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1. Die Fieberschrift
1. Die Fieberschrift
1.1. Doppelte Anthropologie
––––––––––––––
(SW, Bd. 5, S. 1056-1147). Zitat hier S. 1056. Die Übersetzungen lateinischer Passagen
modifizieren Müllers Vorschläge an einigen Stellen.
17 NA 20, 38.
18 Das Verhältnis der Literaturwissenschaft zur Fieberschrift ist daher kaum anders als
ratlos zu nennen. Eine Ausnahme stellt lediglich Peter-André Alt dar, der in Schiller,
Bd. 1, S. 172-177 eine Zusammenfassung der medizinhistorischen Befunde gibt. Das
Verdienst, die Schrift aus der Perspektive der Medizingeschichte in ihrer Substanz er-
schlossen und in ihrer Originalität entdeckt zu haben, gebührt dem Pionierwerk von
Dewhurst, Kenneth / Reeves, Nigel: Friedrich Schiller. Medicine, Psychology and
Literature. Berkeley/Los Angeles 1978, hier bes. der ‚Editorial Commentary’ (S. 242-
251). Den einlässlichsten medizinhistorischen Zugang bietet nun Irmgard Müller in
ihrem Kommentar zu „Abhandlung über die Fieberarten.“ In: SW, Bd. 5, S. 1314-
1341; vgl. dies.: „Die Wahrheit [...] von dem Krankenbett aus beweisen.“ Zu Schillers
medizinischen Studien und Bestrebungen. In: Schiller: Vorträge aus Anlaß seines 225.
Geburtstages. Hg. von Grathoff, Dirk / Leibfried, Erwin. Frankfurt/Main 1991, S.
112-132; weiterhin: Sutermeister, Hans Martin: Schiller als Arzt. Ein Beitrag zur Ge-
schichte der psychosomatischen Forschung. Bern 1955 (= Berner Beiträge zur Geschichte
der Medizin und der Naturwissenschaften 13), S. 19-27.
19 NA 22, 354.
20 NA 21, 124. Riedel: Anthropologie, S. 3.
teste „Streitschrift“21 des Karlsschülers, die nicht ohne Grund den ent-
schiedenen Widerspruch der Fachgutachter provozierte.22 Es ließe
sich geradezu die These vertreten, dass die Fieberschrift mehr als die
anderen beiden Dissertationen motivische und strukturelle Nuklei
der poetischen Produktion bereithält; in ihr wird das praktisch-
medizinische Substrat greifbar, von dem die frühe Lyrik (Anthologie),
Dramatik (Räuber) und Epik (Geisterseher) zehren. Fieber ist – das
wird zu zeigen sein – beim frühen Schiller zugleich pathologische wie
poetologische Leitkategorie, eine Chiffre des psychophysischen Aus-
nahmezustandes, der verlorenen Mittellage und Temperatur, an der
zwischen Anthologie und Räubern, Fieberschrift und Versuch in kon-
tinuierlicher „Vieläugigkeit“23 und Diskursvermengung gearbeitet
wird. Die Fäden schießen dabei zwischen Medizin und Dichtung hin-
und her. Die Ökonomie der Ekstasen, Delirien und Ausnahmezu-
stände wird das eine Mal medizinisch-normativ, das andere Mal poe-
tisch-experimentierend vorgeführt. Um das Phänomen Fieber for-
miert sich eine zugleich medizinische und poetische Weltanschauung.
So wird verständlich, warum Schiller sogleich bei der Wahl eines
zweiten, praxisnäheren Dissertationsthemas nach dem abgelehnten
ersten Versuch auf den Fieber-Komplex zugeht.24
3. Die Auseinandersetzung mit Schillers medizinischen Schriften
steht, sofern sie nicht fachgeschichtliche Rekonstruktion sein will, in
ideen- und quellengeschichtlicher Perspektive. Die Austauschprozesse
zwischen Pathologie und Poetologie wurden daher zumeist nur da-
raufhin untersucht, inwiefern hier Wissen in Literatur implementiert
wird. Die These von der „Gleichursprünglichkeit“25 von Ästhetik
und Anthropologie, der Verschränkung von „Wissenspoetik“ und
poetischem Wissen wird kaum einmal in ihrem vollen Umfang ernst
––––––––––––––
21 Ebd. S. 2.
22 Vgl. das Gutachten der Leibärzte Reuß und Consbruch sowie des Chirurgen Klein,
abgedruckt in SW, Bd. 5, S. 1314f. Anm. 4.
23 Oesterle, Günter: Exaltationen der Natur. Friedrich Schillers Semele als Poetik tödli-
cher Ekstase. In: Braungart, Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben,
Denken und literarisches Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und
allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6), S. 209-220, hier S. 213.
24 Die Themenwahl war weithin den Kandidaten überlassen. So unterbreitete Schiller
nach Ablehnung der ersten Dissertation seinen Lehrern zwei Themen für eine weite-
re Streitschrift: „I. Ueber den großen Zusammenhang der thierischen Natur des Men-
schen mit seiner geistigen. II. Ueber die Freiheit und Moralität des Menschen“ NA 21,
124. Publiziert in Morgenblatt für gebildete Stände (Nr. 70-72), 1847. Ob für die Fie-
berschrift ein ähnlicher schriftlicher Vorschlag eingebracht wurde, ist wohl nicht
mehr zu klären. Riedel: Anthropologie, S. 2f.
25 Zelle, Carsten (Hg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der
Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 (= Hallesche
Beiträge zur europäischen Aufklärung 19).
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31 Müller: Kommentar, SW, Bd. 5, S. 1322.
32 NA 21, 124.
33 Georg Friedrich Sigwart: De febre tertiana intermittente soporosa ut plurimum funesta,
feliciter tamen curanda. Diss. Tübingen 1759, S. 3 (§ 1, Vorrede): „Dum alii morbi
non nisi partem aliquam corporis humani infestant, hic totum, quantum quantum
est, corpus pervadit torquetque: unde merito a Medicis universalis morbi nomen re-
portavit.“ Den besten Überblick über die Geschichte des Fiebers bietet Bynum,
Wiliam F. / Nutton, Vivian (Hg.): Theories of Fever from Antiquity to the Enlighten-
ment. London 1981 (= Medical History, Supp. 1).
34 Müller: Kommentar; SW, Bd. 5, S. 1316.
35 Kommentar NA 22, 354.
36 Einen Eindruck von der Fülle der Fieberarten vermittelt Friedrich Hoffmanns
Medicina rationalis, die eine mehr als 300 Seiten umfassende systematische Beschrei-
bung aller Fieberarten enthält. Hoffmann, Friedrich: Medicina rationalis 1737, S. 1-
320.
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gie. Frankfurt/Main u.a. 1991, S. 33f. Zum Modell der Säftelehre und seinem Umbau
zum verschlossenen Körper Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 54-66.
47 SW, Bd. 5, S. 1066: „Caussa antecedens omni Febrium phlogisticarum cohorti com-
munis Plethora habetur. Plethora quidem ex vulgari medicorum sententia justo major
est Sanguinis in systemate vasorum accumulatio, quam ad sustinendum actionum vi-
gorem requiritur.“ Vgl. Herman Boerhaave: De cognoscendis et curandis morbis apho-
rismi una cum eiusdem de materia medica et remediorum formulis libello. Leip-
zig/Frankfurt 1758 (hier Aphorismus 106): „Plethora est copia boni sanguinis maior
quam ferre possit eas mutationes, quae vitae ineuitabiles accidunt, nisi inducantur
morbi.“
48 SW, Bd. 5, S. 1084f.
49 Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Mün-
chen 72005 (zuerst 1963), S. 23: „essentielle(n) Krankheit.“
50 SW, Bd. 5, S. 1064.
51 Sutermeister: Schiller als Arzt, S. 27 spricht ein wenig einseitig von Schillers „gewalt-
same(r) Schematisierung des Krankheitsgeschehens“, die dazu geführt habe, dass er
„seine Patienten, wie auch sich selbst, allzu schematisch und daher vielfach unglück-
lich behandelte.“
––––––––––––––
52 Foucault: Geburt der Klinik, S. 20.
53 Lesky, Erna: Medizin im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1968, S. 77-99, S. 88;
Karst, Wilhelm: Zur Geschichte der natürlichen Krankheitssysteme. Berlin 1941; Gold-
schmid, Edgar: Nosologia naturalis. In: Science, Medicine and History. Hg. von Edgar
Ashworth-Underwood. Bd. 2. Oxford 1953, S. 103-122. Die klassische Studie, die ma-
terialreich über die Prinzipien der Nosologie naturelle informiert, ist Michel Foucaults
Die Geburt der Klinik, hier bes. S. 19-37 und 186-205 („Die Krise der Fieber“); fortge-
führt von Wolf Lepenies in: Das Ende der Naturgeschichte und der Beginn der Mo-
derne. In: Koselleck, Reinhart (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart
1977, S. 317-351, hier bes. S. 331-338 („Von der Nosographie zur Krankengeschich-
te“); modifiziert in ders.: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstver-
ständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main
1978, hier S. 78-87 („Von der Nosographie zur Krankengeschichte“).
54 Lepenies: Studien, S. 332.
55 SW, Bd. 5, S. 1130 (§ 32): „[U]niversum genium morbi“ (1130).
56 Hartmann, Fritz: Thomas Sydenham (1624-1689). In: Engelhardt, Dietrich von /
Hartmann, Fritz (Hg.): Klassiker der Medizin. Bd. 1: Von Hippokrates bis Christoph
Wilhelm Hufeland. München 1991, S. 154-172, hier S. 155.
57 SW, Bd. 5, S. 1144.
58 Probst, Christian: Der Weg des ärztlichen Erkennens am Krankenbett. Herman
Boerhaave und die ältere medizinische Schule. 2 Bde. Wiesbaden 1973, hier Bd. 1: (1701-
1787). Wiesbaden (= Sudhoffs Archiv, Beiheft 15), S. 27.
59 Hartmann: Sydenham, S. 160.
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(des Typus) betrachtet, bedeutet für Hippokrates Krankheit „die Vielheit der Er-
krankungen“, wobei sich jeder Erkrankungsfall „auf den ganzen Menschen“ bezieht.
