Philosophie des Geistes« behandeln. (Wir
sehen davon ab, dass die Vorlesungen zur Philosophie der Natur, der
Geschichte, der Religion und zur Ästhetik Positionen aus diesem Pro-
gramm ausführen; denn Hegel hat eben diese Vorlesungen nicht zu
Büchern verarbeitet).
82 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
grundriss der EniJklopädie ist nicht weniger als der Entwurf einer Re-
stitution der traditionellen Metaphysik und ihrer Problemarchitektur;
ein Vergleich mit Christian Wolff macht das deutlich. Nun war es aber
nach Kant nicht mehr unbefangen möglich, metaphysische Architek-
tur im Stile der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts zu errichten (ob-
wohl die Nähe der EniJklopädie zu den schulphilosophischen Systemen
unverkennbar und von Hegel auch beabsichtigt ist, wie die Vorrede zur
Heide/berger EniJklopädie antönt9); Hegel hat die Restitution der Meta-
physik in der spekulativen Logik zugleich als eine Kritik der klassischen
Metaphysik durchgeführt. Es blieb also vor dem System und als dessen
Voraussetzung die Aufgabe einer Deduktion des Vermögens und des
Verfahrens der Vernunft beim Überschreiten der Verstandesgrenzen
und bei der Erkenntnis nicht empirischer Gegenstände zu lösen. Kant
hatte diese Voraussetzungen in der Vernunftkritik (die er als Prolego-
menon jeder künftigen Metaphysik und als deren Grenzsetzung ver-
stand) festzustellen versucht und war dabei an die Schranke der Anti-
nomien gestossen, die den Eintritt ins Reich der Metaphysik verwehrt.
Es lässt sich zeigen, dass Kant sich selbst den Weg dadurch versperrt,
dass er die transzendentale Verfassung des Denkens im »Leitfaden
der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe«10 ungeprüft auf die
Strukturen der formalen Logik gründet. Hegel, dessen Kant-Kritik
seine Einsicht in diesen Umstand ausweist, entwickelt unter Vorausset-
zung der Methode transzendentaler Kritik, jedoch an deren Stelle, ein ande-
res Verfahren der Deduktion einer Metaphysik, die als Wissenschaft
wird auftreten können. 11 Dieses Verfahren macht in einem gewissen
Sinne von einem cartesianischen Muster Gebrauch.
Descartes hatte 12 den Anfang des Wissens bei der Sinneserfahrung
gemacht, und Kant war13 diesem Einsatz beim Ersten aller Erkenntnis
gefolgt. Descartes hatte, irritiert durch die Erfahrung der Sinnestäu-
schungen, den Zweifelsprozess in Gang gesetzt und war bei der Unbe-
zweifelbarkeit des »Ich denke« samt seinen ihm zukommenden ~)ein
geborenen«) Strukturen angelangt; Kant hatte die reine Passivität der
Erfahrung infrage gestellt und war zu Formbestimmtheiten des Er-
kenntnisvermögens vorgedrungen, die sich bei jedem Erfahrungsakt
den sinnlichen Eindrücken schon aufprägen. Descartes wie Kant hat-
ten also die gegebene Bestimmtheit des Objekts als abhängig von der
formalen Verfassung des denkenden (auffassenden) Subjekts erkannt;
und die kritische Philosophie hatte daraus die Konsequenz gezogen,
»dass, ehe daran gegangen werde, Gott, das \'(fesen der Dinge usf. zu er-
kennen, das Erkenntnist'ermijgen selbst vorher zu untersuchen sei, ob es
84 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
solches zu leisten fahig sei.«14 Diese Ausgangslage fand Hegel vor, mit
ihr musste er sich auseinandersetzen.
Hegel hat sich nachdrücklich gegen das analytische Missverständ-
nis gewandt, es könne das Denken (oder das Erkennen) gleichsam von
aus sen wie einen ihm äusserlichen Gegenstand betrachten, behandeln
oder haben. Denken des Denkens (reflektierendes Denken) meint
nicht, dass das Denken zu sich selbst in das Verhältnis der Andersheit
(alteritas) tritt; vielmehr setzt die transzendentale Einstellung einen Un-
terschied des Denkens an sich selbst, d. h. einen Selbstunterschied des
Denkens, der nur im Vollzug des Denkens erfahren werden kann. Jede
Vergegenständlichung des Denkens müsste zur Fixierung von Denk-
bestimmungen führen, die sich im Fortgang des Denkens wieder auf-
lösen würden. (Hier beginnt der Übergang von formaler zu spekulati-
ver Logik oder von der Verstandes- zur Vernunfttätigkeit). Folglich
kann es keine der reinen Vernunft vorgelagerte transzendentale Be-
stimmung ihrer Grenzen geben. »Die Untersuchung des Erkennens
kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sogenannten
Werkzeuge heisst dasselbe untersuchen nichts anderes als es erkennen.
Erkennen wollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt als der
weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Was-
ser wage.«15
Wenn nun aber der Philosoph sich ins Wasser wagen muss, so er-
hebt sich die Frage, an welcher Stelle er das zweckmässigerweise tue
oder vielleicht notwendigerweise tun müsse. Wann »das Nachdenken
überhaupt zunächst das Prinzip (auch im Sinne des Anfangs) der Phi-
losophie enthält«16, so ist damit noch nicht ausgemacht, wOTÜbernach-
zudenken sei. Hier konnte Hegel nun durchaus an die vom Empiris-
mus und von Kant herausgestellte Einsicht anknüpfen, dass die
Inhalte unseres Denkens zunächst nicht als Gedanken oder Begriffe
gegeben sind, sondern als »sensations« (Locke), »impressions«
(Hume), »Anschauungen« (Kant) - also als Sinnesdaten: nihil est in in-
tellectu, quod non fuerit in sensu. In gewisser Weise deckt sich dieser »Ein-
stieg in das Denken« bei seinen primären sinnlich gegebenen Gehal-
ten auch mit Descartes' Anfang des methodischen Zweifels bei den
Sinneseindrücken. Sie sind das, womit die Erkenntnis zuerst und
selbstverständlich anhebt, wenn sie dann auch immer in der Form
von Gedanken festgehalten werden. Beginnt also die Philosophie
beim »Nachdenken« oder ist sie die »denkende Betrachtung der Gegen-
stände<P, so heisst das zugleich, dass sie die Gehalte des Denkens als
»von den Sinnen oder durch die Vermittlung der Sinne empfangen«18
Aufbauplan und Struktur des Hegeischen Systems 85
zu denken hat. So geht Hegel davon aus, »dass der durchs Denken be-
gründete, menschliche Gehalt des Bewusstseins zunächst nicht in
Form des Gedankens erscheint, sondern als Gefühl, Anschauung,
Vorstellung, - Formen, die von dem Denken als Form zu unterscheiden
sind.«19
Dieser Ausgangspunkt liegt nun aber noch völlig ausserhalb des
eigentlichen Feldes der Philosophie, nämlich der denkenden Betrach-
tung der Gegenstände oder der Betrachtung des Gegenstandes in der
Form des Begriffs. 20 Um zu ihrem Anfang als Philosophie zu kom-
men, ohne diesen als beliebigen zu setzen - um sich also selbst zu de-
duzieren, bedarf sie der Beschreibung oder vielmehr der systemati-
schen Rekonstruktion des Weges, auf dem das Denken zum Denken
des Begriffs wird. Was Kant 21 als die »Spontaneität der Begriffe« ein-
führt (wodurch er das Denken zum fixen Gegenstand der Erkenntnis
macht, die er transzendental nennt 22), soll bei Hegel abgeleitet werden.
Die Ableitung hat bei dem zu beginnen, was anfänglich und unmit-
telbar sich selbst gegeben ist, d. h. evident ist; dies ist aber seit Des-
cartes als das Bewusstsein dargetan, dessen Gehalte sich in sinnlicher
Gewissheit zeigen. Die Deduktion des Anfangs der Philosophie muss
also in Prolegomena erfolgen, die den Weg beschreiben von der sinn-
lichen Gewissheit zum Begriff oder das Werden des Wissens, welches
erst als Begriff philosophisches Wissen (und das heisst eigentliches,
wahres, wirkliches Wissen) ist. Diese Prolegomena sind die Phänome-
nologie des Geistes.
Die Phänomenologie ist also nicht eigentlich der logische Anfang des He-
gelschen Systems 23 , sondern sie geht diesem Anfang vorher. Diese For-
mulierung ist bewusst paradox: Wenn einem Anfang etwas vorhergeht,
so ist dieser Anfang kein Anfang, sondern eine Stelle in einem Ablauf.
Dieser Ablauf ist der Prozess, in dem die Wahrheit des wissenschaftli-
chen Wissens sich ausbildet; wir erfahren diesen Prozess an uns selbst
als Denken. Das Denken ist die letzte Instanz, die uns fraglos, unbe-
zweifelbar gegeben ist und bei der einzusetzen wir uns deshalb ent-
schliessen24; darin liegt das cartesische Moment im Aufbauplan des
Hegelschen Systems. Allerdings hat schon Spinoza darauf aufmerksam
gemacht, dass die unbezweifelbare Selbstgegebenheit des Denkens, auf
die Descartes für die Begründung der Erkenntnis rekurrierte, nicht
86 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
auch schon den Grund des Denkens enthält, sodass der Einsatz beim
Denken zwar erkenntnistheoretisch, nicht aber ontologisch evident ist;
er ist willkürlich, determiniert aber die weitere Problemexposition.
Hegel war sich des besonderen Charakters dieser Entscheidung durch-
aus bewusst und stellte sich mit ihr auf den Boden der neueren Philo-
sophie. »Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst un-
mittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, dass es
der Anfang der Logik, des Denkens für sich, sein soll. Nur der Ent-
schluss, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich dass
man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden.«25
Dass der Anfang als unmittelbar gesetzt werden müsse, liegt in der
Natur des Anfangens; als vermittelt gesetzt, müsste ja die Vermittlung
dargestellt, also die Anfänglichkeit des Anfangs aufgehoben werden.
Die unmittelbare Weise des Denkens aber ist das Denken des Seins des
Denkens: cogito ergo sum = sum cogitans. Als mit dem Begriff des reinen
Denkens identischer Begriff des reinen Seins enthält dieser erste Inhalt
des Denkens noch keine Unterschiede oder Bestimmtheit. »Das reine
Wissen, als in diese Einheit zusammengegangen, hat alle Beziehung auf
ein Anderes und auf Vermittlung aufgehoben; es ist das Unter-
schiedslose; dieses Unterschiedslose hört somit selbst auf, Wissen zu
sein; es ist nur einfache Unmittelbarkeit vorhanden (...) In ihrem wahren
Ausdrucke ist daher diese einfache Unmittelbarkeit das reine Sein.«26
Aber dieses Wissen des Begriffs >Sein< ist »ganz abstrakt«2 7 und mit-
hin ein Wissen, das erst gewonnen werden musste. Der Anfang der
Wissenschaft ist nicht der Anfang der Erfahrung, sondern abgeleitet
aus der Erfahrung. Der Begriff des reinen Seins als Inhalt des reinen
Wissens ist das Resultat einer methodischen Rekonstruktion dessen,
was Wissen ist (so wie das reine cogito des Descartes das Resultat des
methodischen Zweifels). Die methodische Rekonstruktion dessen, was
Wissen ist, muss dem wissenschaftlichen System des Wissens vorher-
gehen; aber sie hat selbst auch einen Ort innerhalb dieses Systems,
denn das System repräsentiert ja das Ganze des Wissens und das Wis-
sen des Ganzen. Darum hat die Phänomenologie zweimal ihren Platz im
Werk Hegels. Sie führt auf das System des Wissens, indem sie das Wer-
den des Wissens entwickelt, und sie ist ein Sektor im System des Wis-
sens, denn das Werden des Wissens ist ja selbst ein Moment im Ganzen
des Wissens, und der »Geist im Verhältnis«28 - nämlich im Verhältnis
der »zwei Momente, des Wissens und der dem Wissen negativen Ge-
genständlichkeit«29 - ist ein Moment im Prozess der Selbstverwirkli-
chung des absoluten Geistes.
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 87
Dass das Werden des Wissens, die Phänomenologie des Geistes, im Werk
Hegels zugleich innerhalb und ausserhalb des Systems der Wissen-
schaft seinen Platz hat, eröffnet die Möglichkeit einer materialistischen
Interpretation des Verhältnisses von Wissen und Gegenständen, von
Begriff und Sein, von System der Wissenschaft und Welt. Die Argu-
mentationsstrategie einer solchen Interpretation sei, wenn sie hier auch
nicht voll durchgeführt werden kann, doch kurz angedeutet. Das
»Werden des Wissens« oder die »Erfahrung des Bewusstseins« - dies
sind Hegels eigene Charakterisierungen des Inhalts der Phänomenologie
- hat im System der Wissenschaften einen späten und nachgeordneten
Platz, nämlich als zweite Unterabteilung der ersten Abteilung der »Phi-
losophie des Geistes«, die dem subjektiven Geist gewidmet ist. Die
Phänomenologie des Geistes vermittelt in der En:v'klopädie3o zwischen der
Anthropologie und der Psychologie; erstere hat den subjektiven Geist,
welcher sich in den Individuen verwirklicht, in seiner Naturform (-
man könnte auch sagen: im Elemente der Natur -) zum Gegenstand,
letztere den Geist, der sich in sich bestimmt, also auf sich selbst be-
zieht3! oder sich selbst setzt. 32 Die wirklichen Modi des Selbstbezugs
oder des Sich-selbst-setzens schliessen das Bewusstsein auf allen Stu-
fen seiner Entfaltung ein - als biosses Bewusstsein, als Selbstbewusst-
sein und als Vernunft. Das heisst, um von der Naturform des Geistes
zur Geistform des Geistes (oder zum Für-sich-sein des Geistes) zu
kommen, muss die Entstehung des Bewusstseins aus der Natürlichkeit
des Geistes entwickelt werden. Das geschieht im Aufstieg von der sinn-
lichen Gewissheit als der unmittelbaren Beziehung auf den Gegen-
stand 33 zur Vernunft, in der das Selbstbewusstsein, das Bewusstsein
des Bewusstseins, sich als mit den Gegenständen vermittelt und
zusammengeschlossen weiss. So heisst es vom Selbstbewusstsein, es
sei »die Gewissheit, dass seine Bestimmungen ebensosehr gegenständ-
lich, Bestimmungen des Wesens der Dinge, als seine eigenen Gedanken
sind.«34 Und dem entspricht die Charakterisierung der Vernunft in der
Phänomenologie: »Nur erst die Gewissheit, alle Realität zu sein, ist sie in die-
sem Begriffe sich bewusst, als Gewissheit, als Ich, noch nicht die Realität in
Wahrheit zu sein.«35 Die Vernunftphilosophie ist gerade Aufhebung des
Idealismus, insofern sie gegen die »einfache Einheit des Selbstbewusst-
seins und des Seins« den Unterschied zwischen beiden festhält: »Denn
ihr Wesen ist eben dieses, im Anderssein oder im absoluten Unterschied
unmittelbar sich selbst gleich zu sein.«36
Der subjektive Geist in seinen theoretischen Modi der Anschau-
ung, der Vorstellung und des Denkens und in seinen praktischen Modi
88 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
des praktischen Gefühls, der Triebe und der Willkür und der Glückse-
ligkeit37 existiert in jener vernünftigen Form, die als Identität des We-
sens der Dinge und der Gedanken in deren festgehaltenem Unter-
schied bestimmt ist, welcher »nicht nur die absolute SubstaniJ sondern
die Wahrheit als Wissen ist.«38 Was diese Wahrheit des Wissens aber in
Wahrheit ist, können wir erst auf der Stufe des absoluten Geistes aus-
machen, dessen vorerst nur subjektiven Aspekt der Unterabschnitt
»Psychologie«39 darstellt.
Das Werden des Wissens oder die Genesis der Vernunft, als welche
»die Natur dessen, was ist, in seinem Sein sein Begriff zu sein«4o sich
zeigt, steht, wie wir jetzt sehen, im Aufbau des Hegelschen Systems an
einem durch die Natur begründeten und diese zum Geist vermitteln-
den Ort. Das Wissen hat in der Totalität keine genetisch oder ontologisch erste
Steife, es ist das Produkt des »Verhältnisses des Geistes.«41 Der Geist
aber ist die Wahrheit der Natur und »hat für uns die Natur zu seiner
Voraussetzung.«42 Das Wissen vom Gegenstand >Welt< ist im absoluten
Wissen mit diesem Gegenstand identisch, denn wir haben die Welt im
ganzen gegenständlich nur in der Weise des Wissens von ihr; aber auf
dem Wege dahin ist uns im Wissen von einzelnen Gegenständen das
Sein dieser Gegenstände als unterschieden vom Bewusstsein gegeben
und der Geist ist »ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der
Welt als selbständiger Natur ist. 43
Eine detaillierte Interpretation des Begriffs des Geistes wird hier zu
einer materialistischen Substruktion im System Hegels vordringen, die
von Hegel selbst allerdings sogleich wieder durch den Hinweis auf den
absoluten Status des Geistes verdeckt wird. 44
Nun tritt aber in der Entwicklung des Systems die Logik als abgelei-
tet aus der Phänomenologie auf. Sie entspringt dem seiner Form als Begriff
bewusst gewordenen Wissen. Für dieses ist »der Begriff das eigene
Selbst des Gegenstandes.«45
Eine Philosophie, die sich als System der Wissenschaft versteht,
muss folglich bei der Entwicklung des Begriffs, als der Form des wah-
ren Wissens, von der gegenständlichen Welt ausgehen; sie stellt also die
Logik als die Konstruktion ihrer eigenen Verfassung an den Anfang
und schickt ihr die Bedingungen der Entstehung der Logik voraus.
Darin liegt der spekulative Charakter der Philosophie, ihre Methode als
Konstruktion des Gegenstandes in der Abbildform des philosophi-
schen Systems. »Auf diesem sich selbst konstruierenden Wege allein,
behaupte ich, ist die Philosophie fähig, objektive, demonstrierte Wis-
senschaft zu sein.«46
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 89
zeugung nichts anderes als die Darstellung des dem Spiegel externen
Gegenstands. Es scheint mir, dass Hegel eben dieses im Sinn hat,
wenn er sagt: »Indem im Nachdenken ebensosehr die wahrhafte Natur
zum Vorschein kommt, als dies Denken meine Tätigkeit ist, so ist jene
ebensosehr das Erzeugnis meines Geistes, und zwar als denkendes Sub-
jekt.«64 Es kommt darauf an, das »ebensosehr« richtig zu verstehen.
Das Entstehen des Spiegelbildes ist ebensosehrein Zum- Vorschein-kommen
der Sache selbst als auch ein Erzeugnis des Spiegels, und es ist das eine nur,
indem es das andere ist. Die Spiegel-Metapher rekonstruiert die Struk-
tur dieses »ebensosehr«, und Hegels Ausführungen in § 24 der En?y-
klopädie scheinen dafür eine Bestätigung zu liefern. Fuldas Vermutung,
es komme Hegel auf den Unterschied von subjektiver und objektiver
Sprechweise nicht an, wäre dann widerlegt und die Einheit beider
Sprechweisen als eine Einheit im Selbstunterschied nach Art des Spie-
gel-Verhältnisses begriffen.
Die Frage nach einer spiegel theoretischen Deutung ist nicht so weit
hergeholt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag (und wir werden
auf dieses Problem im weiteren immer wieder stossen, was damit zu-
sammenhängt, dass die Dialektik die Logik des Selbstunterschieds ist
und der Selbstunterschied sich an der ontischen Struktur der Spiege-
lung explizieren lässt 65). Und schliesslich hat Hegel selbst das Mittel-
stück - also das zwischen Sein und Begriff vermittelnde Stück - der Logik
über der Struktur des Reflexionsverhältnisses aufgebaut und das Wesen
schlechthin als »Reflexion in ihm selbst« charakterisiert. 66 Reflexion in
ihm selbst ist die Figur des Selbstunterschieds: Etwas ist es selbst, und
indem es sich als das bestimmt, was es ist, bestimmt es sich zu einem
Anderen als es ist. Jedes So-sein eines Seienden ist, weil es »so« be-
stimmt ist, die Bestimmtheit des Seienden durch ein Anderes, das es
bestimmt. Hegel hat dieses Selbstverhältnis in den drei Momenten der
Reflexion auseinandergelegt. Indem X sich als es selbst identisch mit
sich und damit verschieden von Anderen setzt, setzt es die Anderen als
das mit ihm Nicht-Identische und also als Grenze seiner selbst (setzende
Reflexion). X setzt sich durch das Negieren der Anderen in bezug auf sich
selbst, oder durch das Negieren dessen, dass die Anderen (als Andere,
von ihm Verschiedene) es negieren: »Diese sich auf sich beziehende
Negativität ist also das Negieren ihrer selbst. Sie ist somit überhaupt so
sehr aufgehobene Negativität, als sie Negativität ist.«67 Indem sich selbst
als aufgehobene Negation, setzt es zugleich das Andere, ausser ihm Sei-
ende, gegen dessen Anderssein es sich als sich selbst behauptet. X ge-
winnt seine Identität vermittels des Anderen, gegen das X sich ab-
94 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
grenzt.; es setzt darin eine Äusserlichkeit: »Es ist zugleich bestimmt als
Negatives, als unmittelbar gegen eines, also gegen ein Anderes. So ist die Re-
flexion (...) indem sie (...) von dem Unmittelbaren als ihrem Anderen an-
fängt, äussere Reflexion.«68 Im Hin und Her dieses Setzens seiner selbst
und des Anderen bestimmt sich X zu dem, was es in diesem Verhältnis
ist. Sein So-sein ist dieses Reflexions-Verhältnis: »Die bestimmende Re-
flexion ist überhaupt die Einheit der setzenden und der äusseren Reflexion.
(...) Die Reflexionsbestimmung ist von der Bestimmtheit des Seins, der
Qualität, unterschieden; diese ist unmittelbare Beziehung auf Anderes
überhaupt; auch das Gesetztsein ist Beziehung auf Anderes, aber auf
das Reflektiertsein in sich.«69 Die Kategorien der Seinslogik sind un-
genügend, ihren eigenen ontologischen Status auszuweisen; erst indem
ihre Konstitution im Prozess aufgezeigt wird, zeigen sie ihren Charakter
als innerweltliche, d. h. als Momente eines RelationensystemsJo
Es wäre ein fundamentaler Irrtum, die drei Aspekte der Reflexion
- setzende, äussere und bestimmende zu sein - als Stufen einer Ab-
folge im Konstitutionsprozess des Substanz-Subjekts oder als verschie-
dene Glieder einer logischen Beziehung zu sehen. Sie sind ein und dasselbe
in verschiedener Hinsicht (d.h. Hinsicht auf die Relata des Reflexions-
verhältnisses). Indem X sich setzt, setzt es sein ihm äusserliches Ande-
res und bestimmt sich durch diese negative Beziehung; das ist sein
Selbstsein. Indem X einen Gegenstand setzt, setzt es sich ihm entge-
gen und bestimmt sich; das ist sein gegenständliches Wesen. Und
indem X sich bestimmt, setzt es sich und seinen Gegenstand, letztlich
die Welt; das ist die Einheit seiner Besonderheit und des Allgemeinen,
seine MonadizitätJl In diesem Reflexionsverhältnis tritt das Seiende
aus der Verschlossenheit in seinem Ansichsein heraus und wird Für-
sichsein - also Selbstverhältnis als Weltverhältnis. Der Selbstunter-
schied des Fürsichseins in der Reflexionsgestalt des Anundfürsichseins
ist die Bedingung der Möglichkeit eines ontologischen Verhältnisses,
das den Titel Wahrheit trägt (und das sich als verum oder als falsum reali-
sieren kann).
Gegenstand der Logik ist also der Begriff in seiner Identität und in
der Bewegung, die diese Identität aufhebt, als »der sich bewegende und
seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff.«80 Nun ist aber
der bewegte Inhalt der Begriffe Gegenstand der Natur- und Geistphiloso-
phie. In der Logik wird hingegen die inhaltliche Bewegung der Begriffe,
also der Prozess des Denkens als Denken oder das Wesen des Denkens
dargestellt; ihr Gegenstand ist »das Denken oder bestimmter das begrei-
fende Denken.«81 Weil aber das begreifende Denken immer ein inhaltlich
bestimmtes ist, kann der Gegenstand der Logik von dem der Natur-
und von dem der Geistphilosophie nicht verschieden sein. Wohl aber ist
er von ihnen im Modus seines Sich-darstellens unterschieden. Der Ge-
genstand jeder philosophischen Disziplin ist die Idee: »Die Idee ist das
Denken nicht als formales, sondern als die sich entwickelnde Totalität
seiner eigentümlichen Bestimmungen und Gesetze, die es sich selbst
gibt, nicht schon hat und in sich vorfindet (...) aber das Denken als sol-
ches macht nur die allgemeine Bestimmtheit oder das Element aus, in der die
Idee als logische ist.«82 Das bedeutet: »Die Logik ist die Wissenschaft
der reinen Idee, das ist der Idee im abstrakten Elemente des Denkens.«83
An dieser Stelle müssen wir den Terminus »Idee« noch gleichsam
als Chiffre für etwas Unerkanntes stehen lassen - ein Wort, dessen Sinn
sich erst im Verlauf der Darstellung der Wissenschaft der Logik ergibt.
Wohl aber sagt uns § 19 der EniJIklopädie, dass die »Reinheit« der Idee
darin besteht, dass diese »im abstrakten Elemente des Denkens« - also
nicht in den konkreten Elementen der Natur und des Geistes - auftritt.
Der Begriff des Begriffs, der von der Bestimmtheit des Inhalts zu sei-
ner Bewegung (Fortbestimmung) im Denken übergeht und deren
Wesen als die Bestimmung des vernünftigen Denkens fasst, ist mithin
der Begriff des reinen Denkens oder das reine Denken selbst, da ja
Denken nichts anderes als Begreifen ist. Nun bestimmt aber Hegel die
Wahrheit dadurch, dass er von ihr »behauptet«, »an dem Begriffe allein
das Element ihrer Existenz zu haben.«84
Hat die Logik das begreifende Denken zu ihrem Gegenstand und
zwar so, dass sie als selbst begreifendes Denken dieses zu ihrem Ge-
genstand hat, so bedeutet das, dass sie die Wahrheit der Wahrheit oder
»die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert«85 zum Gegen-
stand hat und zugleich selbst ist. So kann Hegel sagen, dass »das Logi-
sche die absolute Form der Wahrheit und, noch mehr als dies, auch die
reine Wahrheit selbst ist.«86
Etwas, das sich selbst zum Gegenstand hat, reflektiert sich oder
spiegelt sich. Das Logische spiegelt sich als Denken, und dies geschieht
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 97
hat und anders als durch den Begriff gar nicht als wahrer Gegenstand,
sondern nur als dinglicher Gegenstand existiert. (Das bedeutet auch,
dass es keinen absolut unwahren Begriff geben kann, worauf noch
zurückzukommen ist). Für das Selbstbewusstsein, das den Begriff als
Resultat des Bestimmens des Gegenstands durch das Denken (prädi-
kation) erfährt, entsteht daraus der idealistische Schein, die Sache
selbst sei das Produkt des Selbstbewusstseins: »Das Ding der sinnlichen
Gewissheit und des Wahrnehmens hat nun für das Selbstbewusstsein
allein seine Bedeutung durch es; hierauf beruht der Unterschied eines
Dings und einer Sache.«92 Die Aktivität, in welcher das Selbstbewusst-
sein sich so erfährt, als ob es die Wahrheit des Gegenstands erschaffe,
ist jedoch nicht die Wahrheit des Gegenstands, sondern nur die des
Selbstbewusstseins selbst, in der die Eigenschaft des Gegenstands ver-
schwindet: »In der Sache selbst also, als der gegenständlich gewordenen
Durchdringung der Individualität und der Gegenständlichkeit selbst,
ist dem Selbstbewusstsein sein wahrer Begriff von sich geworden, oder
es ist zum Bewusstsein seiner Substanz gekommen. (00') Die gegenständ-
liche Wirklichkeit ist ein Moment, welches (00') keine Wahrheit mehr für
sich hat; diese besteht nur in der Einheit desselben mit dem Tun, und
das wahre Werk ist nur jene Einheit des Tuns und des Seins, des Wo//ens und
Vollbringens.«93 Erst im absoluten Wissen wird dieser Widerspruch auf-
gehoben.
Michael Theunissen hat richtig erkannt 94 , dass in Hegels Wahr-
heitsbegriff die seiende Wirklichkeit und der Begriff nicht einfach un-
terschiedslos zusammenfallen, sondern in einer Differenz gehalten
werden, die in den Termen »entsprechen« und »kongruieren« mitge-
dacht ist. Die wahre Wirklichkeit ist nicht der Begriff, sondern ent-
spricht ihm oder ist ihm kongruent. Allerdings kommt man zu der
wahren Wirklichkeit des Gegenstands auch nicht anders als durch das
kritische Denken, indem nämlich geprüft wird, ob und inwieweit der Ge-
genstand so ist, wie er sich zeigt. 95 Das Sich-Zeigen des Gegenstands
in den vorbegrifflichen Weisen des Bewusstseins ist noch kein Ausweis
für sein wahres So-sein; im Gegenteil, in der Prüfung ändert sich der
Gegenstand parallel zur Veränderung des Wissens von ihm, denn die
in der Phänomenologie beschriebene Erfahrung »ist ein Geschehen der
ständigen Horizonterweiterung, welche dadurch zustande kommt,
dass das Bewusstsein seine Horizonte stets aufs neue thematisiert.«96
Jedoch: Der Gegenstand verändert sich mit der Erweiterung des Wis-
sens, nicht weil er vom Bewusstsein abhängig ist, das ihn horizontisch
denkt97 , sondern weil er sich anders als in seiner Unmittelbarkeit dar-
Aufbauplan und Struktur des Hegelschen Systems 99
stellt, sobald er mit seinen Bedingungen vermittelt wird. In der nur be-
grifflich zu fassenden Relationalität, die die »Weltlichkeit« oder »Wirk-
lichkeit« des Gegenstands erst ausmacht, ist er nicht mehr das, als was
er sich zunächst zeigte. So entsteht Wahrheit in der Bestimmung des
Begriffs - nicht als ein »massstäblicher Horizont«, wie Theunissen
meint (der damit eine Art Kantsches Ideal als Deus ex machina zur Be-
gründung von Wahrheit herbeizaubert); sondern als Resultat der kriti-
schen Prüfung, die auf einen Prozess fortschreitender Weiterbestim-
mung des Gegenstands (mit dem infinitesimalen Ende seiner notio
completa) führt. Jede endliche Begriffsbestimmung, die den Gegenstand
ausdrückt, liefert nur eine »relative Wahrheit«; der Begriff entspricht
der Realität in bezug auf den Erkenntniszweck, und diese Entspre-
chung ist zugleich eine Nicht-Entsprechung im ganzen, eine »Unange-
messenheit (...) die in seinem Wesen liegt.«98 Hegel sagt, dass diese Un-
angemessenheit im »Werk des Bewusstseins«, in seinem »Tun« (das die
Fortbestimmung des Begriffs ist) erfahren werde; von daher entstehe
die Zweideutigkeit, den Gegenstand an sich als das im Tun bloss Ge-
dachte, mithin als den Begriff, und das Tun selbst als die Realität auf-
zufassen oder ebenso umgekehrt »die ursprüngliche Natur« als das Sein
und das Tun als den werdenden Begriff'J9. Erst das spekulative Verfah-
ren, in dem der Begriff als notio completa mit allen Inhalten der Welt ge-
füllt wird, gewinnt den approximativen Zugang zur absoluten Wahr-
heit, d. h. der Wahrheit im Absoluten. Dies ist die Methode, in der
Begriff und Realität kongruieren, und im Absoluten, in der »Idee«, ist
diese Kongruenz perfekt. IOO In allen Realisationen des Endlichen da-
gegen, in denen Begriff und Realität in der Weise des Selbstunter-
schieds als Einheit zusammengeschlossen sind, hat diese Entspre-
chung die Gestalt des »Übergreifens«, und zwar so, dass für Hegel der
Begriff die Realität übergreift, was in der Tat die Struktur des Wissens
ausmacht: Im Begriff ist die Realität »enthalten«, wie im Spiegel das
Spiegelbild des Gegenstands, und der Spiegel ist die Einheit seiner
selbst und seines Gegenstands. Diesen Status des Wissens oder des Be-
griffs zu reflektieren, ist der Inhalt der spekulativen Philosophie. lOl
mehr als Erfahrung, Erfahren geht in Wissen über, wenn ich den
Grund des Erfahrungsinhalts und seiner Bestimmtheit kenne, durch
welche er als identischer Erfahrungsinhalt und als verschieden von an-
deren Erfahrungsinhalten festgehalten wird. Wissen ist also »die Wahr-
heit dessen, als was sich der Unterschied und die Identität ergeben hat,
- die Reflexion-in-sich, die ebensosehr Reflexion-in-Anderes und um-
gekehrt ist.«105 Insofern diese Reflexion »die reine Vermittlung über-
haupt« ist 106, geht sie vom einzelnen Ding zum Zusammenhang über.
Im Wissen ist wohl die einfache »sensation« Lockes, die »impression«
Humes enthalten, doch wird bereits über diesen biossen Stoff des Wis-
sens hinausgegangen und die systematische Form der Verknüpfung
mit anderen angelegt; sonst wäre es kein Wissen. Darum kann Hegel
sagen: »Die innere Notwendigkeit, dass das Wissen Wissenschaft sei,
liegt in seiner Natur, und die befriedigende Erklärung hierüber ist allein
die Darstellung der Philosophie selbst.«107 Wissen drängt dahin, sich
als wissenschaftliches Wissen zu bestätigen, diese Bestätigung wird ihm
aber erst beglaubigt, wenn es die Reflexionsbestimmung des Grundes
nicht bloss als ein methodologisches Postulat (wie im Satz vom
Grunde, »vermöge dessen wir bedenken, dass sich keine Tatsache als
wahr oder existierend, keine Aussage als wahr herausstellen kann, ohne
dass es einen zureichenden Grund gäbe, warum es sich so und nicht
anders verhält, obschon diese Gründe uns oft nicht bekannt sein kön-
nen«108), sondern aus der Natur der Sache ableitet. 109
Diese Ableitung oder die Erklärung für den Wissenschaftscharak-
ter des Wissens und die Form der Wissenschaftlichkeit liefert die Phi-
losophie, sie ist die Wissenschaft von dem Status der Wissenschaften,
dank ihrer schliessen sich diese zum System der Wissenschaft, das
heisst zum wissenschaftlichen System der Wahrheit (= der wahren Ge-
stalt der Wahrheit) zusammen. Dieses System ist aber nicht am Anfang
mit dem ersten Wissen gegeben, sondern muss durch das sich reflek-
tierende wissenschaftliche, das philosophische Denken konstruiert wer-
den. Das darin liegende aktive Moment der Selbstdarstellung der Sache
selbst im Werden des Wissens drückt Hegel in der Gleichung von Sub-
stanz und Subjekt aus. »Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, wel-
ches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heisst, welches in Wahrheit
wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder
die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. (...) Dass das
Wahre nur als System wirklich oder dass die Substanz wesentlich Sub-
jekt ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist
ausspricht.«ll0 Der Gesamtprozess der Konstruktion des Wahren ist
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 103
Die logische Form, in der das Wissen über einen Gegenstand explizit
vorliegt ist die Prädikation, das Urteil, in dem die Eigenschaften von
einem Gegenstand ausgesagt werden. Wahrheit »im Elemente der Wis-
senschaft« - und das ist, wie wir gesehen haben für Hegel die wahre
Gestalt der Wahrheit - manifestiert sich zunächst als Aussagenwahr-
heit, die Form des Denkens, in der dieses zu sich selbst kommt, ist die
Aussage. Darin unterscheidet es sich von allen anderen Bewusstseins-
akten. Seit dem Organon Aristoteles ist das Urteil als die definitive Ge-
stalt der wissenschaftlichen Wahrheit festgestellt. Im Urteil wird, so
scheint es, der Begriff gebildet, sei es dass das Prädikat seinen Inhalt
oder seinen Umfang angibt. Wir wissen von einem Gegenstand S
immer nur so viel, wie durch seine Prädikate PI> P z, P 3 (...) angegeben
wird. Wird die Urteils theorie von ihrer Beziehung auf die vorprädika-
tive Erfahrung (die Anschauung, Vorstellung USw.) abgelöst, so bleibt
der Gegenstand ein leeres X, das erst durch die prädikativen Inhalte der
Urteils akte konkretisiert wird. Die mittelalterliche Unterscheidung von
Dass-sein und So-sein drückt diese Auffassung vom Wissen aus. Hegel
hat dieses Verständnis von der Natur des Urteils das »gewöhnliche« ge-
nannt. »Gewöhnlich denkt man beim Urteil zuerst an die Selbständigkeit
der Extreme, des Subjekts und Prädikats, dass jenes ein Ding oder eine
Bestimmung für sich und ebenso das Prädikat eine allgemeine Bestim-
mung ausser jenem Subjekte etwa in meinem Kopfe sei.«lZ3 Das ist die
Form der Verstandes tätigkeit, die im Auseinanderhalten verschiedener
Momente besteht.
So gewinnt das Urteil für die Logik den Vorrang vor dem Begriff,
der aus ihm hervorgeht als sein Resultat oder der in es eingeht als sein
Baustein. Kants Kritik der reinen Vernunft geht noch ganz und gar von
diesem Vorrang des Urteils aus. Kant schreibt: »Wir können aber alle
Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, sodass der Ver-
stand überhaupt als ein Vermogen Zu urteilen vorgestellt werden kann.
Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das
Aufbauplan und Struktur des Hegeischen Systems 107
Reflexion des Begriffs in sich ist. Das einzelne Urteil gibt dann den
»Begriff in seiner Besonderheit, als unterscheidende Beziehung seiner
Momente«129, es setzt also den Begriff voraus - wenn auch zuerst in
seiner »formellen Abstraktion«13o, in welcher er das Resultat ist, das aus
der Realitätsgegebenheit in Anschauung und Vorstellung hervor-
geht. l3l Im Durchgang durch die Urteils akte und im dialektischen
Aufheben ihrer Endlichkeit, also im Fortgang von Bestimmung zu
Bestimmung des Begriffs ~)als eine Bestimmung des Gegenstandes
selbst«132) verwirklicht sich das Wissen von der Sache selbst, die Wahr-
heit des Wissens, die Idee. Die eigentliche Funktion der Logik ist es
nicht, die Regeln des Unterscheidens und Verknüpfens (der Klassifi-
kation) anzugeben - das ist nur ihre partielle Aufgabe; sondern den
Prozess des Bestimmens und Überschreitens (Fortbestimmens) zu
beschreiben, der den Weg von der determinatio (= negatio) über die negatio
(= negatio negationis) zur nächsten determinatio ausmacht. Die Identität des
auf diesem Wege Unterschiedenen ist Gegenstand der Logik. In die Ein-
heit der »schlechthin intensiven Totalität«133 zurückgenommen - als In-
tegration aller in der Extension durchschrittenen Bestimmungen - ist
dies die Idee. Sie ist »das Wahre an undfür sich. Ihr ideeller Inhalt ist kein
anderer als der Begriff in seinen Bestimmungen.«134 In der Idee hat die
Logik ihren Zweck gefunden, der zugleich ihr Grund ist.
Der »Begriff in seinen Bestimmungen« ist das Vernünftige. Aber er
ist gerade nicht das Vernünftige als der einzelne, so und nicht anders
bestimmte Begriff; als solcher ist er ein Verstandes begriff, eine not-
wendige Stufe der Erkenntnis, die die Identität eines Gegenstandes fi-
xiert - aber noch nicht der vernünftige Begriff, der erst durch das Fort-
bestimmen und letztlich in der Totalität der Bestimmungen eines sich
in der Zeit verändernden Gegenstandes gebildet wird. Daher sagt
Hegel im ersten Satz der Begriffslogik: »Was die Natur des Begriffes sei,
kann so wenig unmittelbar angegeben werden, als der Begriff irgend-
eines anderen Gegenstandes unmittelbar aufgestellt werden kann.«135
Im ersten Festhalten der substantiellen, in ihrem Selbstsein (= Unter-
schiedensein gegen andere) gesetzten Sache - ~)Beides, das identische
und das negative Beziehen, ist ein und dasselbe; die Substanz ist nur in
ihrem Gegenteil identisch mit sich selbst«136) - wird im Begriff nur »die
unmittelbar einfache Identität«137 gedacht. Der Begriff ist »in seiner
einfachen Beziehung auf sich selbst absolute Bestimmtheit.«138 Damit
ist er aber erst der Ausgangspunkt der Bewegung, die das substantielle
Sein in sich selbst als substantielles Verhältnis - das heisst als Refle-
xion-in-sich - vollzieht. Die Begriffe, an die sich die Alltagserfahrung
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 109
Anderen; und indem ich die bestimmte Weise seines Widerstands er-
fahre, bestimmt sich das Sein des Anderen im Unterschied zu mir als
dessen bestimmtes Dasein und damit als bestimmte Negation meines
Daseins. Im Setzen des Anderen wird meine Reflexion-in-mich zugleich
Reflexion-meiner-in-ein-Anderes 0>äussere Reflexion«): Ich bin nicht
mehr nur da, ich existiere, das heisst ich bin über mich hinaus, bezogen
auf Anderes, insgesamt auf Welt. »Die Existenz ist die unmittelbare
Einheit der Reflexion-in-sich und der Reflexion-in-Anderes.«157 Set-
zende und äussere Reflexion sind aber nur abstrakt unterschiedene
Momente des einen Reflexionsverhältnisses, in dem sich das Seiende
als durch seine Beziehung zur Welt bestimmtes Seiendes erweist 0>be-
stimmende Reflexion«).
Steht am Anfang der Wesenslogik die Strukturerhellung der Refle-
xion als des universellen Verhältnisses, in dem die Seienden zueinander
stehen, sich bestimmen und eine Welt bilden, so folgt darauf die Dar-
stellung dieser Welt als Erscheinung, das heisst das Erscheinen der Ein-
zelnen füreinander und damit als Momente ihres Verhältnisses, welches
die eine Welt ist; und die Welt der Erscheinung - »Diese unendliche Ver-
mittlung ist zugleich eine Einheit der Beziehung auf sich, und die Exi-
stenz ist zu einer Totalität und Welt der Erscheinung, der reflektierten
Endlichkeit entwickelt«158 - diese Welt der Erscheinung leitet über zur
Wirklichkeit, die das substantielle Sein der Erscheinung ist: »Die Exi-
stenz ist unmittelbare Einheit des Seins und der Reflexion, daher Er-
scheinung (...) Das Wirkliche ist das Gesetifsein jener Einheit, das mit sich
identisch gewordene Verhältnis.«159 In der Substantialität des Seins ist
die »Totalität der Akzidenzen« als Einheit gedacht, sodass sie »den
Reichtum des Inhalts offenbart«.16o Die substantielle Form (= Form-
bestimmtheit der Substanz) ist die intensionale Einheit der unendli-
chen Reflexion, >>Und die Wahrheit der Substanz ist der Begriff«161, in-
sofern er die Manifestation dieser Einheit und die erscheinende (sich
zeigende) Substanz ist.
So ist die Substanz (= das Sein der Wirklichkeit) die Einheit des An-
sichseins der Daseienden und ihrer wechselseitigen Reflexionen als Re-
flexion-in-sich und Reflexion-in-Anderes, und die Substantialität ist
der Titel für die Einheit der in universeller Wechselwirkung stehenden
Mannigfaltigkeit, Anundfürsichsein als die Verhältnis form einer Welt,
die ist, indem sich jedes ihrer selbständigen Elemente als unselbständi-
ges Moment auf jedes andere bezieht. Die eigene notwendige Fortbe-
stimmung der Substanz ist das Setzen dessen, was an undfür sich ist, der
Begriff nun ist diese absolute Einheit des Seins und der Reflexion, dass das
114 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
An- und Fürsichsein erst dadurch ist, dass es ebenso so sehr Reflexion oder
Gesetz/sein ist, und dass das Gesetz/sein das An- und Fürsichsein ist.«162
Das Tun des Denkens ist die Explikation des als ursprüngliche Ein-
heit vorprädikativ Gegebenen, der Substanz. Diese ist »das Absolute«,
»die Sache als das reflexionslose Unmittelbare (...) die Totalität der Be-
stimmungen der Sache, - die Sache selbst«163; jedoch »um dieser unmit-
telbaren Identität und Gegenwart der Substanz in den Akzidenzen willen
ist noch kein realer Unterschied vorhanden. In dieser ersten Bestimmung
ist die Substanz noch nicht nach ihrem ganzen Begriffe manife-
stiert.«164 Die an sich seiende Substanz, dem Denken vorgegeben, wird
in dessen Tätigkeit des Bestimmens und Fortbestimmens zur fürsich-
seienden. »Die Bewegung der Substantialität (...) besteht darin, 1. dass
die Substanz (...) sich zu einem Verhältnisse unterscheidet (...) 2. Das
andere Moment ist das Fürsichsein, oder dass die Macht sich als sich auf
sich selbst beziehende Negation setzt, wodurch sie das Vorausgesetzte
wieder aufhebt. - Die aktive Substanz ist die Ursache; sie wirkt, das
heisst sie ist nun das Setzen.«165 Im Unterscheiden wird ein Moment der
Substanz aus ihr heraus als ihr Anderes gesetzt, die Substanz erscheint
als aktive und ihr gesetztes Moment als ihr Anderes wird zu der ihr ent-
gegengesetzten passiven Substanz. »Die Ursache bringt eine Wirkung,
und zwar an einer anderen Substanz hervor (...) Die Ursache wirkt auf
die passive Substanz ein, sie verändert deren Bestimmung.«166 Diese Be-
ziehung schlägt um, denn mit Rücksicht auf jede besondere Substanz
ist jede andere besondere Substanz zugleich gesetzt (passiv) und um-
gekehrt setzend (aktiv); und sie ist passiv, indem sie aktiv ist, die Akti-
vität ist übergreifend. »Die aktive Substanz wird durch das Wirken, das
heisst indem sie sich als das Gegenteil ihrer selbst setzt, was zugleich
das Aufheben ihres vorausgesetz/enAndersseins, der passiven Substanz, ist,
als Ursache oder ursprüngliche Substantialität manifestiert.«167 Indem
die Substanz sich in der Wechselwirkung der Substanzen vollendet,
kommt sie zu sich selbst als die Aufhebung der besonderen Substanzen
in der Totalität, als welche sie Begriff ist. »Diese Wechselwirkung (...),
diese unendliche Reflexion in sich selbst, dass das An- und Fürsichsein
erst dadurch ist, dass es Gesetztsein ist, ist die Vollendung der Substanz.
Aber diese Vollendung ist nicht mehr die Substanz selbst, sondern ein
Höheres, der Begriff, das Suijekt.«168 Dies ist die philosophische Be-
gründung des der Phänomenologie vorausgeschickten Postulats, es
komme »alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso
sehr als Suijekt aufzufassen und auszudrücken.«169 Wiederum zeigt
sich, dass das Verfahren der Phänomenologie die Logik voraussetzt; nur
Aufbauplan und Struktur des HegeIschen Systems 115
die Logik kann die Identität von Substanz und Subjekt ableiten, die die
Phänomenologie als Entwicklung der Bewusstseinsgestalten sozusagen
transzendental konstruiert: »Die lebendige Substanz ist ferner das Sein,
welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heisst, welches in Wahr-
heit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens,
oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst iSt.«170
Die Darstellung in der Logik kontrastiert aufschlussreich mit Kants
Analogien der Erfahrung. Kant war in der Abfolge der Kategorien Sub-
stantialität - Kausalität - Wechselwirkung ausgegangen von dem Cha-
rakter einzelner Erkenntnisgegenstände, hatte dann deren Verknüpfungs-
weisen betrachtet und schliesslich die Idee des Gesamtzusammenhangs
an den Antinomien scheitern lassen; und er musste zu diesem Ergebnis
kommen, weil er von der Menge der endlichen Einzelnen fortschrei-
tend in die »schlechte Unendlichkeit« der reinen Quantitätsvermehrung
gerät. Hegel hingegen führt von der Substanz über die bloss vermit-
telnde Funktion der Kausalität zur Wechselwirkung als der aus der Sub-
stanz selbst abzulesenden Totalität der Bestimmungen, die nun abgelei-
tet sich als Voraussetzung des Seins der einzelnen Substanz erweist,
welche dann nichts anderes als der Ausdruck dieser Wechselwirkung
(sagen wir kühn: repraesentatio mundl) ist - ein wahrhaft monadologi-
sches Konzept!
Jede Substanz ist das (passive, gesetzte) Resultat der Wechselwir-
kung aller Substanzen und jede ist zugleich aktiv (aktives, setzendes)
Moment dieser Wechselwirkung. Die Wechselwirkung aber erscheint
nicht unmittelbar an der einzelnen Substanz, sondern muss aus dem
Prozess des Bestimmens ihrer Besonderheiten hergeleitet werden und
offenbart sich folglich erst im Begriff. »Der Begriff hat daher die Sub-
stanz zu seiner unmittelbaren Voraussetzung, sie ist das an sich, was er
als Manifestiertes ist. Die dialektische Bewegung der Substanz durch die Kau-
salität und Wechselwirkung hindurch ist daher die unmittelbare Genesis
des Begrifft, durch welche sein Werden dargestellt wird.«J71 - Nun stellt
der Begriff nichts anderes dar, als was die Substanz an sich schon ist;
folglich kann die Verfassung des Begriffs, die universelle Wirklichkeit
als Vermitteltheit jedes Einzelnen mit allem und die Totalität der Be-
stimmungen im Verfahren der Fortbestimmung zu konstruieren, nur
die Rekonstruktion der Seinsweise der Substanz sein. Das wird in der En-
?Jklopädie mit hinreichender Deutlichkeit gesagt: »Die Substanz ist hier-
mit die Totalität der Akzidenzen, in denen sie sich als deren absolute
Negativität, das ist als absolute Macht und zugleich als den Reichtum
allen Inhalts offenbart. Dieser Inhalt ist aber nichts als diese Manifestation
116 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
selbst.«!72 Die Substanz ist die Wirklichkeit, und der Abschnitt »Wirk-
lichkeit« in der Logik! 73 ist ganz der Explikation des Substanz-Seins ge-
widmet: Kausalität und Wechselwirkung (Verhältnisse von Substanzen
zueinander), durch die hindurch die Substanz sich in ihrer dialektischen
Verfassung, dem Wesen nach aktiv und zugleich passiv sich beschrän-
kend zu sein, manifestiert: passiv als Bedingtsein, aktiv als Tätigkeit, in
der Beziehung beider Aspekte aufeinander als die Sache = die Mitte
zwischen Bedingung und Tätigkeit.17 4 Das Ganze dieser vermittelten
Sachhaltigkeit (realitas) ist die Substanz, und ihre Substantialität besteht
darin, dass »aller Inhalt nur Moment (ist), das allein diesem Prozesse
angehört.«175 Dies aber ist die Wirklichkeit, und sie ist nicht ein Deri-
vat des Begriffs, der an dieser Stelle im Gang der Hegelschen Logik
noch gar nicht konstituiert ist - die Begriffslogik folgt ja erst, nachdem
die Wirklichkeit ihre höchste Stufe, die der »absoluten Substanz«!76 er-
reicht hat, »die absolute Substantialität der Unterschiedenen (...), die ur-
sprüngliche Einheit substantieller Verschiedenheit.«!77 Das ist die Wirk-
lichkeit, in der Wesen und Existenz zusammenfallen: »Die Existenz ist
unmittelbare Einheit des Seins und der Reflexion, daher Erscheinung (...)
Das Wirkliche ist das Gesetifsein jener Einheit, das mit sich identisch ge-
wordene Verhältnis.«178
gangen und von daher der Übergang zur Objektivität des Begriffs (=
Äquivalenz zur Wirklichkeit) vollzogen wird, hängt damit zusammen,
dass für Hegel- wie wir gezeigt haben - die transzendentale Wende der
neuzeitlichen Philosophie unhintergehbar war. Descartes und Kant lie-
gen bis zur Wissenschaft der Logik wie ein Schatten über der neueren Phi-
losophie. Die religiöse Gewissheit, dass Gott die Welt nach seinem
Plan geschaffen habe und sie folglich seinem unendlichen Verstande
angemessen, also selbst rational geordnet sei (wenn auch vielleicht
nach einer höheren als von Menschen einzusehenden Ordnung),
konnte nicht einfach mehr vorausgesetzt, sie musste begründet wer-
den. Diese Begründung aber konnte nur vom Wissen, das wir von der
Welt haben, ausgehen. Die Genesis des Wissens musste nun die Ga-
rantie für die Logizität der Welt liefern, und nur in der Einsicht in die
Verfassung des wahren Wissens war auch die wahre Verfassung der
Welt einzusehen. Die Verfassung des wahren Wissens aber ist die des
Begriffs - nicht in seiner abstrakten Bestimmtheit durch endliche Prä-
dikationen, sondern als unendliche Bewegung seines Inhalts, der in sei-
ner Besonderheit mit allem anderen in der Welt vermittelt und also To-
talität (= Allgemeinheit) ist. »Die Philosophie betrachtet (...) nicht das
Abstrakte oder Unwirkliche, sondern das Wirkliche, sich selbst Set-
zende und in sich Lebende, das Dasein in seinem Begriffe. Es ist der
Prozess, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft, und diese
ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus. Diese
schliesst also ebensosehr das Negative in sich, dasjenige, was das
Falsche genannt werden würde, wenn es als solches betrachtet werden
könnte, von dem zu abstrahieren sei.((202 Die Identität seiner Be-
stimmtheit, in der sich der verständige Begriff setzt (und die Wahres
und Falsches voneinander abstrahierend unterscheidbar macht), ist
zwar notwendige Form des Denkens, aber doch Schein, weil die Wirk-
lichkeit im Prozess gerade die Aufhebung der Identität einschliesst.
»Das Bestehen oder die Substanz eines Daseins ist die Sichselbst-
gleichheit; denn seine Ungleichheit mit sich wäre seine Auflösung. Die
Sichselbstgleichheit aber ist die reine Abstraktion; diese aber ist das
Denken (...) Dadurch nun, dass das Bestehen des Daseins die Sich-
selbstgleichheit oder die reine Abstraktion ist, ist es die Abstraktion sei-
ner von sich selbst, oder es ist selbst die Ungleichheit mit sich und seine
Auflösung, - seine eigene Innerlichkeit und Zurücknahme in sich, -
sein Werden.«21l3
Insofern die Substanz sich selbst in ihr Werden auflöst, ist auch das
wahre Wissen von ihr nur im Werden des Wissens erreichbar. Im Wer-
124 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
des Inhalts. Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen
organisiert, ist die Logik oder spekulative Philosophie.«206 Die Logik als
Darstellung der Bewegung des Begriffs fällt dann mit der Darstellung
der Bewegung der Wirklichkeit zusammen, ihre Methode ist »die einzig
wahrhafte. Dies erhellt für sich schon daraus, dass sie von ihrem Ge-
genstande und Inhalte nichts Unterschiedenes ist; - denn es ist der In-
halt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fort be-
wegt.«207 Das Programm, den Gegensatz des Bewusstseins in der
Wahrheit aufzuheben, wird damit eingelöst, allerdings um den Preis,
die Differenz zwischen der Darstellung der Wirklichkeit und der Wirk-
lichkeit selbst verdeckt zu lassen.
Der Fortgang vom Einen zum Anderen ist in der äusseren Welt
prinzipiell unabschliessbar. Daher kann das Ganze weder in der An-
schauung noch in der Verstandes tätigkeit vergegenwärtigt werden, da
beide endlich sind und nur endliche Zusammenhänge auffassen kön-
nen. Totalität ist nur als Idee gegeben, sie wird nicht vorgestellt, son-
dern begriffen, und zwar als Antizipation des Ergebnisses eines un-
endlichen Prozesses. Wir haben die Welt im ganzen nie als reellen
Gegenstand, sondern immer nur als ideelles Bild - als Spiegelbild der
Wirklichkeit im Denken. Und das besagt das Wort spekulativ, das mit
dem lateinischen sperulum = Spiegel verwandt ist (worauf Hegel hin-
deutet).
Wenn aber das Einzelne gerade eine Abstraktion und das eigentlich
Wirkliche nur der Gesamtzusammenhang ist, so erreicht unsere Er-
kenntnis erst da, wo sie spekulativ ist, die Wirklichkeit - nie direkt, son-
dern immer nur in Gestalt des Spiegelbildes. Dies ist - so meine ich -
die Lehre der HegeIschen spekulativen Philosophie, und dies ist dann
zugleich der Grund dafür, dass sie idealistisch ist, mithin die Welt als
Idee und die Idee als das Wirkliche begreift. Und nur in der systemati-
schen Darstellung des Prozesses, in dem die Idee für uns entsteht, ge-
winnt diese Philosophie ihre innere Überzeugungskraft.
Jean Hyppolite 208 hat die Deutung vorgeschlagen, der Prozess der
Konstituierung der Idee sei der Prozess, in dem die Logik des Seins in
eine Logik des Sinns überführt werde. »L'essence n'est plus condition,
mais devient le sens de la n~alite, ce sens c'est cette realite en tant que
comprehension de soi, non plus seulement en tant que comprise. Avec
la troisieme partie de la Logique alaquelle Hegel a don ne le nom de 10-
gique subjective, le sens se substitue a l'essence, la logique devient logi-
que du sens proprement dit, et ce sens s'identifie a Ja realite qui se fait,
i! est rEtre meme, !'Etre du debut qui s'etait !ui-meme reve!e comme
126 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
neue. Der Sinn erscheint als ein flüchtiges Spiegelbild der zeitlichen
Notwendigkeit des Seins. »La Logique hegeIienne sera donc bien la
dialectique de ces essences devoilees a travers la conscience humaine.
Ce n'est pas l'homme qui fait la philosophie, mais a travers l'homme la
philosophie se fait et la philosophie de la philosophie est la prise de
conscience d'une pareille genese ideale, un essai pour constituer la
metaphysique comme une Logique de la philosophie.«212 (...) »Le Logos
n'est pas une essence, il est l'element ou l'etre et le sens se reflechissent
I'un dans I'autre, ou l'etre s'apparait comme sens et le sens comme etre,
il est genese absolue, et c'est le temps qui est l'image de cette mediation,
non inverse.«213 Die wechselseitige Reflexion von Sinn und Sein ist das
wirkliche Verhältnis der Geschichtlichkeit des Seins, aber dieses exi-
stiert nur als Idee, in der intensionalen Einheit der zeitlichen Extension
wirklich, als solche Idee aber eben wirklich. In der Idee vereinigen sich
Sinn und Sein, das heisst der Begriff ist »als konkrete Totalität identisch
mit der unmittelbaren Objektivität. Diese Identität ist einerseits der
einfache Begriff und ebenso unmittelbare Objektivität, aber andererseits
gleich wesentlich Vermittlung und nur durch sie als sich selbst aufhe-
bende Vermittlung jene einfache Unmittelbarkeit; so ist er wesentlich
dies, als fürsichseiende Identität von einer ansichseienden Objektivität un-
terschieden zu sein und dadurch Äusserlichkeit zu haben, aber in die-
ser äusserlichen Totalität die selbstbestimmende Identität derselben zu
sein. So ist der Begriff nun die Ideu(214
Hier fassen wir den Ursprung des idealistischen Formprinzips der
Hegelschen Philosophie (und zugleich auch das Prinzip der Möglich-
keit seiner »Umkehrbarkeit« im Sinne des Leninschen Programms).
Denn die Einheit der Idee, in der die gegensätzlichen Momente als
»konkrete Totalität« zusammengehen, erweist sich als ein in sich Un-
terschiedenes. In einer Hinsicht als die Unterschiedenheit von »einfa-
chem Begriff« und >>unmittelbarer Objektivität«, in anderer Hinsicht als
die »Vermittlung«, die sich selbst in die einfache (nun aber aus Grün-
den gewusste) Unmittelbarkeit der Substanz wieder aufhebt. Deren
»fürsichseiende Identität« - die des Begriffs - bleibt aber von ihrer »an-
sichseienden Objektivität« unterschieden, dem Begriff entspricht also
eine Äusserlichkeit, das heisst ein materielles Sein, auf der Seite der
Objektivität. Schliesslich aber sind beide Seiten - Begriff und äusserli-
ches Sein - in einem Verhältnis verknüpft, das erst die im zeitlichen
Prozess der Vermittlung sich selbst bestimmende Identität der äusser-
lichen, also unmittelbaren Totalität der Substanz ausmacht. Dieses Ver-
hältnis lässt sich als Spiegelverhältnis interpretieren.
4. Kapitel:
Das Ganze des Systems
1. Hegels En?Jklopädie-Konzept
Das an einem spekulativen Beriff des Ganzen orientierte Wissen-
schaftsverständnis, das Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwickelt
und dessen kategorialen Grundriss er in der Wissenschaft der Logik ent-
wirft, bestimmt auch das Konzept seiner Enzyklopädie, die EniJklopä-
die der philosophischen Wissenschaften und damit eine begründete Syste-
matik des ganzen Wissens sein soll. Hegel hat dieses Konzept in drei
Anläufen ausgestaltet, die jeweils etwa ein Jahrzehnt auseinanderliegen:
1808 in der Fassung für den Unterricht am Aegidiengymnasium zu
Nürnbergl, 1817 als Begleittext für seine Vorlesungen an der Univer-
sität Heidelberg, 1827 und 1830 in der endgültigen Fassung, die seinen
Berliner Vorlesungen zugrunde gelegt wurde. 2 Die sich durchhaltende
Grundauffassung Hegels vom wissenschaftlichen Wissen und ihre
Entwicklung am stofflichen Detail ist also über die gesamte Reifezeit
des Philosophen (die man mit der Ausarbeitung der Phänomenologie be-
ginnen lassen kann) zu verfolgen.
Von der Nürnberger Gymnasialfassung an bleibt die Dreiteilung in
Logik - Naturphilosophie - Geistphilosophie und auch deren Reihen-
folge erhalten. 3 Hegel folgt damit dem Programm, das er in der Selbst-
anzeige der Phänomenologie vorgezeichnet hatte. 4 Dort wird die Phänome-
nologie ausdrücklich als »Vorbereitung zur Wissenschaft« bezeichnet.
Dem steht gegenüber, dass Hegel allen Fassungen der EniJklopädie je-
weils eine Einleitung vorausschickt, die nicht etwa den Gang der Phäno-
menologie reproduziert, sondern den dort entwickelten Wissenschafts be-
griff zugrundelegt und expliziert. 5 Diese Einleitung wird von 1808 bis
1827 immer umfangreicher, seit 1817 kommt am Anfang des Logik-Teils
noch der »Vorbegriff« hinzu 6, in dem die Stellungen des Gedankens zur
Objektivität, also der Typ des Philosophierens, an dem die philosophi-
schen Wissenschaften jeweils orientiert sind, erörtert werden. Diesen
Typus repräsentiert für Hegels System die Logik, die zugleich Ontologie
der Gegenstandsregionen und Wissenschaftslehre, d. h. Lehre von den
Formbestimmtheiten wissenschaftlicher Begriffsbildung ist.
Das Ganze des Systems 129
ebensosehr dies, ihren Inhalt als seienden Gegenstand, als auch dies,
unmittelbar darin seinen Übergang in einen höheren Kreis zu erken-
nen.«13 Und Hegel zieht daraus die Konsequenz für jede mögliche phi-
losophische Enzyklopädie: »Die Vorstellung der Einteilung hat daher das
Unrichtige, dass sie die besonderen Teile der Wissenschaften nebenein-
ander hinstellt, als ob sie nur ruhende und in ihrer Unterscheidung sub-
stantielle, wie Arten, wären.«14
Hegel erarbeitet in der Wissenschaft der Logik ein neues wissen-
schaftslogisches Paradigma - die Logik des Gesamtzusammenhangs in
der Zeit, also in der Form der Bewegung. Die Realisierung des Pro-
gramms der EniJ'klopädie wird so an die spekulative Methode gebun-
den, Totalität dialektisch als »Darstellung der dem Begriff durch seine
Negativität immanente Bewegung« zu konstruieren. »Um dies richtig
zu verstehen, muss man den wahren Begriff als die Totalität aller die-
ser Bestimmungen auffassen. Nicht die Einheit, die von den Unter-
schiedenen abstrahiert, nicht der Unterschied, der dem Positiven das
Negative entgegensetzt, sind für sich schon die Wahrheit, sondern sie
sind es erst in ihrer Einheit als Vermittlung des Gegensatzes, der eben
nur dadurch zum Widerspruch wird, dass über ihn nicht zu seiner Auf-
lösung fortgegangen wird.«15 Die Auflösung des Widerspruchs kann
eben nicht darin bestehen, dass die Diversität der vielen Singulären auf
eine »Einheitswissenschaft« zurückgeführt wird, in der als oberster
Gattung wissenschaftlichen Wissens alle Spezifikationen aufgehoben
wären. Vielmehr ist »das dialektische Moment C•••) das eigene Sichaufhe-
ben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre ent-
gegengesetzten.«16 Und weiter: »Es ist dasselbe überhaupt das Prinzip
aller Bewegung, alles Lebens und aller Betätigung in der Wirklichkeit.
Ebenso ist das Dialektische auch die Seele alles wissenschaftlichen Er-
kennens C...). Das Nähere aber ist, dass das Endliche nicht bloss von
aus sen her beschränkt wird, sondern durch seine eigene Natur sich auf-
hebt und durch sich selbst in sein Gegenteil übergeht.«17 Das Absehen
vOn dem Besonderen, das in jedem Zustand der Entwicklung enthal-
ten ist, hätte einen Realitätsverlust der Philosophie als Wissenschaft des
Ganzen zur Folge, durch den sie ihre eigentümliche Aufgabe, Orien-
tierung in der Welt zu geben, nicht mehr erfüllen, ihren eigentümlichen
Gegenstand, die inhaltliche Fülle der Welt als Einheit, nicht mehr er-
reichen würde. 18 Rosenkranz bemerkt also richtig: »Die Möglichkeit
einer höhern Einheit, als die der bloss generischen Identität ist, muss
also den Grund enthalten, durch welchen der Widerspruch aufgeho-
ben werden kann.«19 Die »Einheit unterschiedener Bestimmungen«,
Das Ganze des Systems 131
setzt, sind das Erkennen oder die im Elemente des Denkens sich reali-
sierende Idee.«36
Die Rede vom Elemente des Denkens setzt zum mindesten ein von
diesem unterschiedenes »Element« voraus - dieses ist, wie wir zuvor
gesehen haben, das Sein als Dasein, Realität, als das »Reelle oder
Etwas«37, und in der Form des Reflexionsverhältnisses als Wirklichkeit,
»das selbständige Verhältnis.«38 Erst als sich in der Tätigkeit des Den-
kens zeigt, dass Wirklichkeit nie das Einzelne allein an sich ist, sondern
die Vermitteltheit des Einen mit dem Anderen und als solche Wechsel-
wirkung in sich oder als allgemeine Substanz Wechselwirkung mit
sich 39 , kann der Begriff als die »Darstellung des Gegenstandes nach
seinen das ei enden Bestimmungen«, d.h. als das Sich-Zeigen der Wirklich-
keit begriffen werden.
Was Hegel am Ende der Nürnberger Enzyklopädie für die Ober-
klasse unter dem Titel Wissenschaft begreift, bleibt auch in den späteren
Ausarbeitungen der Enzyklopädie erhalten. Dann aber wird dem der
Titel Philosophie gegeben. 4o Und diese Wissenschaft = Philosophie
(oder die Wissenschaft vom wissenschaftlichen Wissen) nimmt die
ganze Entwicklung der Wissenschaften und ihrer Wissens bestände in
sich auf. »Diese Bewegung, welche die Philosophie ist, findet sich
schon vollbracht, indem sie am Schluss ihren eigenen Begriff erfasst,
d.i. nur auf ihr Wissen Zurücksieht.«41 In diese Bestimmung, derzufolge
die Philosophie das ganze Wissen der Wissenschaften in seinem ge-
schichtlichen Werden und in seinem jeweils gegenwärtigen Umfang
von der Idee des Ganzen aus zurückschauend umfasst, mündet Hegels
Wissenschaftsphilosophie, als welche Hegel seit der Phänomenologie sein
System verstanden hat. 42
Dass Philosophie das »System der Wissenschaft« sei, das die Ge-
samtheit der Wissenschaften in sich einschliesse, kann Hegel aber des-
halb sagen, weil für ihn die Philosophie die Erscheinung des Wahren
oder das Sich-Zeigen der Wahrheit ist. 43 Die Wissenschaft ist der Be-
reich des (objektiven) Geistes, in dem die Wahrheit sich in der einzigen
ihr zukommenden Weise, nämlich begrifflich, konstituiert - und das
heisst eben nicht einfach vorfindiich ist, sondern durch die begriffliche
Darstellung des vorbegrifflich Gegebenen die Form erhält, in der sie
Moment der Wahrheit ist. Wahrheit ist ein Modus der Gegebenheit der
Realität, des Wirklichen im Denken.
Hegels Begriff des Wahren ist an der klassischen Formel orientiert,
dass Wahrheit die Übereinstimmung des Gegenstandes mit seinem Be-
griff sei - und zwar in zweifacher Hinsicht: Übereinstimmung des da-
Das Ganze des Systems 135
unter der Idee, wie Hegel sie denkt, eine Art Entität oder (gegenüber
der materiellen Wirklichkeit »eigentliche«) Substanz zu verstehen. Die
absolute Idee ist »die reine Form des Begriffs, die ihren Inhalt als sich
selbst anschaut. Sie ist (...) die Identität mit sich, in der aber die Tota-
lität der Form als das System der Inhaltsbestimmungen enthalten ist.«63
Als solche ist sie die »absolute und alle Wahrheit«64, und das heisst die
»Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst«65; und das ist eine Er-
läuterung der Formel von »der Wissenschaft der Dinge in Gedanken
gefasst.«66 Notwendig ist diese Übereinstimmung dann und nur dann,
wenn der Gedanke alle möglichen Inhalte der Welt einschliesst, sodass
von ihm nichts mehr negiert werden kann - der absolute Begriff. Nun
ist aber die extensionale Totalität, die Welt, die Natur, nie als ganze Ge-
genstand der Anschauung, der Vorstellung oder des bestimmten Be-
griffs von etwas, sondern nur in der Intensionalität des absoluten Be-
griffs gegeben, des Begriffs vom vollständigen Begriff (notio completa),
der die Totalität der (Begriffs)Form als das wissenschaftliche System
der Inhaltsbestimmungen darstellt. Insofern werden in der absoluten
Wahrheit die Objektivität der Welt und die Subjektivität des Begriffs
identisch, obwohl (und indem) sie unterschieden bleiben. Weil in der Ex-
trapolation ins Unendliche, aufs Ganze, sich das Sein (die Welt) und das
Denken (das Wissen) notwendig verhalten wie Gegenstand und Spie-
gel des Gegenstands, kann für endliches Denken (bestimmtes Wissen
der Wissenschaften) der Ort im Horizont der Frage nach dem Wahr-
heitsverhältnis (= der Idee) angegeben werden. Das ist der Sinn dessen,
was Hegel mit »spekulativer Philosophie« als Wissenschaft von der
Möglichkeit von Wissenschaften intendiert. Diesen Sinn will und muss
er in der Realphilosophie einlösen.
Längst ist das, dem Positivismus des späten 19. Jahrhunderts ent-
stammende, Vorurteil widerlegt, Hegel habe in der Naturphilosophie
- dem 2. Teil der En?JIklopädie - und in den auf die Naturwissen-
schaften bezüglichen Partien der Logik seine spekulative Phantasie
fern aller Erfahrung schweifen lassen; genauere wissenschafts ge-
schichtliche Untersuchungen haben gezeigt67, dass Hegels Naturphi-
losophie insgesamt auf dem Stand des empirischen Wissens seiner
Zeit sich befand. 68 Dieser Nachweis, der wohl die Legende von der
Wirklichkeitsferne der Spekulation widerlegt, scheint allerdings wenig
140 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
für die Frage auszugeben, welche Bedeutung Hegel für das heutige
Wissenschaftsverständnis hat. Und die Antwort auf diese Frage ist
auch nicht von einer Untersuchung über die Anwendbarkeit (oder
Nicht-Anwendbarkeit) der Kategorien Hegelscher Naturphilosophie
auf die Theorienbildung gegenwärtiger Naturwissenschaften zu er-
warten, sondern eher davon abhängig, ob die Begriffsform der
Hegelschen Ontologie eine jeder einzelwissenschaftlichen Theorie-
bildung vorgelagerte Ebene der allgemeinen Verfasstheit des Wirk-
lichkeit beschreibt (einschliesslich des Reflexionsverhältnisses, wel-
ches sich in der Beziehung der tätigen und erkennenden Subjekte zur
Wirklichkeit herstellt). In dieser Hinsicht hat Renate Wahsner sicher
die richtige Perspektive angegeben: »Die Bedeutung der Naturphilo-
sophien jener klassischen Systeme liegt also nicht etwa darin, über sie
die naturwissenschaftliche Methode in die Philosophie einzuschmug-
geln. Dennoch kommt ihnen bei der Suche der Philosophie nach
einem wissenschaftlichen Status eine unverzichtbare Rolle zu - eine
unverzichtbare Rolle für die Objektivierung ihres Gegenstandes. Ge-
nauer müsste man vermutlich sagen: für das Begreifen des neuzeitlichen
Objektivierungspnnzips, auf dem die Naturwissenschaften im moder-
nen Sinne sämtlich beruhen.«69 Selbst wenn Hegel in seinem Ver-
ständnis des Objektivierungsprinzips der Naturwissenschaften dieses
verfehlt haben sollte (wie Renate Wahsner zu zeigen versucht), so
würden doch die Anforderungen, die er an ein solches Prinzip stellt,
an ihnen selbst geprüft werden müssen und könnten den Geltungs-
anspruch behalten, wenn sie den Status des Verhältnisses von Subjekt
und Welt unter den Bedingungen der Endlichkeit und Zeitlichkeit
des Subjekts und der universellen Zeitlichkeit und Bewegtheit der
Welt thematisieren.?o Hegel hat einen paradigmatischen Weltentwurf
geliefert, der einen Horizont angibt, innerhalb dessen sich das Selbst-
verständnis der Naturwissenschaften und ihrer Methodologie be-
gründen lässt - ohne dass dies unbedingt mit den Gründen gesche-
hen müsste, die Hegel selbst ausgeführt hat. Seine Ausarbeitung eines
ontologisch fundierten Naturbegriffs geht aber weit über das, was die
neueren (messenden) Naturwissenschaften zu ihrem Gegenstand ma-
chen, hinaus und zielt auf eine allgemeine Dialektik der Natur als
Theorie des Gesamtzusammenhangs und der in ihm sich entfalten-
den Bewegung (oder Bewegungsformen, wie Engels später sagen
wird). Die Bedeutung dieses Konzepts für die Wissenschaften (die ja
immer - ob sie es wissen oder nicht - eine Ontologie implizieren) ist
nicht von diesen her abzufragen, sondern von der Tragfahigkeit der
Das Ganze des Systems 141
Hegelschen Methode, die das Werden des Ganzen mit dem Prozess
der Spezifikation der Natur verbindet, abhängig.
