Sie sind auf Seite 1von 484

DIE ENTWICKLUNG EINER MELODIE IM KONTEXT

IMPROVISATORISCHER MUSIKTHERAPIE

DARGESTELLT AN DEN MELODIEBEISPIELEN


“EIN SPAZIERGANG DURCH PARIS” UND
“DIE ABSCHIEDSMELODIE”

GUDRUN ALDRIDGE PHD.

Universität Witten Herdecke, Germany

Universität Aalborg, PhD Program

see www.musictherapyworld.net
Einleitung
Teil I
Kapitel 1
Melodie im Kontext der Musikbetrachtung
ETYMOLOGIE
HISTORISCHE WURZELN
ÄSTHETISCHE VORAUSSETZUNGEN
KULTURELLE VORAUSSETZUNGEN
Kapitel 2
Merkmale des heutigen Melodiebegriffs
ZUR PERZEPTION VON MELODIE
Gruppierungen von Tonhöhensequenzen
Melodische Kontur
Tonhöhe, Timbre und Tonalität
Intervallcharakter
Beziehung von Melodie und Harmonie
MELODIE UND EXPRESSIVITäT
Die Logik von Emotionen
Ästhetik und Emotion
Kapitel 3
Musiktherapeutische Aspekte in ihrem Kontext
IMPROVISATION ALS KERNPUNKT THERAPEUTISCHEN HANDELNS
ZUSAMMENFASSUNG UND SIGNIFIKANTE GESICHTSPUNKTE FüR DIE
THERAPIE
Teil II
Kapitel 4
Suche nach der geeigneten Methode
FORSCHEN
Z UR S ITUATION DES F ORSCHENS IN DER MUSIKTHERAPEUTISCHEN
DISZIPLIN
SUBJEKTIVITäT - OBJEKTIVITäT
VERBINDUNG ZU PHäNOMENOLOGISCHEN GRUNDIDEEN
INTENTIONALITäT
ELEMENTE PHäNOMENOLOGISCHER FORSCHUNG
HERMENEUTISCHE PHäNOMENOLOGIE
ZUSAMMENFASSUNG
Kapitel 5
Das qualitative Forschungsparadigma

I
HEURISTISCHE FORSCHUNG
QUALITATIVE FORSCHUNG
GROUNDED THEORY
NATURALISTIC INQUIRY
DER FORSCHUNGSKREISLAUF DER NATURALISTIC INQUIRY
EINZELFALLSTUDIE
KLINISCHE ANWENDUNG DER FALLSTUDIEN-METHODIK
ZUSAMMENFASSUNG
Kapitel 6
Subjektivität, Validität und die Persönliche Konstrukt-Methodik
IDENTIFIKATION MIT DEM FOKUS
AUTHENTISCH SEIN
PERSöNLICHE VALIDITäT UND DIE STRUKTUR VON "BEDEUTUNG"
Persönliche Konstrukt-Theorie
Methode
Fokus - Analyse
Ein Jahr später
Persönliche Meinung
Patientinnen und Kategorien
Ergebnisse
Schlußfolgerungen
ZUSAMMENFASSUNG

Teil III
Kapitel 7
Verfahrensweisen der Musikalischen Analyse
ORIENTIERUNG UND FOKUS
DER ANALYSE-BEGRIFF IM KONTEXT DER HISTORISCHEN
MUSIKWISSENSCHAFT
W AS HEIßT “ANALYSE”?
HISTORISCHE PERSPEKTIVE
Tendenzen der Musikalischen Analyse
Die Ausbreitung der Analyse im 19. Jahrhundert
Die Ausbreitung der Analyse im 20. Jahrhundert
ZUR SITUATION UND PROBLEMATIK DER MUSIKALISCHEN
ANALYSE
ZUSAMMENFASSUNG
Kapitel 8

II
Die für die Forschungsstudie relevanten Kriterien der
Musikalischen Analyse
TRADITIONELLE KRITERIEN
Der Motiv-Begriff
Der Thema-Begriff
Melodie und Thema
Zum Begriff der thematisch-motivischen Arbeit
Harmonie und Rhythmus als tragende Elemente des Thematischen
DER ANALYTISCHE DISKURS VON NATTIEZ
DIE ANWENDUNG NATTIEZ` AUF DIE DREI INTERPRETATIONSEBENEN
ZUSAMMENFASSUNG

TEIL IV
Kapitel 9
Studie 1 : Die Entwicklung einer Melodie im Verlauf einer
Improvisation: “Ein Spaziergangdurch Paris”
DER THERAPEUTISCHE KONTEXT
Krankenhaus
Stationen
Musiktherapeutischer Ansatz
DIE KRANKHEIT IM KONTEXT
Brustkrebs
Coping und psychosoziale Faktoren
Brustkrebs und Musiktherapie
Musiktherapie und Schmerzlinderung
Musiktherapie und Coping
Zur klinischen Situation der Patientin
DIE MELODIE: “EIN SPAZIERGANG DURCH PARIS”
Zur Bedeutung der Melodie
Kapitel 10
Spezifische Methode des höranalytischen Prozesses
DATENSAMMLUNG: DAS HERAUSSUCHEN VON EPISODEN
DIE VALIDIERUNG DER EPISODEN MIT HILFE DER PERSöNLICHEN
KONSTRUKT-THEORIE
Die Erzeugung der Konstrukte
Die Erzeugung der Kategorien aus den Konstrukten
Kategorien der Episoden
DIE BEDEUTUNGSINHALTE DER KATEGORIEN
ZUSAMMENFASSUNG

III
Kapitel 11
Analyse und Ergebnisse

Kapitel 12
Die Beziehung zwischen den Episoden und der Melodie “Ein
Spaziergang durch Paris”
DER ENTWICKLUNGSVERLAUF DER KATEGORIEN DER EPISODEN
DER ENTWICKLUNGSVERLAUF DER KATEGORIEN DER KONSTRUKTE
Faktoren der Melodieentwicklung in Studie 1
DER NACHWEIS DER ENTWICKLUNG AN HAND EINIGER MUSIKALISCHER
BEISPIELE
Intuition
Aktion
Bezüge zwischen den Kategorien innerhalb des ersten Zyklus
Bezüge zwischen den Kategorien innerhalb des zweiten Zyklus
Kategorien der Konstrukte im Verlauf der Melodie
Kapitel 13
Studie 2: Die Entwicklung einer Melodie im Verlauf einer
Improvisation: “Die Abschiedsmelodie”
DER THERAPEUTISCHE KONTEXT
Station Jona
DIE KRANKHEIT IM KONTEXT
Zum Begriff der Depression
Psychosomatische Aspekte
Zur Bedeutung und Therapie der Depression
Musiktherapie und Depression
Zur klinischen Situation des Patienten
DIE “ABSCHIEDSMELODIE”
Schlußgestaltung
Zur Bedeutung der Melodie
Kapitel 14
Höranalytischer Prozeß
DATENSAMMLUNG: DAS HERAUSSUCHEN VON EPISODEN
DIE VALIDIERUNG DER EPISODEN MIT HILFE DER PERSöNLICHEN
KONSTRUKT-THEORIE
Die Erzeugung der Konstrukte
Die Erzeugung der Kategorien aus den Konstrukten
Kategorien der Episoden
DIE BEDEUTUNGSINHALTE DER KATEGORIEN

IV
Kapitel 15
Analyse und Ergebnisse

Kapitel 16
Die Beziehung zwischen den Episoden und der “Abschiedsmelodie”
DER ENTWICKLUNGSVERLAUF DER KATEGORIEN DER EPISODEN
Inhaltliche Bedeutung
DER ENTWICKLUNGSVERLAUF DER KATEGORIEN DER KONSTRUKTE
Bedeutung der Kategorie Selbstfindung
Faktoren der Melodieentwicklung in Studie 2
Stationen der Entwiclung am Beispiel
der prinzipiellen Komponentenanalyse
DER NACHWEIS DER ENTWICKLUNG AN HAND EINIGER MUSIKALISCHER
BEISPIELE
Kreislauf der Kategorien innerhalb der Phase 1: Entwicklung
Kategorien der Konstrukte im Verlauf der Melodie
Kapitel 17
Diskussion
ANLIEGEN DER FORSCHUNGSSTUDIE
ERGEBNISSE
‘Urform’
Harmonische Form
Harmonische Form als allgemein übergreifende kulturelle Tatsache
Eigenständigkeit
Expressivität
WELCHE BEDEUTUNG HAT DIE ENTWICKLUNG EINER MELODIE IM
THERAPEUTISCHEN KONTEXT?
Aufdeckung melodischer Bedeutungsfaktoren
mit Hilfe der Persönlichen Konstrukt-Methode
Tagebuch
Vergleich der Kategorien
Konzept eines erweiterten Selbst
WIE LäßT SICH EINE MELODIE INNERHALB EINER THERAPEUTISCHEN
BEHANDLUNGSPHASE ENTWICKELN?

Literaturverzeichnis 456-475
Appendix

V
Teil I Kapitel 1

Melodie im Kontext der Musikbetrachtung

Es läßt sich behaupten, daß die Melodie als wichtiger Teilaspekt der Musik für viele
Menschen eine Bedeutung hat. Sie ist mit inneren Erlebnissen und dem
Erinnerungsvermögen verbunden und kann als intimer Begleiter der verschiedenen
Lebensstadien und - situationen fungieren. Mit Melodien vermag man sich zu
identifizieren. Es ist weiter anzunehmen, daß die Melodie, in welcher Erscheinungsform
auch immer, der geläufigste und verbreiteste Aspekt der Musik während aller Zeiten und
Kulturen war und heute noch ist. Als integrativer Bestandteil zählt sie zu einem der
wichtigsten Ausdrucksmittel vieler verschiedener Lebenskulturen.

Sie ist das Element der Musik, an dem die allgemeine Qualität der Musik gemessen wird
und sich die individuelle, künstlerische Qualität des Komponisten offenbart. Einige
Komponisten, darunter E.T.A. Hoffmann, Schumann, Wagner, Strawinsky und
Hindemith betonen, daß die Melodie der Wesenskern der Musik sei und die Musik
ohne sie überhaupt nicht denkbar sei. Auch in der Zwölftonmusik nimmt die Melodie
unter den musikalischen Elementen einen bevorzugten Platz ein. Eimert bezeichnet die
Melodie innerhalb der atonalen Musik als den “höchsten Ausdruck des atonalen
Gedankens” und auch Alban Berg setzt sich für eine “kantable, gesangliche Melodie”
ein (Blume, 1989a, S. 23).

Die Frage, warum uns die eine Melodie mehr anspricht als die andere, sie in uns weiter
lebt, uns bewegt und unter Umständen auch zu einem quälenden Ohrwurm werden kann,
ist generell kaum möglich zu beantworten. Als einer der Hauptaspekte von Musik gehört
die Melodie zu den Fragen, die sich mit dem Wesen der Musik und ihrer allgemeinen
Bedeutung auseinandersetzen. Diese wurden immer wieder von den Bereichen der
Philosophie, Ästhetik und Psychologie aufgegriffen, wobei sich verschiedene
theoretische Positionen entwickelt haben. Dazu gehören die verschiedenen
Bedeutungstheorien mit ihren unterschiedlichen Aspekten, wie dem hermeneutisch-
pragmatischen, dem semantischen, dem semiotisch-pragmatischen, oder
kommunikations- und informationstheoretischen Aspekt (Fanselau, 1984; Nattiez,
1990). Zu erwähnen wäre auch die, vom Blickfeld des Rezipienten ausgehende
Bedeutungstheorie der empirisch orientierten Musikpsychologie, die insofern klärend
wirkt, als sie auf die Notwendigkeit der Erkundung umfassender biographischer,
historischer und kultureller Zusammenhänge zwischen Musik, Musiker und
Musikrezipienten hinweist (Ruud & Mahns, 1992).

1
Ein historisches Beispiel für eine der fundamentalsten unterschiedlichen
Musikauffassung ist die Polarisierung von absoluter und programmatischer Musik, die
sich im Form-Ausdruckstreit artikuliert. Diese hat im 19. Jahrhundert unter den
Komponisten zur Bildung fester Positionen im Streit um Autonomie oder Heteronomie
der Musik geführt (Burde, 1982; Dahlhaus, 1967; Storr, 1992). Im Hinblick auf diese
polare Sichtweise kann Musik einerseits nichts anderes als sich selbst repräsentieren
(autonom), andererseits liegt ihre Bedeutung außerhalb von ihr (heteronom). Diese
letztgenannte Position hat auch kulturbezogene Bedeutung (Nationalhymnen, politische
Lieder, Lieder auf dem Fußballplatz), die Fragen nach dem Einfluß von soziokulturellen
Prozessen mit einbezieht.

Meyer (Meyer, 1956) hebt diesen historischen Widerspruch auf. Für ihn kann von einer
philosophischen Perspektive aus Musik sowohl eine immanent `absolute`, als auch eine
äußerlich `referentielle` Bedeutung haben. Ebenso läßt sich Musik von der Sichtweise
der `Formalisten` (Hörer, die den Wert der Musik in abstrakten Formen und Strukturen
sehen) und `Expressionisten`, oder `auch Referentialisten` (Hörer, die den Wert der
Musik in der Erzeugung von Gefühlen sehen, und die ihre Bedeutung außerhalb des
Kunstwerkes finden) aus interpretieren. Meyer vertritt den Standpunkt, daß eine
Philosophie der Musik mit Recht den einen oder anderen dieser entgegengesetzten
Standpunkte indossieren kann. Denn ein absoluter Expressionist ist ein Hörer, der
davon überzeugt ist, daß die musikalische Bedeutung der Musik immanent ist und der
die emotionale Bedeutung aus dem Zusammenspiel der verschiedenen musikalischen
Beziehungen schöpft.

