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Gewaltprävention
in der Pflege
ZQP-REPORT
Gewaltprävention
in der Pflege
Herausgeber
Zentrum für Qualität in der Pflege
Reinhardtstr. 45
10117 Berlin
V. i. S. d. P. : Dr. Ralf Suhr
Fotos
S. 5, 38, Portrait Dr. Ralf Suhr, Laurence Chaperon
S. 12, Portrait Prof. Dr. Thomas Görgen, Deutsche Hochschule der Polizei
S. 24, 29, Portrait Simon Eggert, Laurence Chaperon
S. 24, Portrait Dr. Patrick Schnapp, Laurence Chaperon
S. 24, 29, Portrait Daniela Sulmann, Laurence Chaperon
S. 29, Portrait Dr. Katharina Jung, Laurence Chaperon
S. 34, Portrait Jens Abraham, UKH/Zentrale Fotostelle
S. 34, Portrait Prof. Dr. Gabriele Meyer, privat
S. 43, Portrait Anke Buhl, privat
S. 49, Portrait Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch, Christoph Müller
S. 52, Portrait Gerda Graf, privat
S. 56, Portrait Karola Miowsky-Jenensch, Andreas Kirsch
S. 67, Portrait Prof. Dr. Dagmar Brosey, privat
S. 74, Portrait Uwe Brucker, privat
Druck
Das Druckteam Berlin
Inhaltsverzeichnis
Vorwort, Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des ZQP.........................................................................................5
Analyse................................................................................................................................................................................................. 7
Wissen über das Phänomen Gewalt in der Pflege, Thomas Görgen............................................................8
ZQP-Analyse: Gewalt in der stationären Langzeitpflege,
Simon Eggert, Patrick Schnapp und Daniela Sulmann.....................................................................................13
ZQP-Analyse: Wahrnehmung der Bevölkerung von Gewalt in der Pflege,
Simon Eggert, Katharina Jung und Daniela Sulmann........................................................................................25
Initiativen zur Prävention von Gewalt in der Pflege, Jens Abraham und Gabriele Meyer...........30
Zur Bedeutung sexualisierter Gewalt in der Pflege, Ralf Suhr.......................................................................35
Akteure..............................................................................................................................................................................................39
„Familiäre Pflege muss gelernt werden“, Anke Buhl............................................................................................40
„Zu Hause kann es größte Zuwendung geben, aber auch vielschichtige Formen von Gewalt“,
Rolf D. Hirsch................................................................................................................................................................................44
„Es gibt keine Rechtfertigungen für freiheitsentziehende Maßnahmen“, Gerda Graf....................50
„Auf das Wissen um Handlungsalternativen und die Haltung kommt es an“,
Karola Miowsky-Jenensch....................................................................................................................................................53
Impulse..............................................................................................................................................................................................57
Gewalt durch Wissen vorbeugen: Onlineportal Gewaltprävention in der Pflege............................58
Freiheitseinschränkende Maßnahmen in der Altenpflege begrenzen: Leitlinie FEM.....................59
Gewalt erkennen und richtig dokumentieren: Online-Hilfe „Befund: Gewalt“....................................60
Freiheitsentziehende Maßnahmen vermeiden: Der verfahrensrechtliche Ansatz
Werdenfelser Weg.....................................................................................................................................................................61
Beschäftigte unterstützen und Gewalt vorbeugen: Gesundheitsdienstportal
der Unfallkasse NRW...............................................................................................................................................................62
Reflexion..........................................................................................................................................................................................63
Der besondere Unterstützungsbedarf von Menschen mit rechtlicher Betreuung,
Dagmar Brosey...........................................................................................................................................................................64
Die Rolle von Medikamenten als freiheitsentziehende Maßnahme, Uwe Brucker..........................68
Ausblick: Aktuelle Studien des ZQP...............................................................................................................................75
Service................................................................................................................................................................................................77
Zusammengefasst: Informationen und praktische Hinweise........................................................................78
Hilfsangebote..............................................................................................................................................................................84
Das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) ist eine bundesweit tätige, operative und gemeinnützige Stiftung
mit Sitz in Berlin. Das ZQP wurde vom Verband der Privaten Krankenversicherung e. V. errichtet. Ziel ist die wis-
senschaftsbasierte Weiterentwicklung der Pflegequalität. Als Wissensinstitut für die Pflege richtet die Stiftung
ihre Arbeit auf Forschung, Wissensmanagement und den Theorie-Praxis-Transfer aus. Das ZQP unterstützt mit
seinem Wissen vier Hauptzielgruppen: Pflegende, Wissenschaftler, politische Akteure und Journalisten. Dies
soll pflegebedürftigen Menschen dienen; sie stehen im Fokus der Stiftungsarbeit.
Dafür trägt die Stiftung zu einer kritischen Bestandsaufnahme der Pflegequalität in Deutschland bei und ent-
wickelt praxistaugliche Konzepte für eine qualitativ hochwertige, an den individuellen Bedürfnissen pflege-
bedürftiger Menschen ausgerichtete Versorgung. Thematische Schwerpunkte sind dabei: Patientensicherheit
und Gewaltprävention | Prävention und Rehabilitation im Kontext Pflege | Stärkung von Pflegekompetenz
und Pflegewissen | Qualitätsentwicklung und -darstellung | Pflegeberatung.
Die ZQP-Schriftenreihe, zu der auch der vorliegende Report gehört, und die Online-Produkte sind zentrale
Instrumente der Stiftung zum Theorie-Praxis-Transfer. Hierdurch wird das Wissen aus den Projekten und
Forschungsarbeiten kostenfrei unter anderem an pflegende Angehörige und professionell Pflegende aber
auch an Meinungsbildner und Entscheider vermittelt.
In die gesamte Stiftungsarbeit bindet das ZQP ausgewiesene Wissenschaftler sowie Vertreter von Verbrau-
cher- und Selbsthilfeorganisationen, Leistungsträgern und Leistungserbringern sowie Berufsverbänden und
Politik ein.
V O R W O R T 5
Vorwort
Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender
des Zentrums für Qualität in der Pflege
Analyse
Diese Rubrik gibt einen Einblick in den Forschungsstand zum Vorkommen und zur Präven-
tion von Gewalt in der Pflege.
Zudem geben die Ergebnisse von zwei ZQP-Analysen Hinweise darauf, welche Rahmen-
bedingungen zur Prävention von Gewalt in stationären Einrichtungen als wichtig erachtet
werden und wie das Thema in der Bevölkerung wahrgenommen wird.
8 A N A L Y S E
■■ körperliche Misshandlungen
Wenn von Gewalt in der Pflege die Rede ist, ist
ferner festzustellen, dass „Gewalt“ dabei in der ■■ psychische Misshandlung/verbale
Regel in einem recht weiten Sinne gebraucht Aggression
wird. In diesem Zusammenhang meint der ■■ pflegerische Vernachlässigung
Begriff nicht nur körperlichen Zwang, sondern
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gen berichteten, die im Zeitraum der letzten häufig von aggressivem Verhalten von Mitbe-
zwölf Monate stattgefunden hatte. wohnern betroffen sind (Görgen, 2017); für die
Pflegeeinrichtungen wie für die dort Tätigen
Am weitesten verbreitet waren in dieser erwachsen daraus Herausforderungen, auch
Studie die Angabe des Anwendens verbaler hier für den Schutz der Bewohner zu sorgen.
Aggression und Formen psychischer Miss-
handlung (21,4 Prozent der Befragten) sowie Entstehungsbedingungen
pflegerische Vernachlässigung (18,8 Prozent).
Mit dem Begriff „Gewalt in der Pflege“ ist
8,5 Prozent der Interviewten berichteten auch häufig die Vorstellung assoziiert, dass es sich
von mindestens einem Fall physischer Gewalt. dabei um ein Phänomen handelt, das aus
In einer Zusammenschau von Forschungser- Belastung oder Überlastung erwächst. Sicher-
gebnissen aus verschiedenen lich ist Pflege eine verant-
Ländern kommen Cooper, wortungsvolle, fordernde
Selwood und Livingston (2008) Risikofaktoren für das und bisweilen belastende
zu dem Schluss, dass etwa ein Entstehen von Gewalt Aufgabe. Überlastung
Drittel der pflegenden Ange- in der Pflege sind kann ein Grund für pro-
hörigen und ein Sechstel der vielgestaltig. blematisches bis hin zu
professionellen Pflegekräfte in gewalttätigem Verhalten
bedeutsame Formen von Miss- sein. Doch zeigt die For-
handlung verstrickt sein könnte, von denen schung, dass die Risikofaktoren für das Ent-
nur ein kleiner Teil einschlägigen Institutionen stehen von „Gewalt in der Pflege“ vielgestaltig
bekannt wird. sind.
soziale Einbindung), des Gewalt Ausübenden zwischen Pflegenden und Gepflegten sowie
(wie Alkoholkonsum, schlechte physische der finanzielle Kontext, in dem die Pflege
oder psychische Verfassung), die Beziehung stattfindet, von Bedeutung sind.
Literatur
Action on Elder Abuse (AEA) (1995). Action on Elder Gewalterfahrungen im Leben alter Menschen. Verlag
Abuse’s definition of elder abuse. für Polizeiwissenschaft, 208-480.
Cooper, C., Selwood, A. & Livingston, G. (2008). The Rabold, S. & Görgen, T. (2007). Misshandlung und Ver-
prevalence of elder abuse and neglect: A systematic nachlässigung älterer Menschen durch ambulante
review. Age Ageing, 37, 151-160. Pflegekräfte: Ergebnisse einer Befragung von Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern ambulanter Dienste. Z
Görgen, T. (2017). Sichere Zuflucht Pflegeheim? Gerontol Geriatr, 40, 366-374.
Aggression und Gewalt unter Bewohnerinnen und
Bewohnern stationärer Altenhilfeeinrichtungen: Sethi, D., Wood, S., Mitis, F., Bellis, M., Penhale, B.,
Bestandsaufnahme eines sich entwickelnden For- Iborra, I., Lowenstein, A., Manthorpe, G. & Kärki, F. U.
schungsfeldes. DHPol. (2011) (Hrsg.). European report on preventing elder
maltreatment. WHO/Europe.
Nägele, B., Kotlenga, S., Görgen, T. & Leykum, B. (2010).
Ambivalente Nähe: eine qualitative Interviewstudie Thoma, J., Schacke, C. & Zank, S. (2004). Gewalt gegen
zur Viktimisierung Pflegebedürftiger in häuslichen demenziell Erkrankte in der Familie. Z Gerontol Geri-
Pflegearrangements. In T. Görgen (Hrsg.), „Sicherer atr, 37(5), 349-350.
Hafen“ oder „gefahrvolle Zone“? Kriminalitäts- und
World Health Organization (WHO) (2008). A global
response to elder abuse and neglect.
Zum Autor
Prof. Dr. Thomas Görgen ist Professor für Kriminologie und Lei-
ter des Fachgebiets „Kriminologie und interdisziplinäre Krimi-
nalprävention“ an der Deutschen Hochschule der Polizei. Sein
Forschungsschwerpunkt ist Gewalt gegen ältere Menschen.
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I. Hintergrund der Befragung gungen, die das Zentrum für Qualität in der
Pflege (ZQP) 2012 und 2014 durchgeführt
Ende 2015 gab es in Deutschland 2,9 Millio- hat (Zentrum für Qualität in der Pflege, 2012,
nen Menschen, die pflegebedürftig im Sinne 2014).
der Pflegeversicherung waren. Von ihnen
wurden knapp drei Viertel zu Hause versorgt International findet man wenige Studien, die
und gut ein Viertel in stationären Einrichtun- spezifisch Gewalt in der Pflege thematisieren.
gen (Statistisches Bundesamt, 2017). Ende Vielmehr taucht das Thema als Sonderfall
2007 waren es noch weniger als 2,3 Millionen der Forschung zur Gewalt gegen Ältere auf
(Statistisches Bundesamt, 2008). Diese Ent- („elder abuse and neglect“ oder „elder malt-
wicklung wird sich in Zukunft fortsetzen. Eine reatment“). Die Weltgesundheitsorganisation
Prognose geht davon aus, dass es 2030 knapp definiert Gewalt gegen Ältere („elder maltre-
3,5 Millionen, 2040 schon knapp vier Millio- atment“) als „eine einmalige oder wiederholte
nen Pflegebedürftige geben wird – wobei Handlung oder das Unterlassen einer ange-
steigende Zahlen aufgrund der Einführung messenen Reaktion, die im Rahmen einer
des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs noch Vertrauensbeziehung stattfindet und wor-
nicht berücksichtigt sind (Rothgang et al., durch einer älteren Person Schaden oder Leid
2016,). zugefügt wird“ (Sethi et al., 2011, S. 1, eigene
Übersetzung).
Pflegebedürftige sind von Gewalt vermutlich
stärker betroffen als ältere Menschen, die Gewalt fängt also nicht erst beim Schlagen
nicht pflegebedürftig sind. Denn Charakteris- an. Vernachlässigung, Demütigung oder
tika, die mit Pflegebedürftigkeit einhergehen schlechte Pflege sind auch Formen von
– kognitive Einschränkungen, körperliche Gewalt. Dabei muss sie nicht immer von
Einschränkungen oder anderweitig schlechte einer Person ausgehen, sondern kann auch
Gesundheit – sind in der internationalen For- in Strukturen begründet sein, zum Beispiel
schung als Risikofaktoren identifiziert worden, starre Tagesabläufe in Pflegeeinrichtungen,
Gewalt zu erleben (Lachs & Pillemer, 2015; die es nicht erlauben, auf individuelle Wün-
Lindert et al., 2013). sche eines Bewohners einzugehen. Auch der
Eingriff in die Selbstbestimmung des Pflege-
Dennoch spielt das Thema Gewalt gegen bedürftigen ist Gewalt, ebenso psychische
Pflegebedürftige im Bewusstsein der Bevöl- wie körperliche Misshandlung (auch in Form
kerung eine eher untergeordnete Rolle. Dies sexuellen Missbrauchs), missbräuchliche
zeigen zum Beispiel zwei Bevölkerungsbefra- Gabe von Medikamenten und finanzielle
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Ausbeutung (Görgen, 2015; Schnapp, 2016; erhöhtes Risiko haben Pflegende, die Men-
Suhr, 2015). Eine besondere Form der Gewalt schen mit kognitiven Einschränkungen oder
stellen freiheitsentziehende Maßnahmen dar. Verhaltensstörungen betreuen.
Das bedeutet, eine Person wird gegen ihren
Willen durch Vorrichtungen, Gegenstände Es gibt international auch einige Arbeiten,
oder Medikamente in ihrer Fortbewegungs- die Aggressionen zwischen Bewohnern
freiheit beeinträchtigt. Dazu gehören mecha- von stationären Einrichtungen untersuchen
nische Fixierungen, wie Bettgitter, Gurte, (zusammenfassend: Ferrah et al., 2015). Das
Stecktische, das Absperren eines Zimmers erste Projekt dazu in Deutschland wird zurzeit
und ruhigstellende Medikamente, wie Schlaf- gemeinsam vom ZQP und der Deutschen
mittel oder Psychopharmaka. Häufig wird Hochschule der Polizei durchgeführt und
die Anwendung von freiheitsentziehenden vom Bundesministerium für Familie, Senioren,
Maßnahmen damit begründet, Stürze und Frauen und Jugend gefördert.
Verletzungen bei Pflegebedürftigen vermei-
den zu wollen. Jedoch kann die Anwendung Wie häufig Gewalt gegen Pflegebedürftige
sogar zu einer Zunahme von Stürzen und in Deutschland vorkommt, ist nicht genau
Verletzungen führen, da die Bewegungs- bekannt (Görgen, 2015; Schnapp, 2016;
fähigkeit nachlässt. Freiheitsentziehende Suhr, 2015). Der Grund: Alle methodischen
Maßnahmen werden auch bei Menschen Zugänge, die zur Erforschung von Gewalt-
mit Demenz mit der Absicht eingesetzt, vorkommnissen in den Sozialwissenschaften
Unruhe und Umherirren zu reduzieren. Die üblicherweise eingesetzt werden, haben
Einschränkung der Bewegungsfreiheit kann Schwächen und Grenzen – und diese treten
aber gerade bei ihnen erhöhte Unruhe und bei der Erforschung von Gewalt gegen Pflege-
Aggressivität bewirken (Köpke et al., 2015). bedürftige besonders deutlich hervor.
