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Anlagekommentar Nr. 273 vom 4.

Oktober 2010

Deflation? es um jeden Preis zu vermeiden, so die überein-


stimmende Haltung.
In diesem seltsamen Jahr 2010, das durch ein
1. Das Aus des „Exit“ Nebeneinander von Schuldenkrise und Auf-
Wenn von Inflation die Rede ist, dann setzen die schwung, von rekordhoher Liquiditätsversorgung
Verantwortlichen in Notenbanken eine pro- durch die Notenbanken und rekordtiefer Kredit-
fessionell wirkende Miene auf, sprechen in schöpfung durch die Geschäftsbanken, von boo-
technokratisch geprägter Terminologie von menden Obligationenmärkten und einem
„Kerninflation“, „importierter Teuerung“, „Out- schwindelerregenden Kursanstieg im Gold ge-
put Gap“, „impliziter Inflationserwartung“ und prägt ist, in diesem Jahr 2010 mäandriert auch die
daraus abzuleitenden Prognosen, beteuern in geldpolitische Stimmungslage zwischen Inflati-
glaubensbekenntnishafter Weise ihre Treue zur onsbefürchtungen und Deflationsängsten. So
Preisstabilität und geben unmissverständlich zu hatte bis im Frühjahr das Wort „Exitstrategie“
verstehen, dass sie die Sache völlig im Griff hät- Hochkonjunktur. Darunter ist das Verfahren zu
ten. Die notwendigen Instrumente zur rechtzeiti- verstehen, wie die Notenbanken sich aus dem
gen Reduktion der Geldmengen seien vorhanden, „Quantitative Easing“ verabschieden können,
und selbstverständlich dürfe niemand daran zwei- indem sie die im Rahmen dieser Politik in grossen
feln, dass im Bedarfsfall auch gehandelt würde, so Mengen aufgekauften Wertschriften veräussern
unpopulär sich dies dann auch erwiese. Aber und die Zinsen erhöhen. Da man mit dem Quan-
dessen sei sich jeder Notenbanker ja bewusst, und titative Easing keinerlei Erfahrung hat – in die-
überdies sei man kraft gesetzlich festgelegter sem Stil hatte es das in der Geschichte des
Unabhängigkeit ja frei von jeglichen Interessen- Geldwesens noch nie gegeben – ist es auch nahe-
bindungen. Nun, da in geldpolitischen Angele- liegend, dass bezüglich der Exitstrategien etwel-
genheiten Perzeption mindestens die Hälfte des che Nervosität herrschte. Würde es gelingen, die
Erfolgs ausmacht, ist ein derart gut eingeübtes Notenbankbilanzen ohne allzu schlimme Verwer-
Normverhalten gewiss zu begrüssen. Das Problem fungen an den Bondmärkten zu entlasten? Würde
besteht höchstens darin, dass uns allen die Erfah- es rechtzeitig erfolgen? Was wären die Auswir-
rung mit Inflation und Inflationsbekämpfung über kungen auf die Kreditmärkte beziehungsweise auf
die letzten zwanzig Jahre abhanden gekommen die Kredittätigkeit der Banken? Könnte es einen
ist, dass es der heutigen Generation von geldpoli- Kollaps bewirken? So die Diskussionen, die,
tisch Verantwortlichen an Tatbeweisen fehlt und wenn wir es richtig überblicken, noch keineswegs
dass ihre Glaubwürdigkeit deshalb mehr und zu Ende geführt worden sind.
mehr nur noch von gekonnt formulierten Äusse- Seit der Eurokrise im Mai/Juni 2010 und seit dem
rungen abhängt. Eintreffen von immer düstereren Wirtschaftszah-
Wenn nicht von Inflation, sondern von Deflation len aus den USA hat der „Exit“ vorderhand aus-
gesprochen wird, dann verändert sich die Körper- gedient. Nun dreht sich alles um die Deflation.
sprache der Notenbanker sichtbar. Nun wird’s Der Fed-Gouverneur Bernanke wäre gemäss
beinahe feierlich. Feierlich-drohend. Inflation – jüngsten Äusserungen bereit, zugunsten der De-
gewiss, eine schlimme Sache. Aber, wenn nicht zu flationsbekämpfung die Schleusen des Quantita-
vermeiden (weil man mit der Liquiditätsabschöp- tive Easing noch einmal voll zu öffnen, und die
fung eben doch zu spät kam), dann doch be- Regierung Obama überschlägt sich vor den No-
kämpfbar. Deflation hingegen: unkontrollierbar, vemberwahlen förmlich in Vorschlägen, wie zu-
desaströs. Die Steigerung von Deflation heisst lasten des ohnehin schon extrem strapazierten
Depression, und oft endet dann die Predigt in den Staatshaushalts weitere stimulierende Programme
dunklen Dreissigerjahren und dem zweiten Welt- lanciert werden könnten. Deflationsbekämpfung,
krieg. Heulen und Zähneklappern. Deflation gilt wie bemerkt, um jeden Preis ist angesagt, selbst
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auf die Gefahr hin, dass man dazu über keine gen zum Erliegen. Der für die Wirtschaft relevan-
tauglichen Mittel verfügt. te Geldumlauf richtet sich deshalb einerseits nach
Die verbale Entschlossenheit der (Geld-)Politiker der durch die Notenbank zur Verfügung gestell-
kontrastiert deutlich mit der allgemeinen Ratlo- ten Geldmenge, andrerseits nach der von Erwar-
sigkeit, die an den Aktienbörsen und in den Wäh- tungen geprägten Geldumlaufgeschwindigkeit.