Auch andere zahlreiche Veröffentlichungen der sich teilweise voneinander abgrenzenden


unterschiedlichen Bedeutungstheorien über Musik weisen auf diese Problematik der
Autonomität und Heteronomität von Musik hin (Adorno, 1995; Arnheim, 1986; Benzon,
1993; Bharucha, 1996; Brailoiu, 1984; Budd, 1985; Cooke, 1982; Dahlhaus, 1980;
Davies, 1994; Eggebrecht, 1995; Hargreaves, 1994; Langer, 1992; Nattiez, 1990; Storr,
1992; Szabolcsi, 1959; Zuckerkandl, 1963). Dabei läßt sich feststellen, daß, abgesehen
von den erwähnten unterschiedlichen Perspektiven, auch gesellschaftlich-politische
Vorstellungen bestimmte Bedeutungstheorien begünstigen können (Fanselau, 1984).

Ruud (Ruud & Mahns, 1992, S. 127) weist auf die verschiedenen Bedingungsfelder hin,
die involviert sind, wenn pauschale Aussagen, wie ”Musik ist Gefühl”, über das Wesen
der Musik getroffen werden. Derartige sprachliche Äußerungen, die keine
Realitätsrelevanz haben (sie deuten auf eine dahinter liegende persönliche
Weltanschauung hin, die mit einem kulturellen Thema in Beziehung gesetzt wird),
gehören zu unserem System der Sprache, das “wiederum Teil eines größeren sozialen
Systems ist”. Dieses erfordert, daß in gleicher Weise “die der Sprache innewohnenden

2
kulturellen Werte” mit zu berücksichtigen sind. Die Aufdeckung der jeweiligen
kulturellen Zusammenhänge und der damit verbundenen sozialen Wertvorstellungen
könnte durch den Bereich der Musikästhetik geleistet werden, zu deren
Beschäftigungsfeld auch die Erkundung der verschiedenen musikalischen Kulturen
unserer Gesellschaft gehört.

Hier wird deutlich, daß derartige Fragen in das Gebiet der Musiksoziologie übergreifen
(Wiesand, 1978). Für unsere heutige Gesellschaftsordnung können wir nicht mehr ohne
weiteres von einer einheitlichen Kultur sprechen. Wir wissen zwar, daß unsere westliche
Kultur ähnliche, übergreifende Merkmale besitzt (Dur-Moll-System, allgemeine
Strukturierungs- und Formmodelle), die teilweise überliefert sind, aber keine
konkretisierten Werte mehr besitzen. Die Entstehung weiterer, zahlreicher Kulturen
(Teilkulturen), die ihre eigenen Normen und Organisationsformen bilden, beruht auf
ästhetischen und vielfältigen sozialen Ursachen. Aufgrund der in den westlichen
Kulturen herrschenden sozialen Differenzierung zerfällt auch das Musikleben in
zahlreiche institutionalisierte Einrichtungen und Initiativen, die z. T. nur aus aktuellen
Anlässen organisiert werden, sich wandeln und in einer ständigen Entwicklung begriffen
sind. So müssen wir die Organisationsformen und unterschiedlichen Institutionen der
Musikkultur unserer Zeit als ein Netzwerk gesellschaftlich-ästhetisch voneinander
abhängiger und sich wechselseitig beeinflussender Teilsysteme begreifen. Dabei
beeinflußt die Musik den organisatorischen institutionellen Überbau und umgekehrt
dieser die Musik. Die Musik ist mit ihren Organisationsformen in ihrer Entwicklung
nicht selbständig, sondern in das Geflecht der sozialen, technischen, ökonomischen,
kulturellen und politischen Gesamtentwicklung einbezogen.

Trotz dieser extensiven theoretischen Beschäftigung mit grundsätzlichen Fragen nach


der Bedeutung von Musik bleibt sie für viele Menschen ein Enigma. Dieses mag zum
einen in ihrer nonverbalen Qualität begründet sein, in der Faszination ihrer emotionalen
Stimulanz, der Unbestimmtheit ihrer klanglichen Aussage, ihrer Vieldeutigkeit und
ihrem transzendierenden Charakter. Wie Susanne Langer sagt (Langer, 1992, S. 238),
kann die Musik durch ihren möglichen Eingriff in unser Gefühlsleben mehr als die
Sprache “lebenswahr” wirken, indem sie Gefühle zu artikulieren vermag und diese
somit offenbar werden läßt, “ohne an ihnen hängen zu bleiben”. Unsere physischen
und emotionalen Reaktionen auf bestimmte musikalische Vorgänge, wie Taktwechsel
oder Steigerungen können momentane Deutungen suggerieren, die sich, entsprechend
dem wandelnden Ausdruckscharakter der Musik, verändern. Diese durch die Musik
vermittelten Wertgefühle spielen sich außerhalb der “diskursiven Vernunft” ab. “Weil
in der Musik die Sinnbeilegung niemals konventionalisiert werden kann, überdauert
Bedeutung niemals den vorübergehenden Klang” (Langer, 1992, S. 239). Aus diesen

3
Tatsachen und Grundvoraussetzungen von Musik wird deutlich, daß allein mithilfe von
Fragestellungen einer Wissenschaft, die sich am Vorbild der Naturwissenschaft
orientiert, kaum die Kernprobleme der Musik beantwortet werden können (Zuckerkandl,
1963).

Wenn wir nun die Melodie näher ins Auge fassen stoßen wir auf ähnliche Unklarheiten
und Zweifel bezüglich grundsätzlicher Aussagen über ihre Bedeutung und Funktion. Sie
lassen sich nachweisen, wenn man einen Blick auf die historische Entwicklung der
Melodie wirft. Sie offenbart, daß wir es mit einer paradoxen Disziplin zu tun haben,
“denn das einzig Unveränderliche in ihrer Entwicklung, die Jahrtausende zurückreicht,
scheint die Klage darüber zu sein, daß es sie nicht oder noch nicht gebe" (Abraham &
Dahlhaus, 1982, S.10). Johann Mattheson (Mattheson, 1739, S.133) beschreibt diese
Tatsache mit folgenden Worten:

"Diese Kunst, eine gute Melodie zu machen, begreifft das wesentlichste in der Music.
Es ist dannenhero höchstens zu verwundern, daß ein socher Haupt-Punct, an welchem
doch das größeste gelegen ist, bis diese Stunde fast von jedem Lehrer hintangesetzet
wird. Ja man hat so gar wenig darauf gedacht, daß auch die vornehmsten Meister, und
unter denselben die weitläufigsten und neuesten, gestehen müssen: es sey fast
unmöglich, gewisse Regeln davon zu geben, unter dem Vorwande, weil das meiste auf
den guten Geschmack ankäme; da doch auch von diesem selbst die gründlichsten
Regeln gegeben werden können und müssen." .

Es ist augenscheinlich, in welch umfangreichen Kontext die Melodie eingebettet ist. Im


Hinblick auf den musiktherapeutischen Bedeutungszusammenhang sind für mich
zunächst zwei Dinge wichtig: Zum einen ist es das von Even Ruud hervorgehobene,
mehr extern wirkende gesamtkulturelle Bedingungsgefüge, das einen Einfluß auf die
musiktherapeutische Situation ausüben kann und das in der musikalischen
Improvisation in der Form bestimmter musikalischer Ausdrucksmuster oder besonderer
musikalischer Verhaltensweisen erscheinen kann. Zum anderen sind es die von Susanne
Langer beschriebenen, mehr intern ablaufenden wechselnden “Sinnbeilegungen” im
hörenden Erleben von Musik, die bei der Bedeutungsfindung melodischer
Ausdrucksmuster innerhalb der Improvisation eine Rolle spielen können.

Als Metapher des gesellschaftlich-kulturellen Bedingungsgefüges ließe sich die Figur


der russischen Puppe “Babuschka” heranziehen, die ein plastisches Bild dieses sozial-
kulturellen Beziehungsgeflechts zu veranschaulichen vermag.

Resümierend können wir festhalten, daß Musik ein wichtiger Teilbereich unserer Kultur
ist, der in mannigfaltigster Weise in die politisch-gesellschaftliche Lebensorganisation

4
einbezogen ist. Abschließend wird versucht, die Beziehung der Musik (“Melodie”) zu
den vielfältigen gesellschaftlich-kulturellen Aspekten anhand eines graphischen
Schaubilds (s. Abb. 1.1) subsumierend darzustellen:

Politischer
Aspekt
Ökologischer
Aspekt

Gesellschaftlicher
Aspekt
Musik
“Melodie”
Technologischer
Aspekt

Kultureller
Aspekt

Sozialer
Aspekt

Post Moderne

Abbildung 1.1: Die Musik - “Melodie” in ihrem gesellschaftlich-kulturellen Kontext

Um den Begriff der Melodie konkreter zu fassen, wird im folgenden auf seine
etymologische und historische Wurzel zurückgegriffen. Durch die Einbeziehung der
ästhetischen und kulturellen Voraussetzungen wird versucht, den Begriff in einen
umfassenderen Bedeutungszusammenhang zu bringen. Der Aspekt der Expressivität
wird von einer musikwissenschaftlichen und musiktherapeutischen Warte aus betrachtet
und in den Zusammenhang der aktiven, improvisatorischen Musiktherapie gebracht. Das
Kapitel endet mit einer zusammenfassenden Betrachtungsweise, die, von den
musikwissenschaftlich-historischen Tatsachen ausgehend, die musiktherapeutischen
Aspekte reflektiert.

ETYMOLOGIE

Das Wort "Melodie" stammt aus der griechischen Sprache "Melodia" und setzt sich
aus den beiden griechischen Wörtern "Weise" und "Gesang" zusammen. Wörtlich
übersetzt bedeutet es soviel wie "Gesangsweise" (Blume, 1989a). Wichtig für den
Begriffsinhalt des Wortes Melodie (melodia) ist sein Hauptbestandteil: Melos .

5
Ursprünglich wird Melos nicht als musikalischer Terminus benutzt, sondern als pars-
pro-toto Begriff für den gesamten menschlichen oder tierischen Körper, der als ein
gegliedertes organisches Ganzes betrachtet wird (Blume, 1989a). Als musikalischer
Terminus kommt das Wort Melos erstmals in der Götter- und Heldendichtung Homers
und Hesiods vor. Seither bezeichnet es entsprechend seiner ursprünglichen
Verwendungsweise eine Tonfolge oder Tonreihe, die ein gegliedertes organisches
Ganzes darstellt.

Von der griechischen Sprache aus geht das Wort Melodia in die lateinische, italienische,
spanische, französische, englische und deutsche sowie in die slawischen Sprachen über.

Dahhaus (Abraham & Dahlhaus, 1982, S.72) greift die Frage nach der Rolle der
Etymologie und der Bedeutungsgeschichte des Melodiebegriffs auf, indem er generell
zu bedenken gibt: "Ist die Verengung eines Begriffs als Bedeutungsschwund zu
beklagen oder als Zuwachs an Genauigkeit zu begrüßen? Schließen Rehabilitation der
ursprünglichen (weiten) Bedeutung eines Begriffs und dessen Erweiterung zugunsten
gegenwärtiger (oder zukünftiger) Schwierigkeiten der Terminologie einander aus?"
Hierzu ist zu sagen, daß sowohl ein eng gefaßter, als auch ein weit gefaßter Begriff für
die Darlegung seines Bedeutungszusammenhangs wichtig sein kann. Es ist
selbstverständlich, daß enge, präzise Begriffe eine Analyse immer erleichtern. Diese
können sich jedoch als zu eng erweisen, wenn es darum geht, einen
Verständniszusammenhang darzulegen, so daß durch sie der Zugang zu einem Begriff
versperrt ist. Bei einem zu weit gefaßten Begriff besteht andererseits die Gefahr, den
Fokus zu verlieren.

Auf den Kontext dieser Studie bezogen, in der die Interaktion zwischen Patient und
Therapeutin und die expressive Selbstäußerung des Patienten mittels der musikalisch-
melodischen Improvisation im Vordergrund steht, verhilft die ursprüngliche Etymologie,
neue Perspektiven zu entwickeln und Aspekte einzubeziehen, die in der gegenwärtigen,
sich auf rein technische Elemente konzentrierenden musikologischen Sichtweise
verlorengegangen sind. Der Fokus liegt auf der, von dem Patienten improvisierten
Melodie. Konkret heißt das, wie entwickelt der Patient seine Melodie und findet somit
zu seiner eigenen Stimme? Wie findet er zu sich selbst innerhalb des Rahmens eines
größeren gegliederten, organischen Ganzen? Auf welche Weise bezieht er sich zur
Therapeutin und die Therapeutin auf ihn? Die Sichtweise der Bedeutung wird somit auf
die intra- und interpersonelle Beziehung und die Interaktion gelenkt.

H ISTORISCHE W URZELN

6
Von einer musikwissenschaftlichen Betrachtungsweise ausgehend fällt zunächst auf, daß
historisch gesehen es im Gegensatz zu einer fast ungebrochenen Tradition einer
Kontrapunkt - und Harmonielehretheorie keine kontinuierliche Theorie der
Melodielehre gibt (Abraham & Dahlhaus, 1982; Blume, 1989a; Edwards, 1956). Die
Notwendigkeit einer solchen wird zwar nahezu in jedem Jahrhundert neu entdeckt und
proklamiert, jedoch vermuten Abraham und Dahlhaus, daß einer der Gründe, der eine
tragende Melodielehre verhinderte, in der Ungewißheit der Stellung und Funktion der
Melodie innerhalb des musiktheoretischen Systems zu sehen ist. Diese Ungewißheit
äußert sich in dem Zweifel, ob die Melodie elementare, fundamentale oder gerade
umgekehrt zusammenfassende Bedeutung habe, die eine Theorie des Rhythmus und der
Harmonielehre mit einschließt.