Weil freiheitsentziehende Maßnahmen
schwerwiegende psychische und physische Untersuchungen, bei denen Teilnehmer
Folgen mit sich bringen können, dürfen sie gefragt werden, ob sie in letzter Zeit Gewalt
nur eingesetzt werden, wenn die betreffende erfahren haben, sind hier kaum geeignet.
Person schriftlich zustimmt oder um Lebens- Diese Befragungen setzen unter anderem
gefahr oder erhebliche Gesundheitsschädi- voraus, dass ein in Frage stehendes Verhalten
gungen abzuwenden. Bei Personen, die nicht überhaupt wahrgenommen und als berich-
einwilligungsfähig sind, ist die Zustimmung tenswert verstanden wird. Körperliche und
des gesetzlichen Betreuers erforderlich, kognitive Einschränkungen können dazu
zusätzlich muss immer eine richterliche führen, dass Ereignisse kaum oder nicht wahr-
Genehmigung eingeholt werden. genommen werden. Zudem kann es sein, dass
Gewalt nicht als solche erkannt oder benannt
Pflegende können also verschiedene Formen wird, zum Beispiel aus Angst aufgrund beste-
von Gewalt gegen Pflegebedürftige anwen- hender Abhängigkeiten. Aus diesen Gründen
den – sie können aber auch selbst Gewalt dürfte die Häufigkeit von Opferwerdungen
erfahren (Franz et al., 2010; Schablon et al., bei Befragungen Pflegebedürftiger deutlicher
2012), zum Beispiel indem sie beschimpft, unterschätzt werden als bei Befragungen der
gekniffen oder sexuell belästigt werden. Ein meisten anderen Bevölkerungsgruppen. Es
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kommt hinzu, dass insbesondere Menschen Statistiken Pflegebedürftige als Opfer nicht
mit Demenz nur sehr eingeschränkt aus- gesondert ausweisen.
kunftsfähig sind (ähnlich Görgen, 2015; Lachs
& Pillemer, 2015). Das heißt keineswegs, dass es unmöglich ist,
Aussagen zur Gewalt gegen Pflegebedürftige
Geeigneter scheinen Untersuchungsdesigns, in Deutschland zu treffen. In der Zusam-
bei denen die Teilnehmer nach Gewalt menschau und Bewertung verschiedener
gefragt werden, die sie selbst ausgeübt Quellen lassen sich näherungsweise Angaben
haben. Hierbei muss jedoch darauf gesetzt machen.
werden, dass diese über ihr eigenes Handeln
wahrheitsgemäß Auskunft geben. Dass bei Für eine Befragung zum Thema Vernachlässi-
solch heiklen Themen wie Gewalt manche gung und Misshandlung ambulant versorgter
Befragte unwahre Antworten geben, um Pflegebedürftiger durch Pflegekräfte wurden
ein übermäßig positives Bild von sich zu 2005 alle Mitarbeiter ambulanter Dienste in
zeichnen, ist in der Befragungsforschung Hannover angeschrieben und gebeten, über
unter dem Stichwort „sozial erwünschtes ihr eigenes Verhalten in den letzten zwölf
Antwortverhalten“ bekannt (zusammenfas- Monaten Auskunft zu geben. Dabei gaben
send Krumpal, 2013; Tourangeau & Yan, 2007). 40 Prozent der Teilnehmer mindestens eine
Außerdem kann es auch hier zu fehlerhaften Verhaltensweise zu, die von den Studienauto-
Angaben kommen, weil Verhaltensweisen, ren als Misshandlung oder Vernachlässigung
die als Gewalt definiert sind, nicht als solche eingestuft wurde. Die Werte waren 21 Prozent
verstanden werden.1 Beide Phänomene füh- für psychische Misshandlung, 19 Prozent für
ren auch hier zu einer Unterschätzung von pflegerische Vernachlässigung, 16 Prozent
solchen Vorkommnissen. für psychosoziale Vernachlässigung, neun
Prozent für physische Misshandlung und zehn
Sozialwissenschaftler, die strafrechtlich rele- beziehungsweise vier Prozent für mecha-
vante Aspekte von Gewalt in der Pflege unter- nische beziehungsweise medikamentöse
suchen wollen, ziehen dafür häufig polizeili- Freiheitseinschränkung; sexuelle Übergriffe
che Kriminalstatistiken heran. Eine bekannte wurden nicht berichtet (Rabold & Görgen,
Schwäche dieser Datenquelle ist, dass sie nur 2007).
solche Fälle abbildet, die der Polizei bekannt
werden – was in aller Regel aufgrund einer Die internationale Forschung zeigt, dass das
Anzeige geschieht. Die hieraus resultierende Risiko von Pflegebedürftigen in stationären
Diskrepanz zwischen tatsächlichen und in der Einrichtungen Gewalt zu erfahren, eher höher
Statistik abgebildeten Vorkommnissen dürfte ist als das von ambulant versorgten Personen
bei Gewalt gegen Pflegebedürftige beson- (Castle, Ferguson-Rome & Tedesi, 2015). Dieser
ders groß sein. Hinzu kommt, dass solche Schluss liegt auch nahe, wenn man die eben
dargestellten Ergebnisse aus dem ambulan-
1 Deshalb wird in Befragungen meist nach möglichst konkreten Verhaltensweisen gefragt. Jedoch muss hier häufig ein Kompromiss
gefunden werden zwischen dem Ziel der möglichst konkreten Beschreibung von Vorkommnissen und dem Ziel, den Fragebogen
möglichst kurz zu halten.
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ten Sektor vergleicht mit denen einer ähnlich hende Maßnahmen in Form nicht indizierter
aufgebauten Befragung von Pflegekräften in Medikation ein nennenswertes Phänomen
stationären Einrichtungen in Hessen2. Hier darstellen. In einer Überblicksarbeit zur
berichteten 72 Prozent der Befragten, in den Anwendung von Psychopharmaka bei Pfle-
vergangenen zwölf Monaten mindestens ein- gebedürftigen stellt Thürmann (2017) fest,
mal ein Verhalten gezeigt zu haben, das von dass häufig Psychopharmaka verordnet wer-
den Autoren als Misshandlung oder Vernach- den, die auf der PRISCUS-Liste stehen. Diese
lässigung eingestuft wurde. Am häufigsten Liste verzeichnet Medikamente, die man „bei
berichteten die Befragten von psychischer älteren Menschen möglichst nicht anwen-
Misshandlung und pflegerischer Vernachläs- den sollte oder deren Dosierung angepasst
sigung (je 54 Prozent); die Werte waren 30 werden muss“ (Holt, Schmiedl & Thürmann,
Prozent für psychosoziale Vernachlässigung, 2010, S. 544), weil ihre Einnahme für ältere
24 Prozent für physische Misshandlung und Patienten ein erhöhtes Risiko darstellt. Die
28 beziehungsweise sechs Prozent für mecha- Autorin kommt zu dem Schluss: „Es existiert
nische beziehungsweise unangemessene eine Diskrepanz zwischen den restriktiven
medikamentöse Freiheitsbeschränkung; Anwendungsempfehlungen dieser Medika-
sexueller Missbrauch wurde nicht berichtet mente und der tatsächlichen Verordnungs-
(Görgen, 2009). prävalenz“ (Thürmann, 2017, S. 119). Die
Münchner Heimaufsicht hat die Verwendung
Zu freiheitsentziehenden Maßnahmen kön- sogenannter „Bedarfs-Psychopharmaka“
nen die Zahlen aus dem Qualitätsbericht des untersucht. Dies sind Psychopharmaka, die
Medizinischen Dienstes des Spitzenverban- zusätzlich zu fest verordneten Medikamen-
des Bund der Krankenkassen (MDS) herange- ten bei Bedarf gegeben werden. Pflegekräfte
zogen werden. Danach wurden 2013 am Tag dürfen diese Medikamente in solchen Situati-
der unangekündigten Überprüfung bei zwölf onen verabreichen, für die der behandelnde
Prozent der Bewohner freiheitsentziehende Arzt eine entsprechende Indikation formu-
Maßnahmen festgestellt; bei acht Prozent liert hat. Die häufigsten Indikationen waren
von diesen lagen die juristisch erforderlichen in dieser Untersuchung Schlafstörungen und
Einwilligungen oder Genehmigungen nicht Unruhe; die Medikamente wurden zu zwei
vor (MDS, 2014). In Studien zeigen sich große Dritteln nachts gegeben (Landeshauptstadt
Unterschiede zwischen Einrichtungen: So lag München, 2013). Die Autoren werten dies als
in einer Untersuchung von 30 Heimen der Hinweis darauf, „dass fehlende strukturelle
Anteil der Bewohner, die freiheitsentziehen- und personelle Konzepte kompensiert wer-
den Maßnahmen ausgesetzt waren, zwischen den. Gerade zu den Abend- und Nachtstun-
vier und 59 Prozent (Köpke & Meyer, 2008). den wird mit knappen Personalkapazitäten
gearbeitet“ (Landeshauptstadt München,
Pharmakologisch ausgerichtete Studien 2013, S. 31).
legen den Schluss nahe, dass freiheitsentzie-
2 Jedoch waren die verwendeten Fragebögen nur ähnlich, nicht etwa genau analog aufgebaut. In der Studie in stationären Einrichtun-
gen wurde nach 46 verschiedenen Verhaltensweisen gefragt, die dann als Missbrauch oder Vernachlässigung eingestuft wurden, in der
Studie im ambulanten Sektor nur 33 (Rabold & Görgen, 2007, Görgen, T., persönliche Kommunikation, 1. Juni 2017). Daher wären etwas
höhere Zahlen für den ambulanten Sektor auch dann zu erwarten, wenn die tatsächlichen Raten gleich wären. Außerdem fanden die
Untersuchungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Städten statt.
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Die bisherige Forschung zeigt also, dass Abstände zwischen „nie“ und „selten“, „selten“
Gewalt gegen ältere, speziell auch pflegebe- und „gelegentlich“ sowie „gelegentlich“ und
dürftige Menschen ein nennenswertes Phä- „oft“ von Befragten als etwa gleich groß wahr-
nomen ist. Laut der Prüfergebnisse des MDS genommen werden (Rohrmann, 1978).
kommen auch freiheitsentziehende Maßnah-
men oft vor. Pharmakologische Studien legen Die Studie wurde als computergestützte Tele-
den Schluss nahe, dass zu diesem Zweck fonbefragung (CATI) durchgeführt. Befragt
häufig auch Medikamente eingesetzt werden. wurden Pflegedienstleitungen und Quali-
tätsbeauftragte in stationären Einrichtungen.
Mit der hier vorgelegten Analyse leistet das Die Stichprobe umfasst 250 Befragte aus 250
ZQP einen weiteren Beitrag zur Bearbeitung verschiedenen Einrichtungen. Die Dienste
des Themas, indem untersucht wird, welche und Einrichtungen wurden aus einer Liste der
Instrumente zur Prävention von Gewalt in Grundgesamtheit per Zufallsauswahl selek-
stationären Einrichtungen vorhanden sind tiert. Die Befragung wurde vom 26. April bis
und welche Rahmenbedingungen als wichtig 18. Mai 2017 durchgeführt.
erachtet werden. Hierfür wurden Pflege-
dienstleitungen und Qualitätsbeauftragte Um Abweichungen von der Grundgesamt-
dazu befragt. Darüber hinaus wurden sie heit auszugleichen, die durch differenzielle
um ihre Einschätzungen zur Häufigkeit von Nichtteilnahme entstehen, wurde die Stich-
Gewaltvorkommnissen in der Pflege gebeten. probe nach Kombination von Trägerschaft
(privat; freigemeinnützig/öffentlich) und
II. Methoden und Vorgehensweise Anzahl der betreuten Pflegebedürftigen
(bis 50; 51–100; über 100) gewichtet. Hierfür
Bei der Entwicklung des Fragebogens für wurde die Pflegestatistik 2015 (Statistisches
die Studie stellte die Frage zu Gewaltvor- Bundesamt, 2017) herangezogen. Die Werte
kommnissen in der Pflege eine besondere der Gewichte reichen von 0,70 bis 2,35. Die
Herausforderung dar. Theoretisch denkbar statistische Fehlertoleranz der Untersuchung
wäre es gewesen, die Befragten nach Gewal- in der Gesamtstichprobe liegt bei +/- sechs
tereignissen in ihrer Einrichtung zu fragen. Prozentpunkten.
Dies schien jedoch wenig sinnvoll, da zu
erwarten stand, dass viele Befragte Probleme III. Ergebnisse
gehabt hätten, hierzu zutreffende Aussagen
zu machen. Stattdessen wurden die Befragten Wichtigkeit des Themas und Schätzungen
gebeten, im Sinne eines Experteninterviews der Häufigkeit
einzuschätzen, wie häufig verschiedene
Gewaltformen „insgesamt in der stationären ■■ Knapp die Hälfte der Befragten (47 Pro-
Pflege“ vorkommen. zent) sagt, dass Konflikte, Aggression und
Gewalt in der Pflege stationäre Einrichtun-
Als Antwortmöglichkeiten angeboten gen vor ganz besondere Herausforderun-
wurden die verbalen Häufigkeitsbeschrei- gen stellen.
bungen „nie“, „selten“, „gelegentlich“ und „oft“.
Empirische Studien haben gezeigt, dass die
18 A N A L Y S E
■■ Den Befragten zufolge sind die häufigsten Hilfe vorenthalten, also zum Beispiel Inkonti-
Gewaltformen verbale Aggressivität, Ver- nenz-Material nicht wechseln, obwohl dies nötig
nachlässigung und körperliche Gewalt. wäre?“
■■ Die Häufigkeit von Gewaltanwendung
wird in der Befragung eher unterschätzt. Körperliche Gewalt: „Und wie ist es mit körper-
licher Gewalt von professionellen Pflegekräften
Für die Befragung wurden gezielt Pflege- gegenüber Pflegebedürftigen, also zum Beispiel
dienstleitungen und Qualitätsbeauftragte durch Schubsen, hart Anfassen oder Schlagen?“
angesprochen.
Freiheitsentziehende Maßnahmen: „Und wie
47 Prozent der Befragten gaben an, dass sie ist es damit, dass professionelle Pflegekräfte
„Konflikte, Aggression und Gewalt in der die Pflegebedürftigen gegen ihren Willen in
Pflege“ für ein Thema halten, das stationäre der Bewegungsfreiheit einschränken, also zum
Pflegeeinrichtungen „in der heutigen Zeit vor Beispiel durch Festbinden, Einschließen oder die
ganz besondere Herausforderungen“ stellt. Gabe von nicht angezeigten Medikamenten?“
Weiter wurde gefragt, wie häufig verschie- Finanzieller Missbrauch: „Wie ist es damit, dass
dene Formen der Gewalt „insgesamt in der professionelle Pflegekräfte die Hilflosigkeit der
stationären Pflege“ vorkommen. Es wurde Pflegebedürftigen ausnutzen, um sich selbst
darauf geachtet, dass die Frage nicht zu abs- finanziell zu bereichern, also zum Beispiel Unter-
trakt, sondern anschaulich und kurz formuliert schriften unter Verträge erzwingen oder Geldge-
war, gleichzeitig aber ein breites Verhaltens- schenke einfordern?“
spektrum abdeckte. So lautete zum Beispiel
die Frage zur verbalen Aggressivität: Die Ergebnisse sind in Abbildung 1 dargestellt.
