Stephen Broscoe
Au_oust, 1996
-4 thesis submitted to the Faculty of Graduate Studies and Research in partial fulfiIment of the requirements
The author has granted a non- L'auteur a accordé une licence non
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électronique.
Vorbemerkungen ............................................................................................................................................. 7
.
8. Kurt Tucholsky nach Deutschland Deutschland über alles ..................................................................... 104
Universitat McGill zum AbschluB gebracht. Für seine Anstrengungen und Gedutd mwhte ich ihrn
besonders danken. Dankbar bin ich weiter meiner Frau, Doktor Yasemin Arikan, und H e m Michel
Leblanc, der fur die franzosische Übersetzung der Zusammenfassung verantwortlich war. Für das, was
This thesis was completed in 1996, under the supervision of Professor Paul Peters of McGill
University, 1would like to thank him particularly for his srrpport and patience. 1wouId also like to thank
my wife, Dr. Yasemin Arikan, and Mr. Michel Leblanc of Graph Tech Translations in Vancouver for the
French translation of the thesis abstract. 1alone am responsible for any errors in this document.
~ u f l e h n u und
Kurt Tucho/skyzw~schen n ~ Res@nafion 2
Zusamrnenfassungen (Abstracts)
This thesis is an attempt to assess the importance of the satincd photo essay Deutschland,
Deutschland über alles in the life and literary development of the German author Kurt Tucholsky, and to
help establish the signifcance of the work in the Genrian literary canon. The work appeared in 1929, and
rnarked a complete departure from his previous output in many respects. He experirnented with the genre of
photo essay and photomontage in collaboration with renowned montage artist and dedicated Communist
John Heartf~eld,attempted to reach a new reading audience in the German working classes, and published
the book in a radical publishing house with strong ties to the German Communist Party.
However, despite the successful combination ofphotog~aph,photomontage and text which allowed
Tucholsky and Heartfield to produce many insightful and scathing cnticisms of Weimar society, the book
largely failed to deliver a relevant social or politicai cnticism of the Weimar Republic. Tucholsky's
criticisms were directed toward the ruling Sociai Dernocratic Party and other parties of the bourgeois
political establishment, but he ignored or refused to see the far greater threat posed by the rising tide of
National Socialisrn. His satire was anachronistic and indicative of a critic who was out of touch with
The work also faiIed ro eiucidate any sort of political agenda which would radically ameliorate the
miserable conditions of the German working classes o r change the existing social order, Perhaps this was
Tucholsky's uagedy - he was Far too sentimentally attached to the existing sociaI order and his idealized
Deutschland. DeutschIand über alles was Kurt Tucholsky's last significant work of poIitical
cnticisrn. He himself realized chat the work had not had the desired effect, and larsely withdrew from
political criticism after its publication. Despite che positive aspects of the work, it signified a negative
turning point in the career of Kurt Tucholsky, and represented a contribution of relatively minor
Kurf 7Ucho/skyzwschen ~ h e h n u n g
und ResfQnafion 3
Cette thèse est un essai pour évaluer l'importance de l'essai de la photo satirique de Deutschland,
Deutschland über dies dans la vie et le développement littéraire de l'auteur allemand Kurt Tucholsky et
pour aider à établir la signification du critère de la littérature allemande. Le travail fut publié en 1929 et a
marqué un départ complet de sa production précédente en pIusieurs aspects. 11 a expérimenté avec le genre
de photo d'essai et de photomontage en collaboration avec l'artiste renommé et communiste dédié John
Heartfield, a tenté d'atteindre une nouvelle audience lectrice des classes travaillantes aIIemandes et a publié
le livre dans une maison de publication r a d i d e avec des tiens très forts au Parti Communiste Allemand.
ont permis à Tucholsky et HeartfieId de produire plusieurs critiques perspicaces et cinglantes de la société
Weimar, le livre failli grandement pour la critique sociale ou politique pertinente de la République Weimar.
Les critiques de Tucholsky étaient dirigées envers le jugement du Parti Socialiste Démocrate et des autres
établissements politiques de partis bourgeois démocrates, mais il a ignoré et refusé de voir la menace plus
évidente de la vague Socialiste Nationale. Sa satire fut plus anachronique et indicative d'une critique qui
Le travail a aussi failli d'élucider toute sorte d'agenda poIitique qui aurait radicalement amélioré les
conditions misérables des classes travaillantes allemandes ou changer l'ordre social existant. Peut-être ceci
était la tragédie de Tucholsky - il était trop sentimentalement attaché à l'ordre social existant et ses notions
Deutschland, Deutschland über alles fut le dernier travail significatif de criticisme politique de
Kun Tucholsky. Lui-même a réalisé que le travail n'a pas eu l'effet désiré et s'est grandement retiré de la
critique politique après sa pubiication. En dépit des aspects positifs du travail. i1 a signifié un point tournant
négatif dans la carrière de Kurt Tucholsky et représentait une contribution d'une signification relativement
Die vorliegende Arbeit versucht, den Stellenwert vom satinschen Bilderbuch Deutschland,
Deutschland über alles irn Leben und in der Iiterarischen Laufbahn Kurt Tucholskys sowie in der
Entwicklung der deutschen Literatur am Ende der zwanziger Jahre fesmiegen. Das Werk wurde 1929 im
linksradikalen Neuen Deutschen Verlacg veroffentlicht, der mit dem Kommunistischen Partei Deutschlands
eng verbunden war. In vielen Hinsichten steIlt Deutschland. Deutschland über alles also einen wichtigen
Wendepunkt in Tucholskys literarischen Laufbahn dar. Zusarnmen mit dem Bildmontage-Künstler John
HeadTeld, der auch überzeugter Kornrnunist war, experimentierte e r mit der neuen literarischen Gattung der
Trotz der revolutionZren und erfolgreichen Zusamrnenstellung von Bildern und Texten, die den
Autoren eine manchmal heIIsichtige und scharfe Kntik an der Weimarer Gesellschaft erm6glichte. ,oelang es
Kurt Tucholsky nicht, die Prozesse der politischen und sozialen Verwandlungen der Weimarer Republik zu
erkennen und anzusprechen. Die Hauptzielscheiben seiner politischen Kritik waren die fuhrende
Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)und die anderen Parteien der burgerlichen Mitte, wahrend
er die noch groBere Bedrohung durch die NSDAP weitgehend ignoriert. In dieser Arbeit brachte Tucholslq
auch ein politisches Programm. das eine Umwalzung der bestehenden Ordnung hervorhebt und eine
Mit Deutschland. Deutschland über alles lieferte Tucholsky also eine politische und soziale
Analyse eines ideaiistischen und steckengebliebenen Kritikers, der die neue gefahrliche poli tische
Konjunktur in Deutschland nicht sah, oder nicht sehen wolIte. Vielleicht war es Tucholskys Tragik, der
befurworten.
Deutschland. Deutschland über alles war Tucholskys letztes bedeutendes Werk der politischen
Kritik. Er stellte selber fest, daB das Werk die erwünschte Wirkung nicht erzielte, und zog sich nach seiner
Erscheinung weitgehend von der politischen Kritik züruck. Trotz seiner positiven Askpekte, war das Werk
Literatur der Weimarer Republik auch von relativ geringer Bedeutung bleibt-
Schriftstellers wie auch der Zugang zu seinen Schrifien fur den heutigen Leser noch schwierig. Der heute
hauptsachlich wegen seiner beliebten kurzen Liebesromane Rheinsbero und SchloB Gripsholm berühmte
Schriftsteller war einer der wichtigsten und erfolgreichsten Intellektuellen der Weimarer Republik. h
Laufe der zwanziger Jahre immer erfolgreicher geworden, war Kurt TuchoIsky 1929 einer der fuhrenden
deutschen Publizisten. Aus seinen Erlebnissen irn Ersten Weltkrieg zum radikalen Demokraten und
Pazifisten geworden, bekiirnpfte Tucholsky in seiner hblizistik das Fortleben der miIitZrischen,
nationalistischen und antidemokratischen Gesinnung des wilhehinischen Kaiserreichs, die er als besondere
Gefahr f
a die Republik erkannte.
Aber die zwanziger Jahre waren auch fur Tucholsky sowohl personlich als auch beruflich eine Zeit
der zunehmenden Frustration, Resignation, und Verzweiflung. Trotz seines Erfolges war er davon
überzeugt, da6 seine Schriften ohne Wirkung blieben. In seinem Versuch, seinen Werken eine breitere
Wirkung zu verschaffen, wurde seine Publizistik im Laufe des Jahrzehnts imrner radikaler. Er suchte sich
neue Leserschichten aus und experimentierte mit neuen literarischen Gattungen. Ein Schlüsselwerk in
dieser Entwicklung ist das 1939 erschienene satirische Bilderbuch Deutschland. Deutschland über alles,
Ergebnis einer Gemeinschaftsarbeit von Tucholsky und dem Bildmontage-Künstler John Heartfield. Dieses
Buch stelit einen wichtigen Wendepunkt in seiner literarischen Laufbahn dar - der letzte Versuch, mit
seinen Schrifien einen positiven EinfluB auf die deutsche Gesellschaft zu haben. Bei diesern Versuch
wendet er sich an ein neues Publikum, die deutsche Arbeiterschaft, und experirnentiert mit der neuen
Gattung der Bildmontage. Deutschland. Deutschland über ailes ist eine Zusamrnenfassung seiner Gedanken
über Deutschland: eine konsequente Kritik in ihren StSrken und Schwachen, Tucholsky selber nannte das
Die vorliegende Arbeit befaBt sich damit, den Stellenwert von Deutschland. Deutschland über ailes
in der literarischen Laufbahn Kurt Tucholsiqs und in der Entwicklung der deutschen Literatur am Ende der
zwanziger Jahre festzulegen. Es batte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt, die Geschichte der Weimarer
Republik oder TuchoIskys Leben und Schaffen in aller Ausfiihrlichkeit darzustellen, Diese Arbeit wird nur
die relevanten formalen, historischen und biographischen Aspekte besprechen, die diesem Werk die
notwendigen Bezugspunkte setzen. Sie sol1 zeigen, daB dieses polemische, nach wie vor umstnttene Buch
Ich werde argumentieren, daB Tucholskys Versuch, mit Deutschland. DeutschIand uber dis eine
kritische Streitschrift für die deutsche Arbeiterklasse zu schreiben, prinzipiell gescheitert ist. Trotz der
Richtigkeit und sogar Hellsichtigkeit von einzelnen kritischen Texten im Werk und die neue, revolutioniire
Form des Buches bleibt Kurt Tucholsky in Deutschland. Deutschland uber alles zwischen Auflehnung und
Resignation. Er arbeitet mit einer neuen Iiterarischen Form und wendet sich an ein neues Publikum, sber er
formuliert keine politische Alternative zu dern System, an dem er im Buch Kntik ubt. An einigen SteIIen
scheint er sich sogar mit einer NiederIage abgefunden zu haben. Ich werde versuchen, dieses Scheitern in
bezug auf seine Position innerhalb der GeselIschaft, die des parteilosen Iinken Intellektuellen, zu erkliiren
und zu verdeutlichen.
Literaturbetriebs der Weimarer Republik. Die Weltbiihne, die aus der 1905 von Siegfried Jacobsohn
-~e~i-ündetenWochenschrift der Kunst und Literatur Scharrbiihne nach dern Ersten Weltkrieg zu einer
wichtigen kritischen Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschafi wurde, war sein wichtigstes publizistsiches
Organ. In der Welrbühne, die sich vor ailem an ein bildungs-bürgerliches Publikum richtete, karnen die
Haupthemen von Tuchoiskys Publizistik zum Ausdmck, die seiner spateren Kntik in Deutschland,
Deutschland über aIles vorausgreifen: Militarismus-. Monarchisrnus- und Justizkritik, Angriffe auf die
antidemokratischen Neigungen des deutschen Bürgerturns und den wilhelminischen Untertan. Neben der
Welrbiihne wurden Sammelbande seiner Schriften, wie Mit 5 PS und Das Lachein der Mona Lisa im
Acht Jahre lang arbeitete Kurt Tucholsky sogar regelmaBig an der Vossisichen Zeimng,
Hauptorgan des Ullstein-Verlags, der in den zwanziger Jahren ais das groBte Verlagshaus des europaischen
Kontinents galt. Der Chefredakteur bei Ulistein war Georg Bernhard, Mitglied der Deutschen
Demokratischen Partei und einer der profiliersen Publizisten der Weimarer Republik. Politisch auf dem
Kurs des rechten Fiügels der Deutschen Demokratischen Pmei, berichtete die Veroffentlichungen des
Ullstein-Verlages zwar ausfuhrlich über den politischen Terror von rechts, aber die sozialen Forderungen
Der scheinbare Widerspruch zwischen seiner kritischen Welrbiihne-Publizistik und seiner Arbeit
bei der eher konservativen groBbürgerlichen Presse scheint Kurt Tucholsky nicht sonderlich gestort zu
haben. Er war der Meinung, daB weder Bernhard noch die anderen Reddcteure bei Ullstein sich darum
1
Helga Bemmann: Kurt Tucholskv - Ein Lebensbild, Berlin: Verlag der Nation GmbH, 1990, S. 296
Trotz seines Iiterarischen ErfoIgs bei UiIstein, Rowohlt, in der Welrbühne und in anderen
Veroffentlichungen war Kurt Tucholsky im Laufe des larhzehnts immer rnehr von dem Gedanken
heimgesucht, dai3 seine Werke keine Wirkung hatten. Schon 1923 beklagt e r sich in einem Brief an seinen
Schulfreund Hans Schon1ank:"Ich habe Erfolg. Aber ich habe keinerlei ~ i r k u n g " "Sein standiger Versuch,
seinen Texten eine breitere Leserschaft zu verschaffen, um ihnen g r o k r e Wirksamkeit zu geben, muB die
Entscheidung zur Zusarnmenarbeit mit Heanfield und WiIIi Münzenberg, dern Chef des Neuen Deutschen
Dazu wurde Kun Tucholsky, wie viele andere deutschc Intellektuellen der zwanziger Jahre, im
Laufe des Jahrzehnts immer radikaler und war mit dem bestehenden System der Weimarer Republik
zunehmend enttauscht Diese Enttauschung und die Radikdisierung von Tucholskys Gedanken zur
Gesellschaftsreform findet man in dern 1928 geschrïebenen Artikel November-Umturz, der in der von
Ernst Friednchs herausgegebenen Zeitschrift Die schwarze Fahne erschien. Der Artikel befaBt sich mit den
Versaumnissen der Novemberrevohtion im Jahre 1918 und nennt die MaBnahmen, die damals hatten
Diese MaBnahmen, fuhrt er an dieser Stelle weiter aus, seien imrner noch gultig, denn die deutsche
Revolution stand Tucholskys Ansicht nach noch aus, und folglich rnuBten die besagten MaBnahrnen gegen
alle Parteien, die ein wirtschaftliches oder ideologisches Interesse hatten, die RevoIution zu verhindern,
durchgesetzt ~ e r d e n . ~
'Ebd., S. 154
5
Kun Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Banden. Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky und
Fritz l. Raddatz. Reinbek bei Hmburg: Rowohlt ~ e r l a gGmbH. 1975. Band VI, S. 300
ci Ebd, S. 301
Es bleibt aber fraglich, ob Tucholsky nun bereit war, sich ais eingreifender Schriftsteller für das ProIetariat
einzusetzen. Anscheinend hielt er einen solchen Schritt sogar für unmoglich. Der 1928 in der Weltbühne
erschienene Artikel Gebrauchslyrik, der eine Rezension des Gedichtbandes Srrafle Frei von Oskar Kanehl
enthdt, artikuliert Tucholslq seiner Ansicht nach die Rolle, die ein burgerlicher Schriftsteller in der
Die proletarische Bewegung hat keine Zeit und keine Kraft, uns zu hatscheln, Wer ihr dienen
witl, der sol1 ihr dienen - aber so wenig er davon goBe Einkünfte erwarten kann und da< so
wenig hat er fur sich eine Stellung zu beanspmchen, die ihn über den Protetarier erhebt,
dessen Kamerad er doch grade sein wili. Insbesondere halte ich den hetfenden Intellektuellen
dieser Gattung nicht Iür geeignet und legitimien, den Arbeitern politischer Führer zu sein?
Spater in demselben ArtikeI nennt Tucholsky die Eigenschaften, die der Führer einer Karnpfbewegung
In einer Kampfbewegung kann man sich nur durch zwei Dinge als Führer legitimieren: durch
politische Einsicht von uberragendem Md3 oder durch Opfer. Lenin hat beides getan. Wer
aber nur besser schreiben kann als ein Proletarïer; wer nur dessen Schrnerzen so ausdrücken
kann, daB jener sie nun doppelt und dreifach als aktivistisches Stimulans fihlt; wer ein Mann
der Forrnuliemng und weniger der Tat ist, der biete seine Hilfe an, tue sein Werk und
schweige. Führer sollen andere sein?
Dennoch hatte Tucholsky ein bestirnmtes poiitisches Progarnm, das sich zumindest teilweise mit
den Zielen der radikalen Arbeiterbewegung deckre- Seine Antwon auf eine Umfrage in der Lirerarischen
Tribune fur seine sozidistische Überzeugungen gewesen. Mit der Frage, "Was würden Sie tun. wenn Sie
7
Bemmann, S. 394
antwortete:
Eine personkhe Diktatur gibt es nicht; sie ist ein Bürgemaurn. Hiitte ich die Machr mit den
kommunisrischen Arbeitern und Er sie, s o scheinen mir dies die Hauptarbeiten einer solchen
Regierung zu sein:
Die von mir genannten Ziele, die heute verlacht werden. weil sie die Wahrheiten von morgen
sind, lassen sich nicht auf evolutioniirem Wege erreichen - notig wiüe d a m die Revolution,
deren Terminologie heute komprimittiert sein rnag. Ihre Idee ist unbesiegbar.I0
Dies bedeutet nicht, daB TuchoIsky sich ds iiberzeugten Kommunisten verstand. Er war nie von
der kornrnunistischen ldeologie überzeugt, aber e r bestand auf seinem Recht, seinen poIitischen Sympathien
entsprechend zu schreiben. Er war der Meinung, daB Uilstein keineswegs seine ganze Arbeitskraft gemietet
hatte, und suchte als freier Schriftsteller die breitmoglischste Leserschaft für seine Schriften. In einem Brief
Ich habe gar keine komrnunistischen Ambitionen - keine. Aber ich meine, da8 das Haus
[Ulistein] nur das Recht hat, meine Haltung zu beeinflussen, wenn es meine gesamte
Arbeitskraft gemietet hatte. Wenn sie glauben. da5 ihnen meine Mitarbeit schadet, dann
rnüssen sie das sagen - die Frage meiner künstlerischen Freiheit kann ich nicht einmal
diskutieren. Sie fiagen mich ja auch nicht, ob mir d a gefallt, was neben mir und um mich zu
lesen ist."
mscheinend ein politisches Prograrnrn hatte, aber nicht bereit war, sich mit Ietzten Konsequenz dafiur
einzusetzen. Er war sogar bereit, in einer Zeitschrift ein Progranun zur radikalen Veriindemng der
GeselIschaft zu veroffentlichen, wahrend er gleichzeitig von einigen Stützen der Gesellschafi, deren
Umwalzung er scheinbar forderte, Geld nahm. Tucholsky verstand sich als Mann der Fonnulierung und
nicht als Mann der Tat. Er rekiarnierte fur sich den nicht unbequemen Platz des bescheidenen,
intellektuellen Helfers, der der Kampfbewegung helfend zur Seite steht und das Leid der Arbeiterschaft zum
Ausdruck bringt. Es ist einfach unrnoglich, Tucholsky eine bestimmte Ideologie zuzuschreiben. Zu dem
groBen VerdniB seines Verlegers Ullstein war Tucholsky durchaus bereit, in der AIZ den Kapitalismus
anzugreifen, wahrend er sich gleichzeitig von fuhrenden kapitalistischen Medienkonzernen aushahen iieB.
Wie er in dem Srief an Grosz, den berühmten Dada-Kunstler, freimutig zugab, saB er terne "zwischen den
~tühlen"".
Einige finanzielIe Erwagungen mogen auch seine Entscheidung zur Mitarbeit mit dem Neuen
Deutschen Verlag beeinfluBt haben. Tucholsky lebte standig über seine Verhaltnisse und brauchte irn Jahre
1928 wie immer neue Einkomrnensquellen. Z u seiner Verteidigung rnuB man aber einraumen, daB er sich
nicht aus finanziellen Erwagungen fur die Arbeiterschaft engagiene. Z u diesem Zeitpunkt wurden seine
ohne daB er je einen Pfennig Honorar dafur genornmen oder geforden hatte, wie e r auch
Verstandnis dafur hatte, daB ihm die roten Spiehupps, die kfeinen Zeitschriften der Roten
Hilfe Deutschlands und die Bezirkspresse der KPD, die seine Texte nachdmckten, keine
Honorare zahlen konnten.13
Also war der radikalisierte und entauschte Kurt Tucholsky im Jahre 1928 bereit. obwohl er
poliusch immer noch zwischen zwei Stühlen saB, sich als helfender lntellektueller direkt an proletarische
Leserschichten zu wenden. Er sagte deshalb der Arbeiter-/lirlsrrierre-Zeirrrng seine Mitarbeit zu, als er von
Lilly Becher, gute Einzelaufnahrnen durch ein Gedicht in der Aussage zu e r g m e n und kunstlensch
abzurunden. Sie forderte Tucholsb auf, diese Bildgedichte für die AIZ zu schreiben, und bekam
warscheinlich Ianuar 1928 seine endgültige Zusage fur die Mitarbeit, ais e r sich zur k t t i c h e n BehandIung
in Berlin aufhielt."