Ansätze für Melodielehren gab es, wie bereits erwähnt, in jedem Jahrhundert. Einige
Theoretiker und Komponisten, die sich hierzu äußerten waren u.a. Mattheson, Marx,
Nichelmann, Schulz, Silcher, Sulzer, Reicha, Rameau, Riepel, Koch, Kurth und
Hindemith. Ihre überlieferten Entwürfe zeigen jedoch keine Konzepte, bzw. Postulate
einer Melodiebildungslehre, sondern charakterisieren sich vielmehr durch die
Beziehungslosigkeit ihrer vielfältigen stilistisch - ästhetischen Ausformungen.
Darüberhinaus beschränken sie sich auf einzelne Epochen und veraltern rasch, wie die
Entwürfe von Mattheson, Marx und Hindemith, die vornehmlich als Zeichen ihrer
geschichtlichen Authentizität betrachtet werden können. Das einzige Melodiegesetz, das
sich über die Epochengrenzen hinweg immer wieder überliefert hat, besagt, daß ein
Sprung durch Tonschritte in entgegengesetzter Richtung ausgeglichen werden soll und
umgekehrt (Blessinger, 1930; Blume, 1989a).

Ein weiterer Grund für den Mangel einer traditionellen Melodielehre ist in der
Entwicklung des musiktheoretischen Denkens zu sehen. Die Blickrichtung dieses
Denkens war im Mittelalter ganz auf die Theorie der Einstimmigkeit gerichtet. Die
mittelalterliche Musiktheorie ist somit im Grunde genommen in ihrer Gesamtheit
Melodielehre. Dieses musikalische Denken in Bahnen der melodischen Linearität ist
auch während der folgenden Zeitspanne der Mehrstimmigkeit, die zunächst als
gleichzeitiges Erklingen mehrerer Melodien aufgefaßt wurde, bestimmend. Es
konzentriert sich auf die horizontale Strebigkeit der Stimmverläufe und zeigt sich in
ihrer linearen Selbständigkeit, sowie kontrapunktischen Gleichberechtigung innerhalb
der polyphonen Satzgebilde der Zeit vor und nach Bach. Im gleichen Maße jedoch, in
dem das Bewußtsein für Phänomene des Zusammenklanges entsteht, nimmt das
theoretische Bewußtsein für Melodik im Sinne linearer Stimmführung ab und geht mit
der Konstituierung der Harmonielehre als der Lehre von den Akkorden quasi in dieser
auf (Abraham & Dahlhaus, 1982).

7
Der entscheidende Wendepunkt ist die um 1730 vollzogene tiefgreifende satztechnische
Wandlung, in der das lineare Prinzip durch das periodische abgelöst wird. Diese
Veränderung zeigt sich besonders im homophonen Satz mit seiner führenden
Oberstimmenmelodik und seiner vom Tanz herstammenden Periodenbildung. In
Liedern und Tänzen tendiert die Periodenbildung seit je durch Versbau und Schrittfolge
zu Symmetrie und dualen Bildungen, also zu Korrespondenz und Entsprechungen.
Melodien der klassischen Epoche zeigen häufig eine schematische Harmonik, die der
Melodie nicht als Substanz, sondern als stützender Hintergrund dient, von dem sich die
diastematisch-rhythmischen Ereignisse und Nuancen abheben.

Die Dominanz einer sich entwickelnden Harmonielehre, in der die Melodielehre aufgeht,
ist zum Teil auf die traditionellen Bindungen an das 19. Jahrhundert zurückzuführen,
das ein "harmonisches" Stilkapitel der Musikgeschichte ist. Im Vordergrund stehen hier
z. B. modale Quint - Oktavstrukturen, oder tonale Tonika-Dominant-Modelle, nicht aber
die Melodie selbst mit ihren besonderen individuellen Tonbeziehungen. Die Harmonik
läßt sich weitgehend systematisieren, nicht aber die Melodik.

Komponisten und Theoretiker dieser Zeit haben bereits auf die verschiedenen
musikalischen Momente hingewiesen, die in einer Melodie zum Tragen kommen
können. Wagner trat z. B. für die “unendliche Melodie” ein, die “sich wie ein
ununterbrochener Strom durch das ganze Werk ergießt” (R. Wagner in Meierott &
Schmitz, 1980, S. 156). Der innere Zusammenhang seiner Musikdramen wird durch
“ein Gewebe von Grundthemen” gewonnen, die als “Ergänzung oder Kundgebung der
Personen erscheinen sollen”. Die gesungene Prosamelodie reflektiert den individuellen
Charakter der Personen, während das Orchester zum Werkzeug der Gestaltung der
Melodie wird. Mittels zahlreicher harmonisch-motivischer und melodischer Bezüge
(Leitmotivtechnik) weist es auf die im Text unausgesprochenen emotionalen
Beziehungen zwischen den Personen und Ereignissen hin. Andere Theoretiker, wie
Bellermann und Toch haben das rhythmische Element in der Melodie hervorgehoben,
Riemann und Busoni hingegen das harmonische. Busoni und Halm führten Begriffe
wie “latente Harmonie” und “immanente Harmonik” ein, denen die Erkenntnis
zugrunde lag, daß beim Hören bestimmter Melodiefolgen stereotype
Harmonievorstellungen hervorgerufen werden können (Abraham & Dahlhaus, 1982, S.
85). Darunter fallen z. B. choralmäßige Melodien, deren melodischer Verlauf aus einer
gleichmäßig fortschreitenden Sekundbewegung und kleinen Sprüngen besteht. Die
immanente Harmonik faßt in diesem Fall den melodischen Tonwechsel als immanent-
harmonischen Akkordwechsel auf. Zu erwähnen wären auch die Melodien, deren Dur- /
Molltonalität durch Akkordbrechungen, Tonleiterausschnitte und Kadenzführungen
gekennzeichnet sind. Auch sie bestätigen die harmonischen Implikationen. Die

8
Parameter Tonhöhe, Tondauer, Rhythmik und Harmonik wurden zwar in der Musik des
18./19. Jahrhunderts in den Themen und Melodien bewußt unterschieden, aber noch
nicht trennbar behandelt.

Während bis ins 18. Jh. der Vorrang des Vokalen noch ungebrochen war, rückte er
durch die im 18. /19. Jh. an Bedeutung gewinnende Instrumentalmusik in den
Hintergrund. Dabei übertrugen sich die strukturellen Merkmale der gesungenen
Melodie auf die der Instrumentalmelodie, und zwar entsprechend ihrer technischen
Voraussetzungen (größerer Tonumfang, größere Beweglichkeit) der Instrumente.

Zusammenfassend erscheinen hier noch einmal die wichtigsten Merkmale:

• Die Mittelalterliche Musiktheorie ist in ihrer Gesamtheit Melodielehre, das heißt eine
Theorie der Einstimmigkeit.

• Zur Zeit der Mehrstimmigkeit verlagert sich das Interesse auf diesen neuen Aspekt,
der Gleichzeitigkeit von mehreren Stimmen.

• Trotz des Aspekts der Mehrstimmigkeit bewegt sich das musikalische Denken noch
jahrhundertelang in den Bahnen melodischer Linearität. Die Mehrstimmigkeit wird
als Verknüpfung und gleichzeitiges Erklingen mehrerer Melodien beschrieben.

• Allmählich entwickelt sich ein Begriffsapparat für die Phänomene des


Zusammenklangs, der immer genauer und präziser wird. Im gleichen Maße nimmt
jedoch das theoretische Bewußtsein für die Melodik ab.

• Es erfolgt die Konstituierung der Harmonielehre, als Lehre von den Akkorden und
ihren Zusammenhängen. Die “Melodielehre” geht in die Harmonielehre ein.

Die Melodie ist heute also als historischer Gegenstand zu verstehen, der nicht nur von
den musikalischen Entwicklungsstadien beeinflußt ist, sondern diese auch substantiell in
sich trägt.

Diese historischen Tatsachen bergen auch die bestimmten Vorstellungen und


Erwartungen über das, was Melodie beinhalten soll, in sich. Sie bilden sich als
musikästhetische Ideen und Paradigmen heraus, die sich nicht nur aus den jeweiligen
musikalischen Erfahrungen ableiten lassen, sondern in enger Verbindung mit den
wechselnden historischen Bedingungen stehen.

Der nächste Abschnitt geht auf einige dieser ästhetischen Aspekte ein, die für ein
umfassendes Verständnis des heutigen Melodiebegriffs eine Rolle spielen.

9
Ä STHETISCHE V ORAUSSETZUNGEN

"...das freie Tönen der Seele im Felde der Musik ist erst die Melodie"

Hegel in (Nowak, 1971, S. 134)

Der Terminus "Aesthetica" wurde erst 1750 von dem Philosophen Alexander
Baumgarten geprägt und erscheint seitdem als selbständige philosophische Disziplin.

Die vielen Versuche, `Aesthetik` zu definieren, sei es als Theorie der Wahrnehmung,
Philosophie der Kunst oder Wissenschaft vom Schönen beurteilt Dahlhaus, gemessen
am vieldeutigen Phänomen, als zu eng, dogmatisch und einseitig (Dahlhaus, 1967). Für
ihn kann eine nähere und gerechtere Bestimmung dieses Begriffes nur einhergehen mit
der grundsätzlichen Erkenntnis, daß wir es weniger mit einer fest umrissenen Disziplin
als mit einem vagen und weitgespannten Begriff zu tun haben. Dieser stellt sich selbst
als Inbegriff von Problemen und vielfältigen Gesichtspunkten dar, die zu einem
Komplex mit einem Namen zusammengewachsen sind.

Aufgrund dieses problematischen und vieldeutigen Hintergrunds werden im folgenden


nur die ästhetischen Hintergründe erwähnt, die hilfreich für das heutige Verständnis von
Melodie sein können. Dabei werden einzelne Aspekte herausgegriffen, wie ‘Aisthesis`,
‘ästhetisches Erlebnis`, ‘Kunst als Naturgegebenes`, ‘Inspirationsästhetik`, ‘tönende
Bewegung` und ‘dynamische Form`.

"Aisthesis"

Der von Alexander Baumgarten geprägte Begriff “Ästhetik” wurde im 18. /19. Jh. in
Deutschland zu einer selbständigen philosophischen Disziplin. Entsprechend seiner
griechischen Wurzel: “aisthesis” = Wahrnehmung und sinnliche Erkenntnis, bedeutete
dieser Begriff zunächst: Theorie der Wahrnehmung des Schönen als des Sinnlich-
Vollkommenen (Dahlhaus, 1967; Welsch, 1994).

‘Aisthesis` meint einerseits Wahrnehmung, andererseits Empfindung. Während sich die


Wahrnehmungskomponente auf genuine Sinnesqualitäten, wie Farben, Töne,
Geschmäcke, Gerüche richtet, dient die Wahrnehmung deren Erkenntnis. Die
Empfindungskomponente der ‘aisthesis` ist gefühlshaft ausgerichtet und bewertet das
Sinnhafte im Horizont von Lust und Unlust. Zwischen beiden Ausrichtungen bestehen
Stufenunterschiede. Während die Lust als primäre Sinneslust von vitalen Interessen
bestimmt ist, muß sich die Wahrnehmung um des Erkennens willen von ihr distanzieren.
Die Distanz ist notwendig, um die sinnlichen Prädikate möglichst objektiv feststellen zu
können. Auch die Empfindungsseite wandelt sich durch die Verpflichtung zum reinen

10
Wahrnehmen zu einem höheren Typus: der Lust eines reflexiven Wohlgefallens oder
Mißfallens. Dieser beurteilt seine Gegenstände nicht wie die primäre Empfindung nach
Vitalkriterien, also etwa als aufreizend, wohlschmeckend oder ekelerregend, sondern
nach Reflexionskriterien wie schön, wohlgefällig, harmonisch oder abstoßend, häßlich
und gestört. Kant hat diesen Niveau-Unterschied als das Erdgeschoß des Sinnen-
Geschmacks und das Obergeschoß des Reflexions- Geschmacks bezeichnet (Welsch,
1994). Beide Ebenen verdeutlichen die Geburtsstätte des spezifisch ästhetischen Sinns:
den des Geschmacks.

"Ästhetisches Erlebnis"

Auch Roman Ingarden (Ingarden, 1968, S. 199) äußert sich zu der gefühlshaft
ausgerichteten Empfindungskomponente der ‘Aisthesis ` und beschreibt, wie es zu
einem ästhetischen Erleben kommen und was dieses bewirken kann. Die
Empfindungskomponente nennt er “Ursprungsemotion”, ein Gefühl, das vom Objekt
des ästhetischen Erlebnisses in dem Hörer oder Betrachter hervorgerufen wird. Es ist
diese bestimmte Eigenschaft des Gegenstandes, die den Hörer/Betrachter “nicht kalt”
läßt. Das spezifisch ästhetische Erleben setzt also ein Angerührtsein, eine subjektive,
gefühlsmäßige Beziehung zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter voraus. Das
Betroffensein ist für Ingarden die Urbedingung der ästhetischen Erfahrung. Aus dieser
Betroffenheit, der “Ursprungsemotion” heraus kann folgendes bewirkt werden:

• Die aktuelle Wirklichkeit rückt in den Hintergrund des Interesses, um dem


angesprochenen Sinn, wie dem Gehör- oder Sehsinn mehr Raum zu geben. Dieses
bewirkt eine Fokussierung oder gewisse Einengung des Bewußtseinsfeldes auf
einen einzigen Sinn und gleichzeitig eine Zurückstellung einer praktischen
Einstellung ( Handlung).