Lenin hat in der bemerkenswerten Gleichung des § 244 der EniJ-
klopädie - »die seiende Idee aber ist die Natur« - einen Schlüssel zur
Struktur des Hegelschen Systems erkannt.7 1 Im absoluten Idealismus
der Logik ist ein geheimer Materialismus versteckt, wenn die Idee,
indem sie ist (und also nicht nur gedacht wird), die Naturist. Denn Natur
- das heisst materielle Wirklichkeit. Es klingt fast wie bei Feuerbach,
wenn Hegel im § 246 (Zusatz) sagt: »Die Naturdinge denken nicht und
sind keine Vorstellungen oder Gedanken.«72 Erst dadurch, dass wir sie
im theoretischen (= betrachtenden) Verhalten aus ihrem Status der Un-
mittelbarkeit und Singularität in ein Allgemeines transformieren 73 ,
werden sie zu etwas Geistigem: »Dadurch, dass wir die Dinge denken,
machen wir sie zu etwas Allgemeinem; die Dinge sind aber einzelne,
und der Löwe überhaupt existiert nicht.«74 Und Hegel nennt das aus-
drücklich »diese Verkehrung« - eine Formulierung, die das Marx-En-
gels-Leninsche Programm der »Umkehrung Hegels« aus Hegel selbst
zu begründen erlaubt. Nur in der Form der Allgemeinheit ist das sin-
guläre Ding objektiv, das heisst für ein Subjekt gegeben. Die Gegeben-
heit besteht darin, dass das der Identifikation sich entziehende flüch-
tige sinnliche Datum durch seine Bestimmungen zur »Sache selbst«
vermittelt wird, die sich allein im Begriff zeigt: »Die Allgemeinheit ist
die Objektivität des Gegenstandes. (Allgemeinheit ist, dass sich der Ge-
genstand allgemein finde. Die innerliche Allgemeinheit ist der Begriff,
sein Wesen).«75
Der Begriff des Allgemeinen wird hier offenkundig in zweifacher
Bedeutung gebraucht. Einmal ist das Allgemeine das, was »sich allge-
mein findet«, also das für erkennende und handelnde Subjekte am Ge-
genstand Gemeinsame. Das Einzelne ist selber ein Allgemeines, insofern
es für alle in gleicher Weise erfahrbar ist; diese Allgemeinheit manife-
stiert sich in der Sprache, das Wort ist der allgemeine Ausdruck der sin-
gulären Sache (gegenüber der Singularität der sinnlichen Empfindung)
und die Bedingung der Möglichkeit gemeinschaftlicher Praxis. - Zum
zweiten ist das Allgemeine aber das Wesen der Sache selbst, das heisst
das nicht bloss hier und jetzt Erscheinende, sondern die unter der
Oberfläche liegenden Momente seines Seins und Wirkens, einschhess-
lich der Bedingungen, die sein So-sein bestimmen, in ihrer logischen
und zeitlichen Kette. In diesem Sinne ist im Begriff jedes Einzelnen die
ganze Welt in der spezifischen Perspektive ihrer Verknüpfungen mit
diesem Einzelnen enthalten, jedes Einzelne ist ontologisch ein Integral
142 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
der Welt und somit eine besondere Form des Allgemeinen, weil jedes
andere Einzelne ja dasselbe in anderer Perspektive ist7 6 ; der Begriff ist
Ausdruck der besonderen Allgemeinheit, als Einheit eine Chiffre der
Totalität und Titel für die Universalität der Bestimmungen jedes Seien-
den, die immer nur in der Methode des Transzendierens endlicher Be-
stimmtheit, der »Fortbestimmung des Begriffs«, erreicht werden kann.
Wenn Hegel von Natur spricht, so hat er primär nicht die Naturge-
setze im Blick, sondern die Mannigfaltigkeit der Naturseienden, die in
ihrer Diskretheit und Diversität von den Abstraktionen der Naturwis-
senschaften gerade nicht erfassten singulären »ersten Substanzen« des
Aristoteles, das ontische Dieses-da (tode tl), das sich in seiner Einzelheit
dem verständigen Denken und der Logik der Klassifikationen entzieht.
Der Hegelsche Naturbegriff hat jene Dimension der ästhetischen An-
schauung bewahrt, die von Leonardo da Vinci ausgesprochen wurde:
»Die Natur hat so viel Freude am Wechsel und verfügt über eine solche
Fülle, dass man selbst unter den Bäumen derselben Art nicht eine
Pflanze findet, die einer anderen annähernd gleicht, nicht nur die
Bäume, sondern ihre Äste, Blätter und Früchte sind niemals alle ganz
gleich.«77
Die Natur als das Andere der Idee (d. h. als das, wovon die Idee eben
die Idee ist) oder als das Andere des Geistes ist durch diese Entgegen-
setzung von abstrakt Allgemeinem und Singulärem nicht negativ be-
stimmt, sondern in ihrer Eigenart, als anschaulich gegebene in zer-
streuter Vielheit zu erscheinen, während der Geist seine Gegenstände
in einem konstruktiven Zusammenhang sub specie unitatis vorstellt und
begreift, und im Begriffe dann jedes Einzelne als das konkrete Allge-
meine erkennt. Aber die anschauliche Zerstreutheit und Vielheit ver-
harrt nicht im Erscheinungsmodus als Agglomerat von Disparatem,
sondern wird vom Denken mehr und mehr als Interaktion, als »Inein-
anderpassen und Zweckmässigkeit«78 erfasst und so als Geist zu sich
selbst, zu seinem Wesen gebracht. »Das Werden der Natur ist das Wer-
den zum Geist.«79 Die im Denken erscheinende Natur als Einheit ist die
Natur, die sich in ihrem geistigen Wesen zeigt, und demgemäss
gehören die Naturwissenschaften zum Geist, und die Naturphilosophie
ist eigentlich die geistige Form, in der die Natur sich der philosophi-
schen Betrachtung darstellt (und darstellen muss). »Die Intelligenz fa-
miliarisiert sich mit den Dingen freilich nicht in ihrer sinnlichen Exi-
stenz; aber dadurch, dass sie dieselben denkt, setzt sie deren Inhalt in
sich (00')' Dieses Allgemeine der Dinge ist nicht ein Subjektives, das uns
zukäme, sondern vielmehr, als ein dem transitorischen Phänomen ent-
Das Ganze des Systems 143
Wesen allein sind sie real, sie sind da ohne mein Zutun, weil zwischen
ihnen und dem Ganzen ein oijektives Verhältnis ist. Also liegt jeder
Organisation ein Begriff zugrunde, denn wo notwendige Beziehung
des Ganzen auf Teile und der Teile auf ein Ganzes ist, ist Begriff.«103
Ein natürliches Wesen ebenso als äussere materielle Organisatiqn wie
als in ihm wirkenden organisierenden Begriff aufzufassen, schien
zunächst in Anknüpfung an Spinoza und Leibniz möglich zu sein.
Bald aber merkte Schelling, dass die Objektivität der Naturdinge in
den Wissenschaften einerseits, ihre begriffliche Konstruktion in der
Reflexionsform der Philosophie andererseits nach Kants Erkenntnis-
kritik nicht mehr naiv im Naturding selbst identifiziert werden konn-
ten. Seine Bemühungen galten seit 1799 dem Versuch, einen natur-
philosophischen Realismus und einen transzendentalphilosophischen
Idealismus systematisch miteinander zu vereinigen: »Nach dieser An-
sicht, da die Natur nur der sichtbare Organismus unseres Verstandes
ist, kann die Natur nichts anderes als das Regel- und Zweckmässige
produzieren, und die Natur ist gez:!Vungen, es zu produzieren. Aber
kann die Natur nichts als das Regelmässige produzieren, und produ-
ziert sie es mit Notwendigkeit, so folgt, dass sich auch in der als selb-
ständig und reell gedachten Natur und dem Verhältnis ihrer Kräfte
wiederum der Ursprung solcher regel- und zweckmässigen Produkte
als notwendig muss nachweisen lassen, dass also das Ideelle auch hinwie-
derum aus dem Reellen entspringen und aus ihm erklärt werden muss. Wenn es
nun die Aufgabe der Transzendentalphilosophie ist, das ReUe dem
Ideellen unterzuordnen, so ist es dagegen Aufgabe der Naturphiloso-
phie, das Ideelle aus dem Rellen zu erklären: beide Wissenschaften
sind also eine, nur durch die entgegengesetzte Richtung ihrer Aufga-
ben sich unterscheidende Wissenschaft.«104
Schelling löst dieses Verhältnis zunächst durch eine Art K.omple-
mentaritätsprinzip. Aber es liegt auf der Hand, dass damit die Frage
nach dem konstitutiven Prinzip der wechselseitigen Entsprechung von
Natur- und Transzendentalphilosophie, von Realität und Idealität un-
abweisbar wird. Hegel hat dafür das Denkmodell der Äquivalenz von
Äusserlichkeit (Extensionalität) der Natur und Innerlichkeit (Intensio-
nalität) des Begriffs eingeführt (was an Schellings Gedanken von 1797
anknüpft) und die Einheit von extensionaler Bestimmung der Vielheit
und intensionalen Konzentration des Vielen in der Einheit des Begriffs
in die absolute Idee verlegt, die ja nur in der Konstruktion ihrer selbst
durch die prozessuale Methode der Fortbestimmung erscheint und als
solche die Natur ist.
148 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
und Bedingung.«l13 Die Einheit der Natur liegt aber in keiner Erfah-
rung vor, wenn sie auch, als Bedingung ihrer Möglichkeit, in ihr ent-
halten ist. Die Einheit ergibt sich aus der Vernunftform des Begreifens,
sie ist im Begriff gegeben. Die Naturphilosophie ist darum nicht die
verallgemeinernde Lehre von den Eigenschaften und speziellen Geset-
zen der Naturdinge und kann auch nicht angeben, was die Wissen-
schaften tun sollen oder nicht tun dürfen (ausser dem allgemeinen Ra-
tionalitätsgebot, das die Grenze von Wissen und Glauben oder Meinen
festlegt). Ihre Aufgabe ist es vielmehr, ein Konzept von der Einheit der
Welt zu entwerfen, das den Wissenschaften gegenständlichen Halt bie-
tet und methodische Selbstvergewisserung ihres epistemologischen
Status vermittelt. 114
Hegel hat sich immer gegen die Verwechslung und Vermischung
philosophischer und wissenschaftlicher Begrifflichkeit gewehrt. Es ist
eine ironische Wendung der Philosophie- und Wissenschafts ge-
schichte, dass gerade seine Naturphilosophie nur in dauernder Ver-
wechslung dieser Begriffssphären rezipiert wurde. Unterschieden hatte
Hegel ja tatsächlich schon in den ersten Paragraphen der En?Jklopädie
den Charakter der Philosophie - »das reflektierende Denken, welches
Gedanken als solche zum Inhalte hat« - von dem der Wissenschaften -
die »ihre Gegenstände als unmittelbar von der Vorstellung zugegeben
sowie die Methode des Erkennens für Anfang und Fortgang als bereits
angenommen voraussetzen.«115 Wer also den metatheoretischen Charak-
ter seiner Naturphilosophie verkennt, hat bereits ein von ihm aufge-
stelltes Verbot verletzt.
Sicher hat Hegel, durch zahlreiche Verweise auf naturwissen-
schaftlich erforschte Sachverhalte, das Missverständnis gefördert, es
gehe ihm um eine allgemeine Naturlehre, während doch - besonders
wenn man dem Skelett der Vorlesung folgt - deutlich werden kann,
dass er eine Ontologie der Natur als Evolution vorlegen und mit dem
Evolutionsprinzip das Kantsche Problem der »Spezifikation der
Natur« lösen wollte. Valerio Verra hat darauf hingewiesen, dass Hegel
dabei weit über die Entwicklungstheoretiker seiner Zeit hinausgegan-
gen ist, indem er das avancierte Konzept Goethes, die Entwicklung als
Metamorphose auf »ein Schema zurückzuführen, das (...) in den be-
sonderen Produkten lebt und besteht« und »die verschiedenen Natur-
gestalten durch Modifikation eines einzigen Organs, das heisst durch
die Umwandlung der Teile zu begreifen«, als blasse Ansicht der Ober-
flächenerscheinung kritisiert und stattdessen »die dialektisch entgegen-
gesetzte Funktion von Gattung und Art wie von Gattung und Indivi-
Das Ganze des Systems 151
in der Natur wird nicht einfach von einem Standpunkt ausserhalb der
Natur beschrieben. Die Evolution der Natur ist zugleich eine Evolu-
tion ihrer begrifflichen Darstellung: Die Kategorien entwickeln sich
parallel zum Naturverhältnis des Geistes als der Gestalt der Selbstre-
flexion der Natur. Teleologie meint etwas anderes bei Aristoteles als bei
HegeI, obwohl der Terminus sich auf denselben Sachverhalt, die ente-
lechiale Selbstorganisation des Seienden, bezieht und also auch wieder
etwas meint, was in der Verschiedenheit gemeinsam bleibt. Hegel Ge-
schichte der Philosophie, die mit der Philosophie der Weltgeschichte
zusammen gelesen werden muss, entwickelt die Historizität des Seins-
verständnisses als Funktion des Seinsverhältnisses. Und das gilt eben nicht
nur für die Geschichte der Menschheit oder des Geistes, sondern auch
für die Natur.
Die Auffassung der Natur als eines Systems von Relationen, deren
Glieder sich wechselseitig bestimmen und explizieren - d. h. die Auf-
fassung des materiellen Seins als substantielles Verhältnis oder Struk-
tur, nicht als Substrat125 - hat Hegel in mannigfachen Varianten ausge-
führt. Nehmen wir die knappe Form der Vorlesungen von 1819/20:
»Die erste Bestimmung ist, dass die individuelle Körperlichkeit ein Ver-
hältnis in sich ist C•••). Körperliche Bestimmtheit ist wesentlich Verhält-
nis-Bestimmtheit. Diese ist zuerst ein formelles Verhältnis, dass der
Körper in sich ist, zugleich reflektiert in sich und in anderes, Beziehung
auf anderes, die aber wesentlich Reflexion in ihm selbst ist, sein eige-
nes Immanentes C•••). Hier ist also wieder der Raum als Moment, weil
das Materielle überhaupt Verhältnis ist; zum Verhältnis gehören aber
zwei Seiten, das Materielle als Schweres, als Besonderes, verhält sich zu
seiner unmittelbaren Allgemeinheit oder Gattung, zum Raum, das Be-
sondere zum Abstraktum oder Allgemeinen C•..) Verhältnis ist dieser
Widerspruch, dass jede Seite für sich ist, und ebenso unselbständig, die
eine ist nur bestimmt durch die andere, da sie im Verhältnis in Bezie-
hung auf ein Anderes ist; ein Anderes ist ihr Sein, dies ist das Verhält-
nis der Idealität, so ist es negiert, und ein anderes ist in ihm gesetzt.«126
Wirklich werden die Materien in Beziehung auf Andere, durch die sie
sich wieder auf sich selbst zurückbeziehen. In dieser Doppelbewegung
der Beziehung auf anderes und Reflexion in sich entsteht das »gegen-
ständliche Wesen«, das sich selbst Gegenstand werden kann, indem es
einen Gegenstand hat, und das damit zum Subjekt wird. »Das totale In-
dividuum, wie es Gestalt ist, ist es in der Beziehung nur auf sich; die
wahrhafte Individualität ist ein Subjekt.«127 Diese Form der Selbstbe-
züglichkeit oder des Selbstverhältnisses, aus der die Hinordnung auf
154 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Dass die Natur ihre Wahrheit im Geiste habe, wie § 381 der En?Jklopä-
die zur Einführung des Begriffs des Geistes sagt, lässt sich nur dann
verstehen, wenn wir Geist nicht als eine immaterielle Substanz der Ma-
Das Ganze des Systems 155
vergenz von sequi und consequi von Hegel auch als Schlussformen, als »Ein-
heit von bestimmten Extremen«138 behandelt werden). Die Logik steht
dann vor den drei Teilen der Realphilosophie als Lehre von diesen
apriorischen Formbestimmtheiten an sich - eine Lehre, die diese
Formbestimmtheiten in ihrer formalen Bewegung rein an sich selbst
vorführt und sie aus dieser Bewegung mit Notwendigkeit hervorgehen
lässt. Der Gang der Logik ist also ebensosehr die Methode der Dialek-
tik wie deren System - und die von gedankenlosen Hegel-Interpreten
in der Folgezeit vorgenommene Trennung von System und Methode
ist nichts anderes als der untaugliche Versuch, dem Gehalt der Dialek-
tik (oder besser: des Spekulativen) mit Verstandesoperationen auf die
Spur kommen zu wollen.
Dass eben dieses in sich bewegte, in sich reflektierte wirkliche
Ganze mit dem Terminus Geist benannt wird, ist ein Erbstück abend-
ländischer Philosophietradition.Im Terminus Geist fliessen der logos des
Heraklit und der nous des Anaxagoras zusammen. Dass eine extensio-
nale Vielheit als intensionale Einheit und das Besondere als Allgemei-
nes gefasst und eingesehen werden, liegt in diesen Wörtern. In letzter
Instanz ist Geist das Absolute, weil als Totalität relationslos und nur in
sich selbst bezüglich. Das sagt die Anmerkung zu § 384 der EniJklopä-
die: ))Das Absolute ist der Geist, dies ist die höchste Definiton des Absolu-
ten.«139 Und die Bezüglichkeit oder Reflexion in sich des an sich be-
zugslosen Ganzen wird im Zusatz ausdrücklich erläutert: »Auf dieser
Stufe verschwindet der Dualismus einer selbständigen Natur oder des
in das Auseinander ergossenen Geistes einerseits und des erst für sich
zu werden beginnenden, aber seine Einheit mit jenem noch nicht be-
greifenden Geistes anderseits, (...) sodass dies Andere jeden Schein der
Selbständigkeit gegen ihn verliert, vollkommen aufhört, eine Schranke
für ihn zu sein, und nur als das Mittel erscheint, durch welches der
Geist zum absoluten Fürsichsein, zur absoluten Einheit seines An-
sichseins und seines Fürsichseins, seines Begriffs und seiner Wirklich-
keit gelangt.«140
Das sind Bestimmungen, die sich in der Entwicklung des HegeI-
schen Systems längst ergeben haben. Hier werden sie nun als Resultat
vorgestellt. Hegels ganze Philosophie ist Geistphilosophie - aber nicht als
Abwertung des Materialität, sondern als Prinzip von deren Einheit. Die
Antithese von Natur und Geist ist eine vorläufige, vor-spekulative:
»Wir haben gesagt, der Geist negiere die Äusserlichkeit der Natur, assi-
miliere sich die Natur und idealisiere sie dadurch. Diese Idealisierung
hat im endlichen, die Natur ausser sich setzenden Geiste eine einseitige
158 !-legels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Gestalt; hier steht der Tätigkeit unseres Willens wie unseres Denkens
ein äusserlicher Stoff gegenüber.«141 Demgegenüber erkennt das spe-
kulative Denken das Geistige in der Vielheit der Dinge: »Die Philoso-
phie hat also gewissermassen nur zuzusehen, wie die Natur selber ihre
Äusserlichkeit aufhebt, das Sichselbstäusserliche in das Zentrum der
Idee zurücknimmt oder dies Zentrum im Äusserlichen hervortreten
lässt.«142 Dies ist eben das Geistige, dass es gedacht werden muss und
nicht angeschaut werden kann und der Geist folglich wirklich nur ist,
wenn er sich begreift: »Der Begriff des Geistes hat seine Realität im
Geiste.«l43 So fügen sich Anfang und Ende des 3. Teils der En?Jklopä-
die zusammen.
Man muss sehen, dass sich im Aufbau der En?Jklopädie zwei Bau-
pläne durchdringen: Einmal jener der Metaphysica specialis, demzu-
folge die gesamte Realphilosophie eine Spezifikation der Geistphiloso-
phie ist: Natur als der Geist in seiner Äusserlichkeit, subjektiver Geist
als der Geist in seiner Individualisierung, kraft deren er sich in die Sub-
strate-Subjekte seiner Tätigkeit auseinanderlegt; objektiver Geist als
das Gattungsgeschehen; absoluter Geist als die Selbstdarstellung seiner
Entwicklung und Manifestationen. Zum zweiten jener Bauplan, der
sich aus der Selbstdarstellung des Geistes ergibt: Formale Struktur
(Logik), äusserliche Realität (Natur - wozu dann auch die gesamte ma-
terielle Seite der Menschheitsgeschichte gerechnet werden müsste 144),
Selbstverhältnis (Geist in endlicher Gestalt und als absoluter). Die
Schnittstelle dieser beiden Baupläne lässt sich an der Bedeutungsver-
schiebung erkennen, die der Geistbegriff erleidet, wenn er von einem
universellen Formbegriff der Welt im ganzen, der die Natur übergreift,
zu einem Begriff intensionaler Selbstbezüglichkeit transformiert wird,
der die extensionale Natur-Welt sich entgegenstellt. Hegel versucht, die
Bruchstellen in der Systematik, die durch diese Bedeutungsverschie-
bung entstehen, in den Schluss-Figuren der letzten Paragraphen der
En?Jklopädie zu verklammern. 145
Logik, Natur und Geist stehen in einem dreifachen Verhältnis von
Extremität und Vermittlung zueinander. Jedes dieser drei Verhältnisse
ist eine Manifestation des Absoluten oder die sich zeigende, offenba-
rende Wahrheit; nur alle drei zusammen aber, jedes die anderen deu-
tend, indem es sie verkehrt, sind jedoch die ganze Wahrheit, insofern
erst sie zusammen die Perspektivität des Wahrheit je des einzelnen
sichtbar werden lassen. 146
Der erste Schluss hat »das Logische zum Grunde als Ausgangspunkt
und die Natur zur Mitte (00')' die den Geist mit demselben zusam-
Das Ganze des Systems 159
menschliesst. Das Logische wird zur Natur und die Natur; zum Gei-
ste.«!4 7 Die ist, wie man sieht, die Abfolge in der Enifklopädie. Hier hat
die Natur die Stellung, dass Idee und Geist sich in ihr als ihrer materi-
ellen Bedingung treffen. Aber da die Natur in dieser Stellung bloss lo-
gischer »Durchgangspunkt und negatives l\Ioment«!48 ist, sich jedoch
als reale Grundlage erweist, hebt sich dieser Standpunkt des Idealis-
mus!49 auf und geht in den Materialismus über, der die reale Grundlage
als solche zum Ausgangspunkt nimmt.
Der zweite Schluss, den man den materialistischen nennen könnte,
setzt dann die Natur als Erstes voraus und schliesst sie mit dem Logi-
schen durch den Geist zusammen.!SO Das heisst, der Geist erkennt den
logos in der Natur, die Einheit der Welt wird in ihrer Vernunftstruktur
gefunden, die Extreme der reinen aposteriorischen Äusserlichkeit der
Natur und der apriorischen Idealität der Logik finden sich im Geiste
durch ihn vermittelt. »Die Wissenschaft erscheint als ein subjektives
Erkennen, dessen Zweck die Freiheit und es selbst der Weg ist, sich die-
selbe hervorzubringen.«!5! Die Materialität der Welt erweist sich als des
Geistes bedürftig, um sich als Grundlage behaupten zu können.
Sind nun der Idealismus der Logik und der Materialismus der Na-
turphilosophie als ineinanderübergehende (und damit unselbständige)
Aspekte eines und desselben Verhältnisses kenntlich geworden, so
wird der dritte Schluss eben diese Perspektivität der Begründungslinien
und ihre wechselseitige Angewiesenheit aufeinander aufzeigen. »Der
dritte Schluss ist die Idee der Philosophie, welche die sich wissende Ver-
nunft, das Absolut-Allgemeine, zu ihrer Mitte hat, die sich in Geist und
Natur entzweit, jenen zur Voraussetzung als den Prozess der subjektil1en
Tätigkeit der Idee und diese zum allgemeinen Extreme macht, als den
Prozess der an sich, objektiv, seienden Idee.«!52 Das ist der Weg, den das
System der Wissenschaft geht: Es hebt an mit der Tätigkeit des Geistes
(Phänomenologie), legt deren formale Strukturen frei (Logik) und ent-
wickelt in ihnen die reale Verfassung des Welt-Seins »als ihre (der sich
wissenden Vernunft) Manifestationen, (...) dass die Natur der Sache,
der Begriff, es ist, der sich fortbewegt und entwickelt, und diese Bewe-
gung ebensosehr Tätigkeit des Erkennens ist, die ewige an und für sich
seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und ge-
niesst.«!53
Logik - Natur - Geist; Natur - Geist - Logik; Geist - Logik -
Natur - das sind die drei Schluss-Figuren, mit denen die Enifklopädie
den Sinn ihrer Entwicklung des Systems der philosophischen Wissen-
schaften resumiert. Jeweils das Mittelglied des vorhergehenden ist der
160 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Die Analyse des Hegelschen Systems führt uns auf die Figur des
Selbstunterschieds als logisch-ontologischer Struktur der Idee. Das
Seiende, dessen So-Sein an sich selbst dieses Verhältnis und nichts an-
deres ist und das also dieses Verhältnis rein darstellt, ist der Spiegel.! Die
Spiegelmetapher ist in diesem Sinne immer wieder in der Philosophie-
geschichte gebraucht worden. 2 Hegel selbst hat in einer mit Bedacht
gewählten falschen Etymologie das Spekulative auf den Spiegel bezo-
gen. Die Spiegelstruktur eines im Selbstunterschied sich herstellenden
Selbstverhältnisses ist eine logische - und in konsequenter Deutung des
Logischen auch eine ontologische - Formbestimmtheit. Das Widerspie-
gelungstheorem, von dem im folgenden die Rede ist, entwirft ein on-
tologisches Modell zur Interpretation des Sinns von Spekulation. Es
wäre ein Missverständnis anzunehmen, es sei ein erkenntnistheoreti-
sches Konzept (wie manche sogenannte »Widerspiegelungstheoreti-
ker« meinen); das ist es erst in einem sehr abgeleiteten Sinne, primär
und genuin drückt es eine ontologische Struktur oder Formbestimmt-
heit von Welt aus. Dieses ist auch der philosophische Grundgedanke,
der die Widerspiegelungstheorie in ihrer originären Fassung bei Lenin
bestimmt. Widerspiegelungstheoretisch fallen die Welt als ganze und
die absolute Idee nicht dualistisch in zwei Entitäten auseinander, son-
dern werden begriffen als ein und dasselbe in den unterschiedenen
Modi der Realität und der Idealität oder auch der Extensionalität und
Intensionalität. Die Genese der Idee aus der Entwicklung der Formbe-
stimmungen der Objektivität im Übergang vom zweiten zum dritten
Abschnitt der Begriffslogik legt die Konstruktion eines Spiegelverhält-
nisses von Begriff und Wirklichkeit nahe, das als Ganzes durch den
Terminus Idee ausgedrückt wird.
Da nun aber der ideelle Charakter dessen, was als das Absolute oder
das Ganze Inhalt der Idee oder schlechthin die Idee ist, nicht in Zwei-
fel gezogen werden kann, sondern vielmehr gerade die Garantie dafür
ist, dass dieser Inhalt überhaupt vergegenwärtigt werden kann und
162 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Begriffs und der Objektivität. Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Be-
griff in seinen Bestimmungen; ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstel-
lung, die er sich in der Form äusserlichen Daseins gibt und diese Gestalt
in seiner Idealität eingeschlossen, in seiner Macht, so sich in ihr erhält.«4
Begriff und Idee sind indessen nur als Resultat ihrer Bestimmungen
mithin als Prozess des Erkennens oder im Werden des Wissens das, was
sie sind; und da dieser Prozess nicht an einem Punkte zur Koinzidenz
aller seiner Momente gerinnt und folglich nicht als besonderes Resultat
zu fassen ist, ist das Wissen, das den Begriff und die Idee bildet, nur in
der Gesamtheit seines Werdens der Wirklichkeit isomorph.
Wenn also Hegels Feststellung richtig ist, das Verstandesdenken in
seiner Alltagsgestalt wie auch in seiner wissenschaftlichen Präzisierung
reiche nicht aus, um das einzelne Wirkliche in seinem wahren Sein,
nämlich als vermitteltes Moment des Ganzen, zu erfassen, so ergeben
sich daraus Konsequenzen, denen sich keine Philosophie entziehen
kann - auch eine materialistische nicht. Die erste dieser Konsequenzen
ist, dass die in prädikativen Sätzen formulierten bestimmten Tatsa-
chenfeststellungen, die den Inhalt einzelwissenschaftlichen Wissens
ausmachen, gerade nur als vorläufige und unzulängliche Bestimmun-
gen der Gegenstände genommen werden dürfen. Die Festigkeit und
Unauflösbarkeit der im prädikativen Urteil ausgesprochenen Identität
von Subjekt und Prädikat ist ein »logischer Schein«, der das wirkliche
Übergehen der Bestimmungen in ihr Anderssein nicht ausdrückt.
»Ohnehin ist die Form des Satzes oder bestimmter des Urteils unge-
schickt, das Konkrete - und das Wahre ist konkret - und Spekulative
auszudrücken; das Urteil ist durch seine Form einseitig und insofern
falsch.«5 Die philosophische Denkbewegung, die die Vermittlung des
einen mit dem anderen, den Gegensatz und Zusammenhang, die Ein-
heit der Widersprüche mitvollziehen muss, um die Sache in ihrer wah-
ren Gestalt darzustellen, muss - da auch sie von Prädikationen ausgeht
- in der Satzform die Auflösung des Satzes betreiben. Das war Hegels
Programm schon in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: »Der phi-
losophische Satz, weil er Satz ist, erweckt die Meinung des gewöhnli-
chen Verhältnisses des Subjekts und Prädikats und des gewohnten Ver-
haltens des Wissens. Dies Verhalten und die Meinung desselben
zerstört sein philosophischer Inhalt; die Meinung erfährt, dass es an-
ders gemeint ist, als sie meinte, und diese Korrektion seiner Meinung
nötigt das Wissen, auf den Satz zurückzukommen und ihn nun anders
zu fassen.«6 Aber das ist immer nur wieder möglich, indem die Nega-
tion einer .bestimmten Aussage wieder in die Form einer bestimmten
164 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Leibniz hat den idealen Charakter der notio completa, des vollstän-
digen Begriffs eines Sache, für einen endlichen Verstand als Auffor-
derung verstanden, die den Gesetzen der einzelwissenschaftlichen
Erkenntnis (auch der vorwissenschaftlichen) und also der formalen
Logik unterliegende Erfahrung von Tatsachenwahrheiten (viritis deJai!)
durch ein spekulatives metaphysischen System zu fundieren und zu in-
tegrieren, das auch einer übergreifenden dialektischen Logik bedarf,
um auf strenge Weise formuliert werden zu können. Die Grundfigur
dieses Modells des Gesamtzusammenhangs ist bei ihm die universelle
Repräsentation: Jede Substanz ist ein Spiegel der ganzen Welt, aber auf
je singuläre Weise, die durch den einmaligen Ort im Ganzen definiert
ist.
Dieser Leibniz-Gedanke liegt auch dem Hegelsehen System zu-
grunde. Es ist Hegels im Gang der Phänomenologie ausgeführte Einsicht,
dass keine Einzelerkenntnis, kein bestimmter Begriff aus sich selbst
begriffen werden und begründet werden kann, dass vielmehr der Be-
griff des Begriffs in einem unendlichen Prozess von Vermittlungen ge-
bildet wird. Diese Methode der Konstruktion des spekulativen Begriffs
durch die Entwicklung der Bestimmungen als explicatio des im Ganzen
liegenden Sinns, durch den erst die Bedeutung des Einzelnen konstitu-
iert wird, verweist aber auf die Kette der realen Bedingungen, an der
die Realität des Einzelnen hängt und durch die es mit allem anderen
verknüpft ist. Bei Leibniz ist das Prinzip, aus dem die notio completa einer
Sache in der Erkenntnis zu gewinnen ist, das principium rationis sufficien-
tis; und der Grund hat bei Leibniz sowohl einen logischen (auch hier
schon: spekulativ-logischen) wie einen ontologischen Charakter: Er ist
Erkenntnisgrund und Seinsgrund. Die notio completa eines Seienden und
die reale Inhaltsfülle der Substanz sind kongruent.
Die von Leibniz in der Idee der Monade gesetzte Identität wird bei
Hegel entwickelt; der Begriff, der sich selbst zur subjektiven Realität
hat, und die objektive Welt als die Schranke des Subjektiven sind die
beiden Entgegengesetzten, und sie sind »darin identisch, dass sie Idee
sind«. Aber: »Diese Einheit wird nun durch das Erkennen gesetzt.«!!
Erkennen ist der Prozess der Bestimmung des Gegenstands, bis er mit
der nur von mir zu denkenden Idee des Ganzen, des Absoluten ver-
schmilzt. Der formale Gehalt der Dialektik, nämlich das Übergehen
einer endlichen Bestimmtheit des Begriffs von einer Sache in eine an-
dere, ihr entgegengesetzte Bestimmtheit (und das heisst auch: in eine
andere Sache), ist gerade nicht formaliter, sondern nur durch den Fort-
gang inhaltlicher Erfüllungen, durch sachhaltige Explikation des Be-
166 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
sich nicht voneinander ablösen. Denn das Begreifen kann den Gegen-
stand der Erfahrung nur in seine Momente auseinanderlegen, weil die-
ser zuvor in der Erfahrung als ganzer auftrat; das apophantische Urteil
leitet sein Recht und seine Wahrheit aus dem Grundsatz ab: praedica-
tum inest subiecto. »Es muss aus diesem Grunde gesagt werden, dass
nichts gewusst wird, was nicht in der Erfahrung ist (...) Denn die Erfah-
rung ist eben dies, dass der Inhalt - und er ist Geist - an sich, Substanz,
also Gegenstand des Bewusstseins ist. Diese Substanz aber, die der Geist ist,
ist das Werden seiner zu dem, was er an sich ist; und erst als dies sich in
sich reflektierende Werden ist er an sich in Wahrheit der Geist.«18 Geist
ist weder der Gegenstand noch das Bewusstsein, sondern die Bezie-
hung beider, in welcher die Vermitteltheit der Sache selbst und ihre
Zeitlichkeit an ihr selbst als Einheit gefasst wird. Das heisst: Geist ist
»die Verwandlung (...) des Gegenstands des Bewusstseins in Gegenstand
des Selbstbewusstseins (...) oder in den Begriff.«19 Ist der Gegenstand des
Bewusstseins in der Äusserlichkeit der vielen Verschiedenen (diversa)
gegeben und das Verstandesurteil das logische Abbild des Naturseins,
so wird in der Bewegung des Bewusstseins, in der es zum Selbstbe-
wusstsein wird (und die die Bewegung ist, die als Ganze der Geist ist),
diese Vielheit wieder in die Einheit des Begriffs zurückgenommen - in
eine Innerlichkeit, die das Verschiedene in einer Repräsentation zu-
sammenfasst. »Ent-äusserung« und »Er-innerung« sind die Hegelschen
Termini für diesen gegenläufigen Prozess, der erst als Ganzes absolu-
ter Geist ist. Extensionalität und Intensionalität sind die korrespondie-
renden Termini (oder Aspekte) in der Theorie der Logik. Durch diese
Verwandlung des Äusseren ins Innere beziehungsweise in ihr konstitu-
iert sich die Identität von Wirklichkeitsstruktur und Begriffsform, von
Wirklichkeit und Wissen. Als Wissen ist der Geist wieder Bewusstsein
von sich, der vermittelte Begriff schlägt um und zurück in die Unmit-
telbarkeit. »Die Wissenschaft enthält in ihr selbst diese Notwendigkeit,
der Form des reinen Begriffs sich zu entäussern, und den Übergang des
Begriffs ins Bewusstsein. Denn der sich selbst wissende Geist, ebendarum
dass er seinen Begriff erfasst, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich
selbst, welche in ihrem Unterschiede die Gewissheit von Unmittelbaren ist,
oder das sinnliche Bewusstsein.«2o Diese Bewegung vom Gegenstand hin
zum Begriff und zurück zum Gegenstand ist die Reflexion, die »voll-
endete gegenständliche Darstellung«, in welcher die Substanz an sich in
ihren Bestimmtheiten als Begriff sich zeigt, und also »das Werden der-
selben zum Selbst«, nämlich zu dem, was sie als erkannte für sich ist:
Aktive Substanz im Prozess ihres Wirkens in der Welt, also Wirklich-
Der Widerspiegelungscharakter des HegeIschen Systems 169
Notwendigkeit denken muss) und so erfahre, dass die Idee als Abbild
des Geistes nicht irgendein Bild, sondern das Spiegelbild der Sache
selbst ist. (Selbstverständlich immer im Status des Selbstunterschieds).
Darum ist sie das Wissen, für welches die Substanz als solche ist. »Als
solche« heisst als geistige,und das bedeutet als eine und allgemeine und
als zurückkehrende und zurückgekehrte Identität, die beiden letztgenannten
Bedeutungen sind nichts anderes als Bestimmungen dessen, was abso-
lut geistig ist. »Der absolute Geist ist ebenso ewig in sich seiende als in
sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität, die eine und allge-
meine Substanz als geistige, das Urteil in sich und in ein Wissen, für welches
sie als solche ist.«29 Die Substanz, die die Voraussetzung und der Ge-
genstand des philosophischen Wissens = Systems ist, erscheint im
Spiegel des Wissens als geistige. Der Prozess, in dem sie, die zunächst
unmittelbar als reines Sein bestimmt und dann in ihre mannigfaltigen
Momente ausgelegt wurde, erscheint, ist die spekulative Bewegung des
Denkens, sein Spiegel-Sein = Reflexion.