Kurt Tucholsky Iiefene am 21. M k 1928 sein erstes Bildgedicht für die AiZ- Der Beitrag Ersatz
war eine Glosse auf den anachronistischen Monarchistenkult der Weimarer RepubIik, die seine spateren
Texte zu demselben Thema in DeutschIand. Deutschland über aIles vorwegnimmt, Das dazugehorendes
Foto zeigt den Empfang eines exotischen Potentaten mit militarischem Schneddereng in Berlin. Nach
diesem ersten Beitrag schickte ihm Becher regelmafiig Fotos zu, die ihn zu Gedichten anregen sollren. In
ihrem beigelegten Brief, gab es immer Anhaltspunkte, wie die Redaktion der Zeitung sich die Umsetzung
vorstellte. Irn Jahre 1928 kamen die Bildgedichte der AIZ fast ausschIieBlich von Tucholsky, der di,Psem
neuen Genre den Weg offnete. Er verfafite mehrere Gedichte mit proletarkcher Thematik. die seine kiare
Diese Teilnahme an der A I 2 fie1 offenbar zu Tucholskys Zufriedenheit aus, obwohl sie ihm einige
Schwierigkeiten und erheblichen Konkurrenzneid bei seinem VerIeger Rowohlt venrrsachte. Er entschlofi
sich zu dem Versuch, sich enger mit dern Neuen Deutschen Verlag zu verbinden. In einern Bnef vom 18.
September 1928 infornierte er seine Frau Mary GeroId-Tucholsky über seine Plane. Er schrieb:
Morgen gehe ich zur A1.Z.. und da spreche ich dann mit dem Hauptchef, den ich noch nie
gesehen habe: Munzenberg. [.+] ich werde horen, ob man sich mit den Leuten enger liieren
kann.I6
14
Ebd., S. 395
AIso erschien Anfang August 1929 irn Neuen Deutschen Verlap Deutschland. Deutschland über
-
alles." Kun Tucholskys Entscheidung zur Zusarnmenarbeit mit John Heartfield und dem Neuen Deutschen
Verlag erweist sich nicht als eine bizarre und überraschende Wendung in der literarischen Lautbahn eines
bürgerlichen Schriftstellers, sondem als Iogische Entwicklung und Ausweitung einer bereits etablierten
publizisteschen Praxis. Diese Entscheidung hatte fir den Dilettanten Tucholshy trou seiner Sympathie mit
der Arbeiterschaft jedoch relativ wenig mit einer ausgesprochenen Wende in seinen politischen
ÜberzeugunCen zu tun. Er wollte mit DeutschIand. Deutschland über alles einfach seinen publizistischen
ErfoIg bei der A I 2 fortsetzen und sich an ein neues Publikum wenden, in dem Versuch, seiner Publizistik
19
Wieland Herzfelde: John Heartfield. Leben und Werk dareestellt von seinem Bmder. Dresden: 2.
Autlage, 1971, S. 49
Kurf TuchoMym&chen~uffehnung
und Res@ndon 17
Zweites Kapitel
Zur Gattungsfrage in Deutschland, Deutschland über alles
Wir haben in dern letzten Kapitel zu beweisen versucht, daB Tucholskys Entscheidung zur
Zusarnmenarbeit mit John Heartfield und dem Neuen Deutschen VerIag eine logische EntwickIung und
Ausweitung seiner publizistischen Praxis war. Es gab auch rein kunstlerische Gründe, warum Tucholsky
zur Zusarnrnenarbeit mit John Heârtf~eldbereit war. Tucholsky erkannte sehr früh die ungeheure politische
und emotionale Ausdruckskraft der Fotomontage, deren Hauptverueter Heartfield war, sowie der
Tendenzfotografie alIgemein. Wie sind diese zwei 'modernen' Kunstbegrïffe nun zu verstehen? Fangen
wir zunachst mit der Fotomontage an. in dieser Arbeit gehe ich von der Definion der Bildmontage, die der
sowjetische Künstter und Kritiker Sergei Tretjakow Anfang der dreiBiger Jahre in einern Aufsatz über John
HeartfieId formulierte:
Tretyakov proposed chat photomontage begins wherever there is a conscious alteration of the
obvious first sense of a photograph - by cornbining two or more images, by joining drawing
and graphic shapes to the photograph, by adding a significant spot of color, or by adaing a
written text Al1 of these techniques serve to diven the photograph frorn what it "naturally"
seems to Say, and to underscore the need for the viewer's active "reading" of uie image."
Unsere Definition der Tendenzfotographie leitet sich also auch aus dieser Formulierung Tretjakows. Die
Tendenzfotognphie ist die bewuBte Verandenmg oder Verstiirkung der Aussage eines Bildes durch
Beschriftung, einen Aspekt der Fotomontage. Das BiIdgedicht also, zu dessen EntwicWung als Kunstform
Tucholsky vie1 beitrug, ist nach der Definition von Tretjakow ein wichtiger Teil der Tendenzfotogafîe.
Die Fotomontage war aber in der ersten Haifte unseres Jahrhunderts nicht nur eine neue,
innovative Kunsttechnik. Sie war eine symbolische F o m , in der die neue, industrialisierte. stadtische Welt
des zwanzigten Jahrhunderts ihren Ausdruck fand- So wird die Bildmontage im kunsrtheoretischen
Begleitbuch zur "Montage and Modern Life" Ausstellungstoumee im Jahre 1992 definien:
''Matthew Teitelbaurn, Herausgeber: Montage and Modem Li fe. 1919- 1942. Cambridge. Massachusetts:
The MIT hess, 1992, S. 28
Da diese neue Kunstfom der neuen, industralisierten WeIt der GraBstadt und der fra-mentienen
Perspektive ihrer Einwohner so genau entsprach, bot sie auch dem KunstIer zwei wichtige Moglichkeiten:
die neue Kultur der stadtischen Gesellschafi zu erreichen, und diesem PubIikum neue
Montage offers a kaleidoscopic expanded vision which, by collapsing many views into one,
suggests an experience of unfotding time. In effect, montaze replaces the image of a
continuous Iife ghmpsed through a window frarne - the heritage of the fine arts since the
Renaissance - with an image, or set of re-assembled images, that reflect a fast-paced.
multifaceted reality seamlessly suited to a synthesis of twentieth century documentary, desire
and utopian idealism. When consumer objects, indus&al images and political leaders are
enlarged in scaie and placed in the foreground of a composition, for example, their
importance in the pictonal narrative is underIined. The compositional device of dramatic
foregrounding provokes the reader to re-think the relations between objects, to re-establish a
hierarchy of correspondences. In this sense, among others, montage practice is about radical
realignments of power. In escaping the 'lirnits' of the straisht photograph by dramaticaIly
repositioning various figures and objeccs, montage suggests new paradi_omsof authority and
in fluence.13
In einer frühen Veroffentlichung im Jahre 1912 bespricht Tucholsky zum ersten Mal die
schrieb er folsendes:
- Ebd..
77
S. 22
" Ebd., S. 8
" Gesarnmelte Werke in IO Banden, Band 1, S. 47
-- -
Nichts beweist rnehr, nichts peitscht mehr auf als diese Bilder. Es gibt so wenige, zerstreut,
durch ZufdI entstanden. Das ist nichts. Systematisch n u B gezeigt werden: so wird
geprügelt, so wird erzosen, so werdet ihr behandelt, und so werdet i h .bestraft, Mit
Gegensàtzen und mit Gegenüberstellungen. Und mit wenig ~ e x r ~
1925 erhebt Tucholsky erneut seine Forderung nach verstakter Anwendung der
Er schrïeb für die Weltbühne einen ignaz-Wrobet-Text mit dem Tite1 Die
Tendenzf~to~mfie.
Tenden$orografTe, der geradezu einen BaupIan fur das spatere Deutschland. Deutschland über alles lieferte.
Die Fotografie ist unwiderlegbar. Sie ist gar nicht zu schhgen. Was allein mit focografischen
Gegenüberstellungen zu machen ist, weiB nur Der, ders einmai probiert hat, Die Wirkung ist
unausloschlich und durch keinen Leitartikel der Welt zu ubertreffen. Eine knappe Zeile
Unterschrift - und das einfachste Publikurn ist gefangen- Ludendorff in Zivil: das Automobi1
eines Bankiers, die Wohnung seines Portiers; Richtergesichter einer preuBischen
Strafkammer und ihre Opfer; Studenten auf der Kneipe; verhaftete Kommunisten vor und
nach Feststellung ihrer Personalien; eine Konfrontation der Physignomien Lenins und
Hindenburgs; eine Parade unter Wilhelrn und eine unter Seeckt: das sind Themen, die mit
Worten gar nicht so treffend behandeIt werden konnen, wie es die unretuschierte, wahrhaftige
und einwandfreie Fotografie tun kann. Die erst durch die Anordnung und die Textiemng zum
Tendenzbild wird. Sie ist eine maBlos gefahrliche Uraffe- Der Zeichner kann sich etwas
riusdenken. Der Photograph nichtaZ6
Im Jahre 1925 schien der Konzept der Tendenzfotografie Tucholsky wirklich fasziniert zu haben.
In seiner Rezension von Oscar Blums Bilderbuch Trürnmerfeld Europa lobt er den Felix
Stossinger und behauptet wieder, da6 ein auffallendes BiId eine stiirkere Aussage hat als ein langer
'j -
Ebd.
In einem letzten, auch 1925 erschienen Text befurwortet Tucholsky noch einmal die Macht und
Anwendung der Tendenzfoto,d~e. In dem Artikel Ein Bild sagr mehr ais tausend Worre,hebt Tucholsky
die Bedeutung des Tendenzbildes fur den Propagandisten und den besonderen Wahrheitsanspruch des Fotos
hervor. Er meint:
Und weil ein BiId mehr sagt als hunderttausend Worte, so weiB jeder Propagandist die
Wirkung des Tendenzbildes zu schatzen: von der Reklame bis zum politischen Plakat schlagt
das Bild zu, boxt, pfeift, schieBt in die Herzen und sagt, wenn's gut ausgewahlt ist, eine neue
Wahrheit und immer nur eine. Es gibt Beschreibungen, die die BiIder ubemeffen. aber das
ist selten. Es gibt hunderttausend Fotografien, die den besten Schilderer uberueffen. das k t
die ~ e ~ e l . . . ' ~
Es scheint deutlich zu sein, daB TuchoIsky schon Iange vorher auf die Idee gekornmen war. etwas
mit der Tendenzfotografie seiber zu untemehmen. In John Heartfield erkannte er den Meister der
Was man mit Gegenüberstellungen und Klebe-Bildem von Fotografien anfansen kann.
braucht nicht gesagt zu werden, seit John Heartfield gezeigt hat, wie man das auf
Bucheinbanden macht. AIS ich vor Jahren hier einmal die ~Tendenz-Fotografie>gefordert
habe. brach ein S t u m in der Provinzpresse aus; die Bnider tobten so, daB gleich zu merken
war: diese Tendenzfotografie, richtig angewandt, ist eine gefahrliche sache.>
-
Ebd., S. 544
in seinen Iiterarischen Texten und Buchrezensionen Heartfields künstlerische Leistung imrner anerkannt. In
seinem regelmsig erschienen Aitikel in der Welrbiihne, Auf dem Nachrtisch, in dern Tucholsky seine
Buchrezensionen lieferte, lobte er 1928 Heartfields Kunst. In seiner Rezension von I. Dorfmanns Roman
Irn Lande der Rekordzahlen schneb Tucholsky: "John Heartfield hat wieder eines seiner meisterhaften
Vorsatzpapiere ge~iefert."'~
Also gab die Fotomontage Kurt Tucholsiq die Moglichkeit, sein neues Programm zur radikalen
Verandenmg der Gesellschaft. die er in der Literarischen IVelt formuliene, mit Massenwirksarnkeit an das
Publikurn zu bringen. das seine Ideen verwirklichen konnte, Er konnte mit Heartfield die ganzen
bürgerlichen Gesellschaftsformen der Weimarer Republik in Frage stellen und Vorschage zur Vefinderung
der Gesellschaft aufwerfen. Die Form von Deutschland. Deutschland uber alles ist das Ergebnis dieses
Versuchs. Iedoch ist gerade die Form des Werkes in den kritisichen Studien zu Deutschland. Deutschland
über alles manchmal heftig angegriffen worden. Anton Kaes wirft Tucholsky zum Beispiel vor, das
:O
Ebd., S. 127
-;'
Anton Kaes: --Tucholsky und die Deutschen. Anmerkungen zu Deutschland. Deutschland über alles.*' In:
. Text + Kxïtik. Zeitschrift Fur Literatur. Heft 29 (Kurt Tucholskv~.München: Text und Kricik Verlag
GmbH, Iuni 1985, S. 21
der Gesellschaft - der Querschnitt durch Deutschlana, den Tucholsky sich in seiner Vorrede zu
Deutschland. DeutschIand über alles erhoffte. Der Text ist gewiB nicht diskursiv organisiert, aber die
zerbrochene, zunachst dissoziierte Nanative von Deutschland. Deutschand über alles entspricht wohl der
WirklichkeitsvorsteIlung eines modernen GroBstadter genauer ais ein nomaler, diskursiver Text.
In seiner Behandlung des Werkes 1 s t Kaes auch Tucholskys journalistische Herkunft unbeachtet.
die diese Hiiufung von pubtizistischen Meinformen versthdlich macht. Tucholsky hatte kein Interesse
daran, ein 'sauberes'. gutstrukturïertes Werk zu schreiben. E s mu8 zugegeben werden, daB Deutschland.
Deutschland über alles beim ersten Anschauen verwirrend sein kann. Das Werk ist eine Art
weltanschaulicher Streitschrift, mit dernentsprechenden Starken und Schwachen. Das Werk weist
strukturelle AhnIichkeiten mit einem Brevier auf, in dem Sinne von einer kleinen Auswahl aus den Werken
eines Dichters, oder sogar einem Traktat. Vielleicht den ueffendsten Komrnentar über die sogennante
Ihm [Tucholsky] war nicht daran gelegen, Zensuren von den Professoren der
Litenturwissenschaft zu erhalten, wie er auch wuBte, daB das Universitiitskaheder nicht die
Inswnz sein konnte. ihrn die literarische Qualitat seiner Arbeir zu bestatigen."
Tucholsky war vielmehr mit seinem Experïmentieren mit den Techniken der Bildmontage auf der Suche
Schon die Titelgnphik zeigt die ungeheure Ausdruckskraft der Bildmontage, und deucet zugleich
auf die Inhalt des Buches hin. Der Homunkuhs ist eine groteske Mischung von Bürger und General, der
gleichzeitig einen ZyIinder und eine Pickelhaube, den Orden Portr le mérire und hohen Umlegekragen und
gestreifte Krawatte tragt. In dieser sonderbaren Figur sieht Hans J. Becker mit Recht eine Verkorpemng
32 Bemmann, S. 403
Die Farbschema der Montage, das eine klare AnspieIung auf den darnaiigen Streit um die deutsche
Fahne liefert, ist auch dafiber hinaus eine ailgemeine Aussage gegen den zunehmenden Nationalismus und
den Konservatismus der Weimarer GeseIIschaft, ein anderes wichtiges Thema des Deutschlandbuches. Die
Weimarer Verfassung Iegte einen Flaggenwechsel fest. der die schwarz-weiB-rote Fahne des Kaiserreichs
durch die schwarz-rot-golde Fahne des Jahres 1849 ersetzte. Deutschnationaie, die der Homunkulus auch
verkorpern soll. veriangten aber stets die Wiedereinstellung der kaiserlichen Flagge.l'l Zwar projizierte
HeartfieId die Titetrnontage auf goIdenen Hinrer,wnd, aber die gelbe Farbe bedeutet nicht, da8 der
Homunkulus sich als Demokrat versteht- Die Fahne im Gesicht der dargestellten Figur zeigt die schwarz-
weiB-roten Farben des alten Kaiserreichs. Die Buchstaben der republikanischen Nationalhymne, die aus
dem Mund des Homunkulus brechen, wechseln sich auch in der FoIge schwarz, weiB, rot ab- Die
Verwendung der Fraktur auf dem Titel ist ein weiteres Zeichen, daB es sich hier um einen
Diesen lacherlichen aber zugleich gef&lichen Homunkulus konnen wir also eindeutig auf der
reaktioniïren Seite der Weimarer Politik anordnen. Aus seinem Mund kiingt die NationaIhymne wie ein
chauvinistisches, von der Reaktion usurpiertes Lied. Deutlich ist es also, dal3 die Titelmontage eine harte
Aussage gegen den Konservatismus, Nationalismus und Militarisrnus des deutschen Bürgertums ist. und daB
33
Hans J. Becker: Mit oebaIlter Faust. Kurt TuchoIskvs "Deutschland. Deutschland über alles. Bonn:
Bouvier Verlag, 1976, S. 6 1
3J Ebd.
3' Ebd S. 63
-7
weiteres Thema auf, das sich ais narrative Leitschiene des Buches zeigen wird: das Engagement fur den
deutschen Arbeiter. Der hier verwendete Vers der Nationalhymne, "Brüderlich zusamrnen hart", sol1 den
Leser an ein Land erinnem. das "zu Schutz und Trutze b ~ d e r l i c hzusamrnenhalt". Dennoch zeigt das Bild
einen Schlagstock und einen Schleppsabel, die hier aIs Chiffren der Polizei beziehungsweise des MiIitiirs zu
verstehen sind- Die Poiizei und das Milit$ der Weimarer Republik, deutet Heartfield an, halten nicht mit
dem deutschen Arbeiter brüderlich zusammen. Sie sind vielrnehr miteinander einig, wenn es gilt, gegen
Arbeiter loszuschlagen und die Arbeiterbewegung zu unterdrücken. Die Montage auf der Rückseite des
Buches ist sirnpler. aber deswepn vielleicht noch einpriïgsamer als die ~ i t e l g r a ~ h i k . ' ~
Die scharfste und kontroverste Kritik an dem MilitZr in Deutschland. Deutschland über alles
stammt Car nicht von Tucholsky, sondem von seinern Mitarbeiter John Heartfield. Unter einer
Fotomontage von acht hohen Offiziere der kaiserlichen Armee irn Ersten Weltkrieg steht die
Bildunterschrift "Tiere sehen dich an".38 Tiere sehen dich an war der Tite1 eines 1928 erschienenen,
auBerordentlich popul3ren Buches von Paul Eipper, das sich von einem teils lehrreichen, teiis satirischen
Besuch in einem Zoo handelt- Eipper hatte in seinem Buch teschrieben, es sei
so 'hübsch' fur jedermann, lustwandelnd einen Vergleich zu ziehen aus der eigenen Sphiire, in
jenern Tier den Nachbam, in diesern einen Nebenbuhler oder sonst einen unsympathischen
Zeitgenossen widergespiegelt zu sehen, und schlieBlich seine Beobachtungen mit einem
rnoralischen Sinnspruch und mit überiegenem Schmunzein ru k r ~ n r i n . ~ ~
Hier biecet Heartfield dasselbe Gedankenspiel mit umgekehnen Vorzeichen an. Die 'Tiere* sind fur ihn die
Offiiziere. die der Zuschuaer AnlaB zu lustigeri Vergleichen, moralischen Sinnsprüchen und überle,menem
Schrnunzeh geben. lnteressanterwzise scheint Heartfield in diesem Fa11 eigenmachtig gehandelt zu haben.
37 Ebd.
Von dern Endprodukt erfiihr er zuerst, als er das fertige Buch zum ersten M d saLJO
Der IZngste Text in Deutschland. DeutschIand über alles ist der schon 1927 in der Weltbühne
erschienene Beiuag Derirsche Richter, der die Weimarer Justiz aIs hochst subjektive und ungerechte
KIassenjustiz bezeichnet. Die Richter sind von dem Wertsystem und Gewohnheiten ihrer Klasse so
geprag, schreibt Tucholsky, da8 sie keine vernünftigen, der neuen GeselIschaft entsprechenden
Deursche Richter wird von einer Montage Heartfields aufgelockert. in der ein Richter gezeigt wird,
dem statt Kopf und Handen Pampaphen gewachsen sind. Mit dieser Montage kritisierten Tucholsky und
Heartfield die unbeugsame und bürokratische Natur des deutschen Justizsystems und das starre,
automatische Verhalten der Richter, die an den einzelnen Paragaphen eines kodifizierten Gesetzes
festhielten, oft ohne den einzelnen Fa11 überhaupt in Betracht zu ziehen. Ohne den langen Text also lesen
zu müssen. bekommt man vom Durchblattern des Buches ailein einen klaren Eindruck von dem, was
Mit dem Beitrag Dus Parlament liefern Tucholsky und Heartfield eine der besten poIitischen
Kntiken in Deutschland. Deutschland über alles. Die Montage, die einen schlafenden sozia~demokratischen
Reichtagskanzler Hermann Müiter auf dem Parlamentsgebaude darstellt, wird von einem bissigen,
scharfsichtigen Gedicht Tucholskys begleitet. Der Beiuag übt nicht nur an der PoIitik der SPD f i t i k ,
sondern beklagt die totale Ohnmacht des Parlaments und die Bedeutungslosigkeit der Wahlen.
Andere Beitrase gewinnen ihre Ausdruckskraft durch die bewuBte Anwendung der
Kontrasttechnik. und die Anordnung der Fotos in einer bestimmten Reihenfolge, urri sie aus ihrem
ursprünglichen Kontext zu reiBen und ihnen neue Bedeutungen zu verleihem AIS Beispiel dessen gilt die
*+
"Brief
'" an Jakob Wassermann, 1. Mibz 193 1". In: %Entlaufene Bur~ercc.Kurt Tucholskv und die
Seinen. Herausgegeben von Jochen Meyer und Antje Bonitz. Marbach am Neckar: Deutsche
Schi~lergesellschaft,1990, S. 578
Manchmal scheint Tucholsky in Deutschland. Deutschland über alles aber selber Zweifel an der
Macht der Bilder. an dem erkenntniskritischen Wert des Mediums zu hegen.* Z u einem Bild von
In sotch goidenen Kutschen sind sie nun gefahren; wie irn Miirchen. Jeder hat gfeich sehen
konnen, wer da Konig im Lande gewesen ist - jeder hat es sehen sollen. Heute ist das ganz
anders. Der Machtigste sitzt im Fond seines goBen Wagens, und niemand sieht ihn. [.-.]