• Das “Jetzt” des ästhetischen Erlebnisses ist von anderer Art. Es unterscheidet sich
von den Jetzt-Momenten des täglichen Lebens. Der Mensch wird in dem
Augenblick, da er von der praktischen zur ästhetischen Einstellung übergeht,
sozusagen ein neues Ich, mit dem ein neues Zeitempfinden beginnt. Das ästhetische
Erleben ist ein Leben im Augenblick.

• Bei der ästhetischen Einstellung kommt es in erster Linie auf die Qualitäten und
Verhältnisse an, also auf das “Wie”. Der ästhetische Blick oder das ästhetisch
Wahrgenommene verweilt im Angerührtsein und versucht das Objekt nicht zu
durchdringen. Die wirklich “seiende” Eigenschaft tritt in den Hintergrund,
wohingegen die faszinierende Eigenschaft zum Zentrum der Kristallisation der
Phantasietätigkeit wird.

11
(Anmerk.: Hierin liegt die häufig zu beobachtende abweisende Haltung gegenüber
Analysen begründet, die die Erfahrung von Musik nicht auf eine leblose Begrifflichkeit
reduzieren möchte.)

Die von Ingarden beschriebene “Ursprungsemotion” verursacht im Betrachter Unruhe;


er verspürt ein Verlangen in sich, die Qualität, von der diese Unruhe erregt worden ist,
auszukosten und wendet sich ihr auf`s neue zu. Es setzt ein Spiel zwischen dem
Betrachter und dem Objekt ein. Für die Qualität, die ihn erregt, verlangt seine Phantasie
bestimmte Ergänzungen. Der Betrachter vollzieht den Gegenstand in seiner Phantasie
nach, er schafft ihn neu. Dieser angeregte Schaffensprozeß zielt auf den ästhetischen
Gegenstand, ist somit Zielpunkt der Intention und der Aufmerksamkeit des Sehenden
oder Hörenden. Ingarden (Ingarden, 1962) versteht hier Intention im Sinne der
Phänomenologie Husserls. Mit `Intentionalität` meint er die Eigenart jeglichen
Bewußtseins, Bewußtsein von etwas zu sein. Somit sind Erkennen, Vorstellen, Fragen,
Wünschen, Sich freuen, Enttäuschtsein intentionale Akte, denn sie sind stets bezogen
auf eine Sache oder einen Sachverhalt (vgl. auch Kapitel 2, Abschnitt `Intentionalität`).

(Anmerk.: R. Ingarden überträgt die phänomenologische Methode seines Lehrers E.


Husserl auf die Musik und die bildenden Künste. Seine Resultate decken sich zumeist
mit denen des Musikers Boris de Schloezer)

12
Dieser, von der ‘Ursprungsemotion’ angeregte Schaffungsprozess bewirkt also, daß der
Betrachter den ästhetischen Gegenstand (Landschaft, Bild, Gedicht, musikalisches
Werk) in sich selbst nachschafft. Er könnte im Bereich der Musik als aktiver Vorgang
betrachtet werden, der sich bei der Aufführung einer musikalischen Improvisation
realisiert.

"Kunst als Naturgegebenes"

Die Vorstellungen und Erwartungen über das, was Melodie beinhalten soll sind
Auswirkungen einer Ästhetik, die den Faktor Melodie im 18./19. Jahrhundert besonders
hervorhebt. Das 18./19. Jh. gilt als eine Epoche der ästhetischen Reflexion. Die
ästhetischen Äußerungen über den Melodiebegriff während dieser Zeit sind im
Zusammenhang mit der allgemein herrschenden Kunstauffassung zu sehen, die bis in
die Kunsttheorie der Renaissance zurückreicht und im 18./19. Jh. in den verschiedenen
ästhetischen Konzeptionen, wie Kants "Kritik der Urteilskraft" und Wagners Theorie
des Musikdramas wiederkehrt (Dahlhaus, 1967). Diese allgemeine Kunstauffassung
äußert sich in der Forderung, daß die große Kunst, um als solche zu erscheinen,
verbergen müsse: "nascondere làrte" (Abraham & Dahlhaus, 1982). Kunst habe als
"Naturgegebenes" und nicht als "Gemachtes" zu erscheinen.

Um sich als Kunst rechtfertigen zu können, wurde von der Musik und den anderen
Künsten gefordert, als Nachahmung der Natur zu erscheinen (Nachahmungsästhetik).
Unter Natur verstand man einerseits die äußere Natur, andererseits die innere Natur des
Menschen, also Gefühle und Seelenzustände. Während im 18./19. Jh. das
Nachahmungsprinzip z.B. mit Hilfe der Tonmalerei realisiert wurde, “malte” zur Zeit
des Barock die Musik mit den Stilmitteln dieser Epoche einen Affekt, der, wie zum
Beispiel bei Händel, als Arie einen ganzen Satz bestimmen konnte. Unter “Affekt”
verstand man einen Seelenzustand, der im Unterschied zu einer flüchtigen
Gefühlsregung längere Zeit andauerte und eine fest umrissene innere Verfassung
darstellte. Die sich als Teil der Nachahmungsästhetik herausgebildete “Affektenlehre”
ist von Anfang des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts charakteristisch für Arien und
Instrumentalsätze des Barockzeitalters.

Nach den Vorstellungen des 18./19.Jh. ist der Inbegriff dieses “Natur-Gegebenen” die
Melodie. Zwar wird, bedingt durch ihre Form und Satzstruktur, der artifizielle Charakter
der Melodie nicht verleugnet, doch im Vordergrund steht die Forderung, daß

13
Melodie als ein Stück Natur und nicht als Artefakt zu wirken habe. In den Vorstellungen
jener Zeit ist unter natürlicher Melodie die einerseits begrenzte, regelmäßig gegliederte,
andererseits die kantable und expressive Periode zu verstehen. Diese Abkehr vom
Artifiziellen hatte zur Folge, daß ein Sinn für musikalische Reflexion, der z. B.
weitreichende melodische Zusammenhänge hätte erkennen können, verkümmerte und
ein Bewußtsein dafür, wie eine Melodie gemacht ist, nicht weiter ausgebildet wurde.

"Inspirationsästhetik"

Einen weiteren Einfluß auf die Bedeutung des heutigen Melodiebegriffs hat die
Inspirationsästhetik des 19. Jh. ausgeübt, die schroff zwischen dem melodischen,
natürlich gegebenen Einfall (der Inspiration), die nicht lehrbar ist, und einer
kunstverständigen, satztechnisch - formalen Ausarbeitung unterscheidet. Nach den
Vorstellungen des 19. Jh. läßt sich die musikalische Expressivität am deutlichsten in der
Melodie ausdrücken. Beeinflußt wurden diese Vorstellungen durch Hegels
Musikästhetik, die hervorhob, daß der Mensch in der Melodie sein Inneres, seine Seele
auszudrücken vermag, dadurch aber auch gleichzeitig in der Lage ist, sich von einem
möglichen Freudens - oder Leidensdruck zu befreien (Abraham & Dahlhaus, 1982).
Für Hegel ist das Innere des Menschen nicht nur in sich selbst versunken, sondern steht
gleichsam neben sich. Indem ein Gefühl zugleich gegenwärtig und ferngerückt erlebt
wird, kann es befreiend wirken. Diesen Doppelcharakter des Gefühls (zugleich
emphatisch und distanziert ) sieht Hegel in der bestimmbaren Beziehung der Melodie
zur Taktrhythmik und tonalen Harmonik des 17. bis 19. Jahrhunderts begründet. In den
Regeln und Strukturen der musikalischen Aspekte Rhythmik und Harmonik sieht er
weniger einen Zwang, als einen Halt, auf den sich die Melodie stützen kann, um nicht ins
Gestaltlose zu verfließen. Auch Rousseau und Herder räumen der Melodie, dem Neuen,
Charakteristischen und Typischen die Priorität vor der Harmonie ein und wenden sich
mit dieser Anschauung gegen die Auffassung Rameaus, der in dem Generellen, im
System der Harmonik, die Substanz der Melodie erblickt (Blume, 1989a). Der Kontrast
zwischen Rameau und Rousseau zeigt sich insbesondere in der Grundanschauung
Rameaus, die die physikalische Natur der Musik hervorhebt und eine menschliche
Essenz grundsätzlich negiert (Scott, 1997).

Diese Besonderheit des melodischen Gefühlsausdrucks, die Gleichzeitigkeit von


Versunkensein und Darüberstehen, hängt mit einem Grundzug des Musikempfindens
im 19. Jahrhundert zusammen, Gefühle zu suchen, sich aber gleichzeitig von ihnen zu
distanzieren. Somit spiegelt die ästhetische Bestimmung der Melodie dieser Zeit die
Charakteristik des 19. Jahrhunderts: als Epoche der Romantik und des Positivismus ist
sie zugleich ein sentimentales und pragmatisches Zeitalter (Abraham & Dahlhaus,
1982).

14
Während also der Melodiebegriff im 19. Jahrhundert die melodische Technik kaum
reflektierte, da der melodische Gedanke als selbstverständlich und natürlich angesehen
wurde, wird diesem Ende des 19. und im 20. Jahrhundert, im Zuge der analytischen
Erkenntnisse mehr Raum gegeben. Diese Entwicklung steht auch in Verbindung mit
einer sich wandelnden ästhetischen Kunstreflexion.

“Tönende Bewegung”

Ausgangspunkt der Theorien einiger Musikästhetiker des 20.Jahrhunderts ist die


allgemeine Ansicht, daß Musik tönende Bewegung sei. Diese auch als “Energetiker”
bezeichneten Theoretiker führen ihre Theorien auf eine hypothetische Energie zurück,
die von August Halm “Wille” und von Ernst Kurth “Kraft” genannt wurde (Dahlhaus,
1967). Kurth stützt sich u.a. auch auf Riemanns Beobachtungen über die innere
Dynamik von melodisch-rhythmischen Gestalten. Seine Theorie der “kinergetischen
Energie” reduziert jedoch die innere Dynamik des Rhythmus und der Harmonik auf die
Melodik als das musikalisch “Ursprüngliche”. Kurth`s Versuch, die
“Bewegungsenergie” zu einer Wesenheit zu hypostasieren findet im musikästhetisch-
theoretischen System Widerstand. Zwar kann Bewegung, wie allgemein anerkannt, als
das “Zugrundeliegende” der Musik angesehen werden, doch ist sie nicht unmittelbar an
sich, sondern nur mittelbar, am Zusammenwirken melodischer und rhythmischer
Momente erkennbar (Blume, 1989a, S. 39).

Das Phänomen der Bewegung hängt mit dem des Tonraums eng zusammen. Hierbei
wird im Hinblick auf das melodische Element die Differenz zwischen sukzessiven
Tönen zu räumlich vorstellbaren Distanzen. Töne werden jedoch nicht nur als hoch und
tief, sondern auch als hell, dunkel, spitz, weich, warm oder schwer empfunden. Auf das
Notenbild bezogen verschränken sich hier konventionelle mit naturgegebenen
Momenten. Daß die Abbildung dieser Empfindungen in die Vertikale und Horizontale
der Notenschrift erscheint, beruht nach Dahlhaus (Dahlhaus, 1967, S. 118) auf der
Pointierung einer der Auffassungsmöglichkeiten, die im Phänomen selbst enthalten
sind.

"Dynamische Form"

Boris de Schloezer (Zimmermann, 1978) konzentriert sich in der Frage nach dem
ästhetischen Sinn auf das musikalische Kunstwerk selbst. Dieser äußert sich für ihn
durch seine Form. Unter Form versteht er dabei nicht ein verständiges Ordnungsprinzip,
wie es etwa in der Formenlehre Sonate oder Rondo darstellen. Diese liefern nur “den
Plan für seine schöpferische Tätigkeit, den Rahmen, innerhalb dessen er seine
organischen Systeme schafft”. Zu den organischen Systemen gehören für ihn

15
Melodien. Diese vergleicht er mit lebendigen Körpern, bestehend aus Gliedern und
Teilen, die innerhalb des Ganzen nur in Abhängigkeit voneinander und in Beziehung
zueinander ihren ästhetischen Sinn erhalten. Im Sinne Schloezers ist Form nicht der
Behälter, sondern der Inhalt. Sie ist etwas Dynamisches, das ihre Elemente in etwas
Organisches, in Glieder verwandelt. Was die ästhetische Einstellung, also das
Angerührtsein im Hörer erweckt und ihn anspricht, ist die innere Form des organischen,
individuell einmaligen Kunstwerks.