rungsmärkten vorherrscht. Das letztlich ziellos Diese Feststellung ist mit Blick auf die rekordtie-
erscheinende Auf und Ab von Aktienkursen und fen Zinsen und die offensichtlich sehr tiefe Velo-
die unaufhaltsame Erosion der Hauptwährungen zität des Geldes in wichtigen Regionen der
US Dollar und Euro wirken zermürbend. Die Weltwirtschaft (USA, Japan und Europa) von
Deflation, wie sie mehr und mehr zum Schreck- Bedeutung: Je tiefer die Umlaufgeschwindigkeit,
gespenst des Westens erhoben wird, erstickt desto unwirksamer wird die Geldpolitik. Das
aufkommende Freude über Erfolge des Unter- Quantitative Easing entspricht einer Art monetä-
nehmenssektors im Keime. Es wird deshalb Zeit, rer Verzweiflungstat, Erwartungsmanagement
dass wir uns dem Phänomen der Deflation annä- betreiben zu können. Auf unsere Vermutung,
hern und versuchen, die für den Anleger relevan- dass Quantitative Easing und Stimulierung durch
ten Folgerungen abzuleiten. den (überschuldeten) Fiskus genau das Gegenteil
bewirken, nämlich die Erwartungen zusätzlich
2. Inflation und Deflation: nicht spiegelbildlich dämpfen und die Geldumlaufgeschwindigkeit auf
Zunächst gilt es, einige theoretische Aspekte zu Dauer tief halten, ist zurückzukommen.
beleuchten. Beide Begriffe, Inflation wie Deflati- Bedrohlich werden Inflation und Deflation, wenn
on, betreffen die Geldseite der Wirtschaft und sie zum spiralartigen Selbstläufer verkommen.
deuten auf ein Ungleichgewicht hin. Bei Inflation Wenn die allgemeine Teuerung über Lohnerhö-
wird der Produktion von realen Gütern laufend hungen die Produktionskosten ansteigen lässt und
zuviel Geld gegenübergestellt, bei Deflation ist es diese wieder vollumfänglich auf die Güter und
umgekehrt: Die Geldmenge verringert sich, wäh- Dienstleistungen überwälzt werden können, dann
rend die Produktion von Gütern sich langsamer befindet sich eine Volkswirtschaft in einer Inflati-
reduziert. Gründe für ein solches Ungleichge- onsspirale; durch rigorose Zinserhöhungen ver-
wicht können auf der realen oder auf der monetä- fügt die Notenbank aber über ein taugliches
ren Seite liegen. So führen Produktivitätsgewinne, Mittel, um dem Spiel ein Ende zu setzen, da die
zum Beispiel aufgrund wichtiger Erfindungen wie Geldumlaufgeschwindigkeit ja hoch und das Sys-
der Dampfmaschine oder der Telefonie, bei tem damit reagibel ist. Bei der Deflation liegt
gleichbleibender Geldmenge zu einer Ausweitung diese Konstellation, wie gesagt, nicht vor; die
der Produktion; die Preise sinken. Umgekehrt monetäre Waffe ist stumpf, weshalb der Ruf nach
kann der Ausfall eines wichtigen Importlandes zu Stimulierung durch den Fiskus nur logisch er-
einer Verknappung auf der Güterseite führen; die scheint. Ansonsten würden, quasi endlos, laufend
Preise steigen. Eine verfehlte Geldmengensteue- tiefere Güter- und Dienstleistungspreise zu tiefe-
rung durch die Notenbank zielt an den Produkti- ren Arbeitseinkommen führen und die Schulden-
onsverhältnissen der Wirtschaft vorbei und kann last, zum Beispiel für Hypotheken auf Häuser,
ihrerseits in- oder deflationär wirken. relativ gesehen erhöhen; dies wiederum würde die
Da wir es in der Wirtschaft mit denkenden und Haushalte zum Konsumverzicht zwingen. Die
fühlenden Menschen zu tun haben und nicht mit Unternehmungen würden aufgrund der tieferen
Robotern, die lediglich auf Befehle reagieren, Umsätze weniger verdienen und weniger investie-
führen Modifikationen sowohl auf der realen ren, was unter anderem wiederum zu tieferen
als auch auf der monetären Seite der Wirtschaft Löhnen führen würde. Wann dann die Depressi-
zu Erwartungs- und Verhaltensveränderungen. on beginnt, ist nur noch eine semantische Frage.
Wenn allgemein geglaubt wird, dass die Preise So das bedrohliche Bild der Deflationsspirale.
steigen werden, wird lieber heute als morgen Deflationsspiralen, welche in einer Depression
gekauft; in einem Umfeld sinkender Preise hinge- enden, sind im Gegensatz zu Phasen mit Inflation
gen dürfte, soweit es nicht den täglichen Bedarf oder gar Hyperinflation geschichtlich gesehen rar.