„Und wie ist es mit verbaler Aggressivität von Dass in der Einschätzung der Befragten
professionellen Pflegekräften gegenüber Pflege- verbale Aggressivität und Vernachlässigung
bedürftigen, also zum Beispiel durch Anschreien in der Pflege häufiger vorkommen als die
oder herabsetzende Bemerkungen? anderen Missbrauchsformen, deckt sich mit
den Erkenntnissen der Forschung zu Gewalt
Kommt das Ihrer Meinung nach insgesamt in der in der stationären Pflege in Deutschland. Die
stationären Pflege ‚nie‘ vor – ‚selten‘ – ‚gelegent- Ergebnisse sind dennoch sehr überraschend.
lich‘ – oder ‚oft‘?“ Denn zwischen 20 und 79 Prozent der Befrag-
ten geben an, dass das in Frage stehende Ver-
In ähnlicher Weise wurde auch nach verbaler halten „insgesamt in der stationären Pflege“
Vernachlässigung, körperlicher Gewalt, frei- „nie“ vorkommt. Diese Angaben stehen nicht
heitsentziehenden Maßnahmen und finanzi- in Einklang mit dem aktuellen Wissensstand
ellem Missbrauch gefragt. Diese wurden wie über Gewalt gegen Pflegebedürftige und der
folgt eingeführt: konsentierten Experteneinschätzung, dass
alle im Fragebogen zur Auswahl gestellten
Vernachlässigung: „Und wie ist es damit, dass Gewaltformen in der Pflege vorkommen.
professionelle Pflegekräfte den Pflegebedürftigen Mehr noch: Selbst wer den Fachdiskurs zum
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verbale Aggressivität 20 55 23 2
Vernachlässigung 42 39 17 2
körperliche Gewalt 54 38 7 1
freiheitsentziehende Maßnahmen 67 25 5 4
finanzieller Missbrauch 79 18 3
Thema nicht verfolgt, dürfte aus Medienbe- Maßnahmen zum Umgang mit Aggressio-
richten wissen, dass es in deutschen statio- nen und Gewalt
nären Einrichtungen alle Formen der Gewalt
gibt. ■■ Strukturen, die bei der Eindämmung
von und dem Umgang mit aggressiven
Die für die Analyse erhobenen Zahlen zur Situationen helfen könnten, sind in vielen
Häufigkeit von Gewaltanwendung professi- Einrichtungen offenbar deutlich verbesse-
oneller Pflegekräfte gegen Pflegebedürftige rungsfähig.
stellen nach Einschätzung des ZQP eine ■■ In fast der Hälfte der Einrichtungen (46 Pro-
tendenzielle Unterschätzung des Problems zent) gibt es kein Personal, das speziell für
dar. Vielmehr ist mit einer noch höheren den Umgang mit Konflikten, Aggression
Auftrittshäufigkeit von Gewalthandlungen und Gewalt geschult ist.
zu rechnen. Viele Faktoren könnten zu einer
■■ In einem Fünftel der Einrichtungen
solchen Unterschätzung beitragen: Sozial
(20 Prozent) ist das Thema nicht expliziter
erwünschtes Antwortverhalten, wie es bei als
Bestandteil des Qualitätsmanagements,
heikel empfundenen Themen (insbesondere
in über einem Viertel (28 Prozent) wird es
bei telefonischen Befragungen) nicht unge-
nicht in einem Fehlerberichtssystem dar-
wöhnlich ist (Toureangeau & Yan, 2007), ein
gestellt.
Missverständnis der Fragen dahingehend,
dass nur von der eigenen Einrichtung die Verschiedene Strukturmerkmale könnten
Rede sei, Tabuisierung und mangelnder Wille, dabei helfen, aggressiven Situationen in der
sich mit dem Thema auseinanderzusetzen stationären Pflege vorzubeugen und/oder
sowie fehlendes Problembewusstsein können mit entstandenen Situationen umzugehen.
Gründe sein. Dies weist auf die Notwendigkeit Daher wurden die Teilnehmer gefragt, welche
hin, auf seriöse Weise mehr Aufmerksamkeit Strukturen dieser Art es in den Einrichtungen
für das Thema zu erzeugen. gibt beziehungsweise wo diesbezügliche Ver-
besserungsbedarfe vorhanden sein könnten.
20 A N A L Y S E
Abbildung 2: Anteil der stationären Einrichtungen, in denen eine Form des Umgangs mit aggressiven
Situationen nicht institutionalisiert ist
n = 250; Mehrfachantworten möglich.
„Manche Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste werden können und insbesondere das Thema
richten bestimmte Maßnahmen ein, um aggres- nicht ausdrücklich Bestandteil des Qualitäts-
siven Situationen vorzubeugen oder damit managements ist, weist darauf hin, dass der
umzugehen, wenn sie doch einmal vorkommen. Prävention und dem Umgang mit Gewalt in
Andere Einrichtungen und Dienste machen dies Pflegeeinrichtungen häufiger nicht die Beach-
nicht. Bitte sagen Sie mir für jede der folgenden tung zukommt, die angesichts der Relevanz
Maßnahmen, ob es dies bei Ihnen gibt – oder für Pflegebedürftige notwendig scheint.
nicht.“
Rahmenbedingungen zur Gewaltprävention
In der Abbildung 2 dargestellt sind die Anteile
der Einrichtungen, in denen es bestimmte ■■ Knapp drei Viertel der Befragten (74 Pro-
Strukturmerkmale nicht gibt. Hier zeigt sich, zent) sagen, eine konstruktive Fehlerkultur
dass die erfragten Maßnahmen/Merkmale in sei zur Verringerung von Gewalt von pro-
nennenswerten Anteilen der Einrichtungen fessionellen Pflegekräften gegen Pflegebe-
nicht vorhanden sind. dürftige „ganz besonders wichtig“.
■■ Die Hälfte (50 Prozent) hält mehr Pflege-
Beachtenswert scheint insbesondere das personal zur Gewaltprävention für „ganz
Ergebnis zu speziell für den Umgang mit besonders wichtig“.
Aggressionen geschultem Personal. In
■■ Auch die bessere fachliche Ausbildung zu
Deutschland werden von der Berufsgenos-
dem Thema wird von einem Großteil der
senschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrts-
Befragten (44 Prozent) als entsprechend
pflege Multiplikatorenschulungen angeboten.
relevant angesehen.
Evaluationen zeigen verbessertes Wissen und
positive Einschätzungen der Schulungen In einer weiteren Frage ging es allgemeiner
(Peller & Dauber, 2011; Richter, 2011). Dass 46 um Rahmenbedingungen in den Einrichtun-
Prozent der Einrichtungen kein speziell für den gen, die dabei helfen können, Gewalt durch
Umgang mit Aggressionen geschultes Per- professionelle Pflegekräfte gegenüber Pflege-
sonal haben, in vielen Einrichtungen Vorfälle bedürftigen in stationären Einrichtungen zu
nicht in einem Fehlerberichtssystem berichtet verringern. Hierfür wurde den Teilnehmern
A N A LY S E 21
Abbildung 3: Anteil der Befragten, die angeben, dass eine Rahmenbedingung „ganz besonders
wichtig“ ist
n = 250; Mehrfachantworten möglich.
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Pflege“.
Zu den Autoren
Simon Eggert ist Geistes-
und Sozialwissenschaft-
ler und Bereichsleiter im
ZQP.
Dr. Patrick Schnapp ist
Soziologe und Projektlei-
ter im ZQP.
Daniela Sulmann ist Dipl.-Pflegewirtin und examinierte Krankenschwester. Sie ist Bereichslei-
terin im ZQP.
A N A LY S E 25
Abbildung 1: „Gewalt kann sich gegen unterschiedliche Gruppen richten: Aufgabe des Staates ist es
unter anderem, die Gefährdeten durch vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalt zu
schützen. In welchen der folgenden Bereiche wird dabei Ihrer Meinung nach zu wenig getan? Wo
besteht also aus Ihrer Sicht noch dringend Handlungsbedarf?“ Gesamtheit, n = 2.521; Mehrfachantwor-
ten möglich.
1 Befragung mittels „forsa.omninet“. Als Erhebungsmethode kam die In-Home-Befragung per PC beziehungsweise Set-Top-Box am
TV-Bildschirm zum Einsatz. Anschließend wurde die Personenstichprobe nach Region, Alter, Geschlecht und Bildung ausgewertet. Die
statistische Fehlertoleranz der Untersuchung in der Gesamtstichprobe lag bei +/− zwei Prozentpunkten.
26 A N A L Y S E
ten, bis zu drei Gruppen zu benennen, für die sich bringen. Versuche, diese Verhaltenswei-
sie einen dringenden staatlichen Handlungs- sen zu begrenzen, können für die betroffenen
bedarf zur Vermeidung von Gewalt sehen. Menschen das Risiko darstellen, Opfer proble-
matischen oder gar gewalttätigen Verhaltens
Die meisten Befragten (70 Prozent) sahen mit zu werden.
Abstand den größten Handlungsbedarf in der
Vermeidung von Gewalt gegenüber Kindern. Nach ihrer Einschätzung zu geeigneten
Hingegen wurde lediglich von einem Drittel Maßnahmen speziell in der Versorgung
(34 Prozent) die Vermeidung von Gewalt ruheloser und verwirrter hilfebedürftiger
gegen ältere Menschen genannt. Die Vermei Menschen gefragt, gab die deutliche Mehr
dung von Gewalt gegenüber Demenzkranken heit (70 Prozent) an, den Einsatz von Gurten
nannte sogar nur ein Zehntel der Befragten. zur Bewegungseinschränkung abzulehnen.
Auch Medikamenten oder anderen Maß
Des Weiteren wurden Einschätzungen zu nahmen, die die Bewegungsfreiheit der
Verbesserungspotenzialen der Versorgungs- Personen einschränken, stehen die Befragten
situation älterer pflegebedürftiger Menschen eher ablehnend gegenüber. Hingegen zeigte
erhoben (Abbildung 1). Hier sah nur knapp sich eine relativ hohe Akzeptanz gegenüber
ein Fünftel (18 Prozent) der Befragten das technischen Hilfsmitteln zur Überwachung
Thema „Schutz vor Gewalt und Aggression“ (84 Prozent befürworten beispielsweise den
in der Versorgung pflegebedürftiger Men- Einsatz von Alarmsensoren).
schen als relevant an. Die „Vermeidung von
freiheitsentziehenden Maßnahmen“ nannten Persönliche Pflegeerfahrungen und
nur 19 Prozent. Hingegen erfuhren Aspekte Belastung
der bedürfnisorientierten Versorgung, wie
„mehr Zeit für persönliche Zuwendung und Insgesamt ein Fünftel der Befragten gab an,
Kommunikation“ (69 Prozent) oder „Berück eigene Erfahrungen mit der Pflege eines
sichtigung der Individualität“ (43 Prozent), nahestehenden Menschen zu haben, wobei
weitaus mehr Zustimmung. der Anteil der Frauen mit Pflegeerfahrung
höher lag. Um Einschätzungen zur persönli
Bestimmte Krankheitsbilder, zum Beispiel chen Belastungssituation zu erhalten, wurden
Demenz, können starke Unruhe, Rastlosigkeit, Personen mit eigener Pflegeerfahrung zu ihrer
Stürze und die Gefahr des Weglaufens mit Pflegetätigkeit befragt. Die überwiegende
Abbildung 2: „Als wie belastend empfinden beziehungsweise empfanden Sie es, einen Menschen zu
pflegen?“ Nur Personen mit eigener Pflegeerfahrung, n = 503.
Mehrheit (72 Prozent) dieser Gruppe gab an, Des Weiteren wurden Personen mit persönli
die Pflege als belastend zu empfinden (Abbil- cher Pflegeerfahrung um ihre Einschätzun-
dung 2). gen zu konkreten Maßnahmen der Unterstüt-
zung pflegender Angehöriger gebeten. Als
Vor dem Hintergrund der Prävention von mit Abstand wichtigsten Aspekt nannten die
Gewalt in der Pflege sind neben Angaben Befragten hierbei die Unterstützung durch
zur Belastungssituation auch Einschätzungen professionelle medizinisch-pflegerische Hilfe
zu Entlastungsmöglichkeiten von besonde (76 Prozent). Danach folgten verschiedene
rem Interesse. Speziell der Kontakt zu einer Angebote zur vorübergehenden Übernahme
vertrauten Person spielt hierbei für Pflegende der Pflegetätigkeit, wie beispielsweise Verhin-
eine wichtige Rolle bei der seelischen Entlas derungspflege (64 Prozent). Auch Angebote
tung; eine solche Möglichkeit sich auszu- der Beratung und Schulung stellen eine
sprechen wird auch von der überwiegenden wirksame Unterstützung dar – so nannten 29
Mehrheit (79 Prozent) genutzt. Dennoch Prozent der Befragten „Kurse zur Pflege“ sowie
bleibt ein relevanter Anteil (8 Prozent), dem 25 Prozent „Angebote der Pflegeberatung“ als
dieser Kontakt fehlt. bedeutsame Hilfen (Abbildung 3).
Abbildung 3: „Welche der folgenden Aspekte sind Ihrer Meinung nach am wichtigsten, um pflegen-
de Angehörige zu entlasten?“ Nur Personen mit eigener Pflegeerfahrung, n = 503; Mehrfachantworten
möglich.
ehrenamtliche Hilfen %
Angehörigengruppe/Selbsthilfegruppe/Gesprächsgruppe %
Freunde/Kollegen %
psychologische/seelsorgerliche Beratung %
z. B. über anonyme Notfalltelefone
Informationsmaterialien und -broschüren %
religiöse Gemeinde %
weiß nicht %
28 A N A L Y S E
Abbildung 4: „Und kam es schon einmal vor, dass Sie sich selbst in einer Belastungssituation unan-
gemessen verhalten haben, als Sie eine Person gepflegt haben beziehungsweise bei Ihrer jetzigen
Pflege?“ Nur Personen mit eigener Pflegeerfahrung, n = 503.
Abbildung 5: „Und in welcher Weise haben Sie sich aus Ihrer Sicht problematisch verhalten?“
Nur Personen die angaben, sich mindestens einmal im Kontext der Pflege unangemessen verhalten zu
haben. n = 177; Mehrfachantworten möglich.
Zu den Autoren
Simon Eggert ist Geistes-
und Sozialwissenschaftler
und Bereichsleiter im ZQP.
Dr. Katharina Jung ist
Biowissenschaftlerin. Sie
war Projektleiterin im
ZQP.
Daniela Sulmann ist Dipl.-Pflegewirtin und examinierte Krankenschwester. Sie ist Bereichslei-
terin im ZQP.
30 A N A L Y S E
Das genaue Ausmaß von Gewalt in der Pflege sichts der hohen Relevanz dieser Thematik
in Deutschland ist nicht bekannt. Sicher ist ernüchternd, wie auch andere aktuelle sys-
jedoch, dass im Kontext von Pflegebeziehun- tematische Literaturanalysen schlussfolgern
gen eine erhöhte Gefahr für aggressive bis (Baker, Francis, Hairi, Othman & Choo, 2016;
hin zu gewalttätigen Situationen besteht. Dong, 2015; Pillemer, Burnes, Riffin & Lachs,
Alle an der Pflege beteiligten Personen kön- 2016). Die Recherche ergab lediglich zwei
nen betroffen sein. Doch welche Maßnah- kontrollierte Studien, in der eine konkrete
men und Ansätze gibt es, um Gewalt in der Intervention zur Gewaltprävention unter-
Pflege wirksam und nachhaltig sucht wurde.
vorzubeugen?
Die Ergebnisse der So hatte ein Team aus
Zum Stand der Forschung hat Literaturrecherche Taiwan die Wirksamkeit
unsere Arbeitsgruppe im Jahr sind weiterhin und eines Gruppenschu-
2013 eine systematische Lite- gerade angesichts der lungsprogramms zur
raturrecherche nach internati- Reduzierung psychi-
hohen Relevanz des
onalen, kontrollierten Studien scher Misshandlungen
Themas ernüchternd.
und systematischen Übersichts- durch Pflegende im
arbeiten (ab dem Jahr 2008) in Pflegeheim untersucht
verschiedenen Fachdatenbanken durchge- (Hsieh, Wang, Yen & Liu, 2009). Obwohl die
führt. Außerdem erfolgte eine umfassende Ergebnisse darauf hinweisen, dass gewalttä-
Online-Recherche nach nationalen Initiativen tiges Verhalten verringert werden kann, ist
und wissenschaftlich evaluierten Projekten. aufgrund methodischer Einschränkungen
Beauftragt wurde das Projekt von der Stiftung kein zuverlässiger Schluss über die Wirksam-
ZQP. Die Recherche wurde für den vorlie- keit dieser Intervention möglich. Zudem ist
genden Report im März 2017 aktualisiert. Im die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die
Forschungsüberblick lag das Augenmerk auf deutschen Gegebenheiten auch im Hinblick
Arbeiten, die sich mit der Thematik „Gewalt auf die soziokulturellen Unterschiede fraglich.
gegen pflegebedürftige Menschen“ befasst
haben. In einer methodisch angemessenen Studie
aus Großbritannien wurde die Wirksamkeit
Internationale Studienlage zur eines individuellen Therapieprogramms
Gewaltprävention in der Pflege zur Stärkung der mentalen Gesundheit
pflegender Angehöriger von Menschen mit
Die Ergebnisse der internationalen Literatur- Demenz untersucht (Cooper, Barber, Griffin,
recherche sind weiterhin und gerade ange- Rapaport & Livingston, 2015). Das Programm
A N A LY S E 31
führte jedoch nicht zu einer Verringerung von Umgang damit geschult (Zank & Schacke,
gewalttätigem Verhalten. 2012).