Diese ästhetische Grundhaltung, die sich in der Idee eines Werkes zeigt, das seine
Vollkommenheit in sich trägt und eine Welt ausdrückt, die vom Hörer aktiv erlebt
werden muß, damit sie sich als organischer Gedanke konkretisieren kann, beruht auf
historischen Bedingungen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts haben sich diese vehement
gewandelt. Seit die Moderne eine unübersehbare Vielfalt von Werkformen und
Anschauungsweisen hervorgebracht hat, ist Pluralität zum Grundprinzip geworden
(Welsch, 1994). Dabei geht es nicht um Unterschiede auf gemeinsamer Basis, sondern
um Basisunterschiede. Die Werke erzeugen, bzw. vertreten unterschiedliche Paradigmen
und verlangen dementsprechend auch unterschiedliche Kriterienansätze. Daher ist es für
das ästhetische Bewußtsein der Moderne im Hinblick auf die Kunst üblich geworden,
von der grundsätzlichen Pluralität der Paradigmen auszugehen. Dieses hat mit einem
grundsätzlichen Wandel des Kunstbegriffs zu tun. Die Idee einer etablierten Wahrheit,
Schönheit und Macht, die in der ästhetischen Grundhaltung des letzten Jahrhunderts
zum Ausdruck kam und durch ein Kunstwerk vermittelt werden konnte, wird mit der
zeitgenössischen Musik, die radikal gegen eine Trennung von Kunst und Leben eintritt,
umgeworfen.

Auch die ästhetische Bestimmung der Melodie ist von den vielfältigen
Materialkonzeptionen abhängig. Sie steht im Spannungsfeld einer Heterogenität, die
sich nicht nur innerhalb einzelner Werke, sondern auch in der Divergenz künstlerischer
Paradigmen zwischen verschiedenen Werken und der Sphäre der Künstler ergibt. Am
deutlichsten wird dieses von John Cage und Jasper Johns zum Ausdruck gebracht: ”to
conceive of avant-garde expression is merely to confront this paradox in its most acute
form: anything goes only in so far as there is a language in which to say it.” (Harrison
& Wood, 1992, S.683-84).

K ULTURELLE V ORAUSSETZUNGEN

Der vielfältige Wandel des Melodiebegriffs und seine unterschiedlichen


Betrachtungsweisen hängen insbesondere auch von kultur-historischen und
geographisch-ethnologischen Faktoren ab. Diese lassen sich z.B. an Hand der
individuellen Gestaltungsmerkmale außereuropäischer melodischer Formeln

16
nachweisen, die, auf improvisatorischer Grundlage aufbauend, häufig gleitende
Tonverbindungen zeigen. Hier stehen sich zwei grundverschiedene Ausdrucks- und
Auffassungsformen gegenüber: die eine stammt aus der Tradition der westlichen
Musikkultur, mit der exakten Festlegung jedes Tones einer Melodiefolge, die sich als
geschriebene Musik weiter verbreitet. Davon unterscheidet sich die andere, vornehmlich
mündlich überlieferte Ausdrucksform, die als soziale Gewohnheit, mit Hilfe des
kreativen Hervorbringens und Veränderns musikalisch tradierter Systeme, ihre eigenen
klar erkennbaren Stile konstituiert (Brailoiu, 1984).

Es gibt keinen Maßstab, der über die Sprach- und Kulturzusammenhänge hinausgreift,
um ein zusammenhängendes System aufzubauen. Die Vielfalt der Erscheinungen kann
nur nach anthropologischen und ethnologischen Gesichtspunkten geordnet werden,
wobei besonders in den Hochkulturen ältere und jüngere Kulturelemente nebeneinander
stehen können (Wörner, 1965, S. 22).

Im Hinblick auf einen allgemeinen, umfassenden Wandel des musikalischen Stils


unterscheidet C. Sachs (Wörner, 1965, S. 26) zwischen logogener (wortgezeugter) und
pathogener (rauschgezeugter) Melodik. Aus beiden Formen entsteht die
melodiegezeugte, melogene Melodik, bei der auf höheren Kulturen ein Ausgleich
zwischen den ersten beiden Typen geschaffen wurde. Neben solchen Typen, die nicht an
bestimmte Kulturräume gebunden sind, lassen sich kulturspezifische Sondertypen der
Melodik nachweisen, wie z.B. die Treppenmelodik der Indianer, oder die strenge
metrische Vierteiligkeit der chinesichen Melodik.

Interessante Einblicke werden auch durch Benzon`s (Benzon, 1993) Ausführungen über
die kulturelle Entwicklung expressiver Formen gewonnen. Benzon behauptet, und er
stützt sich dabei auf vorangegangene Studien, daß unsere Grunderfahrungen von Musik,
wie auch alle unsere Elementarerfahrungen, holistisch sind. Auf die Musik bezogen
bedeutet dieses, daß wir sie zunächst undifferenziert als Ganzheit wahrnehmen und erst
allmählich in der Lage sind, unseren musikalischen Gesamteindruck in Rhythmus,
Melodie und Harmonie zu differenzieren. Er argumentiert weiter, daß sich nur durch den
langen Prozeß der kulturellen Entwicklung die Elemente Rhythmus, Melodie und
Harmonie klar unterscheiden konnten und schlägt, indem er sich auf die Diskussionen
Wioras beruft, folgende Entwicklungsstadien vor, die hier verkürzt wiedergegeben
werden:

• "Rank 1" Kultur: rhythmisch orientiertes Stadium (die ersten Kulturen und
Gemeinschaften von den Sprachanfängen beginnend bis zur Entwicklung der
Schrift; Musik der einheimischen Kulturen Nord -, Südamerikas und Afrikas).

17
• "Rank 2" Kultur: melodisch orientiertes Stadium (die hohen Zivilisationen der
Antike mit Schriftsystemen, Städtebau und einer permanenten Agrikultur; Musik des
Nahen und Fernen Ostens und des mittelalterlichen Europas).

• "Rank 3" Kultur: harmonisch orientiertes Stadium (Zeit der Renaissance und der
Industriellen Revolution; Musik der Klassik und Romantik).

• "Rank 4" Kultur: klangfarben orientiertes Stadium (die sich noch im gegenwärtigen
Arbeits - und Entwicklungsprozeß bewegenden Künste und Wissenschaften).

Rhythmus, Melodie und Harmonie bilden die elementaren Grundmaterialien der Musik.
Somit hat jeder "Rank" seine eigenen charakteristischen Wege der Entwicklung einer
besonderen Aufführungspraxis, die aus dem jeweiligen, speziellen Grundmaterial
(Rhythmus, Melodie oder Harmonie) hervorgeht:

• "Rank 1" : Rhythmus, Entwicklung zur Phrase

• "Rank 2" : Melodie, Entwicklung zur Führung, bzw. führenden Stimme

• "Rank 3" : Harmonie, Entwicklung zur Architektonik

Benzon hält fest, daß diese Ordnung in der Sache selbst begründet ist und erläutert
dieses, indem er feststellt: "Musik entfaltet sich in der Zeit. Wie kann man Kontrolle
über die Melodie erlangen ohne zuvor die Kontrolle über die zeitliche Entwicklung, den
Rhythmus erfahren zu haben? Und wie kann man über die Kontrolle gleichzeitig
erklingender Stimmen - das heißt der Harmonie verfügen, ohne zuvor die Kontrolle über
Tonhöhenmuster individueller Melodielinien, nämlich die Melodie erlangt zu haben?"
(Benzon, 1993, S. 279). Ein ähnliches Argument, das von der Sichtweise einer
allgemeinen Eigenschaft des Rhythmischen ausgeht, finden wir bei Langer (Langer,
1992, S. 248). Sie hält es für wahrscheinlich, daß sich die rhythmische Struktur der
Musik als erstes formalisiert und präzisiert hat, da sich der Rhythmus als
nichtmusikalisches Mittel, ähnlich wie das Wort, stabiler und definitiver äußern kann als
die Tonhöhe.

18
Kapitel 2

Merkmale des heutigen Melodiebegriffs

Unser Verständnis des heutigen Melodiebegriffs trägt auch die Merkmale des älteren
extentidos
und weitgespannten Melodiebegriffs der Antike in sich, der zwei Perspektiven von
Melodie zum Ausdruck bringt: eine weitreichende und eine enge (Blume, 1989a). Die
weitreichende Perspektive von Melodie beinhaltet drei Momente:

• Harmonia (das Zusammenstimmen der Töne)

• Rhythmos (die Zeitgliederung, die Bewegungsordnung der Töne)

• Logos (die Sprache, der Text, das Wort)

Die engere Perspektive definiert Melodie als eine Sequenz von Tönen, die sich durch
ihre Höhe und Tiefe unterscheiden, bekannt als Diastematik, der horizontalen
[neue Impulse erzeugendes] Verhältnis von Position und Gegenposition
Anordnung der Töne. Damit erfassen wir das Spannungsverhältnis der
aufeinanderfolgenden Töne und ihre Beziehung zueinander. Seit der Antike ist diese mit
Melos bezeichnete Eigenschaft der Melodie als Verlauf bestimmt worden (s. Abschnitt
‘Etymologie’), der im Werden seine Bestimmung hat. Aus der Wahrnehmung des
Werdenden und der Erinnerung des Gewordenen setzt sich nach Aristoxenos von
Tarent das Verstehen der Musik zusammen. aristotélico del siglo IV a. C.

Die Diastematik bildet einen wichtigen Aspekt melodischer Charakteristik. Verschiedene


typische Verläufe mit hohem Stilisierungsgrad können hier erwähnt werden (Benary,
1978, S. 35):

Abbildung 2.1: A, Wellenbewegung.

A (s. Abb. 2.1) beschreibt einen von dem Zentralton ausgehenden melodischen
Kurvenverlauf, der häufig mit Wellenbewegung gekennzeichnet wird. Als Beispiel für
diesen typischen Verlauf kann Beethovens Freudenhymne aus dem letzten Satz seiner 9.
Symphonie herangezogen werden.

Abbildung 2.2: B, Bogenverlauf.

19
B (s. Abb. 2.2) stellt den Bogenverlauf eines steigend-fallenden Linienzugs dar, der der
einfachste und am natürlichsten wirkende innerhalb unserer Melodieauffassung ist.
Anstieg und Fall im Sinne von Spannung und Entspannung sind bei den Melodien
präsent, die auf Faßlichkeit und Überschaubarkeit abzielen. Diesem Typ entspricht z.B.
das Moldauthema von Smetanas Zyklus “Mein Vaterland”.

Abbildung 2.3: C, Erweiterung und Entfaltung des Bogenverlaufs.

Abbildung 2.4: D, Spiegelung des erweiterten Bogenverlaufs.

C (s. Abb. 2.3) kann als Entfaltung des Typs B angesehen werden, die den ansteigenden
und abfallenden Bogenverlauf erweitert und abrundet. D (s. Abb. 2.4) ist das
Spiegelbild von C. Der zuletzt genannte melodische Verlauf ist, bedingt durch seine
weniger natürlich wirkende beginnende Fallrichtung, seltener anzutreffen. Ein Beispiel
für den zuletzt genannten typischen Verlauf D ist das Finalthema der ersten Symphonie
von Brahms.

Die sich aus dem melodischen Verlauf ergebenden Tonspannungen hängen weitgehend
vom Stimmungssystem (natürliche oder temperierte Stimmung), der Satztechnik, dem
historisch und individuell geprägten Empfinden sowie von der Klangfarbe ab.
Subjektive Faktoren spielen in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Vielleicht ist,
wie schon erwähnt (s. Abschnitt ‘Historische Wurzeln’), in diesem
Spannungsgeschehen des diastematischen Verlaufs eine der wenigen gültigen Regeln
begründet, die nach einem Sprung einen Schritt in Gegenrichtung fordert.

Diese in der Antike mit Melos gekennzeichnete Perspektive ist nicht nur auf bloße
Tonhöhenunterschiede beschränkt. Um sie genauer zu kennzeichnen müssen wir
mehrere Tatsachen in Erwägung ziehen (Blume, 1989a). Erstens: das Melos hat einen
Richtungssinn, indem es sich im Tonraum bewegt. Zweitens: der Eindruck von
Distanzen kann entweder als Raum-Analogie verstanden werden oder besagen, daß
zwischen zwei Tönen mehr oder weniger Nuancen angenommen werden, ähnlich wie
zwischen Rot und Blau oder Rot und Violett. Drittens: ein Tonsprung setzt
Zwischenstufen voraus. Somit wird die Terz in der Pentatonik nicht als Sprung
betrachtet. Der Eindruck eines "Schritts" oder "Sprungs" wird auch durch die
Tonverwandtschaft mitbestimmt. Der mitunter im Sinne der temperierten Skalen

20
verwendete Begriff der Distanzmelodik setzt psychologisch voraus, daß gleiche
Proportionen von Schwingungen als gleiche Abstände von Tonempfindungen erkannt
werden. Viertens: die Anfangs- und Endtöne, sowie die Hoch- und Tiefpunkte bilden die
"points d`attraction", die ein Melos artikulieren, ohne auf Tonverwandtschaften und
Bewegungsvorgänge reduziert werden zu müssen.

Husserl (Blume, 1989a) bezieht sich auf die Teileigenschaften der Melodie (weite und
enge Perspektive), indem er das Hören einer Melodie als eine “Synthesis der
Explikation” beschreibt, da es immer ein Zusammenfassen verschiedener Momente, wie
Diastematik, Rhythmus und Dynamik bedeutet. Dabei macht er deutlich, daß trotz
Konzentration auf die einzelnen Elemente das Interesse am Ganzen nicht durch die
Explikation abgelenkt wird, sondern die Melodie in ihrer Gesamtheit immer Gegenstand
der Betrachtung bleibt.

Melodie ist also als eine umfassende musikalische Erscheinung zu betrachten. Sie setzt
sich aus vielen charakteristischen Einzelelementen zusammen, die in ihrer Beziehung
zueinander und in der Art ihres Gesamtgeflechts die Ganzheit der Melodiegestalt und
ihre Ausdrucksweise bestimmen.