Daher man es denn früher mit den RevoIutionen einfacher harte: die Symbole wxen so schon
bequem. Ein KaiserschloB; die Bastille; goldene Kutschen - bitte nur zuzugreifen.
eu te...?'
Vier wichtige Leitschienen von Deutschland, Deutschland über aIles, n k l i c h Kurt Tuchols kys
f i t i k am deutschen Milit&. der Justiz, der Politik und der Klassengesellschaft der Weimarerrepublik sind
also allein in der Betrachtung der Bilder und vor altem der Bildmontagen zu erkennen. Diese Strukturen,
die Kaes in DeutschIand. Deutschland über alles nicht zu finden vermag, sind bei genaurem Ansehen der
Montasen und Beschriftungen deutlich zu erkennen. Deutschland. Deutschland über alles verbindet die
neue, revolution&e Zusamrnenwirkung von Beschriftung und Bild, die Tucholsky schon bei der AIZ
AIso muB man zu dem SchluB kommen, daB Kurt TuchoIskys Mitarbeit mit John Heartfield bei
dem kornmunistischen Neuen Deutschen Verlag, um ein neues Publikum zu erreichen, und der Gebrauch
von Tendenzfotografie und Bildrnontage, urn eine neue. fur dieses Publikum geignete schriftsteIlerische
43 Ebd., S. 28
Unsere ü b e r ~ e g u n ~ ezur
n Rolle der Bildmontagen und zur Gattungshge allgemein haben gezeigt,
daB die Form von Deutschland. Deutschland über aIIes gerade eine der Stiirken des Buches ist- Meiner
Ansicht nach liegt aber in diesem Bereich keine Entgleisung Tucholskys, sondern eine Entgleisung seiner
Kritiker vor. Es ist die Form des Werks allgemein, und vor allem die Bildmontage, die zu den stiirksten
Aspe kten des Deutschlandbuches ge hort. Aber ein wichtiger Aspekt der Montage scheint Tucholsky doch
miBlungen zu sein. Tucholsky und HeaRf~eIdhaben sicherlich mit der BiIdmontage und die
Tendenzfoto_mfie das bestehende Weirnarer System volhg abgelehnt. aber sie versagen aIIgemein, was wir
auch spater von TucholsLys Texten behaupten werden, in der FormuIierung einer politischen Alternative.
In Deutschland. Deutschland über alles gibt es keine einzize Bildmontage oder BiIdbeschnftung, die das
neue proletarische Publikum politisch aktiviert, Darüber hinaus scheint der pessirnistische Tucholsky. wie
schon erwahnt, an einer Stelle sogar an der Macht der Bildmontage selber zu zweifeln! Trotzdem kann man
mit Recht behaupten, dd3 der Gebrauch von Tendenzfotografie und Bildmontage allgemein zu einer der
" Anrhony Phelan: '*Left-winp rnelancholia: Kurt Tucholsky's Humanism". In: The Weimar Dilemma:
Intellectuals in the Weimar Repubtic: Manchester. England: Manchester University Press, 1985, S . 128-129
merkwürdige Begabung für diese Kriegsanleihepropaganda. Fur das Gedicht Moweneier, das Tucholsky
1917 in dern Flieger ver6ffentiichte. erhielt er sogar das ~riegsverdiensrkreuz-48AIS die deuüche
Regierung irn M k 1918 die achte Knegsanleihe ausgab, schrieb Tucholsky irn Flieger.
Rm-raus....!
mit dern Geld aus den Katen, Kassen und Kommoden! Die entscheidende Stunde erfordert
auch Deine Mitwirkung. Die Silberkugetn sind nicht rninder wichtig ais Granaten und
Kanonen- Gerade jetzt braucht Hindenburg Mitarbeiter- Er ruft Dir zu: Zeichne 8.
Kriegsanleihe-4g
Weiterhin veroffendichte Tucholsky auch mehrere Artikel im Flieger, die die offizielle Position
fuhrten, erschien im Flieger ein Appel1 an die allgerneine Bevolkerung zu Einigkeit und Ruhe. AIS die
Berliner Munitionsarbeiter im Januar 1918 streikten, schrieb Tucholsky das Titelbtatt vom Flieger, das die
Position der Regierung votlig unterstützte. Nach dem Kneg beteiligte sich Tucholslq sogar kurzfristig an
einer rniiitanten nationalistischen Bewegung, die mit dem illegalen Freikorps eng liiert war. Am 18
Dezember 1920 uat er endguIiig aus dieser Gerneinschaft aus. "By then he had realized", schreibt
Marianne Doerfel. "that this involvernent in right-wing politics was ineconcilable with his political
Also veruat Kurt Tucholsky am Anfang seiner literarischen Laufbahn keineswegs eine starke
Position gegen das Milita. Es scheint aber auBer Zweifel zu sein, da8 Kun Tucholsky doch aus seinen
Kriegserlebnissen radikaler Pazifist geworden k t . Den klaren Beweis fur seine verandene Auffassung des
47
Bemmann, S. 136
1s
Marianne Doerfel: "The Orisins of a Left Intellectual: Kurt Tucholsky, the Romantic Conservative". In:
Oxford German Studies, Vol VII, Oxford: At the Clarendon Press, 1973, S. 127
49
Der Flieger, Nr. 21, 17.LII.19 18, In: Doerfel, S.127
Miliraria- Dieser progarnrnatische Aufsatz enthdt mehrere Themen, die aIs Vorgriff auf die Kritik am
Milit& in Deutschland, DeutschIand über alles dienen. Tuchofskys vernichtende Kritik in 1MiIitana ist ein
Versuch, die Verlogenheit von Lesebuchgeschichten und vaterIZndischen Anekdoten über den Ersten
WeItkneg aufzuzeigen. Er bespncht das schlechte Verhaltnis des deutschen Offiziers zurn Mann, die
ungleiche Lohnung, die mangelnde Karnendschaft, die Unverfrorenheit, mit der die Offiziere den besten
Teil der Verpflegung Fur sich beanspmchten, und den eigennützigen Umgang der Offiziere mit dem
fremden Eigentum - Tucholsky fiïhrt also einen aligemeinen Karnpf gegen die Propaganda des
Was wir hier betrachten, angreifen, bewenen und E r ethisch hoffnungslos halten, k t das
Treiben, daB sich Tag fur Tag drauBen abgespielt hat, unduber das sich kaum einer mehr -
bis auf die Leidenden - aufhielt. Nicht die groBen Skandale sind es, nicht die Sonderfalle,
die sich überall einmal ereignen, sondern der tagliche Wust von Unehrlichkeit, Diebstahl an
Nahmngsmittel, den niemand mehr ais Diebstahl ernpfand, MiBbrauch der Dienstgewalt und
brutaler Unterdrückung der fremden Nationen ...Der deutsche Ofizier wirkte bei diesen
Übeltaten mit, war stets durch Befehl gedeckt und sah bestenfalls untatig zu. Das ist der
Grund für den gerechten Hal3 gegen den deutschen 0ffizier.s'
Ein weiterer, früherer Beiuag Kurt Tucholskys, der an die Themen anknupft, die Tucholsky in der
Miliraria-Folge erlautert und E r das Verstandnis seiner Kritik am deutschen Milit* in DeutschIand.
Deutschland über alles. erhellend wirkt, ist seine am 20. M& 19 19 geschriebene Rezension von Heinrich
Manns Roman Der Untertan. In Manns Iiterarischen Figur des Untertanen sieht Tucholsky die
VenvirkIichung seines BiIdes des typischen Deuschen, der den Mitiarismus ermoglicht und befurwortet:
den Deutschen erinnert, Er bezeichnet die Deutschen als Barbaren, die durch FleiB. Wissenschaft und
Religion noch barbarischer geworden sind. Das Zitat verneint voliig die Apotheose des deutschen Voikes
in der deutschen Nationalhymne: "es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zurn m l i c h e n Behelf
Deutschland. Deutschland über alles nur ironisch und satinsch zu verstehen war, dern geht spatestens beim
Der Protagonist vori Holderlins Roman gebraucht eine militarische Metapher, um das deutsche
Volk LU beschreiben. In einer klaren Anspielung auf die Schachtfelder des Ersten Weltkriegs, 1 s t
Tucholskys dieses Zitat, das gleichzeitig die Unmenschlichkeit der Deutschen beklagt, zur Metapher iür die
Es ist ein hartes Wort, und dennoch sag ich's, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir
denken, das zemssener w a e , wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine
Menschen. Denker, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute,
aber keine Menschen - ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hande und Arme und alle
Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande
zemnnt?j8
In dem Beitrag Die Narion der OJfiziersburschen satinsiert Tucholsky die militarische
Gehorsarnkeit und Untenanigkeit bei den Soldaten und diejenigen OiFiziere, die diese Gehorsamkeit zu
manipulieren verstehen. Das B ild zeigt den paramilitiirischen Verein "Marinejugend Vaterland. der sich
zurn Abmarsch rüsten, um das Observatorium Potsdam zu besichcigen. Nach der orignalen Beschrïftung
des Bildes, die Tucholsky auch in Deutschland. Deutschland über alles wieder abdruckt, sol1 der Verein den
jungen Leuten
57
Friedrich Holderlin: Hvuenon oder der Eremit in Griechenland. Herausgegeben von Iochen Schmidt,
Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1979, S. 191
TuchoIsiq bekmpft in diesem kurzen Beitrag die Fortlebung einer militarischen Tradition, die er fir
gefahrlich hdt. Er verlacht das rnilitansche Fortbildun,osprinzip, da0 man durch DiszipIin StahIuncg und
die geistige FortbiIdung; die Stahlung; die Tüchtigkeit - es ist ailes da. Denn wie soIIte das
deutsche Volk dergteichen wohl anders erreichen als durch AnIegen der Hiinde an die zu
diesem Zwecke angebrachte ~oseennaht?~'
Der hier abgebildete Offiziersbursche ist eine Verkorperung des Untertanen, der "untenanig und
respektvoll nach obern himrnelt und niedemiichrig und pschwollen nach unren trW6',und seine eigene
Identitat preiszeben muB. um ein der Volksgemeinschaft dienender Mann zu werden. Da die jungen
Manner sich das Observatonum Potsdam ansehen werden, denkt Tucholsky darüber nach, wie man dieses
Und wenn man das von Mars aus gesehen hat: diese angepreBten Unterarme, diese
astronomiedürstigen Augen, den Feldherm von der Front--.dann haben die Marsleute
sicherlich ihren ErdspeziaIisten vor das Fernrohr gerufen, und der hat mit vollem Recht sagen
konnen: "VieIIeicht gibt es Lebewesen auf der Erde. Aber Menschen - Menschen sind das
ni~ht."~'
Die Unrnenschlichkeit der Deutschen, die Hyperion in dern einleitenden Zitat beklagt, wird also in diesem
Obwohl die Soldaten im Ersten Weltkrïeg ihrern Land gedient hattcn, ohne daB ihre
gesellschaftliche Lage dadurch verbessert wurde, scheint die Jugend der neuen Weimarer Generation
59
Deutschland. Deutschland über alles. S. 14
*-
Ebd.
militarischen Wertsystems in der Weimarer Republik ist ohne Zweifel die Uniform. Wir haben schon
gesehen, welche Rolle die Uniform in der Titelmontage von Deutschland, Deutschland über ailes spielt- Da
die Uniform Symbol der Macht und deren Aura bei der deutschen Bevolkerung ist, kmn man in Zivil nicht
d a m berechtigt sein, eine fùhrende Rolle in der deutschen Gesellschaft zu spielen. Tucholsky steIIt den
Beiuag Schadlichkeit des Zivils dem Bild von den Offiziersburschen gegenüber. Der Beitrag, der ein Bild
vom abgedankten Kaiser Wilhelm in ZiviI kornrnentiert, handelt vom preuBischen General und Heeresieiter
Erich Ludendorff, der nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Namen Lindstrom mit fdschen Papieren nach
Schweden floh. Da der deutsche Bürger diesen Hang zur Uniform hat, hat dieser abgetakelte General in
Er fuhIts. da8 ihm das Zivil nicht steht. Es steht ihm wirkiich nicht. Ich habe ihn darïn
gesehen, damals, ais er vor dem UntersuchungsausschuB stotterte. Er hatte etwas von einem
suengen Lehrer im Darnpfbad. Die Autoritat war dahin. Denn dies ist der oberste Grundsatz
Wr Stubenmadchen und Generde: Was in Tracht ist, muB in Tracht geiiebt werden. Zivil ist
allemal schadl ich, Armer GeneraI - !63
Das Fortleben der wilhelminischen militarischen Tradition in der Weirnarer Republik wurde allem
von dern Statilhelm verkorpert. Dieser 1918 von Franz Seldte ge-mndete ultrakonsecvative Bund von Ex-
Frontsoldaten, der ab 1936 auch Nicht-Frontkampfer aufnahm, wurde im Laufe der zwanziger Jahre zu
einer schlagkr3ftigen antirepublikanischen Organisation, die sich schIieBlich im Jahre 1931 mit Hitlers
Nacionalsozialisten verband. Tucholsky war sich der Gefahr. die dieser Kampfbund fur die Republik
darstellte. vollig bewuBt. Das Gedicht Die vorn Sterben teben! begleitet ein Bild einer Stahlhelm-Parade
und verherrlicht die militarischen Grundsatze, die diese Organisation verkorpert. Noch einmal ist dieser
Beitrag aber nur ironisch zu verstehen. Die Verbindung von Bild und Text btingt den Leser auf den
Gedanken. da0 es in der Weltanschauung des Stahlhelms keine Kapitulation vor dem Feind gibt, sogar
wenn die 'deutsche Erde' vollig verwüstet wird. Diese torichte Mentalitiit wilI Tuchoisky nicht
verherrlichen. Stattdessen geht es d a m , der StahlheIm als eine hochst zerstorerische Kraft danustellen,
Ebd., S. 16
Auffehnungund Resignafion
Kurf Tucholskyzw~schen 36
die vor nichts und vor niemandem hdtrnacht Implizit in dem Tite1 von Tucholskys Beitrag ist ein anderes
Sterben: der Tod der Republik, ausgeübt von reaktioniiren KraEcen wie dern StahIheIrn.
Das gefahrliche Symbol der Uniform taucht auch in einer unbetitelten Montage von John
Hemfield wieder auf. Das Klebebild zeigt eine deutsche FamiLe, die die vorbeimarschierenden Truppen
angespannt ansieht. Aber nicht nur die Truppen sind militarisch angezogen - auch der Heine Sohn der
Familie ist in Unifonn, als wollte er sich eines Tages zu dieser Gruppe zahlen. In der Gegenüberstehng
von dieser idealisierten DarsteIiung des Militars und der burgerlichen Familie gewinnt man den Eindruck,
wie sehr die Idealvorstellungen des Bürgertums in der Weimarer Republik irnmer noch von tiefen
Diese unbetitelte Montage steht in Deutschland. Deutschland über alles der ersten Seite eines
Tucholsky-Beitrags gegenuber, der das Idealbild des deutschen Soldaten, woFùr die deutsche Bevolkerung
Walde handelt von einem neunzehnjahrigen Freiwilligen, der von der Feme errnordet worden war.
Wildernde Hunde haben seinen Kopf freigelegt, der den Leser anspricht. Der FreiwXge war der einzige
'anstandige' Mann im ganzen Orden. aber ein gewisser Lubecke, ein machtiges Mitglied seines Bundes, der
"immer was mit Volckner hinter der Scheune" machte, war neidisch auf seine Unschuld. Also hatte
Lubecke angedeutet, daB der Freiwillige ein Spitzel wiire, und dann wurde er von vier anderen Mitgliedern
Diese Geschichte ist eine vollige Vemichtung der nebenstehenden Montase, die das Idealbild des
deutschen Militiirs darstellt. Die Andeutung auf homosexuelle Beziehungen im MilitSr wird für das
konservative Bürgertum der Republik hochst unangenehm gewesen sein. Es ist hier kein Zufall. daB die
Ebd., S. 153-153
Vorrede und dem Holderlin-Zitat. Das Bild zeigt den Rückzug der deutschen Truppen aus Frankreich nach
dem Ende des Ersten Weltkiegs. Tucholsky stellt die Frage, wozu die Truppen überhaupt hinausgezogen
seien. Der Feind, sagt er, gegen den die verkleideten Bergarbeiter, Handwerker, Rohrieger und kleinen
Angestellten gekampft haben, war ihnen im Gmnde kein Feind, nur Partner in einem Kneg? von dem die
oberen Schichten der Gesellschaft Gewinn herausgeschlagen hatten, wahrend die Soldaten einander
totschlugen- Nur die wenig KlassenbewuBten unter den Soldaten, f&rt Tuchotsky fort, kannten die Feinde,
der sie envartete - die Bankhalter des Krieges und des Friedens. AIS Dank des Vaterlandes bekamen die
Soldaten Inflation. den Bankrott des Staates, Hunger, Arbeitslosigkeit und 1,67 Mark Kriegsverletzenrente
in der ~ o c h e . ~Tucholsky
' versucht also, den Kneg erneut aus der Perspektive eines Gassenkarnpfs
auszulejen. Die Lebensbedingungen der Arbeiterklassen, wenn sie den Krieg überhaupt überlebten, waren
wegen Arbeitslosigkeit. Hunger, Bankerott und Inflation noch schlimmer ais vor dem Krieg, wahrend die
Vielleicht der wichtigste Aspekt der kriegsgegnerischen Texte in Deutschland. Deutschland über
-
dies ist Tucholskys Hinweis auf die heimliche Aufnistung DeutschIands wahrend der Weimarer Republik.
Nach den Bestimrnungen des VersaiIler Vertrags sollte die Reichswehr eine Art Polizeitmppe von 100,000
Soldaten ohne schwere Waffen sein, aber das deutsche MilitZr versuchte schon bald, diese auferlesten
Beschrankungen zu umgehen, indem es vor allem die Armee wieder aufrustete und dabei sesen den
Versailler Veruag verstieB. Die Reichswehr, unter der Herrschaft des preuBischen Offiziers Hans von
Seeckt. bildete für die Weimarer Republik eine groBe Gefahr. Seeckt
set out to create a superb fighting machine which would one day restore Germany to her
former greatness. It was not so much this ambition as Seeckt's elevated view of the m y ' s
place in society which constituted the real rhreat to democracy. He believed that the
Y "Ebd
. S. 13
und i?es@ncrtion
Kurf Tucholskyrwischen ~uh'ehnung 38
Reichswehr owed Ioyalty not to the transitory republic, of which he had a Iow opinion, but to
the imperishable ~ e i c h - a
In seinem scharfen aber witzigen Beitrag Die Tarnrtng weist Tucholsky listig auf die 'geheime'
aber doch offensichtlich vor sich gehende Aufriistung hin. Seine Bemerkungen zu dem BiId eines
Maschinengewehrs und zwei Soldaten, die von einem Netz kaum verborgen sind, lauten: "Der neueste
Schutz bei der deutschen Reichswehr macht die Maschinengewehrabteilungen fast unsichtbar. Dieses Netz
In Deutschland. DeutschIand über alles druckt Tucholsky auch eine Notiz ab, die davon berichtet,
da8 die Mitglieder einer Werksfeuenvehr in der Sowjetunion aus Langeweile Feuer gelegt hatten. um sich
sodann als Retter bestatigen zu konnen. Nach Hans Becker ist der Beitrag Die Feuenvehr als Kritik an der
Die Meldung, verbunden mit einem Reichswehrfoto, erweckt hier den Eindruck. man habe es
auch bei dieser "Feuerwehr", die sich bekanntlich auf sowjetischen Territorium "in
[verbotenen] Waffen üben durfte", mit potentiellen Brandstiftern zu
Das Geheimnis der deutschen Aufrüstung in Sibirien legt Tucholsky auch in dem witzigen Beitrag
Der Krkgsschauplarz bloB. Diese erfundene Geschichte schiIdert die Begegnung Kaspar Hausers (eines
der Pseudonyme Tucholskys) mit einem alten Freund, der gerade zehneinhalb Monate auf einem geheimen
Kriegsschauplatz verbracht hatte. Auf diesem Piatz, der mit Schutzengraben, Artilleriestellungen.
Beobachtungsstanden und sogar Feldtelefon ausgestattet war, war es sogar mm Gefecht gekommen, in dem
vierhundert Menschen ums Leben kamen, weil der besoffene Gasoffizier einrnal aus Versehen die
66 WiIliarn C m : A History of Gerrnanv 18 15- 1945. London: Edward Arnold Pubiishers, 1979. S. 279
67
Deutschland. Deutschland über alles, S. 43
Becker. S. 73
Die Geldverschwendung durch die heimliche (und offene) Aufnistung ist auch das Thema vom
Gedicht Das Fehlende. Beim ersten Anblick scheint das Foto, das der Text begleitet, sich nicht auf das
MilitZr zu beziehen. Das Bild zeigt eine Reihe von ausgemergelten Kindern, die in einer
Landesversiche~ngsanstaltuntersucht werden. Dennoch kt dieser Beitrag eine direkte Anspielung auf den
Streit um den sogenannten Panzerkreuzer "A", der die sozialdemokratische Regierung von Hermann Müller
Kun. vor der Reichstagsauflosung am 3 1. Miin 1928 fiel die Entscheidung über dieses Projekt-
Die Reichsmarine wollte mit dern Panzerkreuzer "A" eine Reihe von Ersatzbauten einleiten und den
Geserzgeber auf ein langfnstiges Programm festlegen. Der Reichstag bewilligte die eine erste Baurate,
weitere Arbeiten durften aber erst nach erneuter Prüfung der Finanzlage und auf keinem FaIl vor dem 1.