Temkin: Krankheitsauffassung, S. 340. Anders als für Sydenham war für Hippokrates
„die Unterordnung eines Kranken unter einen bestimmten Krankheitstypus nicht das
erstrebenswerte Ideal“; für ihn gab es „nur eine unzählige Menge von ‚Fällen’ kranker
Menschen […] und gerade die Erkenntnis der Eigenart jedes einzelnen ‚Falles’ [macht]
das wesentliche aus.“ Ebd. S. 337.
69 Sydenham: Observationes, Fol. a6v.
70 Das Motto erscheint zum ersten Mal im „Scholium generale“ im Anhang der 2. Aus-
gabe der Principia (1713). Newton, Isaac: Philosophiae naturalis principia mathematica,
the third edition (1726). Hg. von Alexander Koyré und I. Bernhard Cohen. 2 Bde.
Harvard 1972, hier Bd. 2, S. 764.
71 Riedel: Anthropologie, S. 102.
72 Ebd.
73 SW, Bd. 5, S. 1056: „nec scientiam, hominum saluti innixam inani Theoria exhauriri
posse, facile credo.“
74 Sydenham: Observationes, Fol. A3r: „[I]n scribendâ morborum Historiâ, seponatur
tantisper oportet quaecunque Hypothesis Philosophica, quae scriptoris judicium
praeoccupaverit.“
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75 Ebd. Fol. a2r: „Primò, expedit ut morbi omnes ad definitas ac certas species revocen-
tur, eâdem prorsus diligentiâ ac aökribeißa# quâ id factum videmus à Botanicis scripto-
ribus in suis Phytologiis. Quippe reperiuntur morbi qui sub eodem genere ac Nomen-
claturâ redacti, ac quoad nonnulla symptomata sibi invicem consimiles, tamen & na-
turâ inter se discreti diversum etiam medicandi modum postulant.“ Übersetzungen –
wo nicht anders vermerkt – vom Verf.
76 Pichot, Pierre: The Concept of Psychiatric Nosology. In: Schramme, Thomas /
Thome, Johannes: Philosophy and Psychiatry. New York u.a. 2004, S. 83-93, hier S. 83;
Foucault: Geburt der Klinik, S. 102-120.
77 Die Brücke zwischen den Disziplinen bildeten seine Lehrverpflichtungen über
Materia medica (pharmazeutische Botanik), die in der Ausbildung der Mediziner eine
bedeutende Rolle spielte. Jahn: Biologische Fragestellungen, bes. S. 236; Jahn, Ilse /
Schmitt, Michael: Carl Linnaeus (1707-1778). In: Dies. (Hgg.): Darwin & Co. Eine Ge-
schichte der Biologie in Portraits. München 2001, S. 9-30 (bes. S. 23-28); Goerke, Heinz:
Carl von Linné. Arzt – Naturforscher – Systematiker. Stuttgart 1989, S. 133-150 („Arzt
und Lehrer der Heilkunde“), hier S. 135; Hjelt, Otto Edvard August: Carl von Linné
als Arzt und seine Bedeutung für die medicinische Wissenschaft. Ein Beitrag zur Geschich-
te der Medicin. Leipzig 1882; Lefèvre, Wolfgang: Die Entstehung der biologischen Evolu-
tionstheorie. Frankfurt/Main 2009, S. 210-245.
1.3. Ordnungswissen
Mag der junge Schiller wiederholt gegen die „Spinnweben von Syste-
men“ zu Felde ziehen, so bleibt doch der taxonomische Impuls so-
wohl in der ästhetischen Theorie als auch in der Dichtung gegenwär-
tig. „Der Mensch“, schreibt Schiller in der Geschichte des Abfalls der
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83 Vgl. Schlegel: Fragmente [345]: „Es wäre zu wünschen, daß ein transzendentaler Lin-
né die verschiedenen Ichs klassifizierte und eine recht genaue Beschreibung derselben
allenfalls mit illuminierten Kupfern herausgäbe, damit das philosophierende Ich nicht
mehr so oft mit dem philosophierten Ich verwechselt würde.“ KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S.
226. Dagegen in der Lucinde: „Darum gibt es in der weiblichen Liebe keine Grade
und Stufen der Bildung, überhaupt nichts allgemeines; sondern so viel Individuen, so
viel eigentümliche Arten. Kein Linné kann uns alle diese schönen Gewächse und
Pflanzen im großen Garten des Lebens klassifizieren und verderben.“ Ebd. 1. Abt.
Bd. 5, S. 22.
84 NA 16, 9.
85 Eine ironische Wendung gibt Schiller dem Taxonomieprojekt in der dritten Disserta-
tion. Deren Physiognomie-Kapitel (§ 22) schließt mit einem süffisanten Ausblick auf
die von Lavater geplante „Physiognomik organischer Theile, z.E. der Figur und
Grösse der Nase, der Augen, des Mundes, der Ohren u.s.w. der Farbe der Haare, der
Höhe des Halses u.s.f.“, deren Durchführbarkeit Schiller bezweifelt. In dieser Auf-
zählung sind Äquivalente zu den 26 Einzelcharakteristiken des Linnéschen Gattungs-
systems benannt, und so kann Schiller Linné und Lavater – selbstverständlich iro-
nisch – in eine ‚Klasse’ ordnen: „Wer die launichten Spiele der Natur, die Bildungen,
mit denen sie stiefmütterlich bestraft, und mütterlich beschenkt hat, unter Klassen
bringen wollte, würde mehr wagen, als Linné, und dürfte sich sehr in Acht nehmen,
daß er über der ungeheuren kurzweiligen Mannigfaltigkeit der ihm vorkommenden
Originale nicht selbst eines würde.“ NA 20, 70.
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93 Kant: Werke, Bd. 8, S. 422 (Kritik der Urteilskraft). Ausdrücklich distanziert sich Kant
in der Fußnote sogar von jedem systematischen Interesse: „Der Leser wird diesen
Entwurf zu einer möglichen Einteilung der schönen Künste nicht als beabsichtigte
Theorie beurteilen. Es ist nur einer von den mancherlei Versuchen, die man noch an-
stellen kann und soll.“
94 Koopmann, Helmut: Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant. In: Ders.
(Hg.): Schiller-Handbuch, S. 575-586, hier S. 578 (bezogen auf Ueber die tragische
Kunst).
95 NA 20, 136 bzw. 137.
96 Zelle: Über den Grund des Vergnügens, S. 370.
97 NA 20, 139.
98 Zelle: Über den Grund des Vergnügens, S. 373.
99 Borgards, Roland: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büch-
ner. München 2007.
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oder „Reich der blinden Masse“ (S. 398) über die „niedrigsten Naturen“ bis zum
„Reich des schönen Scheins“, das sich in der scala naturae „aufwärts“ erstreckt, „bis
wo die Vernunft mit unbedingter Nothwendigkeit herrscht und alle Materie aufhört“
(S. 411). Es wäre reizvoll, die beiden kultur- und entwicklungsgeschichtlichen
Schlussbriefe der Ästhetischen Erziehung, in denen systematisch die Anthropogenese
einbezogen wird, einmal konsequent vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bio-
logie (richtiger: der Zoologie) und Naturgeschichte zu lesen. Schiller als Biologe –
von dieser Hypothese her könnte noch einmal neues Licht auf die notorisch irisie-
rende Metaphorologie des Politischen fallen. Möglicherweise hat Schiller eine plato-
nische Ontologie (vgl. Das Reich der Schatten), die seit den Philosophischen Briefen im
Bild von der „Leiter“ der Wesen bzw. der „tausendfache(n) Stuffen / zahlenloser
Geister“ präsent war, vor dem Hintergrund botanisch-zoologischer Taxonomien
reformuliert.
109 So die Einschätzung von Dewhurst / Reeves: Schiller, S. 248.
110 SW, Bd. 5, S. 1314.
111 Dewhurst / Reeves: Schiller, S. 249.
112 NA 1, 166 (Resignation; v. 54).
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113 NA 20, 108 (Philosophische Briefe).
114 Exemplarisch: Marquard, Odo: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Phi-
losophie des 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische
Studien. Stuttgart 2005, S. 39-59.
115 Sydenham: Observationes, S. 1. (Sectio prima, Caput I De morbis Acutis in genere):
„Dictat ratio […] Morbum, quantumlibet ejus Causae humano corpori adversentur,
nihil esse aliud quàm Naturae conamen, materiae morbificae exterminationem, in ae-
gri salutem, omni ope molientis.“
116 Ebd. S. 2: „Hisce rerum circumstantiis, ita intimè essentiae humanae intertextis com-
plicatisque, ut nemo quisquam se ab illis in solidum queat liberare, Natura de ejus-
modi methodo ac symptomatum concatenatione sibi prospexit, quibus materiam
peccantem atque alienam, quae totius Fabricae compagem aliter solveret, è suis fini-
bus possit excludere.“
117 Ebd. S. 3: „Ipsa Pestis quid, obsecro, aliud est quàm Symptomatum complicatio, qui-
bus utitur natura ad inspiratas unà cum aere particulas miasmvßdeiw, per emunctoria,
Apostematum specie vel aliarum eruptionum operâ, excutiendas?“
118 Ebd. S. 45: „Profecto enim est Febris ipsa Naturae instrumentum, quo partes impuras
à puris secernat.“
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119 Foucault: Geburt der Klinik, S. 191.