Im Riemann-Lexikon werden die inhaltlichen Vorstellungen des kontemporären


Melodiebegriffs folgenderweise bestimmt (Dahlhaus & Eggebrecht, 1979, S. 110):

" Melodie ist die in der Zeit sich entfaltende selbständige Tonbewegung, die sich
gegenüber weniger selbständigen Tonfolgen (Neben -, Begleit -, Füllstimmen )
auszeichnet durch innere Folgerichtigkeit oder Gesanglichkeit oder leichtere
Faßlichkeit oder durch Festigkeit und Geschlossenheit ihrer Gestalt und die als
konkrete Erscheinung auch das rhythmische Element in sich enthält".

Dieses Zitat hebt den Aspekt der Formhaftigkeit und Gestalt hervor und läßt sich durch
die Attribute wie selbständig, geschlossen, überschaubar, gegliedert, sangbar,
volksliedhaft, einstimmig und einprägsam ergänzen, die im alltäglichen Sprachgebrauch
in Verbindung mit den Adjektiva melodisch, melodiös und unmelodisch eine Wertung
erlangen können. Es handelt sich um Attribute, die häufig von Musikern und Laien
benutzt werden. Schoenberg (Schoenberg, 1967, S. 48) äußert sich über Merkmale des
“Unmelodischen”. Dazu zählt er Unausgeglichenheit, Zusammenhanglosigkeit,
ungenügende Integration mit der Harmonie oder Begleitung und Mangel an
Übereinstimmung zwischen Phrasierung und Rhythmus. Schoenberg selbst wahrt in
seinen Kompositionen, trotz Individualisierung der rhythmischen Glieder, stets die
allgemeine Beziehung auf einen durchlaufenden Schlag. Aus seiner Sicht eines
Komponisten und Musiktheoretikers spricht er von dem melodischen Sinn, als einem

21
Teil der schöpferischen Begabung, die denjenigen, der ihn besitzt, befähigt, instinktiv das
Richtige zu tun. Da es sich um schöpferische Fähigkeiten handelt, wird es jedoch
niemals Regeln für Erfindungskraft geben.

Anhand der aufgeführten Merkmale wird es verständlich, daß der Begriff der
Gestaltqualität am Paradigma der Melodie entwickelt worden ist. Die moderne
Gestalttheorie demonstriert, daß das unserer Wahrnehmung unmittelbar Gegebene nicht
amorph, sondern strukturiert ist. In besonderer Weise hat sich im Bereich der
Psychologie auch die von Wilhelm Salber entwickelte Morphologie des Phänomens der
Gestalt angenommen und dieses im Hinblick auf seelische Gestaltbildung methodisch
ausgearbeitet (Tüpker, 1988, S. 48). Das Seelische wird von der Morphologie als eine
Einheit von Gestalt und Verwandlung betrachtet, die mit diesen beiden Polen das
Paradoxe dieser Situation verdeutlicht: zugleich ‘feste’, überschaubare, abgrenzbare
Einheit herauszubilden und dennoch im fortwährenden Verwandlungsprozeß zu sein.
Auf Grundlage dieses Modells haben Frank Grootaers, Rosemarie Tüpker, Tilman
Weber und Eckhard Weymann neue Methoden qualitativer Forschung entwickelt (vgl.
Kapitel 5 ‘Klinische Anwendung der Fallstudien-Methodik).

Dahlhaus hebt diesen einheitlichen Charakter einer Gestalt mit folgenden Worten
hervor: "Die Melodie erscheint als Einheit, als geschlossener Verlauf: gegenwärtiger
Schluß und vergangener Beginn scheinen in der musikalischen Vorstellung eher
nebeneinander zu stehen, als daß sie sich wie eine verblaßte Folie voneinander abheben
(Dahlhaus, 1967, S. 114). Aufgrund ihrer Komplexität und der Anschaulichkeit ihrer
Gestalt unterscheidet sich die Melodie von einer bloßen Tonfolge. Die Qualität ihrer
umfassenden Gestalt läßt nicht nur ihre Transponierbarkeit zu, sondern kann in ihrem
wahrnehmenden Erleben Gefühle von Vollständigkeit, Ganzheit und Absolutheit
hervorrufen, also Begriffe, die als therapeutische Kategorien Bedeutung erlangen
können.

Auch die gegenwärtigen ästhetischen Vorstellungen von Melodie resultieren aus den
Auffassungen und Erwartungen des 19. Jahrhunderts, denn wie damals erwartet man
heute von einer Melodie Originalität und Expressivität , das heißt neben dem Moment
des Gleichmaßes und der Konvention einen Anteil von Neuheit und
Außergewöhnlichkeit (Abraham & Dahlhaus, 1982).

Die Trennung der Parameter, die in Ansätzen bereits im 19. Jahrhundert auftaucht, wird
im 20. Jahrhundert zu einer herrschenden musikalischen Vorstellungsform. So werden
heute neben der Melodik die Parameter Harmonik und Rhythmik als selbständige
Größen betrachtet, die bei der Melodiebildung eine bedeutende Rolle spielen und zum
Bestandteil des kontemporären Melodiebegriffs gehören. Für eine melodische Analyse,

22
die besonders auf die Erhellung des Zusammenhangs ausgerichtet ist, wird es somit
wichtig sein, nicht nur die Diastematie, sondern ebenso die Elemente Rhythmus und
Harmonie einzubeziehen.

Wie wir gesehen haben, hat sich das Bewußtsein für das Zusammenwirken dieser
Faktoren in der ästhetischen Bestimmung der Melodie, in ihrer Erhebung zum
Gestaltphänomen und ihrem einheitlichen Charakter von Stimuli und kultureller
Signifikanz ausgedrückt. Zahlreiche Beispiele aus der Musikliteratur belegen, wie sich
durch die Hervorhebung eines ihrer Elemente Konsequenzen für die anderen ergeben,
so daß im musikalischen Satz deutliche Wechselwirkungen erkennbar werden. Eine
primär melodisch bestimmte Musik kann z.B. rhythmisch komplizierter erscheinen als
eine harmoniebetonte. In Verbindung mit einem langsamen Tempo kann dazu die
Entwicklung einer subtilen, lyrischen Melodie mit Kern- und Ziertönen stärker
ausgreifen als bei einem schnellen Tempo. Dieses wird z.B. anhand des Themas des
zweiten Satzes des zweiten Klavierkonzerts von Chopin deutlich. Da es sich bei der
vorliegenden Forschungsarbeit nicht um eine musikwissenschaftliche Abhandlung des
Melodiebegriffs, beziehungsweise um einer Theorie der Melodie geht, wird auf eine
detaillierte Darstellung der vielfältigen melodischen Typen verzichtet.

Melodien lassen, aufgrund ihrer Vielfalt, mehrere Möglichkeiten der Einteilung und
Beschreibung zu (harmonisch-metrisch gebundene M., ungebundene M., Vokal-
Instrumentalmelodik, einstimmig unbegleitete M., M. im polyphonen und homophonen
Satz, Skalen- und Dreiklangsmelodik, Stufen- Pendelbewegung), doch müssen wir
insgesamt feststellen, daß sich die Melodik grundsätzlich jeder geschlossenen
Systematik entzieht. In der Betrachtung ihrer sinnhaften Bedeutung wird es notwendig
sein, die Betrachtung ihrer umfassenden musikalischen Merkmale, sowie Anlaß und
Bestimmung mit einzubeziehen. Dabei werden die melodischen Gegebenheiten von
diesen Faktoren auf so vielfältige Weise variiert, daß es kaum möglich erscheint, Regeln,
Normen und Kriterien zu formulieren, nach denen eine gegebene Melodie beurteilt
werden könnte.

Man könnte den Eindruck gewinnen, daß die inhaltliche Bestimmung des
kontemporären Melodiebegriffs von der Tatsache ausgeht, daß wir alle musikalischen
Momente, die eine Melodie konstituieren, auch wahrnehmen können. Aber verhält es
sich wirklich so? Ist es nicht vielmehr so, daß wir diese Vorgänge erst anhand des
Notenbildes einer aufgeschriebenen Melodie nachvollziehen können? Deutlich muß
zwischen der spontanen, unmittelbaren Wahrnehmung einer Melodie, die von der
jeweiligen Situation abhängig ist, und einer intendierten, fokussierten Wahrnehmung
unterschieden werden, die gleichzeitig, oder im nachhinein das Notenbild heranzieht, um
bestimmte, oder mehrere Aspekte wahrnehmend ins Auge zu fassen. Die Frage ist aber,

23
wie nehmen wir eine Melodie wahr und welche Aspekte der Melodie spielen für unsere
Wahrnehmung ihrer Gestalt eine Rolle? Welche spielen für unser Erinnerungsvermögen
die größte Rolle und welche Aspekte rufen in uns ein ästhetisches Erlebnis hervor?
Diese Fragen berühren das Gebiet der Perzeption, das im folgenden Abschnitt mit einer
Konzentration auf melodische Elemente behandelt wird.

Z UR P ERZEPTION VON M ELODIE

“We are taught that the influence of music, or of sound and vibration, comes to us and
touches the senses from without; but there is one question which remains: what is the
source of the influence that comes from within? The real secret of the psychological
influence of music is hidden in that source, the source where sound comes from.”

(Khan, 1988, S. 73)

Es ist allgemein bekannt, daß es sehr schwierig ist, die Erfahrung von Musik zu
beschreiben. Als Konsequenz davon hat sich eine Vielfalt von unterschiedlichen
Ansätzen der musikalischen Analyse entwickelt (vgl. Kapitel 7). Aus ähnlicher Intention
heraus hat sich besonders innerhalb der letzten fünfzehn Jahre der Bereich von
musikalischer Perzeption und wahrnehmender Erkenntnis entwickelt (Krumhansl, 1996;
Povel, 1996; Schellenberg, 1996; Thompson, 1994). Diese Entwicklung reflektiert das,
von Musikologen und Psychologen ausgehende zunehmende Interesse, die kognitiven
und entwicklungsmäßigen Grundlagen der musikalischen Perzeption und Produktion zu
erforschen (Maier & Mies, 1997). Verschiedene Autoren, von denen hier nur einige
genannt werden, versuchten diesen Bereich, von unterschiedlichen Perspektiven aus zu
erforschen, wie von einer philosophischen (L. Meyer), entwicklungstheoretischen (L.
Davidson, C.L Krumhansl), psychologischen (J. Sloboda), musiktheoretischen (N.
Cook, E. Narmour) und neurophysiologischen Perspektive (J.J Bharucha) aus (Aiello &
Sloboda, 1994).

Trotz der Vielfalt umfangreicher Studien, die den zugrundeliegenden Prozeß von
Perzeption zu beschreiben versuchten, hat es bisher noch keine zufriedenstellenden,
vollständigen Erklärungen für diesen komplexen Vorgang gegeben (Aldridge, 1996c, S.
24). Dieses kann nicht verwundern, denn Perzeption umfaßt nicht nur den reinen
Hörvorgang, sondern auch die damit zusammenhängende begriffliche Struktur der
inneren, subjektiven Organisation und Sprachumsetzung, die vom Hörer geleistet
werden muß. Auf diese Weise ist die Kenntnis des Vorgangs eng mit dem Phänomen
selbst verbunden. Beide, der Kenner und das Bekannte, sind Teil desselben Prozeßes. In
diesem Sinn ist Perzeption als eine holistische Strategie zu betrachten, (Aldridge, 1996c,
S. 24), die nicht allein auf die kognitive Perzeption reduziert ist, sondern sich in ihrer

24
Gesamtheit auf den bewußten Akt der Erfahrung, nämlich der Bewußtheit von Musik
bezieht. Somit ist Perzeption ein Akt der Identität.

Ähnlich argumentiert Cook (Cook, 1994), der feststellt, daß sich viele Studien auf
Experimente von Gehörtrainings-Strategien stützen, ohne zu reflektieren, was in den
Hörern tatsächlich vorgeht, wenn sie Musik hören; also zu untersuchen, was und warum
sie etwas hören. Seine Kritik an den psychologischen Studien über cognitive Perzeption
richtet sich besonders gegen die einseitige Konzentration auf psychoakustische
Parameter und die Ausklammerung von Fragen nach der Bedeutung und dem
kulturellen Wert von Musik.

Auch Dahlhaus (Dahlhaus, 1967, S. 117) gibt zu bedenken, daß die musikalische
Wahrnehmung über das Erfassen isolierter akustischer Daten hinausreicht: “ Die
gerade wahrgenommene Einzelheit besteht nicht für sich, sondern als Moment eines
Ganzen, das dem Hörer im Modus der Vorausnahme bewußt ist. Während er einzelne
Teile erfaßt, ist sein ästhetisches Interesse, das sich durch die Erfahrung des Einzelnen
hindurch auswirkt und realisiert - partiell oder sogar primär immer schon auf die
Gesamtform gerichtet, als deren Funktion die Details begriffen werden müssen, um zu
ungeschmälerter musikalischer Wirklichkeit zu gelangen”.

Für das Anliegen dieser Studie ergeben sich folgende Probleme:

> Viele Untersuchungen zur cognitiven Perzeption isolieren ihre


Untersuchungsparameter von dem melodisch-musikalischen Kontext, so daß ihre
Ergebnisse methodisch nicht ohne weiteres auf diese Studie anzuwenden sind.