Nationale Projekte zur Gewaltpräven „Safer Care – Gewalt gegen Ältere erkennen
tion in der Pflege und vermeiden“
Auf nationaler Ebene gibt es zahlreiche Prä- Ziel des Projekts war es, Pflegende für die
ventionsbestrebungen zum Thema „Gewalt in Gefahr familiärer Gewalt im häuslichen
der Pflege“. Im Rahmen der Recherche wur- Umfeld zu sensibilisieren und gleichzeitig
den verschiedene wissenschaftlich begleitete durch gezielte Aufklärung deren Hand-
Projekte identifiziert, die im Folgenden kurz lungssicherheit zu stärken. Dabei sollten
vorgestellt werden. Ein Großteil der Projekte Handlungsempfehlungen auf Grundlage des
stellt hierbei Maßnahmen zur Gewaltprä- aktuellen Wissensstands aufgezeigt und in
vention im häuslichen Umfeld in den Fokus, der Praxis verankert werden.
einige Projekte betrachten die Thematik
sowohl im ambulanten als auch im stationä- „Sicher leben im Alter“ (SiliA)
ren Pflegekontext.
Im Rahmen dieses Projekts wurden verschie-
„Abbau von Stress und Aggression in dene Handlungsansätze zur Gewaltpräven-
der häuslichen Pflege von Menschen mit tion für ambulante Pflegedienste erprobt.
Demenz“ (AStrA) Hierzu zählten beispielsweise interne Fallbe-
sprechungen im Rahmen von Schulungen
Das Praxisprojekt der Deutschen Hochschule und Maßnahmen zur Organisationsent-
der Polizei aus dem Jahr 2013 fokussierte wicklung. Zudem wurde ein Instrument zur
auf Maßnahmen zur Prävention von Gewalt Einschätzung von Gewalt im Rahmen der
in der familialen Pflege von Menschen mit häuslichen Pflege (VIMA – Verdachts-Index
Demenz. Das Ziel war hierbei die Entwick- Misshandlung im Alter) entwickelt (Görgen
lung eines Aggressions- und Stress-Reduk- et al., 2012).
tions-Programms („Aktion Stress-Abbau“) für
pflegende Angehörige. „Prävention von Gewalt in der Pflege durch
interdisziplinäre Sensibilisierung und
„Potenziale und Risiken in der familialen Intervention von stationären und ambulan-
Pflege alter Menschen“ (PURFAM) ten Pflegeeinrichtungen“
Im Mittelpunkt dieses Projekts stand die Das Projektziel war die Entwicklung eines
Gewaltprävention in familialen Pflegesettings praxistauglichen Konzepts einschließlich kon-
durch konkrete Maßnahmen zur Früherken- kreter Verfahren und Instrumente zur Gewalt-
nung vorhandener Gewaltpotenziale. Hierzu prävention in stationären und ambulanten
wurde unter anderem ein entsprechendes Pflegeeinrichtungen (Gahr & Ritz-Timme, 2013).
Bewertungsinstrument entwickelt und Mit-
arbeiter von ambulanten Pflegediensten im
32 A N A L Y S E
diskutierte Zunahme von Stürzen oder die nachhaltig erreicht, kann zu diesem Zeitpunkt
vermehrte Verordnung von Psychopharmaka, kaum getroffen werden. Dringend benötigt
blieben aus (Köpke et al., 2012). Aktuell wer- werden also aussagekräftige Studien zu
den im Rahmen einer größeren Studie mit sorgfältig vorbereiteten Programmen der
insgesamt 120 Pflegeheimen Wirksamkeit, Gewaltprävention in der Pflege. Sollte sich
Sicherheit sowie Kosteneffektivität des leit- ein Programm als wirksam, sicher, akzeptiert
liniengestützten Interventionsprogramms und erschwinglich herausstellen, darf der
untersucht. Die Ergebnisse werden aller Vor- nachhaltigen Verankerung in die Pflegepraxis
aussicht nach im Herbst 2017 vorliegen. nichts im Wege stehen.
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Zu den Autoren
Jens Abraham, M.Sc., ist Gesundheits-
und Pflegewissenschaftler. Er arbeitet als
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
der Martin-Luther-Universität Halle-
Wittenberg und ist an verschiedenen
Forschungsprojekten zu freiheitsentzie-
hende Maßnahmen beteiligt.
Prof. Dr. Gabriele Meyer ist Professorin für Gesundheits- und Pflegewissenschaften und Direk-
torin des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Medizinischen Fakultät der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie war verantwortlich für die Entwicklung der
evidenzbasierten „Leitlinie FEM“. Sie ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der
Entwicklung im Gesundheitswesen.
A N A LY S E 35
Zudem ist die Dunkelziffer sexueller Miss- lich. Es kann sich dabei um den Ehe- oder
brauchsfälle hoch, und die Scham der Opfer Lebenspartner, Verwandte oder Bekannte,
sexueller Gewalt ist im Vergleich zu anderen eine fremde Person oder auch Mitarbei-
Gewaltdelikten besonders ausgeprägt. Dies ter professioneller Institutionen, wie zum
trifft in besonderer Weise für ältere Menschen Beispiel eine Pflegekraft, sowie demenziell
zu. Anzunehmen ist, dass Erziehung und erkrankte oder psychisch gestörte Mitbe-
Sozialisation ursächlich für deren Schweigen wohner handeln.
sind. Zum Beispiel gibt es Hinweise darauf,
dass ältere Menschen sexuelle Gewalter- In ihrem „European Report on Preventing
fahrungen in der Ehe anders bewerten als Elder Maltreatment“ (WHO, 2011) schätzte
jüngere und weniger Möglichkeiten sehen, die Weltgesundheitsorganisation die Präva-
gewaltgeprägte Partnerschaften zu verän- lenz des sexuellen Missbrauchs von Men-
dern. schen über dem sechzigsten
Lebensjahr auf 0,7 Prozent.
Eine Befragung unter Mit- Die meisten Opfer Ähnliche Zahlen (0,6 Pro-
arbeitern von Institutionen sexueller Gewalt in zent) liegen aus den USA vor
der Opferschutzhilfe ergab Pflegeeinrichtungen (Acierno et al., 2010). Einer
hierzu beispielsweise, dass zeigen deutlichen regionalen Erhebung aus
nach deren Einschätzungen Hilfe- und Unter Schweden zufolge berichten
von 100 Opfern sexueller stützungsbedarf. 2,2 Prozent der befragten
Gewalt circa 26 Prozent der Frauen und 1,2 Prozent der
20- bis 40-jährigen Frauen Männer über 65 Jahre davon,
Anzeige erstatteten, wohingegen dies nur für Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein
sieben Prozent der über 60-Jährigen angege- (Kristensen & Lindell, 2013). Es gibt auch Hin-
ben wurde (Görgen und Nägele, 2006) weise darauf, dass ältere Männer als Opfer
sexuellen Missbrauchs in Prävalenzschätzun-
Auch die Angst davor, keinen Glauben gen deutlich unterrepräsentiert und einem
geschenkt zu bekommen oder sogar auf- ähnlichen Risiko wie Frauen ausgesetzt sind
grund der verbreiteten Ignoranz gegenüber (WHO, 2002; Teaster et al., 2007).
sexuellem Missbrauch von älteren Menschen
diskreditiert zu werden, kann Grund dafür Die meisten Opfer sexueller Gewalt in Pflege-
sein, dass ältere Opfer ihre Erlebnisse für sich einrichtungen zeigen deutlichen Hilfe- und
behalten. Nicht zuletzt nimmt die Fähigkeit, Unterstützungsbedarf. Sie sind hochgradig
externe Hilfe zu holen, mit zunehmendem kognitiv oder funktionell eingeschränkt –
Alter aufgrund körperlicher Gebrechlichkeit durch eine Demenz, eine psychische Erkran-
oder geistiger Einschränkungen ab. kung oder körperliche Gebrechlichkeit.
Studien weisen darauf hin, dass vor allem
Sexualisierte Gewalt gegen ältere Menschen hochaltrige Pflegebedürftige (79- bis 99-Jäh-
kann sowohl Frauen als auch Männer treffen. rige) Opfer sexualisierter Gewalt werden
Hauptsächlich wird in der wissenschaftlichen (Malmedal et al., 2015).
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Zum Autor
Dr. Ralf Suhr ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Zentrum
für Qualität in der Pflege sowie der Stiftung Gesundheitswis-
sen. Es ist Arzt und Wissenschaftler mit dem Schwerpunkt
Gewalt in der Pflege und elder abuse.
A N A LY S E 39
Akteure
In dieser Rubrik bieten Experten aus der professionellen Pflegepraxis einen Einblick in ihre
Erfahrungen mit Gewalt in der Pflege. Sie zeigen Ansätze auf, um Gewalt in der Pflege
vorzubeugen und zu begegnen.
40 A K T E U R E
Viele Menschen zögern, Hilfe in Anspruch zu ren, wenn die Pflege durch die Profis nicht so
nehmen, wenn Sie Probleme bei der Pflege läuft wie sie es sich vorstellen.
eines Angehörigen haben. Wie ist Ihre Erfah-
rung? Wann wenden sich Menschen an Sie? Sie rufen aus Verzweiflung an, weil sie nicht
wissen, wie sie die Situation besser meistern
Ja, diese Erfahrung machen wir auch. Bei können – Tür abschließen, um das Weglau-
dem Eingeständnis „Ich brauche Hilfe bei fen zu verhindern? Medikamente geben, um
der Pflege“ wird häufig befürchtet, dass der eine Nacht mal wieder schlafen zu können?
Partner oder der pflegebedürftige Elternteil Eine Windel oder Vorlage benutzen, um nicht
vielleicht daran zweifeln könnte, dass die immer wieder das Bad sauber machen zu
Pflege gern übernommen wird, dass die müssen? Zum Essen und Trinken zwingen,
Unterstützung durch Dritte auch als Zurück- auch wenn der Appetit vielleicht nicht mehr
weisung empfunden werden könnte. Viele da ist?
der pflegenden Angehörigen übernehmen
die Pflege mehr oder weniger freiwillig, und Seit Jahren bieten Sie telefonische Beratung
sie sind oft fest davon überzeugt, dass sie für Pflegebedürftige, Angehörige, rechtli-
es schaffen werden. Wenn es dann doch che Betreuer, Nachbarn, Pflegekräfte und
schwieriger wird als gedacht, länger dauert andere in die Pflege involvierte Menschen in
als angenommen oder die körperliche und Notsituationen an. Wer wendet sich haupt-
psychische Erschöpfung doch größer ist sächlich an Sie und welche Themen stehen
als vermutet, dann ist Hilfe im Vordergrund?
anzunehmen ein großer und
nicht immer leichter Schritt. An uns wenden sich die An uns wenden sich
Und es gibt tatsächlich nicht Menschen mit konkre hauptsächlich pflegende
immer eine echte Option. ten Fragen nach Entlas Angehörige, überwie-
Die nächtliche Betreuung tungsangeboten aber gend Töchter. In den
und Unterstützung, die sehr auch wegen verfahrener letzten Jahren registrie-
kräftezehrend sein kann, Familiensituationen ren wir eine Zunahme
ist in der häuslichen Pflege oder, um sich über von Gesprächen mit
immer noch ein Problem. professionelle Pflege zu pflegenden Söhnen oder
An uns wenden sich die beschweren. auch Enkelkindern. Pfle-
Menschen sowohl mit ganz gebedürftige Menschen
konkreten Fragen nach Ent- selber wenden sich nur
lastungsangeboten, aber auch mit der Bitte selten an uns. Pflegekräfte schildern uns
um Gespräche, um verfahrene Familiensitu- auch immer wieder ihre Arbeitssituationen,
ationen zu klären oder um sich zu beschwe- andere Personengruppen rufen seltener an,
AKTEURE41
beizuführen. Damit ist die gute Analyse der Das Dilemma verstehen wir und verurteilen
familiären Strukturen und Wirkmechanismen niemanden, der so eine Entscheidung getrof-
ein wichtiger Schlüssel für fen hat. Aber die Anrufe
präventive Angebote. machen deutlich, dass
Ein frühzeitiger und offe dies häufig keine wirk-
Durch Ihre Arbeit haben Sie ner familiärer Austausch liche Lösung ist, und
auch Einblick in die familiale über die Erwartungen an durch das Einschließen
Pflege. Welche Rolle spielen eine Pflegesituation kann oder andere Maßnah-
dort freiheitsentziehende helfen, falsche Vorstel men auch viel Kummer
Maßnahmen? Können Sie lungen auszuräumen. und Sorgen entstehen
einige Beispiele nennen? können.
Im Gespräch
Anke Buhl ist Diplom-Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin.
Sie arbeitet als Referentin für Alten- und Pflegepolitik bei der
AWO Schleswig-Holstein gGmbH und ist Projektkoordinatorin
der Beratungsstelle PflegeNotTelefon beim AWO Landesver-
band Schleswig-Holstein e. V.
44 A K T E U R E
Sie setzen sich seit Jahrzehnten gegen Verändert hat sich viel zum Positiven, auch
Gewalt in der Pflege ein. Woher kommt die- wenn mir das zu langsam geht. Die Institutio-
ses unermüdliche Engagement? nen sind zwar nicht mehr ganz so „total“, wie
Goffman sie beschrieben hat, doch bleibt
Gewalt hat meine Kindheit mitgeprägt. Es eine Art Totalität, die mir zu schaffen macht.
herrschte die „schwarze Pädagogik“. Ich habe Natürlich hat sich die Heimsituation völlig
nie verstanden, warum man ein Kind schla- verändert. Es kommen mehr Menschen mit
gen muss, damit es ein guter Mensch wird. Demenz und Hochaltrige in Einrichtungen.
Mit circa sechs Jahren, kurz vor Schuleintritt, Nicht Schritt gehalten haben die hierfür
habe ich am Münchner Hauptbahnhof erlebt, erforderlichen personellen, strukturellen und
wie ein Gefangener, obwohl an den Händen ökonomischen Mittel. In der „Schwärze“ der
gefesselt, den ihn begleitenden Polizisten Einrichtungen gibt es aber zunehmend mehr
entwischen wollte. Diese bunte Flecken. Doch das
verfolgten ihn über die grundsätzliche Umdenken
Gleise. Als sie ihn erreich- Ein grundsätzliches hat sich noch lange nicht
ten, verprügelten sie ihn Umdenken hat sich noch etabliert. Zu viele Inter-
auf barbarische Weise. lange nicht etabliert. essen unterschiedlicher
Verantwortlicher lassen
Meine Eltern sahen das gar sich häufig nicht mit einem
nicht. Diese Situation hat mich entsetzt. Ich würdevollen Menschenbild vereinbaren.
habe das aber in mich gefressen. Das wollte Viele Altenpflegeheime verkommen immer
ich ändern. Gewaltanwendung als Lösung mehr zu Siecheneinrichtungen. Entschei-
war und ist für mich unakzeptabel, auch dend ist für die Träger gleich welcher Rich-
wenn ich manche Fantasien dazu auch habe. tung meist Profit. Immer weniger Personal,
Auch gefesselte alte Menschen blicken einen weniger Fachkenntnis, Arbeitsmittelverringe-
oft auf eine Art und Weise an, sodass man rung und so weiter. Nur die Rede davon, dass
diese Prozedur nur barbarisch nennen, aber die Pflege nicht bezahlbar sei, fördert einen
auf keinen Fall als „pflegeerleichternd“ oder destruktiven Teufelskreis, der ohne klare
„therapeutisch“ akzeptieren kann. strukturelle Veränderungen nicht gestoppt
werden kann. Die Politik allein dafür verant-
Was hat sich in den letzten 30 Jahren im wortlich zu machen, ist unzureichend.
Umgang mit dem Thema Gewalt in der
Pflege geändert? Da die meisten Menschen mit Demenz zu
Hause gepflegt werden, kann sich beim
AKTEURE45
Thema Gewalt nicht nur auf Pflegeinstitu- bleme haben Sie zuletzt bei Ihrer Arbeit
tionen bezogen werden. Zu Hause kann es besonders beschäftigt?
die größte Liebe und Zuneigung geben, aber
auch die schlimmste Ausuferung von Gewalt. Der Umgang mit dem Betreuungsrecht:
Hierfür gibt es derzeit zu wenig Unterstüt- Eine Betreuung wird zu häufig eingerichtet,
zung für Angehörige und ambulante Pflege- Angehörige zum Teil zu wenig einbezogen
dienste. und Kontrolle besteht hierfür kaum. Als Kon-
sequenz fühlt sich der Betreute entmündigt.