betrifft, mit der Anschaffung von Gütern und Genau genommen sogar sehr rar, denn jene der
dem Nachsuchen nach Dienstleistungen eher Dreissigerjahre ist eigentlich die einzige, welche
zugewartet werden. diesen Namen verdient. Der Wirtschaftsgang in
Bei Inflation gleicht Geld einer heissen Kartoffel, Japan während der letzten zwanzig Jahre war
die so rasch als möglich weitergereicht wird; die zwar äusserst schleppend, von anhaltender Defla-
Umlaufgeschwindigkeit (Velozität) des Geldes ist tion, geschweige denn von einer „Depression“ zu
hoch. Im deflationären Klima kommt diese dage- sprechen, wäre aber haltlos. Wir erachten es ins-
besondere auch für masslos übertrieben, das

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Schreckgespenst für die gegenwärtige Wirt- Über wieviel Spielraum man für die Anpassung
schaftssituation in den USA oder in Europa zu an neue Gegebenheiten verfügt, ist selbstver-
bemühen. Denn wir bezweifeln die Idee der De- ständlich nicht nur die Frage der voraussichtli-
flationsspirale in grundsätzlicher Hinsicht. Die chen (fiskalischen) Rahmenbedingungen, sondern
Geschehnisse der Dreissigerjahre sind unseres auch der eigenen finanziellen Situation, sprich:
Erachtens nicht hinreichend, um ein theoretisches des Verschuldungsgrads. Wer mit hoher Ver-
Konzept „Deflationsspirale“ zu begründen. Viel- schuldung in eine deflationäre Phase gerät, droht
mehr könnte es sich ja auch lediglich um eine mit ihr unterzugehen. Weshalb? Weil die Kosten
unglückliche Verkettung von katastrophalen für die Bedienung der Schulden fix sind, somit in
ökonomischen Irrtümern gehandelt haben. diesem Bereich der Aufwand nicht angepasst
werden kann. Deflationsphasen, ob durch eine
3. Produktivität als Schlüsselfaktor Rezession oder durch einen Technologieschub
Die Vorstellung der Deflationsspirale beruht auf herbeigeführt, sind deshalb auch Zeiten der Re-
der Idee, dass der wegen gesunkener Gesamt- strukturierungen. Im wesentlichen muss Fremd-
nachfrage schrumpfende Umsatz der Unterneh- kapital zu Eigenkapital gewandelt werden,
mungen über tiefere Absatzpreise zwingend zu nachdem altes Eigenkapital wegen Insolvenz
tieferen Erlösen führen müsse. Das trifft dann zu, abgeschrieben worden ist. Ein künstlich hinaus-
wenn man die Produktionskosten als fix gegeben gezögerter Bereinigungsprozess behindert ledig-
annimmt. Wenn man in das Konzept aber die lich die Freisetzung innovativer Kräfte und
Möglichkeit einbaut, dass sich die Unternehmun- verhindert Investitionen. Auch in dieser Hinsicht
gen den neuen Gegebenheiten anpassen und alles zielt manches Stimulierungsprogramm, das in
Erdenkliche veranlassen, um unter dem Strich erster Linie Arbeitsplätzen und damit zumeist
doch wieder mehr zu verdienen, dann stoppt die auch verkrusteten Strukturen gilt, völlig in die
Spirale unvermittelt. „Alles Erdenkliche“: Das entgegengesetzte Richtung. Billiges Geld, mit
entspricht genau dem, was man unternehmeri- dem die Schulden erträglich gehalten werden,
sches Handeln nennt, das heisst Innovation und fördert den Bereinigungsprozess ebenfalls nicht.
Investition. Kapitalintensiver gestaltete Prozesse Die grobe Unterschätzung der Flexibilität der
lassen auch bei tieferen Preisen höhere Erlöse zu. Unternehmungen zur Erreichung höherer Pro-
Die Voraussetzung dafür, dass Innovation und duktivität sowie die systemimmanente Neigung,
Investition auch in wirtschaftlich düsteren Zeiten zu hohe Verschuldung (inklusive gewisse Staats-
stattfinden, besteht in der Aussicht, künftig dank schulden) in ihrer illusionären Werthaltigkeit zu
der gemachten Anstrengungen doch wieder mehr erhalten: Das sind die Eckwerte der fehlerhaften
zu verdienen. Wenn nun allerdings wegen dro- Rezepte, welche Keynesianer wie Krugman oder
hender Staatsdefizite die Erwartungen an den Stiglitz vertreten und welche in den USA wie
künftigen Grenzertrag (nach Steuern…) negativ auch in Europa politisch umgesetzt werden. Dank
ausfallen, dann wird man sich tendenziell hüten, des eklatanten Misserfolgs der Massnahmen wird
Zeit, Anstrengung und Geld in verbesserte Ver- die Kritik nun endlich lauter. Ob das reichen
fahren zu stecken. Hierin liegt die angesprochene wird, dass das Steuer herumgerissen wird, darf
Crux der Stimulierungspakete: dass sie mehr und allerdings füglich bezweifelt werden.
mehr negative Erwartungen bezüglich der künfti-
gen Grenzerträge auslösen. 4. Makro versus Mikro

Sinkende Preise, auch auf breiter Front, sind nicht Zu Beginn dieses Kommentars haben wir vom
als solche schlecht; die entscheidende Frage ist, „seltsamen Jahr 2010“ mit seinem Nebeneinander
über welchen Spielraum die Wirtschaftssubjekte von Phänomenen, wie sie zeitgleich miteinander
verfügen, um sich jeweils verändernden Gege- nicht vorkommen dürften, gesprochen. Die Schil-
benheiten anzupassen. Sinkende Preise sind auch derung der Anstrengungen im Kampf gegen das
keineswegs gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Schreckgespenst Deflation mittels untauglicher
Krebsgang. Im Gegenteil: wichtige technologische Mittel, ja, unter Inkaufnahme kontraproduktiver
Entwicklungen sind deflationärer Natur, indem Effekte, was die Zukunftserwartungen betrifft, ist
die Produktionskosten sinken, die Produktivität die eine, dunkle Seite. Sie kontrastiert mit einem
gesteigert werden kann und am Ende nicht weni- insgesamt doch erstaunlich positiven Bild, was die
ger, sondern mehr Güter zu tieferen Preisen kon- Unternehmungen betrifft. Zu hohe Verschul-
sumiert werden. Man könnte dann von „guter dung? Im Unternehmenssektor ganz gewiss nicht.