Den Widerspiegelungscharakter des HegeIschen Systems machen
die Paragraphen 381-384 der EniJ'klopädie besonders deutlich, in
denen der »Begriff des Geistes« erörtert wird. Es geht hier um die Ex-
position der Philosophie des Geistes, nachdem die Philosophie der
Natur abgehandelt ist; es geht also um den Übergang der Natur zu
einem Anderen. Dieses Andere ist der Geist, der hier also zunächst
noch nicht als absoluter Geist, aber doch schon im Blick auf das Ab-
solute vorgestellt wird. Der Geist ist nur, sofern es die Natur gibt, sie
muss gedacht werden, damit der Geist gedacht werden kann; denn im
Geiste stellen sich die Inhalte der wirklichen Welt, der natürlichen Welt
dar, auf sie ist alles Geistige bezogen. »Der Geist hat fir uns die Natur
zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit und damit deren absolut Erstes er
ist.«30 Daran, dass die Natur dem Geiste vorhergeht und der Geist sie,
die es als die Sache selbst gibt, reflektiert, kann kein Zweifel sein. Doch
vollzieht sich in der Reflexion eine Umkehrung, die wir begreifen müs-
sen, wenn die Behauptung, der Geist, der die Natur voraussetzt, sei
»deren absolut Erstes«, nicht unsinnig erscheinen soll. Die Naturge-
genstände, die als Bewusstseinsinhalte Momente des Geistes sind, der
dadurch ist und sich erhält, dass er sie »in seiner Macht« (= potentia)
hat (wie wir oben von der Idee hörten31 ), sind immer nur als bedingte
gegeben, und so bedingen sie auch den Geist, in dem sie aufgehoben
sind.
Dass den bestimmten Einzelnen, den »endlichen Dingen« etwas
vorhergeht und als Seinsgrund vorhergehen muss, weil nur in Bezug
Der 'W'iderspiegelungscharakter des HegeIschen Systems 171
doppeldeutig, insofern der Spiegel die Realität von aussen nimmt und in
sich als Bild hineinnimmt, zugleich aber sich selbst damit als Spiegel erst
Realität verleiht. Das äusserliche Ding wird ihm dabei als Moment und
Bestimmung seiner selbst zum eigenen, allerdings virtuell (ideell). Genau
so beschreibt Hegel die Seinsweise des Begriffs: »Die Realität, die er (scil.
der Begriff) sich gibt, darf nicht als ein Äusserliches aufgenommen, son-
dern muss nach wissenschaftlicher Forderung aus ihm selbst abgeleitet
werde.«49 Diese Ableitung ist die Durchführung der dem Denken imma-
nenten Bewegung, seine spekulative Verfahrensweise, die von der sinn-
lichen Gewissheit zum absoluten Wissen fortschreitet, vom einfachen
Begriff des Seins als des unbestimmten Unmittelbaren 50 zum Begriff
der Idee als des Systems der Inhaltsbestimmungen. In diesem Prozess
des Fortbestimmens bringt das Denken erst die geistige Wesenheit des
Gegenstandes hervor (= bringt sie an den Tag) und gibt ihr die Form
äusserlichen Daseins, eines reellen Inhalts, als Darstellung seiner »in-
neren Tätigkeit«, seines ideellen Inhalts. Denn »die Idee ist das Wahre
an und für sich (... ) Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Begriff in
seinen Bestimmungen, ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstellung, die er
sich in der Form äusserlichen Daseins gibt und diese Gestalt in seiner
Idealität eingeschlossen, in seiner Macht, so sich in ihr erhält.«51 Nur im
spekulativen Begriff wird die Nichtigkeit des Einzelnen in der Wirk-
lichkeit seiner Vermittlungen zum Ganzen aufgehoben und also die
Realität der Sache selbst absolut. Der Begriff und sein Gegenstand
werden eins, weil ausserhalb des Begriffs, der die zeitliche Extension
des Fortbestimmens in sich zusammenfasst, das Absolute nicht gegen-
ständlich sein kann; denn es erscheint ausserhalb des Begriffs ja nur in
der series rerum, der Reihe der bedingten Einzelnen. Dies meint Hegel
mit dem Terminus Idee. Darum gibt es nur die Idee als solche, nicht die
Idee von etwas. »Die Idee ist nicht zu nehmen als eine Idee von irgendet-
was, so wenig als der Begriff bloss als bestimmter Begriff. Das Abso-
lute ist die allgemeine und eine Idee, welche als urteilend sich zum Sy-
stem der bestimmten Ideen be sondert, die aber nur dies sind, in die eine
Idee, in ihre Wahrheit zurückzugehen.«52 Begriff, Idee und Geist fallen
wieder zusammen, der Unterschied von Begriff und Geist ist ein Selbst-
unterschied des Begriffs, der als Begriff der Begriff vom geistigen
Wesen der Sache ist.
Das »geistige Wesen der Sache« ist aber nicht irgendeine spirituelle
Substantialität oder substantielle Spiritualität, sondern besagt nichts
anderes, als dass die Unmittelbarkeit der Sache, die uns in Anschauun-
gen und Vorstellungen gegeben ist und die wir mit Verstandesurteilen
Der Widerspiegelungscharakter des Hegeischen Systems 177
identifizieren, gerade nicht das Sein der »Sache selbst« ist, sondern nur
ihre Erscheinung. Das volle Sein der Sache selbst offenbart sich erst in
der Darstellung der Vermittlungen, durch die es geworden und be-
gründet ist, das heisst erst in der Einheit von Sein und Reflexion.
Darum sagt HegeI, der Begriff sei die Manifestation der Substanz. Of-
fenbaren, darstellen und manifestieren sind Terme, die nicht das Sein
selbst, sondern die Repräsentation oder das Bild des Seienden betref-
fen. Wer diese Differenz nicht festhält, verfehlt den Sinn dessen, was
Hegel mit Begriff meint.
Der Prozess der Vermittlungen, in denen die Sache zur Sache selbst
wird, ist extensiv unabschliessbar, unendlich. Die Totalität aller Ver-
mittlungen ist die Welt in ihrer Zeitlichkeit oder das in sich selbst dif-
ferente Absolute. »Man kann daher wohl sagen, dass mit dem Absoluten
aller Anfang gemacht werden müsse, so wie aller Fortgang nur die Dar-
stellung desselben ist, insofern das Ansichseiende der Begriff ist. Aber
darum, weil es nur erst ansich ist, ist es ebensosehr nicht das Absolute,
noch der gesetzte Begriff, auch nicht die Idee; denn diese sind eben
dies, dass das Ansichsein nur ein abstraktes, einseitiges Moment ist. Der
Fortgang ist daher nicht eine Art von Übetjluss; er wäre dies, wenn das
Anfangende in Wahrheit schon das Absolute wäre; das Fortgehen be-
steht vielmehr darin, dass das Allgemeine sich selbst bestimmt und fir
sich das Allgemeine, d. i. ebensosehr Einzelnes und Subjekt ist. Nur in
seiner Vollendung ist es das Absolute.«53 Diese Passage aus dem letzten
Kapitel der Logik ist sozusagen das Programm der HegeIschen Philo-
sophie. Dieses Programm wird, am Schluss des Ganzen, für den Leser
noch einmal resumiert. Die in ihm enthaltenen methodischen Schritte
sind die des Erkennens als Begreifen: »Die konkrete Totalität, welche
den Anfang macht, hat als solche in ihr selbst den Anfang des Fortge-
hens und der Entwicklung« - das ist die Sache, wie sie als Gegenstand
uns im ersten Zugriff in ununterschiedener Ganzheit gegeben ist und
wie wir sie in der Verstandes tätigkeit, durch analytisches Herauspräpa-
rieren ihrer unterschiedenen Bestimmungen (prädizierend), näher
explizieren; diese Verstandestätigkeit »ist die erste Stufe des Weiterge-
hens, - das Hervortreten der Differen'?J das Urteil, das Bestimmen über-
haupt.«54 Diese Methode ist analytisch, sie zerlegt den Zusammenhang
aller in die Disparatheit der Einzelnen. »Sie ist aber ebensosehr synthe-
tisch, indem der Gegenstand, unmittelbar als einfaches Allgemeines be-
stimmt, durch die Bestimmtheit, die er in seiner Unmittelbarkeit und
Allgemeinheit selbst hat, als ein Anderes sich zeigt.«55 Damit geht die
Sache in die Totalität ihrer Bedingungen, Bestimmungen und Begrün-
178 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
dungen über und wird aus der unmittelbar aufgefassten Sache zur be-
griffenen Sache selbst, die sich in der Objektivität des Begriffs darstellt.
»Diese Beziehung eines Verschiedenen, die er (scil. der Begriff) so in
sich ist, ist jedoch das nicht mehr, was als die Synthese beim endlichen
Erkennen gemeint ist« - das heisst die Konstruktion des Begriffs geht
über die transzendentale Synthesis hinaus, sie ist nicht nur die Synthe-
sis des bestimmten einzelnen Gegenstandes, sondern dessen Vermitt-
lung mit der Totalität der Welt, also mit dem Absoluten. »Dieses sosehr
synthetische als analytische Moment des Urteils, wodurch das anfängli-
che Allgemeine aus ihm selbst als das Andere seiner sich bestimmt, ist das
dialektische zu nennen.«56 Damit kommt Hegel dann zu dem Resultat,
das die Bestätigung seines bisherigen Verfahrens ist: »Der Gegenstand,
wie er ohne das Denken und den Begriff ist, ist eine Vorstellung oder
auch ein Name; die Denk- und Begriffsbestimmungen sind es, in denen
er ist, was er ist. In der Tat kommt es daher auf sie allein an, sie sind der
wahrhafte Gegenstand und Inhalt der Vernunft (...) Das Unmittelbare
ist nach dieser negativen Seite in dem Anderen untergegangen, aber das
Andere (...) ist das Andere des Ersten, das Negative des Unmittelbaren, also ist
es bestimmt als das Vermittelte, - enthält überhaupt die Bestimmung des
Ersten in sich.«57 Dieses Ineinanderaufgehen ist die Leistung des ver-
nünftigen Begriffs, der die Verstandesbestimmungen nicht neben ein-
ander und gegen einander stehen lässt, sondern ihre Bewegung als Ein-
heit von unterschiedenen Momenten aufzeigt und in eins
zusammenfasst. Darum ist die werdend-seiende Wirklichkeit nur in der
Reflexionsform des Begriffs präsent - und die Wirklichkeit als Begriff
nennt Hegel- Idee.
Nun ist es sicher nicht sinnvoll zu behaupten, die äussere Wirklich-
keit, auf die wir uns beziehen, wenn wir materiell tätig sind, aber auch
wenn wir denken, sei nur Gedanke, Begriff, Idee als Inhalt des Den-
kens. Ich meine auch nicht, Hegel habe dies tatsächlich angenommen
und sagen wollen. Vielmehr kommt es darauf an, dass die äussere
Wirklichkeit dem Denkenden in der Form von gedanklichen Reprä-
sentationen gegeben ist, die in einem System, der Wissenschaft,
kohärent dargestellt werden sollen. Der Gesamtzusammenhang, die
Welt, ist in dem potentiellen Zusammenhang ihrer zu konstruierenden
Darstellungen, und das heisst als Idee, ausgedrückt. Eben darum entwirft
Hegel seine neue (zur alten sich kritisch verhaltende) Metaphysik als
»System der Wissenschaft«. Im logischen (notwendigen) Zusammen-
hang der Bestimmungen des Seienden wird die disparate Mannigfaltig-
keit des Erfahrungswissens als Einheit der Welt fassbar. Anders als in
Der Widerspiegclungscharakter des HegeIschen Systems 179
der methodischen Ordnung des Denkens zeigt sich die erfahrene ma-
terielle Vielheit nicht als gegenständliche Einheit. Darum ist jede Phi-
losophie, auch die materialistische, im Hinblick auf die Totalität von
Welt spekulative Konstruktion der Idee.
Da es aber nicht plausibel gemacht werden kann und nicht sinn-
voll ist, einen Gedankeninhalt als letzte und wahrhafte Entität zu set-
zen; da vielmehr jeder Gedankeninhalt auf die Gegenstände des Den-
kens rückbezogen ist, an hand derer überhaupt Denken erst bestimmt
wird; und da diese Gegenstände im praktischen Verhalten des Den-
kenden zur Welt ausser ihm gegeben sind; da ja schliesslich Hegel
selbst die objektive Gegebenheit der materiellen, natürlichen Gegen-
stände in der Form des Andersseins der Idee in sein Dialektikkonzept
aufgenommen hat - aus allen diesen Erwägungen scheint es mir
posthcgelianisch akzeptabel geboten, den gesamten Bereich der ge-
danklichen, begrifflichen, ideellen Repräsentationen als Widerspiege-
lungen der äusseren Wirklichkeit und schlechthin das Denken als Wi-
derspiegelung des Seins zu verstehen. Das Widerspiegelungsmodell
erlaubt die Übernahme der HegeIschen Dialektik-Konzeption in eine
materialistische Dialektik - unter der Bedingung einer »Übersetzung«
oder »Dechriffrierung« des idealistischen Konstruktionsprinzips der
Selbstentfaltung des Begriffs.
Eine materialistsche Dialektik ist natürlich aufgefordert, die Prio-
rität der »natürlichen« gegenüber der »transzendentalen« Einstellung zu
begründen. Auch muss die Aussagekraft der Spiegel-Metapher genau
geklärt werden. Hier entstehen in der Aneignung Hegels neue Pro-
bleme in der Geschichte der Dialektik. Die Richtung, in der deren Lö-
sung unternommen wurde, sei hier nur kurz angedeutet. Die materiali-
stische Entscheidung der Grundfrage erfolgt nicht unbegründet. Für
die Begründung ist Marx' Ausgang von der »gegenständlichen Tätig-
keit« richtungweisend, innerhalb welcher sich der Übergang vom prak-
tischen zum theoretischen Verhältnis vollzieht. Die Entscheidung hält
sich selbst im Rahmen einer dialektischen Konfiguration, nämlich der
des übergreifenden Allgemeinen: Materielles Sein ist Gattung seiner
selbst und seines Gegenteils, des Bewusstseins, bzw. des ideellen Seins.
Und es gehört zu den noch zu klärenden Eigentümlichkeiten dieses
dialektischen Verhältnisses des Übergreifens, dass es spiegelbildlich
verkehrt erscheinen kann: Dem Denken erscheint die äussere Wirk-
lichkeit als Idee und mithin als eine Art des Denkens; darin liegt die
notwendige Möglichkeit des Idealismus und zugleich die strukturelle
Möglichkeit seiner materialistischen Umkehrung.
180 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
in sich selbst zurückgegangen ist, als diese ihre entgegengesetzte ist. Die
Beziehung ist also bestimmt als diese, dass die an und für sich seiende
Welt die verkehrte der erscheinenden ist.«59 So kehrt sich in dem Vorge-
hen der Philosophie das Verhältnis von realer äusserer Welt und ihrer
Abbildung im Begriff um: »Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der
Begriff in seinen Bestimmungen, ihr reeller Inhalt ist nur seine Dar-
stellung, die er sich in der Form des äusserlichen Daseins gibt.«6o
So lässt sich an der Wesenslogik die Verfassung des Verkehrungs-
verhältnisses ausmachen, in dem die materielle Wirklichkeit und ihre
ideelle Abbildung zueinander stehen. Da jedoch die Wesenslogik den
Übergang vom Sein zum Begriff vollzieht und also in das Reich des Be-
griffs hinüberführt, als dessen Produkt sich die Idee entwickelt, kann
sie zwar die Genesis und Struktur der Verkehrung von Wesen und Er-
scheinung aufzeigen, also die Fetischisierung der Unmittelbarkeit ent-
larven, aber durchaus keine Analogie gewinnen, die den Begriffs-Feti-
schismus zu durchschauen erlaubte und damit den idealistischen
Charakter des Systems als Verkehrung biossiegte. Das Prinzip der Er-
zeugung des HegeIschen Systems bleibt ihm selbst verborgen. Gerade
dieses aber müsste offengelegt werden, wenn die HegeIsche Philoso-
phie systematisch gelesen werden soll.
Es lässt sich indessen zeigen, dass Hegel selbst einen Hinweis auf
die Entschlüsselung des spekulativen Sinns seines Systems gegeben
hat. Geht man nämlich von dem Schluss der Logik aus, der die absolute
Idee als Natur begreift - »diese seiende Idee aber ist die Natur«61 - so
lässt sich der ganze Gang der Logik interpretieren als die Konstruktion
der Totalität von Welt (= Natur) im Medium des Gedankens (= Idee).
Die idealistische Form wird dann nicht einfach als Ausdruck von
falschem Bewusstsein verstanden, sondern als der notwendige Schein,
der durch die Abbildung der unendlichen Totalität im endlichen par-
tiellen Bewusstsein entsteht, so als sei die Methode der Erzeugung der
absoluten Idee die Methode der wirklichen Erzeugung der Welt. Wird
das Ganze des Systems als idealistische Verkehrung genommen, dann
kann es auch als ganzes »vom Kopf auf die Füsse gestellt« werden oder
)>umgestülpt« werden, und es ist zu zeigen, dass die Verkehrung eine
notwendige Form der spekulative Abbildung einer nichtempirischen
Gegenständlichkeit (der Totalität) ist und also selbst einen Widerspie-
gelungscharakter hat.
Was kann es also bedeuten, die spekulative Philosophie im Sinne
von Marx und Lenin »materialistisch zu lesen«? Es kommt offenbar
darauf an, den Spiegel-Charakter der Philosophie zu erkennen, die
182 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
kung ist die Natur nicht als Ganzheit der materiellen Welt; und so heisst
»das Andere der Natur« eben auch: Die Natur in einem anderen .Me-
dium, dem des Begriffs.
Diese Doppelbedeutung der Logik, das System der Begründung
wissenschaftlichen Wissens und der Ort der Epiphanie des Absolu-
ten zu sein, ist in Hegels Erörterung der allgemeinen Momente des
Erkennens ausgesprochen. Die Phänomenologie des Geistes hatte zum
Begriff des absoluten Geistes geführt, der die sinnlich-materielle
Wirklichkeit als Inhalt des wahren Wissens schon aufgehoben hatte.
Die Wissenschaft der Logik beginnt an diesem Punkt. Sie ist die »letzte
Wissenschaft«, wenn das Erkennen, wie es sich gehört, von der Er-
fahrung ausgeht. Aber die Erfahrungen mit den Sachen liegen auf
dem Standpunkt des Systems (zu dem die Beschreibungen der Er-
fahrungen des Bewusstseins nur Prolegomena sind) schon hinter
dem Denken; es beginnt mit den Formbestimmungen der denken-
den Abbildung der Wirklichkeit. Und insofern ist die Logik die »erste
Wissenschaft«, die zu dem System der Wissensinhalte hinführt als die
Wissenschaft von den notwendigen Formen, in denen die Gegen-
stände gedacht werden müssen, um erkannt werden zu können: »Die
Idee des Geistes dagegen, welche logischer Gegenstand ist, steht schon in-
nerhalb der reinen Wissenschaft; sie hat daher ihn nicht den Gang
durchmachen sehen, wie er mit der Natur, der unmittelbaren Be-
stimmtheit und dem Stoffe oder der Vorstellung verwickelt ist (. ..); sie
hat diesen Gang bereits hinter sich oder, was dasselbe ist, vielmehr
vor sich, - jenes, insofern die Logik als die letile Wissenschaft, dieses,
insofern sie als die erste genommen wird, aus welcher die Idee erst in
die Natur übergeht.«67
Die DoppelsteIlung der Logik, die »erste« und die »letzte« Wissen-
schaft und in beidem dasselbe zu sein, ist formal eine Spiegelstruktur.
Erste Wissenschaft ist sie für sich selbst, indem sie und nur sie allein die
unendliche Totalität in der Einheit des absoluten Begriffs konstruiert
und als absolute Idee, in der der Begriff mit der von ihm gemeinten
Wirklichkeit aus methodischen Gründen zusammenfällt, vor uns hin-
stellt. Das ist die Sache und das Tun der spekulativen Philosophie, und
jede Einzelheit der Erfahrungswelt wie auch deren Nexus ist ableitbar
und wird realphilosophisch abgeleitet aus der absoluten Idee (EniJklo-
pädie, 2. und 3. Teil). Sich selbst als erste Wissenschaft, nämlich als Wis-
senschaft des Absoluten begreifend, ist für die Logik der einzige Ge-
genstand die absolute Idee (»Monismus der Idee«) und Philosophie ist
der Sache nach Idealismus.
184 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
Letzte Wissenschaft aber ist die Logik für uns, indem wir in ihr,
nach dem Durchgang durch die Erfahrungswelt der materiellen Wirk-
lichkeit und ihrer ~)materiellen«, wie Marx sagte) Verhältnisse, die Welt
als ganze im Integral der absoluten Idee methodisch konstruiert haben,
das heisst ein Bild von ihr erzeugt haben. Dieses Bild ist mit dem, was
es abbildet, identisch und muss dies sein, weil das Abgebildete nicht an-
ders als in der Konstruktionsmethode gegenständlich wirklich ist. Ich er-
kenne die Welt in ihrem Bilde, denn ich sehe als Bild sie selbst, wie sie
sich zeigt. Ein Bild, das mit seinem Vorbild identisch ist, ist ein Spie-
gelbild.
Dass die Logik für die Erfahrung des Denkens die »erste Wissen-
schaft« ist, verdankt sie der Tatsache, dass sie für die Erfahrung des
Seins die »letzte Wissenschaft« ist. Ihre Apriorität ist die Widerspiege-
lung der Empirizität des inhaltlichen Wissens. Denn ihre Methode ist
das zur Einheit zusammengefasste Bild des methodischen Gangs
durch die Erfahrungswelt, und darum ist ihre Form nicht abgetrennt
von den Inhalten, deren Form sie ist, darzustellen: »Es kann nur die
Natur des Inhalts sein,welche sich im wissenschaftlichen Erkennen be-
wegt, indem zugleich diese eigene Reflexion des Inhalts es ist, welche seine Be-
stimmung selbst erst setzt und erzeugt.«68
Der Schluss der En?JIklopädie bestätigt diese spiegel theoretische
= spekulative (denn keinen anderen Sinn hat der Terminus, wie sich
nun zeigt) Auslegung. Hier wird der Begriff der Philosophie in drei
Schritten oder »Schlüssen« entfaltet - so genannt, weil deren Form der
einer Abfolge von allgemeinem Obersatz, besonderem Mittelsatz und
beschliessendern Einzelsatz isomorph ist. Philosophie erscheint in die-
sen drei Schritten, und sie erscheint zunächst so, dass das Logische der
Ausgangspunkt ist, die allgemeinen Inhalte der Logik in die Gestalten
der Natur übergehen und deren extensionale Mannigfaltigkeit im Tun
des Geistes zur Einheit zusammengeschlossen wird und sich so als
Geist erweist. 69 Dies ist der Weg der neueren Philosophie, seit Descar-
tes im cogito und seiner logischen Verfassung den gewissen Grund alles
Philosophierens entdeckt hat. Hegels System selbst, wie es die En?JI-
klopädie in ihren drei Teilen entwickelt, folgt in seinem Aufbau dieser
ersten Erscheinungsweise des Philosophierens, die der Philosophie
den zwingenden Charakter der Deduktion verleiht und ihre Gestalt des
Systems (in der allein sie als wahre sein kann) verbürgt. Indem diese
Deduktion darauf führt, dass alle Wirklichkeit in der Einheit des Man-
nigfaltigen als Geist gefasst werden muss, geht sie in die zweite Er-
scheinungsform der Philosophie über, in der die Mannigfaltigkeit der
Der Widerspiegelungscharakter des Hegeischen Systems 185
Natur vorausgesetzt wird, ihre Struktur als geistige begriffen wird und
damit die Verfassung der Welt (= die Begriffsform der Wirklichkeit)
als Resultat gewonnen werden kann 70; dies ist der Gang der Phänome-
nologie des Geistes von der sinnlichen Gewissheit zum absoluten Wissen:
»Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen
und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt, und dadurch
seinen Begriff ebenso realisiert als er in dieser Realisierung in seinem
Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen; es ist der sich in Geistsgestalt
wissende Geist oder das begreifende Wissen (...) Die Substanz hat, als
Subjekt, die erst innere Notwendigkeit an ihr, sich an ihr selbst als das
darzustellen was sie an sich ist, als Geist. Die vollendete gegenständliche
Darstellung ist erst zugleich die Reflexion derselben, oder das Werden
derselben zum Selbst.«71 Die Reflexion des Geistes in sich ist die Idee,
sie ist es, die in der Phänomenologie des Geistes sich im absoluten Wissen
herausbildet. Nun aber erweisen sich Natur und Geist als die Daseins-
weisen oder Elemente der Wirklichkeit, in die die erscheinende Idee
auseinandertritt und die sie zugleich als ihre Mitte zusammenhält und
vereinigt; dies ist die wissende Vernunft, also die Philosophie in actu,
in der Konstruktion der Idee als spekulative Methode. Dies ist die in
der Wissenschaft der Logik vollzogene Bewegung des Begriffs, und die
gesamte Philosophie hat darum keinen anderen Gegenstand als die
Idee, und das Werden des Wissens oder die Fortbewegung des Be-
griffs ist der Prozess, in dem die Idee erscheint (hervortritt). Absolute
Idee, absoluter Geist, absolutes Wissen fallen in der Natur der Sache
zusammen: »Das Sich-Urteilen der Idee in die beiden Erscheinungen
bestimmt dieselben als ihre (der sich wissenden Vernunft) Manifesta-
tionen, und es vereinigt sich in ihr, dass die Natur der Sache, der Be-
griff, es ist, die sich fortbewegt und entwickelt, und diese Bewegung
ebensosehr die Tätigkeit des Erkennens ist, die ewige an und für sich
seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und ge-
niesst.«72 Vermittelt im ersten Schluss die Natur das Logische mit dem
Geiste, im zweiten Schlusse der Geist die Natur mit dem Logischen,
so nun im dritten Schlusse das Logische den Geist mit der Natur - und
dies ist, so sagt Hegel, »die Idee der Philosophie«. Mit diesem dreifa-
chen Sich-ineinander-Spiegeln der Reiche des Logischen, der Natur
und des Geistes schliesst Hegel das System der philosophischen Wis-
senschaften die EniJIklopädie ab.
Es kann aber nicht bei dem bIossen Bewusstwerden dieser Spiege-
lungsverhältnisse und damit des Umkehrungsverhältnisses von Wirk-
lichkeit und Idee bleiben: Indem ich ein Spiegelbild noch einmal spie-
186 Hegels Entwurf der Systematisierung der Dialektik
gele, wird es keine reelle Wirklichkeit. Erst wenn ich den Spiegel selbst,
mein Denken, als ein Moment der Wirklichkeit ausser mir erfahre und
benutze, wenn ich die Spiegelung in meine »gegenständliche Tätigkeit«,
die die Welt real verändert, eingehen lasse - erst dann ist das ideelle Bild
des Ganzen ein bewusster, rationaler und mit der Kategorie des
Zwecks zu vermittelnder Teil der Realität geworden. Die Marxschen
Feuerbachthesen zielen auf diesen Umschlag. Die Forderung der Ein-
heit von Theorie und Praxis ist die materialistische Antwort auf den
Idealismus der spekulativen Philosophie. Sie verwirft diese nicht, son-
dern bestimmt ihren Ort und ihre Funktion im geschichtlichen Pro-
zess. Hegel vom Kopf auf die Füsse stellen heisst also, die Herausfor-
derung des spekulativen Denkens annehmen und dessen spekulativen
Charakters, mithin seiner Widerspiegelungsstruktur, innezuwerden.
Dem Blick, der den Spiegel als solchen erkennt, zeigt sich im Spiegel-
bild die Sache selbst.
11. Hauptstück
Die Periode, mit der wir es hier zu tun haben, ist in der Philosophie
zeitlich so genau definiert wie selten sonst eine. Sie reicht vom Tode
Hege!s im November 1831 bis zur Formulierung des Kommunistischen
Manifests im Februar 1848. Sie nimmt ihren Ausgang von der Vollen-
dung der idealistischen Systemphilosophie, deren Anspruch und Ge-
schlossenheit im Werk Hege!s seitdem nichts Gleichartiges und Eben-
bürtiges mehr zur Seite gestellt wurde; sie findet ihren Abschluss in der
Formulierung eines geschichts- und revolutions theoretischen Pro-
gramms, das dem Begriff in den gesellschaftlichen Verhältnissen seine
Wirklichkeit verschaffen soll. Hege! hatte die Idee der Philosophie, das
System der (in Gedanken erfassten!) Wirklichkeit zu sein, entwickelt,
durchsichtig gemacht und in ihrem enzyklopädischen Grundriss aus-
geführt. Die der Idee der Philosophie entsprechende Wirklichkeit kann
nur eine vernünftige sein; die - auf berüchtigte Weise missdeutete -
Gleichung von Vernunft und \X'irklichkeit in der Vorrede zur Rechtsphi-
losophie2 spricht das aus. Hege! hat nicht behauptet, die gesellschaftliche
Wirklichkeit, die er vorfand, sei die wirkliche Vernunft. Im Gegenteil,
gerade weil die Philosophie Konstruktion des vernünftigen Systems
der Wirklichkeit ist, wird sie zum Instrument der Kritik des bloss Fak-
tischen. Darum konnte Hege!, auf die Diskrepanz zwischen den Prä-
skriptionen seiner Philosophie und den tatsächlichen Verhältnissen an-
gesprochen, die souveräne (und nur scheinbar arrogante) Antwort
geben: »Um so schlimmer für die Wirklichkeit.« Die philosophische
Vernunft hat normativen Charakter, indem sie das Wesen der Wirklich-
keit beschreibt. Hege!s gesamtes philosophisches Werk ist die Durch-
führung dieses Programms.
Die Darstellung der Wirklichkeit in den drei »Elementen« des Den-
kens, der Natur und der Manifestationen des Geistes - zusammenge-
fasst in der hn?yklopädie und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt
in deren Schluss paragraphen - sollte die Form angeben, in der die
Mannigfaltigkeit der Welt als Einheit gedacht werden und diese Einheit
190 Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des Absoluten
das ist die Wahrheit, und der Name dieses Gestirns heisst - Philoso-
phie. (...) Der Philosoph ist ein Apostel der Zukunft. Dies ist sein Be-
griff. (...) Die Last eines solches Bewusstseins nimmt kein Gott von un-
seren Schultern, wenn wir es nicht selbst tun, indem wir erkennen, dass
nur das Selbstbewusstsein, welches auf seinen gewonnenen Inhalt re-
flektiert und zurückkommt, also die philosophische Kritik auch die Be-
wegung die Weltgeschichte macht.«2o
Der weltgeschichtliche Demiurg kann nun allerdings kein einzel-
ner, bestimmter Philosoph sein, sondern nur die Philosophie in der
Unabgeschlossenheit ihres kritischen Fortschreitens. Keine einzelne
besondere Philosophie - auch die Hegels natürlich nicht - ist die Rea-
lisierung der Idee der Philosophie im ganzen, sondern bestenfalls die
Reflexion der Methode ihrer Konstruktion und ihre Repräsentation
einer bestimmten Perspektive. Philosophie ist eben »ihre Zeit in Ge-
danken erfasst« und insofern die Widerspiegelung der faktischen Ver-
hältnisse, wenn auch im Modus der Vernünftigkeit und das bedeutet:
als Kritik und Antizipation. Die Vollendung des HegeIschen Systems
konnte darum zu seiner Zeit immer nur das Denken des Absoluten
unter den Bedingungen der Faktizität der bürgerlichen Gesellschaft,
des preussischen Staates und der weltanschaulichen Ausdrucksformen
dieser Wirklichkeit sein. Die fortschreitende Entfaltung kapitalistischer
Produktionsverhältnisse und der damit vernüpfte Emanzipationspro-
zess der Bourgoisie in den institutionellen und ideologischen Formen
des Liberalismus richtete sich kritisch-umwandelnd auf jene Wirklich-
keit, die Hegel in Gedanken erfasst hatte und schloss demzufolge auch
die Kritik der HegeIschen Philosophie ein. Nicht zufällig sind es die
Rechtsphilosophie und die Religionsphilosophie, an denen die Oppo-
sition zu Hegel manifest wird. Die Kritik der Junghegelianer richtet
sich gegen Hegels Gesellschaftslehre 21 und gegen die Äquivokation
von absolutem Idealismus und Theologie. 22 Zwei Programms ätze
mägen diese doppelte Frontstellung illustrieren. Ludwig Feuerbach be-
ginnt seine Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie (1843) mit dem
berühmten Diktum, das als Paradigma für den »Entlarvungs-Gestus«
der kritischen Philosophie des Vormärz gelten kann: »Das Geheimnis
der Theologie ist die Anthropologie, das Geheimnis aber der spekulativen
Philosophie die Theologie.«23 Und ganz parallel dazu schreibt Marx in der
Kritik der Hege/sehen Staatsphilosophie (1841/42): »Hegel geht vom Staate
aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demo-
kratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum versubjekti-
vierten Menschen.«24
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 195
ten Stufe ist unmittelbar in der Orientierung über das, was sie hat und
ist, ein Neues geworden; in der Weltgeschichte dagegen will er der Phi-
losophie durchaus die Initiative nicht zugestehen.«3o
Ruge war philosophisch klug genug, nun zu sehen, dass er an die
Stelle der im absoluten Wissen bei sich selbst bleibenden Idee ein an-
deres Prinzip setzen musste, von dem aus die Einheit der Welt als ge-
schichtlicher Prozess konstituiert werden konnte. Innerhalb der Selbst-
reflexivität der Philosophie, deren cartesianischen Bannkreis die
Philosophie bis auf Marx nicht verlassen hat, kann dieses Prinzip
alternativ zu den vermittelten Objektivationen des absoluten Geistes
nur im Selbstbewusstsein (dem sich selbst unmittelbar absoluten) ge-
funden werden: »Diese Konsequenz gibt nun erst den wahren Monis-
mus des Geistes, indem sie auf der Einsicht beruht, dass der Prozess
der Geschichte von dem Prozess des Selbstbewusstseins überhaupt
nicht verschieden sein könne. Das Fichtische Ich und das Sollen der
Kantischen Autonomie, dieser kategorische Imperativ, ist also in höhe-
rer Form wiederhergestellt. (00.)«31
Hegels objektiver Idealismus wird zurifckbuchstabiert in den sub-
jektiven Idealismus seiner Vorgänger. Ruges gedrängte programmati-
sche Ausführungen sind die klarste und philosophisch konsequenteste
Formulierung der für alle Linkshegelianer geltenden Ausgangsposition
einer »kritischen Theorie.«32
Es kann hier nicht unsere Absicht sein, die Feldzüge der junghege-
lianischen kritischen Kritik nachzuzeichnen. Zu oft bewegen sie sich
auf Nebenkriegsschauplätzen, und philosophisch bleibt das Niveau
der Kriik, von emotionalem Eifer mehr als von den Anstrengungen des
Begriffs bestimmt, meist soweit unter dem kritisierten Gegenstand,
dass daraus kaum ein theoretischer Gewinn zu ziehen ist. Die Heilige
Familie und die Deutsche Ideologie haben zudem die Kritik der kritischen
Kritik mit polemischem Scharfsinn und grösster Ausführlichkeit vor-
genommen. Wohl aber ist es für die grundlegende Wandlung des Phi-
losophie-Begriffs, die sich im Vormärz vorbereitet und die sich in der
These von der Aufhebung der Philosophie durch ihre Verwirklichung
niederschlägt, von grösster Bedeutung, die Problemstellung zu charak-
terisieren, der sich eine Philosophie gegenüber sah, welche Hegel nicht
ignorierte, sondern ernst nahm.