120 Sydenham: Observationes, Fol (a7)r-v: „[U]nde etiam non aliam Arti demandat
provinciam, quàm ut deficienti naturae succurrat, effraenam coerceat & in ordinem
redigat; utrumque verò hoc, tum passu illo, tum etiam methodo quibus.“
121 SW, Bd. 5, S. 1074.
122 Ebd. S. 1062: „Haec vero lex, tantum abest, ut in salutem hominis cedat, ut potius so-
la sit eademque, quae Morbos procreat, procreatos graves reddit ac internecinos.“
123 Ebd. S. 1062: „Non myasma in Sanguinem resorptum vitae periculum induceret, at
quoties induxit importunus Naturae impetus ad istud eliminandum?“
124 Ebd. S. 1062: „In activo itaque Naturae adversus morbosam materiam conatu et
Morbus et Morbi gravitas collocata est.“
zeugung gelangt, daß die Ordnung der Natur der Dinge nicht so be-
schaffen ist, wie wir sie uns in unseren Lehrbüchern zurechtlegen“.125
Es ist dies eine dunkle und skeptische Naturordnung, eine Inver-
sion der Sydenhamschen guten Natur. Auch die vermeintlich so pe-
destre Fieberschrift enthält eine implizite Philosophie der Krankheit,
die sich nur zwischen den Zeilen, in lakonischen Seitenbemerkungen
oder Metaphern artikuliert.126 Für Schiller ist der Mensch schwach,
das Leben „zerbrechlich“127. Sydenham wird zur Zielscheibe, weil
Schiller allergisch auf seinen zutiefst optimistischen, von der Leib-
niz’schen Theodizee und der Physikotheologie geprägten Naturbe-
griff reagiert.128 Zumal die Observationes zeigen, dass Sydenhams No-
sologie „nicht frei [war] von religiösen Überzeugungen und naturphi-
losophischen Voraussetzungen“.129 Schon die oben zitierte Stelle aus
dem Kapitel über akute Krankheiten zeigt die kryptometaphysische
Rechtfertigungs- und Kompensationsstruktur seines Denkens. Gott
hat dem Menschen die Anfälligkeit für Krankheiten verliehen, ‚kom-
pensiert’ dies jedoch durch eine ‚gute’, zur Selbstheilung fähige Na-
tur. Auch das „Moment des Systemischen“,130 die botanische Taxo-
nomie der Krankheiten und die Lehre von den festen (zeitlichen und
morphologischen) Verlaufsgestalten zeigt einen ausgeprägten ordo-
Sinn: „Krankheiten sind nicht unordentliche Veranstaltungen der Na-
tur, sondern sie haben ihre gesetzmäßigen Ordnungen“.131 Sie folgen
daher „nicht geringeren Gesetzen […] als die „Kreuzung der Pflanzen
und Tiere […]“. Konstanz, Hierarchie und Analogie beherrschen als
immanente Strukturgesetze die große Kette der Krankheiten:
Wer aufmerksam die Anordnung, die Zeit und die Stunde beobachtet, in der
das Quartanfieber auftritt, sowie die Erscheinungen des Schüttelfrostes, der
Hitze und die anderen spezifischen Symptome, wird ebenso viele Gründe
haben, zu glauben, dass diese Krankheit eine Art ist, wie er Gründe hat zu
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125 Ebd. S. 1064: „Ego quidem per varios Errorum labyrinthos ad persuasionem tandem
perductus sum, talem ordinem non esse in rerum natura, qualem in nostris compen-
diis concinnamus.“
126 So etwa Ebd. S. 1067: „[H]oc unum est quod boni natura molitur.“
127 NA 3, 40.
128 Vgl. Temkin, Owsei: Thomas Sydenham und der Naturbegriff des 17. Jahrhunderts.
In: Internationale Beiträge zur Geschichte der Medizin. Festschrift für Max Neuburger.
Wien 1928, S. 287-295.
129 Hartmann: Sydenham, S. 166.
130 Temkin: Naturbegriff, S. 290. Vgl. S. 292: „Das Prinzip der Ordnung tritt in den Vor-
dergrund, der Versuch der Systematisierung durchdringt das Ganze“, und S. 293:
„Die gesetzmäßig waltende Natur offenbart sich in der gesetzmäßigen Hervorbrin-
gung verschiedener, aber bestimmter Arten.“
131 Hartmann: Sydenham, S. 167.
glauben, dass eine Pflanze eine Art bildet, da sie immer in derselben Weise
wächst, blüht und abstirbt.132
Gegen die Autorität der Lehrer und Lehrbücher entwirft Schiller ein
Bild der Natur, das die feindselige Unzweckmäßigkeit der Schöpfung
gegenüber dem Menschen voraussetzt.133 Dieser bis zum Zynismus
skeptische Naturbegriff bestimmt auch die zeitgleich entstandene
dritte Dissertation, den Versuch ueber den Zusammenhang der thieri-
schen Natur des Menschen mit seiner geistigen, der sich in vielen Aspek-
ten mit der Fieberschrift deckt. Auch hier wird die konstitutive
Schwäche und Anfälligkeit des Menschen betont; umgekehrt er-
scheint eine Natur, die dem Menschen alles andere als gütig oder heil-
sam, sondern in feindlicher Indifferenz gegenüber steht. Aus dieser
condition humaine entwickelt der Versuch nun jedoch seinen optimis-
tischen Impuls. Im Sinne der humanistischen Diskurstradition De
hominis dignitate entwickelt Schiller aus dem malum von Schwäche,
Krankheit und Tod das bonum des menschlichen Kulturauftrages. §
11 bildet in Anlehnung an Schlözer das Grundschema einer erhabe-
nen Zivilisationsgeschichte, die dem Schema bonum durch malum,
genauer: Kultur durch Krankheit folgt. Fortschritt und Zivilisation
verdanken sich „Hunger und Blösse“134, die „Dürftigkeit der mütterli-
chen Gegend“135 stimuliert Gemeinschaftsbildung und Zivilisierung.
Es sind „Noth und Neugierde“, welche die Medizin entdecken helfen,
indem sie „die Schranken des Aberglaubens“136 überwinden. Die Me-
dizin ist ein Akt der Auflehnung gegen die Natur. Sie schafft durch
Empirie und Autopsie erst die Selbsterkenntnis des Menschen als
Menschen. Dieser „ergreift muthig das Messer – und hat das gröste
Meisterstück der Natur den Menschen entdekt“.137
Damit ist die einfache Teleologie à la Leibniz durch eine höhere,
dynamisch-dialektische ersetzt. Ein erstes Mal erprobt Schiller damit
jene universalhistorische Theodizee, die als Programm in der An-
trittsvorlesung wiederkehren wird.138 Die höhere List der Natur be-
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132 Foucault: Geburt der Klinik, S. 23. Sydenham nach Boissier de Sauvages: Nosologie
méthodique. Bd. 1, Lyon 1772, S. 124f.
133 Leider berücksichtigt die verdienstvolle Studie von Hans Lutz: Schillers Anschauungen
von Kultur und Natur. Berlin 1928 (Ndr. Nendeln 1967) (= Germanische Studien 60)
die Fieberdissertation nicht. Vgl. den Hinweis auf das illusionslose Naturbild des Ver-
suchs ebd. S. 12.
134 NA 20, 53.
135 NA 20, 54.
136 NA 20, 55.
137 NA 20, 55f.
138 NA 17, 369: „Das unerträgliche Elend der Barbarey mußte unsre Vorfahren von den
blutigen Urtheilen Gottes zu menschlichen Richterstühlen treiben, verheerende Seu-
chen die verirrte Heilkunst zur Betrachtung der Natur zurückrufen, der Müßiggang
Lässt man die Bilder auf sich wirken, die der Fiebertraktat zur Cha-
rakterisierung Krankheitsentstehung aufbietet, so zeichnen sich Un-
terschiede zu Sydenhams Darstellung deutlich ab. Schon auf den ers-
ten Blick fällt auf, dass in die Schrift zahlreiche „in der Medizin sonst
ungebräuchliche militärische Metaphern“ einfließen142. Irmgard Mül-
lers Hinweis, diese seien „dem Abfassungsort, der Militärakademie,
geschuldet“143, greift jedoch ebenso zu kurz wie die Annahme, die Fie-
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der Mönche mußte für das Böse, das ihre Werkthätigkeit schuf, von ferne einen Er-
satz zubereiten.“
139 NA 20, 56.
140 NA 20, 72 (§ 24).
141 NA 20, 75.
142 Müller: Kommentar; SW, Bd. 5, S. 1323.
143 Ebd.
berschrift sei „bis auf ein Shakespeare- und latentes Vergil-Zitat frei
von poetischen Versatzstücken geblieben“.144 Beinahe das Gegenteil
scheint der Fall. Auf einer strukturellen und metaphorologischen
Ebene sind die intertextuellen Bezüge (zur antiken Dichtung) wie die
Analogie des Krankheitsgeschehens zu poetischen Formen (Drama)
so sehr in die Tiefenstruktur des Textes eingelagert, dass sie die fach-
medizinische Auseinandersetzung mit den Koryphäen der Nosologie
hervortreiben und befeuern. Die Analyse der Bildlichkeit bietet daher
eine Möglichkeit, die Fieberschrift als proto-ästhetischen Text in die
Kryptogenese der Schiller’schen Ästhetik einzubeziehen.