Deflation“ sprechen, ein Ausdruck, der sich ver- Die nachfolgende Grafik gibt die Zu- bezie-
einzelt auch in der ökonomischen Literatur fin- hungsweise Abnahme der Verschuldung ameri-
det. kanischer Unternehmungen über die letzten
Jahre wieder und setzt sie in Bezug zur Entwick-

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lung des Bruttoinlandprodukts. Um „Main verfehlte Makro-Politik uns um die Früchte der
Street“, das heisst die sogenannte Realwirtschaft, möglichen Produktivitätsgewinne auf der Mikro-
und nicht die hoch geleveragte „Wall Street“ Seite gebracht hat. Das wäre bitter; der früher so
darzustellen, haben wir die Unternehmungen der fortschrittsorientierte Westen hätte sich auf diese
Finanzbranche ausgeklammert. Unseres Erach- Weise selber ins Abseits der Weltwirtschaft ma-
tens ist deutlich sichtbar, dass das Bersten növriert.
der Technologieblase von 2002/2003 genau Steht dies im Widerspruch zur Feststellung, dass
das herbeiführte, was wir oben als „Bereini- es unseren Unternehmungen nach der Krise von
gungsprozess“ beschrieben hatten: Schulden „ver- 2008/2009 relativ gut geht? Nein. Denn sie haben
schwanden“, wurden also abgeschrieben oder in längst gelernt, an jenen Standorten arbeiten zu
Eigenkapital gewandelt, die Produktivität und lassen, wo die Rahmenbedingungen am günstigs-
damit die Ertragslage wurde deutlich verbessert, ten erscheinen, dort forschen zu lassen, wo intelli-
und man nutzte die neuerliche Rezession von genter und fleissiger Nachwuchs laufend entsteht,
2008/2009, um den Bereinigungsprozess fortzuset- und die Gewinne dort anfallen zu lassen, wo die
zen. Unternehmensbesteuerung nicht exorbitant hoch
Sieht eine Deflation so aus? zu werden droht. Makro versus Mikro: Die Aus-
Jährliche Veränderungsrate einandersetzung ist alles andere als entschieden.
60%
Industriegewinne Nicht eine angeblich drohende Deflationsspirale
40% ist das Problem, weder in Japan seit nunmehr
zwanzig Jahren noch im Westen seit der Finanz-
20%
krise. Vielmehr ist es der der Wirtschaft und der
0% Gesellschaft auferlegte Krebsgang, dem die Un-
Industrieschulden ternehmungen laufend zu entkommen versuchen
-20%
und der immer wieder für neue Rückschläge
-40%
sorgt. Wir meinen aber, auch diesbezüglich einige
Silberstreifen am Horizont zu erkennen.
-60%
2000 2002 2004 2006 2008 2010 5. Das viel effizientere Individuum
Quelle: Bureau of Economic Analysis, Federal Reserve;
eigene Darstellung
Wir sprachen über aufeinanderfolgende Techno-
Bemerkung: Industriegewinne und -schulden sind in Prozent logieschübe von der Bedeutung der Erfindung
des jeweiligen BIP ausgedrückt. der Dampfmaschine; versuchen wir festzuhalten,
Mit allen Vorbehalten, welche mit verallgemei- was unter anderem darin einzuordnen ist: Zu-
nernden Aussagen einhergehen, kann man fest- nächst mit Bestimmtheit die enorme Steigerung
stellen, dass Ähnliches auch für die europäischen der Rechenleistung von Computern. Nicht einmal
Unternehmungen zutrifft; für den Schweizer Un- jene, die sich noch an die ersten, sehr teuren PCs
ternehmenssektor kann man ganz speziell mit der Achtzigerjahre zu erinnern vermögen oder
grosser Befriedigung feststellen, dass kaum ir- die sich zuvor noch mit den schwerfälligen Main-
gendwo irgendwelche offenkundigen finanziellen frame-Rechnern von Universitäten herumge-
Schräglagen oder Engpässe sichtbar sind – und schlagen hatten, können wirklich ermessen, welch
das alles nach einem der schärfsten Einbrüche der unglaubliche Leistungssteigerung auf unseren
Welthandelstätigkeit seit dem 2. Weltkrieg. Wenn Schreibtischen stattgefunden hat. Interessant ist,
das kein Silberstreifen am Horizont ist! Aller- dass seit Beginn dieser exponentiellen Entwick-
dings, und das wäre dann die Kehrseite der glän- lung laufend deren Ende vorausgesagt wurde,
zenden Medaille, ist zu vermuten, dass die dieses bisher aber noch nicht eingetroffen ist.
Investitionstätigkeit der Unternehmungen im Oder anders gesagt: Der Technologieschub mit
Westen deutlich höher ausgefallen wäre, wenn Bezug auf Rechenleistung ist immer noch im
nicht durch den massiven Schuldenaufbau auf Gang.
staatlicher Seite die implizite Erwartung höherer Rechenleistung als solche bewirkt noch keine
Grenzsteuersätze die Lust auf den Kapitaleinsatz Produktivitätsgewinne, vielmehr erst die Nutzung
laufend gedämpft hätte. Irgendwie muss ja zu der hinzugekommenen Fähigkeiten. Es sind unse-
erklären sein, weshalb die Wachstumsraten der res Erachtens deren zwei, und beide verfügen
Wirtschaft über die letzten zwanzig Jahre insge- über gesellschaftliches und wirtschaftliches
samt doch sehr verhalten blieben, währenddem Sprengpotential. Die eine ist die Kommunikati-
auf der realen Seite ein Technologieschub nach onsrevolution, welche über das Internet und die
dem andern – jeder einzelne äquivalent zur Er- Mobiltelefonie Information zum global verfügba-
findung der Dampfmaschine! – stattfand. Es ren und spottbilligen Gut gemacht hat. Die ande-
könnte sein, so die These, dass eine grossartig re ist die Prozesssteuerung, ohne die heute weder

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ein Industriebetrieb noch ein modernes Motor- nichts mehr im Wege: Zeitungen, Zeitschriften
fahrzeug funktionieren würde. Messen, Steuern, und Bücher fliegen uns elektronisch entgegen.