Die wirklichen Themen und Herausforderun- Es wird nicht oft genug klargestellt, dass eine
gen haben sich in den letzten Jahren nicht Betreuung für den betroffenen Menschen
wesentlich verändert. Allerdings: In Heime eingerichtet werden soll, und nicht über oder
kommen vermehrt die schwierigsten und gegen ihn.
komplikationsreichsten Menschen. Man
kann fast von einem Getto sprechen. Auch Ein weiteres Thema sind die mangelnden
die Unterstützung des Pflegepersonals, ihre Fortbildungen für Pflegekräfte in den Berei-
Arbeit professionell und adäquat durch- chen Supervision, Balint-Gruppe, ethisches
führen zu können, zum Beispiel in Bezug Konsil, Runder Tisch, konfliktbezogene
auf Deeskalationstraining, Supervision, Fallbesprechung mit allen Beteiligten und
Arbeitsmittel, Dienstplan oder Bezugspflege, Umgang mit herausforderndem Verhalten
ist immer noch erheblich defizitär. Die Aus- – um nur einige zu nennen. Auch muss zu
bildungen haben sich verbessert, die Mög- dem Thema mehr Öffentlichkeitsarbeit in
lichkeiten, diese Erkenntnisse in die tägliche Gremien, Medien und auf Kongressen geleis-
Arbeit einbringen zu tet werden.
können, eher verschlech-
tert. Langsam beginnt Die alleinige Rede davon, Zudem stellen sich fol-
zumindest bei den frei- dass Pflege nicht bezahl gende Fragen: Wie kommt
heitsentziehenden Maß- bar sei, fördert einen es, dass Mitarbeiter verro-
nahmen ein Umdenken, destruktiven Teufelskreis. hen, gewalttätig werden
leider nicht durch die und dies als notwendig
Pflege, sondern durch empfinden; wieso werden
die Justiz mit dem „Werdenfelser Weg“ initi- Missstände in Institutionen immer wieder
iert. Verändert hat sich auch das Verhalten geleugnet und als Einzelfälle betrachtet und
vieler Pflegekräfte, die die Pflege mit den nicht als unakzeptabel verurteilt?
alten Menschen durchführen und ihre Arbeit
nicht mehr ausschließlich pragmatisch und Und nicht zuletzt ein ganz anderer Aspekt:
routinemäßig durchführen. Auch Heimleiter Wie kann man bei Mitarbeitern den Sinn für
sind vermehrt daran interessiert, ein positives Humor fördern, um in kritischen Situatio-
Milieu in ihrer Einrichtung zu entwickeln und nen eine humorvolle Lösung zu finden? Es
gemeindenah zu arbeiten. heißt oft „alternativlos“. Mit Humor könnten
öfter neue kreative Lösungen und Wege
Gewalt in der Pflege ist facettenreich und gefunden, die Neugier am alten Menschen
vielschichtig. Welche Themen oder Pro- geweckt und Konflikte deutlich verringert
46 A K T E U R E
werden. Mit Respekt, Anstand und Würde haben. Als Privatinitiative sind unsere Mög-
könnten auf heitere Weise das Milieu und die lichkeiten jedoch eingeschränkt.
Beziehungsarbeit verbessert werden.
Welche Hilfe können Sie anbieten und wel-
Was genau sind die Ziele und Aufgaben der chen Handlungsspielraum haben Sie, wenn
neuen Initiative „Handeln statt Misshandeln Ihnen problematische, gar gewalttätige
– Forum Altern ohne Gewalt“? Situationen zugetragen werden?
Gesundheitsamt, Betreuungsbehörde, Weis- Wie können Menschen, für die eine rechtli-
ser Ring, Seelsorge, Heimaufsicht, MDK. che Betreuung besteht, geschützt werden?
Und wie sollte man vorgehen, wenn man
Was raten Sie Menschen, die in einer Pfle- den Eindruck hat, dass eine Betreuung miss-
geeinrichtung Zeuge von problematischen, bräuchlich erfolgt?
aggressiven Situationen oder Vernachlässi-
gungen werden? Wie sollte man vorgehen? Der Schutz ist in solchen Situationen sehr
schwierig, da Betreuung von vielen, auch
Zunächst hören wir aufmerksam zu, ohne Professionellen, mit Vormundschaft gleich-
gleich Ratschläge zu erteilen. Wir motivieren, gesetzt wird. Auf sein Recht zu beharren,
mit den Pflegekräften, der nützt wenig und ist meist
Heim- und Pflegedienstlei- kontraproduktiv. Die Ein-
tung oder auch dem Arzt zu Wichtig ist, den stellung, dass eine recht-
sprechen. Dabei sollte weni- Einzelfall vor Augen liche Betreuung für den
ger angesprochen werden, zu haben und eine Betreuten sein soll, und
wer Recht hat oder schuld ist, Vorverurteilung grund sein Wille so gut es geht
sondern wie diese Situation sätzlich zu vermeiden. bei Handlungen führend
behoben werden kann. In sein sollte, ist leider
einigen Fällen konnten wir immer noch nicht weit
mit dem Heim ein gemeinsames Gespräch verbreitet. Ist ein rechtlicher Berufsbetreuer
vereinbaren und im Rahmen einer Mediation tätig, bleibt des Öfteren die Familie bei Hand-
vermittelnd tätig sein – meist mit Erfolg. lungen ausgeschlossen. Manchmal besteht
Wichtig ist, den Einzelfall vor Augen zu haben auch eine „unheilige Allianz“ zwischen Arzt,
und eine Vorverurteilung grundsätzlich zu Richter, Pflegeheim und Betreuer. Diese zu
vermeiden. Gerade die „kleinen Grausamkei- lösen, gelingt kaum. Ein medizinisches Gut-
ten“ sind leider sowohl seitens der Instituti- achten hilft hier selten. Betreute können so
onen aber auch durch manche Angehörige leicht Opfer krimineller oder problematischer
fast an der Tagesordnung und bedürfen Situationen werden. Es herrscht eine Vielzahl
eines Sinneswandels der Einrichtung und an Möglichkeiten, das Betreuungsrecht
Person. Manche Angehörige sind selbst so zu missbrauchen. Das bedeutet auch, dass
verunsichert oder machen sich Vorwürfe, die jede Situation nur individuell angegangen
sie dem Pflegepersonal aufhalsen, sodass für werden kann. Häufig geht es hier um Geld,
sie ein psychoedukatives Gespräch oder eine insbesondere, wenn Angehörige streiten.
Psychotherapie sinnvoll Da ist es oft sehr schwer,
wäre. Bei allen Handlun- helfen zu können.
gen ist der Selbstschutz Wir versuchen, auf mensch
zu beachten. Keine Miss- liche und liebevolle Weise Es ist wichtig, alle „Par-
handlung – sei sie auch mit den Betroffenen und teien“ zu hören, um dann
noch so gering – sollte auch den vermeintlichen einen Lösungsweg zu
toleriert und mit Perso- „Tätern“ umzugehen, und finden. Vielfältige Schick-
nalmangel entschuldigt suchen das Gespräch. sale hängen daran.
werden. Beteiligte sind oftmals
48 A K T E U R E
verzweifelt und hadern mit dem Rechtsstaat. jeden Fall einen Altenpfleger und einen
Wir bemühen uns, auf menschliche und Sozialarbeiter beschäftigen und unabhängig
unterstützende Weise mit den Betroffenen sein.
und auch den vermeintlichen „Tätern“ umzu-
gehen, und suchen das Gespräch. Zudem Dies ist zumindest moralisch – wenn schon
versuchen wir, von zu vielen Anschreiben nicht gesetzlich vorgegeben – eine kom-
abzuraten – beispielsweise haben Schreiben munale Aufgabe, die bereits für alle anderen
an das Gericht meist Alters- oder Problemgrup-
eher eine negative Wir- pen angeboten werden,
kung. Sinnvoll ist es auch Viele Menschen werden nicht aber für alte Men-
mit der Betreuungsbe- immer noch nicht erreicht. schen und deren Angehö-
hörde zu sprechen, um Es bedarf einer kommu rige. Eine Notruf-Nummer
gemeinsam einen gang- nalen Anlaufstelle, in der sollte so in Bus, Straßen-
baren Weg zu finden. auch Professionelle tätig bahn beziehungsweise
Außerdem ist es wichtig, sind und die ohne Hürden Zeitung plakatiert sein,
mit den hilfesuchenden zu erreichen ist. dass sie für jeden Hilfe-
Personen entlastende suchenden sichtbar ist.
Gespräche zu führen. Ärzten kommt hierbei eine
Wir ermutigen die Menschen, an der Situa- besondere Aufgabe zu. Sie sollten solche
tion nicht zu verzweifeln, sondern vielmehr Hilfen auch vermitteln und über regionale
„kleine Lücken“, zum Beispiel Absprachen mit Einrichtungen ausreichend Bescheid wissen
dem Pflegepersonal, zu identifizieren, die die und vernetzt sein. Auch Selbsthilfegruppen
Möglichkeit bieten, die Situation im Interesse können unterstützend sehr hilfreich sein,
des Betreuten zu verbessern. wie zum Beispiel die Alzheimer-Gesellschaft.
Sie sollten jedem Angehörigen dringendst
Welche Hilfen benötigen Ratsuchende am empfohlen und nicht nur als mögliche
dringendsten? Option angesprochen werden. Ratsuchende
sind aber nicht nur Menschen mit Demenz
Ratsuchende erbitten in einer Notsituation oder deren Angehörige, sondern auch alte
Hilfe. Der Erstkontakt ist wichtig und dient Menschen ohne kognitive Störung, die sich
zunächst dem Aufbau einer vertrauensvollen in einer Krisensituation befinden. Hierfür gibt
Beziehung. Dann benötigen sie eine kom- es derzeit fast keine Anlaufstellen.
petente und weiterführende Unterstützung,
nicht nur Ratschläge oder gar ein „Ich bin Da auch die Anzahl der Pflegekräfte, die Rat
nicht zuständig“. Mögen Pflegestützpunkte, suchen, steigt, bedarf es hierfür ebenfalls
„Leuchttürme“ und ähnliche Einrichtungen einer kompetenten Anlaufstelle, die sich in
auch eine gute Hilfe sein, so werden viele die oben genannte Struktur integrieren lässt.
Menschen damit immer noch nicht erreicht. Auch andere Berufsgruppen melden sich
Es bedarf einer regionalen beziehungsweise vermehrt, doch ist deren Interesse an Unter-
kommunalen Anlaufstelle, in der auch Pro- stützung derzeit noch gering. Die Hemm-
fessionelle tätig sind und die ohne Hürden schwelle ist oft größer als das nachhaltige
zu erreichen ist. Eine solche Stelle sollte auf Interesse, etwas zu ändern.
AKTEURE49
Mit Carolin Emcke, der Trägerin des Frie- wirklich an der Gesellschaft, gerade wenn
denspreises des deutschen Buchhandels sie Konflikte haben oder auf Unterstützung
2016 bin ich der Meinung, dass es nicht angewiesen sind, real teilhaben zu lassen.
reicht, Gewalt zu verurteilen. Sie muss in
ihrer Funktionsweise betrachtet werden. Herr Professor Hirsch, wir danken Ihnen für
Unsere Aufgabe ist zu zeigen, wo etwas das Gespräch!
anderes möglich gewesen wäre, wo jemand
sich anders entscheiden hätte können, wo
jemand einschreiten hätte können und wo
jemand auch aussteigen hätte können! Es
ist an der Zeit alte Menschen endlich auch
Im Gespräch
Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch ist Psychiater und Psychologe mit
Schwerpunkt Gerontopsychiatrie. Er ist Gründungsmitglied
der Privatinitiative „Handeln statt Misshandeln – Forum Altern
ohne Gewalt“ und war Begründer der eingestellten Bonner
Initiative gegen Gewalt im Alter „Handeln statt Misshandeln“.
Er ist Träger des Verdienstkreuzes 1. Klasse der Bundesrepublik
Deutschland, 2009.
50 A K T E U R E
Wie sind Sie als Leiterin einer Pflegeeinrich- Perspektiven zu interpretieren und zu verste-
tung mit Aggression und Gewalt umgegan- hen, um zu einer gemeinsamen Situations-
gen? einschätzung zu gelangen und schließlich
angemessene Maßnahmen abzuleiten.
Wir haben offen über Aggression und Gewalt
in der Wohnanlage Sophienhof diskutiert – Ein Ethikkonsil ist ebenfalls eine Fallbespre-
und das auf mehreren chung, die in berufsüber-
Ebenen. In den Wohn- greifender Zusammenset-
bereichen haben wir bei Niemand darf seiner zung stattfindet. Hierbei
den täglichen Zusammen- Freiheit entzogen wird eine ethische Analyse
künften der Mitarbeiter, werden. Daran hat sich und Bewertung des Prob-
im Sinne einer ethischen auch eine Organisation lems vorgenommen. Auf
Reflexion, das Thema wie ein Pflegeheim zu dieser Grundlage wird
berührende Tagesabläufe orientieren. eine ethisch begründete
besprochen. Dabei sind und von den Beteiligten
auch Verhaltensauffällig- mitgetragene Empfehlung
keiten wie starke Unruhe oder Aggressivität erarbeitet. Bei Bedarf wird externe Beratung
zur Sprache gekommen. Auf der Leitungs hinzugezogen.
ebene ist die Reflexion bei jeder Morgenbe-
sprechung geschehen. Das gleiche galt für Wie ist die Entscheidung gefallen, keine
die Wochenrunde und die Monatsrunde. freiheitsentziehenden Maßnahmen einzu-
Wenn es die Situation erfordert hat, dann setzen? Und welche Vorbereitungen und
haben wir zusätzlich Haus- und Fachärzte Voraussetzungen waren für die Umsetzung
miteinbezogen, zum Beispiel im Rahmen nötig?
hermeneutischer Fallbesprechungen oder
ethischer Konsile. Die grundlegende Entscheidung war bereits
vor über zehn Jahren gefallen und basierte
Worum geht es bei hermeneutischen Fall- auf einem ganz einfachen Grundsatz.
besprechungen und ethischen Konsilen? Nämlich der Tatsache, dass niemand seiner
Freiheit entzogen werden will und darf.
Eine hermeneutische Fallbesprechung dient Daran hat sich auch eine Organisation wie
dazu, die Situation der betreffenden Person, ein Pflegeheim zu orientieren. Auch im Falle
zum Beispiel eines Bewohners mit heraus- bestimmter Krankheiten, wie beispielsweise
forderndem Verhalten, aus verschiedenen bei einer Demenz, gibt es keine Rechtferti-
AKTEURE51
Eine erste Maßnahme war, den Begriff Zunächst einmal sollten Bewohner, bei
„Aggression“ durch den Begriff „Verhal- denen Verhaltensauffälligkeiten wie starke
tensauffälligkeit“ zu ersetzen. Dies ist auch Unruhe bis hin zu Umherirren bekannt ist,
Bestandteil des sogenannten HoLDe-Kon- neben der Versorgung durch den Hausarzt
zepts der Wohnanlage Sophienhof (Hospiz, immer auch neurologisch oder gerontopsy-
Lebenswelt und Demenz, Anmerkung chiatrisch behandelt werden. Die Fachärzte
der Redaktion), das nicht nur körperliche sollten regelmäßig zur Visite kommen und
Bedürfnisse berücksichtigt, sondern in glei- darüber hinaus auch ansprechbar sein,
chem Maße emotionale Unterstützung und wenn zwischenzeitlich Fragen oder Pro-
religiöse Begleitung umfasst. Eine weitere bleme aufkommen. Zudem sollten sie zu
wichtige Voraussetzung für die Realisierung Fallbesprechungen und ethischen Konsilen
einer fixierungsfreien Einrichtung war bei- hinzugezogen werden.
spielsweise eine konsequente Visitenkultur
durch Haus- und Fachärzte sowie regelmä- Um unruhige Bewohner zu betreuen, kön-
ßige Fort- und Weiterbildungen für unsere nen Alltagsbegleiter eingesetzt werden. Zur
Mitarbeiter. Sturzprophylaxe helfen Niedrigflurbetten
und Bewegungsmelder zeigen den Pflegen-
Wie haben die Mitarbeiter auf die Entschei- den an, ob eine Person, die stark sturzge-
dung reagiert, keine freiheitsentziehenden fährdet ist, sich gerade auf den Weg macht.
Maßnahmen anzuwenden? Und hatten Sie Zudem ist es hilfreich, mehrmals wöchent-
den Eindruck, dass die Teams dahinterste- lich Sturzprophylaxe und Rollatoren-Training
hen? durch Physiotherapeuten
anzubieten, um die Mobi-
Diese Frage lässt sich Wir hatten weniger lität und Sicherheit der
ganz kurz beantworten. schwer wiegende Stürze, Bewohner zu verbessern.