Zunächst einmal gilt es überhaupt zu verstehen, warum die Hegel-
Kritik sich in der Thematik der Religionskritik entfaltete. 33 In Hegels
Konzept des absoluten Geistes war es ja gerade nicht angelegt, die
Theologie als den geheimen, verborgenen Kern der spekulativen Me-
Die junghegelianische Auflösung der Philosophie im Vormärz 197
taphysik aufzufassen. Eher umgekehrt: Zwar ist der Inhalt der wahr-
haften Religion der absolute Geist 34, aber doch nur in den Formen
des Gefühls, der Anschauung und der Vorstellung35 , also eben nicht
im Modus der Wahrheit, der ja nur dem Begriff zukommt. Die Stufen
des religiösen Bewusstseins werden durch die Philosophie überwun-
den. Das religiöse Gefühl hält sich ganz in der Subjektivität des
Fühlenden und enthält keine Bürgschaft für eine Wahrheit: »Wenn
das Gefühl wahrhaft, echter Natur sein soll, so muss es dieses durch
seinen Inhalt sein; das Gefühl als solches macht ihn aber nicht dazu,
dass er wahrhafter Natur sei.«36 In der Anschauung habe ich zwar
einen Gegenstand, aber mein Selbstbewusstsein ist von ihm getrennt:
»In der Anschauung ist die Totalität des religiosen Verhältnisses, der Ge-
genstand und das Selbstbewusstsein auseinandergefallen. Der religiöse
Prozess fällt eigentlich nur in das anschauende Suljekt und ist in die-
sem doch nicht vollständig, sondern bedarf des sinnlichen, ange-
schauten Gegenstandes. Andererseits ist der Gegenstand die Wahrheit
und bedarf doch, um wahrhaft zu sein, des ausserihm fallenden Selbst-
bewusstseins.«37 Die höchste Form des religiösen Bewusstseins ist
dann die Vorstellung, die die singuläre Anschauung in die Allgemein-
heit des Gedankens überführt. Von ihr heisst es: »Allein was zunächst
den Inhalt für sich betrifft, so gilt dieser in der Vorstellung als ein Ge-
gebenes, von dem nur gewusst wird, dass es so ist.«38 Dazu bemerkt
Hegel in der Vorlesung von 1821: »Vernunft ihrer Form und Noth-
wendigkeit nach nichts Gegebenes. (...)«39 - und das kann doch nichts
anderes bedeuten, als dass die religiöse Vorstellung in der reflexiven
Bewegung des Begriffs aufgelöst werden muss. 411 Hegels Religionsphi-
losophie ist Religionskritik, der spekulative Inhalt der Religion ist nicht
mehr Religion, sondern Philosophie, das heisst Begriffvom Absoluten:
»So ist es, dass sich die Vorstellung in die Form des Denkens auflöst,
und jene Bestimmung der Form ist es, welche die philosophische Er-
kenntnis der Wahrheit hinzufügt.«41
Hegels Wortlaut scheint zweideutig zu bleiben. Wird Religion
durch Philosophie überwunden als eine unreife Vorstufe begrifflicher
Wahrheit und muss als ihr eigentlicher spekulativer Inhalt, der erst in
der Philosophie herauskommt, die Weltlichkeit der unendlichen Welt
entdeckt werden? Oder geht die Religion in die Philosophie ein als ein
und derselbe Inhalt, nämlich als Gott, in anderer Form? Kar! Löwith
hat »Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie« in dieser Zwei-
deutigkeit belassen, ja er sieht in der Zweideutigkeit deren wesentlichen
Charakter und den Ursprung der Positionen der Hegel-Nachfolge:
198 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten
Hegels Religionskritik ergibt nur einen Sinn auf dem Boden des
objektiven Idealismus. Das Selbstbewusstsein, das sich im Unterschied
zur Welt konstituiert, ist nicht der transzendentale Grund (Kant) oder
Schöpfer (Fichte) der Einheit der Objektwelt, sondern das Medium, in
dem diese gegenständlich erscheint: »Dies ist die Wahrheit, dass die
Natur, das Leben, der Geist durch und durch organisch ist, dass jedes
Unterschiedene nur ist der Spiegel dieser Idee, sodass sie sich an ihm
als Vereinzeltem darstellt, als Prozess an ihm, sodass es diese Einheit
an ihm selbst manifestiert.«47 Als Spiegel vermag es die Einheit speku-
lativ, in der Bewegung des Begriffs, nicht aber empirisch abzubilden.
Im religiösen Verständnis ist Gott ein Name, der diese Bewegung ab-
kürzt, stillsteIlt und damit unwahr darstellt. Ein spekulatives Verständ-
nis Gottes aber ist das der absoluten Idee, dergemäss »die Natur, das
Leben, der Geist durch und durch organisch ist.«48
Hegels Philosophie blieb insofern der klassischen Metaphysik und
damit auch deren Verwandschaft mit der Theologie nah, als er an der
ontologischen Realität des Allgemeinen festhielt, ja diese in der Kon-
zeption des absoluten Begriffs noch verstärkte. Die Weltgeschichte
und ihre Objektivationen - Staat, bürgerliche Gesellschaft, Bildung
usw. - absorbieren das Individuum als Instanzen aus eigener Mächtig-
keit. Wenn die Kritik an Hegel dem Antrieb entsprang, das System des
Bestehenden wieder in den Fluss des Geschehens und der Verände-
rung aufzulösen, so musste notwendigerweise das kritische Indivi-
duum (als handelndes Subjekt) zum Träger dieser Bewegung werden.
Das Ich bekommt dann die zentrale Stelle für das Verständnis der Welt.
Das gilt ebenso für Feuerbach, der das »Sinnenwesen Mensch« (das in
der Sinnlichkeit primär das Einzelne und seine eigene Einzelheit er-
fährt) an die Stelle der Idee setzt und das Allgemeine zum ideologi-
schen Schein degradiert, wie für Bauer, der das Selbstbewusstsein wie-
der inthronisiert (und dafür den Rückgriff auf Kant und Fichte
benötigt), wie auch für Stirner, der das Weltverhältnis nur noch als sein
eigenes sehen will: »Meine Sache ist (...) alleine das Meinige, und sie ist
kein Allgemeines, sondern ist einzig, wie Ich einzig bin.«49 Kempski
stellt richtig fest, dass sich für Bruno Bauer im Verständnis der Religion
»der Akzent von der absoluten Idee auf das Selbstbewusstsein ver-
schob«50 - und diese Charakterisierung gilt sogar auch für Arnold
Ruge, der den Willen des Bürgers als Ursprung des Staats versteht und
Fichtes Tatkraft in Hegels Spekulation injizieren möchte.
Die Philosophie der Junghegelianer ist der Aufstand der subjekti-
ven Spontaneität gegen die objektiven Vermittlungen des Daseins. Das
200 Die Kritik der Hegelschen Konstruktion des Absoluten
sind.«55 Das Selbstbewusstsein aber ist »ein Tun, und absolut nichts
weiter«56, ein actus purus, aus dem die Mannigfaltigkeit der Welt her-
vorgeht: »Ein transzendentaler Idealismus würde ein solches System
sein, welches aus dem freien und völlig gesetzlosen Handeln der Intel-
ligenz die bestimmten Vorstellungen ableitete.«57
Nun erfolgt die Rückkehr zu Fichte bei den Junghegelianern nicht
willkürlich. Wir hatten gesehen, dass Hegel die Wirklichkeit Gottes -
als Vorstellung - in das seine Endlichkeit aufhebende Ich gelegt hatte,
wobei für Hegel in dem Prozess des spekulativen Denkens diese Auf-
hebung gerade im Begreifen der absoluten Idee als Methode geschieht.
Die Theologie indessen, sofern sie auch noch die seelsorgerische
Funktion des Theologen, also ihre praktische Seite im Blick hat, kann
nun diesen Prozess nicht anders als im Selbstbewusstsein des Ich, des
gläubigen Individuums, lokalisieren.
Genau diese Konsequenz hat der Theologe Wilhe1m Vatke gezo-
gen, ein Hegelianer und enger Freund von David Friedrich Strauss. Er
fasste, unter Ausklammerung der Objektivität der absoluten Idee,
Gott als das Prinzip des Selbstbewusstseins. Kempski hat richtig ge-
sehen, dass Bauer bei dieser theologisch einleuchtenden Korrektur Vatkes
an Hegel einsetzt: »Für die reale Befreiung des Selbstbewusstseins
braucht man Gott nicht zu bemühen, wenn man den Menschen als
Menschen ernst nimmt, liegen die Möglichkeiten seiner realen Freiheit
ja in ihm, man braucht nur durch die Kritik sein Bewusstsein zu reini-
gen von dem, was diese Freiheit beschränkt, was den Menschen sich
selbst entfremdet.«58 Damit aber sind, an ihrem problemgeschichtli-
chen Ursprung, die Hauptmotive des Junghegelianismus wie in einem
Nucleus zusammengefasst: Kritik des Bewusstseins als Kritik der Re-
ligion, der Entfremdung, der Ideologie; Rückführung der Bewusst-
seinsgestalten auf das anthropologische Wesen des Menschen. Dass
Bauer die Entmythologisierung des Christentums beginnt, dass bei
ihm die Religionen als Stufen der Selbstentfremdung des Menschen
aufgefasst werden, dass cr das Ende der Philosophie als ein politisches
Ereignis, als Korrelat des Untergangs der bürgerlichen Welt betrach-
tet59 - das macht ihn sozusagen zum Fokus der kritisch-rebellischen
Bewegung, die man als die eigentliche »Philosophie des Vormärz« be-
zeichnen kann.
Marx und Engels haben schon früh darauf hingewiesen, dass
Bauer das in Hegels Philosophie enthaltene Fichtesche Element iso-
liert herausdestilliert und allein dieses aufgenommen habe: »In Hegel
sind drei Elemente, die spinozistische .\"ubstanz, das Fichtesche 5"elbstbewusst-
202 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten
sche Ich ist kein individuelles Ich, sondern das zum Bewusstsein ge-
kommene allgemeine Welt-Ich. Das Fichtesche Denken ist nicht das
Denken eines Individuums C...); es ist vielmehr ein allgemeines Denken,
das sich in einem Individuum manifestiert.<P Der Transzendentalis-
mus Fichtes wird von den Junghegelianern ganz unbekümmert anthro-
pologisiert; bei ihnen sind das Selbstbewusstsein und das Ich das
jeweils individuelle, private, vereinzelte des jeweils denkenden Philo-
sophen, ein »Dieses-da« und keineswegs selbst ein Allgemeines. So
musste ihnen auch die Geschichte, in deren Name sie gegen Hegel ange-
treten waren, wieder entgleiten, weil sie die geschichtliche Wirklichkeit
nur in ihrem eigenen Kopfe, als ihre persönliche »theoretische Revolu-
tion« finden konnten. 68 Feuerbach hat das wohl gesehen und am reli-
giösen Selbstbewusstsein durchschaubar gemacht, aber auch er hat die
Anwendung seiner I<ritik auf das säkularisierte, anthropologische Ich
nicht beachtet: »Mit der Erscheinung einer Gottheit in einer bestimm-
ten Zeit und Gestalt ist an sich schon die Zeit und der Raum selbst auf-
gehoben, und es lässt sich daher nichts weiter erwarten als das lvirkliche
Ende der Welt. Geschichte lässt sich nicht mehr denken: sie ist zweck-
und sinnlos; Inkarnation und Historie sind absolut unverträglich miteinan-
der; wo die Gottheit selbst in die Geschichte eintritt, hört die Ge-
schichte auf.«69 Nun tritt aber von Bauer bis zu Feuerbach das indivi-
duelle Ich, der wirkliche Mench an die Stelle Gottes, und in ihm hebt
sich der Gang der Geschichte auf, sobald er aus seiner Entfremdung in
sich selbst, d. h. in sein individuelles Selbstbewusstsein, zurückgekehrt
ist. Die religiöse Ahistorizität schlägt um in eine anthropologische.
Ruge hat diese Antinomie erkannt, aber nicht auflösen können. »Das
Absolute erreichen wir nur in der Geschichte, in ihr wird es aber auch an
allen Punkten erreicht, vor und nach Christus; der Mensch ist überall in
Gott, die letzte historische Form aber der Form nach die höchste und
die Zukunft die Schranke alles Historischen.«7o Das Historische, das
nicht in der Gattungsgeschichte wirklich wird, gerinnt zur eschatologi-
schen, soteriologischen Zeitlosigkeit des hier und jetzt absolut Gewor-
denen; es ist zukunftslos. Was dann bleibt, um die Historizität wieder-
zugewinnen, ist nur die Kritik, die Destruktion des Bestehenden.
Schon die Junghegelianer haben Hegel auf die »negative Dialektik« re-
duziert71 und ihn damit der Härte des Begriffs beraubt, aus der allein
politische Konsequenzen zu schöpfen gewesen wären. Was bleibt, ist
das immer wieder neue Umwälzen der Theorie und deren Privatisie-
rung. »Der Umgestaltungsakt der Gesellschaft reduziert sich auf die
Hirntätigkeit der kritischen I<ritik.«72 Hier kann man die Schluss folge-
204 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten
Bis dahin hält Marx sich in den Grenzen des vormärzlichen Jung-
hegelianismus.7 6 Zwar äussert er sich schon als Redakteur der Rheini-
schen Zeitung in sarkastischer Weise kritisch über die Berliner Stamm-
tischrunde, und aus dem Sarkasmus leuchtet schon die spätere
wissenschaftliche Akribie und das Gespür für ideologische Verkehrun-
gen hervor: »Ich fordere auf, weniger vages Räsonnement, grossklin-
gende Phrasen, selbstgefällige Bespiegelungen und mehr Bestimmt-
heit, mehr Eingehen in die konkreten Zustände, mehr Sachkenntnis an
den Tag zu fördern C...) Ich begehre dann, die Religion mehr in der Kri-
tik der politischen Zustände, als die politischen Zustände in der Reli-
gion zu kritisieren, da diese Wendung mehr dem Wesen einer Zeitung
und der Bildung des Publikums entpricht, da die Religion, an sich in-
haltslos, nicht vom Himmel, sondern von der Erde lebt, und mit der
Auflösung der verkehrten Realität, deren Theorie sie ist, von selbst
stürzt.«77
Dabei geht es deutlich um Qualitätsfragen. Dessenungeachtet
bleibt seine eigene Argumentationsstrategie auf der Linie der linken
Hegelianer. In einer Entlarvung des philosophischen Widersinns der
historischen Rechtsschule, die ein Feuerwerk ironischer Inversionen
abbrennt, wird der reaktionäre Sinn des bloss Positiven so artikuliert,
dass Hegels Gleichung von Vernunft und Wirklichkeit gleichsam im
Umkehrungsverfahren ihre kritische Bedeutung zeigt. So heisst es von
Gustav Hugo, dem Verfassr eines Lehrbuchs des Naturrechts, das als
»das alte Testament der historischen Schule« zu gelten habe: »Er sucht
daher keineswegs zu beweisen, dass das Positive vernünftig sei; er sucht zu
beweisen, dass das Positive nicht vernünftig sei. C.•.) Wäre die Vernunft der
Masstab des Positiven, so wäre das Positive nicht der Masstab der Vernunft.«78
Der letzte Satz ist Ehrenrettung und Restitution Hegels.
Der Ton dieses Aufsatzes passt ganz in den Stil der junghegeliani-
schen Polemiken - und in gewissem Sinne gilt das auch noch für die
Heilige Familie und die Deutsche Ideologie. Der Inhalt ist indessen präziser,
die Pointen sind zugespitzter. Das Phrasenhafte der Bauersehen Er-
güsse fehlt ganz. Das Fazit wird wie ein ironisches Dictum gezogen: Es
geht um »das Recht der willkürlichen Gewalt.«79
Das ist prägnant und die Ableitung philosophisch und unterschei-
det sich von dem lamentierenden und bramarbasierenden Ton der
Bauerschen Streitschriften. Die institutionelle Wirklichkeit der Verge-
sellschaftung der Individuen, die Dialektik von »Freiheit und Ord-
nung«,80 wird von »Bauer und Konsorten« über dem Selbstverwirkli-
chungsdrang des abstrakten Ich vergessen. Einzig Tribut gezollt wird
206 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten
Grenze gesetzte) Existenz des Einzelnen und mithin auch der Vielen.
Die Grenze entspringt dem Bedürfnis des Seins nach Bestimmung
zum Seienden, ist also nicht eigentlich das Prinzip der Vermitteltheit
des Einen mit dem Anderen, sondern das Prinzip der Selbstbestim-
mung oder Freiheit. »Weil die Realität, das Dasein Etwas ist, so ist das
Etwas Etwas nur vermöge und in seiner Schranke (...). Etwas ist, was
es ist, nur innerhalb seiner Gränze; die Gränze fällt nicht in die Ver-
gleichung eines Subjects, sondern sie ist Ansichsein (...). Die Gränze
ist Beziehung auf sich selbst; ist Identität mit sich selbst.«30 Zwar
kann Feuerbach die Verbindungsfunktion der Grenze nicht leugnen,
aber er lässt sie sozusagen zu einem bloss abgeleiteten, sekundären
Funktionselement werden. »Durch die Schranke steht Etwas (...)
einem Andern entgegen, Etwas bezieht sich nothwendig auf ein And-
res, und ist darum Übergang in Andres, der Veränderung fähig; aber
die Schranke ist durch die Ruhe, der Friede eines Dings mit sich selbst
(...). Denn die Hemmung der Schranke (...) giebt dem Menschen die
Ruhe der Einheit mit sich selber, und die Schranke in der Bestimmung
der Identität ist Freiheit (...) weil seine Schranke seine Selbstgewiss-
heit, Affirmation ist.«3! Hier haben wir das ontologische Gegenstück
zur junghegelianischen Hypostasierung des Selbstbewusstseins. Eben
diese Substantialisierung des Ich macht aus dem reinen Subjekt kriti-
schen Denkens oder gar der reinen Tathandlung den leiblichen, sinn-
lichen Menschen. Aus einem naturalistischen Materialismus in der
Nachfolge Spinozas wird so ein anthropologischer Materialismus, der
die Subjekttheorie der Moderne adaptiert hat.
Aber gegen die Überrealität des Allgemeinen und des Ganzen in
der Begriffs-Ontologie Hegels hat Feuerbach als Prinzip der Materia-
lität die Bestimmtheit des Singulären wieder in ihr Recht eingesetzt. An
diesem Akzent seiner frühen Vorlesungen wird er nun festhalten und
ihn allmählich so verstärken, dass daraus das Zentrum seiner eigenen
Philosophie werden kann. Noch in der Leibniz-Monographie von 1837
wird die Leibnizsche Synthese von Singularität der Monade (deren jede
von allen anderen unterschieden ist) und Universalität ihrer Seinsbe-
dingung (insofern jede wie alle anderen vollinhaltlich bestimmt ist
durch die Widerspiegelung der ganzen Welt)32 und damit das Allge-
meine als übergreifend über sein Gegenteil, das Besondere, akzeptiert;
anders könne der Geist nicht denken: »Der Materialist mag sich sträu-
ben und wehren wider den Geist, soviel er will, er straft sich immer
selbst Lügen; denkt und sagt er: Nur das Sinnliche ist real, nur die Ma-
terie ist Wesen, so will er damit nicht einen nur sinnlichen Schall ausspre-
216 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten
chen, sondern eine Wahrheit, einen Gedanken, einen Satz, der Sinn und
Verstand hat, und er gesteht dadurch indirekt ein, dass nur das real ist,
was einen Verstand, eine geistige Bedeutung hat.«33 Das Buch über
Bayle, beginnend mit dem Hymnus auf das Fleisch gegenüber dem
Geist34, bringt den Übergang: Bayles Skeptizismus wird als berechtig-
ter Einspruch gegen die Dominanz des Universellen gewertet. »Wie
Bayles Philosophie eine okkasionelle, so ist auch sein Skeptizismus
ein okkasioneller (...). Bayle ist ein in der Mannigfaltigkeit seiner Tätig-
keit zu ergreifender Geist; man kann nicht sagen, was er ist, ohne ihn
im besonderen zu geben. Der Begriff ist unendlich, wenn er der
wahre; man kann ihn in keinem Satze, keiner einfachen Definition
geben: Je spezieller, je distinguierter, desto besser, wenn der Gegen-
stand ebendiese Spezialität fordert.«35 Der Umschlag vom hegeliani-
schen Begriffsidealismus zu einem nominalistisch, empiristisch
durchdrungenen Materialismus wird sozusagen am Doppelpunkt
sichtbar; der Satz zuvor resumiert noch durchaus den Hegelschen Be-
griff vom Begriff - seine Unendlichkeit, die Unangemessenheit von
Satz und Definition; nach dem Doppelpunkt aber wird daraus eine
ganz und gar unhegelsche Konsequenz gezogen - die immer weiter
gehende Spezifikation singulärer Aussagen und die Beschränkung auf
diese. Mit der Begeisterung für Bayle, der ihm im Rahmen des Pro-
jekts Geschichte der neueren Philosophie einen eigenen Band wert war, der
selbst grösseren Umfang bekam als die Leibniz-Monographie, löste
Feuerbach sich vom Hegelianismus und einem Hegelschen Philoso-
p hievers tändnis. 36
Leibniz wie Hegel haben die Einheit der Welt im Begriff in der
logisch-ontologischen Konzeption der notio completa = des absoluten
Begriffs gedacht und durch die Formel ausgedrückt: praedicatum inest
subiecto. Das bedeutet, dass die Vielheit der Prädikate Oetztlich deren
Allheit im absoluten Begriff) in der Einheit des Subjekts aufgehoben
sein muss (und das gilt auch für die Modi der Substanz bei Spinoza). Es
ist der Sinn einer spekulativen Logik, auf diesem Wege den metaphysi-
schen Begriff von Welt oder Totalität aller Erscheinungen zu konstru-
ieren, während eine >apophantische< Logik von Subjekt und Prädikat als
getrennten Elementen des Satzes und ihrer Zuordnung ausgeht. Feu-
erbach kehrt nun, mit seinem Votum für die Spezifikation des Begriffs,
zur selbständigen Besonderheit des Prädikats zurück, das er vom Sub-
jekt löst. Die Prädikate werden ihm zu Zeichen der >eigentlichen< Wirk-
lichkeit: »Die Prädikate haben eine eigne, selbständige Bedeutung; (...) sie
betätigen, bezeugen sich selbst.«37
Feuerbachs anthropologischer Materialismus 217
Dieser Satz aus dem Wesen des Christentums enthält den philosophischen
Schlüssel zur junghegelianischen Hegel-Kritik. Die Formel von der
Vertauschung von Subjekt und Prädikat zur Kennzeichnung der Sy-
stemstruktur Hegels kommt allenthalben vor, bei Feuerbach und Marx
bekommt sie allerdings eine präzise philosophische Bedeutung. Feuer-
bach war sich durchaus darüber im klaren, dass seine Wendung gegen
Hegel einen Frontwechsel im Universalienstreit darstellte. »Ist die
Logik erhaben über den den Streit der Nominalisten und Realisten (um
mit alten Namen einen natürlichen Gegensatz zu bezeichnen) ? Wider-
spricht nicht die >Logik< in ihren ersten Begriffen gleich der sinnlichen
Anschauung und ihrem Advokaten, dem Verstande?«38 Im universa-
lientheoretischen Sinn gilt es für Feuerbach als ausgemacht, »dass, was
das Subjekt oder Wesen ist, lediglich in den Bestimmungen desselben
liegt, d.h. dass das Prädikat das wahre Subjekt ist«39 - das ist die nomi-
nalistische Position. Weil das logische Verhältnis von Subjekt und Prädi-
kat ontologisch (in Opposition zu Leibniz und Hegel) in dem Sinne in-
terpretiert wird, dass nur das empirisch Besondere, durch welches das
Subjekt in diesem oder jenem Falle bestimmt wird als das, was es dann
und nur dann (= in diesem Augenblick, in dieser Hinsicht, in dieser Be-
ziehung) ist, als das Wirkliche zu gelten habe, konnte diese Formel eine
solche prägende Wirkung haben.
Während sie bei Feuerbach doch nur auf die sinnliche Anschau-
ung geht41l , versteht Ruge die Inversion von Subjekt und Prädikat po-
litisch. »Die Hegelsche Rechtsphilosophie, um sich als >Spekulation<
oder als absolute Theorie zu verhalten, also die >Kritik< nicht hervor-
treten zu lassen, erhebt die Existenzen oder die historischen Bestimmt-
heiten zu logischen Bestimmtheiten (...). Hegel unternimmt es also, den
erblichen König, die Majorate, das Zweikammersystem usw. als logi-
sche Notwendigkeiten darzustellen, während es doch nur darauf ankom-
men konnte, alles dies als Produkte der Geschichte nachzuweisen
und als historische Existenzen zu erklären und zu kritisieren.«41 Die hi-
storischen Existenzformen sind die realen Prädikate, die das ideelle
Wesen bestimmen. Bei Marx' Kritik des Hegelschen Staatsrechts, die
von der Feuerbachsehen Formel reichlich Gebrauch macht, muss
man an diesen von Ruge gesetzten politischen Akzent denken, wenn
man die Sinnverschiebung verstehen will, die dann in der Kritik des
biossen »Anschauungs-Materialismus«, also in den Feuerbach-Thesen
gipfelt.
218 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten
das Sein über. »Das >über sein andres< - das >andere des Denkens< ist aber
das Sein - >übergreifende< Denken ist das seine Naturgrenze überschreitende
Denken. Das Denken greift über sein Gegenteil über - heisst: Das Den-
ken vindiziert sich, was nicht dem Denken, sondern dem Sein zukommt. Dem Sein
kommt aber die Einzelheit, Individualität, dem Denken die Allgemeinheit zu.
Das Denken vindiziert sich also die Einzelheit- es macht die Negation der
Allgemeinheit die wesentliche Form der Sinnlichkeit, die Einzelheit, Zu
einem Moment des Denkens.«54 Dieses Übergreifen ist notwendig, es ist die
Verfassung des Denkens. Daraus entspringt der idealistische Schein, das
Sein sei eine Funktion des Denkens. Alles, was ist, ist ja prinzipiell im
Denken enthalten (es ist denkbar), und sofern es nicht im Denken ent-
halten ist, ist es auch nicht für uns. »Wo der Mensch aber nichts ausser
sich mehr hat, da sucht und findet er alles in sich, da setzt er an die Stelle
der wirklichen Welt die imaginäre, die intelligible Welt, in der alles ist, was
in der wirklichen, aber auf abstrakte, l·orgestellte Weise.«55
Statt auf dieser Spur zu bleiben, lenkt Feuerbach nun aber sofort
auf seine Hauptstrasse ein, die ideologiekritische Destruktion der reli-
giösen Hypostasen, und verzichtet auf die ontologische Bestimmung
des Verhältnisses von Seins-Welt und Denk-Welt, von Welt des prakti-
schen Verhaltens und Welt des theoretischen Betrachtens. »Wo der
Mensch kein Wesen ausser sich mehr hat, da setzt er sich in Gedanken ein
Wesen, welches als ein Gedankenwesen doch zugleich die EigeflSchaften eines
uJirklichm Wesens hat, als unsinnliches zugleich ein sinnliches Wesen, als ein theo-
retisches Objekt zugleich ein praktisches ist (...). Die Vorstellung ist ihm
keine Vorstellung mehr, sondern der Gegenstand selbst, das Bild kein Bild
mehr, sondern die Sache selbst, der Gedanke, die Idee Realität.«56 Feu-
erbach gibt damit den Schlüssel zu einer materialistischen Interpreta-
tion von Hegels »rationeller Mystik«5 7 aus der Hand, den er mit der Er-
kenntnis vom »gegenständlichen Wesen« des Menschen schon
besessen hatte. Die Antithese zur Konstruktion des Begriffs bleibt die
sinnliche Vorstellung; befangen im Dualismus von Sinnlichkeit und
Vernunft, gewinnt Feuerbach keinen Raum für eine eigenständige on-
tologische Qualität der Praxis.
Allgemeine nicht nur ausdrückt (wie der Begriff), sondern selbst er-
zeugt (in der Vermittlung der Sprechenden zur Gemeinsamkeit eines
Gemeinten). »Die Sprache ist nichts anderes als die Realisation der Gat-
tung, die Vermittlung des Ich mit dem Du, um durch die Aufhebung
ihrer individuellen Getrenntheit die Einheit der Gattung darzustel-
len.«58 Die Innerlichkeit des Ich hat keine Sprache, sprechend >ent-äus-
sert< sich das Individuum an ein Anderes, das angesprochene Du, die
besprochene Sache. »Das Einzelne, welches wir in der sinnlichen Ge-
wissheit meinen, können wir daher gar nicht einmal aussprechen.«59 Es
bedarf stets eines vermittelnden Aktes, durch den das Wort für den
einen und den anderen zum Träger derselben Bedeutung wird. Darum
insistiert Feuerbach darauf, dass die Demonstration letztlich ein sinnli-
cher Hinweis ist (obwohl er mit der Aquivokation spielt, dass Demon-
stration ja auch Beweisführung - also ein logisches Verfahren - be-
sagen kann). Das Allgemeine konstituiert sich aber nicht nur in der
durch Hinweis sinnlich nachvollziehbar gemachten Gemeinsamkeit
eines \X'ortsinns für A und B und andere; sondern auch, in der defini-
torischen Funktion des »Dieses« (worauf Feuerbach nicht eingeht):
>Dieses ist ein Haus< ist ein Hinweis, der dem Phonem >Haus< eine sinn-
lich erfüllte Bedeutung gibt, es zum Semem macht. In diesem
Sprechakt verändert sich aber der Status von >Dieses<; es zeigt nicht
mehr nur ein Singuläres auf, sondern das Singuläre als >etwas von die-
ser Art<.611 Wir können nun auch andere Häuser als solche bezeichnen
und erkennen, wir können das Wort gebrauchen, ohne dass es durch
die sinnliche Präsenz der Sache ausgewiesen sein muss. Diese reale Ver-
selbständigung des Allgemeinen kann Feuerbach nicht bedenken, weil
für ihn unumstösslich gilt: »Dem sinnlichen Bewusstsein sind alle
Worte Namen, nomina propria (...). Die Sprache gehört hier gar nicht
zur Sache (...). Dem sinnlichen Bewusstsein ist eben die Sprache das Un-
reale, das Nichtige.«61
Hier stossen wir auf den in der nominalistischen Systematik Feuer-
bachs liegenden Grund, warum er zu einem wirklichen Begriff der Pra-
xis nicht vorstossen konnte - ein Mangel, der dazu führte, dass Marx
und Engels die Feuerbachsche Position so schnell hinter sich liessen.
Das sinnlich Einzelne kann zwar als notwendiger Gegenstand des Sin-
nenwesens Mensch erkannt werden, und eine gegenständliche Gerich-
tetheit, ein gegenständliches Tun gegenüber den Einzelnen mag dann
durchaus zum \X'esen des Menschen gehörig betrachtet werden und
zeigt sich in empirischer Feststellung. Dass aber das gegenständliche
Tun des einzelnen Menschen über diesen bestimmten Akt hinaus zu
Feuerbachs anthropologischer Materialismus 223
einer >Praxis< wird, in der mehreres und verschiedenes Tun eines und
desselben l'vIenschen sich unter einem Zweck zu einer zusammenhän-
genden Tätigkeit formiert und dass gar mehrere Menschen sich zu
einer solchen Tätigkeit vereinigen und zu diesem Behufe miteinander
kommunizieren, ist ohne den realen Sinn von Allgemeingegenständ-
lichkeiten, Begriffen, gedanklichen nicht-sinnlichen Synthesen nicht
erklärbar.
Der Materialismus Feuerbachs gerät so an seinem nominalistischen
Sensualismus in einen Widerspruch. Der ontologische Ansatz, der Feu-
erbachs Hegel-Kritik fundiert, wird zunächst mit einer starken Plausi-
bilität vorgetragen: »Der Beweis, dass etwas ist, hat keinen andern Sinn,
als dass etwas nicht nur Gedachtes ist. Dieser Beweis kann aber nicht aus
dem Denken selbst geschöpft werden. Wenn zu einem Objekt des Den-
kens das Prädikat des Seins hinzukommen soll, so muss zum Denken
selbst etwas vom Denken Unterschiednes hinzukommen.«62 Von da aus
spinnt sich der Faden der Argumentation, die zu dem Postulat hin-
führt: »Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Anti-
these, mit der Nichtphilosophie zu beginnen.«63
Die Philosophie ist das Denken, die Nichtphilosophie das Sein
selbst - nicht der Gedanke >sein<. »Sein ist die Grenze des Denkens.«M
An dieser Grenze entsteht dem Denken sein Gegenstand - wie jede
Grenze eines Einzelnen der Ort ist, an dem ihm das Andere gegen-
ständlich wird. »Ein Objekt, ein wirkliches Objekt wird mir nämlich
nur da gegeben, wo mir ein auf mich wirkendes Wesen gegeben wird,
wo meine Selbsttätigkeit - wenn ich vom Standpunkt des Denkens aus-
gehe - an der Tätigkeit eines andern Wesens ihre Grenze - Widerstand
findet.«65 Da das Denken nichts anderes ist als das Denken eines Ge-
dachten (seines Inhalts), ist das Wesen des Denkens dadurch bestimmt,
dass es einen Gegenstand in sich aufnimmt. »Das aber, worin sich ein
Wesen befriedigt, ist nichts andres als sein gegenständliches Wesen (...). Was
aber ein Wesen ist, das wird nur aus seinem Gegenstande erkannt; der Ge-
genstand, auf den sich ein Wesen notwendig bezieht, ist nichts anderes
als sein offenbares Wesen.«66 Daraus folgt: »An dem Gegenstande wird
daher der Mensch seiner selbst bewusst: das Bewusstsein des Gegenstan-
des ist das Selbstbewusstsein des Menschen.«67 Hieraus leitet sich nun
Schritt für Schritt die Weltverschränkung des Menschen ab. EinWe-
sensmerkmal des Menschen ist, dass er denkt. Das Denken ist ganz
und gar gegenständlich, auf Gegenstände ausser ihm bezogen und von
ihren Repräsentationen erfüllt. »Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand (...).
Aber der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesentlich, notwendig
224 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten
bezieht, ist nichts andres als das eigne, aber gegenständliche Wesen dieses
Subjekts.«68 Wir erkennen uns selbst, indem wir die Inhalte unseres Be-
wusstseins erkennen; sie sind es, die das bestimmen, was wir sind, sie
sind die Prädikate unseres Subjektseins. Also erkennen wir uns selbst
an und in den Gegenständen, auf die wir uns beziehen. Der Mensch
hat kein anderes Wesen als das, woran er sich selbst entäussert. »Der
Gegenstand des Menschen ist nichts andres als sein gegenständliches
Wesen selbst.«69
In diesen Umrissen einer materialistischen Anthropologie steckt
das ganze Material, von dem Marx dann Gebrauch machen wird, wenn
er die Wirklichkeit des Menschen aus der Geschichte seines durch Ar-
beit vermittelten Stoffwechsels mit der Natur erklärt. Feuerbach hat
das durchaus auch im Blick, aber er gleitet darüber hinweg. 7o Die dia-
lektische Bewegung von Entäusserung und Rückkehr zu sich selbst
durch die zweckvolle Veränderung des Gegenstands - diese reflexive
Bewegung der Arbeit und des teleologischen Bewusstseins 71 - ver-
schwindet bei Feuerbach, weil er seinen Begriff von Gegenständlich-
keit ausschliesslich an der sinnlichen Perzeption orientiert. So kommt
das Neue seines anthropologischen Materialismus nicht zur Entfal-
tung, weil er erkenntnistheoretisch auf den vorkritischen Sensualismus
zurückfällt. Während jedoch die junghegelianische Kritik an Hegel sich
vordergründig an die Anwendung der Hegelschen Philosophie auf die
zeitgenössische Wirklichkeit hält (und darum eine Fraktion des Hege-
lianismus bleibt), stellt Feuerbach die Frage nach dem Verhältnis der
Struktur des Hegelschen Systems zur Wirklichkeit überhaupt. Damit
hat er das philosophische Feld abgesteckt, auf dem eine neue Gestalt
der Dialektik hervorkommen konnte.
3. Kapitel:
Die Unmittelbarkeit der Tat
als Aufhebung der Philosophie
Spekulationen wollen wir dem Volk aufbürden; wir wollen nur vermit-
tels der Philosophie das Terrain gewinnen, auf dem wir selbständig
handeln, weil wir uns selbst fühlen und von allen äusseren Schranken
frei sind (...) Ist er (der Mensch) aber zu diesem Bewusstsein gelangt, so
schüttelt er alle Autorität ab, die ihn bisher hinderte, er selber zu sein.
Er hat vor nichts mehr Respekt als vor sich selbst. Alle Tradition, aller
Glaube, alle Demut, alle Beherrschung muss seinem siegreichen Selbst-
bewusstsein weichen, und hiemit hat der Mensch erst den Boden ge-
wonnen, auf dem er als Mensch handeln kann.«5 Die Befreiung hält
sich in der Innerlichkeit des Ich - und genau so bei Stirner, ja auch bei
Feuerbach; Marx und Engels werden ihren Spott über diese Art von
»Verwirklichung der Philosophie« ergiessen. Bruno Bauer aber schreibt
mit rhetorischem Pathos 1841 an Marx: »Es wäre Unsinn, wenn Du
Dich einer praktischen Carriere widmen wolltest. Die Theorie ist jetzt
die stärkste Praxis, und wir können noch gar nicht voraussagen, in wie
grossem Sinne sie praktisch werden wird«; und er spricht davon, dass
»der Terrorismus der wahren Theorie reines Feld machen« müsse. 6 Die
Verwirklichung der Philosophie war also die Theorie selbst. Die Ver-
bindung zwischen Theorie und sozialer Bewegung war von den Jung-
hegelianern nicht gefunden, ja nicht einmal als Problem empfunden
worden.
Das gilt auch zunächst noch von Moses Hess, dem unter den Phi-
losophen des Vormärz dieser Widerspruch schliesslich am deutlichsten
bewusst geworden ist, und der die Nahtstelle bezeichnet, an der das
Problem sichtbar wird, aus dem heraus dann bei Marx und Engels die
junghegelianische Philosophiekritik in ein ganz anderes Begreifen von
Philosophie umschlägt. In der Entwicklung von Hess vor 1848 sind
drei Phasen unterschieden worden: eine religionsphilosophisch-mes-
sianische; eine an Fichte orientierte, die das Selbstbewusstsein zum An-
gelpunkt der geschichtlich-philosophischen Konzeption macht (und in
der eine enge Verwandtschaft mit Bauer, ja sogar mit Stirner besteht);
und schliesslich eine von Feuerbach beeinflusste, in der an die Stelle des
individuellen Selbstbewusstseins das Gattungswesen des Menschen
tritt.7 Tatsächlich gehen die Elemente der drei Phasen jedoch in einan-
der über. Der messianische Impetus bleibt, in säkularisierter Form,
auch nach Hess' Übergang zum Atheismus erhalten, das Gattungswe-
sen des Menschen wird nie klar von seiner Ich-haftigkeit abgehoben
und führt zu einem, gleichsam prä-sozialdemokratischen, Kantianis-
mus in der dualistischen Auffassung von Notwendigkeit des Ge-
schichtsprozesses und Freiheit des Sollens, des moralischen Subjekts.s
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 227
Auch hier also hebt die Philosophie beim Ich an - und dieses Ich
ist das natürliche der Feuerbachschen Anthropologie, in eins gesetzt
mit dem Selbstbewusstsein Bruna Bauers: »Die verschiedenen Arten
oder Erregungen des Selbstbewusstseins, welche sich in der Zeit als
verschiedene Momente, Stufen, Schichte, Geschichten - im Raume als
verschiedene Exemplare oder Naturen darstellen, sind wirklich das
Produkt einer und derselben Tätigkeit, die das Selbstbewusstsein am
Ende als seine eigne erkennt (...) Der Wechsel, die Verschiedenheit des
Lebens kann nicht als ein Wechsel des Gesetzes der Tätigkeit, als ob-
jektiv verschiedenes Leben, sondern nur als eine Verschiedenheit des
Selbstbewusstseins begriffen werden.«!!