Korrigieren, das sind die Funktionen, die von der Mit Wikipedia verfügen wir über das vollständigs-
Kaffeemaschine über das Flugzeug bis zur Pro- te je entstandene Lexikon in allen denkbaren
duktionsstrasse vollautomatisch und höchst zu- Sprachen der Welt. Schliesslich können wir unse-
verlässig dafür sorgen, dass nichts aus dem Ruder rem enorm grossen Mitteilungsbedürfnis, dem
läuft. Überbleibsel von unseren genetischen Vorfahren
Ein davon losgelöster, wenngleich von der er- auf den Bäumen, über „soziale Plattformen“ wie
höhten Rechenleistung selbstverständlich stark Facebook beinahe unbeschränkt nachkommen.
profitierender Technologieschub, findet im mi- (Um nicht falsch verstanden zu werden: Erhöhter
krobiologischen Bereich statt. Es gelingt uns lang- ökonomischer Nutzen des Individuums ist nicht
sam, das Leben zu verstehen. Für den Laien sind zwingend kongruent mit übergeordneten Wert-
zwar viele Gegebenheiten und Vorgänge schwer vorstellungen, aber das tut hier nichts zur Sache.)
verständlich (die mit literarischen Qualitäten Was zusätzlich fasziniert, ist der Umstand, dass
geschriebenen Beiträge des emeritierten Mikro- der beschriebene Technologieschub nicht ledig-
biologen Gottfried Schatz in der NZZ vermögen lich einer kleinen, gutdotierten Elite zugute ge-
da gewisse Remedur zu verschaffen), aber eines kommen ist und weiterhin zugute kommt,
ist klar: Mit dem Eindringen unseres Wissens und sondern sozusagen bis auf die Stufe der Slums
Handelns in die kleinsten Bausteine von Mensch, sozialisiert worden ist. Kürzlich lasen wir einen
Pflanzen und Tieren verändern sich sozusagen Bericht über Ureinwohner in Papua Neuguinea,
alle Voraussetzungen und Begrenzungen, von der welche noch mit Pfeil und Bogen zur Jagd gehen
Medizin über die Ernährung bis zum Konsum von und dann und wann zwecks höherer Unabhängig-
Genussmitteln. Ähnlich wird die Palette unserer keit auch indonesische Soldaten erlegen. Ihre
Möglichkeiten erweitert durch die Entwicklungen Kommunikation erfolgt über das Mobiltelefon…
in der Nanotechnologie oder der Bewirtschaftung Die Nutzensteigerung auf individueller Ebene
des elektrischen Wellenspektrums von der Wär- kann natürlich auch zusätzlicher Gewaltanwen-
mequelle übers Licht bis hin zu den kürzesten dung und dem Verbrechen dienen, im wesentli-
Frequenzen, die wir vor allem für die Kommuni- chen aber halten wir daran fest: Wir alle, zuoberst
kation verwenden. Im wesentlichen läuft alles auf bis fast zuunterst auf der gesellschaftlichen Skala,
eine deutlich bessere Nutzung bestehender Res- von New York City übers Appenzellerland bis in
sourcen hinaus. die pazifische Inselwelt hinein, sind in den letzten
Das Faszinierende an dieser Entwicklung besteht Jahren deutlich reicher geworden.
darin, dass diese bessere Nutzung in sehr vielen Dieser „Windfall Profit“ aufgrund der ver-
Fällen den sogenannten „Enduser“, den Konsu- schiedenen technologischen Schübe der letzten
menten also oder noch allgemeiner, das Indivi- zwanzig Jahre ist allerdings in den volkswirt-
duum, betrifft. Über Kaffeemaschinen und Autos schaftlichen Rechnungen noch kaum sichtbar
haben wir schon gesprochen. Handy, Smartpho- geworden, denn private Nutzenvermehrung, in-
nes und iPad wären beizufügen. Sind wir uns ei- soweit sie nicht auf einen Wertschöpfungsprozess
gentlich bewusst, dass wir durch all diese zwischen Rohstoff und Konsument zurückgeführt
Instrumente real unglaublich viel reicher gewor- werden kann, wird in der volkswirtschaftlichen
den sind? „Reicher“ im zutiefst ökonomischen Rechnung nicht verbucht. Unentgeltlich Zugefal-
Sinn, indem wir nämlich über sehr viel mehr per- lenes qualifiziert nicht als „Wertschöpfung“ und
sönlichen Nutzen verfügen als früher. Jeder hat wird deshalb auch nicht registriert, im Gegenteil,
heute seine Cafeteria in der persönlichen Küche, die bisherige Wertschöpfungskette leidet vorder-
kann mit wenigen Kniffen seinen Herd zum hand selbstverständlich unter dem Wegfall bisher
Pizzaofen umfunktionieren, um später fürs nachgefragter Güter und Dienstleistungen. Hier
Heimkino „La Dolce Vita“ vom Internet herun- zeigen sich die Auswirkungen einer „guten Defla-
terzuladen. Jeder hat die Möglichkeit, sich mit tion“ besonders augenfällig. Wir gehen allerdings
seiner – nicht wirklich teuren – Spiegelreflexka- davon aus, dass die Sekundäreffekte der Reich-
mera zum beinahe professionellen Fotografen zu tumsvermehrung in den nächsten Jahren in
machen, und jeder kann mit „Garage Band“ oder stärkerem Ausmasse den Wirtschaftskreislauf
vergleichbaren Programmen auf quasi professio- beleben werden, und sprechen insofern von ei-
nellem Niveau ein Tonstudio betreiben. Büro- nem „Silberstreifen am Horizont“. Er ist bereits
arbeiten sind dank E-Mail und anderen manifest in den Schwellen- und früheren Ent-
Programmen zur feierabendlichen Nebensache wicklungsländern. Es ist nicht – oder nur viel
geworden. Gleichzeitig steht unserem Informati- beschränkter, als allgemein angenommen – ein
onsdrang und Wissensbedürfnis buchstäblich weiser oder cleverer Policy-Mix, der Länder wie

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China oder Indien beflügelt, sondern vielmehr nun aber einem „Silberstreifen am Horizont“
sind es die auf individueller Ebene wirksam ge- gleichkommen, wenn Bonitätsprobleme und
wordenen Früchte der Emanzipation durch Effi- Konkurswahrscheinlichkeit aufgrund der am
zienz, die das enorme Wachstum in jenen Teilen Markt bezahlten Preise evident sind?