Die Entscheidung wurde und die Zahl der Kranken All das sind nur Beispiele –
von den Mitarbeitern hauseinweisungen ist in letztlich kommt es darauf
sehr positiv aufgenom- den letzten Jahren stetig an, alle Wahrnehmungen
men, da diese Maß- gesunken. zu evaluieren und entspre-
nahme ja auch den ganz chend bedürfnisorientiert
persönlichen Anspruch zu handeln.
auf Freiheit widerspiegelt. Die Teams haben
voll hinter dieser Haltung gestanden und Muss man keine haftungsrechtlichen Kon-
waren auch bei der Umsetzung kreativ und sequenzen befürchten, zum Beispiel wenn
engagiert. jemand stürzt, aus dem Bett fällt oder sich
verirrt? Wie kann man sich absichern?
Wie sollte man damit umgehen, wenn
Bewohner ständig umherirren und zum Bei- Im Sophienhof hatten wir eher weniger
spiel die Gefahr besteht, dass sie stürzen? schwerwiegende Stürze. Die Zahl der Kran-
52 A K T E U R E
kenhauseinweisungen ist in den letzten zehn Bewohner gesucht werden musste, ist in den
Jahren sogar stetig gesunken. letzten zehn Jahren allerdings nur zwei Mal
vorgekommen.
Haftungsrechtlichen Konsequenzen habe
ich nicht besonders befürchtet. Mir war Was raten Sie Führungskräften, die ebenfalls
immer bewusst, dass eine hundertprozen- auf freiheitsentziehende Maßnahmen ver-
tige Absicherung nicht möglich ist. Wichtig zichten wollen?
ist, dass wir fachlich gut
begründet handeln und Zeigen Sie Zivilcourage und
alle Mitarbeiter voll und Es ist wichtig und setzen Sie durch, woran Sie
ganz dahinterstehen kön- hilfreich, alle Mitar glauben!
nen. Zentral ist hier auch beiter einzubinden,
eine ganz ehrliche und um gemeinsam Ganz wichtig sind passgenaue
offene Kommunikation mit kreative Ideen zur Fortbildungsmaßnahmen für
den Angehörigen sowie Vermeidung von alle Mitarbeiter. Außerdem
Vorsorgebevollmächtigten Fixierungen zu ist es wichtig und vor allem
in jeder Hinsicht. Angehö- finden. auch hilfreich, alle Mitarbeiter
rige sollten beispielsweise einzubinden, um gemeinsam
über eine bestehende kreative Ideen zur Vermeidung
Sturzgefahr und die Vorkehrungen sowie von Fixierungen zu finden.
auch die Abwägungen zu Maßnahmen
genau informiert werden. Sie sollten in alle Frau Graf, wir danken Ihnen für das
Maßnahmen mit einbezogen – auch in die Gespräch!
Suche nach einer verirrten Person. Dass ein
Im Gespräch
Gerda Graf ist Dipl.-Pflegewirtin und war Geschäftsführerin
der Wohnanlage Sophienhof in Niederzier. Sie ist Ehrenvorsit-
zende des Deutschen Hospiz- und Palliativ- Verbands e. V. und
Trägerin des Verdienstkreuzes am Bande der Bundesrepublik
Deutschland, 2007.
AKTEURE53
kommt häufig ein schlechtes Gewissen auf, leisten – dies könne dann ihrer Meinung nach
weil die Pflege an „Fremde“ abgegeben wird. erreicht werden, indem beispielsweise Türen
abgeschlossen, Bettgitter hochgezogen wer-
Im Rahmen einer Verfahrensbeschreibung den und so weiter. Im Praxisalltag werden
zur Informationsweitergabe ist unseren diese Wünsche allerdings nur vereinzelt an
Mitarbeitern der Umgang mit schwierigen uns herangetragen.
Gegebenheiten bekannt. Die Pflegesituation
wird im Rahmen eines Hausbesuchs durch Wenn immer häufiger Weglauf- beziehungs-
die leitende Fachkraft und einen Sozialpäd- weise Hinlauftendenzen beobachtet werden,
agogen analysiert, woraufhin entsprechende muss die Frage gestellt werden, ob die beste-
Hilfsangebote für den Pflegealltag vorge- hende Wohnform für die betroffene Person
schlagen werden. Auch Hilfen zur Kontakt- noch angemessen ist. Möglicherweise
aufnahme zu anderen Institutionen werden haben sich die Bedürfnisse mit fortschrei-
seitens des Pflegedienstes unterstützt. tender Demenz verändert. Der Bezug zur
eigenen Häuslichkeit ist eventuell verloren
Werden Ihre Kollegen speziell zu Gewalt gegangen, oder auch der Wunsch nach Nähe
und Aggression geschult? Falls ja – was wird und Gemeinsamkeit kann Antrieb für diese
vermittelt? Tendenzen sein.
Demenz. Die Demenz ist weit fortgeschritten bereits so weit fortgeschritten, dass ihre Ori-
und eine verbale Kommunikation ist mit ihr entierung bezüglich Personen, Ort und Zeit
nicht mehr möglich. Auch in der Mobilität vollständig verloren gegangen war. Immer
gibt es starke Einschränkungen. Kleine Eigen- öfter versuchte sie aber dennoch, allein ihre
bewegungen und unwillkürliche Bewegun- Wohnung zu verlassen, um ihr altes Café
gen sind zu beobachten. Auf Wunsch der aufzusuchen. Ihre Tochter war deshalb sehr
Tochter – bestellt als rechtliche Betreuerin besorgt, konnte sie aber auch nicht in die
– werden zur Nachtruhe die Bettgitter im Konditorei begleiten, da sie selbst außerhalb
Rahmen der Sturzprophylaxe hochgezogen. wohnte und nicht die Möglichkeit hatte,
Der Bauchgurt am Rollstuhl wird nur benutzt, jedes Wochenende ihre Mutter zu besuchen.
wenn Frau W. sehr unru- Es kam immer häufiger
hig ist. Eine ablehnende zu belastenden Streiter-
Reaktion gegen diese Angehörige sind ein fester eien zwischen Mutter
Maßnahmen ist nicht zu Bestandteil im Pflegesystem und Tochter, bis die
erkennen. und erbringen täglich eine Tochter sich entschloss,
außergewöhnliche Leistung. den Pflegedienst auch
Beide Maßnahmen damit zu beauftragen,
werden in einem vor- ihre Mutter sonntags in
gegebenen Prozess dokumentiert und im die Konditorei zu begleiten. Der pflegerische
Rahmen der Pflegevisite regelmäßig nach Einsatz bei Frau A. wurde nun am Sonntag
vorgegebenen Zeitfenstern evaluiert. Die zeitlich so angepasst, dass der Konditoreibe-
Ausführung erfolgt erst nach schriftlicher such in Begleitung einer Pflegekraft ermög-
Zustimmung der Betreuerin – in diesem Fall licht wurde. Und die Tendenz, ihre Wohnung
der Tochter. verlassen zu wollen, ist nun nachweislich
zurückgegangen.
Welche Erfahrungen haben Sie in der
Zusammenarbeit mit pflegenden Angehö- Durch seelische und körperliche Erschöp-
rigen gemacht? Wenden sie sich an Sie, um fung, die sich der Angehörige oft nicht
Unterstützung in problematischen Pflegesi- eingestehen kann, kommt es auch zu unter-
tuationen zu erhalten? schiedlichen Sichtweisen der Pflegesituation.
Wir erleben häufig, dass zum Beispiel beim
Die Basis einer guten Zusammenarbeit ist Einzug in eine Wohngemeinschaft Ange-
Vertrauen. Besteht ein vertrauensvoller hörige anfänglich extrem anspruchsvoll
Kontakt zur Bezugspflegekraft, werden Sor- sind, was in der Regel aus ihrem schlechten
gen, Bedürfnisse und Probleme seitens der Gewissen resultiert, ihren Angehörigen „weg-
Betroffenen und ihrer Angehörigen schneller gegeben“ zu haben. Dieses Verhalten legt
angesprochen. sich meist, wenn die Betroffenen sich einge-
lebt haben und die Angehörigen erkennen,
Ein Beispiel: Als Frau A. noch mobil war, dass ihr Familienmitglied gut gepflegt und
gehörte der sonntägliche Besuch in einer betreut wird.
Konditorei zu ihren festen Ritualen. Bedau-
erlicherweise war ihre Demenz nun aber
56 A K T E U R E
Abschließend die Frage: Welche Hilfe und nissen ihres betroffenen Familienmitglieds
Unterstützung benötigen pflegende Ange- entsprechen. Viele Hilfs- und Entlastungsan-
hörige aus Ihrer Sicht am dringendsten? gebote sind Angehörigen nicht bekannt. Die
Informationen sollten an zentralen Stellen
Angehörige sind ein fester wie Hausarztpraxen und
Bestandteil im Pflegesystem Apotheken zugänglich sein.
und erbringen täglich eine Viele Hilfs- und
außergewöhnliche Leis- Entlastungsangebote Frau Miowsky-Jenensch,
tung. Sie benötigen eine sind Angehörigen wir danken Ihnen für das
umfassende kompetente nicht bekannt. Die Gespräch!
fachliche Beratung, um Informationen sollten
schnell die vielen Hilfsan- an zentralen Stellen
gebote und Hilfsmittel zu zugänglich sein.
finden, die den Bedürf-
Im Gespräch
Karola Miowsky-Jenensch ist Gesundheits- und Sozialökono-
min (VWA) und examinierte Krankenschwester. Sie arbeitet als
Qualitätsmanagement-Beauftragte in der Pflegestation Meyer
und Kratzsch, Berlin.
A N A LY S E 57
Impulse
In dieser Rubrik werden Projekte beziehungsweise Internetangebote vorgestellt, die über
Gewalt in der Pflege aufklären und beim Umgang damit unterstützen. Sie geben außerdem
Impulse für die Entwicklung weiterer Angebote.
58 I M P U L S E
Zudem bietet
das Onlineportal
eine Übersicht
über Krisen- und
Nottelefonen, die
in Problemsituati-
onen helfen. Eine
aktuell erreichbare
Nummer ist auf
den ersten Blick
auffindbar.
Weitere Informationen
o www.pflege-gewalt.de
IMPULSE59
Weitere Informationen
o www.leitlinie-fem.de
60 I M P U L S E
Weitere Informationen
o www.befund-gewalt.de
IMPULSE61
Der Werdenfelser Weg ist ein verfahrensrecht- Zudem werden Materialen bereitgestellt, wie
licher Ansatz mit dem Ziel, Entscheidungs- Vortragsfolien, gerichtliche Entscheidungen
prozesse über die Notwendigkeit freiheits- oder Argumentationshilfen für Juristen in
entziehender Maßnahmen wie Bauchgurte, Bezug auf die Genehmigungspflicht von
Bettgitter und Vorsatztische zu verbessern. Bettgittern.
Damit sollen Fixierungen in stationären Ein-
richtungen der Altenpflege und für Menschen Entstanden ist die Initiative aus einem
mit Behinderungen sowie in somatischen und professionsübergreifenden Netzwerk in
psychiatrischen Krankenhäusern minimiert Garmisch-Partenkirchen mit Beteiligten aus
werden. Amtsgericht, Pflegeeinrichtungen und Kran-
kenkassen sowie Angehörigen und Betreu-
Dazu werden vom Gericht spezialisierte Ver- ungspersonen.
fahrenspfleger eingesetzt, die gemeinsam mit
der Pflegeeinrichtung und den
Angehörigen nach Alternativen
suchen. Sie verfügen über pfle-
gefachliches Wissen zur Vermei-
dung von FEM und juristisches
Wissen über deren rechtliche
Kriterien.
Weitere Informationen
o www.werdenfelser-weg-original.de
62 I M P U L S E
Die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen stellt mit Ein zentrales Thema ist das Konfliktma-
dem Onlineangebot „Gesundheitsdienstpor- nagement in Bezug auf Probleme zwischen
tal“ Beschäftigten im Gesundheitswesen und Patienten, Pflegebedürftigen, Angehörigen
pflegenden Angehörigen Informationen zum und Beschäftigten im Gesundheitswesen.
Arbeits- und Gesundheitsschutz bereit. Dies In einem interaktiven Programm werden
schließt auch Informationen und Praxishin- Hintergrundinformationen, Schulungsmaß-
weise zur Gewaltprävention in der Pflege ein. nahmen, Kommunikations- und Deeskalati-
onsstrategien sowie Nachsorgemaßnahmen
Die Materialien geben – sowohl auf der vorgestellt.
betrieblich-organisatorischen als auch der
individuellen Ebene – Hinweise, wie Aggres- Dieses Programm wurde in Zusammenarbeit
sionen und Gewalt vermieden, Beschäftigte mit mehreren Unfallkassen erstellt.
geschützt und bei der
Bewältigung problemati-
scher Situationen unter-
stützt werden können.
Als Handlungshilfen
können zum Beispiel
verschiedene Informa-
tionsblätter herunter-
geladen werden, wie
Gefährdungsbeur tei-
lungen, Checklisten mit
Risikofaktoren oder eine
Übersicht zu sicherheits-
gerechtem Verhalten
und zu Notrufmöglich-
keiten für alleinarbei-
tende Personen.
Weitere Informationen
o www.gesundheitsdienstportal.de/gewaltpraevention
IMPULSE63
Reflexion
In dieser Rubrik beleuchten Experten spezielle Handlungsfelder im Kontext Gewaltpräven-
tion in der Pflege. Im Fokus stehen zum einen der Unterstützungsbedarf von Menschen mit
rechtlicher Betreuung und zum anderen der Einsatz von Medikamenten als freiheitsentzie-
hende Maßnahme. Darüber hinaus wird über zwei aktuelle Studien des ZQP zum Thema
Gewaltprävention in der Pflege informiert.
64 R E F L E X I O N
nicht übergangen werden (Artikel 12 der die Autonomie des betreuten Menschen;
Behindertenrechtskonvention der UN). erreicht werden soll eine Lebens- und Ver-
sorgungssituation, die den Vorstellungen
Einrichtung einer Betreuung und der Würde des pflegebedürftigen
Menschen entspricht. Dies ist bedeutsam bei
Eine rechtliche Betreuung erhält eine Person abnehmenden Kommunikationsfähigkeiten.
durch eine Entscheidung des Betreuungsge- Der Betreuer hat bei Entscheidungen immer
richts. Dazu kann sie selbst einen Antrag stel- Wünsche und Präferenzen des Betreuten zu
len oder Dritte (Angehörige, Sozialdienste) berücksichtigen. Daher ist es im Fall einer
können dem Gericht einen Hinweis erteilen. beginnenden Pflegebedürftigkeit sinnvoll,
Wünsche und Präferenzen
Voraussetzung für die zur Lebensgestaltung schon
Bestellung einer rechtli- Die rechtliche Betreu vorzeitig in einer Betreu-
chen Betreuung ist, dass ung ist damit auch ein ungs- oder Pflegeverfügung
jemand krankheits- oder Schutzinstrument. niederzulegen. Kann die
behinderungsbedingt seine Geschützt werden soll pflegebedürftige Person
Angelegenheiten nicht die Autonomie des nicht mehr an der Entschei-
besorgen kann und somit betreuten Menschen. dung mitwirken, muss der
Unterstützungsbedarf hat. Betreuer immer überlegen,
Das Betreuungsgericht welche Entscheidung die
prüft, ob die Voraussetzungen für eine pflegebedürftige Person treffen würde. Das
Bestellung eines Betreuers vorliegen. Dabei ist die Handlungsleitlinie. Bei schwierigen
wird auch begutachtet, ob soziale Hilfen Situationen ist für den Betreuer das Denken
ausreichen oder ob eine Vollmacht an eine in Alternativen wichtig; dazu können sie sich
Vertrauensperson erteilt werden kann. Das auch bei den Betreuungsvereinen beraten
Gericht hört die pflegebedürftige Person lassen.