Septernber 1928 aufgenommen werden. Eine Forderung nach kostenloser Kinderspeisung an den
Im Reichstagswahlkampf von 1928 bedienten sich die Sozialdemokraten der ursprünglich von der
KPD formulierten Parole "Kinderspeisung statt Panzerkreuzer", denn auch die meisten SPD-Mitglieder
hielten den Schiffsbau für ein militarisch sinnloses Prestigeobjekt der Marine. Nach dem Sieg der
Sozialdemokraten am 20. Mai und der Bildung der Regierungskoalition unter Reichskanzler Müller erhoffte
die Mehrheit der SPD-Mitglieder den Bau von Panzerschiffen und Kreuzern zu verbieten. Also stellte die
SPD-ReichtstagsFraktion am 3 1. Oktober den Antrag, den Bau des Panzerkreuzers "A" einzustellen und die
69
Deutschland. Deutschland über alles, S - 64-67
70
Heinrich August Winkler: Weimar 19 18-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie.
Munchen: C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, 1993, S. 332
Nationalsozialisten mit Nein stimmten. gab es keine Mehrheit fùr den Auftrag der SPD."
Erst in der Gegenubentellung von Bild und Text gewinnt das Foto seine kntische Bedeutung und
seine poliîische Pointe. Rhetonsch Eragt Tucholsky noch einmai, was diesen Kindem fehle, Sie sind so
verannt, sagt er, weil das Geld, das zur AufrechterhaItung und Entwicklung der Sozialeinrichtungen notig
ist. von dern Milite vergeudet wird." Diese Ausgaben garantieren die Sicherheit des Landes nicht - irn
Panzerkreuzerstreit sprach sprach zum Beispiel wenig für die Beteuerungen des Reichswehrministers
Groener, dal3 die Ersatzbauten die Marine die deutsche Ostseeküste vor einem polnischen Angnff schutzen
k6nntena7' Stattdessen verschwenden die Offizïere nach Tucholskys Ansicht das Geld hauptsachlich für
ihren Privatbedarf:
In das SchloB kommt der Stab. Requirieren Sie mal vor allen Dingen ein Klavier fur
Exzellenz - ich &tube, irn SchIoB ist keins; müssen wohI schon die vorigen rausgeuagen
haben; verdarnmte Schweinerei! AIso irgendwo im Dorf wird doch wohl 'n Klavier sein. ein
FIügel-..was weiB ich! Wenn bis heute nachmittag um drei kein Klavier da kt. dann IaB ich
sie ab~osen!~'
In Anknupfung an den erwahnten Miliroria-Aufsatz ubt Tucholsky daruber hinaus Kntik an dem
Das k t mir ganz egal! In Feindesland kenne ich keine Rucksicht! Lassen Sie die Obstbaume
umschIa~en- alle! die ganze Allee! Der Feind muB mit allen Mitteln geschadigt werden!
Und vergessen sie nicht, die beiden Bmnnen am Dorfeingang zuzuschütten-+..175
IDeutschland.
' Deutschland über alles, S. 150
73 Winkler, S. 339
71
Deutschland. Deutschland über alles, S. 150
Militarisrnus in der Weirnarer Republik zusammen und wamt den Leser vor den Folgen einer derartigen
Enrwicklung. Unter dern Bild von Staubschuumasken tragenden Mannem auf der Leipziger Messe schreibt
er:
Eines Tages wird es ernst sein. Und dann wird dieses Rüsselgesicht alltaglich sein, und
niernand wird mehr darüber lachen, und vieIe werden weinen. Aber das kann man nicht
verhindern, nicht wahr - das Hütehaus macht Strohhuttage, der kanadische Obstfarmer
propagiert seine Pfiniche. und die Rüstungsindustrie bnucht den ~ n ' e g " ' ~
Die groBten Gefhhren fur die Weimarer Republik sieht Kurt Tucholsky in seiner Militarisrnus-
Kritik in Deutschland. Deutschland über alles also in dem Fortleben der alten wilhelminischen
mititaristischen Gesinnung, verkorpert von pararnilit~schenOrganisationen wie dem Stahlhelm und die
illegaie Aufrüstung der antirepubtikanischen Reichswehr unter Seeckt. Seine Analyse ist zweifellos richtig,
und sehort zu den Stiirken des Deutschlandbuches- Jedoch verspürt man in seiner mititarischen k t i k einen
allgemeinen Anachronismus. Kun Tucholsky beschaftigt sich intensiv mit den Ereignissen des Ersten
Weltkrieges, weniger mit den neueren geseIIschaftlichen Erscheinungen des Militarismus und des
Nationdismus in der Weimarer Republik- Neben dem Stahlhelm waren zurn Beispiel die Sturm-Abteilung
(SA) und der Schutz-Staffel (SS) der nationalsozialistischen Partei Hitlers die wichrigsten paramilitiirischen
Organisationen in der Weimarer Republik. Wegen der Terrorakte dieser Gruppen unter Goebbels war die
NSDAP sogar in Berlin-Brandenburg im Mai 1937 verboten. Trotzdem kommen diese neuen get'ahrlichen
SpieIanten der deutschen Militarisrnus und ParamiIitZrismus in Deutschland. Deutschland über alles nicht
zurn Ausdruck. Diese Lucke in Deutschland. Deutschla_nd.über a l l e werde ich in einem spateren Kapitel
intensiver besprechen - zurn SchluB dieses Kapitels sei nur angemerkt, daB Tucholskys an timi Iitihische
Kritik. trotz der allgemeinen Richcigkei t seiner Aussagen, auch eine anachronistische. eher
'6 Becker, S. 89
Deutschland uber alles. Er bezeichnet das Justizwesen als ein politisiertes System der Massenjustiz. das
wegen ihrer klassenpolitischen Rechtsauslegung das Vertrauen des Volkes verloren hat und nicht mehr
berechtigt ist, Recht zu sprechen. Gegen die falschen Entscheidungen dieser Justiz mua man aktiven
Widerstand leisten. Der Jurist Tucholsky, der am 19. November 1914 mit einer Arbeit uber einen
Paragraphen aus dem Hypothekenrecht an der Universitat Jena zum Doktor der Rechtswissenschaften
prornovierte, die juristische Laufbahn jedoch nie einschlug," war auf dem Gebiet der Jutiz bewanden. und
hier war seine Kritik am genausten, am informiertsten und am durchdachtsten. "Imrner und irnmer wieder",
auBen sich Fritz Raddatz LU diesem Thema, "hihnmert TuchoIsky seinen Lesem ein: Diese Richter
sprechen doppeltes Recht. diese Richter [...] versagen als soziales Instrument, als Kaste. als ~enschen.""
Die Justiz der Weimarer Republik war wahrscheinlich das antidemokratischste Organ der
Geselischaft. Ihre Rechtsprechung war haufig eine Frage der politischen Gesinnung, denn aIIe Richter aus
der Kaiserzeit blieben nach dem Ersten Weltkrieg im Amt. Sie waren der Republik gegenüber mehrheitlich
feindlich gesinnt, und beuachteten monarchistische Gesinnung als ein Kriterium der Objektivirat und der
Eignung, wahrend repubiikanische Gesinnung fast als Verbrechen angesehen war. Wer aus
monarchistischer Gesinnung die Republik bek5mpfte und gegen ihre Gesetze verstief3, durfte also von der
Rechtsprechung Nachsicht und Milde erwarten. Wer aber die Republik bejahte, beging die Gefahr, daB
diese poiitische Gesinnung zu einer schlimmeren oder sogar falschen Venirteilung beiuagen konnte.
n
Bemmann, S. 100- 101
''Fritz I. Raddatz: Erfole oder Wirkung. Schicksale plitischer Publizisten in Deutschland. München:
Cari Hanser Verlag, 1972. S. 27
Obwohl es in der Justiz der Weimarer Republik eine bedeutende Minderheit von dernokratisch
gesinnten Richtern und lustizbeanten gab, war eine tiefgehende Reforrn des Systems ohne dramatische
Eingriffe von auBen unrnoglich- Der reaktioniire Deutsche Richterbund war der weitaus groBte und
ein fiuBreichste Standesveruetung der Justizbeamten. Er hiett sich an d e r Idee einer unpolitischen, in sich
geschlossenen Rechtsordnung fest und setzte sich dafur ein, daB Ausübung und Reforrn der Rechtspfiege
den Fachleuten überlassen blieb." Der Deutsche Richterbund bekknpfte die Demokratisierun_oder
Also ergibt sich aus diesen Überlegungen das Bild einer vorwiegend antidemokratischen,
antirepublikanischen Weimarer Justiz, die durch den Verlust der politischen Unparteilichkeit in ihren
Rechtsanwendung das offentliche Veruauen verloren hatte. Es gibt in der Geschichte der Weimarer
Republik zahllose Beispiele von Rechtsprechungen, die Tucholskys Auffassung der Justiz als politisierte
Klassenjustiz bestatigen. Wenn man m m Beispiel aile Mordprozesse von 1919 bis 1922 nach der
poiitischen Gesinnung des Morders einzuordnen versucht. stellt man f a t , daB 354 der 376 politischen
Morde von reaktioniiren Rechtsstehenden bqangen wurden. Bei den rechtssrehenden Attentatern gab es
nur 24 Veruneilungen, keine Hinrichtungen, eine durchschnittliche Haftzeit pro Mord von vier Monaten
und eine durchschnittliche Geldstrafe pro Mord von 2 Papiermark. Auf der anderen Seite wurden IO von
den Iinksstehenden Attentatern hingerïchtet. und die durchschnittliche Dauer der Einsperrung pro Mord
79
Emil J. Gumbel: Vom Fememord zur Reichskanzlei. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider. 1963. S.
45-46
Klaus Petenen: Literatur und Justiz in der Weimarer Republik. Stuttgart: I. B. Metzlerische
Verlagsbuchhandlung und Car1 Ernst Poeschel VerIag GmbH, 1988, S. 1 10
Die Unterlassung der Strafverfolgung, die einseitige Haltung der Justiz, der systematische
Freispruch der Merder und Hochverrater und die damit verbundene Ermutigung zu weiteren
Taten wurde gemeinhin aIs "KIassenjustiz" bezeichnet, ein aus der Kaiserzeit ubernommener
Begriff; denn die Arbeiter bejahten die Republik und ernpfmden daher die anti-
republikanische Justiz als ~eind!'
Tucholsky sah mit Recht, daB das Justizsystem d e r Weimarer Republik sowohl poliusch als auch
-oeseIlschaFtlich ein doppeltes Recht sprach. Die starkste Aussage gegen die Weimarer Justiz Iiefen e r mit
dem Aufsatz Derirsche Richter. der zuerst am 26- Apnl 1927 in der Welrbiihne erschienen war und e r
ungekürzt in Deutschland. Deutschland über alles übernahrn. In diesem Beitrag erlautert Tucholsky seine
Auffassung der Weimarer Justiz aIs eine Diktatur des mittieren und gehobenen Bürgenums, deren UrteiIe
die soziale Stufenleiter Deutschlands festschreiben, ohne sich um den objektiven Befund zu kümmem. Da
diese Urteile wenig mit einem unparteilichen Versuch der Wahrheitsfindung zu tun haben, sind sie
ausschlieBlich ais Kampfmomente im Streit der Klassengegensatze zu wex-ten. Das deutsche Volk, das diese
Lage erkennt, hat also kein Vertrauen zu der Weimarer Justiz mehr.
Am Anfang des Artikels Fordert Tuchoisky die sofonige gesetzliche Aufhebung der
Unabsetzbarkeit der Richer, denn er hait eine Justiueform ohne diese gesetzliche Aufhebung für
unmoglich. Ein neu ernannter Richer. sagt Tucholsky. ist zunachst machtlos. D a m wird e r vom
schleichenden Gift der Routine so impragniert. daB er sich dem Systern anpaBt, ohne es zu verbessern.
Wenn er also zu einer Ieitenden SteIIung kommt, ist es schon zu spat. Ein Richter, der sich gegen die
Routine suaubt, wird entweder dazu gezwungen, die Gruppe zu verlassen, oder so entwürdigend behandelt.
daB e r von selbst zurücktrîtt. Tuchoisky nennt diesen ProzeB die Kooptation einer bestimmten
gesellschaftkhen Gmppe. die sich irnmer adaquate, homogene Elemente hinzuwahlt- Diese Kooptation
31
Gumbel, S. 46
S= Ebd., S. 47
Der Grundfehler im Verhalten der deutschen Richter, fahrt Tucholsky fort, liegt in ihrer vollig
abwegigen Vorstellung des Strafiechts- In dieser Vorstellung geht es eher um die Lebensfuhrurig des
Angeklagten ais um dessen faktiachen Schuld oder Unschuld. Die Gewohnheiten, wie zum Beispiel die
sexuelle Freizügigkeit, die die Richter für schlecht halten, sind im StrafprozeB wichtiger als Indizien.
Die Tatsache, daB ein des Mordes Verdachtiger nachts liest, am Tage schIaft und zwei Frauen
zu gleicher Zeit Iiebt, durfte den Mann ziemlich erledigen. Dergleichen wiegt schwerer als
alle Indizien, die dem Angeklagten vorgehalten werden.&
Dieses Fibelbild beherrscht Tucholskys Ansicht nach die gesamte deutsche Rechtssprechung.
Bei dieser KIassenjustiz fühlt sich der Richter also dazu qualifrziert, sittliche Urteile abzugeben.
Im Wertsystem des kieinen und rnittleren Burgertums sind diese Urteile eng am Konzept der Autoritat
gebunden. Der deutsche Richter gibt in allen Fallen dem. der nur irgendeine vermeintliche oder wirkkhe
Autoritat ausübt, volles Recht. Hier treffen wir also noch einmal den deutschen Untertanen, mit seinem
skiavischen Unterordnungs- und Hernchaftsgefühlen. Aufgrund dieser Prinzipien sind die Richter bereic.
wahrzunehmen. Die Polizeibearnten werden sogar von den Richtern ermutigt, das Publikum so schiecht wir
rnogiich zu behandeln: Zeugen werden angefahren und durch suggestive Fragen beeinfluBt, wahrend
Angeklagte der Arbeiterkiassen veMchtlich behandelt und durch Gewohnheiten statt Indizien belastet
werden- Da es darüber hinaus in dieser Vorstellun,o der Justiz keine UnschuIdvermutung gibt, wird jeder
Freispruch nicht nur als Niederlage des Staatsanwaltes betrachtet, sondem auch a k Versagen der Justiz
uberhaupt. Dagegen sind diesel ben Richter durchaus bereit. die schIimrnsten MiBbrZuche und
Kutt Iucho/s&yzw~Schen
A uflehnung und Resignation 46
Ausschreitungen zu entschuldigen, wenn es sich um einen Vorgesetzten handelt, Sie weigern sich
allgemein, strafliche Taten von reaktionir gesinnten Angeklagten zu bestrafen. Dadurch werden die Richter
Am Ende des .4rtikeIs f d t Tucholsky sein Argument zusammen. Der Richterstand reprisentien
seiner Ansicht nach nur einen klassenrnaBigen Ausschnitt, der das Ercgebnis einer Auswahi von Menschen
ist. die nicht berechtigt sind. im Namen des Volkes Recht zu sprechen. Die Wirkung ihrer Tatigkeit, fahrt
er fort, ist verhiingnisvoll. Man muB dieser Diktatujustiz den kleinen Rest von Vertrauen nehmen, indern
man die Ut-teilsspriiche, die zum ungerechten Freispmch von Angehorigen der hemchenden Klasse oder
zur ungerechten Venirteilung von Angehoripn der Arbeiterklassen führen, vdlig ignorien."
Obwohl Tucholsky an keine positive Evolution irn Suafiecht glaubt. ist Dettrsche Richter nicht
ganz negativ. Er sieht die einzige Gegenwehr in einem Klassenkampft gegen die regierende Kaste der
Richter. Da diese Richter die Bürger in Unsicherheit und Unwissenheit lassen, d m i t sie die
StrafprozeBordnung zu ihren reaktioniken Zwecken rnanipulieren kann, muB die Aufgabe proletarischer
Organisationen sein, Juristen ihren Zwecken dienstbar zu rnachen und den Arbeitern wenigstens den
allernotigsten Rechtsschutz zu gewiihren. Deswegen k t die Offentlichkeit des Verfahrens die absolut
Gerichtsverhandlungen durch die Presse und die Verschikfung der offentlichen Kontrolle allgemein, und
verspottet die gegenwartigen Korrespondenten, die fast keine Kritik an den Richtem üben, weil sie ihre
Dertrsche Richter ist also eine Zusarnrnenfassung von Kun Tucholskys langjahriger Kritik an der
deutschen lustiz. Seine anderen justizkri tischen Texte und Gedichte in Deutschland. Deutschland über alles
DiaIog Ich bin ein Morder, den e r zwischen dem Tucholsky-Pseudonym 1gna.z Wrobel und einem
Sprechpartner abspielen IaBt. Der Ignaz Wrobel in diesem Beitrag isc eine unangenehme Figur. Unter
anderem ist e r ist jahzomig, tückisch, feige, lugt um der Luge willen und hat haufrg zwei Frauen geliebt Er
fragt seinem Freund, wie er das alles zu verstehen habe. Der andere versichert ihm, daB diese
Eigenschaften an sich nichts Besonderes seien, es sei denn, er müsse ds Bauer wegen eines schweren
"...dam wandeh sich diese Tatsachen, die Sie mir eben erziihlt haben, in etwas anderes.
Dann sind es nicht mehr die Anornalien, die jeder Richter, jeder Staatsanwdt, jeder
Geschworene, jeder Schoffe im Keim bei sich fuhlen konnte, wenn er nur ehrlich sein wollte.
In diesen zwei fiktiven Beitragen versucht Tucholsky, die Hauptaspekte seiner Kritik an der
Weirnarer Justiz, die er im Iangen Aufsacz Deursche Richter fomuliert, durch konkrete Beispiele zu
erlautem- Die Richter sind in ihren Entscheidungen von den Falschen bloralvorstellungen ihrer Klasse so
gepragt, da8 sie nicht mehr zwischen Schuld und Unschuld. zwischen Tatsachen und Gewohnheiten konnen.
Nacürlich sind diese fiktiven Geschichten saririsch überspitzte Darstellungen einer allzerneinen Tendenz in
der deutschen Rechtsprechung: im Gegensatz zu Gumbei arbeitet Tucholsky hier nicht mit Statistiken und
Ziffern. An diesen Beispielen IaBt sich aber das Problem der politisienen Klassenjustiz der Weirnarer
90
-
Ebd.. S. 23-24
und Resignafion
Kurf TUcho/skymschen~uflehnung 49
Kyrie eleison - !
Da haben auch manche geglaubt, eine RepubIik zu schützen -
Aber die hat das gar nicht gewol~~97-
Diese falsche moraIische Gesinnung, argumentiert TuchoIsky weiter, versucht man auch den
Gefangenen irn Strafvollzug aufzudrihgen- Der Strafvollzug der Weimarer Republik, behauptet T ~ c h o l s l q
in dem Beiuag Die Scihne, besteht aus Demutigung und Wilknsabtotung. In diesem Beitrag sagt Tucholsh~
dem Leser direkt, wie er die BiIder von mhnfichen und weiblichen Gefangenen zu verstehen hat:
Was ist zu sehen-'! S u sehen ist der Wille des Zuchuneisters. Die Madchen und Frauen
gehoren sich nicht rnehr selbst; sie gehoren dem, den man auf diesem Bild nicht sieht: dem
Strafvollstrecker, der von derseIben Wut, zu organisieren. besessen ist wie die Stabsoffiziere
im Felde, die n i t gezücktem Krückstock Baracken, Menschen, Kanonen und den ganzen
Kriegsschauplatz zusarnmenorganisienen - bis zurn bekannten ~ n d e . ~ ~
Die Ge Fangenen werden also im Strafvollzug psychisch ausgepowert, um sie zurück in ihren Unterranstatus
zu zwingen.
In Deutschland. Deutschland über alles begnugt sich Tucholsky nichc damit, die aktuelle Lage der
Weimarer Iustiz bloB zu kommentieren. Er will das Volk auch davor warnen, daB die EvoIution des
deutschen Justizsytems und der Weirnarer Gesellschaft allgemein zu noch schlechreren Ergebnissen Fûhren
konnts. Am Ende des Beitrags Dertrsche Richrer aüBert Tucholsky die Befurchrung, daB die neue
Generation von kleinbürgerlichen Studenten noch gefahrkher sei, aIs die aite Generation. die e r bekZmpft.
Die gegenwartigen Richter, gibt er zu, zeigen manchmal einen gewissen Hurnor oder sogar einen SchuB
Liberalismus, was aber im Gegensatz zum totaIen Mangel an Rechrsgefühl bei den Freikorpsstudenten steht:
Angemerkt mag sein, das der heutige Typus noch Gold ist gegen jenen, der im Jahre 1940
Richter sein wird. Dieses verhetzte Kleinbürgerturn, das heute auf den Universitaten
Kurf rUcho/skymschen~uflebnung
und Reslgnafion 51
randaliert, ist gefühlskalter und erbarmungstoser ais seIbst die vertrockneten alten Herren, die
wir zu bekhpfen h a b a W
Dieses Thema bespricht Tuchosky erneut in seinem ebenfalls übernommenen AIZ-Gedicht Deittsche Richrer
von 1940, das das vielleicht erschreckendste Bild des Buches begleitet, Er laBt zwei blutübersuornten
Studenten. die gernde von der Mensur gekommen sind. das Gedicht vorlesen.
