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Der Gott der Ohren Pink Floyd: Brain Damage

In Gedanken an Rochus und die Insel 12 The lunatic is on the grass


The lunatic is on the grass
Die Griechen hatten einen Gott, der im Akustischen hau-
Remembering games and daisy chains and laughs
ste. Wenn die Hirten träumten und die Stille des Mittags
Got to keep the loonies on the path
sich überschlug, dröhnte plötzlich Pan in allen Ohren.
Pan, eine Wölbung des Hörraums, war der Großen Göt- The lunatic is in the hall
tin immer schon näher als all ihre verzweifelten Liebhaber. The lunatics are in my hall
die sie nur im Sehfeld jagten. Voller Neid erzählt Aktaion The paper holds their folded faces on the floor
selber: »Zuweilen schien es mir, als sähe ich dort oben, auf And every day the paper boy brings more
dem Felsen. den Rücken des alten Pan. der Diana ebenfalls . ...
And If the dam breaks open many years too soon
auflauerte. Aus der Ferne jedoch hätte man ihn für einen
And if there is no room upon the hill 1>
Stein. für den Stamm eines alten, verkrüppelten Baums
And if your head explodes with dark forbodings too
halten können. Dann war er nicht mehr zu erkennen,
I'll see you on the dark side on the moon
während seine Schalmeientöne noch weiter erklangen. Er
war Melodie geworden. Er war übergegangen in die vibrie- The lunatic is in my head
rende Luft, in die sie den Wohlgeruch ihres Schweißes, den The lunatic is in my head
Duft ihrer Achselhöhlen und ihres Unterleibs verströmte, You raise the blade, you make the change
als sie sich entkleidete.«' You re-arrange me 'till I'm sane
»Um einen Raum oder eine Landschaft« (um von Göttin-
You lock the door
nen fortan zu schweigen) »zu überschauen, muß ich meine
And throwaway the key
Augen von einem Teil zum anderen wandern lassen.
There's someone in my head but it's not me
Wenn ich jedoch höre, sammle ich den Klang gleichzeitig
aus jeder Richtung: Ich bin im Zentrum meiner klanglichen And if the cloud bursts, thunder in your ear
Welt, die mich umschließt. Man kann im Zuhören, im You shout and no one seems to hear
Klang eintauchen. Ein ähnliches Eintauchen ist im Sehen And ifthe band you're in starts playing different runes
nicht möglich.«2 I'll see you on the dark side of the moon.
Der große Pan, heißt es, sei tot. Aber Götter der Ohren (Text und Musik: Roger Waters)
können gar nicht vergehen. Sie kehren wieder unter der
The Dark Side of the Moon, Harvest LP Ie 072-05-259 -:
Maske unserer Kraftverstärker und Beschallungsanlagen.
vom Erscheinungsjahr 1973 bis 1979 acht Millionen Plat-
Sie kehren wieder als Rocksong.
ten verkauft,3 nach neueren Meldungen schon elf Millio-
nen. Bücher und ihre Auflagen werden lachhaft, wenn
Ströme von Sound in Ströme von Geld münden. Brain Da-
mage, der Hirnschaden, braucht keine Beschreibung mehr.
1 Pierre Klossowski. 1982. Das Bad der Diana. Berlin. S. 29. Er ist angerichtet,
2 Walter J. Ong. 1982/1987. Oralität und Literalität. Die Technologi-
Und dabei hat alles so einfach angefangen. Roger Wa-
sierung des Wanes. Opladen, S. 75 (durchgesehene Übersetzung).
3 Vgl. Der Spiegel. 51/1979. S. 176.

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noch alles. Dort, im Haus, ein Besitzer, den Schlüssel in der
ters, Nick Mason und Richard Wright, drei Architekturstu-
Hand und von Zeitungen auf dem laufenden Schwachsinn
denten der sechziger Jahre, mit Gitarren und alten Chuck
gehalten. Hier, auf dem Rasen, dem schönen Rasen süd-
Berry-Nummern durch Englands Vorstadttheater tingelnd.
englischer Landsitze und Bennscher Träume vermutlieh,6
Ihr vergessener Name: The Architectural Abdabs. Bis eines
der oder die Verrückten. So zumindest will es ein Gesetz,
Frühlingstages im Jahr 1965 ein Leadgitarrist und Sänger
das territorialisiert, ein Gesetz, das Irren vorschreibt, auf
zu ihnen stößt. der Pink Floyd - den Namen und den
gebahnten Pfaden und vor allem draußen zu bleiben. Es ist
Klang - erfindet. Übersteuerte Verstärker, das Mischpult
das Gesetz von Architekten,? und den Damm, der es mare-
als fünftes Instrument, durch den Raum kreisende Töne
rialisiert, wird der einstige Architekturstudent Waters
und was bei Kombination von Niederfrequenztechnik und
1980/81 als gigantische Mauer quer durch Earl's Court und
Optoelektronik alles machbar ist - mit Augen wie schwar-
Westfalenhalle bauen lassen. Qas war mein erster Besuch
zen Löchern erschließt Syd Barrett dem Rock 'n' Roll Astro-
im Ruhrgebiet.
nomy Domain, die Domäne Astronomie.