selbst an, um ihre Fähigkeiten und Wünsche
in Erfahrung zu bringen. Außerdem werden Schutz im Rahmen einer Betreuung
die Betreuungsbehörde und ein ärztlicher
Sachverständiger mit einem Gutachten über Pflegebedürftige Menschen mit Unterstüt-
die pflegebedürftige Person beauftragt. Die zungsbedarf werden häufig Schwierigkeiten
Bestellung eines Betreuers gegen den Willen haben, die Personen, von denen sie gepflegt
der pflegebedürftigen Person kommt nur und betreut werden, zu überwachen. Es ist
ausnahmsweise in Betracht. Dazu darf der daher von überragender Bedeutung, dass der
Pflegebedürftige keinen freien Willen im Betreuer immer das Wohl des Betreuten im
Hinblick auf die Bestellung eines Betreuers Blick hat, dessen Wünsche, Rechte und Inter-
bilden können, das bedeutet, dass ein unab- essen berücksichtigt und diese auch gegen-
weisbarer Schutzbedarf besteht, den der über (Gewalt ausübenden) Pflegepersonen
Betroffene nicht erkennt. vertritt. Das Betreuungsgericht ist mit der
Überwachung des Betreuers beauftragt, der
Die rechtliche Betreuung ist damit auch ein dem Gericht regelmäßig zu berichten hat. Für
Schutzinstrument. Geschützt werden soll gravierende Entscheidungen, zum Beispiel
66 R E F L E X I O N
den Verkauf eines Hauses, die Kündigung Häufig sind Pflegende auch gleichzeitig die
einer Wohnung, im Falle risikoreicher medi- Betreuer oder Bevollmächtigten. Für den Fall
zinischer Behandlungen einer gewalthaften oder
oder bei Freiheitsentzie- missbräuchlichen Pflege-
hung, muss der Betreuer Die betreuende Person situation ist diese Kons-
immer die Genehmigung muss immer das Wohl der tellation nicht geeignet,
des Gerichts einholen, um betreuten Person im Blick die Schutzinteressen
handeln zu können. So haben und deren Wün von Pflegebedürftigen
kann das Gericht präven- sche, Rechte und Inte zu sichern. In anderen
tiv prüfen, ob der Betreuer ressen auch gegenüber Fällen sind die Betreuenr
pflichtgemäß handelt, Pflegepersonen vertreten. oder Bevollmächtigten
und kann eingreifen, womöglich nicht in der
wenn dies nicht so ist. Lage, die Interessen der
pflegebedürftigen Person zu vertreten, oder
Rechtlich betreute Menschen oder ihre Ver- es gibt noch gar keinen Betreuer oder keine
trauenspersonen können sich jederzeit an bevollmächtigte Person.
das Betreuungsgericht wenden, wenn sie sich
durch das Handeln des Betreuers schlecht Dies wird wegen der Komplexität einer der-
vertreten fühlen oder gar missbräuchliches artigen Situation häufig ein Berufsbetreuer
Handeln bemerken. Das Gericht muss bei sein. Diese Person hat wiederum zum Wohl
Pflichtwidrigkeiten des Betreuers einschrei- des pflegebedürftigen Menschen zu handeln
ten und kann ihn, wenn es notwendig ist, und dabei dessen Wünsche zu berücksich-
entlassen und eine andere Person bestellen. tigen. Für den Fall, dass die häusliche Pfle-
Das Gleiche gilt übrigens, wenn ein Bevoll- gesituation Gewalt und/oder schwere Ver-
mächtigter die Vollmacht missbraucht und nachlässigung aufweist, kann der Betreuer
zum Beispiel Geld veruntreut oder die Pflege eine anderweitige Unterbringung in einer
nicht ausreichend organisiert. Auch hier kann betreuten Wohnform organisieren. Häufig ist
das Betreuungsgericht einschreiten. dies in Notsituationen schnell zu veranlas-
sen, gegebenenfalls
Vorgehen in einer ist eine Behandlung
Gewaltsituation Rechtlich betreute Menschen in einem Kranken-
können sich jederzeit an haus erforderlich.
In einer Gewaltsituation das Betreuungsgericht Ein Betreuer kann
sollten Betreuungsbe- wenden, wenn sie sich durch mittels Aufenthalts-
hörde und Betreuungs- das Handeln des Betreuers bestimmungsrecht
gericht eingeschaltet wer- schlecht vertreten fühlen. oder Umgangsbe-
den, um eine Intervention stimmungsrecht die
zu veranlassen. In vielen Maßnahmen auch
Fällen wird eine neutrale Betreuungsper- gegenüber Dritten durchsetzen, die sich
son für den pflegebedürftigen Menschen zum Beispiel weigern, den pflegebedürftigen
bestellt, welche deren Schutzinteressen Menschen gehen zu lassen.
wahrnimmt.
REFLEXION67
Ein Umzug in ein Pflegeheim gegen den wenn eine erhebliche Lebens- oder Leibes-
Willen der pflegebedürftigen Person ist nicht gefahr akut vorliegt, darf ein Betreuer mit der
zulässig. Will der Betroffene in der Wohnung Genehmigung des Betreuungsgerichts eine
bleiben und gibt es die Möglichkeit, eine Unterbringung gegen den Willen in einer
ambulante Pflege zu organisieren, wäre geschlossenen Einrichtung veranlassen.
mithilfe von Polizei und Gericht der Verweis
der Gewalt ausübenden Person aus der Woh-
nung zu organisieren. Nur im Ausnahmefall,
Zur Autorin
Prof. Dr. Dagmar Brosey ist Professorin für Zivilrecht mit
Schwerpunkt Familien- und Jugendrecht und Direktorin des
Instituts für Soziales Recht (ISR) der Fakultät für Angewandte
Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Köln. Zu
ihren Forschungsschwerpunkten zählen rechtliche Betreuung
und Gewalt in der Pflege.
68 R E F L E X I O N
In die Statistik der betreuungsgerichtlich Maßnahmen zurückgeführt wird. Bei der Art
genehmigten freiheitsentziehenden Maß- der Fixierung überwiegen nach wie vor die
nahmen (FEM) ist Bewegung gekommen. hochgestellten Bettseitenteile (Bettgitter),
Die Zahl der 2015 bundesweit durch die gefolgt von Steckbrettern an Rollstühlen und
Betreuungsgerichte neu Gurtfixierungen.
genehmigten (unterbrin-
gungsähnlichen) Maßnah- Es kann von einer hohen Allerdings: Ruhigstel-
men nach § 1906 Abs. 4 BGB Dunkelziffer von Pflege lungen von Heimbe-
ist mit 59.945 Genehmigun- bedürftigen ausgegangen wohnern mittels Medi-
gen zwar noch hoch, im werden, die medikamen kamenten werden in
Vergleich zu den Vorjahren tös ihrer Bewegungsfrei der Regel den Betreu-
jedoch deutlich rückläufig. heit beraubt werden. ungsgerichten nicht
So sind die bei Gericht zur Genehmigung
beantragten Maßnahmen vorgelegt. Es kann von
von 106.021 im Jahr 2010 auf 66.489 im Jahr einer hohen Dunkelziffer von Pflegebedürfti-
2015 um mehr als ein Drittel (37,3 Prozent) gen ausgegangen werden, die medikamen-
zurückgegangen. Die Gerichte werden auch tös ihrer Bewegungsfreiheit beraubt und
kritischer im Hinblick auf die Genehmigungs- vielfach ohne ärztliche Aufklärung über die
praxis: die Ablehnungsquote lag 2010 bei Wirkungen der Medikamente Opfer von ver-
7,45 Prozent und 2015 bei 9,84 Prozent. Vor ordneter und verabreichter Körperverletzung
dem Hintergrund, dass es in Deutschland werden.
rund 857.000 Plätze in Pflegeheimen gibt,
lag 2015 bei 59.945 gerichtlich genehmigten Genehmigungspflichtige Medika
Anträgen eine Inzidenz von sieben Prozent mente nach § 1906 Abs. 4 BGB
vor. Diese Zahlen korrespondieren mit der
im 4. Pflege-Qualitätsbericht des MDS (2014) Die Gabe eines Medikaments kann freiheits-
berichteten rückläufigen Tendenz bei frei- entziehende Wirkung haben und damit der
heitsentziehenden Maßnahmen: Lag die betreuungsgerichtlichen Genehmigungs-
Prävalenz 2012 noch bei 20 Prozent, so ist sie pflicht unterliegen.
im Bericht von 2014 auf 12,5 Prozent gesun-
ken. Die Statistik des Bundesamts für Justiz Die Voraussetzungen beschreibt das Amts-
weist von 2010 bis 2015 einen Rückgang der gericht Garmisch-Partenkirchen:
richterlichen Genehmigungen um rund 38,9
Prozent aus, was auf die zahlreichen Initiati- 1. Die Verabreichung eines Medikaments
ven (redufix, Werdenfelser Weg, PEA e. V. u. a.) stellt eine freiheitsentziehende Maßnahme
zur Vermeidung von freiheitsentziehenden im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB dar, wenn
REFLEXION69
der Betroffene dadurch gezielt in seiner kör- führt zu einer Zunahme unerwünschter
perlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt Wechselwirkungen der Wirkstoffe. Besonders
werden soll. gefährdet sind Menschen mit Demenz. In
Deutschland hatten 2015 knapp 64 Prozent
2. Während die mechanische Freiheitsentzie- der Pflegeheimbewohner eine erheblich
hung sich nur auf die materiellen Freiheits- eingeschränkte Alltagskompetenz, viele
garantien des Art. 2 Abs. 2 GG allein bezieht, davon leiden an einer Demenz. Aufgrund
wird die medikamentöse Freiheitsentziehung typischer Symptome wie Unruhe, Störungen
in doppelter Hinsicht grundrechtsrelevant. des Nachtschlafes und des Tag-Nacht-Rhyth-
mus erhielten sie häufig psychotrope Medi-
3. Eine freiheitsentziehende Zielsetzung kamente, die hiergegen wirken sollen. 66
liegt nicht vor, wenn die Unterbindung des Prozent dieser Medikamente wurden nachts
Bewegungsbedürfnisses eine Nebenwirkung verabreicht (Landeshauptstadt München,
eines angstdämpfenden therapeutischen 2013).
Zweckes darstellt, weil ein subjektives Leiden
der Betroffenen gezielt unterbunden werden Dabei sollten psychotrope Medikamente wie
soll. Bei der Behandlung von Symptomen der Schlafmittel nur in Situationen angewendet
Ängstlichkeit steht der subjektive Leidens- werden, die durch Verhaltensempfehlungen
druck der Betroffenen im Vordergrund, eine und fachlich begründete Interventionen
Ruhigstellung ist nicht unmittelbar bezweckt, nicht ausreichend verbessert werden kön-
sondern allenfalls eine in Kauf genommene nen und die zu einer erheblichen Belastung
Nebenwirkung. des Betroffenen und der Pflegenden führen.
Denn die Wirkungen beziehungsweise
Problem: Anwendung psychotroper Nebenwirkungen und damit gesundheitli-
Medikamente che Risiken können beträchtlich sein: zum
Beispiel Benommenheit, Verschlechterung
Medikamente, die auf die Psyche wirken, der Kognition, Kreislaufprobleme und Stürze.
sogenannte psychotrope Medikamente, kön-
nen Erleben und Verhalten verändern. Hierzu Prävalenz
gehören Hypnotika, wie Benzodiazepine, die
unter anderem beruhigend, angstlösend, Laut dem jüngsten Qualitätsbericht der Mün-
schlaffördernd und muskelentspannend wir- chener Heimaufsicht bekommen 51 Prozent
ken. Psychotrop wirken außerdem Medika- der Bewohner in stationären Pflegeeinrich-
mente gegen Depressionen sowie Antipsy- tungen Psychopharmaka (ebd.).
chotika/Neuroleptika, die hauptsächlich bei
Halluzinationen und wahnhaften Störungen Richter et al. berichteten 2012 über Verord-
eingesetzt werden. nungsprävalenzen von psychotropen Medi-
kamenten für Bewohner von deutschen und
Mit fortschreitender Erkrankung beziehungs- österreichischen Pflegeheimen. Von 5.336
weise steigendem Alter werden häufig Heimbewohnern wiesen mehr als die Hälfte
mehrere verschiedene Wirkstoffe verordnet kognitive Einschränkungen auf. Das mittlere
und verabreicht (Polymedikation). Dies Alter betrug 85 Jahre, der Frauenanteil lag
70 R E F L E X I O N
bei 80 Prozent. Zwischen 52 und 77 Prozent Verhaltensstörungen bei Demenz (De Mau-
der Bewohner (je nach Kohorte) erhielten leon & Sourdet, 2014). Die Verordnungsdauer
ein Psychopharmakon, zwischen 15 und 30 steht im Widerspruch zu den Empfehlungen
Prozent ein sedierendes Medikament aus der der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
Gruppe der Benzodiazepine. Antidepressiva und der Gesellschaft für Psychiatrie und Psy-
wurden zwischen 20 und 37 Prozent der chotherapie, Psychosomatik und Nervenheil-
Bewohner verordnet. Neuroleptika erhielten kunde (Deuschl & Maier et al., 2016). Die mit
zwischen 28 und 46 Prozent der Bewohner; dem längerfristigen Einsatz von Antipsycho-
dabei erhöhten unruhiges Verhalten und eine tika verbundenen Risiken sind unter ande-
höhere Pflegestufe die Wahrscheinlichkeit, rem motorische Unruhe, Gewichtszunahme,
ein Neuroleptikum verordnet zu bekommen. Herzversagen, Schlaganfälle, Verschlechte-
rung der Kognition und Stürze.
Bewohner von Pflegeheimen erhalten auch
sogenannte Bedarfspsychopharmaka. In der Ähnliche Verordnungszeiten beschreibt der
Frage 10.4. der Qualitätsprüfungs-Richtlinien Pflegereport 2017 (Jacobs et al., 2017). 49
des MDS und des GKV-Spitzenverbandes Prozent der Pflegebedürftigen mit verordne-
(Stand 4.10.2016) heißt es dazu: „Ist eine ten Anxiolytika und 56 Prozent mit Hypnotika
Bedarfsmedikation angeordnet, muss in der und Sedativa erhielten 2015 diese Medika-
Pflegedokumentation festgehalten sein, mente für mindestens ein Jahr. Leitlinien
bei welchen Symptomen welches Medika- von Fachgesellschaften empfehlen anderes:
ment in welcher Einzel- und bis zu welcher Die Arzneimittelkommission der Deutschen
Tageshöchstdosierung zu verabreichen ist, Ärzteschaft zu Angst- und Zwangsstörungen
sofern die Tageshöchstdosierung vom Arzt empfiehlt die Anxiolytika nicht länger als
jeweils festgelegt wurde.“ Vielfach wird die acht bis zwölf Wochen für die Behandlung
Dosierung dem Bedarf und somit den Pfle- (AKDAE, 2003). Auch die Hypnotika bei
genden überlassen. Nach einer Erhebung der Schlafstörungen sollten nur kurzfristig und
Münchner Heimaufsicht sind das nochmals vorübergehend, circa vier Wochen, genom-
zehn Prozent der Bewohner (Landeshaupt- men werden. Strenger sind die aktuellen
stadt München, 2013). In der stationären Beers-Kriterien der American Geriatrics Soci-
Altenhilfe werden demnach wenig medi- ety: Sowohl der Einsatz von Benzodiazepinen
zinische, pflegerische und betreuerische als auch von sogenannten Z-Substanzen
Strategien vor der Verabreichung von Psy- werden als generell ungeeignet bei älteren
chopharmaka angewendet. Medikamentöse Menschen eingestuft (American Geriatrics
Therapie wird nicht als letzter Schritt ange- Society, 2015).
sehen, sondern scheint die überwiegende
Vorgehensweise zu sein. Die Dauerverordnungsrate von Antidepres-
siva bei Pflegebedürftigen liegt laut Pflegere-
Anwendungsdauer port 2017 bei 56 Prozent (Jacobs et al., 2017).
Es wird vermutet, dass die Antidepressiva
59 Prozent der Pflegebedürftigen erhalten auch zur Behandlung von Hyperaktivität, zur
das verordnete Antipsychotikum (Neurolep- Schlafinduktion oder zur Verbesserung der
tikum) mindestens ein Jahr, meist wegen Schmerztherapie zum Einsatz kommen.
REFLEXION71
Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass also auf die gewissenhafte und sorgfältige
in Deutschland alten Menschen – vor allem Behandlung nach den Regeln der ärztlichen
Demenzkranken – zu viele, zu hoch dosierte Kunst neuesten Wissensstandes. Der Patient
und zu lange psychotrope Medikamente muss in der Lage sein, Wesen, Bedeutung
gegeben werden. Wirkungen und Nebenwir- und Tragweite der beabsichtigten ärztlichen
kungen sind bereits im Vierten Altenbericht Maßnahmen erfassen zu können, also über
der Bundesregierung die erforderliche Ein-
2002 beschrieben, willigungsfähigkeit
zum Beispiel Unruhe, Zwischen dem, was der verfügen. Bei einem
Verwirrtheit, Kreislauf- Gesetzgeber von der ärztlichen einwilligungsunfä-
probleme, Bewusst- Aufklärung erwartet und higen Erwachsenen,
seinstrübung, Stürze dem, was in der Praxis eines der keine Einsichts-
(BMFSFJ, 2002). Pflegeheimalltags an Aufklä fähigkeit in die
rung über die Behandlung mit jeweilige Maßnahme
Laut Pflegereport sind Medikamenten stattfindet, besitzt (zum Beispiel
diese (Neben-)Wirkun- bestehen häufig Diskrepanzen. Bewusstlose, psy-
gen 54,4 Prozent der chisch Kranke oder
befragten Pflegenden altersbedingt stark
weitestgehend bekannt und vielfach zumin- kognitiv beeinträchtigte Patienten), muss
dest nicht unerwünscht (Jacobs et al., 2017). die Einwilligung durch einen Betreuer erteilt
werden, der vom Betreuungsgericht zu
Ärztliche Aufklärung und Einwilligung bestellen ist oder von einem wirksam einge-
von Pflegebedürftigen setzten Bevollmächtigten.