der Welt ausmachen. Mindestens in abgeschwäch- Ganz einfach die Tatsache, dass es solche Preise
ter Form sollten sich ähnliche Phänomene auch in überhaupt gibt. Und darüber hinaus der Um-
höher entwickelten Ländern bemerkbar machen. stand, dass es trotz dem neuerlichen Anstieg der
Wofür wir also plädieren, ist ein „Wealth Effect“, Risikoprämien in den letzten paar Wochen nicht
ein durch Reichtumsvermehrung bedingter mehr zu krisenhaften Ereignissen an den Finanz-
Wachstumsschub, der in den kommenden Jahren märkten gekommen ist. Im Gegenteil: der Euro
wirksam werden müsste. Das ist der Silberstreifen konnte sich in letzter Zeit gegenüber dem US
Nummer 2. Dollar behaupten, ja Terrain zurückgewinnen.
6. Leben lernen mit Grösstrisiken Offenbar beginnt man sich an die neue Realität
dauerhaft angeschlagener staatlicher Schuldner
Es gibt einen dritten Silberstreifen am Horizont: zu gewöhnen.
den Kurs für eine 10-Jahres-Obligation von Grie-
chenland und die neuerdings wieder gestiegenen Dieser Punkt erheischt ein wenig Vertiefung. Was
Preise von CDS (Credit Default Swaps) für finan- bedeutet „Krise“, was heisst „Gewöhnung“? Was
ziell angeschlagene Länder Europas. Die genann- sind die Mechanismen und Instrumente, die vom
te verbriefte hellenische Schuld handelt derzeit zu einen Zustand zum anderen führen? Anschau-
einem Kurs von rund 70 Prozent, die Rendite auf ungsunterricht bezüglich des Begriffs Krise haben
Verfall beträgt etwa 11 Prozent. Zum Vergleich: wir über die letzten zehn Jahre an den Finanz-
Die Rendite einer Deutschlandanleihe mit der- märkten in hinreichender Menge erhalten. Auf
selben Laufzeit liegt bei etwa 2 ¼ Prozent. Über den kleinsten Nenner reduziert, spielte sich ei-
die Preisverhältnisse bei den CDS gibt die nach- gentlich immer dasselbe Muster ab: Die Bewer-
folgende Grafik Auskunft. Sie zeigt deutlich auf, tung bestimmter Aktiva läuft aus dem Ruder, was
dass die Schuldenkrise im Euro-Raum, von so zuerst für einige notorische Warner, später für
vielen Politikern und linientreuen Medien schön- eine wachsende Anzahl Marktteilnehmer in zu-
geredet, aus Sicht der Finanzmärkte noch keines- nehmendem Masse evident wird. Der Erkennt-
wegs vorbei ist. nisprozess erfolgt nicht schleichend erodierend,
sondern läuft eher eruptiv bis explosiv ab, etwa
Es ist schon wieder Krise, und keiner schaut hin so, wie wenn sich bei einem Vulkan ein grösseres
CDS Spreads
Unglück ankündigt: Zunächst flammen da und
500
Irland dort an den Abhängen irgendwelche Gasblasen
Italien
400
Spanien auf, dann steigt aus dem Krater ein wenig Rauch,
Portugal
Deutschland dann scheint sich die Sache wieder zu beruhigen,
300 bis unvermittelt der grosse Ausbruch doch noch
das breite Publikum überrascht und Pompeji un-
200 ter sich begräbt. Weil sich die Warner gegenüber
denjenigen, die in irgendeiner Weise an der Per-
100 sistenz des Gehabten interessiert sind, in krasser
Minderheit befinden, und weil die wenigsten Leu-
0
Feb 09 Apr 09 Jun 09 Aug 09 Okt 09 Dez 09 Feb 10 Apr 10 Jun 10 Aug 10
te sich intellektuell auf Strukturbrüche einzurich-
ten in der Lage sind, richten Krisen zwingend
Quelle: Bloomberg; eigene Darstellung
mehr Schaden an, als es die realen Entwicklungen
Eine Kreditrisikoversicherung, deren Prämie grundsätzlich fordern würden. Den Kopf in den
mehr als Null beträgt, impliziert die Wahrschein- Sand zu stecken ist offenbar angenehmer, als
lichkeit eines Schuldnerausfalls. Eine Obligation, immer deutlicher werdenden Tatsachen ins Ge-
deren Rendite deutlich über jener von anderen sicht zu blicken. Vielfach fehlen aber auch die
vergleichbaren Papieren liegt, weist auf eine Bo- richtigen Instrumente, um eine nüchterne Lage-
nitätsproblematik beim betreffenden Schuldner beurteilung vorzunehmen.