Nun steckt aber in der Einsicht, dass die Geschichte nicht ein Ge-
schick Gottes, sondern das Produkt des Menschen ist, mehr als nur der
Rekurs auf das Selbstbewusstsein. Denn »Leben ist Tätigkeit«!2, das
Denken, das in die Wirklichkeit eingreift, ist nicht mehr Denken, son-
dern Handeln: »Das wirkliche Denken der Wirklichkeit - ist die Tat.«!3
Die Tat aber ist die Aufhebung der Form des biossen Denkens, die Ver-
wirklichung der Philosophie geschieht also als Aufhebung der Philoso-
phie. So fordert Grün in seiner Kritik an Feuerbach diesen auf: »Lass
uns doch die neue Philosophie sogleich mit, lass uns alle Philosophie
verwirklichen, d. h. ihrer Form nach aufheben!«!4 Und Hess gibt einer
Broschüre den Titel »Die letzten Philosophen«; er schreibt darin, »dass
die Philosophie als solche überwunden, negiert, verwirklicht werden
müsse«, es sei der wahre Sozialismus, der »nicht bloss ausspricht, dass,
sondern wie die Philosophie als blasse Lehre zu negieren und im ge-
sellschaftlichen Leben zu verwirklichen« sei.!5
Philosophie und Wirklichkeit stehen sich hier als einander aus-
schliessende Konzepte gegenüber. Philosophie ist der blosse Schein
des Wirklichen, eine falsche, die sich den Seinsstatus der eigentlichen
Wirklichkeit angemasst hat, sodass es zu der Umkehrung kommt, als
sei das äussere Leben eine »leere Reflexion des leeren Ich, der Schatten
eines Schatten.«!6 Denkendes und Gedachtes werden in der Reflexions-
philosophie auseinandergerissen und unter der Dualität von Subjekt
und Objekt vorgestellt, was aber nichts anderes bedeutet, dass auch das
sich vorstellende Subjekt zum Objekt seiner selbst wird. Die Philoso-
phie ist der Ausdruck dieser Entfremdung des Menschen von sich
selbst, Ausdruck seiner Vergegenständlichung zum Substanz-Subjekt.
Erst wenn die Subjektivität jeder Gegenständlichkeit entkleidet ist,
wenn das Subjekt sich der Verdinglichung (wie man später sagen wird)
entledigt hat und sich rein als Tat (und nichts sonst) begreift, wird auch
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 229
als eine ebenso harte Wirklichkeit gegenüber, und die Welt hat hier die
Bestimmung, ein Äusserliches, das Negative des Selbstbewusstseins zu
sein.«21l
Hinter diese Position Hegels fallen die Junghegelianer wieder
zurück - und dieser Rückfall hängt aufs engste mit ihrer theologie- und
kirchenkritischen Stossrichtung zusammen. Das freie Selbstbewusst-
sein kann sich gegen die Institutionen von Dogmatik und Kirche nur
restituieren, wenn es sich aus den objektiven Vermittlungen, in denen
es sich entfremdet ist, aus »der Zerrissenheit des Inneren und Entfrem-
dung« wieder auf sich zurückzieht: »Wenn nämlich das freie, mensch-
liche Selbstbewusstsein alle die allgemeinen Bestimmungen, die für den
Menschen gelten und die Menschen untereinander verbinden, als Er-
zeugnis seinen Lebens betrachtet, erkennt und immer in seiner innern
allgemeinen und idealen Welt zusammenhält, hat das religiöse Be-
wusstsein dieselben von dem Selbst des Menschen losgerissen, in eine
himmlische Welt versetzt und so das unstete, schwankend und elend
gewordene individuelle Ich mit dem allgemeinen, wahrhaften Ich, mit
dem einzigen Ich, welches den Namen Menschen verdient, in Zwie-
spalt gesetzt.«21 Es ist das »Gesetz des Herzens«, das hier gegen den
»objektiven Geist« rebelliert und in den »Wahnsinn des Eigendünkels«
verfällt. 22 Genau der von Hegel dekouvrierten Illusion verfallen seine
Kritiker in einer Art von gnostizistischem Aktionismus der Befreiung.
Erst wenn die Subjektivität jeder Gegenständlichkeit entkleidet ist,
wenn das Subjekt sich der Verdinglichung (wie man später sagen wird)
entledigt hat und sich rein als Ta/und nichts sonst begreift - meinen sie
- wird auch die Entfremdung verschwinden; das ist die Menschwer-
dung des Menschen und zugleich das Ende der Philosophie. »Was
durch die moderne Wissenschaft Positives errungen werden kann, liegt
nicht mehr im Gebiete der eigentlichen Philosophie, nicht mehr im
Denken überhaupt (00') Das Positive muss jetzt in einem andern Gebiete
als der theoria gesucht werden (00')'« Was bisher nur im Denken und
durch Denken geleistet wurde, ist jetzt positiv zu verwirklichen. Darum
muss die Philosophie, »um Positives zu erringen, über sich selbst hin-
aus zur Tat fortschreiten.«23
Die zentrale Stellung des aus religionsphilosophischer Quelle stam-
menden Entfremdungstheorems 24 macht auch verständlich, warum
die »Philosophie der Tat« nicht nur die Philosophie, sondern auch die
Politik aufheben will; auch sie ist Manifestation der Objektivation des
Menschen, ist Vollzug der Subjekt-Objekt-Spaltung und muss folglich
verschwinden, wenn erst die Menschen in ihrer Selbstverwirklichung
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 231
ganz sie selbst, ganz menschlich geworden sind. Die Identität des Men-
schen mit sich ist und ist nur in seiner Tat realisiert; sie ist, ganz in der
Diktion Fichtes, Selbsterzeugung und als solche reine Subjektivität =
Freiheit, die durch keine Objekthaftigkeit mehr von sich verschieden,
entäussert, entfremdet ist. »Leben ist - Tätigkeit. Tätigkeit aber ist
Herstellung einer Identität durch Setzen und Aufheben seines Ge-
genteils, Erzeugung seinesgleichen, seiner Sichselbstgleichheit, durch
den Durchbruch der Schranke, welcher Ich Nichtich, Tätigkeit ist, mit
einem Worte, Selbsterzeugung, deren Gesetz der Geist durch seine
Selbsterzeugung erkennt.«25 Dann ist die »Philosophie des Geistes« zur
»Philosophie der Tat« geworden 26 und hat sich verwirklicht, nämlich im
Leben aufgelöst. Dann gilt: »Religion, Philosophie und Politik sind ge-
wesen und werden sich aus ihrer Auflösung niemals wieder erheben.«27
Was von einer positiven Philosophie als Wissenschaft überdauern wird,
ist der Ubergang in Praxis: »Ihre ganze Bedeutung ist die, praktisch zu
werden, die Wissenschaft der Praxis zu sein, die Verhältnisse des Men-
schen menschlich zu gestalten, die Eigentumsfrage, die Frage der Bil-
dung, die Frage der Ordnung und vor allen Stücken die Frage des
Übergangs zu erledigen.«28
Sollte diese Praxis nicht die des Stirnerschen Einzigen sein, so
musste, wenigstens formell, der Übergang vom individuellen Ich zur
Gattung vollzogen werden. Dies ist in der Tat der Weg, den Hess vom
Junghegelianismus zum Sozialismus gegangen ist. Feuerbach hatte die
Philosophie als Theologie entlarvt und diese auf Anthropologie redu-
ziert. Aber das Naturwesen des Menschen ist nicht allein in seiner In-
dividualität zu finden, sondern in seiner Geselligkeit. Darum kann
Hess die Feuerbachsche Entlarvungssequenz - Theologie ist das Ge-
heimnis der Metaphysik, Anthropologie das Geheimnis der Theologie
- noch um ein Glied weiterführen: Sozialismus ist das Geheimnis der
Anthropologie. »Theologie ist Anthropologie - das ist wahr - aber das ist
nicht die ganze Wahrheit. Das Wesen des Menschen, muss hinzugefügt
werden, ist das gesellschaftliche Wesen, das Zusammenwirken der ver-
schiedenen Individuen für den einen und denselben Zweck, für ganz
identische Interessen, und die wahre Lehre vom Menschen, der wahre
Humanismus ist die Lehre von der menschlichen Gesellschaftung, d.h.
Anthropologie ist Sozialismus.«29 Sozialismus wird hier mit Anarchie als
dem paradiesischen Zustand der Selbserzeugung und Selbstbestim-
mung des Menschen gleichgesetzt: »Selbstbestimmung von innen,
Überwindung der äusseren Schranke durch Selbstbeschränkung C•••)
Die Arbeit, die Gesellschaft überhaupt soll nicht organisiert werden,
232 Die Kritik der HegeIschen Konstruktion des Absoluten
sondern sie organisiert sich von selbst, indem jeder tut, was er nicht las-
sen kann, und unterlässt, was er nicht tun kann.«3o Die Selbstbeschrän-
kung der Tat - sozusagen als regulatives Prinzip einer anarchischen Ge-
sellschaft - ist die »praktische Ethik« des »wahren Sozialismus«, ihr
produktives Prinzip ist die Liebe (hier schlägt Feuerbach wieder durch).
Sie hatte der Philosophie, die auf den Verstand gegründet war, gefehlt:
»Hätte sie Liebe gehabt, so wäre sie nicht bei sich selber stehen geblie-
ben, sondern hätte sich aufgeopfert und wäre zur Tat übergegangen.«3!
Darum muss die Philosophie (wie die Politik) sich in einen Sozialismus
der Liebe auflösen: »Der Sozialismus ist tatsächliche Philosophie, ist
das Leben der zu Verstand gebrachten Liebe.«32
Im Kommunistischen Manifest werden Marx und Engels die »schön-
geistigen Redeblumen, durchtränkt von liebesschwülem Gemütstau«
verhöhnen, mit denen sich der »wahre Sozialismus« feuilletonistisch
schmückte. Die rhetorische Diktion der Hess und Grün verdeckt je-
doch nur ein philosophisches Versagen. Hess erkannte durchaus, dass
der junghegelianische Rückzug auf das individuelle Selbstbewusstsein
als der historisch bestimmenden Substanz weder dem ontologisch-an-
thropologischen Wesen des Menschen noch den Wirkungsgesetzen
der Geschichte entspricht; dass vielmehr die Gattungsgeschichte und
ihre Determinanten begriffen werden müssen, wenn die Philosophie in
ihre Verwirklichung übergehen soll. »Der Mensch kann sich als einzel-
nes Individuum gar nicht betätigen. Das Wesen der menschlichen
Lebenstätigkeit ist eben das Zusammenwirken mit anderen Individuen
seiner Gattung.«33 Kaum anders könnte das auch in den Pariser Ma-
nuskripten von Marx stehen. Solche Einsichten mögen Hess in der Zu-
sammenarbeit mit Marx und Ruge an den Deutsch-Franzijsischen Jahr-
büchern gekommen sein. Dort findet sich der Satz, dass »die natürliche
Weltanschauung (...) in der Gattung das Leben selbst, im Individuum
dagegen nur das Mittel zum Leben erblickt (...) Unsern Philistern, un-
sem christlichen Krämern und jüdischen Christen, ist das Individuum
Zweck, das Gattungsleben dagegen Mittel des Lebens. Sie haben sich
eine aparte Welt für sich geschaffen.«34 Tatsächlich aber bleibt im »wah-
ren Sozialismus« diese Erkenntnis ein bloss verbales Bekenntnis, weil es
Hess und Grün nicht gelingt, die Vermittlung zwischen der Besonder-
heit der individuellen Zwecke und der Gattungsallgemeinheit des Ge-
schichtsprozesses herzustellen. Sie stehen auf Feuerbachs Position,
wie Marx sie in der 9. und 10. Feuerbach-These charakterisiert hat;
denn ihre Konzeption von Praxis ist eben die der singulären Tathand-
lung: »Das Individuum ist die einzige Wirklichkeit der Idee; nur in ihm
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 233
der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die einzelne
Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee misst.«48
Gegenüber der bloss negativen Kritik der Junghegelianer, die auf
eine Zersetzung der Positivität der Philosophie hinauslief, hält Marx
hier daran fest, dass Kritik aus einem Kriterium begründet werden
müsse, das den Sollwert gegenüber dem Istzustand angibt. Dieses Mass
wird hier noch mit dem eher kantisch als hegelisch gebrauchten Ter-
minus »Idee« benannt; eine Theorie über die inhaltliche Bestimmung
des historisch-gesellschaftlichen Richtmasses wird erst auf der Grund-
lage des ausgearbeiteten historischen Materialismus geliefert werden
können. Wesentlich ist, dass Marx von seinen Anfängen an der Philo-
sophie als Theorie des Systems gesellschaftlicher Zwecke und damit als
handlungs orientierend einen wohl definierten Platz in der politischen
Selbstverwirklichung des Menschen zuweist. Diese nichtutopische,
jede idealistische Auffassung vom Status der Theorie ausschliessende
Parallelität von Idee und Wirklichkeit hat er dann klar formuliert: »Die
Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die
Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist (...) Werden die theoretischen Be-
dürfnisse unmittelbar praktische Bedürfnisse sein? Es genügt nicht,
dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss
sich selbst zum Gedanken drängen.«49 Diesem weiterentwickelten
Konzept von der Verwirklichung der Philosophie in der Befriedigung
der von Philosophie und Wissenschaften theoretisch bestimmten hi-
storisch-gesellschaftlichen Bedürfnissen und der Entfaltung der Ten-
denzen und Möglichkeiten entspricht durchaus der noch weniger
präzise, aber in der gleichen Richtung zielende Gedanke aus der Dis-
sertation, »dass das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Welt-
lich-Werden der Philosophie ist.«50
Aber auch schon der Doktorand Marx sah, dass die zwecksetzende
oder antizipierende Funktion der Philosophie nicht widerspruchsfrei
mit ihrem historischen Reflexionsgehalt zu vereinigen ist. Wenn eine
Philosophie den Zeitgeist zum Ausdruck bringt, so sind auch ihre nor-
mativen Postulate ein Ausdruck eben dieser ihrer Zeit; und wenn die
Wirklichkeit so beschaffen ist, dass sie das Wesen des Menschen ver-
zerrt, so können auch die von der Philosophie entdeckten oder ent-
worfenen Zwecke und Ideen die historische Tendenz nur verzerrt wie-
dergeben. Die Philosophie muss also ihren Anspruch aufgeben, das
absolute Wissen zu konstruieren oder den absoluten Geist zu reprä-
sentieren; sie könnte diesen Anspruch nur formal (im Konstruktions-
prinzip einer Methode 51 ) einlösen und dann gerade nicht praktisch,
Die Unmittelbarkeit der Tat als Aufhebung der Philosophie 237
1--1
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Die »Umkehrung« Hegels
durch den Marxismus
1. Kapitel:
Der Übergang zur materialistischen Dialektik
Der Marxismus ist ganz und gar eine Philosophie, und dies nur, indem
er zugleich mehr als bloss eine Philosophie ist. Die im engeren Sinne
philosophischen Arbeiten von Marx und Engels und Lenin sind nicht
zahlreich, viele davon zudem aus polemischem Anlass geschrieben -
wie die Heilige Familie, die Deutsche Ideologie, der Anti-Dühring, der Mate-
rialismus und ~mpiriokritizismus - oder fragmentarische Stücke - wie die
Dialektik der Natur und Lenins Philosophischer Nachlass. Aus ihnen, für
sich genommen, eine systematische philosophische Grundlage rekon-
struieren zu wollen, die tragfähig wäre, die wissenschaftliche \'JC'eltan-
schauung des Sozialismus zu begründen, schlösse zahlreiche willkürli-
che Extrapolationen ein oder müsste allzu karg bleiben, um das leisten
zu können, was Philosophie als Grundlegungswissenschaft unverzicht-
bar zu leisten hat.
Doch würde eine Rekonstruktion des Philosophie des Marxismus
aus dem Repertoire rein philosophischer Aussagen von Marx, Engels und
Lenin auch den besonderen Charakter der marxistischen Philosophie
nicht treffen und den besonderen Modus und Status von Philosophie
im Marxismus verfehlen. Von ihren Anfängen her haben Marx und
Engels ihre Philosophie zugleich als Verwirklichung und Aufhebung der
Philosophie (in ihrer traditionellen Gestalt) verstanden. Schon in der
Doktordissertation von Marx finden sich in einer ausführlichen
Anmerkung zur Situation der Philosophie nach Hegel die programma-
tischen Sätze: »Die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die
Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit
an der Idee misst. Allein diese unmittelbare Realisierung der Philosophie
ist ihrem innersten Wesen nach mit Widersprüchen behaftet (...)«1 Re-
flexionsverhältnis zu sein, ist das Wesen der Philosophie und ihre ei-
gentliche Bedeutung als besondere Wirklichkeit des Menschseins -
denn nur der Mensch reflektiert sein eigenes Verhältnis zur Welt und
gewinnt in dieser Reflexton die Fähigkeit, Zwecke zu setzen und sich
selbst zu bestimmen, also in Freiheit zu sein. Zwecke setzend und
244 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
festiert, führt zur idealistischen Verfestigung des Scheins, als sei die Il-
lusion die Wirklichkeit des Begriffs der Sache selbst. Für das Verhältnis
von Philosophie und Wirklichkeit ist jedoch die bewertende Bemer-
kung zu diesem Paragraphen aus der Kritik des fiege/sehen Staatsreehtsent-
scheidend: »Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen
Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das W1:sen des
Staats ausgibt.«7
Philosophie als Philosophie führt entweder in das leere Sollen des
Kantianismus, der aus einem abstrakten Ideal den Imperativ des Han-
delns herleiten will, welcher dann nur ganz formal bleiben kann; oder
in den Fehler des Hegelianismus, das Wirkliche, weil es absolut als
Ganzes der Geschichte nur das Vernünftige sein kann, auch in den Be-
sonderungen seiner jeweils historischen, relativen Daseinsformen für
vernünftig zu halten. Die Idealität jeder Theorie des Allgemeinen gerät
gegenüber der Realität des Einzelnen ins Unrecht, die blosse Vorstel-
lung von der Realität des Einzelnen bleibt aber ohne Theorie des All-
gemeinen am Schein begriffsloser Wahrnehmung haften.
Marx hat von der Kritik an Hegel das Motiv aufgenommen 8, den
Seinsprimat und die eigentliche Wirklichkeit des Einzelnen nicht preis-
zugeben, und daran hat er, als an einer Grundlage jedes Materialismus,
zeit seines Lebens festgehalten. Anders jedoch als die Bewusstseins-
philosophen, die ihr Rüstzeug aus dem Arsenal Fichtes holten, anders
auch als die irrationalistischen Willens- und Existenzphilosophen, wie
der späte Schelling und Kierkegaard, blieb Marx Aristoteliker: Die reale
Einzelheit ist das Dieses-da (tode tl) der »ersten Substanzen«9, diese sind
logisch wie ontisch das Erste, das Fundament, von dem keine Begriff-
sontologie absehen darf, will sie sich nicht in den luftigen Gespinsten
eines bloss ideellen Seins verfangen. Es war der einhellige Vorwurf der
nachhegeischen Generation, dass Hegel dieser Gefahr nicht entgangen
sei. Da, wo die Auseinandersetzung mit Hegel den politischen und re-
ligionskritischen Vordergrund durchstösst - nämlich bei Schelling und
Feuerbach -, steht das universalientheoretische Problem des Verhält-
nisses von Einzelnem und Allgemeinem, von Ontischem und Logi-
schem, von Wirklichkeit und Begriff im Mittelpunkt. Es genügt nicht,
die Bewegung des tatsächlich Seienden in der Selbstbewegung des Be-
griffs zu fassen; denn das Faktische geht nicht einfach im Begriff auf,
dem es subsumiert wird, die Subsumption selbst ist erklärungs be-
dürftig und muss als Verhältnis zwischen dem factum brutum und der
Wesensform bestimmt werden. \XTesen und Erscheinung sind gerade
nicht identisch, bemerkt Marx viel später, am Kern der Hegelschen
246 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
schaftliche Charakter aller dieser Systeme ist der bloss logische Cha-
rakter, oder, dass in ihnen die bloss logische Verknüpfung gesucht wird
(...). Von jeher, sagt man, ist die Philosophie erklärt worden als eine
durch biosses Denken zu erzeugende Wissenschaft. Das blosse Den-
ken geht aber nicht über den Begriff hinaus (...). Es käme also darauf
an, das Gegenteil dieses Begriffs zu finden.«15 Zunächst klingt dieser
Einwand gegen den Panlogismus kaum anders als der der Linkshegeli-
aner: »Alles ursprüngliche Denken bezieht sich immer auf einen wirk-
lichen Gegenstand.«16 Auch der Zweifel an der Logizität des Weltlaufs
scheint eine kritische Wendung gegen die These von der Vernünftigkeit
des Wirklichen einzuleiten: »Der erste Eindruck (und dieser ist nicht
bloss im Leben entscheidend, sondern auch in der Wissenschaft) die-
ses im Ganzen und Einzelnen so höchst Zufälligen, was wir Welt nen-
nen, kann unmöglich der Eindruck eines durch Vernunftnotwendigkeit
Entstandenen sein (...). Die Welt sieht nach alles weniger aus als nach
einem Erzeugnis reiner Vernunft.«17 Dann aber führt Schellings Weg
über eine »Fundamentalontologie«18 zur Philosophie des Glaubens
oder der Offenbarung: Das erste, nicht-kontingente, also notwendige
und damit begründete Sein muss hingenommen werden. »Ich weiss
nicht von seinem Sein vor seinem Sein. Dies affirmativ ausgedrückt:
ich weiss von seinem Sein nicht eher als eben durch sein Sein.«19 Damit
ist eine neue Art »Empirismus« eingeführt, der sich nicht auf das Zeug-
nis der Sinne und auf die Erfahrung der Gegenständlichkeit, Wider-
ständigkeit der äusseren Welt gründet, sondern aus einer inneren Er-
fahrung seine Gewissheit nimmt. Hier schlägt die vom wirklichen,
existierenden Sein her das Denken kritisierende Philosophie in einen
Irrationalismus um, der die Dialektik der Vermittlungen in der Unmit-
telbarkeit eines Glaubensaktes vernichtet. 2o Die Säkularisierung der
Philosophie wurde mit einem Schlage rückgängig gemacht, die Auf-
klärung und ihr Anspruch, die Welt aus sich selbst, also weltlich zu er-
klären, verworfen, das reifste Produkt dieses Weltlichwerdens der Phi-
losophie, die Hegelsche Philosophie, zur Sackgasse erklärt. Die
Philosophie wird wieder in die Religion als ihren Ursprung zurückge-
führt: »Derselbe, der vor aller Potenz ist, in dem nichts Allgemeines,
und der daher nur absolutes Einzelwesen seyn kann, eben dieser ist der
Inbegriff aller Principe, das alles Seyn Begreifende (...). In diesem das
Seyende-seyn ist seine ewige Gottheit, es ist das, wodurch er sich er-
kennbar macht.«21 Die Restitution der Religion nach der >Weltweisheit<
der Aufklärung - das bedeutete ebenso die Restauration nach der Re-
volution.
248 Die "Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
So war unter denen, die an Hegel festhielten oder auch unter denen,
die kritisch über ihn hinausgehen wollten, der Widerspruch gegen
Schelling ein obligates Exercitium der Selbstverständigung. Kritisierte
man HegeI, so musste man sicher gehen, nicht zu der Mannschaft der
Schellingianer gezählt zu werden. Im Vorwort zu den Deutschen Jahr-
büchern 1841 nennt Ruge den Zusammenhang von Religion und Politik
in Schellings Programm: "War früher Berlin kein Ort für den Trieb und
die geistige Bewegung, die wir soeben beschrieben, so hat seit kurzem
ganz Preussen entschieden die Farbe der Apologetik und der Defen-
sive gegen die neueste Philosophie angenommen. Das romantische
Prinzip ist für den Augenblick entschieden.«22 Und Marx schreibt 1843
an Feuerbach in der Erwartung, dass dieser "doch manches noch über
diesen Windbeutel in petto« hätte: "Ein Angriff auf Schelling ist also
indirekt ein Angriff auf unsre gesamte und namentlich auf die preus-
sische Politik. Schellings Philosophie ist die preussische Politik sub spe-
cie philosophiae.«23 Strauss hatte schon vor Schellings Berufung nach Ber-
lin gegen dessen Rückwendung von der Philosophie zum Glauben
polemisiert24, und Ruge hat die kritische Schrift von Engels über Schel-
lings erste Berliner Vorlesung sogleich besprochen und schreibt in die-
ser Rezension, Schelling appelliere "an die Welt, für welche die Offen-
barung der Philosophie und des freien Geistes keine ist, also an den
alten Gegensatz des Wissens, den Glauben, an das Bewusstein derer,
die hinter der Entwicklung des deutschen Geistes noch weiter als er
selbst zurückgeblieben sind.«25 In der Verteidigung Hegels gegen die
Reaktion waren sich die theoretische und die praktische Fraktion des
Vormärz einig.
nichts anderes als sich selbst bestimmt wird. Damit war auch die Reli-
gion noch in den Vorhof der Philosophie verwiesen und ihr absoluter
Geltungsanspruch entkräftet worden.
»Alle Grundprinzipien des Christentums, ja sogar dessen, was man
bisher überhaupt Religion nannte, sind gefallen vor der unerbittlichen
Kritik der Vernunft; die absolute Idee macht Anspruch darauf, die
Gründerin einer neuen Ära zu sein. Die grosse Umwälzung, von der
die französischen Philosophen des vorigen Jahrhunderts nur Vorläufer
waren, hat ihre Vollendung im Reiche des Gedankens, ihre Selbst-
schöpfung vollbracht. Die Philosophie des Protestantismus, von Des-
cartes an, ist geschlossen; eine neue Zeit ist angebrochen, und es ist die
heiligste Pflicht aller, die der Selbstentwicklung des Geistes gefolgt
sind, das ungeheure Resultat ins Bewusstsein der Nation überzuführen
und zum Lebensprinzip Deutschlands zu erheben.«29 Das Zitat zeigt,
wie der junge Engels den Kern der Religionskritik der Junghegelianer
herausschält. Es geht nicht um das Christentum, nicht einmal um die
Religion überhaupt, sondern um die Voraussetzungen der politischen
Freiheit in der Autonomie des Selbstbewusstseins. Weil Religion die
Gestalt der Unfreiheit des menschlichen Denkens ist - Hegels grosser
Gegner Schleiermacher erfand das »Gefühl schlechthinniger Abhän-
gigkeit«\O -, ist die Inthronisierung der Vernunft die Revolution gegen
die Unfreiheit, gegen jede äusserliche Bestimmtheit des Selbstseins des
Menschen. Das ist der Geist der Aufklärung, die sich selbst mit der Phi-
losophie gleichsetzte, der nun in Hegel seine Vollendung fand. 31 »Alle
Philosophie hat es sich bisher zur Aufgabe gestellt, die Welt als ver-
nünftig zu begreifen. Was vernünftig ist, das ist nun freilich auch not-
wendig, was notwendig ist, muss wirklich sein oder doch werden. Dies
ist die Brücke zu den gros sen praktischen Resultaten der neueren Phi-
losophie.«32
Dass im Widerstreit zwischen Glauben und Vernunft die Philoso-
phie ein politisches Geschäft besorgt, ist auch schon dem jungen En-
gels klar gewesen. In seinem Aufsatz über Friedrich Wilhe1m IV, der
ein direktes Korrolar zur Schelling-Kritik ist, spricht er den Zusam-
menhang von monarchischem Legitimitätsprinzip, Religion in ihrer
kultisch verbürgten Form, historischer Rechtsschule und romantischer
Philosophie unverhüllt aus: »Indem der König von Preussen es unter-
nimmt, das Prinzip der Legitimität in seinen Konsequenzen durchzu-
setzen, schliesst er sich nicht nur der historischen Rechtsschule an, son-
dern führt er sie sogar weiter fort und kommt fast bei der Hallerschen
>Restauration< an. Zuerst, um den christlichen Staat zu verwirklichen,
250 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
ten, da sie nur über das »Vernünftige«, das gedanklich Allgemeine han-
dele und niemals zeigen könne, dass dem vernünftigen Wesen, der Es-
senz, auch eine Existenz entspreche, welche eben nur in einem Akt un-
mittelbarer Erfassung, also einem Glaubensakt erfahren werde. Erst
eine Philosophie, die das Weltwesen aus einem ersten und begründen-
den Glaubensakt als existent herleiten könne, sei die wahre »positive
Philosophie«. »Der gute, naive Hegel mit seinem Glauben an die Exi-
stenz philosophischer Resultate, an die Berechtigung der Vernunft, in
die Existenz zu treten!«43, spottet Engels. Hegels Philosophie solle, nach
Schellings Kritik, nur eine Philosophie der l\'Iöglichkeiten sein; anderer-
seits enthalte sie aber doch, ebenfalls nach Schellings Darstellung, genau
nur das, was in Natur und Geist erscheine - also gerade die ganze \'x/irk-
lichkeit. Schelling verwickelt sich, stellt Engels fest, in einen heillosen
\XTiderspruch. Wenn die negative Philosophie »nur das enhält, was in der
Natur und dem Geiste wirklich ist, so schliesst sie die Realität ja ein und
die positive ist überflüssig.«44 So entlarvt sich die Schellingsche Philoso-
phie selbst als ein Vexierbild: »Gott ist nicht vernünftig. So zeigt sich
auch hier, dass das Unendliche nur dann vernünftigerweise real existie-
ren kann, wenn es als Endlichkeit, als Natur und Geist erscheint und eine
jenseitige extramundane Existenz des Unendlichen ins Reich der Ab-
straktionen zu verweisen ist.«45
'W'arauf es Engels ankommt, ist klar: Nicht auf die Rekonstruktion
des Schellingschen Systems, sondern auf dessen weltanschauliche
Konsequenzen. Darin ist Engels' Anti-Schelfing der Form nach noch
ganz junghegelianisch; auch die Junghegelianer deuteten nicht Hegels
System, sondern destruierten seine weltanschauliche Wirkung. Aber im
Inhalt löst sich Engels schon in dieser frühen Zeit von der junghege-
lianischen Hegelkritik, löst sich auch schon von Feuerbach. Er geht
über Hegel hinaus, aber nicht gegen ihn, sondern mit ihm, indem er die
Idee in die Existenz übersetzt und als Idee der Totalität der Existieren-
den wieder zu sich zurückkehren lässt: »Handelte es sich also in der
Logik um die idealen Bestimmungen der Idee, als realer in Natur und
Geist, so handelt es sich nun um diese Realität selbst, um den Nachweis
dieser Bestimmungen in der Existenz, welcher die letzte Probe und zu-
gleich die höchste Stufe der Philosophie ist. So ist allerdings aus der
Logik ein Fortschritt nicht nur möglich, sondern notwendig, und eben
dieser Fortschritt kehrt im selbstbewussten, unendlichen Geist zur Idee
zurück.«46
Dieser Weg, der der Konstruktion der Welt in der Theorie, führt
aber zur materialistischen Umkehrung. Das Absolute ist das durch
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 253
nichts als sich selbst Begründete, die caUJa sui Spinozas, die \X'elt im
Ganzen, ausserhalb derer nichts anderes ist (oder über die hinaus
nichts mehr als grösser gedacht werden kann).47 Davon aber gilt: »Das
ac tu von selbst Seiende kann nur auf die Ewigkeit der 1Iaterie führen,
sobald man logisch schliesst.«48 Engels argumentiert hier streng in der
Tradition der klassischen Metaphysik und zieht die Konsequenzen, die
im Spinozismus angelegt sind. Wenn er auch Feuerbachs ideologiekri-
tische Wendung, derzufolge »das Geheimnis der Theologie die An-
thropologie« sei, akzeptiert, so doch nur als »eine notwendige Ergän-
zung zu der durch Hegcl begründeten spekulativen Religionslehre.«49
Deren metaphysischer Gehalt ist die Verweltlichung des Absoluten:
»Die \Xdt, die uns so fremd war, die Natur, deren verborgene Mächte
uns wie Gespenster schreckten, wie verwandt, wie heimisch sind sie
uns nun! (00') Die Welt ist wieder ein Ganzes, selbständig und frei; sie
hat die Tore ihres dumpfen Klosters gesprengt, das Busshemd abge-
worfen und den freien, reinen Äther zur \Xbhnung erwählt. Sie braucht
sich nicht mehr zu rechtfertigen vor dem Unverstand, der sie nicht er-
fassen konnte; ihre Pracht und Herrlichkeit, ihre Fülle, ihre Kraft, ihr
Leben ist ihre Rechtfertigung. \XTohl hatte einer recht, als er vor acht-
zehnhundert Jahren ahnte, dass die \XTelt, der Kosmos, ihn einst ver-
drängen werde, und seinen Jüngern gebot, der \X'elt abzusagen.«511
Jene zu Gespenstern hypostasierten verborgenen Mächte, deren
Genesis im gesellschaftlichen Prozess später Marx im Fetisch-Kapitel
des Kapital aufdecken wird, sind hier noch als metaphysische Verblen-
dungsgestalten angesprochen. Den Ursprung der Verkehrung in den
Produktionsl'erhältmssen haben Marx und Engels erst in den Analysen
freigelegt, die über die ideologiekritischen Intentionen der Vormärz-
jahre hinausführend zu einer geschichtlichen Begründung der Bewusst-
seinsinhalte und -formen gelangten. Aber Engels sieht auch dann noch
hinter den Gespenstern, die der Dialektik der \X!ertform entsteigen und
die Ausgeburten der Verkehrung des materiellen Verhältnisses in sei-
ner gesellschaftlichen Erscheinung sind, eine ontologische Verfassung
schlechthin - den Widerspruch zwischen der Einzelheit des individuel-
len Bewusstseins und der Besonderheit von zeitgeschichtlichen Bewusst-
seinslagen einerseits und der Allgemeinheit, die im Geltungsanspruch
einer Repräsentation des \'\'eltganzen statuiert wird: »Die Menschen fin-
den sich also vor den \X'iderspruch gestellt: einerseits das Weltsystem
erschöpfend in seinem Gesamtzusammenhang zu erkennen, und and-
rerseits, sowohl ihrer eignen wie der Natur des \Xdtsystems nach, diese
Aufgabe nie "ollständig lösen zu können (00') Tatsächlich ist und bleibt
254 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
Was Engels sich in der Kritik an Schelling erarbeitet, das gewinnt Marx
in der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie -
die Einsicht in den politischen Charakter philosophischer Positionen
und Kategorien. Im philosophischen Selbstverständigungsprozess beider
haben diese Polemiken einen analogen Stellenwert; sie führen zur er-
sten Formulierung des eigenen Ausgangspunkts, von dem aus sich die
philosophischen Fragen perspektivisch organisieren. Keime des Sy-
stemkonzepts gehen im fremden Nährboden auf. Engels wie Marx ste-
hen da noch unter dem starken Einfluss Feuerbachs, und doch zeich-
net sich schon ab, worin sie sich von ihm unterscheiden.
Junghegelianisch ist die Unmittelbarkeit, mit der Marx die Hegel-
sche Rechtsphilosophie auf einen aktuellen politischen Gehalt hin
durchleuchtet und unter diesem Aspekt zerpflückt. Wir werden jedoch
sehen, dass bei aller Schärfe der Kritik auch Marx in der Kritik des
Hege/sehen Staatsrechts den philosophischen Kern des Hegelschen Sy-
stems, seine Logik, verteidigt - eben auch gegen den Missbrauch ver-
256 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
dieses an jenen »teilhat.«74 Wird nun die logische (ideale) Existenz der
Allgemeinheiten der ontischen (materiellen) Existenz der Realseienden
vorgeordnet, so erhält die Idee den Charakter der »eigentlichen Wirk-
lichkeit« und das faktisch Seiende wird zu deren biossem Anwen-
dungsfall. »Die Existenz der Prädikate ist das Subjekt. (...) Hegel ver-
selbständigt die Prädikate, die Objekte, aber er verselbständigt sie
getrennt von ihrer wirklichen Selbständigkeit, ihrem Subjekt. Nachher
erscheint dann das wirkliche Subjekt als Resultat, während vom wirkli-
chen Subjekt auszugehn und seine Objektivation zu betrachten ist. (... )
Eben weil Hegel von den Prädikaten der allgemeinen Bestimmung statt
von dem reellen Ens (h]pokeimenon, Subjekt) ausgeht und doch ein Trä-
ger dieser Bestimmung da sein muss, wird die mystische Idee dieser
Träger. Es ist dies der Dualismus, dass Hegel das Allgemeine nicht als
das wirkliche Wesen des Wirklich-Endlichen, d. i. Existierenden, Be-
stimmten betrachtet oder das wirkliche Ens nicht als das wahre Subjekt
des Unendlichen.«75 Diese Stelle zeigt ganz deutlich, dass Marx mit-
nichten an eine nominalistische Entwirklichung des Allgemeinen
denkt, sondern das Verhältnis klären möchte, in dem das Realallge-
meine und das Realeinzelne in ihrem jeweiligen Wirklichkeitsstatus
auseinandergehalten und ineinander verschränkt gedacht werden.