Im Zentrum dieser Protoästhetik stehen Figuren der Anfechtung
und des Widerstandes, die sich zu einer Theorie des physiologisch
Erhabenen zusammenschließen. Die Fieberschrift zeichnet ein Bild
des Lebens als Kampf gegen eine prinzipiell feindliche, aggressive und
„invasive“ Natur. Die Auseinandersetzung zwischen Krankheit und
Körper gleicht einer Belagerung, bei der je nach Fieberart unter-
schiedliche Strategien zur Anwendung kommen. Das Fieber greift
entweder „in offener Feldschlacht“ die „Kräftigen“ an oder bedient
sich der Heimtücke und des „Scheins von Gutartigkeit“, um sich den
bereits Geschwächten zu nähern. Der Beginn der Erkrankung ähnelt
einem Sturmangriff („insultus“145) bzw. einem Verteidigungskampf
gegen feindliche Invasoren: „Die Seelenkräfte werden zum Angriff ge-
führt wie gegen etwas Fremdes“.146 An anderer Stelle „führt die ange-
schwollene, faulige Galle das schreckliche Heer der Symptome“ an.147
Der geschlossene Säftekörper erscheint als Bastion, zu deren Be-
hauptung der Körper die „Truppen“ der Seelenkräfte in Bewegung
setzt. Dass es gerade dieser Widerstand ist, der sich gemäß der Maxi-
me „materia morbosa per se hostilis non est“ gegen die eigene Ökono-
mie kehrt, ist eine Wendung, die Schiller mit tragisch-ironischer Süf-
fisanz gegen das an Leibniz gemahnende Dogma der Güte und
Zweckmäßigkeit der Natur, und damit gegen die Autorität Syden-
hams und der eigenen Lehrer schleudert. Literarisch liest sich die
Symptomatologie des Fiebers (§ 8) wie ein allegorisches Epos, eine
Psychomachie oder richtiger Physiomachie, bei der die Symptome wie
autonome und dämonische Wesen den Körper des Erkrankenden be-
––––––––––––––
144 Ebd. S. 1317.
145 Ebd. S. 1058.
146 Ebd. S. 1072-1074 (§ 8): „Vires animales in impetum aguntur, quasi peregrinum quid
intus lacessat, ad quod abigendum omnis machina sese accingit, hinc Algores praecur-
runt.“ Vgl. S. 1072: „[S]timulum autem Spiritus animales densiore agmine ad loca
stimulata rapere supra monitum est.“
147 Ebd. S. 1104: „Turgens putrida Bilis Symptomatum agmen ducit atrocissimum.“
Moor, den Schiller auf einen „Trabanten der Hölle“ einquartiert wis-
sen will155, gebärdet sich dabei wie Klopstocks Satan, der seine hölli-
schen Arsenale in Bewegung setzt, um – wie die „Pest in mitternächt-
lichen Stunden“156 – Judas zum Abfall von Jesus zu bewegen: „So fall
ich Streich auf Streich, Sturm auf Sturm dieses zerbrechliche Leben
an, bis den Furientrupp zuletzt schließt – die Verzweiflung! Triumf!
Triumf!“157 Die eigentliche Pointe von Franzens psychopathologi-
scher Registerarie erschließt sich nur vor dem doppelten Hintergrund
einer essentialistischen Nosologie, die Krankheiten als personale Enti-
täten auffasst, sowie einer allegorischen Manier, die sich aus einer lan-
gen Tradition vergilischer Epik mit ihren obligaten Unterweltsgän-
gen und allegorischen Chargen speist. Schon die Fieberschrift enthält
daher, wo sie die physiologischen Folgen psychologischer Schwächen
beschreibt, den Grundriss des Franz’schen Monologs:
Deshalb pflegen die alltäglichen Gemütsbewegungen Gemütsbewegungen
wie Unwillen, verzehrender Zorn, Kummer, Ekel, Heimweh und Melan-
cholie eingedrungene Krankheitsstoffe, ja sogar selbst Wunden einer fauli-
gen Krankheit Angriffspunkte zu bieten.158
Diese Erkenntnis – „Leidenschaften mißhandeln die Lebenskraft“ –
bietet das Fundamentalgesetz, auf dessen Grundlage nun Franz seine
höllischen Heerscharen in Bewegung zu setzen unternimmt. Es sind
teils dieselben „Gattungen von Empfindnissen“, die schon in der Fie-
berschrift genannt werden. Franzens „Arsenal des Todes“ ist ein in-
fernales Bestiarium, in dem sich Physiologie und Physiologus nahe
kommen nach dem Schema: „Zorn? – dieser heißhungrige Wolf frißt
sich zu schnell satt – Gram? – Dieser Wurm nagt mir zu langsam –
Sorge? – diese Natter schleicht mir zu träge“.159
––––––––––––––
anregende Studie von Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramatische
Anthropologie. Heidelberg 2008, hier S. 191-233.
155 NA 22, 122 (Selbstbesprechung der Räuber).
156 Klopstocks Werke in einem Band. Ausgew. und eingel. von Karl-Heinz Hahn. Ber-
lin/Weimar 1985, S. 23 (Messias, 3. Buch).
157 NA 3, 40.
158 SW, Bd. 5, S. 1102 (§ 20): „Diuturni itaque animi adfectus, quales sunt Indignatio siva
Ira depascens, moeror, taedium, nostalgia et Melancholia, miasmata introducta, quin
ipsa Vulnera morbo putrido ansam praebere consueverunt.“
159 NA 3, 39. Auf die Tiere folgen dann konsequent die Dämonen und Teufel christli-
cher Anfechtung: „Reue, höllische Eumenide“ und am Ende des „Furientrupp(s)“
eben die „Verzweiflung.“
ist182. Nun wirkt das Fieber wiederum zurück auf den Geist. „Die
Krankheit verstöret das Gehirn, und brütet tolle und wunderliche
Träume aus“183, etwa jenes „leibhaft Konterfey vom jüngsten Tage“,
das Franz im Anschluss schildert184. Was Franz hier halluziniert und
Schiller literarisch imaginiert, entspricht den Unterwelts- und Pest-
phantasien der Anthologie mit ihren Höllenvisionen und Schreckbil-
dern der letzten Dinge: „Hohl und hager, wandelnde Gerippe, / Keu-
chen sie in des Cocytus Boot.“ In beiden Fällen, in den Räubern wie
im Anthologie-Gedicht, handelt es sich um Fieberträume, Halluzina-
tionen von „Febrizitanten“, die poetisches Kapital aus der empiri-
schen Nosologie schlagen, die Delirien des Fiebers nun zu poetischen
Imaginationen ausbauen.185 Was Franz betrifft, so ist er nicht nur „als
Denker blamiert“186, sondern auch als Mediziner. Der „gescheite“
Arzt ist am Ende ein gescheiterter, der sich in der Ätiologie seiner
Krankheit und ihrer Symptome gründlich verschätzt hat. Schon der
materialistischen These, dass „unser Wesen nichts ist als Sprung des
Geblüts“187, widerspricht Schillers eben zitierte psychologische Ablei-
tung physiologischer Vorgänge.
Franzens diagnostische Irrtümer werden erst vor dem Hinter-
grund des medizinischen Wissens der Fieberschrift deutlich. Wo
Franz die Seele schlechthin auf eine Funktion des Körpers reduziert,
wertet Schiller diesen radikalen Materialismus als Symptom und
„Fieberparoxysmus“ des freidenkerischen Zweifels ab. In Wirklich-
keit ist es der Geist, der hier den Körper baut resp. abbaut. Ein zwei-
tes Mal täuscht sich Franz in der Ursache seiner Traumdelirien. Die
kommen nämlich nicht „aus dem Bauch“, worauf der Fieberspezialist
Schiller in einem seiner polemischen Seitenhiebe auf Autoritäten der
Medizin, „die ein Delirium nur gelten lassen, wenn es aus dem tiefs-
ten Teil des Unterleibes heraus ein sympathetisches ist“188, hinweist.
Mit der Vision des Jüngsten Gerichts hat das Fieber – wie das Drama
– seinen Höhepunkt erreicht. Das hitzige Fieber geht durch „Ver-
schlimmerungen“ seinem Höhepunkt zu, dessen Symptomatologie
Schiller in § 10 beschreibt. Auch für den delirierenden Franz „besteht
––––––––––––––
182 Ebd. Zum Aderlass vgl. SW, Bd. 5, S. 1082: „Rerum faciendarum summa in sanguinis
missione collocata est.“
183 NA 3, 118
184 NA 3, 119.
185 Auch Karl Moor erlebt einen Fieberparoxysmus, verbunden mit halluzinativen Visi-
onen und Bildern (NA 3, 80: „Oh all ihr Elisiums Scenen meiner Kindheit“).
186 Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 207.
187 NA 3, 121.
188 SW, Bd. 5, S. 1079 (§ 9): „Dantur, qui delirium non admittunt, nisi ex imo ventre
sympathicum multisque sententiam speciosis adornant ratiunculis […].“
Der Tod, schreibt Benno von Wiese, ist in den Laura-Gedichten der
Anthologie auf das Jahr 1782 „der unheimlich anwesende, unerwünsch-
te Gast“.193 Es ist daher nur folgerichtig für den Regimentsarzt und
Angehörigen des „äskulapischen Orden(s)“, wenn die Sammlung auch
––––––––––––––
189 SW, Bd. 5, S. 1081 (§ 10).
190 NA 22, 131.
191 SW, Bd. 5, S. 1058.
192 NA 3, 14.
193 Wiese: Schiller, S. 126.
„meinem Prinzipal dem Tod zugeschrieben“ wird.194 Der Arzt als Zu-
arbeiter des Todes – auf diesen Gedanken, der in der Anthologie in
verschiedenen satirischen Epigrammen weitergeführt wird, fällt von
den Räubern wie von den medizinischen Schriften ein eigenes Licht,
das die Ebene der „reinen Fachsimpeleien“ und die Analogie der „stu-
dentischen Bierzeitung“ durchaus übersteigt.195 Auch in der Antholo-
gie zeigt sich Schiller als poeta medicus, auch sie ist in ihren anthropo-
logischen Konturen nur als konzertierte Aktion des Dichter-Arztes
denkbar. Kontinuitäten zu den Räubern sind unübersehbar. Spiele-
risch schlüpft Schiller noch einmal in die Rolle des Franz Moor und
stellt sich als „umgekehrter“ Arzt vor, der „unsterbliche Fehde deiner
Erbfeindin Natur“ geschworen habe, „sie zu belagern mit Medika-
menten Heereskraft, eine Wagenburg zu schlagen um die Stahlische
Seele“.196 Treibt die Vorrede mit dem Tod ihr satirisch-mutwilliges
Spiel (etwa mit der Bitte, der Tod wolle diese Anthologie nicht ver-
schlingen wie die „Sächlein der Vorgänger“, z.B. Stäudlin), so stimmt
sie doch ein unfrohes „Hauptthema“197 der Sammlung an, das in einer
Serie von „Todesgesänge(n) in barocker Motivik“198 kulminiert. Die
Anthologie weist innerhalb von Schillers Lyrik „die reichste Bebilde-
rung des Todes“ überhaupt auf.199
––––––––––––––
194 NA 22, 83. Der Text ahmt Claudius’ Vorrede zum Wandsbecker Boten (1774) und de-
ren Monolog über „Freund Hain“ nach. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 226. Zur Anthologie
Ebd. S. 225-236; Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen/Basel 2005, S. 182-197;
Kurscheidt, Georg: Schiller als Lyriker. In: Ders. (Hg.): Friedrich Schiller: Gedichte.