Aber im Akustischen laufen die Dinge nieht so einf'l.l:h
Der Stern über dem Londoner Untergrund hat knapp
wie im Showbusiness. Schließlich sind »Ohren im Feld des
zwei Jahre gestrahlt. Man kennt Andy Warhols Wort, daß
Unbewußten die einzige Öffnung, die unmöglich zu schlie-
wir im Zeitalter der elektronischen Medien alle berühmt
ßen ist«8. Vom Rasen über den Flur bis in den Kopf - der
werden - jeder für zehn Minuten. Bei Barretts letzten Auf-
unaufhaltsame Fortschritt des Wahnsinns geht über Oh-
tritten. wenn sie nicht überhaupt ausfallen, hängt die Griff-
ren, die sich nicht wehren können. Am Ende vom Lied,
hand herum. während die rechte ohne Ende ein und die-
mag es Brain Damage oder The Wall heißen, ist der Damm
selbe Leersaite anschlägt4: Monotonie, wie in der chinesi-
gebrochen. der Kopf explodiert und nur noch Schreien
schen Foltertechnik, als Anfang und Ende von Musik.
ohne Empfang. Kein Wort, keine Mauer, kein Damm zwi-
Dann verschwindet der Mann. der Pink Floyd erfunden
schen Außen und Innen hält dem Sound stand, weil Sound
hat, von allen Bühnen, irgendwo im diagnostischen Nie-
das Unaufschreibbare an der Musik und unmittelbar ihre
mandsland zvvischen LSD-Psychose und Schizophrenie.
Technik ist.
Die Pink Floyd finden einen Ersatzgitarristen, einen ehe-
Es gibt, von Foucault, eine Geschichte des Wahnsinns im
maligen Lover von B. B., und die Formel ihres Welterfolgs.
Zeitalter der Vernunft. Es gibt. von Bataille, eine Geschichte
So wahr bleibt es auch bei siebenstelligen LP-Verkaufs-
des Auges. Roger Waters aber. dem Texter von Brain Da-
zahlen. daß die Kapitalmaschine mit ihren Geldströmen
mage, danken wir die Kurzgeschichte von Ohr und Wahn-
gespeist wird vom decodierten, deterritorialisierten Strom
sinn im Zeitalter der Medien.
des Wahns, dessen unmittelbare Realisierung der elektri-
Als Edison, der Vielfacherfinder, nach einer Idee von
sche ist. 5
Sechs Jahre lang haben die Pink Floyd über den Aus- 6 Vgl. Gottfried Benn, 1949. Roman als Phänotyp. In: Benn.
schluß geschwiegen, der sie möglich gemacht hat. Brain Da- 1959-61. Bd. II. S. 174u. Ö.
mage aber ist der Song über Außen und Innen, Ausschluß 7 Über Architekten vgl. Wolfgang Scherer. 1983. BA~ELLOGIK.
und Einschluß und ihre Aufhebung. Am Anfang stimmt Sound und die Auslöschung der buchstäblichen Ordnung. Basel.
8 Jacques Lacan, 1973 b. Le seminaire, livre XI: Les quatre concepts
'1 David GEma,,; (Pink Floyds Ersatzgitarrist), zitiert in Jean-Ma-
Jondamentaux de la psychanalyse. Paris, S. 178. Vgl. aber schon
rie Leduc. 1973. Pink Floyd. Paris. S. 54.
August Ferdinand Bernhardi. 1801-03. Sprachlehre. 2. überar-
5 Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari. 1974. Anti-Ödipus. Kapitalis-
beitete Auf]. Berlin. Bd. I. S. 24.
mus und Schizophrenie 1. Frankfurt/M .. S. 485 und S. 309.

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Charles Cros das erste Grammophon baute, war die Wie- (eine schöpferische Dichterseele) zu reduzieren. Gottlob
dergabe ein Schatten der Aufnahme. Auch dazwischenge- sind die Techniker den genau umgekehrten Weg gegangen.
schaltete Schalltrichter konnten mechanisch aufgezeich- Zeit und Grundlagenforschung haben dazu geführt. daß al-
nete und mechanisch reproduzierte Schwingungen ler Seelenhauch in Sound und Phonstärke untergegangen
schwerlich lauter als im Original machen. Nicht bloß, weil ist.
Edison fast taub war, mußte er am denkwürdigen 6. De- Denn nur solange die Schallplatte mechanisch geschnit-
zember 1877 in seinen Phonographen hineinschreien. 9 ten und mechanisch abgespielt wurde, herrschten auf ihr
Und nur in den Zukunftsromanphantasien zeitgenös- Menschenstimmen - bei einer armseligen Frequenzband-
sischer Symbolisten schloß der Zauberer von Menlo Park breite von 200 bis knapp 2000 Hertz kein Wunder. Aber
seine Phonographen an Lautsprecher, viele Lautsprecher nachdem ein Weltkrieg. der erste, mit seinem Innovations-
an. um mit solcher Raumklangtechnik den Reigen seiner schub das Verstärkerprinzip, durchgesetzt hatte. konnte
Kinder draußen auf dem Rasen ins Arbeitszimmer hinein- auch Edisons mechanische Apparatur elektrifiziert wer-
zuholen.1o Faktisch nämlich lag den grammophonvernarr- den. Frequenzspektrum und Klangdynamik von Oij::he-
ten Bürgern und Kaisern der Jahrhundertwende an Stim- stern landeten erstmals auf Plattenrillen und Lautsprecher-
men mehr als am RitornelL das Stimmen und Identitäten spulen. Eine NachtigalL elektrisch konserviert und ver-
zum Tanzen bringt. Als Wildenbruch, dem wilhelmini- stärkt. hielt 1926 in Respighis Pini di Roma der gesamten
schen Staatsdichter, 1897 vor allen anderen akustische Philharmonie Toscaninis stand.12
Unsterblichkeit gewährt wurde, sprach er (nach längeren Um den Klangzauber zu perfektionieren, mußte nur
Ausführungen darüber, daß Stimmen im Unterschied zu noch ein anderer Weltkrieg ausbrechen. Sein Innovations-
Gesichtern untrüglich und das heißt für Psychologen erst- schub gab den Ingenieuren Deutschlands die Tonbandma-
klassige Quellen seien) in den Schalltrichter die schönen schine und den Ingenieuren Britanniens eine Hifi-Schall-
Schlußverse: platte ein, die auch subtilste Klangfarbenunterschiede zwi-
schen deutschen und britischen U-Boot-Motoren hörbar
Vernehmt denn aus dem Klang von diesem Spruch machte - natürlich zunächst nur für die Ohren angehen-
Die Seele von Ernst von Wilden bruch. I I der Royal Air Force-Offiziere.!3 Mit der Kriegsbeute Ton-
band beschenkt. konnte Amerikas verschlafene Schallplat-
Vom Klang zum Spruch. vom Spruch zur Seele: so krampf- tenindustrie (sie hatte zwischen 1942 und) 945 sehr an-
haft war Wilden bruch bemüht, Reelles (seine gespeicherte. dere Aufgaben wahrgenommen) einen neuen Standard set-
aber sterbliche Stimme) auf Symbolisches (den artikulier- zen: Bandaufnahmen. und erst sie machten akustische Ma-
ten Diskurs von Lyrik) und Symbolisches auf Imaginäres nipulationen im Zwischenraum von Plattenproduktion
und -wiedergabe möglich.