Dabei interessieren Marx weniger die Prädikate, die adjektivisch ausge-
sagt werden, als jene, die sich auf relationale Zugehörigkeiten und Ab-
hängigkeiten beziehen, also als erweiterte Prädikatsnomina oder als ad-
verbiale Bestimmungen formuliert sind. Was in der eben zitierten
Passage in logisch-ontologischer Allgemeinheit festgehaiten wird, be-
kommt gegenständlichen Gehalt in folgendem Abschnitt zu § 279 der
Hegelschen Rechtsphilosophie, wo Hegel die Subjektivität des Staats im
Subjekt des Monarchen erst zu ihrer Wahrheit kommen lässr7 6 : »In
Wahrheit hat die abstrakte Person erst in der moralischen Person, Ge-
sellschaft, Familie etc. ihre Persönlichkeit zu einer wahren Existenz ge-
bracht. Aber Hegel fasst Gesellschaft, Familie etc., überhaupt die mo-
ralische Person, nicht als die Verwirklichung der wirklichen,
empirischen Person, sondern als wirkliche Person, die aber das Mo-
ment der Persönlichkeit erst abstrakt in ihr hat. Daher kommt bei ihm
auch nicht die wirkliche Person zum Staat, sondern der Staat muss erst
zur wirklichen Person kommen. Statt dass daher der Staat als die höch-
ste Wirklichkeit der Person, als die höchste soziale Wirklichkeit des
Menschen, wird ein einzelner empirischer Mensch, wird die empirische
Person als die höchste Wirklichkeit des Staats hervorgebracht. (...) Wür-
den z. B. bei der Entwicklung von Familie, bürgerlicher Gesellschaft,
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 259
Marx' Kritik an Hegel ist, wie wir sehen, von Anfang an eine we-
sentlich andere als die der Junghegelianer. Diese haben Hegel in den
Applikationen seiner Rechts- und Religionsphilosophie auf die Aktua-
lität des preussischen Staats und der bürgerlichen Gesellschaft
bekämpft. Marx dustruiert dagegen das Konstruktionsprinzip, aus dem
heraus eine solche Applikation entsprang. Der Verleumdung Hegels als
preussischer Staats philosoph lässt sich mit guten Gründen widerspre-
chen, um so mehr, seit wir die Vorlesungsnachschriften kennen.8 8
Schon Marx und Engels haben sich gegen diese politische Kurzsichtig-
keit empört. Die Diskrepanz zwischen der Dialektik des Begriffs und
den wirklichen gesellschaftlichen Prozessen, die in der konzeptionellen
Anlage der EniJ'klopädie der philosophischen Wissenschaften verdeckt bleibt,
produziert einen neuen Ansatz in der Ausarbeitung der dialektischen
Methode.
hältnisse und nicht nur die Sphäre von Produktion, Distribution und
Konsumtion erfasst. Die Frucht dieses Studiums waren die Ökono-
misch-Philosophischen Manuskripte, niedergeschrieben zwischen April und
August 1844,95
So unfertig in diesen Notizen auch noch die systematische Durch-
dringung des Stoffs der politischen Ökonomie ist - Marx wird ja ein
Leben lang daran arbeiten, diesen Stoff empirisch detailliert anzueig-
nen und kategorial zu strukturieren -, dürfen diese ersten Skizzen zu
einer materialistischen Dialektik nicht gering geschätzt werden. Marx
hat hier, gerade was den philosophischen Horizont angeht, wesentliche
Leitlinien seines Denkens ausgesprochen, die in seinem späteren \X'erk
präsent bleiben, ohne dass er darauf explizit und mehr als andeutungs-
weise wieder zurückgekommen wäre. \X'eniger die ökonomischen Ein-
zelheiten als der übergreifende geschichtsphilosophische Gesamtent-
wurf interessieren im Hinblick auf die Wendung, die Marx hier der
HegeIschen Dialektik zu geben versucht und von der er später sagt,
dass sie »die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen er-
leidet«, wieder auf ihren rationellen Gehalt zurückbringe. 96
In den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten ist das zentrale Pro-
blem noch nicht das Bewegungsgesetz der Kapitalakkumulation (d. h.
die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstands, den die ka-
pitalistischen Produktionsverhältnisse bilden), sondern allgemeiner die
Form der Verkehrung des menschlichen \X'esens unter den Bedingun-
gen des Privateigentums (d. h. die Logik des Verhältnisses, in dem sich
die menschliche Gesellschaft als eine unmenschliche verwirklicht). Es
geht um einen Prozess, in dem eine Bestimmung des Menschseins nur
als ihr Gegenteil hervorkommt und der unter dem Titel f~·ntfremdung ge-
fasst wird,97 Den Kern dieses Konzepts finden wir am reinsten in den
folgenden Seiten: Das kapitalistische Produktionsverhältnis »stellt das
Produkt der Arbeit also immer fremder dem Arbeiter gegenüber. (...) ;\Iit
der f"erwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschen-
welt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren;
sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in
dem Verhältnis, in dem sie überhaupt Waren produziert. Dies Faktum
drückt nichts weiter aus als das: Der Gegenstand, den die Arbeit pro-
duziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Ifhen, als eine von dem Pro-
duzenten unabhängige Macht gegenüber.«98 Der ökonomische Charakter
des Terminus Entfremdung, der die Erscheinung des Produkts als Ware
und die verwandelte Beziehung des Produzenten zu seinen Produkten
benennt, die ihm als \X'aren gegenübertreten 99 , ist eindeutig. Alle wei-
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 265
selbst den iVfenschen als il1enschen produziert, so ist sie durch ihn produ-
ziert. Die Tätigkeit und der Genuss, wie ihrem Inhalt, sind auch der
ExistenZJlIeise nach gesellschaftlich, gesellschaftliche Tätigkeit und gesellschaftli-
cher Genuss. (...) Es ist vor allem zu vermeiden, die >Gesellschaft( wie-
der als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fi.xieren. Das Indi-
viduum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäusserung - erscheine
sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit an-
dem zugleich vollbrachten Lebensäusserung - ist daher eine Äusserung
und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens.«115 Jedes Individuum, weI-
cher Gattung auch immer, ist an sich eine besondere Realisation des
Gattungswesens. Erst dem Menschen wird sein Gattungswesen ihm als
Individuum gegenständlich, also im Für-sieh-sein reflektiert. 116 »Als Gat-
tungsbewusstsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesellschaftsleben und
wiederholt nur sein wirkliches Dasein im Denken, wie umgekehrt das
Gattungssein sich im Gattungsbewusstsein bestätigt und in seiner All-
gemeinheit als denkendes Wesen für sich ist.«117
Auf dieser Stufe der Vergegenständlichung entsteht das Denken
(das immer das Denken des Allgemeinen ist) und mit dem Denken eine
Verdoppelung der Wirklichkeit, die nun in einem System mit kodierten
Beziehungsregeln und Bewegungsgesetzen repräsentiert wird. 118 Auf
dieser zweiten Ebene bildet sich eine Symbolwelt heraus, ideell in der
Form von Begriffen, real in der Form von Institutionen (in denen Be-
griffe wieder in die Realallgemeinheit des gesellschaftlichen Lebens
rückübersetzt werden). Der institutionelle Ausdruck der Vergegen-
ständlichung für das Individuum ist das Privateigentum in der Form der
Fixierung einer fremden Gegenständlichkeit. »Der Mensch eignet sich
sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler
Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören,
Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfi.nden, Wol-
len, Tätigsein, Lieben, kurz alle Organe seiner Individualität, wie die Or-
gane, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe
sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem ~erhalten zum
Gegenstand die Aneignung desselben. Die Aneignung der menschlichen
Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Bestätigung der
menschlichen [Wirklichkeit; menschliche Wirksamkeit und menschliches
Leiden, denn das Leiden, menschlich gefasst, ist ein Selbstgenuss des
Menschen.«119 Die Festlegung dieser Tätigkeit auf ein Ding - die Ver-
dinglichung des Prozesses - fi.ndet im Privateigentum ihre substantielle
Form. Das Privateigentum ist >)flur der sinnliche Ausdruck davon, dass
der Mensch zugleich gegenständlich für sich wird und zugleich vielmehr
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 269
sich als ein fremder und unmenschlicher Gegenstand wird, dass seine
Lebensäusserung seine Lebensentäusserung ist, seine Verwirklichung
seine Entwirklichung, eine fremde Wirklichkeit iSt.«121l
Die Lebensprozesse des Menschen bedeuten Entäusserung und
Vergegenständlichung. Erst dadurch wird der Mensch zum Menschen.
Aber in diesem Prozess geschieht der Umschlag - die Verdinglichung
des angeeigneten Gegenstands und seine Verselbständigung gegenüber
dem Prozess, in dem er erfahren und angeeignet wird, seine Entfrem-
dung. Diese entspringt im Akt der Produktion, sie kommt nicht erst als
ein (verfälschendes) Moment hinzu, »sie zeigt sich nicht nur im Resul-
tat, sondern im Akt der Produktion, innerhalb der produzierenden Tätigkeit
selbst. Das Produkt ist ja nur das Resümee der Tätigkeit, der Produk-
tion. ~'enn also das Produkt der Arbeit die Entäusserung ist, so muss
die Produktion selbst die tätige Entäusserung, die Entäusserung der
Tätigkeit, die Tätigkeit der Entäusserung sein. In der Entfremdung des
Gegenstandes der Arbeit resümiert sich nur die Entfremdung, die Ent-
äusserung in der Tätigkeit der Arbeit selbst.«121 Die Entfremdung ist
der Entäusserung inhärent; sie ist das Pandora-Geschenk, das damit
verbunden ist, dass der Mensch »praktisch und theoretisch die Gat-
tung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegen-
stand macht.«122 Darum ist die Entfremdung nicht nur das Fremdwer-
den der Sache gegenüber dem tätigen Menschen, sondern auch das
Fremdwerden des Menschen gegenüber seiner eigenen Tätigkeit, d. h.
gegen sich selbst: ».lelbstentfremdung.«123 Diese ist keine spirituelle Un-
heilsgeschichte, sondern ein ökonomisches Faktum. Als ein solches ist
die Selbstentfremdung des tätigen Menschen die Entfremdung von sei-
nem Gattungswesen. »Die entfremdete Arbeit macht also das Gattungs-
lJ'eWI des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermö-
gen, zu einem ihm fremden Wesen, zum 111ittel seiner individuellen Existenz.
(...) Eine unmittelbare Konsequenz davon, dass der .\Iensch dem Pro-
dukt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen ent-
fremdet ist, ist die Entfremdung des 111enschen von den 111enschen. Wenn der
Mensch sich selbst gegenübersteht, so steht ihm der andre Mensch ge-
genüber.«I24 Und da die Entfremdung unausweichlich im Produk-
tionsprozess entsteht und der arbeitende Mensch nicht hinter sie zu
einem unmittelbaren Selbstsein zurückgehen kann, wird die Aufhe-
bung der Entfremdung nur am Ende einer Veränderung stehen, die die
in der Produktion entstandenen Bedingungen der Entfremdung besei-
tigt und durch eine andere Form der Institutionalisierung menschlicher
Tätigkeit ersetzt.
270 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
Nun hat Marx, wie wir gesehen haben, das Privateigentum als die in-
stitutionalisierte Form der entfremdenden Aneignung der Welt in der
produktiven Tätigkeit des Menschen bestimmt. Der Weg des Menschen
zu sich selbst als einem freien, universellen Wesen wird also über die Ne-
gation dieser Form führen. Die Konsequenz aus der kategorialen (phi-
losophischen) Analyse der ökonomischen Verfassung der Gesellschaft
ist daher nicht mehr einfach ein neuer Begriff der Sache, sondern eine
verändernde (revolutionäre) Tätigkeit, die dieser neue Begriff benennt
und die ihn überhaupt erst inhaltlich näher bestimmt und fortbestimmt.
»Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschli-
cher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschli-
chen Wesens durch und für den Menschen (00') ist die wahrhafte Auflö-
sung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit
dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und
Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen
Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist
das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiss sich als diese Lösung.«125
Und das heisst: Der Kommunismus »als Negation der Negation, als An-
eignung des menschlichen Wesens, die sich mit sich durch Negation des
Privateigentums vermittelt (00') ist nur durch den ins Werk gesetzten
Kommunismus zu vollbringen. Um den Gedanken des Privateigentums
aufzuheben, dazu reicht der gedachte Kommunismus vollständig aus. Um
das wirkliche Privateigentum aufzuheben, dazu gehört eine wirkliche
kommunistische Aktion.«126 In der Praxis geht die Theorie aus der Not-
wendigkeit des Begriffs in seine Verwirklichung, d. h. in ihre Aufhebung
als reine Theorie über. Denn der Begriff der Aufhebung der Entfrem-
dung bliebe ein Begriff innerhalb des Systems der Entfremdung, würde
nicht das Faktum der Entfremdung in seiner Wurzel beseitigt. 127
Marx hat hier den Ort ermittelt, an dem die Kategorie Aufhebung
einen radikal anderen Sinn, nämlich den einer Handlung bekommt. In
der Kritik am logischen Verfahren Hegels kommt er darauf noch ein-
mal zurück: »Der sich selbst entfremdete Mensch ist auch seinem
Wesen, d. h. dem natürlichen und menschlichen Wesen entfremdeter
Denker. Seine Gedanken sind daher ausser der Natur und dem Men-
schen hausende fixe Geister.« Hegel habe diese entfremdeten Gedan-
ken als solche, d. h. als »fixe Geister« behandelt und »jeden derselben
einmal als Negation, d. h. als Entäusserung des menschlichen Denkens,
dann als Negation der Negation, d. h. als Aufhebung dieser Entäusse-
rung, als lvirkliche Äusserung des menschlichen Denkens gefasst; aber
da - als selbst noch in der Entfremdung befangen - ist diese Negation
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 271
Mit gutem Grund kann man sagen, der um die Jahreswende 1843/44
geschriebene Aufsatz Zur Kritik der Hege/sehen Rech/sphilosophie. Einleitung
sei eine Art Programmschrift des fünfundzwanzigjährigen Kar! Marx.
272 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
Diese Aufhebung der Philosophie aber ist - und damit wird die schein-
bar negierte wieder in ihr höheres Recht eingesetzt - ihre Vern'irk/i-
chung. »Ihr könnte die Philosophie nicht aufhebell, ohne sie Zu 1'mJJirk/ichen.«119
Das kann doch nicht heissen, dass der Schein, den die Philosophie pro-
duziert und reproduziert, verwirklicht werden soll - er ist ja schon
wirklicher Schein. Der Philosophie wird mithin eine Qualität zuge-
schrieben, die über die Konstruktion des realen Scheins in der Theorie
hinausgeht. Wiederum ist die Philosophie, von der hier die Rede ist, die
Hegelsehe; sie denkt das Ganze, und sie denkt es als Entwicklung, als
Aufhebung des jeweils positiv Bestimmten in bestimmter Negation
und damit Setzung eines Neuen, als revolutionären Prozess; sie denkt
diesen Prozess als Fortbestimmung des Begriffs und als Fortschritt im
Offenbarwerden der Vernunft, und damit denkt sie Geschichte als
Befreiung des Menschen aus Fremdbestimmungen, Kampf um die
Selbstbestimmung ausVernunftgründen, Emanzipation. Indem Hegel
in der Reflexion des weltgeschichtlichen Ereignisses der Französischen
Revolution deren heroische Illusion, die bürgerliche Gesellschaft als
Gesellschaft freier Menschen, in der der individuelle Wille aller zum all-
gemeinen Willen und das heisst zum Wollen des vernünftigen Allge-
meinen wird 140, zum philosophischen System gestaltet, geht cr über die
Reproduktion des Scheins hinaus und entfaltet den Begriff der Frei-
heit, aber eben als Begriff; als Begriff jedoch, der die wahre Wirklich-
keit zu sein beansprucht, sodass, revolutionär gegen das Bestehende,
die Identität von Vernunft und Wirklichkeit normativ gesetzt werden
kann. 141 Geht es also darum, dass »alle Bedingungen der menschlichen
Existenz unter der Voraussetzung der sozialen Freiheit organisiert«142
werden sollen, so muss das gesellschaftliche System der Freiheit als die
Verwirklichung des vernünftigen Prinzips der Philosophie errichtet
werden.
Die philosophische Theorie wird also zum »Kopf der Emanzipa-
tion«; aber auf dem Kopf geht man nicht, der Prozess der Emanzipa-
tion muss vom Kopf auf die Füsse gestellt werden. 143 Also behält auch
die »theoretische Partei« nicht recht, die in der kritischen Philosophie
selbst schon die Verwirklichung der Emanzipation sieht. Denn »sie be-
dachte nicht, dass die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört
und ihre, wenn auch ideelle, Ergänzung ist.«144 Die politischen Forde-
rungen der Emanzipation sind zwar in der Philosophie ausgesprochen,
aber in der Form des Begriffs, der die eigentliche Wirklichkeit sei. Ge-
rade in dieser Hypostasierung der ideellen Seite des Reflexionsverhält-
nisses von Wirklichkeit und Begriff ist die Philosophie nur Ideologie
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 275
keine allgemeine, die die Vernunft und damit den Menschen in seiner
»Menschheit« (wie Kant sagt) oder »Humanität« (W v. Humboldt) all-
seitig verwirklichen würde. Vielmehr wird die Sonderstellung der poli-
tisch revolutionären Klasse zur Norm erhoben. »\X'orauf beruht eine
teilweise, eine nur politische Revolution? Darauf, das ein Teil der biir-
gerfichen Gesellschaft sich emanzipiert und zur allgemeinen Herrschaft ge-
langt, darauf, dass eine bestimmte Klasse von ihrer besondren Situation
aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt. Diese
Klasse befreit die ganze Gesellschaft, aber nur unter der Vorausset-
zung, dass die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse be-
findet, also z. B. Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben
kann.«!50
Damit eine besondere Klasse ihre Interessen und Wertvorstellun-
gen zu Leitideen der Gesellschaft machen kann, bedarf sie der Zu-
stimmung und Unterstützung auch jener, die andere besondere Inter-
essen haben.!5! Die Besonderheit muss den Schein der Allgemeinheit
erwecken. »Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese
Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der
Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im
Allgemeinen fraternisiert und zusammenfliesst, mit ihr verwechselt
und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird,
ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in \"X'ahrheit die Rechte
und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der so-
ziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen der allgemeinen
Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine
Herrschaft vindizieren.«!52 Die Kritik dieser Verkehrung des Besonde-
ren und Allgemeinen hat Hegel in den §§ 182 bis 256 der Rechtsphiloso-
phie gegeben, in denen er die bürgerliche Gesellschaft behandelt. Die
Allgemeinheit bestehe »eben damit nicht als Freiheit, sondern als 1\'ot-
wendigkeit, dass das Besondere sich zur Form der Allgemeinheit erhebe, in
dieser Form sein Bestehen suche und habe« (§ 186). Das Prinzip dieser
Allgemeinheit ist »der selbstsüchtige Zweck« (§ 183), ihre Daseinsform
der »Verstandes staat«, also gerade nicht die Vernunft.
An diese prinzipielle Einschätzung Hegels kann Marx anknüpfen,
und zwar gerade dadurch, dass er seine Kritik an Hegels Staatsrecht
voraussetzt. Die Annotationen zu § 297 von Hegels Rechtsphilosophie lie-
fern den Schlüssel: »Hegel geht von der Trennung des >Staats< und der
>bürgerlichen< Gesellschaft, den >besonderen Interessen< und dem >an
und für sich seienden Allgemeinen< aus, und allerdings beruht die
Bürokratie auf dieser Trennung.« Aber Hegels Versöhnung des Allgemei-
Der Übergang zur materialistischen Dialektik 277
nen mit dem Besonderen durch die Institutionen des Staates und seine
Fun~tionäre (die Bürokratie) bleibt scheinbar, weil auf die Konstruk-
tion des Begriffs beschränkt. »Die Aufhebung der Bürokratie kann nur
sein, dass das allgemeine Interesse Jl'irklich und nicht, wie bei Hegel,
blass im Gedanken, in der Abstraktion zum besonderen Interesse wird,
was nur dadurch möglich ist, dass das besondere Interesse wirklich zum
allgemeiJleIl wird (...) Das Subjektwerden der >allgemeinen Angelegen-
heit<, die auf diese \X'eise verselbständigt wird, wird hier als ein J\Ioment
des Lebensprozesses der >allgemeinen Angelegenheit< dargestellt. Statt
dass die Subjekte sich in der >allgemeinen Angelegenheit< vergegen-
ständlichten, lässt Hegel die >allgemeine Angelegenheit< zum >Subjekt<
kommen.« Indem Hegel das Agens der Geschichte in den Begriff des
Allgemeinen verlegt, verfehlt er die handelnden Subjekte. »Die Sub-
jekte bedürfen nicht der >allgemeinen Angelegenheit< als ihrer wahren
Angelegenheit, sondern die allgemeine Angelegenheit bedarf der Sub-
jekte zu ihrer forme/Im Existenz. Es ist eine Angelegenheit der >allge-
meinen Angelegenheit<, dass sie auch als Subjekt existiere.«151
Hegel durchschaut den Widerspruch im Mechanismus der bür-
gerlichen Gesellschaft, die zugleich Reichtum und Armut, Luxus und
Elend hervorbringt. »Die Richtung des gesellschaftlichen Zustands
auf eine unbestimmte Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürf-
nisse, Mittel und Genüsse, welche, so wie der Unterschied zwischen
natürlichem und ungebildetem Bedürfnisse, keine Grenzen hat, - der
Luxus - ist eine ebenso unendliche Vermehrung der Abhängigkeit
und Not ... « (§ 195).
Hier wird die Dissoziation des Allgemeinen in den Gegensatz der
Besonderen, von denen nur das eine sich die Geltung der Allgemein-
heit anmasst, korrekt beschrieben und durchaus auch als Konsequenz
der auf dem individuellen \X'illen und seiner Objektivation im Privatei-
gentum beruhenden Gesellschaftsform erkannt. 154 In der Periode der
Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Klassenver-
hältnisse sah Hegel indessen keine andere Aufhebung dieses Wider-
spruchs als in der Staatstätigkeit, die die Extreme vermittelt und so zur
allgemeinen Geltung gelangt.
25 Jahre später geht Marx an die \X'urzel dieses Verhältnisses:
»Nicht die lJatunl'iichsij; el!tstalldene, sondern die kiinstlich produzierte
Armut, nicht die mechanisch durch die Schwere der Gesellschaft nie-
dergedrückte, sondern die aus ihrer akuten /lußiisullg, vorzugsweise aus
der Auflösung des l\1ittelstandes hervorgehende J\Ienschenmasse bil-
det das Proletariat,«155 Der zerrissene Zustand der bürgerlichen Ge-
278 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
sellschaft geht also nicht aus einem Naturverhältnis der Menschen un-
tereinander, sondern. aus dem Produktionsverhältnis hervor. In die-
sem Produktionsverhältnis vollzieht sich die Auflösung des commune
bonum als Gesellschaftszweck in die Privatinteressen, die absolute
Priorität und Verfassungsvorrang bekommen 156 , und damit zugleich
die Bildung »einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine
Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die
Auflösung aller Stände ist.«15 7 Diese Klasse ist »die Auflösung der Ge-
sellschaft als ein besonderer Stand«158, nämlich als »das Proletariat«.
Sein einziges Interesse, das Interesse der Eigentumslosen, ist die Auf-
hebung des Privateigentums und also die Aufhebung der Bedingungen
aller jener Privatinteressen, die sich dem commune bonum überlagern.
»Wenn das Proletariat die Aujlo'sung der bisherigen Weltordnung verkün-
det, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist
die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die
Negation des Pril1ateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der
Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in
ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun ver-
körpert ist.«159
So erzeugt der Widerspruch der Gesellschaft das Proletariat als all-
gemeine Klasse, das heisst als die Klasse, die als besondere, der Bourgeoi-
sie entgegengesetzte, in ihrem besonderen Interesse den allgemeinen
Gesellschaftszweck verkörpert. Das Proletariat löst damit dem \X'esen
nach ein, was die revolutionäre Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen den
Feudalabsolutismus dem Schein nach - und nach ihrer eigenen hero-
ischen Illusion - gewesen war. »Damit die Ra'ofution eines Volkes und die
Emanzipation einer besondren Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusam-
menfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte,
dazu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andren
Klasse konzentriert, dazu muss ein bestimmter Stand der Stand des all-
gemeinen Anstosses, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein,
dazu muss eine besondre soziale Sphäre für das notorische Terbrechen
der ganzen Sozietät gelten, so dass die Befreiung von dieser Sphäre als
die allgemeine Selbstbefreiung erscheint. Damit ein Stand par excellence
der Stand der Befreiung, dazu muss umgekehrt ein anderer Stand der
offenbare Stand der Unterjochung sein. Die negativ-allgemeine Be-
deutung des französischen Adels und der französischen Klerisei be-
dingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden
und entgegengesetzten Klasse der Bourgeoisie.«16!) Erst das Proletariat
entspricht in Wahrheit dieser Beschreibung.
Der Cbergang zur materialistischen Dialektik 279
Als allgemeine Klasse ist das Proletariat auch die erste Klasse, die
sich die Philosophie widerspruchs frei aneignen kann. Denn die Phi-
losophie, die die Voraussetzungen für die Selbstbestimmung des
i\Ienschen aus Vernunftgründen schafft, weil sie die Vernunftgründe
theoretisch entwickelt, ist die Form des Bewusstseins des Allgemei-
nen. Was das Proletariat, als Klasse, in Wirklichkeit ist, nämlich der
realallgemeine Boden, aus dem der Mensch als das Wesen des Men-
schen - der eigentliche, freie, durch Vernunft selbstbestimmte
Mensch hervorwachsen kann, sobald es sich als besondere, ausge-
beutete, unterdrückte Klasse aufhebt: das ist die Philosophie in Gedan-
ken, die sich verwirklicht, wenn sie zur politischen Macht wird. Zur po-
litischen i\Iacht wird sie, wenn sie die Massen ergreift und deren Aktion
auf die Aufhebung ihrer besonderen Klassenlage, also auf die aktuelle
politische Durchsetzung ihrer potentiellen Allgemeinheit lenkt. (Später
wird dieser Gedanke in der Theorie vom Klassenbewusstsein konkre-
tisiert werden). Indem das Proletariat seine Ketten zerbricht, in denen
es als besondere Klasse gehalten war, und zur allgemeinen Klasse wird,
verwirklicht es die Philosophie. Aber es wird sie nur verwirklichen,
wenn es zuvor seine eigenen Interessen als die allgemeinen erkannt hat,
wenn es also die Philosophie als die theoretische Formulierung seiner
Ziele angeeignet und in sein Handeln aufgenommen hat. Die vernünf-
tige Allgemeinheit der Philosophie kann widerspruchs frei zur volonti
generale des Proletariats werden, weil dessen Interesse, die Auflösung
der Klassengesellschaft und damit die Beseitigung der Herrschaft des
Besonderen über das allgemeine Wohl, identisch mit dem Allgemein-
interesse und also mit dem Programm der Philosophie ist.
Das Proletariat ist aber auch die erste und einzige Klasse, die sich
die Philosophie widerspruchsfrei aneignen muss. Denn nur im Begriff
des Ganzen gewinnt das Proletariat ein Bewusstsein seiner selbst als
einer besonderen Klasse, die sich in der Aufhebung ihrer selbst als allge-
meine Klasse velWirklicht. Die Wirklichkeit des Proletariats als allge-
meine Klasse besteht in der Identität ihres Wollens mit der vernünfti-
gen Allgemeinheit der Philosophie - und das heisst aber auch in der
Aufhebung der Philosophie als (biosse) Philosophie und ihrer Verwirkli-
chung in der Herstellung allgemeiner Vernünftigkeit der menschlichen
Verhältnisse. »Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so fin-
det das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen.«161 Das ist
kein Akt gegenseitiger »Erwählung«; vielmehr drückt sich im Verhält-
nis von Proletariat und Philosophie die geschichtliche Lage der
Menschheit aus, dass unter der Herrschaft des Kapitals alle Besonde-
280 Die »Umkehrung« Hegels durch den l\larxismus
Arbeit als wirkliche Welt gegeben ist, wird in der Phänomenologie des
Geistes als die Geschichte des Bewusstseins, des werdenden Wissens
dargestellt. »Das Grosse an der HegeIschen Phänomenologie und ihrem
Endresultate - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und
erzeugenden Prinzip - ist also einmal, dass Hegel die Selbsterzeugung
des Menschen als einen Prozess fasst, die Vergegenständlichung als
Entgegenständlichung, als Entäusserung und als Aufhebung dieser
Entäusserung; dass er also das Wesen der Arbeit fasst und den gegen-
ständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat
seiner eignen Arbeit begreift.«165
Anders als in der Form des Begriffs ist die Komplexität der in den
einzelnen Arbeits- oder Anschauungsgegenstand eingegangenen und ihn
bestimmenden Momente nicht zu erfassen. Und da die materiell-prakti-
sche Arbeit ihren Gegenstand nicht nur gemäss seiner anschaulichen
Oberfläche, sondern gemäss seiner strukturellen, prozessualen, gesetz-
lichen, typischen Bestimmungen auffassen und behandeln muss, sind
Arbeitsprozess und Erkenntnisprozess eng miteinander verbunden; sie
stehen in wechselseitiger Reflexion zueinander. Ja, im Entwurf des uni-
versellen Zusammenhangs, der Welt als ganzer (was Engels in der Dia-
lektik der Natur dann den »Gesamtzusammenhang« nennen wird), wird
das Wissen selbst absolut, weil die Welt als ganze eben kein Gegen-
stand materieller Tätigkeit, sondern nur noch Gegenstand der Kon-
struktion im Wissen ist; im spekulativen Begriff vollendet der Mensch,
was er in der gegenständlichen Tätigkeit nicht vollenden kann. Bei
Hegel gewinnt daher die »Kopfarbeit« die ontologische Priorität: »Die
Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige
(...) Die Menschlichkeit der Natur und der von der Geschichte erzeugten
Natur, der Produkte des Menschen, erscheint darin, dass sie Produkte
des abstrakten Geistes sind und insofern also geistige Momente, Gedan-
kenwesen.«166 Die Entwicklung des Wissens von den Gegenständen als
Arbeit des Denkens ist nun zwar nur die eine Seite des doppelten Re-
flexionsverhältnisses von Arbeit und Erkenntnis, hat aber insofern ihre
Wahrheit, als die wirkliche Beschaffenheit der Gegenstände nur in der
Form des so produzierten Begriffs und seiner dauernden Fortbestim-
mung offenbar wird. So kann Marx auch festhalten, es sei »das Positive,
was Hegel hier vollbracht hat - in seiner spekulativen Logik - (...), dass
die bestimmten Begriffe, die allgemeinen fixen Denkjormen in ihrer Selb-
ständigkeit gegen Natur und Geist ein notwendiges Resultat der all-
gemeinen Entfremdung des menschlichen Wesens, also auch des
menschlichen Denkens sind und dass Hegel sie - als Momente des Ab-
282 Die »Umkehrung« Hegels durch den I\Iarxismus
2. Geschichtliche Anthropologie
ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Men-
schen ausgehen (...) Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unter-
scheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein
Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die
Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr
materielles Leben selbst.«16
Die Grundstruktur der historisch-materialistischen Sicht der Ge-
schichte, das Verhältnis von Produktivkräften, Produktionsmitteln und
Produktionsverhältnissen, ist in der anthropologischen These von der
Besonderheit der Reproduktionsform der menschlichen Gattung fun-
diert. Die Bemerkung, diese Voraussetzungen seien >auf rein empiri-
schem Wege konstatierbaf<, sagt etwas über das Verhältnis von philo-
sophischer und einzelwissenschaftlicher Erkenntnis. Die Existenz der
lebendigen menschlichen Individuen ist eine Erfahrungstatsache; auch
die Aufeinanderfolge der Generationen ist über drei bis vier Genera-
tionsstufen noch eine alltägliche Erfahrung jedes einzelnen; eine durch
Zeugnisse (mündliche Berichte, schriftliche und materielle Monu-
mente) vermittelte empirische Kenntnis reicht über weitere Zeiträume
zurück. Auch die Art der Koexistenz und Kooperation der Individuen,
in der sie ihre Lebensmittel und zum mindesten einen Teil ihrer
Lebensbedingungen produzieren, ist eine vortheoretische Erfahrung -
ebenso, dass sie sich darin von anderen Lebewesen unterscheiden. Ab-
getrennt von diesen Erfahrungen gibt es keine >wirkliche, positive Wis-
senschaft<, also keine Wissenschaft, die die Wirklichkeit ausserhalb des
menschlichen Denkens zu ihrem Gegenstand hat und Wissen von
etwas Gegenständlichem (nicht nur Wissen von den Denkformen) ist.
»Da wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also
die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen
Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen.«!7
In diesem Sinne verliert »die selbständige Philosophie (00') mit der Dar-
stellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium.« Denn eine selbständige
Philosophie kann es gar nicht geben, wenn anders Philosophie ja Re-
flexion des Wissens ist. Aber natürlich bleibt das Erkennen auf der
Ebene der ersten Erfahrungen nicht stehen. Erst im Prozess der Ver-
allgemeinerungen (Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten und
wieder zum Konkreten) werden die nicht im Oberflächenschein sicht-
baren Beziehungen, Gesetzlichkeiten, Verhältnisse erkannt, und diese
sind, wenn auch >Gedanken tatsachen< (wie es dann in den Grundrissen
heissen wird), so doch Ausdruck von Wirklichkeit, ja von wesentliche-
rer Wirklichkeit als das blosse Faktum oder Erfahrungsdatum. Hegels
290 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
Die Deutsche Ideologie ist keine, (und enthält keine), philosophische Grundle-
gung. Sie ist eine Streitschrift für den aktuellen theoretischen Partei-
kampf innerhalb des Junghegelianismus, rasch und mit polemischer
Zuspitzung geschrieben. Dennoch enthält sie natürlich, wie jede kriti-
sche Auseinandersetzung, Elemente der eigenen Konzeption, wenn
auch verstreut und nicht in ihrer architektonischen Ordnung. Sie kön-
nen herausgearbeitet werden; um aber die Stützen und Gelenke des
Marxschen Theorieentwurfs herauszuarbeiten, bedarf die Deutsche Ideo-
logie der Ergänzung durch jene Schriften, in denen Marx seine philoso-
phische Selbstverständigung suchte, vor allem also der Kritik der Hegel-
sehen Staatsphilosophie, der Kritik der Hege/sehen Rechtsphilosophie. Einleitung
und der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (Pariser Manuskripte).