In der dritten Strophe prophezeit der Dichter, daB diese Studenten, schon von den nationalistischen,
miiitaristischen und reaktionbn Traditionen des Freikorps und der Mensur durchdrungen, die
Klassenjustiz der Weimarer Republik in der Zukunft noch schlimmer austragen werden:
Das Versagen der Justiz, im VerIaufe der Rechtsanwendung ihre politische Unpaneilichkeit zu
wahren und sich damit die notwendige oifentliche Vertrauensbasis zu schaffen, ist als Teil eines
verstehen.'>' Diese Diktatujustiz der Weimarer Republ ik ist Tucholskys Ansicht nach wegen ihrer
klassenpolitischen Rechtsanwendung nicht mehr berechrigt, irn Namen des Volkes Recht zu sprechen.
Gegen die Entscheidungen dieser Justiz. zu der die deutsche Bevolkening kein Vermuen mehr hat, mu8
man aktiv Widerstand leisren. Tucholskys Krïtik an der deutschen Justiz in Deutschland. Deutschland uber
" ~ b d S. 19
-7
-
Ebd.
alles soi1 in seinem Leser Auflehnung produzieren. Er fordert sein Publikum auf, irn Namen der
Gerechtigkeit einen Klassenkampf gegen ein System zu fuhren, in dem Klassenunterschiede und politische
Gesinnung uber SchuId und Unschuld bestimmen. Ohne einen solchen Widerstand wird die
Rechtsprechung der deutschen Justiz in den folgenden Generationen nur schlimmer werden- Kurt
Tucholskys Angnffauf die h s t i z ist vielleicht der gelungenste uns stichhaitigste Teil seiner Kntik in
Tucholskys DarsteIlung der Weimarer Geselischaft in Deutschland. Deutschland über alles ist vor
allem das Bild einer KIassengeselIschaft, in der die machthabenden Klassen von den Arbeiterklassen scharf
getrennt sind. In ihrer Gesellschaftskntik arbeiten Tucholsky und Heartfield gezielt mit
ûufklaningsstrategien der Bildmontage, urn diesen Zwiespalt zwischen den Klassen zu schildern.
Tuchokkys Sympathie in Deutschland. Deutschland über alles gilt ausschIieBlich der Arbeiterschaft,
wahrend er an den oberen Klassen scharfe Kritik ubt. Es bieibt aber fragiich, inwiefern Tucholsky in
Deutschland. DeutschIand über alles sich mit dem ProIetariat ais solidarisch zeigt. Tucholsky wünscht sich
befurwortet keine radikale Urnwalzung der Gesellschaft und formuliert keine Alternative zum bestehenden
Systern.
keinen Bmch mit der wilhelminischen Vergangenheit. S o ist seine Kritik am deutschen AdeI in
Deutschland. Deutschland über alles zu verstehen. Tucholskys Verachtung giIt vor allem dem abgedankten
Kaiser Wilhelrn dem Zweiten und der Familie der Hohenzoliern. Er 1ieB den PreuBen-Pnnzen Eitei
9S Becker, S. 72
uber seine Kritik am Milita schon erwahnt- Ein anderes Beispiel dieser AuMikungsstrate@e ist der
Beitrag Erinnerungen von der Kaiserlichen Yacht 'Kaiseradler', der ein Zitat des abgedankten Kaisers aus
Manchem von rneinen Landsleuten mochte ich wünschen, solche Stunden zu erleben, in
denen der Mensch sich Rechenschaft ablegen kann über das, was er erstrebt und was er
geleistet hat-'"
In diesem Beitrag setzt Tucholsky die Machtigen der Lacherlichkeit aus und versucht sie dadurch
lediglich eine Kohlrübe, die bei naherem Hinsehen einern Gesicht mit Helm und Helmbusch 5hneIt und den
Leser wohl an die Zeit gegen Ende des Ersten Weltkriegs ennnern soI1, in der die Einwohner der deutschen
GroBstadte nicht vie1 anderes als K o h l ~ b e nt u essen hatten.lM Auf diese Weise wird also die Leistung des
Kaisers verspottet und hemntergemacht. Tucholsky widmet dern BiId nur eine kleine, uockene Anmerkung
Die Helden in Deutschland. Deutschland über alles sind für Tucholsky dagegen die Figuren, mit
denen die deutschen Arbeiter sich leicht indentifizieren konnten. Zu Tucholskys HeIden, die im
Deutschlandbuch besprochen werden, gehoren unter anderem der Filmschauspieler Conrad Veidt und
solche volkstümliche Figuren wie der Schriftsteller Iaroslav H s e k und der Munchner Volkskomiker KarI
Valentin. Tucholsky bezeichnete diese Figuren als Wohlhabende, die wissen, und nicht vergessen haben,
was Armut ist. Er 1aBt sie sagen: "Wir haben keine Hunger mehr, das ist wahr; aber wir wissen noch alle
104
Deutschland. Deutschland uber alles, S. 2 14
'O' Becker, S. 70
'O6 m,S - 57
1O7
Deutschland. Deutschland über alles, S. 2 13
und Resigncnion
Ku& Tucho/skyzwhchen~'unehnung 57
beide, wie das gewesen ist, wenn man die Tasse Kaffee nicht bezahlen kann - wir haben das nicht
vergessen."'"
Der Zwiespalt in der Weirnarer Gesellschaft existiert Tuchoiskys Ansicht nach vor allem zwichen
dem Bürgenum und dem Proletariat- Es ist der Bürger, der fur den Militarismus und Nationalismus des
aken Kaiserreichs anfallig kt, der an einem Untertanigkeitskomplex leidet, der als Richer ein falsches Recht
im Namen des Volkes spricht und als Politiker, wie wir im nachsten Kapitel sehen werden, die Weimarer
Republik zugrunde richtet. Der Arbeiter leidet an dieser sozialen Ungerechtigkeit. Beiden Klassen wird
Jeder der beiden Kiassen ist in »Deutschland, Deutschland iiber allescc eine eigene
Ikonographie zugeordnet: Halbdunkle, heruntergekommene Mieskasemen und düstere
Hinterhofe. zerlumpte aussehende, sich drangelnde Kinder und absemagene, durch Arbeit
ausgemergelte Leiber konnotieren >ProIetariat<, wahrend Bierbauch, Bratenrock und
Zylinder für >Burgenumc stehen.log
Heartfield und Tucholsky lassen Fotographien von modernen Hochhausern und verfallenen,
des Burgertums mit dem bescheidenen, kargen und m e n Lebensstandard des Proletariats zu
entgepnseseizt.l" Diese Technik des Kontracts ist ein auffalliges Stilmerkmal des Deucschlandbuches.
Tucholsky war auch stets ein Meister des knappen, epigammatischen Stils und der
'O8 -
Ebd.. S . 190
109
Kaes, S. 18
110
Deutschland. Deutschland iiber alles, S . L 28-129
Gegenteil zu verkehren."' Sein Kornmentar zu einem Bild von zwei M a n e r n , die an einem eingeschlasen
Fenster sitzen, kritisiert angeblich das Chaos, wenn Arbeiter ein offenthches Gebaude besetzen:
So schreckliche Szenen sind an der Tagesordnung, wenn die Arbeiter e h Rathaus - zum
Aber am Ende des Textes f o l 9 plotzlich die scharfe Ernüchtemng: "Übngens sind die beiden Herren auf
In Deutschland. Deutschland über d e s verfolgt Tucholsky das Schicksal und das Leid des
Proletariers von Geburt bis zum Tode. Das Gedicht Srart begleitet das BiId von drei neugeborenen Kindern
und stellt über ihre spiiteren Berufe Vermutungen an. Die KIasse, in der man geboren ist, bestimmt die
Zukunft. TuchoIsky widrnet die letzte Strophe des Gedicht dem Proietariat. Seine normales Mitleid mit
den Arbeirerklassen k t hier mit einem Appel1 an das Proietariat verbunden, IclassenbewuBter zu werden.
"'Becker, S. 57
l3 Deutschland. Deutschland über alles, S. 36-37
-
'llEbd T S,37
" j -~ b d S , I l 7
?
fur Arbeiterkinder unzultinglich sind. Da die Republik sein Geld an Pensionen fur d t e Knegsoffiziere und
die neue militarische Aufrüstung vergeudet, ist es unmoglich. den Arbeiterkindern einen angemessenen
Lebensstandard zu sichern- Eine Republik, die 80 Millionen Mark fur einen Panzerkreuzer ausgibt, schlieBt
Einen anderen Aspekt des Proletarierschicksals bespncht Tuchols ky in dem Beiuag Nie allein.
Der Text wird von mehreren Fotos aufgelockert, in denen sich zusarnmendrangende Kinder, Arbeiter und
Familien dargestellt werden, um die engen Lebensbedingungen des Proletariers zu schildem. Der Text
weist den Leser darauf hin, wie die Bilder zu verstehen sind:
dieses Haus zum BeispieI hat sechs Hofe, und sechshundert Farnilien wohnen hier, kommen
und gehen, schreien und d e n , kochen und waschen, und alle horen alles,jeder nimmt an
Schicksal des anderen auf die empfindlichste Art teil, in der dies moglich ist: nihlich mit
dem Ohr. Das Ohr des Proletarien lemt Gerauschlosigkeit nur in der Einzelhaft kennen."'
Wenn ein Proletarier einen Arbeitsplatz findet, besteht noch die Moglichkeit einer Ausspemng.
Das Gedicht Arlssperntng spricht eine Arbeiterfarnilie in dern dazugehorenden Foto an. Der Vater dieser
Farnilie hat keine Arbeit, weil der goBe industrielle Konzern, der ihn beschaiigt, seine Arbeiter ausgesperrt
hat, wohl eine Anspielung auf die Massenausspemngen in der Eisenindustrie im Ruhrgebiet am 1.
Novernber l928.I l3 Das Gedicht sol1 die Arbeiter ermutigen. aber es bietet ihnen wenig Hoffnung.
Tucholskys Auffassung des Proletrtriats scheint hier von einem gewissen Fatalismus gekennzeichnet zu sein:
I l 6- ~ b dS . 5 1
l
Kurf Tucholsky~schen
Auflehnung und Resignafion 60
Gelingt es doch dem Proletarier, ein hohes Alter zu erreichen, zeigt Tucholsky irn Beitrag
Jubilaurn, wonuf er sich in diesem Alter freuen kann. Der Text beschriftet das Bild eines alten Mannes,
der in einem Krankenhaus liegt. Ein StrauB BIumen steht auf dern Nachttisch, Unter schlechten
Bedinpngen hat der Proletarier zu arbeiten. s a s der Text, bis e r umfàllt. Fatis e r irn hohen Alter (oder
überhaupt) krank werden sollte, ist die Finna, bei der e r jahrelang geschuftet hat, nicht verantwortlich.
Wenn er Gluck hat, schlieBt der Beitrag, bekommt e r von der Firma einen StrauB Blumen geschenkt und
wird dazu versprochen. dal3 er wieder arbeiten darf, wenn er gesund ist.'" Der Titel dieses Beiuags ist also
nur hochst ironisch gemeint, denn das Wort Jubilaurn kann in diesem Fa11 nur eine Fehlbezeichnung sein.
Ein anderer Beitrag, der die Klassenunterschiede in der Weimarer Gesellschaft sehr stark
hervorhebt, ist das Gedicht Wohltü~igkeir.Noch einrnal ist der Titel ironisch gemeint- Tucholskys
bezeichnet die Wohltatigkeir, die die Machthabenden dem Proletariat gegenüber zeigen, als Schwindel- Die
Besitzer der Landereien, Bergwerke und Wollfkbereien bereichern sich durch die Auskutung ihrer
Arbeitskrafte auf Kosten des Proletariats. und reichen gleichzeitig den A m e n irn Obdachlosenheirn unter
christlichen fromrnen Gebeten Almosen, Hafermehl und Gerstensuzppe hin. Die Mark, sagt Tucholsky
metaphorisch, ist in fremde Taschen geflossen, wahrend die Arbeiter nur den Pfennig bekommen haben.
ProIeten !
Falk nicht auf den Schwindel rein!
Sie schulden euch mehr als sie geben.
Sie schulden euch alles! Die Landereien,
die Bergwerke und die Wollfarbereien ...
sie schulden euch Gluck und Leben.
Nimrn was du krïegst, Aber pfeif auf den Quark.
Denk an deine Klasse! Und dich mach stark!
Für dich der Pfennig! Für dich die ~ a r k ! " '
Mitleid mit den Arbeiterkiassen deutlich geschildert wird. Aber wie hat Tucholsky das Proletariat
verstanden? War es fur ihn ein Subjekt der Veriinderung oder eher ein Objekt des Mitleids'? Deutschland.
Deutschland über alles schitdert den miserablen Zustand des Proletariats irn Jahre 1929 und kntisiert den
Zwiespalt zwischen den Klassen. Dieses Bild der Weimarer Gesellschaft ist an sich treffend. Wenn man
aber Gesellschaftskritik ubt, muB man auch bereit sein, eine Alternative zu formulieren. Es gïbt in
Deutschland. Deutschland über d e s nur wenige Texte, wie m m Beispiet das gerade erwiihnte Gedicht
Wohlratigkeir, die das KlassenbewuBtsein des Proletariats aktiv verstirken soIl, und noch wenigere Texte,
die das Proletarïat zum Aufstand gegen diese schrecklichen Lebensbedingungen aufnifen, um ihre
gesellschaftiiche Lage zu verbessern. Also rnuB man zu dem SchluB kommen, daB Tucholshy d a
Proletariat eher als Objekt des MitIeids als Subjekt der Veranderung betrachtet.
Nehmen wir zurn BeispieI das Gedicht Lied der Steinklopfer. Der Text begleitet ein Bild einer
Baustelle, an der mehrere StraBenarbeiter mit Rarnmen eine neue-SteinstraBe bauen. Das Gedicht ist in drei
S trophen aufgeteilt. Die erste Strophe iordert den Arbeirer auf, die Richter. Heeresführer und Politiker der
Tucholsky bezieht sich in dieser Strophe auf den sozialdemokratischen Politi ker Rudolf Hl ferding, der im
für andere schuften kann. In der dritten Strophe erwartet der Leser also einen direkten Aufruf an das
Proletariat, revolutioniiren Widerstand zu Ieisten. Aber Tucholsky ist anscheinend nicht bereit, eine
gesellschaftliche Umwalzung zu befirworten. Stattdessen et er dem Arbeiter Geduld und Vorsicht zu:
Also liefert Kun Tucholsky in Deutschland. Deutschland über alles ein ueffendes Bild der
diese sozialen Verhahisse produzieren. Aber es pelingt ihm nicht, den Arbeitem eine militante
Streitschrift zu verfassen, denn er schreibt aus Mitleid, nicht aus voller Solidaritiit. Er ist nicht bereit. sich
in den Klassenkarnpf einzumischen und seine bequeme gesellschaftliche Position 'zwischen den Stühlen'
preiszugeben. Stattdessen bleibt er, wie er in Deutschland. Deutschland über alles freilich zupibt, in der
Ebd.
S. 18
1 ' 4 ~ . ,
formulierte, in Deutschland. Deutschland über alles nicht zurn Ausdmck bringen. Diese Zudïckhaltung
Tucholskys ist meiner Ansicht nach als Teil seiner poiitischen und persônlichen Unentschlossenheit zu
verstehen. Aus Verdru8 mit der bestehenden Ordnung ist Tucholsky bereit, bei einem kommunistischen
Verlag zu arbeiten und fur die ArbeiterkIassen zu schreiben, aber e r straubt sich dagegen, sich politisch
voIlig auf die Seite des Proletariats zu stelien und eine Revolution zu befirworten, mit anderen Worten:
nicht nur der F o m , sondern auch dem Inhalt nach zum eingreifenden Schnftsteller zu werden.
Satire Deutschland, Deutschland fiber alles auseinandergeseut. In diesen Kapiteln habe ich argumentiert,
daB Kurt Tucholsky mit seinem Deutschlandbuch trotz Resignation, Anachronismus und mangelder
politischer Solidaitat mit den Arbeiterklassen in mehreren Bereichen eine genaue, aktuelle und manchmal
hellsichte Kritik an der Weimarer Gesellschaft geschneben hat. Tucholsky erkannte die Gefahren, die die
Klassenjustiz. die heimliche mi1itikische Aufrüstung, das überbleibende Wertsystem des alten Kaiserreichs
und die soziaie Ungleichheit der Gesellschaft fur die polarïsierte KlassengeselIschaft der Weimarer
Republik bedeuteten.
Die politische Kritik in Deutschland. Deutschland über alles ist aber weitgehend der
widersprüchlichste und problematischste Teit des 3uches. Irn Gegensatz zu den anderen kritischen
Leitschienen in Deutschland. Deutschland über alles, erweist sich ein groBer Teil seiner politischen Krïtik
im Deutschiandbuch aus heutiger Sicht als undifferenziert ~indanachronistisch, In diesem Kapitel werde
ich behaupten, daB Tucholsky mit Deutschland. Deutschland über alles aus Frustracion, Angst, mangelnder
Einsichr und politischem Dilettantisrrius nur eine luckenhafte Kritik an dem politischen Systern der
Weimarer Republik leistet. Lm Iahre 1929 gab es schon eine neue gefahrliche politische Konjunktur in
Deutschland. die Tucholsky nicht sehen konnte oder nicht sehen wollte. Zumindest hat er diese neuen
politischen Verhaltnisse in Deutschland. DeutschIand über alles nicht zum Ausdruck gebracht, was das
AIS politischer Hauptfeind in Deutschland. Deutschland über alles steht die Sozialdemokratische
Panei Deutschlands (SPD), die 19 19 aus dem Anschlui3 des "rechten" Fiugels der Unabhangigen
Deutschlands (MSDP) entstand und bald zur machtigsten potitischen Organisation der Republik werden
sollte. Zur Zeit der Veroffendichung von Deutschland, Deutschland über aIles war die SPD auch der
Die KPD wurde am 3 1. Dezember 1918 wurde aus zwei verschiedenen politischen Strornungen, dern
aukrsten Iinken Flügel der USPD und den Internationalen Kommunisten Deutschlands ge-enindet,
Tucholskys Knùk an der SPD in Deutschland. Deutschland uber alles ist im aIlgemeinen eine
Fortse tzung seiner langjahrigen Beschaftigung mit der Partei in seiner anderen Publizistik. Nach dem
Ersten Weltkneg und dem Fa11 des ffiisers envartete der Autor des Deutschlandbuches eine von den
Ordnungen. Da die SPD sich eher als realpolitische Standespartei erwies, die kein Interesse an einer
nationalen Revolution hatte und sich im goBen und ganzen weigerte, die alte wiIneIminische Ordnung
Die Scharfe der politischen Angriffe in Deutschland. Deutschland uber d l e s ist auch auf seinen
enttauschten Idealismus zuriickzufihren. Lm Jahre 1919 brachte Tucholsky diesen vor allem politischen
Leute, bar jedes Verstandnisses für den Willen, der über die Tagesinteressen hinausheben wiI1
- man nennt das hierzulande: Redpolitiker - b e k a p f e n uns, weil wir im KompromiB kein
Heil sehen, wei1 wir in neuen Abzeichen und neuen Aktenstücken kein Heil sehen. Wir
wissen wohI, daB man Ideale nicht verwirklichen kann, aber wir wissen auch, da8 nichts auf
der Welt ohne die Fiamme des Ideals geschehen kt, geandert ist. gewirkt ~ u r d e . ' ~
Das Gedicht Sozialdemokrarischer Parteitag , das Tucholsky anlaBlich des Gorlitzer Parteitages
der SPD im September 1921 veroffentkhte, zeigt sein zunehmendes MiBtrauen gegen die
Sozialdemokraten. Bei diesem Parteitag schickte sich die SPD an, eine Iinke Volkspartei zu werden, indem
sie den Versuch einer 0ffnung zu den Mittelschichten unternahm. Die Partei erstrebte eine
Zusarnrnenfassung aller korperlich und geistig Schaffenden, die auf den Emag eigener Arbeit angewiesen
waren. zur Kampfgemeinschaft für D e m o b t i e und Sozialisrnus. Im Gorlitzer Programrn karn der Begriff
"Klassenkampf ', die viele Parteimitglieder am liebsten aus dern a_oitatorischenArsenai der Partei getilgt
1 3
Gesammelte Werke in I O Banden, Band II. S. 56
Ausgangspunkt seiner Kritik an der SPD in Deutschland. Deutschland über alles ist wie bei dem
schon besprochenen Artikel November-Umtttrz der "Verrat" an der Novemberrevolution irn Jahre 1918
durch ihre sozialdemokratischen Führer. Der Originalbeitrag Schone Zeiren begleitet das berühmte BiId
vom sozialdemokratischen Politiker Philipp Scheidernann. der am 9. November 19t 8 nach der Abdankung
des Kaisers WilheIm II. die Weirnarer Republik ausrief. Aber Tucholsky verneint sofort die Bedeutung des
Titels:
Das waren schone Zeiten. Nein, es waren keine schonen Zeiten. Heute wissen wir, was
darnals geschehen ist, Heute kennen wir den Verrat auf der einen Seite - die Sorglosigkeit,
die Unklarheit, den Brei auf den andern,i2s
Tucholsky spricht in seinem Beitrag von dem Verrat den soziaIdemokraischen Politikern
Scheidemann und Friedrich Eben an der Revolution. Als Scheidemann die Republik ausrief. war eine
Ausweitung der revolution2ren Bewegung in eine soziaiistische RevoIution durchaus moglich. Am Ende
des Ersten Weltkrieges war Deutschland in offener Rebellion. Vom 4. bis 6. November 1918 übernahrnen
meuternde Matrosen in Kiel, Lübeck, Brunsbüttel, Hamburg, Bremen und Cuxhafen die Macht, Am 8.