9 Vgl. die Einzelheiten bei Walter Bruch. Von der Tonwalze zur
Bildplatte. 100 Jahre Ton- und Bildspeicherung. Funkschau. Son-
Aber auch die britische Industrie begriff alsbald. daß ihre
derheft 1979. o. S. kriegsentscheidenden Fortschritte bei der U-Boot-Ortung
10 Vgl. Philippe Auguste Mathias. Comte de Villiers de !'IsIe- zu friedlicher Nutzung einluden. 1957 stellten die Electrical
Adam. 1886/1977. L 'Eve future. Paris. S. 29.
11 Wildenbruchs Diktum, in seine Gesammelten Werke sinniger- 12 Vgl. Raben Gelatt. 1965/1977. The Fabulous Phonograph. From
weise nicht aufgenommen. findet sich als Phonographen- Edison toStereo. 3. Auf]. New York. S. 234.
rranskript bei Bruch. 1979. 13 Vgl. Gelan. 1965/1977. S. 282 f.

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and Mechanical Industries (EMI). die nicht von ungefähr absolute Klangräume simuliert. Denn wo Geld und Wahn-
auch Pink Floyd unter Vertrag hatten, die erste Stereoplatte sinn sind, fallen alle Einschränkungen. Den Beweis hat
VOr.14 Die zwei Ohren, über die Menschen nun einmal ver- kein anderer als Barrett erbracht. Er war es, der mit seinem
fügen, sind seitdem keine Naturlaune mehr, sondern eine Azimut Coordinator den Pink Floyd einen technischen
Geldquelle: Sie dürfen einzelne Stimmen und/oder Instru- Vorsprung über alle anderen Gruppen verschaffte. Wie der
mente zwischen zwei Wohnzimmerlautsprechern orten. Name schon sagt, war der Azimut Coordinator eine Be-
Und wenn die Ohren für einmal bei der Ortung versagen, schallungsanlage, die es möglich machte, beliebige Ereig-
dann nur, weil der leitende Toningenieur noch raffinierter nisse, Tracks und Schichten innerhalb der Klangmasse in
war. Als John Culshaw 1959 Soltis wunder~ar übersteuer- beliebige und nach allen drei Raumdimensionen variable
tes Rheingold produzierte, fanden jeder Gott und jede Göttin Positionen zum Hörerohr zu bringen. Brain Damage singt
einen hörbaren Ort auf der Stereoklangfläche. Die Stimme seinen Ruhm. ~
des großen Technikers Alberich aber, wie er seinem Bruder Dreimal setzt der Song ein, und dreimal macht die Klang-
unsichtbar und drastisch die Vorzüge von Tarnkappen vor- reproduzierbarkeit einen historischen Schritt nach vorn.
führt, kam aus allen möglichen Ecken zugleich.15 Und was The lunatic is on the grass ... Kinderspiele und Lachen,
bei Culshaw ein Spezialeffekt blieb, machte Syd Barrett zur also gen au das, was der Edison des Zukunftsromans abhö-
Regel. Der Überlieferung zufolge soll er bei Plattenauf- ren wollte, kommen von draußen ins Haus, durch Mauern
nahmen die vielen Eingangsregler seines Mischpults so bedämpft und durch die Entfernung um ihre Raumkoordi-
wild hin und her gedreht haben, als wären die zwei Stereo- naten gebracht. Ganz entsprechend simuliert eine Stelle auf
kanäle selber ein Instrument ... Wish You Were Here, die im Equalizer um alle Höhen und
Man weiß, seit jenen Gründertagen ging es weiter wie Tiefen beschnitten und dann auf eine einzige Spur über-
eine Explosion. Die sogenannte Reproduktion ist in Pro- spielt wurde, das schlichte Kofferradio.16 Strophe eins ist
duktion von Klängen umgeschlagen und der Treueschwur also, im akustischen Zitat, die dürftige Zeit monauraler
High Fidelity den wirklichen Machbarkeiten gegenüber Wiedergabe.
zur Beschwichtigungsformel verkommen. Nur kommer- The lunatic is in the hall. The lunatics are in my hall ...