Frankfurt /Main 1992, S. 749-803, hier S. 781-785; ders.: Anthologie auf das Jahr
1782. In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 491-505; Oellers, Norbert: Kom-
mentar zu Schillers Lyrik. In: NA 2/II B, S. 299-323; Hettner, Hermann: Schillers
Anthologie. In: Sturm und Drang. Hg. von Manfred Wacker. Darmstadt 1985, S. 397-
409; Wiese: Schiller, S. 115-135; Fechner, Jörg-Ulrich: Schillers ‚Anthologie auf das
Jahr 1782‘. Drei kleine Beiträge. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 17
(1973), S. 291-303; Mommsen, Katharina: Nachwort zu: Dies. (Hg.): Friedrich Schil-
ler: Anthologie auf das Jahr 1782. Stuttgart 1973 (= Sammlung Metzler 118), S. 3*-21*;
dort S. 6*-12* eingehend zur Vorrede.
195 Mommsen: Nachwort, S. 7.
196 NA 22, 83.
197 Mommsen: Nachwort, S. 8
198 Kurscheidt: Schiller als Lyriker, S. 782. Hier gilt allerdings (mit Gerhard Storz: Der
Dichter Schiller. Stuttgart 1959, S. 199): „Solche Ausblicke bleiben letztlich im Unbe-
stimmten.“ Genaueres bei Andrea Bartl: Schiller und die lyrische Tradition. In:
Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 117-136, hier S. 123-128. Dort jedoch S. 126
auch das Eingeständnis, „wie wenig gesichert gerade die These ist, Schillers Lyrik be-
ruhe in manchem auf barocken Strukturen.“ Stäudlin hatte jedenfalls dieselbe Intuiti-
on. In seinem Gedicht Das Kraftgenie verspottet er Schiller als den größten Geist „seit
Vater Lohenstein“ (v. 3).
199 Bartl: Schiller und die lyrische Tradition, S. 127.
––––––––––––––
215 NA 20, 65.
216 Ebd.
217 Koopmann, Helmut: Schillers Lyrik. In: Ders. (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 303-325,
hier S. 308.
––––––––––––––
Bassenge. Hg. von Werner Strube. Hamburg 21989 (= Philosophische Bibliothek
324), S. 87.
234 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid
Damm. Bd. 1. München/Wien 1978, S. 317. Dazu Beßlich, Barbara: Lenz und Petrar-
ca – Stationen einer literarischen Begegnung zwischen Anakreontik und Selbstkritik
des Sturm und Drang. In: Aurnhammer (Hg.): Petrarca in Deutschland, S. 361-374,
hier S. 370-374; einen vergleichbaren Ansatz zur Engführung von Lyrik und Anthro-
pologie, der die „formale Störung der Bildlogik“ zu erklären sucht, findet sich bei
Hannelore Schlaffer: Die Ausweisung des Lyrischen aus der Lyrik. Schillers Gedich-
te. In: Buhr, Gerhard / Kittler, Friedrich A. / Turk, Horst (Hg.): Das Subjekt der
Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser. Würzburg 1990, S. 519-532, hier S. 526: „Of-
fenbar folgt Schiller ganz dem Gebot der Odentheorie des Boileau und holt sich die
Legitimation für die Steigerung des „beau désordre“ ins Chaotische aus der Assoziati-
onenlehre seines Lehrers Abel.“
235 Regn: Petrarkismus, S. 911; im Blick auf den „ersten“ Petrarkismus vgl. Regn, Ge-
rhard: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien
zur Parte prima der Rime. Tübingen 1987 (= Romania Monacensia 25).
236 Der Begriff nach Hempfer, Klaus W.: Probleme der Bestimmung des Petrarkismus.
Überlegungen zum Forschungsstand. In: Stempel, Wolf-Dieter / Stierle, Karlheinz
(Hg.): Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. München
1987 (= Romanistisches Kolloquium 4), S. 253-277, S. 266. Folgende Texte sind dem
Komplex der Laura-Liebe zuzuordnen: Die Entzükung (NA 1, 23-24) – noch außer-
halb der Anthologie; Fantasie – an Laura (NA 1, 46-48); Laura am Klavier (NA 1,
53f.); Die seeligen Augenblike (NA 1, 64f.); Vorwurf – an Laura (NA 1, 92-94); Das Ge-
heimnis der Reminiszenz – An Laura (NA 1, 104-108); Melancholie an Laura (112-115);
außerhalb der Anthologie in der Thalia (1786) publiziert ist Freigeisterei der Leiden-
schaft – Als Laura vermählt war im Jahr 1782 (NA 1, 163-165). Erwähnt wird Laura
ferner in Resignation (1786).
dass „eine größere Menge Blutes zu dem Ort geworfen wird, an dem
das Hindernis festsitzt“.247 Die Lebenskraft ist „über die Maßen ange-
stachelt“ („vis Vitalis enormiter exaltata“)248, dies ist auf eine der „Ge-
legenheitsursachen“ zurückzuführen, die Schiller in § 6 erwähnt hat-
te: die „allzu heftigen Wallungen des Blutes, zu denen man Gemüts-
bewegungen ungestümerer Natur rechnet“249, aber auch einen „den
Genuss erhitzender Getränke“ oder einen „maßlosen Liebesgenuss“
(„Venerem immodice celebratam“250).
dem sich die „seelische Extremlagen“ der Schiller’schen Lyrik als pa-
thologische Extremisierungen abheben. Zielen die medizinischen
Schriften auf das Normale, so zeigt die Lyrik das pathologische Über-
schreiten des mittleren Zustands. Insbesondere der bereits oben ange-
sprochene § 16 des Versuchs ueber den Zusammenhang liest sich wie
ein Entwurf zu den Seeligen Augenbliken. Dort heißt es warnend und
ganz im Sinne des Freundes Elwert: „Die Freude tödet, wenn sie zur
Ekstasi hinaufsteigt, die Natur erträgt den Schwung nicht, in den in
einem Moment das ganze Nervengebäude geräth“.260 Die seeligen Au-
genblicke schildern solche Paroxysmen der Freude und Entzückung,
in denen die physische Maschine des Menschen an den Rand der
Selbstzerstörung geführt wird. Wo die „Seelen wie entbunden sich be-
gegnen“ (v. 29), werden sie zugleich vom Körper entbunden. Die Ver-
einigung der Liebenden erzwingt die Dissoziation des „ganzen Men-
schen“, die Schiller nun wieder mit den petrarkistischen contrari affet-
ti und „gemischten Empfindungen“ („Qualentzücken“, „Paradieses-
schmerzen“; v. 31) beschreibt.
Zu den Exzessen der Freude kommen die „Exzesse in allen sinnli-
chen Lüsten“ hinzu.261 Was den Seelenzustand des lyrischen Ichs im
Sinne der Diätetik zu einem pathologischen macht, ist eine Dispositi-
on zu Wollust und Sinnlichkeit. Hier trifft das Urteil der Selbstrezen-
sion ins Schwarze, bieten doch die Seeligen Augenblike mehr als „eine
schlüpfrige Stelle in platonischem Schwulst verschleiert“262, mehr als
eine Stelle, an der „noch im Übersinnlichen […] sinnlich geschwärmt
und im Sinnlichen die Pforte zur Ewigkeit aufgerissen [wird]“.263 Die
neuplatonisch-kosmologische Liebesspekulation kann nicht den sinn-
lichen Sinn dieser „Elisiumssekunde“ verdecken. Von Beginn an wird
hier am (eigenen) Fall und Exempel vorgeführt, wie „Zerrüttungen
im Körper […] das ganze System der moralischen Empfindungen in
Unordnung bringen, und den schlimmsten Leidenschaften den Weg
bahnen“ können264. Es geht um nichts anderes als die „natürlichen
Folgen der Unmäßigkeit“.265 Das lyrische Ich zeigt sich dem Leser als
ein „durch Wollüste ruinierter Mensch“, der „leichter zu Extremis
gebracht werden“ könne „als der, der seinen Körper gesund hält“.266
Der platonisierende Impuls zur (Selbst-)Vergöttlichung wird durch
diesen Exzess im Sinnlichen wie Übersinnlichen durchkreuzt. Man
––––––––––––––
260 NA 20, 61.
261 NA 20, 64.
262 NA 22, 133.
263 Wiese: Schiller, S. 118.
264 NA 20, 65.
265 NA 20, 63
266 NA 20, 65.
muss dazu nicht einmal zwischen den Zeilen lesen. Offen ist (v. 11)
vom „wollustheiße(n) Munde“ der Geliebten die Rede, von der ero-
togenen Wirkung des Blickes. Keineswegs bleibt es bei dem – für den
Petrarkismus obligatorischen – distanzierten Austausch der Blicke,
der die Strophen 1-4 mit insistierender Nennung beherrscht.267 Bei
Schiller wird daraus ein (ganz unpetrarkischer) Dreischritt vom Blick
(visus) über Kuss (osculum) zum coitus. Der Aufstieg zum Elysium ist
in Wirklichkeit ein Abstieg in die „Wollust“:
Wenn dann, wie gehoben aus den Achsen
Zwei Gestirn, in Körper Körper wachsen,
Mund an Mund gewurzelt brennt,
Wollustfunken aus den Augen regnen,
Seelen wie entbunden sich begegnen
In des Athems Flammenwind – – – (NA 1, 64; v. 25-30)
„Elisiumssekunde“ und „Pause“, die an dieser Stelle „den Sinnen
droht“, sind nichts anderes als Pause und Peripetie der sexuellen Er-
füllung. Die seeligen Augenblike sind eine „Verherrlichung der ge-
schlechtlichen Liebe“268, ein Gedicht über Sinnes- als „Daseinstrun-
kenheit“.269 Die unio mystica ist ein coitus, der in seiner physiologi-
schen Symptomatik von der „Blutfülle“ über den „Schwindel“ (v. 36)
bis hin zur Beinahe-Ohnmacht mit medizinisch-empirischer Genauig-
keit und gleichsam im Selbstversuch eingefangen wird:
Eine Pause drohet hier den Sinnen
Schwarzes Dunkel jagt den Tag von hinnen,
Nacht verschlingt den Quell des Lichts –
Leises .. Murmeln ... dumpfer.. hin .. verloren..