November wurde in Kiei ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet. Der wittelsbachische Thron sturzte in
SPD. Otto Wels, rief sie zum GeneraIstreik auf. Am nachsten Tag entsagte der Kaiser dern Thron, und
Kanzler E n z Max von Baden tntt zurück und übergab dern SPD-Abgeordneten Friedrich Eben die
~anzlerschaft-lLg
Aber weder Scheidemann noch der SPD-Parteivorsiuender und neue Kanzler Friedrich Eben
befurworteten die Ausweitung der Revolution. Sie wollten vielrnehr die Massen bei der Stange halten und
die Bewegung der Soldaten und Arbeiter in eine Richtung zu lenken, die die Revolution bandigen und
sicherstellen konnte. damit sie nicht in Chaos und Burgerkneg umschlug. AIso fuhrte am 10- November
Eben auf dern Geheirndraht das jeta legendenumwobene Telefongesprach mit General Groener, der
Obersten HerresIeitung und dern Generalquartiemeister der Ruckführung der Truppen nach Deutschland.
In dieser Konversation vereinbarten Ebert und Groener ein gemeinsames Vorgehen gegen die Ausweitung
der ~ e v o l u t i o n .Groener
~ ~ ~ sicherte Ebert, daB er sich auf den Ruckhah der revoltierenden Soldaten
Dieses Geschick, mit dern die Sozialdernokraten am 9. November die Soldaten auf ihre Seite
heniberzogen, t r ~ g
nach Ansicht der Historiker Heinrich August Winkier vie1 dam bei, BlutvergieBen zu
verhindern: schon in den Mittagsstunden jenes Tages wies der Oberbefehlshaber in den Marken die
Truppen an. von den Waffen keinen Gebrauch mehr zu machen- Die revolutioniiren Arbeiter und Soldaten
hatten insgesamt Fûnfzehn Tote LU beklagen, und am Sonntag, dern 10. November. herrschte in der
Hauptstadt wieder Ruhe. Die Bürger gingen, wie Ernst Troeltsch notierte. wie gewohnlich irn GrunewaId
spazieren."'
'." Winkler, S. 39
~ Resignoon
Kurt 7iuchoiskyzwkchen~ & 7 e h n u nund 68
Telefongespriich, aber er und andere linksorientierte Kntiker erkannten mit Recht die versaumte
Demokraùsierung der Regierung, die in den Wochen nach dern 9. November nicht stattfand.
Tuchotskys Kritik an der SPD in diesem Beitrag bezieht sich auch auf ein anderes einschneidendes
Ereignis der Nachknegszeit, den sogenannten "Spartakusaufstand" in Bertin im Januar 19 19. Am 4- lanuar
trat ein Ereignis ein, das bald ni dem Aufstand führte. Der preuBische Ministerpriisident Paul Hirsch
entIieB den m m linken Flugel der USPD gehorenden Berliner PolizeiprZsidenten Emil Eichhorn, dessen
Die ndikale Linke empfand die Arntsenthebung Eichhorns als gezieIte Provokation. Am nachsten
T a s besetzten bewaffnete Demonsuanten die Druckerei der Zeitschnft Vonvarts und andere Pressehauser,
riefen die Berliner Arbeiter zum Generalstreik auf und forderten die Wiedereinsetzung Eichhorns. Mit den
berühmten Worten "Meinetwegen! Einer rnuB der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!"
ubernahm der SPD-Reichswehrminister Gusnv Noske den OberbefehI iiber die Regieningstruppen in und
Ob es zu einem bewaffneten Kampf komrnen würde, war von Anfang an nicht sicher. Der
Verhandlungsversuche mit den Demonstranren vor. Aber sowohl Ebert. die im Abrücken von einmai
bezogenen Positionen ein Verlust an Ansehen sah, als auch die Berliner Paneiorganisation der SPD
drangten auf eine harte Linie gegen die Radikalen. Nachdem sie am 7. Januar die Vorschlage Kautskys mit
groBer Mehrheit ablehnten. blieb nur eine gewalüame Losung des Konflikts r n ~ ~ l i c h . " ~
'38 Ebd., S. 59
und l;>es@nui7on
Kurf Tucho/.kyzwkchen~'uffehnung 70
Am Morgen des 11. Januar wurde die RevoIution endgültig gebremst Auf Anordnung Noskes
begannen die Freikorps gegen Berlin aufiumarschieren. Das "Regiment fotsdarn", das sich spiiter
"Freikorps Potsdam" nannte, griffdie Vorwarts-Drückerei an, Nach einem mehrstundigen Bombardement
taben die Besetzer auf. Fünf Parlamenciire, die uber die Ubergabe des Gebaudes verhandeln soIlten,
nahmen auch die anderen besetzten Pressehauser ein. Zu den ersten Opfern der Freikorps gehorten die
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die am 15. Januar von Offizieren
Führer der Spartak~s~enippe,
ermordet wurden. Die Leiche Luxemburgs, deren Morder in den Landwehrkanal geworfen hatten, wurde
Tucholsky beklagt mit Recht die unkonuolliene Anwendung von Gewait wahrend des Aufstandes,
die die Macht des reguliiren Militars und Freikorps verstarkte, und die Kluft zwischen den gernaBigten und
Urn die Haltung der SPD in diesem Moment wird bis heute leidenschaftlich gestritten. Sicherlich
mussen die ermordeten kornmunistischen Führer Luxemburg und Liebknecht einen Teil der Veranwortung
für das BiutvergieBen uagen. Der Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann hatte in aller Wahrscheinlichkeit
einen blutigen Bürgerkcieg in ganz Deutschland und eine militikische Intervention der Alliierten ausgelosr,
und Liebknecht hatte wider alle Vernunft die Parole "S türzt die Regierung" ausgegeben. i m Gegensatz zu
ihrer gewohnlichen Kri tik am Iinken Radikalismus war Rosa Luxemburg in ihren Veroffentkhungen in der
Roten Fahne den Verhandlungen zwischen Aufsthdischen und Regierung stark entgegenzetreten. Die
undenkbar.lJ'
Dennoch wiire es fur die SPD bestimmt sinnvoll gewesen, Kautskys VermittIungsversuch eine
Chance zu geben. Aber mit der Ernennung Noskes und seinem Übemahme des Oberbefehls über die
Regierungstruppen in Berlin nickte die Partei ein kraftiges Stuck nach rechts. Irn Namen der bestehenden
Ordnung paktierte Noske mit den potitisch rechtsstehenden rnilitiirischen Verbanden und der alten Armee,
was für die Sozialdernokraten schwere poliusche Folgen hatte, wie Golo Mann in seiner Beschreibung
Kommt es aber zu Zahlen. so war der w e i k Terror hier der schlimmere, Das schlimrnste
war, daB die sozialdemokratischen Regenten mit ihm verknupft waren, ohne die Ausübenden
in der Kand zu haben. [...] sie hatten ganz recht, wenn sie spater den Kommunisten
vorwarfen, den blutigen Wirrwarr angenchtet zu haben. Hatten sie ihn aber seIber mit eignen
MitteIn gemeistert, s o wiiren sie und was ihnen am Herzen lag, ungeschwacht durchaus
hervorgegangen; anstatt da0 nun die Geschichte der ersten deutschen RepubIik im Zeichen
blutiger, gemeiner Taten begann.'4'
Diese militiirischen Verbande. die nach Noskes Befehl die Revolution niederschlugen, waren Mitglieder der
ilIe,oaIen parmilitiirischen Freikorps, die sich spater intensiv an dern Kapp-Putsch beteiligten und zum
Durch das zurn TeiI recht gewaltsame und um die Legalitat wenig bekümmerte Abblocken von
tiefergehenden gesellschaftIichen Verandermgen nach 1918 hat die SPD schIieBlich spatere
verioren, wie Hans Mommsen in seiner Geschichte der Weirnarer Republik m m Ausdruck bnngt:
142
Golo Mann: Deutsche Geschichte des neunzehnten und zwanziosten Jahrhunderts- Frankfurt: S. Fischer
VerIag, 1958, S. 636-637
143
Arthur Rosenberg: A Historv of the German Republic. Übersetzung von Ian F. D. Morrow und L. Marîe
Sieveking. New York: Russell and Russell Inc., 1965, S. 135
In seiner Justizkritik in Deutschland. Deutschland über alles behauptete Tucholsky, da8 die
Rechtsprechilng der nach dern Ersten Weltkrieg in Amt gebliebenen Richter haufig eine Frage der
politischen Gesinnuns war. Wer aus monarchistischen Gesinnung die Republik b e k h p f t e und gegen ihre
Gesetze verstieB, durfte also von der Rechtsprechung Nachsicht und Milde envarten. Dieses Urteil laBt sich
auch in den Enscheidungen des Kriegsgerichts nach dem Spartakusaufstand ,out beweisen. wie Heinrich
Einige der unmittelbar an den Morden beteiligten Offiziere wurden im Mai 19 19 von einem
Kriegsgericht freigesprochen. Gegen zwei weitere Mittater verhangte das Gericht milde
Haftstrafen, denen sich einer der beiden jedoch durch die Flucht ins Ausland entziehen
konnte. Die auftraggebende "Mordenentrale" im Eden-Hotel, darunter der Hauptmann
Waldemar Pabst, blieb ungeschoren. Obwohl die Rechtsbeugung des Kriegsgerichts auch bei
maBgeblichen Sozialdernokraten auf scharfe Kritik scieBen, unterzeichnete Gustav Noske ais
Reichswehrminister schlieBlich das ~rteil.'"
1U
Hans Mommsen: The Rise and Fa11 of Weimar Dernocracv. Chape1 HiIl & London: The University of
North Carolina Press, 1989, S. 37-38
''" Winkter, S- 60
Auflennung und Resignafron
Kurf Tucbolskyzw~schen 73
Weiterhin wurde der Hauptschuldige an dem Mord an den fiinf ParlamentZren, Major von Stephani, nach
Im g r o k n und ganzen konnen wir aiso TuchoIskys Kritik an der SPD in dem Beitrag Schone
Zeiren rechtfertigen. obwohI er die Situation, in der sich die SPD-Politiker nach der Abdankung befand,
etwas vereinfacht darstellt, und allein der SPD die Schuld in dem gescheiterten Spartakusaufstand gibt.
Andere Aspekte von Tucholskys Angriffe auf die SPD und ihre Führer in Deutschland. Deutschland über
-
alles sind aber aus heutiger Sicht bedenklicher. Im Allgemeinen ist seine Kritik sehr ungenau- Er stutzt
seine Kritik nicht auf Tatsachen, sondern greift die einzelnen Politiker als ewige Beamten der PvIacht an-
Tucholsky konzenuiert sich auf die personliche und intellektuelle UnzuIangIichkeit der SPD-Führer, und
scheint ihre zum Teil reaktioniiren Entscheidungen beinahe zu ignorieren. So eine politische Kritik, die sich
eher mit Personlichkeiten statt Tatsachen beschaftigt, verliert erheblich an Aussagekraft und Wirkung.
Der Beitrag Der Wanderbrrrsch mit dem Schirm in der Hand, zum Beispiel, ist eine miBgluckte
Kritik an dem SPD-Reichstagspriisidenten Paul Lobe. Der Text begleitet ein komisches Jugendbild der
Priîsidenten in Wanderauszug- Lobe tat sich in der schlesischen SoziaIdemokraiie durch Anstandizkeit und
FleiB hervor, schreibt Tucholsky, und auch dadurch, daB er immer pünktlich aufden Zahiabenden war. Er
ist ein braver und ordentlicher SpieBer und sauber und routiniert ats Reichstagsprihident, führt Tucholsky
weiter, aber er kommt ais Arbeiterführer nicht an jene Manner heran, die Opfer auf Opfer für eine Sache
bra~hten.'~~
Wegen seiner harten und übertriebenen Angriffe auf einige bestimmte sozialdemokratischen
Würdentrager, wie Lobe und Mitglied des SPD-Parteivorstands Rudolf Breitscheid wurde Tucholsky nach
der Erscheinung von Deutschland. DeutschIand uber alles heftig kritisiert Gordon A. Craig. in seinern alten
aber noch aktueIten Artiket über Engagement und Neuualitat in der Literatur der Weimarer Republik,
Lobe, der nur mit einer Unterbrechung im Jahre 1924 von 1920 bis 1932 Reichstagsprsident war, vertrat
standig eine starke Position gegen die NSDAP."~ Wie Tucholsky fiel er dem NSDAP-Regime sehr fnih
zum Opfer, 1933 wurde er ins Konzenuationslager Dürrgog bei BresIau geschleppt- Seine Einlieferung ins
Lager wurde durch einen grotesken Umzug gefeientJ9 Er blieb bis 1944 in KZ-Haft. Nacn dem Krieg
Der tatsachliche Grund für den scharfen An-giff an Lobe mag sogar personlich gewesen sein.
Lobe verweigerte Tucholsky und seine Welrbiihne-Mitarbeiter Anfang 1927 Karten zum Betreten des
Reichstagsgebaudes, weil sich angeblich schon zu viele Personen im Besitz von Zutrittskarten zum Hause
befanden, wahrend Vertreter reaktioniiren Blatter dagegen uneingeschrankt Zutn-tt zum hohen Haus
hatten,"'
Es kann auch sein, da8 Tucholskys Einschatzung der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland.
Deutschland über ailes direkt mit den Interessen seines Auftraggebers zusamrnenhangt- In diesem Bereich
kann man nur Verrnutungen anstellen - sicher ist nur, da8 Tucholskys Bild der SPD in Deutschland.
Deutschland über alles dern Parteiappant der KPD gut gefailen haben wird. Der Neue Deutsche Verlas
stand der Komrnunistischen Partei Deutschlands sehr nah. Münzenberg selber, obwo hl man seine n
147
Gordon A. Craig: "Engagement and neutrality in Weimar Germany". In: The Journal of Conremporarv
Historv. London: Weidenfeld and Nicolson, Vol. II, Num. 2. 1967, S . 5 9
1-48
Richard von Soldenhoff (Herausgeber): Kurt Tucholskv 1890-1935. Ertebnis und Schreiben waren ia -
wie immer - zweierlei. Berlin: Quadriga Verlag, 1987, S. 279
149
Ebd., S. 2 1 1
Our friendship came to an end around 1924, when Muenzenberg suddenly severed ail his
former polirical associations and went over to the so-called ultra-left, It is m e that he was by
no rneans the only Ieader who went that way, A few genuinefy believed in the promises of
quick results: the revolution was allegedIy around the corner. With Muenzen berg it was sheer
~~~onunisrn.'~'
Die Kornrnunistische Partei Deutschlands Ehrte nach dem irn Sommer 1928 in Moskau gehaltenen
Sechsten WeltkongreB der Kornmunistischen Internationale einen verscharften Linkskurs, der sich
hauptsachlich gegen die SPD richtete. Bei diesem KongreB verfindete die Kommunistische Internationale
(Komintern) eine neue historische Periode der Nachkriegsentwicklung. Dieser Theone zufolge
war auf die akute revoiutioniire ffi-se von 1917 bis 1923 die rnittlerweile abgeschlossene
Phase der retativen Stabilisierung des Kapitalismus gefolgt; die neue "dritte Periode" wurde
gepragt von schweren wirtschaftlichen und politischen Krisen, die aber auch der
proletarischen Revolution neue Perspekuven eroffneten. Daher galt es, das Haupthindernis
einer revolutioniren Zuspitzung der Krise frontal anzugreifen - die Sozialdemokraten. die
sich in ihrer Politik, so die Behauptung der Komintern, immer mehr den Faschisten
ann~herten."~
Diese These von der fomchreitenden Faschisierung der Sozialdemokratie w3re verrnutlich nicht
mehr d s eine abstrkate Formel geblieben, hatte es nicht Ant&se gegeben, die Paroien der Komintern zu
bestatigen.'" Das wichtigste Ereignis, das diese Theone nachd~cklichzu bestiitizen schien. war der
sogenannte Berliner Blutmai in den ersten sechs ~MaitagenL929. Auf eine Reihe von blutigen
ZusarnmenstoBen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten und auch zwischen Kommunisten und
1SZ
Rosa Leviné-Meyer: ïnside Gennan Cornmunism: Memoirs of Partv Life in the Weimar Republic.
London: Pluto Press, 1977, S. 194
A p d 1929 entschied er sich, das Verbot auch fiir den 1. Mai, den traditionellen kommunistischen Tag der
Arbeit, aufie~htzuerhalten."~
Am 1. Mai 1929 war Zorgiebel irnmer noch nicht bereir, das Verbot aufzuheben, obwohl die
Komrnunisten durch ihr Organ die Rote Fahne zur MiBachtung der Verbote an diesem Tag der Arbeirer
aufgerufen hatten. AIS sich in den Arbeiterbezirken Berlins die ersten Demonstranten versarnmelten, lie8
Zorgiebel jede Gmppe sofort mit Gurnmiknüppeln aufiosen. Die Demonstranten versarnrnelten sich in
anderen StraBen wieder zu anderen Gmppen. Die Polizei p i f f immer rabiater ein. Endlich kam es zu
Schussen, und die Demonstranten begannen. in den Bezirken Wedding und Neukolln Barrikaden zu
errichten. Nach Befehl Zorgiebels schossen Polizisten auch in die Fenster, und es karn, vor dlem in der
KoslinerstraBe, zu biutigen ZusarnrnenstoBen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Unmhen
setzten sich in den nachsten Tagen fort. Am 3. Mai verkündete Zorgiebel den Ausnahmezustand. Als die
Unruhen am 6.Mai endgültig ein Ende fanden, zeigte sich eine erschreckende Bilanz: 35 Tote und 160
Verletzte in der Bevolkerung. Demgegenüber waren 48 Polizisten verletzt worden, 10 muBten sich im
Sicher war die Emporung über die Niederschlagung des Volksaufstands durchaus gerechtfertigt.
Es gab keinen Beweis, daB die KPD m 1. Mai 1929 den Bürgerkrieg entfesseln wollte. Es gab keine
gezielte Bewaffnung der KPD-Anhanger; die Waffen, die am haufigsten benutzt wurden. waren Flaschen.
responsibility for the bloody clashes that took place between Communist dernonstrators and
the Prussian police in the first days of May 1929 and that resulted in the death and injury to
counttess numbers of people must be attributed to the use of excessive force by the police.
The decree banning demonstrations on 1 May provoked the KPD into caliing for mass
1%
Hermann Weber: Die WandIuno des deutschen Kommunismus. Frankfurt am Main: Europâische
VerIagsanstalt, 1969, S. 224
Zorgiebel war aber oifensichtlich bereit, unter allen Umsthden ein Exernpel zu statuieren, und erhielt dafur
Der Berliner BIutmai war ein Wendepunkt in der politischen Entwicklung der W D . Nach 1929
behandelte die KPD die SPD als den Hauptfeind, wahrend sie die Gefahren anderer politischen
und seine Folgen zalten nach Ansicht der ZentraIkomitee der KPD ais Beweis fur die zunehmende
Faschisierung der SPD. Auf dem XII. Parteitag, der vom 16. bis 19- Juni in Berlin-Wedding stattfand.
erklarte die KPD,daB die Hermann-Müller-Regiening, die Weimarer Republik und die PoIitik von Ebert,
Noske, Severing und Zorgiebel bereits Faschistisch seien.Is9 In einern unfangreichen Referat beschafrigte
sich Paneiführer Ernst Thairnann mit der Soziddemokratie und behauptete, daB die Entwicklung der
Eine scharfe Kritik an der PoIitik Zorgiebels w&e also in Deutschland. Deutschtand über aIIes
durchaus ange bracht, und w2re auch im Interesse Tuchoiskys Auftraggeber gewesen. Im Deutschlandbuch
findet man schon ein Bild von Zorgiebel und seinem Poiizeioberst Heimannsberg, aber der begleitende Text
bezieht sich nicht auf das BIutbad am ersten Mai, Der Beiuag Die Pose der Kra3 ist stattdessen eine
allgemeine Kntik an dem zunehmenden Nationalismus in der zeitgenossischen deutschen Literatur, die
iediglich mit der Bemerkung. daB man über die Pose der Kraft lachen müsse, beendet wird.16' Nirgendwo
157
Mommsen. S. 234
159
Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main: Europaische
Verlagsanstait, 1969, S. 252
Weber, S. 227
diese einschneidenden Ereignisse unmittelbar vor der Veroffentlichung des Deutschlandbuches stattfanden,
da das fertige Buch erst Anfang August 1929 vorIag. Hier vermittelt Tucholsky weder eine fundierte Kritik
an der Politik Zorgiebeis oder der Politik der SPD dtgernein, noch eine Ennahnung zum weiteren
Widerstand, der angesichts der Ereignisse in Beriin notig gewesen w&e. Nur einmal drückt er sich indirekt
zu dem Mord an Zivilisten, den die Polizei im Narnen der bestehenden Ordnung verübte. Ein Absatz des
Das Mundwerk eines Oberprsidenten ist 4 Meter lang und 2 Meter breit, Wie lange kann
der Mann Mitglied der SPD sein, wenn er 1100 Arbeitermorde auf dern Gewissen hat?I6'
So eine Beschriftung hatte das Bild von Zorgiebel und Heimannsberg begleiten sollen- Wahrscheinlich war
TucholsLy aber nicht p z bereit, die These der Faschisierung der SPD zu seiner eigenen zu machen.