zielle und keine technischen Gründe sind heute im Spiel, Schritt um Schritt, Satz um Satz geht es mit monauraler Di-
wenn der Standard von Radio und Platte weiterhin auf stanz oder Abstraktion zu Ende. Weil »Dasein wesentlich
Klangflächen beschränkt bleibt und nicht reale oder gar ent-fernend ist«, also »Seiendes in die Nähe begegnen

14 Vgl. Steve Chapple/Reebee Garofalo. 1977/1980. Wem gehört


die Rock Musik? Geschichte und Politik der Musikindustrie. Rein- 16 Vgl. David Gilmour. o. J .. Interview mit Gary Cooper. In: Wish
bek. S. 66. You Were Here, Songbook. London, S. 77: »When the track dis-
15 »Thus in Scene Tree. Alberich puts on the Tarnhelm. disap- appears into a thin. reedy transistor radio sound which is then
pears. and then thrashes the unfortunate Mime. Most stage joined by a plainly recorded acoustic guitar. there has ob-
productions make Alberich sing through a megaphone at this viously been a lot of thought behind the end product. How did
point. the effect of which is often less dominating than that of they tackle that one? - >When it sounds like it's coming out of
Alberich in reality. Instead ofthis. we have tried to convey. for a radio. it was done by equalization. We just made a copy
thirty-two bars. the terrifying, inescapable presence of Albe- of the mix and ran it throught eq. to make it very rrliddly.
rich: left. right. or center there is no excape for Mime.« (John knocking out all the bass and most of the high top so that it
Culshaw. zitiert in Gelatt. 1965/1977. S. 316.) sounds radio-like.«<

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läßt«,I? rückt ihm auch der Verrückte immer mehr auf den mungszentrum selber stürzt. Der Kopf, nicht bloß als meta-
Leib. Der Hausflur, schon weil er beim zweitenmal zum phorischer Sitz des sogenannten Denkens, sondern als fak-
eigenen wird, hat einen definierten Bezug auf die Raumko- tische Nervenschaltstelle, wird eins mit dem, was an Infor-
ordinaten des Lauschers und Sprechers selbst. Der Flur ist mationen ankommt und nicht bloß eine sogenannte Objek-
nahe genug, um rein nach Gehör ein Links und ein Rechts, tivität, sondern Sound ist. Durchs Ende von Brain Damage
nahe genug auch, um viele Verrückte zu unterscheiden. ziehen die Klänge eines Synthesizers, vermutlich um den
Ganz so fungiert am unvergeßlichen Ende von Grantchester Satz zu beweisen, daß Synthesizer die synthetischen Urteile
Meadows die akustisch gebaute Treppe, über die Schritte der Philosophen längst abgelöst haben.18 Ein Tongenera-
von links nach rechts laufen - vom Vinyl direkt in Räume tor. der Klänge in sämtlichen Parametern - Frequenz,
und Ohren der Hörer hinein. Strophe zwei ist also die Zeit Phasenlage, Obertongehalt und Amplitude - steuern und
von High Fidelity und Stereophonie. programmieren kann, übe~ührt die Möglichkeitsbedin-
The lunatic is in my head. The lunatic is in my head ... gungen sogenannter Erfahrung ins physiologisch totale Si-
Zu deutsch: der Hirnschaden ist angerichtet und ein Azi- mulakrum. •••
mut Coordinator am Werk. Wenn Klänge, durch den gan- Also ist die Geschichte des Ohrs im Zeitalter seiner tech-
zen Hörraum steuerbare Klänge von vorn und hinten, nischen Sprengbarkeit immer schon Geschichte des Wahn-
rechts und links, oben und unten auftauchen können, geht sinns. Hirnschaden-Musik macht alles wahr. was an
der Raum alltäglichen Zurechtfindens in die Luft. Die Ex- dunklen Vorahnungen durch Köpfe und Irrenhäuser gei-
plosion der akustischen Medien schlägt um in eine Im- sterte. Nach Auskunft eines Psychiatrielexikons wird »im
plosion, die unmittelbar und abstandslos ins Wahrneh- Vergleich zu anderen Sinnesbereichen der Gehörsinn von
Halluzinationen am häufigsten betroffen«19. Von weißem
17 Martin Heidegger, 1927/1931. Sein und Zeit. Erste Hälfte. Rauschen über Zischen, Wassertropfen, Flüstern bis hin zu
3. Aufl. Halle/So, S. 105. Technisch gewendet. besagt das Exi- Reden und Schreien reicht die Skala der sogenannten Aku-
stenzial Ent-fernung einfach Radio: »Im Dasein liegt eine wesent- asmen, die der Wahnsinn wahr nimmt oder macht. Alles
liche Tendenz auf Nähe. Alle Arten der Steigerung der Ge-
liest sich also, als wolle das Psychiatrielexikon eine Liste
schwindigkeit. die wir heure mehr oder minder gezwungen
von Pink Floyd-Effekten aufstellen. Weißes Rauschen er-
mitmachen. drängen auf Überwindung der Entferntheit. Mit
dem >Rundfunk< z.B. vollzieht das Dasein heure eine in ihrem
scheint in One OfThese Days, Zischen in Echoes, Wassertrop-
Daseinssinn noch nicht übersehbare Ent-fernung der >Welt< fen in Alan's Psychedelic Breakfast, Schreien in Take Care Of
auf dem Wege einer Erweiterung der alltäglichen Umwelt.« That Axe, Eugene und Flüstern allüberall ...
(Ebd.) Ein Jahrzehnt später hat Heidegger allerdings erkannt. Verwunderlich bei soviel Hellhörigkeit bleibt nur, daß
daß radiophone Ent-fernung im Wesen nicht eines wie auch psychiater es verwunderlich nennen, wenn die Akuasmen
immer un-menschlichen Daseins. sondern der Technik liegt. heutzutage nicht mehr einflüsternden Teufeln oder schrei-
»Das Riesige drängt sich in einer Form vor, die es scheinbar ge- enden Hexen, sondern Radiosendern oder Radarantennen
rade verschwinden läßt: in der Vernichtung der großen Entfer-
nungen durch das Flugzeug, im beliebigen, durch einen Hand-
griff herzustellenden Vor-stellen fremder und abgelegener
Welten in ihrer Alltäglichkeit durch den Rundfunk.« (Martin 18 Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, 1980/1992, Kapitalismus
Heidegger, 1950, Holzwege. Frankfurt/Mo, S. 87.) Vom Dasein und Schizophrenie, Tausend Plateaus. Berlin, S. 133 und S. 469.
zur Technik als Sarzsubjekten der Entfernung - nichts ande- 19 Christian Müller (Hrsg.), 1973, Lexikon der Psychiatrie. Berlin-
res war Heideggers >Kehre<. Heidelberg - New York. S.V. Halluzination.