Stirbt ... allmälig .. in den trunknen ... Ohren ...
Und die Welt ist .... Nichts.... (NA 1, 65; v. 37-42)
Die medizinische Analyse der seelisch-körperlichen Ekstasen findet
sich in § 25 des Versuchs, der sich der Frage widmet, ob der „Zustand
der grösten Seelenlust“ zugleich „der Zustand des grösten körperli-
––––––––––––––
267 Die Stufenleiter, die hier erklommen wird, entspricht den quinque lineae amoris (fünf
Stadien der Liebe) der alteuropäischen Liebe. Sie gehen auf Donats Terenz-Scholien
zurück. Vgl. im „Commentarius antiquior“ zu Terenz’ Eunuchus IV, 2, 12: „Quinque
enim lineae sunt amoris, scilicet visus allocutio tactus, osculum sive suavium, coitus.“
Hehn, Karl: Quinque lineae amoris. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 29
(1941), S. 236-246; Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 501f.;
Schlaffer: Musa iocosa, S. 76ff.
268 Gombrich, Ernst H.: Das Symbol des Schleiers. Psychologische Betrachtungen zu
Schillers Dichtung. In: Ders.: Gastspiele. Aufsätze eines Kunsthistorikers zur deutschen
Sprache und Germanistik. Wien/Köln/Weimar 1991 (= Literatur in der Geschichte /
Geschichte in der Literatur 22), S. 89-110, hier S. 99.
269 Wiese: Schiller, S. 124.
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270 NA 20, 57.
271 NA 20, 73.
272 Ebd.
273 Ebd.
gern. Die „Ausweisung des Lyrischen“274 aus dieser Lyrik setzt mithin
die Einführung des Diagnostischen voraus. Das Ich der Laura-
Gedichte ist immer zugleich Arzt und Patient, die Texte schwanken
in ihrem Habitus zwischen analytischer Kälte und poetischem Furor
der Leidenschaft und Imagination. Die Ich-persona wird zum patho-
logischen casus verallgemeinert und gewinnt Objektivität als „Durch-
gang für Enthüllungen und Rühmungen, die anderen als persönlichen
Sinn haben“.275 Die Laura-Gedichte sind lyrische Selbstversuche mit
dem Ausnahmezustand, „poetische Experimentierräume“, in denen
das medizinische Wissen der Dissertationen vielstimmigen
„Dilemmalösungen“ zugeführt wird.276 Wo der Mediziner betont,
„dass schon in die Idee der Gesundheit […] die Idee einer gewissen
Temperatur der natürlichen Bewegungen wesentlich eingeflochten
ist“, zeigt die Lyrik die Folgen des Gleichgewichtsverlustes, der
„Unmäßigkeit“.277
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289 Fantasie an Laura; NA 1, 46, v. 15f.
290 Riedel: Anthropologie, S. 183.
291 NA 1, 228. Barkhoff, Jürgen: Tanz der Körper – Tanz der Sprache. Körper und Text
in Friedrich Schillers Gedicht ‚Der Tanz‘. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesell-
schaft 45 (2001), S. 147-163; Golz, Jochen: Nemesis oder die Gewalt der Musik. In:
Oellers, Norbert (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Stuttgart
1996 (= RUB 9473), S. 114-122; Riethmüller, Albrecht: Friedrich Schiller: ‚Der
Tanz‘. Die Harmonie des Rhythmus. In: Ders. (Hg.): Gedichte über Musik. Quellen
ästhetischer Einsicht. Laaber 1996, S. 66-90.
292 Riedel: Anthropologie, S. 183 (und weiter S. 182-198); McCarthy, John A.: Koperni-
kus und die bewegliche Schönheit. Schiller und die Gravitationslehre. In: Braungart,
Georg / Greiner, Bernhard (Hg): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches
Schaffen. Hamburg 2005 (= Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissen-
schaft. Sonderheft 6), S. 15-37, S. 26: „Deshalb ist die klare Dialektik zwischen der
––––––––––––––
303 Ebd. S. 726f.
304 Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 438.
305 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 783.
306 Ebd. S. 784.
307 Ebd. S. 781.
308 Ebd. S. 783.
309 Fantasie an Laura; NA 1, 46; v. 3f.
310 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 788.
311 Ebd.
312 Ebd. S. 793.
313 Ebd. S. 791.
Von hier aus lässt sich eine dritte Komponente der Schiller’schen
Musikästhetik fassen; auch sie weist auf Sulzer zurück. Neben die
empfindsame Linie der Empfindungssprache tritt eine Diätetik der
Musik, die nun auf den empirischen Psychologen Sulzer und an die
engen Beziehung zwischen Ästhetik und Anthropologie in dieser Zeit
hindeutet. Sulzer weiß genau um den „Einflus der Musik auf gewisse
Krankheiten“.314 Dieser Einfluss ist jedoch ambivalent. Sulzer hält es
für ausgemacht, dass „Menschen in schweeren Anfällen des Wahnwi-
zes durch Musik etwas besänftiget, gesunde Menschen aber in so hef-
tige Leidenschaft können gesezt werden, daß sie bis auf einen gerin-
gen Grad der Raserey kommen“.315 Physiologischer Grund für diese
Wirkung ist die Reizbarkeit der Nerven: „Musik dringet ein, weil sie
die Nerven angreift“316 oder – mit Schiller – an „tausend Nervgewe-
ben“317 rüttelt:
Da sie mit einer Bewegung der Luft verbunden ist, welche die höchst reizba-
ren Nerven des Gehörs angreift, so würket sie auch auf den Körper, und wie
sollte sie dieses nicht thun, da sie selbst die unbelebte Materie, nicht blos
dünne Fenster, sondern so gar feste Mauren erschüttert? Warum sollte man
also daran zweifeln, daß sie auf empfindliche Nerven eine Würkung mache,
die keine andere Kunst zu thun vermag, oder daß sie vermittelst der Nerven
eine zerrüttete fiebrische Bewegung des Geblüthes, in Ordnung bringen
könne, und, wie wir in den Schriften der Parisischen Academie der Wissen-
schaften finden, einen Tonkünstler, von dem Fieber selbst befreyt habe? 318
Das Gegenteil dieser therapeutisch-eurhythmischen Wirkung zeigt
sich in Laura am Klavier. Die musikalisch induzierten Ekstasen nä-
hern sich in der Tat „bis auf einen geringen Grad der Raserey“; statt
jedoch durch „Freude“ zu therapieren, überspannt und überreizt die
„Wollust“ der Töne die Saiten der Seele.319 Die Musik – und damit
zugleich Schillers Lyrik – überschreitet die „Grenzlinie der Gesund-
heit“. Lauras Klavierspiel gefährdet das „commercium mentis et cor-
poris“, indem es das „heilsame Gleichgewicht, das die Fortdauer un-
sers Daseyns so sehr verlangt“ durch einen „Exzeß der Gesundheit“320
untergräbt. Es ist ein Spiel um „Tod und Leben“ (v. 4):
Wenn dein Finger durch die Saiten meistert –
Laura, itzt zur Statue entgeistert,
Izt entkörpert steh ich da.
––––––––––––––
314 Ebd. S. 785.
315 Ebd.
316 Ebd. S. 789.
317 NA 1, 53, v. 5.
318 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 789.
319 NA 20, 58.
320 NA 20, 73.
––––––––––––––
321 Hochadel, Oliver: Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung.
Göttingen 2003, S. 258.
322 NA 1, 53 v. 2.
323 Freud: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 423 (Das Unbehagen in der Kultur).
324 NA 20, 69.
325 Riedel: Anthropologie, S. 7f.; Matussek, Paul / Red.: Neurosen (I-II). In: Historisches
Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6, 1984, Sp. 760-766, hier Sp. 762: „Cullen verstand also
unter der Vielzahl der von ihm als Neurosen bezeichneten Krankheitsbilder sowohl
solche mit als auch ohne begleitende / verursachende organische Veränderungen.“
326 Dahlhaus: Formbegriff und Ausdrucksprinzip, S. 74-77.
327 Epigramm Sprache. NA 2/1, 322.
ler teilt damit eine zeitgenössische Tendenz, die von der Vokalmusik
weg zur „Rechtfertigung der modernen freien Instrumental-Musik als
Kunst sui generis“ führt.328 Dies setzt Musik und Lyrik in ein wider-
spruchsvolles Verhältnis: das lyrische Gedicht ist Sprache, und kann
daher nicht Sprache der Seele sein, sondern lediglich deren Überset-
zung. Zugleich liegt in dem Versuch, das Erlebnis der Musik zu ob-
jektivieren, der doppelte Anspruch der Lyrik, zugleich Musik sein zu
können und doch deren Gefährdungspotentiale einzudämmen. In der
musikalischen Sprache verliert die Sprache der Musik ihre sinnlich-
wollüstigen Anteile. So ereignet sich in Stücken wie Laura am Klavier
ein regelrechter Paragone zwischen den Medien und Künsten, dessen
Ausgang offen scheint. An den Delirien der Musik schärft sich bereits
der Gedanke der ästhetischen Distanz, auch wenn es bis in die neun-
ziger Jahre dauern wird, bis Schiller das epistemische Modell der
Kunst von Übertragung, Resonanz und Analogie auf Zeichen, Medi-
um und Repräsentation umstellen und unter dem Banner der ästheti-
schen Freiheit versammeln wird. An die Stelle des schwachen tritt
dann das starke und ‚dichte‘ Medium, die Freiheit von Sprache wird
in eine Freiheit durch Sprache umgewertet.329
Dieser Prozess kündigt sich an einem beiläufigen Motiv an. Bis in
die achtziger Jahre hinein sind Saiteninstrumente bei Schiller ubiqui-
tär. Dabei fällt eine signifikante Vorliebe für die Saiteninstrumente
wie die Gitarre („Laute“), die von seiner Frau gespielte Mandoline
oder das Klavier (Cembalo, Clavichord, Fortepiano) auf. Erwähnt
wird gelegentlich die „hohe Inspiration“, die er sich von ihnen ver-
spricht.330 Die Frau, die, oft in anziehendem Äußeren und „reizenden
Negligé, die Haare noch unfrisiert vor dem Flügel [sitzt] und phanta-
siert“, zählt zu den Stereotypen weiblicher Empfindsamkeit.331 „Sai-
tenspiel“ ist im Frühwerk eine komplexe Metapher für die störungs-
freie Harmonie von commercium und Kommunikation. Musik besitzt
hier eine anthropologische und mediologische Dimension.332 Produk-
tionsästhetisch scheint das Gedicht aus selbstinduzierter Schwingung
hervorzugehen („Elisische Gefühle drängen / Des Herzens Saiten zu
Gesängen“333). In Die Herrlichkeit der Schöpfung entwirft Schiller den
Gedanken einer autophonen Welt; sie offenbart sich selbst durch ihr
––––––––––––––
328 Bimberg / Scholtz: Musik, Sp. 249.
329 Dieser ästhetische Wandel steht im weiteren Bezugsraum eines epistemologischen,
den Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 357-363 erläutert.