hin. Eigentlich müsste nach dem von der Eurozo- Hand aufs Herz: Wer von unseren Lesern hat bis
ne beschlossenen Rettungsschirm der Griechen- vor ein, zwei Jahren von den ominösen CDS ge-
land-Bond nahe bei 100, die Rendite bei 5 wusst? Wer hat gegebenenfalls deren Kursverlauf
Prozent liegen. Die CDS für Irland, Portugal und beobachtet? Uns Pompejianern fehlten offen-
Spanien müssten sich in der Nähe derjenigen für sichtlich die Feldstecher und Fernrohre, um den
Deutschland oder Frankreich bewegen. Das ist Vulkan zu beobachten… Der Nährboden einer
allerdings nicht der Fall. Was in aller Welt könnte

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Krise ist das Gefühl, unbekannten Bedrohungen deutlich realitätsnähere Einschätzung der Risiken
von unbekannter Tragweite ausgesetzt zu sein. im Zusammenhang mit Staatsschuldnern ermögli-
Der Freiburger Ökonom Guy Kirsch („Angst vor chen. Da Staatsschuldner einen sehr wesentlichen
Gefahren oder Gefahren durch Angst?“, NZZ- Teil aller Ausstände (und damit Guthaben von
Verlag, 2005) unterscheidet dieses unbestimmte Privaten) auf der Welt ausmachen, ist ihre Exis-
Gefühl, welchem er den Begriff „Angst“ zuord- tenz für all jene, die sich vor dem Ausbruch eines
net, von der „Furcht“, die das Gefühlsgemenge grösseren oder kleineren Vulkans schützen möch-
gegenüber definierbaren, sichtbaren, in ihren ten, von grösster Bedeutung; der Preis für die
Auswirkungen abschätzbaren Gefahren wieder- Kreditrisikoversicherung hat zugleich einen un-
gibt. Eine Krise definiert sich demgemäss als schätzbaren Informationswert, ja, wir gehen
Übergangsperiode von Angst zu Furcht. soweit zu behaupten, dass es just dieser Informa-
Haben wir derzeit Angst, oder fürchten wir uns? tionswert war, der letztlich die Regierungen Ir-
Es würde dann eben diesen Silberstreifen am lands, Spaniens, Portugals und Grossbritanniens
Horizont ausmachen, dass wir bezüglich der die bewogen, vermutlich gezwungen hat, Sparmass-
Krise auslösenden Grösstrisiken – dem amerika- nahmen zu ergreifen. Die EU-Kommission war
nischen Immobilienmarkt, den bis übers Ohr bezüglich Schräglagen der Haushalte von Mit-
darauf konzentrierten Bilanzen von grossen Fi- gliedsländern bekanntlich seit je blind und zahn-
nanzinstituten sowie den fatal verschuldeten west- los und wird dies angesichts der fast peinlich
lichen Nationen – daran sind, die Angst zu anmutenden Möglichkeit, künftig Bussen gegen
verlieren. Wir können immer besser abschätzen, fehlbare Länder zu verfügen, auch weiterhin blei-
wie gross der Schaden ist. Er hat mittlerweile ben. Die schlimmste Busse, die es geben kann, ist
Marktpreise erhalten. 70 anstatt 100 Prozent für die von den Finanzmärkten ausgesprochene
Griechenlandbonds, erschreckend hohe CDS- Sanktion in Form von Kursen und Prämien. Diese
Prämien auch für andere Länder Europas. Mit Busse bewegt, was die Politik nie und nimmer
diesen Marktwerten ist auch zugleich die Scha- bewegen könnte, wenn sie es denn überhaupt
densallokation erfolgt. Selbstverständlich können wollte.
sich diese wieder verändern – zum Besseren oder Es gibt aber durchaus noch Vulkane, von deren
zum Schlechteren, je nach zusätzlichen Informa- Existenz man weiss, deren Umrisse aber noch
tionen und Erkenntnissen. Und selbstverständlich unscharf, von Nebelschwaden verdeckt sind. Sie
sind auch diese Instrumente nicht gefeit vor Fehl- bereiten Angst, und diese Angst lastet auf der
informationen und Illusionen. Dennoch: Wir Gemütslage und schwächt mithin das Wirt-
verfügen über Feldstecher, Fernrohre und Seis- schaftswachstum in erheblichem Ausmass. Die
mographen, und mit dieser Ausrüstung sind wir Rede ist von all den Versprechungen des Sozial-
nun auch in der Lage, weiterhin am Abhang des staats gegenüber seinen Bürgern bezüglich Al-
Vesuvs zu leben und unsere Geschäfte zu betrei- tersvorsorge und Gesundheitswesen. Man weiss
ben. um die Unterdeckung dieser Versprechungen und
Vorausgesetzt allerdings, man lässt uns im Notfall erahnt das Volumen. Die Buchhaltungsregeln für
wegziehen! Die institutionellen Schönredner un- Staatshaushalte halten aber nicht zu einer ge-
seres Gesellschaftssystems haben natürlich an den naueren Quantifizierung an; man muss sie nicht
beschriebenen Instrumenten keine Freude. Da- einmal „unter dem Strich“ verbuchen, sondern
raus erklärt sich manches Regulierungsvorhaben darf sie schlicht weglassen! Genausowenig ist es
dieser Tage. Am bedenklichsten erscheint uns in notwendig, dass den Versprechungen ökonomisch
diesem Zusammenhang das von deutscher Seite greifbare Rückversicherung gegenübergestellt
im eigenen Land eingeführte und den Europäern werden müssen. Ein verbaler Revers genügt sozu-
zur Übernahme empfohlene Leerverkaufsverbot. sagen. Der Schuldner Staat profitiert von der
Es ist etwa so unsinnig, beziehungsweise sogar „Wohltat“, dass diese Ausstände nicht über den
unsittlich, wie wenn die römischen Behörden im Finanzmarkt finanziert werden müssen. Somit
Jahr 79 n. Chr. den Bewohnern von Pompeji den gibt es für diese Art Vulkane leider auch keine
Wegzug verboten hätten. Marktwerte à la CDS.