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zugeschrieben werden.20 Verrückte scheinen informierter phen und allen Ohren zur Lust. Unerfüllbar ble~bt die Bitte,
als ihre Ärzte. Sie sprechen es aus, daß der Wahnsinn, statt die der Song If (über denselben Synthesizerschheren wI.e m
bloß metaphorisch von Radiosendern im Hirn zu faseln, Brain Damage) an einen unbekannten Gon oder Ingen~eur
gerade umgekehrt eine Metapher von Techniken ist. Schon richtet: And ifI go insane, please, don't put your WIres mto
weil er immer auf die modernsten Prüfstände gerät, regi-
my brain ...
strieren seine Antennen den jeweiligen Stand der Informa- Der Hirnschaden ist unvermeidlich. Die Antennen, vor
tionsverarbeirung in historischer Präzision. denen die Irrsinnsangst (im doppelten Wortsinn) zinert,
Denn nur unter Bedingungen einer Kultur, die Diskurse haben die Hirne längst invadiert, auch ohne Kenntnis-
als individuelle Sprechakte und dergleichen zu hören be- nahme von psychiatern. Sie senden und senden auf alle?
fahL klingen Diskurse über Diskurskanalbedingungen Frequenzen von LW bis UHF. Nur die Strophen von Bra~.n
(Rauschen und Zischen, Raumklang und Nachhall) not- Damage singt Waters als Solo~ber einer dünnen I~langf1~-
wendig irre. Wenn aber Sprechakte grundsätzlich mass ehe, die die Unschuld akustischer Gitarren slmuhert. !?le
media-acts sind, anonyme und kollektive Veranstaltun- Refrains sind Glocken von Sound, zahllose Tracks a~l~-
gen,21 ist dieser Irrsinn die Wahrheit und umgekehrt. Ein ander. die sich dröhnend über Ohren und Hirn stülpen. DIe
Pressestatement und das heißt mass media-act der EMI aus Strophen spricht ein Ich, anfangs ~ber den Verrückten
den Tagen, da man auch Pink Floyds beziehungsreichen draußen, am Ende, nachdem der AZImut Coordmator ab-
Titel Let's Roll Another One verbot,22 illustriert das aufs stands lose Nähe hergestellt hat. zu ihm. Die Refrains dage-
schönste. »Die Pink Floyd«, erfuhren damals Englands Zei- ~en mit ihren Wenn-Sätzen sind Antwort - ein Dis~~rs
tungsschreiber vom Plattenkonzern, »wissen überhaupt des Anderen, der die Strophen vom Kopf auf dIe Fuße
nicht, was die Leute mit psychedelischem Rock meinen, stellt. Ein wiedergekehrter Barren tut, was sie ihm zuge-
außerdem haben sie keineswegs die Absicht, halluzinatori- sprochen haben. You make the change, you re-arrange me
sehe Effekte auf ihre Zuhörer auszuüben.«23 'till I'm sane.
Auch wenn Barretts glorioser Azimut Coordinator nicht Ein Heilen und Umkrempeln, das sehr einfach und kon-
ohnehin dafür gesorgt hätte, daß PF-Hörer mit Schwindel- kret über Arrangement und Aufnahmetechnik läuft. Im er-
anfällen ins Krankenhaus gefahren werden mußten - sten deutschen Kunstkopfhörspiel (und die Kunstkopfste-
schon solche Statements sind ein unfehlbares MitteL um reophonie lieferte ja nur einen Azimut Coordinat~.r zum
Leute verrückt zu machen. Zu sagen, daß man es nicht vor- Privathausgebrauch) waren alle Stimmen und Gera~sche
hat, heißt sagen, wie leicht es wäre, weil Ohren ja unmög- mit Stereomikrophonen aufgenommen - außer der emen,
lich zu schließen sind. Sie lügen und spinnen also, die mass die zugleich Computer-Output und Wahnsinns-Input dar-
media-acts, aber zum Leidwesen wirklich nur von Philoso- stellen sollte. So elegant machte das Hörspiel semen Tnel
Destruction wahr: Wenn unter zahllosen Stimmen, die im
20 So etwa Eugen Bleuler, 1916/1969, Lehrbuch der Psychiatrie.
II. Aufl., Hrsg. Manfred Bleuler, Berlin - Heidelberg - New dreidimensionalen Hörraum zu orten sind, eine und nur
York, S. 32. eine ohne Koordinaten auftaucht, wird sie unfehlbar im
21 Vgl. Deleuze/GuanarLl980/l 992, S. 114. implodierenden Kopf geortet. Unter Bedingungen pe:fek-
22 Vgl. Alain Dister/Udo Woehrle/Jacques Leblanc. 1978. Pink ter Raumsimulation braucht es Culshaws AlbencJ:-Llsten
Floyd. Bergisch-Gladbach, o. S. gar nicht mehr. Gerade die harmloseste und altmodischste
23 Zitiert in Paul Sahner/Thomas Veszelitis. 1980. Pink Floyd. Aufnahmetechnik macht Helden und Hörer emes Kunst-
München, S. 23 f.
kopfhörspiels verrückt.