Tucholsky übt auch in Deutschland. Deutschland uber alles Kritik an dern .4uBenrninister Gustav
Stresemann und seiner Deutschen Volkspmei (DVP).Der konservative Minister und seine Partei von
'Besitz und Bildung', die am Ende der zwanziger jahre zunehmend in die Hande der GroBindustrïalisten
geriet und antidemokratische Tendenzen aufwies16'. wiren gerade für Tucholsky als radikalen Demokraten
legitirne Zielscheiben gewesen. Sicher ist, zum Beispiel, dal.3 Stresemann 1923 als ReichskanzIer die rechre
Diktatur des H e m von Kahr in Bayern weitgehend ungeschoren lieB. wahrend er gegen die
Arbeirerregierungen in Sachsen und Thuringen kEmpfte.'6J Er hat auch die heimliche deutsche Aufrüstung
befunvortet, die Tucholsky in Deutschland. Deutschland uber alles so heftig kritisiert. Stresemann
approved of secret rearmament but not because he was plannins aggressive war, rnuch less
was he paving the way for Hitler. Brought up in the high noon of Irnperial Germany. h e
M.,S.40
'" Gordon A. Craig: Germanv 1 866-1 945. Oxford: Clarendon Press. 1978, S. 505
Becker, S. 75
Aber auch hier ist T u c h o l s i y politische Kritik sehr ungenau. Ein Bild von Stresemann nimrnt eine ganze
Seite des Deutschlandbuches ein. TuchoIsky wahlt sich ein Zitat aus einer Geschichte des deutschen
Theaters, um dieses Bild zu beschriften. Das Zitat, das Stresemann den politischen Kleindarstellern
zuordnet, bespricht seine eigentliche Politik uberhaupt nicht. Wenn man das Zitat auf das Foto bezieht,
beklagt es nur ganz allgernein, daB die fuhrenden Politiker der Weirnarer Republik den Grad ihrer
~hnlichenveisekntisiert Tucholsky die AuDenpolitik der Weirnarer Republik in dem Beinag Die
Kiiche in der Wilhelmsrraj3e- Der Text befaBt sich mit dem lnhalt dieser Politik nicht, sondern macht einen
Rundschlag gegen den Parlamentarismus allgernein- Da der Klassenstaat der Republik sowieso von der
Rüstungsindustrie und den groBen Konzernen abhiingig ist, schreibt Tucholsky, sind die Beamten im
AuBenrninisteriurn bedeutungslose Puppen, die nur Freude an der Intrigue haben. Tucholsky gebraucht die
Analogie vom Gewand der Penelope, das die Inm-ganten auseinandertrennen, nachdern andere es mit Mühe
und Not zusarnmengestrickt hatten. Der Knaul bunter Faden, der übrigblei b t, ist TuchoIskys Ans icht nach
Also darf Craig a u f p n d der Naivitat dieses Beiuags Tucholsky weiterhin vorwerfen, was seine
165
Carr, S. 297
Gordon A. Craig: "Engagement and neutrdity in Weimar Germany". In: The Journal oFContem~orarv
History. London: Weidenfeld and Nicolson, Vol- II, Num. 2. 1967, S. 59
Aspekten von Stresemanns Auknpolitik intensiv auseinandersetzen konnen, wie e r m m Beispiel in dem
schon erwahnten Beitrag Deutsche Richter die ProbIeme des deutschen Iustizwesen priignant aufzahlte und
was quite simply to make Germany a Great Power once more, freeing her as quickly as
possible from the shackles of the Versailles ueaty. He was working for the steady removal of
al1 foreign troops €rom German soil, for the recovery of the tecritory lost to Poland, for the
removal of the moral stigrna of the war-guilt cIause and for Germany's enuy into the League
of Nations. And, dthough it occupied a secondary place in his thoughts, he did what he could
to keep the idea of the Anschluss with Austria alive, having played a prominent part with
Friedrich Neumann in the Mitteleuropa movement during the ~ a r . ' ~ ~
Aber Tucholsky bezog sich in seiner politischen Kritik in Deutschland. Deuschland uber alles auf
diese Tatsachen nicht. Er hielte seinen Kampf E r notwendig und gerecht, weil es den Herrschenden gdt,
die ihre Sache einfach schlecht geführt hatten. Es ging TuchoIsky nicht daran. nuanciert abzuwagen oder zu
differen~ieren."~Er verabscheute das politische Getriebe der Weimarer Republik derart und veruneilte das
bestehende System in solchem AusmaB, daB er im KompromiB einfach kein Heil sah. Diese
KompromiBlosigkeit und sein enttauschter Idedismus hielten ihn vielIeicht von einem differenzierteren und
genaueren Einschatzung der Politik Suesemanns und der SPD ab, und führten zu deren gnadenlosen und
unnachgiebigen Verurteiiung im Deutschlandbuch. Ein Teil der Kritik an diesen Parteien in Deutschland.
Deutschland über alles war durchaus berechtigt, aber im allgemeinen war Tucholskys Kritik sehr
In Deutschland. Deutschland uber d e s beuachtet Kun Tucholsky also die SPD und die anderen
parlamentarischen Parteien als die goBten politischen Feinde der Republik, wahrend e r die noch groBere
Bedrohung durch die NSDAP weitgehend ignonert- Wenn man die Texte anderer Kntiker, und sogar die
'69 S. 296-297
''O Becker, S. 75
Deutschland über ailes erschienen, steIIt mari fest, dd3 diese Kiitiker, die die entscheidende Gefahr fur die
Republik in der nationaisoziaiistischen Bewegung sahen und vor ihr warnten, Tucholsky in der politischen
Obwohl Kurt Tucholsbs ueffende Kritik an dem Nationdisrnus und dem Militarismus, die wir
früher in dieser Arbeit diskutien haben, gegen zwei Hauptpfeiler der faschistischen Ideologie gerichtet war,
enthait Deutschland, Deutschland über alles keine direkte Kritik an der Partei Hitlers oder der
nationalsozialistischen Bewegung allgemein. Wie ist diese fiihlbare Lucke im Werk zu verstehen?
Zunachst mu8 man sich hier fragen, wie bei der scharfen Kritik an den sozialdemokratischen Politikern, ob
der Auftraggeber Münzenberg auch hier eine Rolle gespielt habe. Willi Münzenberg wird TuchoIsky aber
nicht von einer starken Aussage gegen den Nationalsozialismus abgehalten haben, denn im Frühjahr 1930
erschien in der von ihm geleiteten A I 2 Tucholskys Gedicht Deutschland envache!, dessen RefrainzeiIen als
Auch mit seinem Mitarbeiter John Heartfield wird es keinen Streit zu diesern Thema gegeben haben.
Heartfields spatere Montagen, vor aIlem seine Veroffenlichungen nach der Machtüberpifùng der NSDAP,
Kntiker vergleichen, um diese Behariptung bestatigen zu konnen. Am 0 1. Aprii 1930 erschien in der
Weltbiihne unter dem Pseudonym Ignat Wrobel eine von Tuchotskys wenigen ausfùhriicheren Texten zum
Thema Nationalsozidîsmus. In dem Artikel Der Hellseher, dessen Inhait ernster war, als die
kabarettisitische Pr5sent~tionglauben machen wollte, bemuht sich der Dichter, in die Zukunft zu sehen.
Der Hellseher sieht einen Putsch voraus, der die NSDAP kurzfristig an die Macht bringen wird, aber kein
Blut, Auf die Frage nach der RoIIe der Hitler-Bewegung im Putsch, antwortet der Hellseher:
Nach dem Putsch wird es sowohl innenpolitisch als auch auBenpolitisch keine goBen Andermgen
geben, erklart der Hellseher. Die neue Verwaltung wird nach einer kurzen Krisenperiode Verfassungstreu
regieren:
Wie sie regieren werden? Vie1 h m l o s e r , als die maBlos enttauschten, aber bald gebandigten
Kleinburger glauben. Deren radikale Flügel werden rasch unterdfickt; auch Hem Hitler hat
seine Schuidigkeit getan und kann gehen. Es wird keine Revolution sein, so wenig wie die
von 1918 eine gewesen i ~ t . " ~
Also nimmt Kurt Tucholsky in dem Heflselter-Artikel die Gefahr des deutschen Faschismus
scheinbar immer noch nicht wahr. Er sagt nur eine-'Nachahmung' des Faschismus voraus, ohne Pogrome,
ohne umwalzende gesellschaftlichen Andenmgen. Er bagatellisierte den Militarismus und sogar den
Antisemitismus der nationalsoziaiistischen IdeoIogie. Obwohl die NSDAP sich am Ende der zwanziger
Jahre erfolgreich auf dem Wege zur Respektabilitat und zur machtvollen Organisation befand. fehlt bei
175
Gesarnrnelte Werke in 10 Banden, Band VII, S. 88
'76 -Ebd Y S. 89
Unterschied in der nationdsozialistischen Bewegung gab. Tucholsky hatte zwei Jahre spater diesen
qualitativen Unterschied in der Hitler-Bewegung immer noch nicht wahrgenommen, denn cr 1ieB am 12.
April 1932 denselben ArtikeI noch einrnal unveriindert nachdrucken, offenbar als Bestatigmg, daB der
Ein wichtiges Beispiel, daB ein besseres Verstiindnis der NSDAP-Bewegung sogar vor der
Veroffendichung von Deutschland, Deutschland über alles moglich war, ist der am 16. Juli L929 in der
Welrbiihne erschienene Artikel Die Narionalsozialisten, teschrieben von Tuchoiskys Freund und
langjahrigen Mitarbeiter Heinz Pol. Der Artikel ist eine sorgfaltige AnaIyse der Regeneration der NSDAP,
die nach Pot gegen Ende 1926 oder Anfang 1927 besann. Pol erkennt in Hitler einen geniaien Organisator,
der aus auseinandergelaufenen Kompanien und Wahlermassen eine festgefügte fartei der Masse gemacht
hat. Unter der Aufsicht von Josef Goebbels, "die aktivste und sknrpelIoste Kraft der Nationalsozialisten"
178
. hat er in NorddeutschIand einen starken rnilitiüischen Apparat aufgebaut. Die lange noch nicht beendete
ist für jeden politisch Denkenden ernst ,aenu,a, um aufs sorgfaltigste im Auge behalten zu
werden. Mit Achselzucken und ironischen Witzchen jedenfails ist dieses Wiedererstaricen
nicht aus der Welt zu schaffen."'
Diese Entwicklungen haben Hitler nicht befriedigt, fügt Pol hinzu. Eine neue gefàhrliche Entwicklung in
der nationdsozialistische Bewegung ist die Unterstiitzun,o, die Hitler bei der Jugend genieBt:
Auch hiermit begnügte sich Hitler noch nicht. Er muBte vor allem die heranwachsende
akademische Jugend an sich ziehen. Urn dies zu erreichen, setzte er einen groBartigen Einfall
in der Tat ein: er schickte den intelligenteren Teil seiner dreiBigjahrigen Leutnants und
Oberleutnants a. D. in die Horsale. Die schrieben sich ein, belegten alle moglichen Facher
"'Radkau, S. 63-65
1 ?S
Heinz Pol: "Die Nationalsozialisten", In: Die WeltbGhne, 25. Jahrgang II (I929), S. 77
Po1 erkannte auch, da@es Hitler gelungen wâr, in den Betrieben der reaktionhten und
Bayern und im Ruhrgebiet errang er beûachtliche Erfolge. Die Industrie der Weirnarer Repubtik, schlieBt
Pol, war schon 1929 finanziell an der Hitler-Bewegung stark beteiligt. Es handelte sich nicht mehr nur um
Hitlers eherndigen Finanziers aus der Münchner Zeit - nun wird die Partei von einer groBen Anzahl von
Der zweite Artikel, den ic h hier heranziehe, ist der Weltbuhne-Beitrag Reichskanzler Hitler von
Ernst Toller. Der Artikei erschien am 07.Oktober 1930, ein Jahr d s o nach der Veroffentlichung von
Deutschland. Deutschland über alles und knapp seciis Monate nach d'ern Hellseher-Artikel. Ausgangspunkt
dieses Artikels ist, wie in Tucholskys Kritik an der SPD in Deutschland. Deutschland über alles, das
Scheitern der deutschen RevoIution im Jahre 1918 am Versagen ihrer Führer- Die Parallele zu Tucholskys
Beitrag Schone Zeiren irn DeutschIandbuch sind nicht zu ubersehen. Tucholsky schreibt von einem Verrat
an der Masse von soziaidemokratischen PoIitikern, die die Revolution verrnasselten. TolIer bekiagt die
leichtsinningen und geradezu verbrecherischen Fehler der sozialistischen und republikanischen Politiker,
Wie Tucholsky erkennt Toller auch die Schwache und Wirkungstosi,okeit des Parlaments.
Tucholsky erkliirte mit Recht im Gedicht Das Parlamenr, daB die GroBindustrialisten und Banken die
IS0m.,S. 78
'" -Ebd Y S. 80-8 1
'''Ernst T d e r : "Reichskanzler Hitier". In: Die Welibühne, 26. Jahrgang II (1930). S. 537
Er konnte aber den nachsten Schritt in seiner Analyse nicht machen, n h I i c h daB die grooBen deutschen
Indusfriaiisten und Banken schon 1929 mit Geld weit an der Hitler-Bewegung beteiligt waren. ToIler
erkennt die groi3ere Gefahr, die diese Beteiligung bedeutet- E r identifiziert einen fundamentaien
gesellschaftlichen Umschwung zugunsten der Reaktion, der d l e republikanische Führer ÜbemmpeIn und
Fur Toller war die einzige Macht, die noch emschaft mit dem Faschismus den Entscheidungskampf
aufnehmen konnte, die Einheitsfront der Freien Gewerkschaften. Er etkanote, daB eine solche Umwalzung
nicht mehr im Lnteresse der Arbeiterfùhrer war, aber er forderte die Gewerkschaften jedoch zurn Widerstand
au f:
Es gibt eine einzige Macht, die noch ernsthaft mit dem Fascismus den Entscheidungskampf
aufnehmen ...konnte, die Einheitsfront der Freien Gewerkschaften. Aber heute firchten ihre
Führer um den aus Arbeitergroschen ersparten Mitlionenbesitz. 1st der Fascismus einmal
stark genug, wird er auch vor den Gewerkschaiten, die er in der ersten Zeit schonen mas,
nicht haltmachen. Oder werden die.Gewerkschaften wieder den Boden der Tatsachen
betreten.? Sieben Millionen organisiene Arbeiter haben d a ~ o r t . ' ~ ~
Am Ende seines Artikels w m t Toller dem Leser vor den Folgen fùr Deutschland und ganz Europa. wenn
Geschieht heute nichts, stehen wir vor einer Perïode des europaischen Fascismus, einer
Periode der vorlaufigen Untergangs sozialer, politischer und geistiger Freiheit, deren
Ablosung nur im Gefolge grauenvoller, blutiger Wirren und Kriege zu envarten
ToIler. S. 538
IB5
-Y Ebd S. 539
""bd.-
von Deutschland. DeutschIand über alIes. Die Arbeiterrevolution, die TuchoIsky in seinem
Deutschlandbuch nicht zu artikulieren vermag, ist fur Toller eine absolute Notwendigkeit. Fur Tucholsky
war die Partei Hitlers aber nicht dam fahig, ein totalitires Regme zu bilden und zu behdten. TuchoIskys
Kollegen sind ihrn also in ihren politischen Analysen weit voraus. Man sol1 aber nicht zu rasch über
Tucholskys VerbIendung entsetzen, denn das Fortieben der wilhelrninischen Tradition in der Weimarer
Republik, die er in Deutschland. Deutschland über altes so bitter bekhpfte, war ein wichtiger Faktor in der
Die Perfektionie~ungdes totalitaren Staates war rnehr ein Werk der Burokraten als der "alten
K2mpfer7'der NSDAP; die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges war mindestens so sehr
eine Ausgeburt der im Nationalsozialismus verankerten wilheIminischen Tradition und
Geselischaftsmachte wie der neuen, spezifisch faschistischen Ktafte, ob der SA-Landsknechte
oder der Blut-und-Boden-Phantasten. lS7
Dam rnuB man auch erkennen, daB in den Reichstagswahlen von 1928 die NationaIsozialisten
erheblich an Boden verloren hatten und irn Augenblick keine besondere Bedrohung zu sein schienen.
Aber auch vor den Septernberwahien war ein besserer Erkenntnisstand moglich. [n Anbetracht des
erwahnten Artikels von Heinz Pol wird es Idar. daB der aufmerksame Beobachter schon 1929 erkennen
konnte, daB der Neuaufstieg der Hitler-Partei mehr Systematik und Tiefgang besal3 als irn Putschjahr 1923.
Kun' ~uchols&ym3chen
Auflehnung und Resignahon 88
Also mu8 man zum SchluB kommen, daB Tuchois& sowohl vor als auch nach der
Veroffentlichung von Deutschland. Deutschland über alles zurnindest teilweise aus mangelnder politischer
Einsicht die Ge fahr der NSDAP unterschatzte. Dies wird wohl ein Gmnd gewesen sein. wamm es in
Deutschland. Deutschland über alles keine Kntik an der nationdsozialistischen Bewegung gibt. Wie ist nun
die Frage der Angst zu verstehen, die ihm auch moglicherweise von einer genaueren Einschatzung der
Hitler-Bewegung abhielt? Tucholsky bangte seit den 1922 von der rechtsradikalen Organisation Konsul
ausgeubten Attentaten auf Walther Rathenau und Maximilian Harden stiindig um sein eigenes Leben. Die
Hetze gegen ihn, geführt von den reaktioniiren Elementen der Gesellschaft, fing schon mit seiner
Veruneilung des Attentaters Hardens und des Morders Rathenau an.'" Obwohl Kurt Tucholsky die
Nationalsozialisten in Deutschland. Deutschland über alles nie narnentlich erwahnte, ging diese Hetze auf
ihr. in den Reaktionen auf das Deutschlandbuch in der nationalsoziaIistischen Presse unverminden weiter,
vor allem weil e r mit Deutschland. Deutschland über alles eine sehr starke und ueffende Kritik an dem
Hauptpfeiler der nationalsozialistischen Ideologie. Eigentlich gab es in den Rezensionen der NSDAP-
Kritiker auf Deutschland. DeutschIand über alles eine merkwurdig gespaltene Reaktion. Mit dern zweiten
Denkansatz dieser Reation werden wir uns spater befassen. Der erste Denkansatz dieser gespaltenen
Reaktion warf Tucholsky vor allem vor, daç eigene deutsche Nest besudelt zu haben." Die Besprechunp
im Volkischen Beobachrer, dem überregionalen Hausblatt der NSDAP. tut zunachst uberlegen und würdig,
wirkt aber besonders durch den letzten Abschnitt sehr bedrohlich. Es heiBt:
Warum spncht nur unsereiner darükr'? Weil's die Spatzen von jedem Dach pfeifen. da8 man
das Nationale in Deutschland besudeln kann, wie man gerade will. Das muB aber endlich
einmal aufhoren. Nicht die Spatzen zum Schweigen bringen. sondem den ~iisterer.'~'
Is9 Kahler, S. 16 1
190
Kaes, S. 22
von der schon erwahnten Bildmontage Tiere sehen dich an beleidigt. Er schrïeb:
Der Beitrag wurde durch eine Tucholsky-Karikatur illustriert, die die vermeintlich 'typisch judischen'
1929 wird seine Angstgefuhle und den Eindruck, daB er in Deutschland mit seinen Schriften nichts
verwirklichen konnte, nur verstarkt haben. Bei fast jeder Lesung begegnete er von reaktioniiren Elernenten
einer rnassiven organisierten Gegenagitation. Die Lesungen wurden von Pfiffen und Zwischenrufen
unterbrochen; in den Lokalzeitungen der NSDAP erschienen Warnungen gegen TuchoIsky. Wegen der zu
erwartenden ZwischenfaIle wurden oft Polizisten in der Nahe der Veranstaltungsgebaude postiert.'gJ
Im November 1939 in Wiesbaden, ais die Toumee k t zu Ende war, k m es endIich zu einem
rnassiven Anschlag. Tucholsky konnte seinen Vortrag nur beenden, nachdem das herbei_oerufene
Überfallskommando die Randalierer entfernt hatte. Nach dem Vortrag setzte die Rotte der Nazis ihre
Krawalle auf der StraBe fort. Sie hielten ein vorfahrendes Auto an, zerrte einen Mann heraus, von dem sie
glaubten. daB es Tuchoisky sei, und verprügelten den unschuldigen Walter Meyer fast zum Tode. AIS er
19' -
Ebd-
Ig3 Ebd.
-
1%
Bemmann, S. 428-439
sei Tucholsky sehr unanpnehm. denn e r stehe für seine Taten lieber selber ein.I9'
Trotz weiterer Aufeinandersetzungen setzte Tucholsky seine Vortragsreise fort, die im Dezember
1929 in Hamburg ein friedliches Ende fand, In einigen Vorlesungen verscharfte e r sogar seine Anbgiffe auf
die Gegenagitation. Aber der Verlauf der Tournee muBte ihn erschreckenderweise von den Gefahren
überzeugen. die ein aktiver Teilnahme an der Politik Deutschlands fur ihn personlich bedeutete. Da die
dernokratischen Krafte sowieso auf keinem aussichtsreichen Posten standen, war Tuchoisky beinahe bereit,
sein ganzes Engagement aufzugeben. Im Briefwechsel mit Mary Gerold-Tucholshy nach der Tournee
finden wir dieseiben resignierenden Tone, die schon in Deutschland. Deutschland uber aIIes zu finden sind:
"Für wen ich das mache ...daB weiB ich nach dieser Reise wenipr als je. Es ist trostlos." '96 Es kann aIso
sein. daB die Angst, die Tucholsky vor den Nationalsozialisten hatte, ihn im gewiBen MaBe von einer
Kurt Tucholsky scheint also in Deutschland. Deutschland über alles in seiner politischen Kritik
aus Angst und mangelnder Einsicht auf halbem Wege steckengeblieben zu sein, Obwohl er das Fortleben
des Kaiserreichs in der Weimarer Republik sah und bekhpfte, die Korruption der Republik bekIagte und
Mitleid mit den Arbeiterklassen ausdrückte, erblickte er die neue poIitische Konjunktur nicht. die das
Fortleben des Kaiserreichs und die Schwachen der Republik ermoglicht hatten.
In der zeitgenossischen Reaktion auf Deutschland. Deutschland über alles war es vor allem vor
allem Herbert Ihering, der linksliberale Publizist, Regisseur, Dramaturg und FeuiIIetonredakteur des
Berliner Borsen-Courier. der die anachronistische Natur von Deutschland. Deutschland uber alles erkannte.