330 An Huber, 13.9.1785; NA 24, 20. Brusniak: Schiller und die Musik, S. 171.
331 Vgl. die Reaktion von Amalie in Kabale und Liebe (NA 3, 45): „Aufspringend, entzükt.
und von itzt an in seinen Armen auf ewig, Pause. Sie geht ans Klavier, und spielt.“
332 Nachweise bei Fähnrich: Schillers Musikalität, S. 35f.
333 NA 1, 12 (Von der École des Demoiselles; v. 1f.).
Spiel „auf der Laute der Natur“. Die Natur übernimmt die Funktion
der Äolsharfe:334
Und welche Melodien
Dringen herauf? welch unaussprechlicher Klang
Schlägt mein entzüktes Ohr? [...] Der grose Lobgesang
Tönt auf der Laute der Natur! [...] In Harmonien,
Wie einen süßen Tod verlohren, preißt
Den Herrn des Alls mein Geist! (NA 1, 56, v. 46-51)
Die Resonanz der Saiten konnotiert reine (Ur-)Natur, Austausch un-
terhalb der oberen Vermögen und des Bewusstseins. Dies gilt auch für
die Schwingungen zwischen den befreundeten, narzisstisch ineinan-
der sich spiegelnden Seelen der Freunde. So kann Karlos mutmaßen,
dass „die schaffende Natur / Den Rodrigo im Karlos wiederholte, /
und unsrer Seelen zartes Saitenspiel / am Morgen unsres Lebens
gleich bezog“.335 Es ist daher nur konsequent, wenn sich auch das pes-
simistische Bild des zerrissenen Saitenspiels als Ausdruck von Hem-
mung und Trennung der Seelenresonanz findet, etwa in einer emb-
lematischen Szene von Kabale und Liebe (III, 4).336 Wo die „trennen-
de“ Stunde sich abzeichnet, misslingt der sympathetische Ausdruck
der Seele im Saitenspiel. Ferdinand, so schreibt die Regieanweisung
vor, „hat in der Zerstreuung und Wut eine Violine ergriffen, und auf
derselben zu spielen versucht – Jetzt zerreißt er die Saiten, zerschmet-
tert das Instrument auf dem Boden und bricht in ein lautes Gelächter
aus.“337 Ins Poetologische wird das Bild der fracta cithara in Melancho-
lie an Laura gewendet, wenn der Versuch „Götterfunken aus dem
Staub zu schlagen“ die Saiten des Dichters überreizt und zerreißt:
„Ach die kühnste Harmonie / Wirft das Saitenspiel zu Trümmer“.338
––––––––––––––
334 Schiller verwendet sie ein einziges Mal in Würde der Frauen, auch hier als Ausdruck
einer aufs höchste gesteigerten Empfindungsfähigkeit und Reizbarkeit: „Aber, wie
leise vom Zephir erschüttert / Schnell die äolische Harfe erzittert, / Also die fühlen-
de Seele der Frau.“ Zur Topik vgl. Braungart, Georg: Poetische Heiligenpflege: Jen-
seitskontakt und Trauerarbeit in An eine Äolsharfe. In: Mayer, Mathias (Hg.): Gedich-
te von Eduard Mörike. Stuttgart 1999 (= RUB 17508), S. 103-129.
335 Don Karlos I, 2; NA 6, 18; v. 224-227.
336 Nachweise bei Fähnrich: Schillers Musikalität, S. 35f.; zur Tradition vgl. auch Hess,
Günter: ‚Fracta Cithara‘ oder Die zerbrochene Laute: zur Allegorisierung der Bekeh-
rungsgeschichte Jacob Baldes im 18. Jahrhundert. In: Haug, Walter (Hg.): Formen
und Funktionen der Allegorie. Stuttgart 1979 (= Germanistische Symposien-
Berichtsbände 3), S. 605-631; Hammerstein, Reinhold: Von gerissenen Saiten und sin-
genden Zikaden. Studien zur Emblematik der Musik. Tübingen/Basel 1994.
337 NA 5, 58.
338 NA 1, 115, v. 90-94; vgl. noch Don Karlos IV, 24 (NA 6, 272; v. 5158-5163): „Gehört
die süße Harmonie, die in / dem Saitenspiele schlummert, seinem Käufer, / der es
mit taubem Ohr bewacht? Er hat / das Recht erkauft, in Trümmern es zu schlagen, /
Die skeptischen Töne, die sich schon hier in den Topos musikalischer
Unmittelbarkeit mischen, werden in Schillers klassischer Dichtung
das Bild des Saitenspiels (fast) völlig verschwinden lassen. Die Aus-
nahme bestätigt die Regel: Thekla ist die letzte, die in einem Schil-
ler’schen Drama zum Saitenspiel greift – um ihrer melancholischen
Resignation auf die Liebe Ausdruck zu verleihen. „Eine Gitarre liegt
auf dem Tische, sie ergreift sie, und nachdem sie eine Weile schwer-
mütig präludiert hat, fällt sie in den Gesang“.339 Spätestens mit dem
Wallenstein ist das Saitenspiel zum Emblem der empfindsamen, ten-
denziell weiblichen Seele geworden, nicht mehr universales Modell
zwischenmenschlicher Kommunikation.
Im Frühwerk ist das noch anders. Schon die Dissertationen zei-
gen, wie sich Mediologie und Anthropologie durchdringen. Das Para-
digma des Saiteninstruments spielt eine zentrale Rolle bei dem Ver-
such, die notorische Kluft zwischen Subjekt und Welt, d.h. das
commercium-Problem in seiner wahrnehmungspsychologischen Fa-
cette einzufangen.340 Auch hier lässt sich von einer Proto-Ästhetik
sprechen. Sie handelt von jenen Übertragungsvorgängen, die auch in
der Anthologie verhandelt werden. „Empfindung ist Schwingung eini-
––––––––––––––
doch nicht die Kunst, dem Silberton zu rufen/ Und in des Liedes Wonne zu zer-
schmelzen.“
339 Die Piccolomini, III, 7; NA 8, 129.
340 Auf die metaphorologische und aisthesiologische Bedeutung des Begriffs ‚Stimmung‘
und seine Karriere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts macht David Wellbery
in seinem grundlegenden Artikel ‚Stimmung‘. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Ästheti-
sche Grundbegriffe. Bd. 5. Stuttgart/Weimar 2003, S. 703-733 aufmerksam; vgl. den
klassischen Essay von Leo Spitzer: Classical and Christian Ideas of World Harmony.
Prolegomena to an Interpretation of the word ‚Stimmung‘ (1944/45). Hg. von A.
Granville Hatcher. Baltimore 1963. Wellbery betont, dass in Sulzers Stimmungs-
Artikel ein „diskursgeschichtliche(r) Wendepunkt“ vollzogen sei, „an dem Traditi-
onsbestände einer spekulativ-symbolischen Theologie in Instrumente einer reflektier-
ten ästhetischen Theorie transformiert werden.“ Im Kern läuft dies auf eine Ent-
metaphorisierung der bei Sulzer – und vor allem bei Schiller – noch massiv präsenten
metapherngeschichtlichen Residuen („Weltharmonie“) hinaus, durch die der Begriff
für neue semantische und ästhetische Funktionen gewissermaßen ‚frei’ würde. Well-
bery kommt es dabei auf die Wendung vom „objektiven Sinn“ zur „Subjektivierung
des Begriffs“ (S. 707) an, vom Gestimmt-Werden zum Gestimmt-Sein. Trifft dies zu,
wäre Schillers Stimmungsbegriff gewissermaßen vor-modern oder vor-subjektiv, da er
einerseits physiologisch, andererseits kosmologisch verankert ist. Die Wahrheit liegt
jedoch in der Mitte. Auch im Hinblick auf den Stimmungsbegriff muss man von ei-
ner „doppelten Ästhetik“ Schillers ausgehen, nämlich in werkchronologischer Hin-
sicht. Zwischen den Laura-Gedichten (die Wellbery nicht diskutiert) und der ästheti-
schen Theorie vollzieht sich ein Paradigmenwechsel. Wenn Schiller im 20. Ästheti-
schen Brief von der „mittlere(n) Stimmung“ des Gemüts als einem Zustand der „realen
und aktiven Bestimmbarkeit“ (NA 20, 375) spricht, so ist hier die „Loslösung dessel-
ben [sc. Stimmungsbegriffes] vom Herkunftsbereich der musikalischen Praxis“ jeden-
falls vollzogen (Wellbery S. 710).