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Nicht anders funktioniert Brain Damage. Der dritten Stro- zung: »Des dieux nouveaux, les memes, gonflent deja
p~e über jemand in meinem Kopf, der aber nicht ich ist. ]' Ocean futur. «26
wIrd ein ..Gelächter zugemischr. Ein Gelächter. das nicht Nietzsche, der an anderer Musik nur Wagner kennen
nur alle Angste vor Antennen im Hirn zum großen nietz- konnte, träumte einmal von »einer tieferen, mächtigeren,
scheanischen Ja verkehrt, sondern (weil es in listiger Aus- vielleicht böseren und geheimnissvolleren Musik, welche
nahme monaural aufgenommen wurde) selber die An- vor dem Anblick des blauen wollüstigen Meeres und der
tenne im Hirn ist. mittelländischen Himmels-Helle nicht verklingt. vergilbt.
In diesem Lachen sind ganz zu Anfang der Platte die er- verblasst. wie es alle deutsche Musik thut, einer übereuro-
sten hörbaren Sätze untergegangen, als eine triumphale päischen Musik, die noch vor den braunen Sonnen-Unter-
Stimme verkündete, daß sie immer verrückt gewesen ist gängen der Wüste recht behält«27. Genau diese Musik ist
und es auch weiß. Mit seiner Wiederkehr am Plattenende, es, die der Irre von Brain Drilmageauf die dunkle Mondseite
wenn das panische Lachen im Hörerkopf implodiert, siegt als Treffpunkt für andere Musiken verlegt. Genau diesem
Pmk Floyds Irrer über seine Begleitband. Sonnen-Untergang hielt das sagenhafte italieniscl'e Kon-
Es gibt also zwei Musiken. Die eine als Zitat (und nicht zert der Pink Floyd stand. als die vier stundenlang reglos
Erinnerung) von Stimme und Natur; die andere, mit Paul auf der Uferlinie standen und erst in der Sekunde, da der
Celan zu reden, ein Lied von jenseits der Menschen.24 I've rote Ball den Meeresrand berührte, mit Gongschlag ein-
always been mad, I know I've been mad ... setzten.
Und Himschaden besagt. daß die andere Musik trium- Nicht umsonst wurde Dark Side of the Moon zur Eröffnung
phieren wird. Benn schrieb: »Radio ist der Natur weit über- des Londoner Planetariums produziert. Erst die mächti-
legen, es ist umfassender, kann variiert werden.«25 Nichts gere, vielleicht auch bösere Musik unseres Jahrhunderts
und niemand limitiert die Möglichkeiten elektronischer hat ihre Antennen in der Domäne Astronomie. Europas
Medien. Jenseits aller Irrsinnsängste sind immer noch an- klassischer Tonsatz war Beherrschung des unaufhörlichen
dere Musiken machbar. Schön, aber leicht antiquiert, soll Rauschens ringsum durch eine Form und einen Binärcode
Barrett gemurmelt haben, als er nach Jahren des Aus- (Dur/Moll. Konsonanz/Dissonanz usw.). Romantische Mu-
schlusses wieder einmal in die Abbey Road-Studios kam sik war und blieb Decodierung solcher Oppositionspaare:
und neue Bänder seiner ehemaligen Begleitband abhörte. ein Lied von der Erde, das nicht zufällig beim Wort »Erde«
Aus diesem Murmeln macht das Ende von Brain Damage alle Dreiklangsharmonik aufsprengte wie »morschen
ein großes lachendes Versprechen. Dann, wenn die PF an- Tand«. Die Musik unseres Jahrhunderts aber verläßt auch
dere Musik spielen, wird ihr Irrer wiederkehren. And ifthe noch Erde oder Lebenswelr. Kosmische Strahlen quellen
band you're in starts playing different tunes, I'll see you on und neurologische Energien - Mächte also jenseits und
the dark side of the moon. Oder in französischer Überset- diesseits des Menschen - sind ihre zwei Pole.28 Der Kurz-
schluß dazwischen löst sie aus.
Klarer nicht als auf dem Cover von Dark Side könnte das
24 Zu den zwei Musiken vgl. auch The Wall, wo der Maximie- 26 Michel Foucault, 1966, Les Mots et les chases, Paris
rung VOl" Wattzahlen am Ende ein kleines Stück mit Akkor- 27 Friedrich Nietzsche, 1885. Jenseits von Gut und BÖ!!e. § 255. In:
deon. Klarinette und Kindenrommeln folgt - einmal noch Nietzsche, 1967 - 93, Bd. VI 2, S. 208 f.