Grundsätzlich gilt: Der Patient beziehungs- Besteht die Gefahr einer längeren oder
weise Pflegebedürftige muss rechtzeitig wis- erheblichen Schädigung des Patienten durch
sen, was medizinisch mit ihm, mit welchen den Eingriff, bedarf der Betreuer oder Bevoll-
Mitteln und mit welchen Risiken und Folgen mächtigte der Zustimmung zur Einwilligung
geschehen soll. Zwischen dem, was der durch das Betreuungsgericht (§ 1904 BGB).
Gesetzgeber von der ärztlichen Aufklärung Laut Bundesamt für Justiz sind im Jahr 2015
erwartet und dem, was in der Praxis eines circa 1.600 Anträge gestellt worden, was
Pflegeheimalltags an Aufklärung über die angesichts der circa 1,3 Millionen Betreu-
Behandlung mit Medikamenten stattfindet, ungsverfahren wenig erscheint.
bestehen häufig Diskrepanzen.
Klärt der Arzt den Patienten nicht, falsch oder
Jeder ärztliche Heileingriff – dazu zählt auch unzureichend auf, kann er gegebenenfalls
die medikamentöse Therapie – erfüllt laut wegen fahrlässiger Körperverletzung oder
BGH den Tatbestand der Körperverletzung fahrlässiger Tötung bestraft werden – auch
(§§ 823 Abs.1 und 2 i. V. m. § 223ff StGB). wenn die Verschlimmerung des Leidens oder
Die Rechtswidrigkeit des Eingriffs entfällt, gar der Tod des Patienten als schicksalhaft
wenn der Patient einwilligt. Die Einwilligung eingestuft werden muss und kein ärztlicher
bezieht sich auf eine Behandlung lege artis, Behandlungsfehler begangen wurde.
72 R E F L E X I O N
Schnittstelle Pflege und ärztliche Jahr 2030 aus, was auch wachsende Anforde-
Versorgung rungen an die pflegerische Versorgung des
Personenkreises bedeutet (RKI, 2015). Die
Der Pflegereport 2017 verweist auf die professionelle Versorgung von Menschen mit
Schnittstellenfunktion von Pflegefachkräften Demenz ist eine komplexe und anspruchs-
zur ärztlichen Versorgung und damit auch zur volle pflegerische Tätigkeit und erfordert
medikamentösen Behandlung von herausfor- gerontopsychiatrische Kenntnisse. Denn
derndem oder anderem psychisch auffälligem es bedarf eines breiten fachlichen Wissens
Verhalten bei gerontopsychiatrisch geprägten um die Krankheitsbilder und deren medika-
Krankheitsbildern (Jacobs et al., 2017). mentöse und nicht-medikamentöse Thera-
pieformen. Doch verbindliche Vorgaben an
Bei der Befragung von 2.323 Pflegekräften eine gerontopsychiatrische Qualifikation
zeigte sich, dass vier von fünf Befragten des Pflegepersonals gibt es bislang nicht.
(84 Prozent) nach eigenen Angaben auf eine Eine normative Vorgabe zur Beschäftigung
ärztliche Verordnung von Psychopharmaka von Pflegefachkräften mit gerontopsychiat-
hinwirken. Die Angabe „selten/nie“ kam von rischer Weiterbildung besteht im deutschen
15,9 Prozent der Befragten. „Überraschend Pflegesystem nicht.
ist dabei, in welchem Umfang die Befragten
angaben, dass sie selbst eine Verordnung Weder die im Rahmen der Föderalismusre-
von Psychopharmaka veranlassen. 57 Prozent form in Länderzuständigkeit gekommenen
der Pflegefachkräfte wirken „gelegentlich“ Nachfolgegesetze des Heimgesetzes noch
auf eine Verordnung hin und jede Vierte (Rahmen-)Verträge zwischen Leistungser-
(27 Prozent) tut dies „regelmäßig“. Inwiefern bringern und Kostenträgern halten hierzu
hier die Indikationsstellung als ärztliche eine Regelung für geboten. Die Entschei-
Vorbehaltsaufgabe tangiert ist, bedürfte dungen des Gesetzgebers gehen in eine
genauerer Analyse. Jedenfalls der formale andere Richtung: Seit 1.1.2017 haben Pfle-
Verweis seitens auf Psychopharmakagaben gebedürftige in Pflegeheimen Anspruch
angesprochener Pflegefachkräfte auf die auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung
Verantwortung des Arztes, der schon wisse, (§ 43b SGB XI). Die Regelung löst § 87b
was ärztlich zu verordnen sei, erscheint vor SGB XI ab. „Die regelhaft zu erbringenden
diesem Hintergrund als Schutzbehauptung, Leistungen der Betreuung nach §§ 41 bis
die der eigenen beruflichen Verantwortung 43 (bisher soziale Betreuung) bleiben von
nicht gerecht wird. § 43b unberührt und werden nicht auf die
zusätzlichen Betreuungskräfte verlagert“, so
Einflussfaktoren: Anzahl und Qualifi die amtliche Begründung des Pflegestär-
kation des Pflegepersonals kungsgesetzes II.1 Es handelt sich bei den
‚zusätzlichen‘ Betreuungskräften um gering-
Aktuelle Prognosen gehen von einem fügig qualifizierte Personen2, die in aller
Anstieg demenzieller Erkrankungen bis zum Regel keine Flankierung durch eine geron-
1 SGB XI PflegeVG Handbuch. KKF Verlag Altötting 2017. §43b SGB XI S. 107 f.
2 Orientierungspraktikum von 40 Stunden, 160 Stunden Qualifikation, zwei Wochen Praktikum.
REFLEXION73
3 Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe; In: Die Welt, 31.5.2015.
74 R E F L E X I O N
Literatur
AKDAE (2003). Angst- und Zwangsstörungen. Arznei- Deuschl G., Maier W et al. S3-Leitlinie Demenzen.
verordnungen in der Praxis. Therapieempfehlungen 2016. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.):
der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzte- Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurolo-
schaft. www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/TE/A-Z/ gie. www.dgn.org/leitlinien. [Abruf 05.07.2017]
PDF/Angst.pdf [Abruf 05.07.2017]
Jacobs, K., Kuhlmey, A., Greß, S., Klauber, J. & Schwin-
American Geriatrics Society (2015). American Geria- ger, A. (Hrsg.). (2017). Pflege-Report 2017: Schwer-
trics Society 2015 Updated Beers Criteria for Poten- punkt: Die Versorgung der Pflegebedürftigen.
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Am Geriatr Soc 63(11), 2227-2246.
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Menschen mit Demenz. In Jakobs, K., Kuhlmey, A.,
Greß, S., Klauber, J. & Schwinger, A. (Hrsg.): Pflegere- MDS (2014). 4. Pflege-Qualitätsbericht des MDS nach
port 2017. Stuttgart: Schattauer Verlag, S. 51-62. § 114a Absatz 6 SGB XI. S. 34f.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und MDS & GKV (Hrsg.) (2016). Qualitätsprüfungs-Richt-
Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2002). Vierter Altenbericht linien. Transparenzvereinbarung. Grundlagen der
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publik Deutschland: Risiken, Lebensqualität und – Stationäre Pflege.
Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berück-
Richter, T., Mann, E., Meyer, G., Haastert, B., & Köpke,
sichtigung demenzieller Erkrankungen.
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RKI (2015). Gesundheit in Deutschland Gesundheits-
15(11), 812-8.
berichterstattung des Bundes. S. 442 ff.
Zum Autor
Uwe Brucker ist Senior Berater im Fachteam Pflege beim Medi-
zinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkas-
sen e. V. (MDS) und Vertreter des MDS als Mitkoordinator im
Projekt MILCEA (Monitoring in Long-Term-Care – Pilot Project
on Elder Abuse).
REFLEXION75
Service
In dieser Rubrik sind grundlegende Informationen zusammengefasst und Praxishinweise zur
Gewaltprävention in der Pflege dargestellt. Ergänzt wird der Serviceteil durch Informationen
über Hilfsangebote und Adressen von Einrichtungen, die – auch im Notfall – beraten und
unterstützen.
78 S E R V I C E
Zusammengefasst:
Informationen und praktische Hinweise
Grundlegendes
Beispiele
■■ Abfällige Bemerkungen machen, schimpfen
■■ Über den Kopf hinweg sprechen
■■ Radio oder Fernseher ungefragt ein- oder ausschalten
■■ Hilfsmittel wie Klingel, Brille, Prothese, Gehstock wegnehmen
■■ Bevormunden, z. B. Schlafenszeiten festlegen, zum Aufstehen oder Essen zwingen
■■ Lange auf Hilfe warten lassen
■■ Zu fest anfassen, rütteln, schubsen
SERVICE79
Anzeichen für Gewalt sind nicht immer eindeutig. Manche Symptome können Folge
einer Erkrankung oder eines Sturzes sein. In jedem Fall aber sollten die Ursachen
geklärt und eine ärztliche Untersuchung veranlasst werden, zum Beispiel wenn...
Praktische Hinweise
■■ Die Haus- oder Dienstleitung muss über das Fehlverhalten informiert werden.
■■ Dauern die Probleme dennoch an, sollte eine der folgenden Stellen informiert
werden: Pflegekasse/private Pflegeversicherung, Medizinischer Dienst der Kran-
kenversicherung (MDK)/Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversiche-
rung e. V., Heimaufsicht oder auch kommunale Beschwerdestellen.
■■ Die Haus- oder Pflegedienstleitung muss informiert werden; diese müssen unver-
züglich wirksame Maßnahmen zum Schutz des Pflegebedürftigen einleiten.
■■ Bei rechtlicher Betreuung müssen der Betreuer, die Betreuungsbehörde oder das
Betreuungsgericht informiert werden.
■■ Bei akuter Gefahr sind Pflegebedürftige zu schützen, ohne sich selbst in Gefahr
zu bringen; falls möglich, sollte Hilfe geholt werden, zum Beispiel Kollegen oder
Nachbarn – im Notfall auch die Polizei.
■■ Beobachtungen und Gewaltfolgen müssen dokumentiert werden, unter
anderem um juristische Schritte gegen die verursachende Person einleiten zu
können; Vordrucke für eine gerichtsverwertbare Dokumentation stehen auf
www.befund-gewalt.de zur Verfügung.
■■ Über Aggression und Gewalt sollte offen, sachlich und lösungsorientiert gespro-
chen und so eine unterstützende Fehlerkultur in der Organisation geschaffen
werden.
■■ Alle Hinweise auf problematische Vorkommnisse sind ernst zu nehmen.
■■ Bei akuter Gefahr ist der Betroffene unverzüglich zu schützen.
■■ Der Pflegebedürftige sowie dessen Angehörige sollten unbedingt einbezogen
werden, um abzustimmen, wie nach einem problematischen Vorfall vorgangen
werden soll.
■■ Die Handlungssicherheit der Mitarbeiter sollte gestärkt werden. Dabei helfen zum
Beispiel einrichtungsinterne Richtlinien für den Umgang mit problematischen
Situationen sowie regelmäßige Fortbildungen, wie Trainings zur Deeskalation
oder Kommunikation.
82 S E R V I C E
Wenn eine Person gegen ihren Willen durch Gegenstände oder Medikamente
in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigt wird und dies nicht ohne fremde
Hilfe überwunden werden kann, handelt es sich um eine freiheitsentziehende
Maßnahme (FEM). Dazu gehören:
■■ Mechanische Fixierungen, z. B. Bettgitter, Gurte, Stecktische
■■ Einsperren, z. B. durch komplizierte Schließmechanismen an Türen
■■ Sedierende Medikamente, z. B. Schlafmittel, Beruhigungsmittel
■■ Auch: Wegnahme von notwendigen Hilfsmitteln, z. B. Schuhe, Brille, Rollator
FEM sind eine besondere Form der Gewalt. Sie können schwerwiegende psychi-
sche und physische Folgen haben:
■■ Häufig werden FEM damit begründet, Stürze und Verletzungen vermeiden zu
wollen. Jedoch können sie dies noch begünstigen, da Bewegungsfähigkeit und
Muskelkraft nachlassen.
■■ FEM werden auch bei Menschen mit Demenz eingesetzt, um Unruhe und
Umherirren zu reduzieren. Wenn jedoch die Bewegungsfreiheit eingeschränkt
wird, kann das erhöhte Unruhe und Aggressivität bewirken.
SERVICE83
■■ FEM dürfen nur eingesetzt werden, wenn die betreffende Person schriftlich
zustimmt oder um Lebensgefahr sowie erhebliche Gesundheitsschädigungen
abzuwenden.
■■ Bei Personen, die nicht einwilligungsfähig sind, ist die Zustimmung des gesetz-
lichen Betreuers erforderlich, der dafür eine richterliche Genehmigung einholen
muss.
■■ Für die Genehmigung ist ein ärztliches Attest erforderlich. Dazu gehören Informa-
tionen über den Gesundheitszustand der Person und darüber, warum, in welcher
Weise und wie lange die FEM voraussichtlich angewendet werden sollen und ob
Alternativen bereits versucht wurden oder fehlen.
■■ Bei jeder FEM muss der Pflegebedürftige zu seinem Schutz kontinuierlich beob-
achtet werden.
■■ Die Anwendung und Beobachtung muss sorgfältig und nachvollziehbar doku-
mentiert werden.
■■ Werden unterschiedliche Maßnahmen angewendet, ist jeweils eine gesonderte
gerichtliche Genehmigung erforderlich.
Hilfsangebote
Pflegende Angehörige können zum Beispiel gezielte Auszeiten von der Pflege nehmen und
eigenen Interessen nachgehen. Solche Auszeiten werden stunden-, tage- oder wochenweise
von der Pflegeversicherung getragen. Zur Organisation der Pflege gibt es einen Anspruch auf
kostenlose professionelle Beratung. Die Pflegeberatung kann ganz entscheidend dazu beitra-
gen, dass die Pflegesituation für alle Beteiligten gut gestaltet wird.
Professionell Pflegende sollten das Gespräch mit Kollegen und Vorgesetzten suchen, um einen
Weg aus der Überforderung oder Überlastung zu finden.
SERVICE85
Beratungsstellen. Sie bieten kostenlose Beratung zur Pflege für Pflegebedürftige und ihre
Angehörigen an. Sie helfen auch in problematischen Pflegesituationen. Kontaktdaten sind
online zu finden unter www.zqp.de/beratungsdatenbank.
Nottelefonen. Die Experten haben viel Erfahrung mit konfliktreichen Situationen, hören genau
zu und unterstützen im akuten Notfall. Einige Telefonnummern sind auf den Seiten 85–86 gelistet.
Ärzten. Sie können Verletzungen behandeln und beraten, wie es weitergehen könnte, zum
Beispiel ob Anzeige bei der Polizei erstattet werden sollte. Ärzte unterliegen der Schweigepflicht.
Weitere Hilfetelefone sind auf www.pflege-gewalt.de sowie in der Datenbank zur Beratung in
der Pflege www.zqp.de/beratungsdatenbank zu finden.
Handeln statt Misshandeln (HsM) Frankfurter Initiative gegen Gewalt im Alter e. V.
Telefon: 069/20 28 25 30
Erreichbarkeit: Mo – Fr 10 –12 Uhr
E-Mail: info@hsm-siegen.de
www.hsm-frankfurt.de
Handeln statt Misshandeln (HsM) Siegener Initiative gegen Gewalt im Alter e. V.
Telefon: 0271/66 09 78 7
Erreichbarkeit: Mo und Do 9 –12 Uhr
E-Mail: hsm-siegen@arcor.de
www.hsm-siegen.de
86 S E R V I C E
PflegeNotTelefon Schleswig-Holstein
Telefon: 01802/49 48 47 *
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