In seiner Kritik am Deutschlandbuch wirft e r Tucholsky vor, dix Deutschland von 1929 nicht verstanden zu
Kennt Tucholsky das Deutschland von 1929? TuchoIsky sitzt in Paris oder in Schweden
und beobachtet Deutschland aus einer bequemen Loge- Nun schreibt er immer wieder
dieselben Aufsane gegen das Militar, gegen die Justiz, gegen den SpieBer, Keine neue
Beobachtung. Kein neuer Ton- [...] Wenn man einen Politiker daran erkennt, driB e r Zeit
und Ort seiner Wirkung voraussieht, so ist Tucholsky kein Politiker. Er erreicht das
Ihering konnte ohne Zweifel mit vollem Recht behaupten, dal3 Tucholsky kein Politiker war und
daB seine Kritik an der Politik der Weimarer Republik fehlerhaft und anachronistisch war- Sein weiterer
Vonvurf, daB Tucholsky imrner wieder dieselben Aufsatze gegen das Mi1itii.r und die Justiz schrieb. muB
auch bestatigt werden. Jedoch muB man sich fragen. inwiefern dieser Vorwurf eine gültige Kritik an
Deutschland, Deutschland über alles sei. GewiB sind die Aufsatze, die Tucholsky im Deutschlandbuch
gegen den Militaisrnus und die Komption in der Justizverwaltung schrieb, entweder Wiederholungen oder
Fortsetzungen seiner lan&ihrigen Polernik gegen diese zwei Aspekte der Gesellschaft der deutschen
Nachkriegszeit. Seine Kritik war aber 1929 aktuetler denn je, and kann nicht als ungültig oder
anachronistisch zurückgewiesen werden. Im Gegenteil isc es deutlich, daB genau solche Aufsatze gegen den
heranwachsenden deutschen Militarismus und die k o m p t e deutsche Justiz immer noch geschrieben werden
rnusten, weil sie an der aktuelien Gegenwart noch angebrachte Kritik ausübten und vertuschte aber noch
existierende Probleme aufzeigten. Wahrend der ganzen zwanziger Iahre riïstete die deutsche Armee zuerst
heimlich, dann irnmer offener auf. Die Lebensbedingungen in den SuafanstaIten. die Tucholsky irn
Deutschlandbuch in allen Einzel heiten beschrieb, wurden irnmer schlechter. Die lustiz blieb das
-
Kurf Tucholskymschen~uf/ehnung
und Reslgnation P2
Mit dieser Argumentation verteidigte sich auch TuchoIsky in seiner schlagfertigen Antwon auf
henng. Er h g t e Ihering, ob er in den letzten Monaten einmal auf einem deutschen Gericht oder in einer
Lieber Herr Ihering, waren Sie in den Ietzten Monaten einmal auf einem deutschen
Gericht oder in einer deutschen Strafanstalt? Das soïlten Sie nicht versaumen. Ich habe
mir im letzten Jahr vieles in Deutschland angesehen, wocüber ich nirgends referiert habe;
und was mich erschreckt hat, das ist die Fortdauer einer wilheiminischen Gesinnung, die
zwardie Zierate des Gardehelms abgelegt hat, aber in karger neuer Sachlichkeit brutal
und kait Schweinereien verüben l a t , schlirnmer als unter dem Seligen, wo durch eine
Ironisch ist es auch, daB Ihering Tucholsky vorgeworfen hat, Deutschland aus einer bequemen Loge in Paris
oder in Schweden zu beobachten. Selbstverstandlich war es gerade Ihering, der unangetastet in seiner L o ~ e
des Berliner Theaten saB. wahrend Tucholsky als politischer Redner sich der Gefahr aussetzte, mit Eisen
Ihenng erkannte auch, daB Tucholskys willkürliche und einseitige poiitische Kntik in
Ermangelung einer direkten Aussage gegen die noch schlimmere Gefahr des Nationalsozialisrnus gerade
Ein Bilderbuch. Aber das [...] photopphische mate rial verleitet zu cijrichten
Verzerningen.[ ...] Hier ist die Grenze, wo ein kiuger Mann natte an die Dumrnheit sroBt.
Diese Polemik hilft dern Ungeist. Sie liefert allen Gegnem Material. Ein unechtes, ein
schadliches ~ u c h . ' ~ ~
Ig8 Briel an Herbert Ihering vom 18.X.1929. In ~eutschland.Deutschland über alles. S. 254
1 99
Herbert Ihering: "Polemik ohne Risiko". In: Becker, S. 86
dem Buch der Hinweis darauf fehlt, da8 es j a anderswo genauso ist, so sehr vermisse ich
in Ihren Aufsatzen Gefühl Er B lut und Triinen. Horen Sie das nicht? Horen Sie nicht
den unterirdischen Schrei, der oft keinen kunstIenschen Ausdmck findet und den man mit
allen taffinierten Mitteln unterdrückt, wo man nur kann? Irn Rundfunk dürfen wir nicht,
in der Presse soilen wir nicht, irn Kino konnen wir nicht - bleibt das Buch, Immer, wenn
ich schreibe, denke ich an das Lied der Anonymen, an den Prolecarier, den Angestellten,
den Arbeiter, an das Leid, von dem ich durch Stichproben weiB. Das wissen Sie auch -
Sie müssen das wissen, und ich will lieber den Vonvurf auf m u sitzen lassen, ktinstlensch
nicht befriedigt oder aus Empomng über das Ziel hinausgeschossen zu haben, als ein
Indolenter zu sein- Und glauben Sie mir: wenn ich immer dasselbe schreibe, tue ich das
Karnillentee wiire vielleicht abwechslungsreicher. aber man mua das wohL Auch die
Aber Ihering hatte doch Recht: die deutschen Spirochaten von 1929, egal wie sehr die Gesellschaft
sich dem d t e n wilheIminischen Reich ahnelte, waren nicht mehr dieselben. Tucholskys Kritik entspmch
nicht den aktuellen Gefahren. denen die Wcirnarer Republik schon 1929 entgegensteuerte. Sein Vorwurf.
daB Tucholsky das Deutschland von 1929 nicht kannte. ist in unserem Vergleich der politischen Texte in
Deutschland. Deutschland über alles mit den hellsichtigen politischen Analysen anderer linken Schriftsteller
schon bewiesen worden. In seinern Versuch, diese Kritik an Deutschland. Deutschland über alles von
seinern geselIschaftlichen Standpunkt auszuIegen. mu8 Anton Kaes Ihering auch zustimmen:
1929 bedeutete das Ende der sogenannten Stabilisationsphase der Weirnarer Republik,
und die ersten Anzeichen der kommenden Restauration, die das Klima schuf, unter dem
103
Brief an Herbert lhering vom 18.X.1929. In: Deutschland. Deutschland über alles. S. 255
Herbert Ihering die irnmer wieder selbe, doch irn letzten Grunde billige und beinahe
Der Kornrnentar von Ihering und vielen anderen Kntikern, daB die Objekte seines satirischen
An+&ffs, die er ds deutschspezifisch bezeichnet hatte, sich in anderen L h d e r n auch fanden, scheint
Tucholsky am rneisten beumuhigt zu haben. In einem spateren Peter-Panter-Text in der Weltbiïhne gestand
Tucholsky:
Tatsachlich müBte man ja, was ich in rneinem Deutschlandbuch nicht getan habe, deutsche
und amerikanische Arbeiter, deutsche und franzosische Offiziere, deutsche und englische
Richter vergleichen - dann k b e man zu besseren ~ e s u l t a t e n . ' ~ ~
Also gelang es Kurt Tucholsky in Deutschland. Deutschland über alles nicht, die Prozesse der
politischen Verwandlun,oen und Metamorphosen, die sich unterhaib der Oberflache abspiehen, zu erkennen
und anzusprechen. Dieses Versagen, wie Ihering erkannte, verursachte sogar die gegenteilige Wirkunz von
dem, was Tucholsky mit dem Buch beabsichtigte. Die verwirrenden Reaktionen auf Deutschland,
Deutschland über alIes und die kritischen MiBversrandnisse lieBen Tucholsky die Frage nach der Funktion
seines Werkes stellen. Es war offensichtlich nicht mehr mo,alich, die MiBstande der Republik satirisch zu
geiI3eln. ohne darnit der falschen Seite einen Dienst zu e n ~ e i s e n . ' ~Der steckengebliebene Kun Tucholsky.
der die neue politische Konstellation der Weimarer Republik nicht sah oder nicht sehen wollte, ficht noch
die politischen K b p f e von 1920 aus. Das ist das Enttauschende im Buch - seine Helfsicht und sein
Verstiindnis der Weimarer Gesellschaft hat er nicht in den politischen Bereich überuagen.
'01
Kaes, S. 2 1
Wir haben schon die Hypothese aufgestellt, daB die Zusarnrnenarbeit Tucholskys mit John
H e d l e i d eine durchaus logische Entwicklung in seiner literarischen Laufbahn war. Wir haben auch
behauptet, da0 es Tucholsky aus mehreren Gründen miBlungen war, mit Deutschland. Deutschland uber
-
alles ein politisches Programm fur die deutsche Arbeiterklasse zu artikulieren. Ein Aspekt dieses Schei tems
mu8 hier noch genauer untersucht werden: narnlich die RolIe Tucholskys als Produzent innerhalb des
etablierten bikgerlichen Litetaturbetn'ebs- Die Ansatzpunkte fur diesen Exkurs sind zwei literaturkntische
Texte von Walter Benjamin aus den Jahren 193t und 1931.
Freilich handelt es sich hier um Texte, die mehrere Jahre nach der Veroffentlichung von
Deutschland. Deutschland uber alles seschrieben wurden. Das Buch selber wird nicht einmal in den zwei
Texten genannt; der Name von Kun Tucholsky taucht nur einmal in einem der Beiuage auf. Jedoch
enthalten beide Artikel eine implizite Kritik an der Rolle K u n Tucholskys als Litenturproduzent am
Anfang der Krisenperiode der Weimarer Republik. die fur das heutige Verstandis von Deutschland.
Deutschland über alles wichtig ist. Wir werden anhand dieser zwei Texte zu beweisen versuchen. daB
Tucholskys selbst ausgewahlte Position als politischer Dilettant zwischen zwei Stuhlen das
seines pliebten und idealisierten Deutschlands zu ~ühren"~.ansrart sich polirisch ganz auf die Seite der
Arbeiterschaft LU stellen, in dem Versuch. seine Vorschlage zur radikaler Verandermg der Gesellschaft zu
realisieren, kann man ihm personlich nicht vorwerfen, aber als Interpret mu8 man die Folgen dieser
=O7 Ebd., S. 20
gehaitenen Rede Der Autor a h Produzent bespricht Benjamin die Frage nach dem Existenzrecht des
Dichters in der modemen Gesellschaft- Er weist den Standort der burgeriichen Schriftsteller der Neuen
Sachlichkeit und des Aktivismus entschlossen zünick, weil diese Schriftsteller seiner Ansicht nach dem
Mandat des Aktivismus folgten, indem sie zwischen den Klassen standen und keinen Anhalt für eine neue
Benjamin nennt diese Position den Ort eines Gonners, eines Miizens, der kein Verhaltnis m m
ProduktionsprozeB hat. Die gesamte linke Intelligenz des Aktivismus und der neuen Sachlichkeit, schreibt
Benjamin, veruitt diese unzulangliche Position. Die politische Tendenz der mdgebenden politisch-
literarischen Bewegungen der Weimarer Republik, die hauptsachlich von dieser InteIligenz ausgehen,
fungiert also gegenrevolutioniir, weil der Schriftsteller der Neuen Sachlichkeit nach Benjamin keine
Solidaritat mit dem Proletariat erfahrt. Der bür,oerliche SchriftsteIIer beliefen bloB den bestehenden
Gegen Ende des Iahres 1930 veroffentlichte Ench K%tner den Gedichtband Ein Mann oibt
Auskunft, den Walter Benjamin 1931 rezensierte- In seiner Resenzion unterscheidet Benjamin zwischen
zwei TuchoIsky zu der Liste von Autoren, die diesen Standort vertritt:
Die linksradikalen Publizisten vom Schlage der Kiistner, Mehring oder TuchoIsky sind
die proletaische Mimikry des zerfallenen Bürgertums. ihre Funktion ist, politisch
beuachtet, nicht Parteien sondem CIiquen, Iiterarisch betrachtet, nicht Schulen sondem
Und zwar ist diese linke IntelIigenz seit fünfzehn Iahren ununterbrochen Agent aller
geistigen Konjukturen. vom Aktivismus über den Expressionismus bis zu der Neuen
208
Walter Benjamin: "Der Autor als Produzent". In: Gesammelte Schrï ften il-2. Herausgegeben von Rol f
Tiedemann und Hermann Schweppenhauser. Frankfurt am Main: Suhrkamp Vertag, 1977, S. 689-69 1
Also zahh Benjamin Tucholsky zu den 'Agenten'. In manchen Hinsichten hatte Benjamins Kntik
an Katner geoau so _outeine treffende Rezension von Deutschland. Deutschland über alles sein konnen:
Das ist, weil diese Lyrik, ihrern Augenschein zum Trotz, vor aIIem die standischen Belange
der Zwischenschicht - Agenten, Journalisten, Personaichefs - wahrt. Der Haf3 aber. den sie
dabei gegen das Heine Bürgerturn proklamiert, hat selbst einen kieinburgerlichen, allzu
intimen ~ i n s c h l a ~ . ' ~ ~
Sicher ist es allerdings, da8 Tucholsky diesen Standort neben dem Proletariat. oder zwischen den zwei
Kiassen vertrat. Wir haben schon gesehen, daB er diese Position selber beanspmchte, d a er den
burgerlichen SchnftsteiIer nicht Für Fahig hieft, Führer der Arbeiterbewegung zu sein. Einen burgerlichen
Schriftsteiler, der sich zu eng mit dem ProIetariat liierte, bezeichnete er als "entlaufenen ~ürger".'~' Auch
er erkannte sehr früh den FunktionsverIust eines zeitkritischen Schriftstellers in der Weimarer RepubIik. Im
Gegensatz aber zu benjamin versuchre Tucholsky die soziale Funktion des Dichters anhand der
literarischen Tradition der Satire zu legitimieren. Er zitierte diese literarische Tradition und rezensierte die
zeitgenossische Praxis satinscher Kunst. um für ihren Wert und ihre Wirkung zu werben."' Er bewegte
sich in der Tradition der literarischen Aufkliirung und glaubce, mit titeratur rnoralisches und politisches
'
W Walter Benjamin: '-Linke MelanchoIie - Zu Erich Kiistners neuern Gedichtbuch". In: Gesarnmelte
SchriFten III. Herausgegeben von RoIf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser. Frankfurt am main:
Suhrkamp Verlag 1977, S. 280
über alles nur den bestehenden Literaturapparat beliefert haben. Tucholsky und Heartfield entdeckten eine
passende Form und erreichte mindestens m m Teil das Publikum, das sie erreichen woIlten, aber wegen
mangelnder poiitischer Solidaritat Tucholslqts btieb die notwendige Aussage weg. Die Kntik Benjamins an
TuchoIslq, Mehrïng, K&tner und den anderen 'parteilosen Linken' faBt Anthony Phelan genau zusarnmen:
Benjamin's criticism of Tucholsky seerningly derived from the view that h e and his associates
had not completely carried through the act of class traitocship defined by Marx, which would
have resulted in a genuine solidarity with the labour r n o v e m e n ~ " ~
Tucholsky weigerte sich also, Produzent zugunsten des Proletariats zu werden. Stattdessen biieb er
in der Tradition der burgertichen Aukliirer des 19, Jahrhunderts, in seiner selbsc bestimmten Rolle des
bescheidenen Helfers. Er war sogar zum Teil selber ein konservativer Idealist, der dern d t e n burgerlichen
befürworten. Dieser Standpunkt beeintriichtigt die Wirkungsmo,olichkeit von Deutschland. Deutsch land
über alles aIs eingreifende Literatur, was er auch spater erkannte. Sogar Helga Bemmann, die dem
Schnftsteller gegenuber in ihrer Tucholsky-Biografie stets sehr positiv eingestellt ist, erkennt hier seinen
Dilettantismus:
1929 spurte er, da8 die Entwickiung um ihn hemm so oder so zu einer Entscheidung
dnngce, der auch er sich stellen muBte. Fur ihn gab es überhaupt keinen Zweifel, da8 nur
die recht haben, die um ihr Recht kihpfen. Das sind die Proletarier. Er bejaht diesen
Kampf auch als KIassenkampf, er will ihn unterstützen, ist auch bereit, alles dafür zu
geben, nur nicht die eigene Meinung. "Ich bin ein coter Mann, wenn ich nicht frei
schreiben kann." Das Ideal, das er fur sich ersehnt, ist eine Utopie: Bindung bei volliger
~nabhangigkeit."~
"'Bemmann, S. 409
nie wieder geben konnte. Die Revolution, die e r F& notwendig hielt, um die Weimarer Republik zu retten,
hatte zugleich den Zusarnmenbruch des bürgerlichen Deutschland und womogIich das Ende von Tucholskys
dichterischen Freiheit bedeutet, Er war dieser Gesellschaft sowohl sentimental als auch materiell zu
verhaftet, um ihre Beseitigung wirklich tu befurworten. Nicht aus voIIer Solidaritat, sondern nur aus
VerdruB mit der bestehenden Ordnunp war Tucholsky bereit, mit den Kommunisten zu gehen. Aber der
poiitischer Dilettant hatte Angst vor der letzten Konsequenz ais hemmender Faktor. Er wollte diese Ietzte
Kurt Tucholskys career can serve as a cardinal exarnple of the crisis of cornmitment. The
difficulty of reiating individuals to colIectivities is a strikingly recurrent feature at a number
of IeveIs in his Iife and work- Both as a 'member' of the non-alisned left, and as a satirist and
critic ensconced 'behind' his assorted pseudonyms, Tucholsky jealously guarded a residue of
personal authenticity, a private self whose political comrnitments had to be personal. [. ..] chat
structure is present in the humanism which informs his satire - as an avoidance of colIective
judgements; but as Benjamin recognized. it could never be Far away From 'rnelancholia' and
resignacion ."'
Also konnen wir Tucholskys g a z e iiterarïsche Laufbahn als eine Krise des Engagements
bezeichnen, in der Deutschland. Deutschland über alles den wichtigsten Wendepunkt darstellt- Sein groBcer
scheitert an seiner eigenen Unfahigkeit, Stellung zu nehmen und sich Für eine Sache vollig zu engagieren.
"'Phelan, S. 6-7
Kud Tucho/skymschenAulSehnung und Resignafion 103
Achtes Kapitel
SchluBfolgerungen
Nach der Veroffentlichung von Deutschland, Deutschland über alles distanzierte sich Kurt
Tucholsky von den deutschen Kommunisten. Tucholskys Entscheidung, sich immer mehr von der KPD zu
entfernen, hiingt direkt mit der Politik zusammen, die die KPD nach 1929 vertrat A u f p n d der
Einmischung Stalins in die Politik der KPD wurde der rechte FIügel der Partei ausgeschaltet. GemaBigte
Politiker wie Brandler und Thalheimer wurden von dem neuen radikalen Triumvirat von Ernst Thalmann,
Hermann Remmele und Heinz Neumann abgelost- Ein wahrer Führerkutt entwickelte sich um die
rnittelmaBige Personlichkeit des Hamburger Transportarbeiters Thalmarin, denn die KPD glaubte, dem
"Führef Hitler Ernst Thalrnann als den Führer des Roletarïats gegenübersiellen ru rn~ssen."~
Tucholskys Zusarnmenarbeit mit dem Neuen Deutschen VerIag blieb bis tief in das Jahr 1930
bestehen. Ab 1930 aber, als er sich in Schweden ganz seinen Buchprojekten und der Welrbiihne-Arbeit
widmete und seine Krankheit seine Arbeitsfahigkeit zu beeinuachtigen begann, disranzierte sich Tucholsky
von Münzenberg und veroffenttichte nichts mehr in dem Neuen Deutschen Verlag. Der wesentlichere
Grund für seine Distanzierung war aber wohl die These der Faschisierung der Soziddemokratie, "wie sie in
Deutschland. Deutschland über alles war auch der Anfang seines Abschieds aus dem deutschen
Literaturbetrieb. Trotz des ErfoIges des Buches w& Kurt Tuchoisky mit der Rezeption seines
Deutschlandbuchs schwer enttauscht. Der Denkansatz der nationalsozialistischen Kri ti ker, daB
Deutschland. Deutschland über alIes den Nationalsozialisten eine gute Propaganda-Vombeit geleistet habe.
lieB ihn zu dem SchluB kommen, daB es nicht mehr rnoglich war. die MiBstande der Republik überspitzt
"'Bemmann, S - 402-403
aIlem berechtigte Kntik an dern Nationdisrnus, dern Militarisrnus. der Iustiz und der soziden
Ungerechtigkeit der Klassengesellschaft uben, Aber dennoch leidet Deutschland. Deutschland über alles an
Tucholskys veraltelten, sogar anachronistischen Auffassung von Deutschland - die Gefahren für die
Republik in der bestehenden wilhelminischen Ordnung hat er gesehen, aber die neue geselIschaftliche und
politische Konjunktur am Ende der zwanziger Jahre hat er wohl nicht ganz begrïffen, noch begreifen
wollen.
Vielleicht die treffendste Bemerkung zu Deutschland. Deutschland Über alles starnmt von
Tucholsky selbst, In einem Brief, den er am 25. JuIi 1933 verzweifelt an Walter Hasendever schrieb, ist es
kIar, daB Enttauschung, Resignation und Wehrnut Kun TuchoIsky schon Iangst uberschattet hatten- Die
Hoffnung, mit seiner Iiterarischen Arbeit noch etwas zum Guten wenden zu konnen, war dahin und mit ihr
das Zunauen in den Sinn des friiher Geleisteten: "Das Buch ist aIs kunstlerische Leistung klobig Und
Primarliteratur
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