In der Deutschen Ideologie war das materialistische Geschichtsver-
ständnis auf die Produktionsweise als den determinierenden Faktor
der gesamten >Lebensweise< einschliesslich des ideologischen Über-
baus gegründet worden; die Argumentationsrichtung geht dabei vor
allem auf die Destruktion des Scheins der Selbständigkeit des Bewusst-
seins, seiner Inhalte und Formen: »Die Vorstellungen, die sich die In-
dividuen machen, sind Vorstellungen entweder über ihr Verhältnis zur
Natur oder über ihr Verhältnis untereinander oder über ihre eigene Be-
schaffenheit. Es ist einleuchtend, dass in allen diesen Fällen diese Vor-
stellungen der - wirkliche oder illusorische - bewusste Ausdruck ihrer
wirklichen Verhältnisse und Betätigung, ihrer Produktion, ihres Ver-
kehrs, ihres gesellschaftlichen und politischen Verhaltens sind.«24 Die
politische Bedeutungslosigkeit einer biossen Veränderung des Bewusst-
seins, der Interpretation der Welt, sollte dargetan werden. »Die Forde-
rung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus,
das Bestehende anders zu interpretieren, d. h. es vermittels einer ande-
ren Interpretation anzuerkennen. Keinem von diesen Philosophen ist
es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie
mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kri-
tik mit ihrer eigenen materiellen Umgebung zu fragen.«25 In dieser Kri-
tik an den Junghegelianern liegt jedoch das positive Postulat, die mate-
rielle Produktion und ihre historischen Besonderheiten zu untersuchen
und den Charakter der theoretischen Verallgemeinerungen zu bestim-
men, die es erlauben, in den spezifischen Andersheiten der Produkti-
onsweisen und im Prozess ihrer Veränderungen das Kontinuum der
Geschichte und die wesentlichen Charaktere des geschichtlichen
294 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
wirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte -
herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was zunächst
wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist.«29
Die >reelle Wissenschaft<, um die es Marx geht, ist also alles andere
als nur die in ihre einzelwissenschaftlichen, >positiven< Disziplinen auf-
gelöste philosophische Wissenschaft. Im Gegenteil. Obwohl die Öko-
nomie Grundlage der >einzigen Wissenschaft der Geschichte< ist, for-
dert Marx in den Pariser Ll1anuskripten nach Erörterung der Lehre von
der Arbeit und dem Arbeitslohn: »Erheben wir uns nun über das Ni-
veau der Nationalökonomie« und an anderer Stelle erläutert er dies:
»Die Nationalökonomie geht vom Faktum des Privateigentums aus. Sie
erklärt uns dasselbe nicht (...) Die Nationalökonomie gibt uns keinen
Aufschluss über den Grund der Teilung von Arbeit und Kapital, von
Kapital und Erde.«10 Nicht die Deskription von Tatsachen führt wei-
ter, sondern die Bewegung ihrer Formbestimmtheit: »Der Gegenstand,
den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als
eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt
der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich
gemacht hat, es ist die vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung
der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung.«3l Indem erwas wirklich wird
(die Arbeit in ihrem Produkt), wird es zu erwas anderem (die Tätigkeit
zum Gegenstand). Das ist »die eigentümliche Logik des eigentümlichen
Gegenstands«, aber sie ist nicht dasselbe wie die einzelwissenschaftliche
Formulierung eines Gesetzes oder einer Verlaufs form in einem speziel-
len Gegenstandsbereich. Kategorien wie >Verwirklichung<, >vergegen-
ständlichung<, dann >Entäusserung< und >Entfremdung< enthalten neben
der deskriptiven Notation sinninterpretierende Konnotationen. In der
Enrwicklung des Begriffs der entfremdeten Arbeit wird dies deutlich:
»Der Mensch ist ein Gattungswesen, nicht nur indem er praktisch und
theoretisch die Gattung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge
zu seinem Gegenstand macht, sondern - und dies ist nur ein andrer
Ausdruck für dieselbe Sache - sondern auch indem er sich zu sich
selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich
zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält (...) Eben in
der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch
daher erst wirklich als ein Gattungswesen (...) Der Gegenstand der Arbeit
ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen (...) Indem
daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner
Produktion entreisst, entreisst sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche
Gattungsgegenständlichkeit.«32
296 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
Die Dichotomie der Philosophie, die wahr ist, insofern sie das Realall-
gemeine, das »Gattungssein« in Begriffen formuliert, und Schein ist,
insofern sie für die Begriffe den Status einer eigenen, gar eigentlichen
Wirklichkeit (das ontos on Platons) reklamiert, überwindet Marx in der
Ausarbeitung einer Theorie der Geschichte, in der die Philosophie
einen Ort und Status bekommt, der ihrem reflexiven und totalisieren-
den Charakter gerecht wird und an dem sie zugleich als ein Moment
der materiellen Prozesse des Gattungslebens erkennbar und aus die-
sen ableitbar wird. Diese Geschichtstheorie macht ernst mit dem Po-
stulat, von den Menschen als den wirklichen Voraussetzungen des hi-
storischen Lebensprozesses auszugehen - ein Postulat, das in der
Deutschen Ideologie aufgestellt worden war. Was bestimmt nämlich die-
sen Lebensprozess jedes einzelnen Menschen wie auch der Gattung
Mensch, zunächst betrachtet als den biologischen Bedingungen der
Lebenserhaltung ausgesetzt und von Natur aus genötigt, ihnen Rech-
nung zu tragen? Der Mensch muss, um seine elementaren Bedürfnisse
zu befriedigen, einen »Stoffwechsel mit der Natur« vollziehen. Im Un-
terschied zu den anderen Lebewesen geht der Mensch aber dazu über,
die Stoffe zu seiner Lebenserhaltung nicht nur der natürlichen Umge-
bung zu entnehmen, sondern sie in ihr durch zweckgerichtete Tätig-
keit wieder herzustellen, also aktiv in den Reproduktionsprozess der
Natur einzugreifen (Übergang zu Viehzucht und Ackerbau), um die
eigene Reproduktion von den Zufälligkeiten der Naturumstände un-
abhängig zu machen und zu sichern. Der Eingriff in die Natur erfor-
dert in schrittweiser Entwicklung und Verfeinerung der Verfahren die
Erfindung und Nutzung von Geräten und geregelte, sich an den Na-
turprozessen orientierende Arbeit, also Erkenntnis von den Wir-
kungsweisen der materiellen Objekte und intersubjektive Abstim-
mung des Verhaltens bis hin zur Kooperation. Erkenntnisse
verfestigen sich zu Deutungsmustern, Kooperationen zu gesellschaft-
lichen Institutionen, die ihrerseits wieder Deutungsmuster und Fixie-
rungen von symbolischen Formen hervorbringen. 37 So entstehen Ge-
sellschaftsordnungen und Weltanschauungen als Konsequenzen der
Entwicklung des Systems der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung. 38
Jedes neue, durch menschliche Tätigkeit befriedigte Bedürfnis, das
also nicht mehr unmittelbares Naturbedürfnis ist, sondern als vermit-
teltes ein Moment der »materiellen Kultur«, erzeugt wiederum neue
Bedürfnisse, zum Beispiel nach Mitteln zur Herstellung der Mittel,
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 299
Die Leistung dieser Geschichtstheorie ist es, dass sie eine theoreti-
sche Einheit von Natur, materieller Geschichte und Ökonomie, Insti-
tutionen und Ideologien herstellt, in der einerseits eindeutige Fundie-
rungsverhältnisse angegeben werden, andererseits aber eine lineare
Ableitung vermieden wird. Biologismus, Ökonomismus, Soziologis-
mus, Psychologismus, Technizismus usw. werden als einseitige und
darum falsche Erklärungsmodelle von Geschichte zurückgewiesen,
aber ihre jeweils richtigen partiellen Perspektiven in der Totalität der
Momente des menschlichen Welrverhältnisses aufgehoben. Weil der
Marxismus (in Ausarbeitung des von Marx angelegten Grundrisses)
eine Theorie des Ganzen als »Wissenschaft des Gesamtzusammen-
hangs« ist, den man nicht vergegenständlichen, sondern nur metho-
disch konstruieren kann, ist er darauf angewiesen, mit den Mitteln der
von Hegel aufgenommenen Dialektik als der inhaltsbestimmten Kon-
struktionsweise der aus der Bewegung von Entgegengesetzten sich bil-
denden Totalität zu arbeiten. Und die Philosophie in allen ihren Teilen
und Disziplinen und als systematischer Modellentwurf des Ganzen ist
die Reflexion dieses formativen Prozesses, in dem das menschliche
Welrverhältnis aus den Bestimmtheiten der Epoche sich konkretisiert.
Die Aufhebung der Philosophie in der politischen Praxis führt also zur
Restitution der Philosophie in der Reflektiertheit der politischen Pra-
xis. Philosophie ist einmal das Produkt dieses gesellschaftlichen Le-
bensprozesses als Teil des weltanschaulichen Überbaus über der Basis
der ökonomischen Beziehungen, zum anderen aber integriert die Phi-
losophie die mannigfaltigen und keineswegs immer homogen erschei-
nenden Momente der Wirklichkeit zu einem möglichst konsistenten
Weltbild und gestattet damit Orientierung im Ganzen und rationale
Zielentwürfe.
Der Geschichtsprozess, in dem die menschliche Gattung sich
selbst, d. h. ihre zivilisatorisch-kulturelle Formbestimmtheit, durch
Produktion erzeugt, ist also in doppelter Weise reflexiv: einmal als
Reflexionssystem der interagierenden Subjekte (Individuen, Gemein-
schaften, Klassen usw.) und sodann als theoretisch reflektierte, hand-
lungsorientierende Abbildung dieses Reflexionssystems. Dem Gesell-
schaftsprozess liegen auf allen seinen Stufen und im Übergang von
einfacheren zu komplexeren Vergesellschaftungsformen jene Struk-
turen zugrunde, die in der Logik der Reflexion, also im Modell der
HegeIschen Philosophie ausgearbeitet wurden. Diese Strukturen sind
aber Begriffsformen, und es kommt darauf an, deren Verhältnis zu
dem real ablaufenden Geschehen zu bestimmen.
302 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
Von Feuerbach hatte Marx, wie wir gesehen haben, das Schema der
Subjekt-Prädikat-Vertauschung im HegeIschen System übernommen
und zugespitzt. Der Vorwurf war, dass Hegel die Bewegung des Be-
griffs anstelle der Bewegung der Sache selbst dargestellt habe. Die Be-
griffe aber repräsentieren die Wirklichkeit nicht, wie sie ist, sondern
wie auf sie die bestimmte, also endliche, einseitige gegenständliche
Tätigkeit des Menschen reagiert. Zwischen der Sache selbst, ihrer Er-
scheinung in vergegenständlichter Form und deren Repräsentation im
Begriff gibt es also aspektive Differenzen. Der Begriff kann immer
nur ein Prädikat des Subjekts, der Sache selbst sein und sie nicht einfach
substituieren. Daraus zieht Marx die Konsequenz: »Die Menschen
sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp, aber die wirkli-
chen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte
Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden
Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewusst-
sein kann nie etwas Andres sein als das bewusste Sein, und das Sein der
Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. (...) Die(se) Abstraktionen
haben für sich, getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus kei-
nen Wert.«46 Gegen Hegels Prätention, die Geschichte des Begriffs sei
die wirkliche Geschichte 47 , wendet sich die Bemerkung: »Die Moral,
Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entspre-
chenden Bewusstseinsformen behalten hiermit nicht länger den
Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben
keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren
materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer
Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht
das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt
das Bewusstsein.«48 Aus dem polemischen Kontext gelöst, ist das
natürlich falsch. Selbstverständlich haben Ideen, Probleme, Weltan-
schauungen eine »Geschichte«, das heisst sie entwickeln sich nicht ab
ovo aus den materiellen Verhältnissen, sondern unter Anknüpfung an
vorangegangene Vorstellungen, an Traditionen; sonst gäbe es gar kein
kulturelles Erbe, keine nationalen und lokalen Kulturen, keine Ab-
folge von Stilen, keine Wissenschaftsgeschichte. Ideelle Objektivatio-
nen sind ebenso Instrumente (des Denkens) wie Geräte solche des
materiellen Gebrauchs, die über Generationen weitergegeben werden
können. Der Marxsche Protest richtet sich gegen den Schein der
Autonomie des Ideellen, so als seien Bewusstseinsinhalte ablös bar von
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 303
Was Marx hier auf der untersten Ebene der Güterproduktion und
des Tauschs schildert, ist für ihn eine Analogie zur Entstehung religiö-
ser Vorstellungen von transzendenten Wesenheiten, weswegen er die-
ses Verkehrungsverhältnis auch Fetischismus nennt. Er gebraucht im Ka-
pital nun nicht mehr die Parallele zur Hypostasierung der Begriffe bei
HegeI; aber im Duktus der Frühschriften und im Schema der Sub-
jekt-Prädikat-Vertauschung wäre die Rede vom Fetischismus durchaus
möglich gewesen.
Marx' politisch weiterführende Einsicht ist, dass die Verkehrungs-
und Entfremdungsstruktur nicht etwa das Ergebnis bösartiger Machi-
nationen von Ausbeutern oder Spekulanten ist (analog zur These vom
»Priesterbetrug« in der antikirchlichen Polemik der Aufklärung); son-
dern dass sie notwendig aus der Warenform hervorgeht. »Woher ent-
springt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es
Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst.«58 Moralische
Entrüstung, psychische Therapie oder religiöse Erweckung blieben ge-
genüber dem Phänomen wirkungslos. Selbst die Einsicht in den Fe-
tischcharakter von Ware, Geld und Kapital hebt die Realität dieser
Schein-Entitäten nicht auf. Denn »dass der Gebrauchswert der Dinge
sich für den Menschen ohne Austausch realisiert, also im unmittelba-
ren Verhältnis von Mensch und Ding«59, ist eben eine Abstraktion, die
von der Arbeitsteilung und ihren zivilisatorischen Folgen absieht.
Tatsächlich ist jede menschliche Gesellschaft Tauschgesellschaft - auf
verschiedenen Stufen bis hin zu den komplexen Formen des Welt-
markts; eben deshalb, weil das Individuum die Güter, die es zur Befrie-
digung seiner Bedürfnisse braucht, nicht mehr alle selbst herstellt und
nicht mehr herstellen kann, das heisst weil die Gesamtarbeit qualitativ
ungleich unter die Produzenten aufgeteilt ist und das entwickelte Sy-
stem der Bedürfnisse eine in sich differenzierte Totalität von Produk-
tionen als Gesamtproduktion zum Korrelat hat. 6o Die Spezifikation
der Produktion bringt die Vermittlung der Besonderen zum Allgemei-
nen hervor. »Wenn es keine Produktion im allgemeinen gibt, so gibt es
auch keine allgemeine Produktion. Die Produktion ist immer ein beson-
drer Produktionszweig. (...) Endlich ist die Produktion auch nicht nur
besondre. Sondern es ist stets ein gewisser Gesellschaftskörper, ein ge-
sellschaftliches Subjekt, das in einer grössren oder dürftigren Totalität
von Produktionszweigen tätig ist.«61 Das Schlusswort dieses Ab-
schnitts heisst: »Totalität der Produktion.« Totalität ist aber immer der
jeweilige (und transitorische) Zustand eines Totalisierungsprozesses,
der seine eigenen Instanzen ausbildet. 62
306 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
Bis hierher könnte es scheinen, als fasse der Marxismus die menschli-
che Geschichte (und das ihr zugrunde liegende Naturverhältnis) ganz
und gar deterministisch auf. Das Missverständnis liegt nahe, den Mar-
xismus als eine Lehre des historischen Automatismus in der Abfolge
der Gesellschaftsordnungen zu verstehen, für den die Zufalligkeiten
der individuellen Abweichungen keine oder nur eine untergeordnete
Rolle spielen; gerade von einem primär einzelwissenschaftlichen Zu-
gang aus, zum Beispiel als Ökonomismus oder Produktivkraft-Techni-
zismus, hat dieses Missverständnis auch in der politischen Praxis
immer wieder eine Rolle gespielt. Das immanente Entwicklungsgesetz
des historischen Fortschritts aus dem Widerspruch von Produktiv-
kraftentfaltung und Produktionsverhältnissen ist jedoch nur die eine
Seite der Geschichtsdialektik. Die Lehre vom Klassenkampf und von
der Rolle der Arbeiterklasse als dem revolutionären Subjekt ist die an-
dere.
Die arbeitsteilige Produktion und die Fixierung der Produktions-
verhältnisse in formationsspezifischen Eigentumsformen und Institu-
tionen haben aus der gesellschaftlichen Hervorbringung von Werten
(gesellschaftlicher Reichtum) gegensätzliche Aneignungsweisen des
Reichtums entstehen lassen. Die Eigentümer von Produktionsmitteln
sind in der Lage, diejenigen auszubeuten (das heisst unbezahlte Mehr-
arbeit = Produktion eines Mehrwerts von ihnen leisten zu lassen),
die bloss ihre Arbeitskraft in den Produktionsprozess einzubringen
haben. »Das Kapital (...) ist wesentlich Kommando über unbezahlte
Arbeit. Aller Mehrwert, in welcher besonderen Gestalt von Profit,
Zins, Rente usw. er sich später kristallisiere, ist seiner Substanz nach
Materiatur unbezahlter Arbeitszeit. Das Geheimnis der Selbstverwer-
tung des Kapitals löst sich auf in seine Verfügung über ein bestimm-
tes Quantum unbezahlter fremder Arbeit.«63 In der Verschiedenheit
der Eigentumsverhältnisse = Aneignung des gesellschaftlichen Ar-
beitsprodukts beruht die Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen. Die
Klassengegensätze realisieren sich in den politischen Auseinanderset-
zungen um Anteil an der Macht, die die geschichtliche Entwicklung
vorantreiben. »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Ge-
schichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebe-
jer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz Unter-
drücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander,
führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen
Die Einheit von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ökonomie 307
Für den Menschen, als das Subjekt der Geschichte, wird damit das
Feld, in dem die objektiven Gegebenheiten der Natur (und im weiteren
des vom Menschen erzeugten Systems der Artefakte, der sog. »zweiten
Natur«) mit den subjektiven Zwecken vermittelt wird, zum eigentli-
chen Boden und Grund seiner Existenz. Dieses Feld von Produktion,
Konsum und Tausch ist der Gegenstand der Ökonomie (als Wissen-
schaft und als Zweig der Lebensgestaltung68). Dass Marx sich von der
»reinen« Philosophie ab- und der Ökonomie zuwandte, war nicht eine
beliebige Entscheidung. Sobald er erkannt hatte, dass der materiale Ge-
halt der Hegelschen Philosophie im Prozess gegenständlicher Verän-
derungen der Welt liegt und dass ihr politisch-metaphysischer An-
spruch, Philosophie der Freiheit zu sein, nur über die Aufhebung der
Entfremdung der Arbeit würde eingelöst werden können, musste die
Sphäre der materiellen Produktion samt den in ihr liegenden struktu-
rellen Unfreiheiten zum bevorzugten Gegenstand einer Philosophie
werden, die ihre Venvirklichung zum Programm gemacht hatte.
3. Kapitel:
Dialektische Ontologie
des Gesamtzusammenhangs
1. EniJ'klopädischer Universalismus
rial aus den Übergang zur Dialektik als >objektiver< Struktur der pro-
zessualen Wirklichkeit und als >subjektiver< Gestalt von deren Rekon-
struktion in philosophischer Theorie zu vollziehen, haben die Ausar-
beitung einer wissenschaftlichen Weltanschauung für den Sozialismus
überhaupt erst angestossen und ihr ein konzeptionelles Profil gegeben.
In diesem weltanschaulichen Ganzen sind historischer und dialekti-
scher Materialismus eine binomische Einheit, und auch Marx, nicht nur
Engels, hat das so verstanden. Die geschichtstheoretische Grundle-
gung einer revolutionären Politik sollte im Entwurf eines universellen
Weltmodells verankert werden.
In der Tat ist das eine grundsätzliche und über den politischen Stel-
lenwert der Marx-Rezeption entscheidende Frage: ob man Marx auf
den Kritizismus der Junghegelianer zurückbringen will oder ob man
ihn um jene enzyklopädische Dimension erweitert, die Engels zu dem
durchaus schon universell angelegten Ansatz der Kritik der politischen
Ökonomie hinzugebracht hat und die Marx selbst - wie sein Brief-
wechsel mit Engels mannigfach belegt - als den Horizont seines eige-
nen Denkens verstand und akzeptierte. Ohne die Zustimmung von
Marx hätte Engels wohl auch kaum seine Rezension »Zur Kritik der
politischen Ökonomie« veröffentlicht, in der er den hegelischen Hin-
tergrund und die philosophische Methode der Marxschen Theorie so
nachdrücklich betont. 5
Die Bedeutung, die Marx und Engels der Philosophie für die welt-
anschauliche Integration der Arbeiterklasse beimassen, erhellt aus
ihrem Verhältnis zu Josef Dietzgen, der mit Schriften wie Das Wesen der
menschlichen Kopfarbeit (1869) und Das Acquisit der Philosophie (1887) eine
erkenntnistheoretische Grundlage für das Selbstverständnis und den
politischen Kampf der Sozialdemokratie geben wollte. Ungeachtet der
Vorbehalte, die Marx und Engels gegen das theoretische Niveau und
den methodologischen Dilettantismus von Dietzgen hatten, erachteten
sie dessen Beitrag zur Bildung des Klassenbewusstseins der Arbeiter-
klasse für wichtig genug, um ihn als »Denker« des Sozialismus ernst zu
nehmen (wenn auch die Worte »unser Philosoph«, mit denen Marx auf
dem Haager Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation 1872
Dietzgen vorstellte, nicht ohne einen gewissen ironischen Unterton ge-
wesen sein mögen). Dass Marx jedoch gerade Dietzgen auf dessen
Drängen zusicherte, eine Darstellung der Dialektik schreiben zu wol-
len, ist jedenfalls ein Indiz dafür, dass er die Aufgabe einer philosophi-
schen Grundlegung durch die Kritik der politischen Ökonomie nicht
für erledigt hielt. 6
314 Die »Umkehrung« Hegels durch den i\Iarxismus
Die Praxis, in der sich das eine mit dem anderen verbunden und von
ihm abhängig erweist, wird zum Medium, in dem die Erfahrung des
Mannigfaltigen in das konstruktive Erfassen des Zusammenhangs
übergeht. Das enzyklopädische Prinzip ist nach zwei Seiten ein Kor-
rektiv: Gegen die Faktenhuberei eines begriffslosen Empirismus und
gegen das überfliegende Denken einer von den Erfahrungswissen-
schaften abgehobenen Philosophie. An diesem (durchaus von Hegel
inspirierten) Konzept hat Engels zeit seines Lebens festgehalten. Ge-
rade da, wo er Hegel später kritisiert, weil dieser der Gewalt des Sy-
stems zum Sich-Abschliessen erlegen sei, hebt er doch den Umfang des
Hegeischen Systems hervor, dessen Verdienst es sei, »ein unvergleich-
lich grösseres Gebiet zu umfassen als irgendein früheres System und
auf diesem Gebiet einen Reichtum des Gedankens zu entwickeln, der
noch heute in Erstaunen setzt. (00') Logik, Naturphilosophie, Philoso-
phie des Geistes und diese letztere wieder in ihren einzelnen ge-
schichtlichen Unterformen ausgearbeitet: Philosophie der Geschichte,
des Rechts, der Religion, Geschichte der Philosophie, Asthetik usw. -
auf allen diesen verschiedenen geschichtlichen Gebieten arbeitete
Hegel daran, den durchgehenden Faden der Entwicklung aufzufinden
und nachzuweisen; und da er nicht nur ein schöpferisches Genie war,
sondern auch ein Mann von enzyklopädischer Gelehrsamkeit, so tritt
er überall epochemachend auf.«lS Es ist nötig, diese hoch anerkennen-
den Passagen umfänglich wiederzugeben, um dem Missverständnis
oder der Verleumdung entgegenzutreten, Engels sei eine Art Positivist
gewesen, der die Philosophie als blasses »falsches Bewusstsein« habe in
den Einzelwissenschaften zugrundegehen lassen wollen. Diese Fehl-
deutung ist es allerdings, die es dann erlaubt, das Konzept der »wissen-
schaftlichen 'X'eltanschauung«, das Engels entwickelt, auf das Niveau
eines populärwissenschaftlich zurechtgezimmerten \1i;'eltbilds herabzu-
drücken und dann als »einfache 'X'eltanschauung« für epistemologisch
irrelevant zu erklärenY' Die wissenschaftliche Weltanschauung ist ge-
rade durch ihren Rückbezug auf ein Konzept von Enzyklopädie be-
stimmt, das in der französischen Aufklärung sein neuzeitliches Para-
digma hat und dem Hegel dann - gegenüber der noch additiven Form
der Wissenssammlung - die philosophische Form des Systems gab.
Die Aufgabe, ein Prinzip zu finden, aus dem das Ganze des \'fis-
sens als Einheit und damit als Korrelat der einen !felt begriffen werden
könne, stellt sich unausweichlich mit dem stets grösser werdenden
Umfang unserer Erkenntnisse. Aber diese Aufgabe ist im Grunde so alt
wie die Reflexion auf das \'rissen des \,('issens, die Iloesis 1l0eSeÖS, wie sie
318 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
als die des Übergangs zur klassenlosen Gesellschaft, die den politi-
schen Gehalt des historis<;:hen Materialismus ausmacht28 , erfordert nun
auch eine Transformation des wissenschaftlichen \)V'issens in eine neue,
nicht mehr im Dienst von I<lassenherrschaft stehende, weltdeutende
und praxisorientierende Philosophie, die die Massen ergreifen kann,
Dass eine solche Philosophie nicht ohne entwickelte (und also auch
spezialisierte) Kenntnisse erarbeitet werden kann, haben Marx und En-
gels durchaus gesehen, wie ihre Kritik am Dilettantismus Dietzgens
zeigL Dass sie aber aus der speziellen Theorieform der >Fachphiloso-
phie< in eine >einfache Weltanschauung< zu übersetzen sei (und über-
setzbar sein müsse), ergibt sich für das marxistische Verständnis aus
ihrem Status im gesellschaftlichen Leben einer emanzipierten, d, h, zur
Selbstbestimmung fähigen und sich organisierenden Menschheit.
Es wäre ein Irrtum zu glauben, Marx und Engels hätten die kriti-
sche Funktion der Philosophie, nämlich die Auflösung der spekulati-
ven Systeme, an die Steife der Entwicklung neuer Weltmodelle gesetzt, in
denen die Leitvorstellungen für praktisches Handeln auf einen Vers te-
henskontext hin integriert werden, um zielvolles »Tun aller und jeder«
(HegeI) überhaupt erst möglich zu machen. Bliebe Philosophie bei
ihrem kritischen Geschäft, mit dem sie beginnen muss, stehen, so
würde sie sich in der Entlarvung von Ideologien erschöpfen und
schliesslich sich selbst annullieren. Philosophie als Anti-System über-
lies se aber auch das Tun der Menschen einer sich selbst nicht begrei-
fenden Orientierung am nächsten und in seinen Folgen unübersehba-
ren Zweck (Opportunismus).
Für Marx stellte sich diese Frage konkret bezogen auf das Verhal-
ten der Ausgebeuteten in der kapitalistischen Gesellschaft. Das Kom-
munistische Manifest29 und die vielen unmittelbar in den politischen Ta-
geskampf eingreifenden und seine Tendenzen begreifenden Schriften
(von der Darstellung der Pariser Kommune bis zur Auseinanderset-
zung mit den sozialdemokratischen Partei programmen) sind von sol-
chen praktischen Entscheidungsproblemen dominiert; aber sie stellen
sich diesen Problemen immer unter dem Aspekt eines grundsätzlichen
Verständnisses der Strukturen und Verlaufs formen der bürgerlichen
Gesellschaft, deren historisch-ökonomische Entwicklungsgesetze
Marx im Rapita/herausgearbeitet hatte.
Das Rapital setzt den weiteren Horizont der Menschheitsgeschichte
und des menschlichen Naturverhältnisses voraus, das heisst, es erhebt
sich auf einem Boden, der selbst nicht der der ökonomischen Theorie,
sondern einer philosophischen Weltanschauung ist. Engels hat den
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 325
grösseren Teil seiner ausführlichen Rezension von Marx' Kritik der poli-
tischen Ökonomie von 1859 30 diesem systematischen Grundmuster und
seiner methodologischen Bedeutung gewidmet und gezeigt, wie die
»von vornherein auf einen systematischen Zusammenhang des gesam-
ten Komplexes der ökonomischen Wissenschaft angelegt(e)« Untersu-
chung an Hegel anknüpfen und ihn spezifisch verändern musste: »Wie
sonderbar uns auch manches in seiner (Hegels) Philosophie der Ge-
schichte jetzt vorkommen mag, so ist die Grossartigkeit der Grundan-
schauung selbst heute noch bewundernswert, mag man seine Vorgän-
ger oder gar diejenigen mit ihm vergleichen, die nach ihm über
Geschichte sich allgemeine Reflexionen erlaubt haben (...) Diese epo-
chemachende Auffassung der Geschichte war die direkte theoretische
Voraussetzung der neuen materialistischen Anschauung und schon
hierdurch ergab sich ein Anknüpfungspunkt auch für die logische Me-
thode (...) Marx war und ist der einzige, der sich der Arbeit unterziehen
konnte, aus der Hegelschen Logik den Kern herauszuschälen, der He-
gels wirkliche Entdeckungen auf diesem Gebiet umfasst, und die dia-
lektische Methode, entkleidet von ihren idealistischen Umhüllungen, in
der einfachen Gestalt herzustellen, in der sie die allein richtige Form
der Gedankenentwicklung wird. Die Herausarbeitung der Methode,
die Marx' Kritik der politischen Ökonomie zugrunde liegt, halten wir
für ein Resultat, das an Bedeutung kaum der materialistischen Grund-
anschauung nachsteht.«3!
Bezog sich die Kritik der politischen Ökonomie von 1859 noch im we-
sentlichen auf die Kategorien, durch die die ökonomischen Grundla-
gen des Gesellschaftsprozesses (also der Geschichte) begriffen wer-
den, so weitete sich mit der Ausarbeitung des Kapital dieser Horizont
aus; sowohl die Naturgrundlagen als auch die ideologischen Überbau-
konstrukte mussten mehr und mehr berücksichtigt werden, um der
Theorie die Tiefendimension zu geben, in der die kategorialen Ab-
straktionen sich konkretisieren. Das heisst, im Fortgang der Arbeit be-
gann Marx den Umfang des Programms auszuschreiten, das er in der
1859 von der Veröffentlichung zurückgehaltenen Eil1leitul1g32 skizziert
hatte.
Beim Entwurf dieses Horizonts zu seinem Systemwerk, ohne den
der allgemeingültige Modellcharakter des Kapital nicht gesichert wäre,
stützte sich Marx nun aber weitgehend auf die Hilfe von Engels. Wo
Marx über die konkreten Analysen der kapitalistischen Gesellschaft
hinausgeht, vergewissert er sich bei dem aus einem wahrhaft polyhi-
storischen Wissen schöpfenden Freunde. Ob es die Analyse der Urge-
326 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
zur Herrschaft des Proletariats wird klar genannt, die Form der Asso-
ziation, die sich erst aus Verlauf und Ergebnissen dieses Kampfs her-
ausbilden kann, wird offen gelassen, aber ihr gesellschaftliches Prinzip
angegeben.
Soll die Philosophie zu jenem Mittel der Emanzipation werden,
von dem Marx sagte, dass »das Proletariat in der Philosophie seine gei-
stigen Waffen finde«37, so muss sie in der Lage sein, »die Massen zu er-
greifen«38, d. h. sie muss den Elfenbeinturm verlassen, in den sie sich
als esoterische Lehre vom Wissens des Wissens zurückgezogen hatte.
Wo immer Philosophie eine politisch-geschichtliche Funktion hatte,
war sie ein Moment des Klassenkampfs, theoretisch die Bewusst-
seinsbildung organisierend und auf Zielvorstellungen orientierend;
und wo Philosophie fehlte oder versagte, blieben Klassenkämpfe zer-
splittert, kurzatmig, schon in ihren Anfängen zum Scheitern verurteilt.
Lenin hat diese Erkenntnis in seiner Theorie der revolutionären Partei
verarbeitet. Damit knüpfte er an Engels an, dem es von seinen politi-
schen Anfängen an darum ging, die Philosophie zum theoretischen In-
strumentarium für die Politik der Arbeiterklasse zu enrwickeln. In die-
sem Sinne versteht sich Engels' Wendung gegen die Philosophie in
ihrer akademisch existierenden Gestalt, gegen die Schulphilosophie
(die oft als eine Wendung gegen die Philosophie überhaupt interpre-
tiert wird). Ihr setzt er die »einfache Weltanschauung« entgegen: »Es ist
überhaupt keine Philosophie mehr, sondern eine einfache Weltan-
schauung, die sich nicht in einer aparten Wissenschaftswissenschaft,
sondern in den wirklichen Wissenschaften zu bewähren und zu betäti-
gen hat. Die Philosophie ist hier also >aufgehoben<, das heisst >sowohl
überwunden als aufbewahrt<; überwunden, ihrer Form, aufbewahrt,
ihrem wirklichen Inhalt nach.«39 Der Zusammenhang macht deutlich,
worum es hier geht: um den Materialismus, der nach seiner »urwüchsi-
gen« antiken Form, die durch den Idealismus negiert wurde, nun wie-
derum als Negation der Negation in moderner Form den Idealismus
ablöst. Es ist die seit Platon idealistische Form der Philosophie, die
überwunden, es sind ihre Wirklichkeitsgehalte (die auch in der ideali-
stischen Form, wenn auch auf verkehrte Weise, präsent waren), die auf-
bewahrt werden sollen. Auf dieser höheren Stufe ist der moderne Ma-
terialismus nun aber »nicht die blosse Wiedereinsetzung des alten,
sondern fügt zu den bleibenden Grundlagen desselben noch den
ganzen Gedankeninhalt einer zweitausendjährigen Enrwicklung der
Philosophie und Naturwissenschaften sowie dieser zweitausendjähri-
gen Geschichte selbst.«411 Das ist der Gehalt der »einfachen Weltan-
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 329
Diese Ontologie ist eine geschichtliche - das heisst sie denkt ihren Ge-
genstand als veränderlich, sich verändernd in der Wechselwirkung auf-
einander einwirkender Kräfte. Auf jeder Stufe der Organisation der
Materie realisiert sich diese Bewegtheit in spezifischen Modi->Bewe-
gungsformen<, und zwischen den Stufen gibt es Übergänge und quali-
tative Sprünge. In der Skizze des Gesamtplans zur Dialektik der Natur
erscheint die empirische Seite dieser ontologisch apriorischen Kon-
struktion des Zusammenhangs aller unter dem Stichwort »Apen;us
über die einzelnen Wissenschaften und deren dialektischen Inhalt.«66
Engels ist meist ein genauer Formulierer. Wenn er »Apen;:us« sagt,
dann meint er keine durchgebildete Theorie. Ein Apen;u ist ein auf
eine Pointe zugespitzter Einfall, etwas en passant Aufgelesenes. Der
naturwissenschaftliche Gehalt dieser Apen;us wird also von Engels
selbst charakterisiert als zufällig, illustrativ, einen zeitgebundenen Wis-
sensstand betreffend, evtl. auch nur einen Aspekt, vielleicht bloss eine
Analogie. Die Punkte 1-4 der Skizze dagegen bezeichnen die >Haupt-
sache<, die Überwindung der mit metaphysischen Fixierungen arbei-
tenden Naturphilosophie durch die Dialektik und die Konstruktion
eines Weltbegriffs; die Punkte 6-11 markieren dann Einsatzstellen
einer Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der zeitgenössi-
schen Wissenschaften.
Wenn Engels also die Dialektik als »Wissenschaft des Gesamtzu-
sammenhangs« bezeichnet67 , so hat er damit die notwendig über jede
Rekonstruktion bestimmter Zusammenhänge, die wir in der Beobach-
tung von natürlichen oder geschichtlich-gesellschaftlichen) Prozessen
als nexus rerulJl feststellen, hinausgehende Konstruktion des Horizontes
von Totalität als wesentliches Moment dialektischen Denkens heraus-
Dialektische Ontologie des Gesamtzusammenhangs 337
gestellt. Dialektik ist in diesem Sinne das universelle Verfahren der Ver-
knüpfung von Sachverhalten, Gegenstandsbereichen und Teilsystemen
der Welt unter dem Gesichtspunkt, dass jedes mit allen zusammen-
hängt. »Die Beziehungen jedes Dinges (jeder Erscheinung etc.) sind
nicht nur mannigfaltig, sondern allgemein, universell. Jedes Ding (Er-
scheinung, Prozess etc.) ist mitjedelJl verbunden«, schreibt Lenin ganz
in Übereinstimmung mit Engels. 68
Universeller Gegenstand der Dialektik ist demgemäss die Natur,
die Welt als W1?lt, die Einheit des Mannigfaltigen, und der Mensch mit
seiner Geschichte ist ein - obschon wenigstens für ihn selbst ausneh-
mend besonderes - Moment der Natur. Der Gesamtzusammenhang
der Welt ist aber ein solcher in der Zeit, schliesst also eine Geschichte
der Natur ebenso wie die des Menschen ein. Hans Jörg Rheinberger hat
die daraus resultierende Aufgabe formuliert, die wir in Engels' Dialek-
tik der lVatur immer wieder benannt finden: »Die Rekonstruktion der
materialistischen Dialektik als >Wissenschaft des Gesamtzusammen-
hangs< steht, will sie diesen nicht aus Prinzipien deduzieren, vor dem
doppelten Problem, den Ort der Vermittlung dieses Zusammenhangs
selbst als historisches Entwicklungsresultat und die wissenschaftliche
Vermittlung selbst als historisch gewordenes Moment desselben dar-
zustellen.«69
Der Ort der Vermittlung des Gesamtzusammenhangs kann, sofern
er nicht metaphysisch global als die Welt im ganzen intuitiv geschaut
und damit seiner wissenschaftlichen Darstellung enthoben wird, nur in
der universellen Vermitteltheit des Singulären bestimmt werden; das
macht gerade die dialektische Verfassung der Vermittlung aus, dass sie
selbst stets und in jedem Augenblick das Ganze ist, aber immer nur als
Vermitteltheit des Einzelnen erscheint - ein Sachverhalt, den Leibniz
unter dem Titel der repraesentatio lJlundi in der Monade, Hegel als die
vermittelte Unmittelbarkeit des Anfangs oder das An-und-für-sich-sein
des Begriffs gedacht haben; beide fassen das Verhältnis des Einzelnen
zur Totalität als ein spekulatives, dergestalt dass die Einzelmonade ein
»Spiegel der ganzen Welt« und der Begriff die »Reflexion in seinen
Grund« ist. Nichts anderes besagt der Satz, dass in der Vermitteltheit
des Einzelnen die Vermittlung als der Prozess der Welt im ganzen er-
scheint und dass darin (um Rheinbergers Formulierung noch einmal
aufzugreifen) »der Ort der Vermittlung dieses Zusammenhangs selbst
als historisches Entwicklungsresultat« erkennbar wird. So wird Natur
als die Totalität der Relationen, in die ihre Elemente eingehen, zum
Prozess, den Hegel »die dialektische Bewegung der Substanz« nennt. 70
338 Die »Umkehrung« Hegels durch den Marxismus
Daran knüpft Peter Ruben an, wenn er die Einsicht in die Geschicht-
lichkeit der Natur als Voraussetzung für den Entwurf einer Dialektik
der Natur postuliert: »Man kann ohne Zweifel behaupten, dass mit der
Frage, ob die Natur eine Geschichte habe, der Sinn einer Dialektik der
Natur steht und fällt. Denn es ist ganz unbestreitbar, dass die Dialektik
nur als allgemeiner Ausdruck der HistoriZität der objektiven Realität be-
deutungsvoll ist. >Dialektisch< und >geschichtlich< sind Ausdrücke für
Momente ein und desselben Sachverhalts. Dialektik ist das Allgemeine
der Geschichte; Geschichte ist die unmittelbare Wirklichkeit der Dia-
lektik.«7)