Merry Old England. 28 Zum Vorstehenden vgl. Deleuze/GuattarL 1980/1992, S. 460
25 Benn. ]949. S. 182. bis 474.

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bezeichnet sein. Pink Floyds Designerteam mit dem genau-
en Namen Hipgnosis zeigt auf schwarzem Grund einen Nietzsche, der diese Diskurskanalisierungstechnik wie-
lichtstrahL der in die einzelnen Spektralfarben auseinan- derentdeckte, lieferte auch gleich den philologischen Be-
dergehr. um zu einer Linie zurückzuführen, die aber ein weis nach: Der griechische Rhythmus maß SeIben nicht
E.KG ist -: Oszillogramm der Herzschläge, mit den Dark wie die Neuzeit nach ihrer Bedeutung im Wort, sondern
Szde emsetzt und ausklingt. So holt elektronische Technik einfach nach akustischer Länge oder Kürze. Deshalb und
zuletzt die Ahnungen ein, die seit unvordenklichen Zeiten nur deshalb blieb antike Lyrik an einen Fuß, den buchstäb-
das irre Hirn von lunatics mit Mond und Sternen kurz- lichen Fuß tanzender Körper gekoppelt. Wenn dagegen in
schließen. moderneuropäischen Sprachen die Wortbedeutung über
Und mondsüchtig werden sie in der Tat. die Hirnscha- Betonung und Versrhythmus bestimmt.31 schwindet mit
d~n-Hörer. So viele Verse gelesen. so viele Verse vergessen, dem Körpergedächtnis auch die Musik aus der Lyrik. Den
Pmk Floyd aber bleibt im Kopf - »Ich von heute, der mehr Texten ist nicht mehr zu entne~men, wie sie zu singen oder
aus Zeitungen lernt als aus Philosophien, der dem Jour- zu tanzen sind. Ob und wie sie nachträglich in die Mnemo-
nalismus nähersteht als der Bibel, dem ein Schlager von technik Musik gesetzt werden, bleibt Zufalp2 .••
Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Moteue.«29 Auch Vielleicht ist eben darum klassisch-romantische Lyrik di-
wenn am Ende von Brain Damage eine Stimme »I can't rekter als alle anderen Dichtungsgauungen an Erlebnis und
think of anything to say« murmelt, auch wenn Bücher Psychologie ihres Schreibers gekoppelt worden. Im Imagi-
lachhaft und Musikbeschreibungen hinterm Mond sind nären wurde es möglich, auch leise gelesenen Versen, vor
gibt es alse noch etwas zu schreiben, einfach weil etwa~ jeder Komposition, eine innere Musik einzuhauchen. Weil
nicht aufhört, sich (ein)zuschreiben. Brain Damage singt ja zwischen den Zeilen phantasmagorische Stimmen flüster-
nicht von Liebe oder sonstwelchen Themen _ es ist eine ten (für Leser die der Mutter und für Leserinnen die des
einzige und positive Rückkopplung zwischen Sound und Autors), blieb Poesie im verliebten Gedächtnis. Klassisches
Vergißmeinnicht hieß ein winziges Buch mit lauter Goethe-
Hörero~ren. Klänge verkünden, was von Klängen ange-
stellt WIrd. Und das überbietet alle die Wirkungen, die das versen. Und erst unter hochkapitalistischen Bedingungen,
als Konsumenten bei solcher Psychologie zu gähnen anfin-
alte Europa sich vom Buch der Bücher oder unsterblichen
Dichtern versprach. gen und härtere Drogen vorzogen, stellte die Lyrik ihre
Wörter der Vergängnis zu entreißen, ist das einfache Ge- Mnemotechnik aufs kalte Medium Schrift um. Baudelaires
heimnis jeder Lyrik. Als die Griechen den Hexameter er- Fleurs du Mal beginnen mit einer ausdrücklichen Anrede
des Lesers, die die ganze Geschichte vom Gähnen bis zur
fande~, hatten sie nichts anderes im Sinn. »Das rhythmi-
Wasserpfeife auch erzählt.
sche Tlktak«3o sollte bestimmte Reden für Menschenohren
Moderne Lyrik: ein Sondervergnügen von und für Buch-
unentrinnbar machen und für Götterohren, über alle Ent-
stabenfetischisten, während ringsum Buchstaben und No-
fernung hinweg, verstärken. (Die einen sind so vergeßlich
und die anderen so schwerhörig.) ten, diese einzigen und einzig symbolischen Tonspeicher
31 Vgl. dazu Friedrich Kittler. 1979. Nietzsche (1844 -1900). In:
29 Benn. 195 L Probleme der Lyrik. In: Benn. 1959 _ 61, Bd. r. Klassiker der Literaturtheorie. Von Boileau bis Barthes. Hrsg. Horst
S. 518. Turk. München, S. 200 - 204.
32 Das zeigt am Beispiel von Schubens Goethe-Venonungen
30 Nietzsche. Die fröhliche Wissenschaft. In: Nietzsche. 1967-93,
Bd. V 2. S. 116. Thrasybulos Georgiades, 1967, Sprache als Rhythmus. In: Spra-
che und Wirklichkeit. Essays. München. S. 224 - 244.
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Alteuropas, allenthalben von elektrischen abgelöst wer-
den. E- und U-Kultur ... den Song, der sie einmal noch heraufbeschwört. Was in
Nicht umsonst war Wilden bruch bewegt, als er seine Büchern oder Partituren nur als vertracktes Spiel (durch
Phonographen-Verse in den Phonographen sprechen durf- Rollenlied, Perspektivenwechsel, Naturzitat) anzudeuten
te. Der Lyrik, wie sie so lange und so vielen die Liebe gewe- wäre, wird im absoluten Klangraum Ereignis. So kehren
sen war, schlug an jenem Tag die Totenglocke. Wozu noch sie denn wieder: die Mittagsstille, der Wiesengrund. das
Dichrung in technischer Zeit? Medien sind viel zu gut, um Lachen eines Gones.