> Die umfangreiche, fast unübersehbare Literatur zur musikalischen Perzeption bezieht
sich größtenteils auf die Form der passiven Wahrnehmung von Musik, in der die
meisten Menschen engagiert sind. Dagegen gibt es weniger Studien, die sich auf den
Kontext der aktiven Musikausübung, der Performance beziehen. In diesem Bereich
konnte ich keine Literatur entdecken, die darlegt, wie sich innerhalb einer musikalischen
Improvisation, die zwischen zwei Erwachsenen ausgetragen wird, eine Melodie
entwickelt. Dieses mag teilweise ein Faktum unserer Kultur reflektieren , daß die
meisten Menschen Musik hören, statt sie auszuüben. Es mag aber auch die Sachlage
verdeutlichen, daß es in wissenschaftlichen Experimenten, die gern die
Untersuchungssituation straff und eng kontrollieren, leichter ist, mit
computergenerierten Klängen zu arbeiten als mit einer weniger kontrollierbaren, freieren
Performance-Situation.

Da die Melodie als umfassende, komplexe Gestalt entsprechend viele Bezüge zur
musikalischen Perzeption aufweist, kann ich mich in diesem Bereich nur auf die

25
Schilderung einiger Aspekte beschränken. Die für die Studie ausgewählten
Gesichtspunkte sind: >Gruppierung von Tonhöhensequenzen; >melodische Kontur;
>Tonhöhe, Timbre und Tonalität; >Intervallcharakter und >Beziehung von Melodie und
Harmonie.

Gruppierung von Tonhöhensequenzen

Die Melodie ist ein besonders leicht zu erkennender und erinnernder Parameter der
Musik. Wie bereits erwähnt (vgl. ‘Merkmale des heutigen Melodiebegriffs’) wurden
von der Psychologie Gestaltprinzipien aufgerufen, um die Wahrnehmung einer Sequenz
von einzelnen Tönen als integrierte melodische Einheit erklären zu können. Dabei
kamen einige der ursprünglich von Wertheimer und Arnheim (Arnheim, 1986)
formulierten Gestaltprinzipien, die auf Wahrnehmungsgesetzen visueller perzeptueller
Gruppierungen basieren, wie Nähe, gute Weiterführung, Ähnlichkeit und Symmetrie zur
Anwendung. Wenn wir einen Teilaspekt der Melodie, den der Diastematik, der Kontur,
in Erwägung ziehen, ist es leicht vorstellbar, wie hier Prinzipien der Perzeption
erfolgreich angewendet werden können, um melodische Muster und Formen zu
erforschen. Zur Auswirkung können bestimmte Intervallkonstellationen, oder
Tonhöhenmuster kommen, die ein melodisches Motiv bilden. Welche Bedeutung die
melodische Kontur hat, wird uns dann bewußt, wenn wir selber erfahren, daß es
schwieriger ist, eine Melodie wiederzuerkennen, deren einzelne Tonhöhen willkürlich in
andere Oktavräume versetzt werden, das heißt wenn die ursprüngliche melodische Linie
aufgebrochen ist. Am Beispiel der “Tarantella” können wir diesen Tatbestand
nachvollziehen. Abbildung 2.5 zeigt den unveränderten melodischen Verlauf des Liedes,
während Abbildung 2.6 die veränderte Version mit Oktavversetzung darstellt.

#
& 68 œ œ
J
œ œ œ œj œ œj œ œj
J
j
œ œ # œ œj œ œ
j ..

Abbildung 2.5: ‘Tarantella’

# 6 œ œ
J œ j œ jœ j œ #œ œ ..
& 8œ œ J œ œ œ œ J J œ œ
j

Abbildung 2.6:‘ Tarantella’ mit Oktavversetzung.

Dieser wahllose Vorgang der Oktavversetzung einzelner Töne würde das oben erwähnte
Gestaltprinzip der guten Weiterführung (Fortführung) einer begonnenen Linie (hier
melodischen Linie) und das der Nähe zerstören. Unser Erkennen einer bekannten

26
Melodie erhöht sich, je mehr Töne innerhalb derselben Oktave, oder innerhalb einer
Gesamtordnung von aszendierenden und deszendierenden Oktaven gespielt werden. Um
eine Melodie wahrnehmen zu können, müssen wir also in der Lage sein, eine Kohärenz
zwischen einer Sequenz von Tonhöhen herzustellen, die eine Melodie ausmachen. Dabei
gruppieren wir die Klänge entsprechend unserer individuellen, subjektiven, perzeptuellen
und cognitiven Organisationsmechanismen. Verschiedene musikalische Eigenschaften
wie Tonqualität, Rhythmus, Klangstärke und Tempo können unsere melodische
Perzeption beeinflussen: bei einer schnell gespielten Tonsequenz, die z.B. vorwiegend
aus großen Tonabständen besteht, sind wir, um psychologische Kohärenz zu erreichen,
geneigt, die einzelnen Töne in einen leichter wahrzunehmenden, engeren Tonraum einer
kontinuierlichen Klangabfolge zu bringen. Diese Tatsache läßt sich häufig bei der
Wahrnehmung einstimmiger, polyphoner Musik beobachten (vgl. Abb.2.7), bei der die
Töne perzeptuell so abgesondert werden, als würden sie zwei verschiedene Tonreihen,
beziehungsweise Stimmen ergeben: eine höhere und eine tiefere (Aiello & Sloboda,
1994).

œ œ œ œ œ
?C œ œ œ
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ

Abbildung 2.7: J. S. Bach, Bouree aus der Suite Nr. 3 C-Dur für Cello.

Desweiteren affizieren insbesondere die relativ kleinen Distanzen, wie Halb- und
Ganztonunterschiede in ihrer Aufeinanderfolge spontan die Gehöraufmerksamkeit (s.
Abb.2.8). So werden noch über längere Unterbrechungen durch andere melodische
Vorgänge hinweg Sekundfortschritte der Spitzentöne im Sinne eines echten,
geschlossenen Zusammenhangs wahrgenommen (Blume, 1989b, S. 1349).

œ bœ nœ œ
2 œbœ œ œ. œ œ œ œ œ œ bœ œ
&4 œ œ bœ œ

Abbildung 2.8: Sekundfortschritte der Spitzentöne.

Es mag sein, daß es für uns schwierig ist, eine vorher gehörte, unbekannte Melodie
vollständig wiederzuerkennen oder exakt wiederzugeben. Es könnte jedoch sein, daß wir
in der Lage sind, die melodische Kontur dieser Melodie so wiederzugeben, daß sie in
etwa der Originalmelodie entspricht.

27
Melodische Kontur

Dowling (Dowling, 1994) definiert die melodische Kontur als ein übergeordnetes
Schema sukzessiver Intervalle, die in ihrer Gesamtkonstellation die Melodie bilden. Die
melodische Kontur verdeutlicht, auf welche Art und Weise sich eine Melodie in ihrer
Tonhöhenkonstellation auf und ab bewegt und in der Zeit entfaltet. Es ist das Merkmal
der Musik, das für den Hörer an erster Stelle deutlich hervorsticht. In der Musikliteratur
finden wir Hinweise darauf, wie Komponisten diesen Aspekt kompositorisch
verwenden: die melodische Kontur wird mehrfach wiederholt, aber die Binnenstruktur,
das heißt die Größe ihrer Intervalle wird verändert, was eine ästhetische Spannung
hervorrufen kann. Ein Beispiel (s. Abb. 2.9), das diese Vorgehensweise verdeutlicht, ist
der erste Satz von Beethovens Fünfter Symphonie, der sich aus einem kurzen
melodischen Motiv und seiner Sequenz aufbaut.

Motiv und Sequenz teilen sich die gleiche Kontur, aber unterscheiden sich in ihrer
spezifischen Intervallgröße: der fallenden großen Terz bei der ersten Präsentation des
Motivs, im Vergleich zur fallenden kleinen Terz bei seiner Sequenz. Dieses Motiv, aus
dem sich die melodisch-thematische Form des gesamten ersten Satzes bildet, erscheint
in vielfältiger Form mit den unterschiedlichsten Intervallgrößen zwischen den beiden
dargelegten Tonhöhen, wobei die Kontur stets beibehalten wird. Die wiederholte Kontur
dieses melodischen Motivs vermittelt dem Satz Geschlossenheit, während die ständig
wechselnden Intervallstrukturen Interesse und Lebendigkeit hervorrufen.

Ein anderes Beispiel für die Wiederholung der melodischen Kontur bei wechselnder
Intervallstruktur ist Bachs c-Moll Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier, Teil 1 (s.
Abb. 2.10).

Aus der Notwendigkeit der tonalen Antwort heraus ergibt sich die Modifikation der
Intervalle. Bach behandelt hier die Kontur als ein melodisches Merkmal, das in einen
anderen Kontext mit unterschiedlichen Intervallgrößen gebracht wird. Trotzdem behält
die Musik ihre Identität.

Die Bedeutung der melodischen Kontur für das Wiedererkennen unbekannter, zum
erstenmal gehörter Melodien ist in Experimenten, die das Wiedererkennen von
Melodien testen als wichtiger Faktor erkannt worden (Dowling, 1994). Die Resultate
verschiedener Experimente zeigen, daß Testpersonen es leichter finden, Melodien
wiederzuerkennen, die eine ähnliche Kontur besitzen. Problematischer wird es, wenn die
Melodien unterschiedliche Konturen aufweisen. Hörer finden es zudem viel schwieriger,
die exakte Transposition einer Originalmelodie von der Imitation ihrer Kontur, die durch
minimale Intervallveränderungen erreicht wird, zu unterscheiden. Dieses ist besonders

28
dann nicht leicht, wenn beide Melodien in der gleichen oder einer verwandten Tonart
stehen. Das heißt, besitzen zwei Melodien (Original- und Testmelodie) die gleiche
Kontur und Tonart, können sie leicht verwechselt werden. Der Unterschied zwischen
beiden Melodien kann eher wahrgenommen werden, wenn sie in entfernteren Tonarten
stehen. Barlett (Barlett & Dowling, 1980) weist gleiche Ergebnisse auf, indem er von
dem Vorgang der Transposition ausgeht. Von dem tonalen Merkmal abgesehen bleiben
bei der Transposition von Melodien Intervallstruktur und melodische Kontur
unverändert. Psychologisch ist dieses relevant, denn Hörer sind oft dazu verleitet, eine
Imitation als Transposition wahrzunehmen, wenn Kontur und Tonart ähnlich der
Originalmelodie sind.

bb 2 ‰ U U
& b 4 œ œ œ ˙ ‰ œ œ œ
˙ ˙

Abbildung 2.9: L. van Beethoven, Sinfonie Nr. 5 c-moll, op. 67 ‘Kernmotiv’.

b œ œ œ œ nœ
&b b c œ n œ œ ∑œ œ œ œ œ œ œ œ n œ œ œ∑ œ œ œ ‰ œ n œ #n œœ œ œ œ œ œ œ œ
‰ œ œ œ nœ œ œ œ

? b c ∑ ∑ ∑
b b

b œ #œ œ nœ œ œ œ œœœ œœœ œœ
&b b b œœ n œ œ œ # œœ œ œ œ œœ œ œœ œ œ œœ œ œ œ n œ œ œœ n œ œ œ n œœ œ b œœ œ œœ œ n œ
≈ œ œœ œ œ œ œœ

? b ∑ ∑ ∑
b b
œœ œœ œ œ j
b œœ œ œ œ
b œ œ œ œ J œ ‰ œœ œ
œ œ œ œ œ œ # œ œ n œœ œœ œ œ ‰œ n œ
&b b J
n œ œ
œ œ œœœœ œ ‰ J œ
Œ ‰
œ nœ œ œ œ œ œ œ œ œ œ nœ œ œ œ
? b ‰ œ œ œ œ œ œ n œ n œ œ œ œ œ œ œ œ œœ
b b b œb œœ

Abb. 2.10: J. S. Bach, Fuga II a 3 voci, T 1-9 aus dem Wohltemperierten Klavier
Teil 1.

Da die Melodie als integrierte Gestalt auftritt, kann ihre Kontur nicht als ein von ihr
völlig getrenntes Merkmal angesehen werden. In der Perzeption und Erinnerung von
Melodien besteht eine Wechselwirkung zwischen Kontur, Tonalität und Rhythmus.
Somit beeinflußen Tonalität und rhythmische Struktur das Erinnerungsvermögen für die

29
Kontur. In unserer Erinnerung von Melodien steht die Kontur mit dem tonalen und
rhythmischen Kontext in Verbindung. Die Unterteilung einer Kontur in Phrasen und die
Verteilung melodischer Akzente hängen nicht nur von dem rhythmischen Kontext, den
Tonlängen ab, sondern auch von Kontur-Flexionen (Drake, Dowling & Palmer, 1991;
Jones, 1987). Die enge Interaktion zwischen Tonhöhe und Rhythmus wird besonders
deutlich, wenn einem gleichen Tonhöhenmuster (Kontur) ein anderer Rhythmus
unterlegt wird, was zu einer völlig neuen Melodie führen kann. Am Beispiel des Liedes
‘Die Gedanken sind frei’ kann dieses demonstriert werden. Abbildung 2.11 zeigt den
Beginn des originalen Melodieverlaufs, Abbildung 2.12. bringt die rhythmische
Veränderung bei Beibehaltung desselben Tonhöhenmusters.

b 3 œ ..
&b 4 œœ œ œ œ ˙ œ œ œ œ œ œ
Abbildung 2.11: ‘Die Gedanken sind frei’.

b œ .œ j
& b 34 œ Jœ œ . œ œ. œ œœ˙ œ œ
Π..

Abbildung 2.12: ‘Die Gedanken sind frei’ mit einem anderen Rhythmus unterlegt.