ger Saiten, und das zerschlagene Klavier tönt nicht mehr“, weiß schon
der dilettierende Arzt Franz Moor.341 Gleichzeitig schreibt der Medi-
ziner Schiller:
Man kann in diesen verschiedenen Rüksichten Seele und Körper nicht gar
unrecht zweien gleichgestimmten Saiteninstrumenten vergleichen, die neben
einander gestellt sind. Wenn man eine Saite auf dem einen rühret, und einen
gewissen Ton angibt, so wird auf dem andern eben diese Saite freiwillig an-
schlagen und eben diesen Ton nur etwas schwächer angeben. So wekt, ver-
gleichungsweise zu reden, die fröhliche Saite des Körpers die fröhliche in der
Seele, so der traurige Ton des ersten den traurigen in der zweiten. Diß ist die
wunderbare und merkwürdige Sympathie, die die heterogenen Principien
des Menschen gleichsam zu Einem Wesen macht. Der Mensch ist nicht Seele
und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Sub-
stanzen.342
Diese Verwendung des Beispiels Bezeichnet einen vollständigen Para-
digmenwechsel gegenüber der Philosophie der Physiologie. Dort hatte
Schiller die Frage, ob der Nerv „eine elastische Saite sei“343, also die
These einer Schwingungs- und Stimmungsübertragung vom Sinnes-
eindruck zum „Denkorgan“, wie sie Charles Bonnet vertrat (Essai
analytique sur les facultés de l’âme), noch unter heftiger Polemik gegen
den „französische(n) Gaukler“344 zugunsten einer spekulativen „Mit-
telkraft“ zurückgewiesen.345 Im Versuch kehren sich die Verhältnisse
––––––––––––––
341 NA 3, 121; umgekehrt ist die erste Leidenschaft der jugendlichen Luise Millerin „Auf
dem unberührten Klavier der erste einweihende Silberton!“ (NA 5, 74)
342 NA 20, 63f. Zum psychophysischen Begriff der Sympathie und seiner ideen- und me-
dizinhistorischen Herleitung eingehend Riedel: Anthropologie, S.121-129. Vgl. Zedler:
Universal-Lexicon, Bd. 41, Sp. 747 (s.v. „Sympathie“): „Zu den Arten der Sympathie
gehöret auch auf gewisse masse daß Merckmahl, so sich an musicalischen Instrumen-
ten ereignet. Man wird gewahr, wenn in einem Zimmer ein gewisses Instrument
gerühret wird, und ein anderes seines gleichen hengt an der Wand, so klinget dasselbe
auch, ob es schon niemand angreifft, noch deutlicher aber ereignet es sich, wenn sie
beyde auf dem Tische liegen, und auf einerley Art gespannet sind.“ Alt: Schiller, Bd.
1, S. 246 verweist auf eine Formulierung des Göttinger Popularphilosophen Johann
Georg Feder (Deutsches Museum, 1776; nach Sauder, Gerhard (Hg): Empfindsamkeit.
Quellen und Dokumente. Stuttgart 1980, S. 55): „Fast scheint es, daß eben so mecha-
nisch fremde Empfindungen in uns übergehen, als eine tönende Saite gleiche Schwin-
gungen in gleichartigen Saiten hervorbringt.“
343 NA 20, 16.
344 NA 20, 22.
345 NA 20, 24: „Wenn ich zwei Klaviere neben einander stelle, und auf einem derselben
eine Saite rühre, und einen Ton angebe, so wird auf dem andern Klavier die
nehmliche Saite und keine andere, ohne mein Zutun zittern, und eben den Ton, frei-
lich matter, angeben. Wir könnten also sagen: die Stelle des ersten Klaviers vertritt
die Welt, so wie sie sich in den sinnlichen Organen befindet, die Stelle der Luft den
Nervengeist. Die Stelle des zweiten Klaviers das Denkorgan.“ Dasselbe Exempel ist
schon in § 7 (NA 20, 17) angelegt: „Ich höre einen Schall, wenn ich das Zittern der
Luft empfinde. Da aber die Schwingungen der Luft immer mehr ermatten, je weiter
Der frühe Schiller, so lässt sich resümieren, versteht die Musik und
damit auch ihre lyrische Schwesterkunst als magisch-hypnotische
Praxis, als Faszination im ursprünglichen Wortsinn. In Laura am
Klavier ist die Magie der Musik aufs Engste an die des bannenden
(‚bösen’) Blicks gebunden. In dieser radikalen Sinnlichkeit sieht der
spätere Schiller denn auch die bedenkliche Gefahr der Musik. Selbst
„die geistreichste Musik [steht] durch ihre Materie noch immer in einer
größern Affinität zu den Sinnen […], als die wahre ästhetische Frey-
heit duldet.“348 Sie ist, zumindest der Tendenz nach, eine Kunst der
Nähe, des Austauschs, der unbewussten Wechselwirkungen. Wenn es
daher Ziel aller Kunst ist, dass „das Gemüth des Zuschauers und Zu-
hörers […] völlig frey und unverletzt bleib(t)“, dann muss die Musik
eine prekäre Kunst sein, weil sie nicht „Freyheit von Leidenschaf-
ten“349, sondern diese Leidenschaften selbst induziert. Im 22. Ästheti-
––––––––––––––
sie sich von den zitternden Saiten entfernen, daß wir also kaum die nächste empfin-
den würden, so musten Unterkräfte des Ohrs die Schwingungen erhöhen.“
346 Riedel: Anthropologie, S. 127.
347 Alt: Schiller, Bd. 1, S. 246 sieht hier mit Foucault „das metaphysisch geprägte Denken
in Ähnlichkeiten, das im vorkantischen Zeitalter nochmals eine Brücke zu den Wis-
sensordnungen des 17. Jahrhunderts schlägt.“ Dies bezieht sich auf Foucault: Ord-
nung der Dinge, S. 46-77.
348 NA 20, 381.
349 NA 20, 382.
schluss an diese Stelle folgt, ist eine zur Karikatur gesteigerte patho-
gnomische Studie über die Effekte „schmelzender“ Musik.359 Sein Be-
richt liest sich wie die Reminiszenz der musikalischen Ekstasen, wel-
che die literarische Laura einst mit ihrem Klavierspiel provoziert hat-
te, wie eine Palinodie der eigenen lyrisch-musikalischen Jugend. Die
Analyse der Symptome deckt sich teilweise mit den diätetischen
Überlegungen zu den Folgen der „Unmäßigkeit“ und „Exzesse(n) in
allen sinnlichen Lüsten“.360 „Schmelzende Musik“, im Übermaß ge-
nossen, zeitigt ähnliche Effekte der „Berauschung“ wie „übermäßiger
Genuss des Weines und des Weinbrands“ oder „maßloser Liebesge-
nuss“361:
Ein bis ins thierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann
gewöhnlich auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, der of-
fene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen
Körper, der Athem ist schnell und schwach, kurz alle Symptome der Berau-
schung stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne schwelgen,
der Geist aber oder das Princip der Freyheit im Menschen der Gewalt des
sinnlichen Eindrucks zum Raube wird.362
Damit ist ein vollständiger Paradigmenwechsel gegenüber der frühen
Musikästhetik vollzogen. Anders als in Laura am Klavier ist Musik
nicht mehr Stimulus der Vergöttlichung, sondern deren Hindernis,
beraubt sie den Menschen doch seiner geistigen zugunsten seiner
„thierischen“ Natur. Die Musik muss sich gleichsam zur Plastik trans-
zendieren, um als Kunst im gesteigerten Sinne noch legitim sein zu
können. Dass dies auf eine Aporie zuläuft, muss kaum betont wer-
den. Die neue Reserve gegen die neueste Musik schlägt sich wiederum
unmittelbar in den Dramen nieder. So bedeutend die Musik in dra-
maturgischer Hinsicht für die klassischen Dramen bleibt, so ist sie
doch als Motiv und Metapher klar auf dem Rückzug. Ähnliches gilt
für den Kult der (mit-)schwingenden Saiten und Saiteninstrumente.
Anders als Amalia, der das Spiel auf Laute und Klavier zum Medium
––––––––––––––
422f.). Vgl. die Gespräche mit Goethe am 6.6.1797. Immerhin: Schiller bleibt auch
nach 1800 in Fragen der Musik ein Ancien, der darauf beharrt, „daß Gluck recht wohl
dem Mozart an die Seite gestellt werden könne“ (NA 42, 368). Valentin, Erich: Mozart
und Schiller. In: Ders.: Zeitgenosse Mozart. Augsburg 1971, S. 40-51.
359 Vgl. einen Brief von Voß an Ernestine Boie (18.9.1773): „Ich wurde genöthigt, auf
dem Klavier zu spielen. Vielleicht verschaffte die Musik den andern einige Linderung,
mir selbst, der jeden schmelzenden Affect ganz annehmen mußte, um ihn wieder
auszudrücken, schlug sie nur tiefere Wunden.“ Joh. Heinrich Voß: Briefe. Hg. von
Abraham Voß. 4 Bde. Halberstadt 1829-1833, hier Bd. 1 (1829), S. 222.
360 NA 20, 63 bzw. 64.
361 De discrimine febrium (SW, Bd. 5, S. 1070): „[U]sum Calidorum vini praesertim ejus-
demque spiritus, Venerem immodicam celebratam.“
362 NA 20, 200 (Ueber das Pathetische).
einer „elysischen“ Herzenssprache wird, oder Karl, der sich mit der
Laute „zurük[zu]lullen“ hofft zu alter „Kraft“363, verzichtet Schiller
nun auf kammermusikalische Elemente auf offener Szene – Theklas
elegisches Lied zur Gitarre (III, 6) stellt, wie erwähnt, eine Ausnahme
dar. Das lakonische Schlusswort in dieser Angelegenheit findet sich,
wie so oft, im Schema über den Dilettantismus. Hier wird noch einmal
der Gegensatz von musica vetus und musica nova im Hinblick auf die
musikalische Kultur in Deutschland aufgegriffen. In der „alte(n) Zeit“
sei von der Musik „größerer Einfluß aufs leidenschaftliche Leben
durch tragbare Saiteninstrumente“ ausgegangen, die als „Medium der
Galanterie“ dienten, heute herrsche das „Klimpern“.364
––––––––––––––
363 NA 3, 107.
364 SW, Bd. 5, S. 1051.