Es ist somit für das Individuum nicht möglich,
7. Gefordert: CDS für Private! eines seiner wesentlichsten Lebensrisiken, näm-
Die Klärung der Verhältnisse als prozessualer lich die Wahrscheinlichkeit der Begleichung
Vorgang während einer Krise: Genau das ist es, seiner Alters- und Gesundheitsvorsorge, ökono-
was Marktkräfte mit den ihnen zur Verfügung misch sinnvoll zu versichern. Das ist in hohem
stehenden Instrumenten zu leisten vermögen. Die Masse ungerecht und unsozial, ja, wie der verbo-
CDS gehören insofern zu den wichtigsten Finanz- tene Leerverkauf im eigentlichen Sinne des
innovationen der letzten Jahrzehnte, als sie eine Wortes „unsittlich“: Es entspricht dem Wegzugs-

Anlagekommentar Nr. 273 Seite 7


W EGELIN & C O .

verbot für Pompejianer. Für die Allgemeinheit versuche, welche offensichtlich wenig bewirken,
fehlen mangels Absicherungsinstrumenten die aber viel kosten, erachten wir als kontraproduk-
Informationen über das mutmassliche Ausmass tiv, die makroökonomischen Rahmenbedingun-
der sich anbahnenden Katastrophe. gen deshalb als belastend. Dem stellten wir drei
Wenn es eine Finanzinnovation gäbe, die für die Silberstreifen am Horizont gegenüber: Erstens
nächsten Jahrzehnte in hohem Masse sinnvoll die offenkundig stabile Situation im Unterneh-
wäre, dann bestände sie in einer Art Kreditrisiko- menssektor, zweitens das um eine Vervielfachung
versicherung für die individuelle Vorsorge, inso- seiner Möglichkeiten reicher gewordene Indivi-
fern keine Kapitaldeckung vorgesehen ist (und duum, drittens den Umstand, dass die Welt im
unter der Voraussetzung, dass diese Kapital- Umgang mit den nunmehr sattsam bekannten
deckung nicht durch einen Federstrich des Grösstrisiken überschuldeter Staaten zu leben
Gesetzgebers modifiziert, reduziert oder gar eli- lernen. Wesentliche voraussichtliche Verluste
miniert werden kann). CDS für Private – ange- werden mehr und mehr eingepreist. Auf dieser
sichts der drohenden Demographiefalle in bereinigten Grundlage lässt sich nicht nur leben,
Europa dürfte es an Kundschaft nicht fehlen. Ob sondern durchaus auch wieder etwas Hoffnung
sich Gegenparteien finden würden, welche das schöpfen.
Risiko tragen wollten, steht auf einem anderen Wenn dieser – wohlverstanden vorsichtige! – Op-
Blatt. Aber für die „normalen“ CDS gibt es sie ja timismus nicht ganz ungerechtfertigt ist,
auch! dann meinen wir, dass sich die Bewertungen von
Aktien aufgrund der gehabten Krise eher am
8. Gründe für ein wenig mehr Optimismus unteren Anschlag bewegen. Kaum eine der übli-
„Einpreisen“: dieses nicht sehr schöne Wort cherweise verwendeten Verhältniszahlen (Kurs-/
drückt aus, worum es letztlich geht. Die Existenz Gewinn-Verhältnis, Preis-/Buchwert-Verhältnis
von Vulkanen kann man nicht aus der Welt schaf- usw.) weist auf eine dramatische Überbewertung
fen. Dem Einzelnen ist es auch verwehrt, an der hin. Viele Anleger sind der aufreibenden Auf und
Wahrscheinlichkeitsschraube von Eruptionen zu Ab des Jahres 2010 offensichtlich überdrüssig
drehen. Wenn schon, dann wäre es bei unseren geworden. Wir wiederholen deshalb unsere Emp-
anthropogenen Vulkanen ein grösseres Kollektiv, fehlung, anstelle der höchstbewerteten Obligatio-
das zur Besinnung kommen müsste. Illusionen nen die strategische Position von Aktien zu
über die Ungefährlichkeit, übertriebene Ängste erhöhen, zumal die Dividendenrendite in vielen
vor vermeintlichen Problemen, zu frühe oder Fällen weit über den Coupons liegt, welche man
auch zu späte Erkenntnis – wenn ein Mechanis- für Bonds noch erhält. Trotz weiterhin bestehen-
mus vorhanden ist, welcher dem gegebenen Er- der Währungsrisiken – weder der Euro noch der
kenntnisstand einen jeweiligen Preis zuordnet, US Dollar sind appetitanregend – raten wir im
dann ist auch dafür gesorgt, dass die notwendigen Aktienbereich zu breitgestreuter globaler und
Wertberichtigungen nicht aufgeschoben werden. sektorieller Diversifikation, denn gute und preis-
Aufgeschobene Wertberichtigungen sind aber werte Aktien kompensieren erlittene Währungs-
just die Ursachen für zu tiefes Wachstum, weil verluste meistens relativ zügig.
Angst herrscht, oder für Krisen, weil man sich zu Deflation? Lassen wir uns nicht dazu verleiten,
lange auf eine lineare Fortentwicklung des Ge- diesem von interessierten Politikern emporstili-
habten verliess. sierten Unwort zu viel Bedeutung beizumessen
Wir haben zu Beginn dieses Kommentars die und dabei zu vergessen, dass die Welt daran ist,
Gefahren einer in Depression endenden Deflati- auf breiter Basis produktiver zu werden. Daran
onsspirale verneint. Dies hauptsächlich mit dem und nicht an der Finanzierung dekadenter westli-
Argument, dass weder der Unternehmenssektor cher Staatsapparate sollten wir beteiligt sein!
noch die Konsumenten fixen Produktions- oder
Konsumformeln unterworfen sind, sondern sich
laufend anpassen können. Wir meinen sogar,
angesichts der unerhörten Produktivitätsgewinne
sowohl bei Unternehmungen als auch auf Stufe
der Individuen von einer Art „guten Deflation“
reden zu können. Die vielfältigen Stimulierungs- KH, 4.10.2010

WEGELIN & CO. PRIVATBANKIERS GESELLSCHAFTER BRUDERER, HUMMLER, TOLLE & CO.

Anlagekommentar Nr.Bohl
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