ihre Speicherkapazitäten aufKlang, Spruch und Seele eines Und seitdem die Rockgruppen, stan auf Befehl eines Mu-
Wilden bruch zu beschränken. Mnemotechnische Hilfs- sikkonzerns nur vorfabrizierte Einzelnummern irgendweI-
konstruktionen wie Autorschaft oder Individualität wer- cher Texter, Komponisten und Arrangeure nachzuspielen,
den überflüssig, wenn Planenrillen und Magnetbänder selber im Studio Parameter über Parameter, Schicht auf
Sound, das Unaufschreibbare selber, bannen können. In Schicht, Wörter über Klä~e legen, seit den LPs der sechzi-
der U-Kultur kehrt die uralte Kopplung zwischen WOrt und ger Jahre also, ist der Soundraum auch von Ordnungshü-
Musik nach Jahrtausenden wieder, aber nicht mehr nur tern gesäubert. There's someone in my head, butit's not
über die Füße von Versen und Tanzenden, sondern als Ein- me. Nur Atavismen wie das Urheberrecht. dasja nicht um-
schreibung ins Reelle.JJ Pink Floyd bleibt im Kopf - eben sonst aus der Goethezeit stammt, zwingen noch zur Na-
weil den Leuten kein Gedächtnis mehr gemacht werden mensnennung von Textern und Komponisten (als ob es
muß, sondern Maschinen selber das Gedächtnis sind. Und dergleichen im Soundraum gäbe). Viel eher wären die
erst damit wird es möglich, über Wörter und Melodien Schaltpläne der Anlagen und (wie auf dem Cover von Dark
hinaus auch Instrumentalfarben, Klangräume, ja sogar die Side) die Typennummern der eingesetzten Synthesizer au.f-
abgründige Stochastik des Rauschens zu speichern. zuführen. Aber so läuft einstweilen noch manches. »Die
Respighis kleine Nachtigall hat Karriere gemacht. Das berühmte Personalisierung der Macht ist zugleich eine die
irre Gelächter von Brain Damage und die seligen Sommer- Terrirorialisierung der Maschine verdoppelnde Territoria-
tagsgeräusche von Grantchester Meadows werden nicht bloß lität. Man hat zuweilen den Eindruck, daß die Kapital-
besungen; sie sind zur selben Zeit auch selber hörbar. Mit ströme nicht ungern sich auf den Mond schießen ließen,
all ihren Geräuschen grundiert eine Wiese bei Cambridge wäre nicht der kapitalistische Staat da, der sie auf die Erde
verwiese.«J4 I'll see you on the dark side ofthe moon.
33 Vgl. Jean leseure, 1958, Radio et litterature. In: Encyclopfdie de Aber wer kann sagen, was Mond und was Erde ist. So
fa F!eiade, Histoire des litteratures. Bd. III, Hrsg. Raymond Que- you think you can tell Heaven from Hell, spottet ein Song
neau, Paris, S. 1705 - 1708. Nichts kann die technische Kopp- auf Wish You Were Here. Und der letzte Satz auf Dark Side of
lung von Won und Musik schöner (und damit auch philologi- the Moon, kaum mehr hörbar in die ausklingenden Herz-
scher) belegen als zwei auf Dark Side versteckte Zitate. Die Zeile schläge hineingeflüstert, sagt dasselbe: There's no dark
»look around and choose your own ground« spielt selbstre- side in the moon, really. As a matter of fact, it' s all dark.
denc! auf Don Juans ersten Auftrag an seinen Schüler Casta- Auch ein Herz, das an Kontaktmikrophonen und Oszil-
neda an. Aber auch der rätselhafte Befehl »Run. rabbit. run!«
loskopen hängt, wird stilL Und wenn mit Lautynd Leise,
ist WÖrtliches Don-Juan-Zitat (vgl. Carlos Castaneda, 1973.
Journey to Ixtlan. The Lessons of Don Juan. Harmondswonh,
Hell und DunkeL Himmel und Hölle alle Unterschiede
S. 154). So wird die Schallplatte (wie schon in lennons Revolu- schwinden, kommt ein anderer Raum näher, den andere
tion 9) zum Kanal und Speicher von Geheimbotschaften.
34 Deleuze/GuattarL 1974, S. 332.
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Kulturen wohl Satori nennen. Darum sollte man die Me-
dien explosion unserer Tage nicht so medientheoretisch ill
wie ihre Propheten hören. Nach Marshall McLuhan wäre
die Botschaft der Synthesizer einfach der Synthesizer. Aber
wenn es vor lauter Dunkel gar keine dunkle Mondseite
gibt. geben elektronische Medien womöglich von dunkle-
ren Gestalten Kunde. O-Ton Waters: »The medium is not
the message. Marshall ... is it? I mean, it's all in the lap of
the fucking gods ... « (Pause for laughter)35
Vom Take Off der Operatoren
...
35 Roger Waters. A Rambling Conversationwith Roger Waters concer-
Nennen wir es die Sache von Literatur und damit auch von
ning All this and that. Interviewed by Nick Sedgewick. In: Wish Literaturwissenschaft, den Zusammenhang des N~tzes, in
You WereHere. Songbook, S. 13. dem Alltagssprachen ihre Untertanen einfangen, überlie-
ferbar zu machen. Und wem diese Bestimmung fremd
klingt, sei erstens daran erinnert, daß ohne nachrichten-
technische Bestimmungen von Literatur und literaturwis-
senschaft in Bälde kaum mehr die Rede sein könnte. Zwei-
tens und etwas philologischer sprach auch Goethes Erd-
geist davon, »der Gottheit lebendiges Kleid zu wirken«.
Aber wie Fausts Zusammenbruch beim theatralischen Er-
scheinen jenes Geistes schon zeigte, lassen sich solche
Netze oder Verweisungsganzheiten einer Alltagssprache
nicht wieder selber einfangen. Damit alles sich zum Gan-
zen webt, sitzt auf dem Webstuhl eine Deckelhaube. Hoff-
nungsvolle Theoretiker der Nachkriegszeit schöpften dar-
aus - im Blick auf die Drohung, die von den formalen
Sprachen dieses Jahrhunderts auf den Geist und seine
Wissenschaften ausgeht - das schöne Theorem, Alltags-
sprachen seien ihre eigenen Metasprachen und folglich
unhintergehbar.
Es gibt aber durchaus Möglichkeiten, Ränder oder Gren-
zen solcher Netze zur Gegebenheit zu bringen, ohne so-
gleich auf die Seite der Formalisierung überzuwechseln
und damit alltagssprachliche Mitteilbarkeit selber zu op-
fern. Diese Annäherung an Grenzwerte der Sprache wird
um so nötiger. je konsistenter die modernen Nachrichten-
techniken. durch Bildung von Medienverbundsystemen,

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