Thompson (Thompson, 1994) legt dar, daß Töne (in ihrem jeweiligen
Tonhöhenregister), die mit einem rhythmischen Akzent versehen sind, besser
wiedererkannt werden können als Töne ohne Akzent. Die Erinnerung von Melodien
kann beeinträchtigt werden, wenn Tonhöhenstruktur und Zeitstruktur keine kompatiblen
Gruppen implizieren. Auch Laden (Laden, 1994) stellt fest, daß die Zeitstruktur einen
Einfluß darauf hat, welche Töne aus einer bitonalen Musik als stabile Melodietöne
herausgehört werden. Neben der Zeitstruktur hat also die jeweilige Tonlänge
(rhythmische Komponente und Artikulation) besonderen Einfluß auf die Perzeption von
Tonauflösungen. Diese Resultate unterstützen die allgemeine Ansicht, daß sich der
Aufwand und das Maß der cognitiven Verarbeitung eines Tons proportional zu seiner
Dauer verhält. Dieses könnte Implikationen für die Darstellung von Tondauern in
Modellen der Musik-Cognition haben.

Wir können also festhalten, daß auch der Rhythmus eine beträchtliche Rolle bei der
Perzeption von Melodie spielt. Die Perzeption von Sprache und Musik erfordert eine
beachtliche Leistung des Wahrnehmens und Erkennens von Mustern. Aus längeren
Sequenzen rasch wechselnder Elemente, die sich in der Zeit ergeben, muß der Hörer
einen Sinn herausziehen (Aldridge, 1996c, S. 30). Dieses fällt ihm leichter, wenn die
Einzelelemente an eine Zeitstruktur gebunden sind. Die Voraussagbarkeit der

30
Zeitstruktur ist wichtig, um eine melodische Linie verfolgen zu können. Die Bindung
dieser an die temporale und rhythmische Struktur erleichtert die Erfassung von Tonhöhe
und musikalischen Intervallen sowie ihre Integration in eine fortlaufende Struktur
musikalischer Muster.

Tonhöhe, Timbre und Tonalität

Neben der Kontur bilden Intervalle, Tonhöhe, Timbre und die Tonart die wichtigsten
Merkmale für die Wahrnehmung einer Melodie. Dabei ist es schwierig festzustellen,
welches dieser Merkmale für unser Erinnerungsvermögen von Melodien die
fundamentalste Bedeutung besitzt. Hubbard (Hubbard, 1996) hebt hervor, daß Tonhöhe
kein undimensionaler Stimulus ist, der sich nur auf die Tonfrequenz bezieht, sondern
aus zwei Dimensionen, der absoluten Frequenz und dem Timbre (Ton-Chroma, die
relative Position der Tonhöhe innerhalb der Skala) besteht, die miteinander
korrespondieren. Eine ähnliche Bestimmung der Tonhöhe wird von Christensen
(Christensen, 1996) getroffen, der die Tonhöhe als einen untergeordneten Aspekt der
Klangfarbe (Timbre) betrachtet. Zur Tonhöhe sagt er: “Pitch is experienced as a certain
height in a sound height continuum. This is a crucial phenomenon, evoking a vertical
dimension of musical space. Pitch height adopts the nature of a spatial dimension in the
perceptual processing.” Timbre wird von ihm als übergeordneter Gesichtspunkt
angesehen: “The auditory perception of timbre is the general basis for the perception of
musical tones, and pitch perception has to be understood as an aspect of timbre
perception” (Christensen, 1996, S. 17).

Die Bedeutung des Timbre, als eines der wichtigen Oberflächenmerkmale von Melodie,
wird auch in einer Studie von Radvansky (Radvansky, Kevin, Simmons & Simmons,
1995) hervorgehoben. Dort sind in Experimenten zur Erinnerung von Melodien Nicht-
Musiker eher auf das Timbre angewiesen, (d.h. erinnern Melodien aufgrund der
besonderen Klangfarbe) als Musiker, die sich in ihrer Erinnerung mehr auf
Strukturmerkmale konzentrieren .

In der musikpsychologischen Bestimmung von Tonhöhe wird diese, zusammen mit


Helligkeit und Lautheit zu den subjektiven Komponenten des Tons gezählt (Blume,
1989a, S. 492). Auf Grund der Hörerfahrung werden, in bezug auf die physikalischen
Korrelate Frequenz und Intensität, dem Ton primär die Tonhöhe, Lautheit und Tonfarbe
zugesprochen. Von allen Eigenschaften hat einzig die Tonhöhe konstitutive Bedeutung
für den Ton. Auf einen einfachen Nenner gebracht läßt sich der Toncharakter
(Tonigkeit) eines Tons aus den Grundeigenschaften: Tonhöhe, Dauer, Lautstärke und
Tonfarbe bestimmen, wobei sekundäre Eigenschaften, wie Helligkeit, Rauhigkeit,

31
Spitzigkeit, Dichte und Volumen diesen noch bereichern können (Blume, 1989a, S.
496).

Mit den oben genannten Merkmalen sind gleichzeitig die für das Überleben
erforderlichen Primärfunktionen unserer auditiven Perzeption angesprochen: die
Wahrnehmung der Klangfarbe (Timbre) und die räumliche Perzeption (Christensen,
1996, S. 16). Die Perzeption der Klangfarbe erlaubt die Einschätzung und
Identifizierung des Ursprungs und der Ursache des Klanges und der Klangobjekte. Auf
der Basis dieses natürlichen perzeptuellen Potentials kann die Perzeption der Tonhöhe
durch einen Lernprozeß entwickelt werden. Dieser Prozeß hängt von der musikalischen
Kultur ab, die sich durch die Wahl bevorzugter Tonhöhen und charakteristischer
Intervallkombinationen auszeichnet. Durch Tradition können sich diese als allgemein
konventionelle Klänge etabliert haben.

Mit der Aufstellung der Tonhöhenstruktur ist bei tonalen Melodien das Merkmal der
Tonalität verbunden. In unserer westlichen Musikkultur spielt diese eine große Rolle.
Hörer können Melodien eher wiedererkennen, wenn diese innerhalb des diatonischen
Systems wiedergegeben werden. Die Grundtonart bildet die grundlegende Struktur für
die Zuordnung der verschiedenen Tonhöhen zu den tonalen Funktionen und setzt ihre
hierarchische Beziehung untereinander fest (Krumhansl, 1990). Die wichtigste Tonhöhe
ist die, die mit der Tonika übereinstimmt. Andere Töne gravitieren zur Tonika, die als
Zentrum der Stabilität angesehen wird. Viele Melodien beginnen und enden auf der
Tonika, indem sie sich von der Stabiltät aus wegbewegen und wieder zu ihr
zurückkehren. Hörer nehmen Töne der Tonika, Dominante und Mediante als diejenigen
Töne wahr, die am besten in einen musikalischen Kontext passen (Krumhansl &
Shepard, 1979). Auch Bharucha (Bharucha, 1996) bezieht sich mit seinem cognitiven
Prinzip des “melodic anchoring” auf Tonhöhenelemente und deckt mit ihm
Bedingungen auf, unter denen Töne aufgelöst werden. Die Auflösung von Dissonanzen
beschreibt er als einen dynamischen Prozeß, der die Bildung von Tonalität, der
Abweichung von ihr und der Rückkehr zu ihr verlangt. Abweichung und Rückkehr
erscheinen als typisch musikalische Vorgänge, wie eine Art “Fehler” in der tonalen
Anlage eines Musikwerkes. Wie bei Thompson und Laden (Laden, 1994; Thompson,
1994) spielt neben den tonalen Bedingungen auch für Bharucha die zeitliche Struktur
eine Rolle, die einen Einfluß darauf ausüben kann, welche Töne in der Melodie als
stabile “Ankerpunkte” wahrgenommen werden können.

Das Merkmal der Tonart definiert innerhalb des Rahmens seiner Möglichkeiten eine
Reihe mehr oder weniger erwarteter Tonhöhen. Wenn eine Melodie diese
Hörerwartungen erfüllt, ist es leichter, sie zu erinnern. Die Bedeutung von tonaler
Hierarchie und Grundtönigkeit zeigt sich auch in der Tatsache, daß solche Melodien

32
leichter erinnert werden, deren Tonhöhen innerhalb einer Quint liegen und sich nicht in
größeren Abständen von ihr weg oder um sie herum bewegen (Watkins, 1985).

Aus psychologischer Sicht wird also die Struktur der Tonskala eher als eine Aufstellung
von verschiedenen Tonhöhen als eine von verschiedenen Intervallen verstanden
(Dowling, 1991). Dabei spielen in einem tonalen Kontext die dynamischen Tendenzen
der Tonhöhen, die von Punkten der Stabilität angezogen werden (Tonika) eine Rolle.
Diese dynamischen Tendenzen werden somit eher als charakteristische Merkmale
aufgestellter Tonhöhenkonstellationen anstatt als Merkmale von Intervallfolgen
angesehen. Aus psychologischer Sicht haben Intervalle weniger fundamentale
Bedeutung als Tonhöhen. Letztere können in Verbindung mit besonderen
Tonhöhenmustern, bzw. charakteristischen Motiven leichter erfaßt werden. Intervalle, die
vom Kontext einer Melodie abstrahiert werden, sind schwieriger zu erfassen und
wiederzugeben, als wenn sie als Bestandteil eines Liedes gehört werden. Erwachsene
können eher auf der Grundlage der intervallischen Tonbeziehungen als auf der der
absoluten Tonhöhe, bzw. Tonfrequenzen die Tonhöhen identifizieren (Aldridge, 1996c,
S. 30). Desweiteren werden Intervalle in einem melodischen Kontext nicht als Intervalle
per se, sondern eher als Positionspunkte innerhalb der Skala (Balzano & Liesch, 1982)
gehört. Während sich für Dowling das tonale Gerüst eher in Form von Tonhöhen als
von Intervallen repräsentiert, stützen sich Butler und Brown (Butler & Brown, 1994)
mehr auf den Informationsgehalt von Intervallen. Im Gegensatz zu Dowling gehören
diese zu den hervorstechenden Merkmalen bei der Wiedererkennung von Melodien.

Es scheint, daß die Wertung und das Verständnis von Intervallen in der Literatur zur
cognitiven Perzeption unterschiedlich gehandhabt wird. Infolgedessen wird im nächsten
Abschnitt das Intervall zunächst in seiner musiktheoretischen Bedeutung geklärt.

Intervallcharakter

Aus musiktheoretischer Sicht ist mit dem Intervall (lat. intervallum = Zwischenraum)
sowohl der Abstand als auch das Verhältnis zweier nacheinander oder gleichzeitig
erklingender Töne gemeint (Dahlhaus & Eggebrecht, 1978). Insofern können
Intervalle zum einen quantitativ nach ihrer Distanz, zum anderen qualitativ im Hinblick
auf ihren Sonanzgrad (Konsonanz und Dissonanz) beschrieben werden. Physikalisch
gesehen wird das Intervall in seiner sukzessiven Folge von Tönen vom Ohr nach der
Tonhöhenskala bewertet, deren Einheit die Oktave (Melodie-Oktave) ist. Das Intervall
zweier simultan erklingender Töne wird vom Ohr nach der Frequenzskala bewertet,
indem der oberste Ton der Oktave immer die doppelte Frequenz wie der unterste besitzt.
Damit folgt er dem natürlichen Obertonaufbau (Blume, 1989b, S. 1326).

33
Aus psychologischer Sicht wird mit Intervall, sei es als melodisches oder harmonisches
immer das Zusammentreffen zweier Töne zu einer einfachsten “Tongestalt” gemeint.
Das Sukzessivintervall, der Tonschritt ist demnach der elementare Baustein der Melodie,
bzw. der einer mehrgliedrigen Tonfolge.

Das Intervall kann nach Sonanzgraden dreifach bestimmt werden (Blume, 1989a, S.
1500): 1. mathematisch, als Übergang von einfachen zu komplizierteren
Zahlenproportionen; 2. psychologisch, als Verschmelzungsstufen (Oktave; Quinte;
Quarte; Terzen und Sexten; Ganzton; kleine Septime und Tritonus); 3. physikalisch-
physiologisch nach der größeren oder geringeren Zahl und Entfernung koinzidierender
objektiver oder subjektiver Obertöne. Die Einfachheit, bzw. Kompliziertheit der
Zahlenproportionen dient hierbei als Symbol und keineswegs als Erklärung für das
Phänomen. Die Koinzidenz von Obertönen kann vielleicht als die Ursache der sinnlich
aufgenommenen Sonanzgrade angesehen werden. Der Dissonanzbegriff, der einerseits
als Gegensatz zum Konsonanzbegriff erscheint und andererseits sich von ihm ableitet,
ist ohne diesen undenkbar. Daß als Konsonanz nur ein von Natur und Tradition
ausgezeichnetes Intervall gelten kann besagt, daß keine der beiden Bestimmungen allein
genügt. Eine genauere Bestimmung des Konsonanz- und Dissonanzbegriffs hebt
folgende Eigenschaften hervor (Blume, 1989a, S.1501):

1. Konsonanzen haben einen höheren, Dissonanzen einen niedrigeren


Verschmelzungsgrad. Der Verschmelzungsgrad wird nach C. Stumpf als
“Einheitlichkeit” und “Verknüpftsein” von Tönen bezeichnet;

2. konsonierende Töne sind unmittelbar verwandt oder einander ähnlich, dissonierende


Töne indirekt verwandt oder einander unähnlich. Es ist ungewiß, ob die Verschmelzung
die Ursache der Ähnlichkeit ist und ob das Bewußtsein der Tonverwandtschaft immer
die Erfahrung der Verschmelzung voraussetzt oder ob die Koinzidenz von Obertönen
genügt, um die Konsonanzen aus der unendlichen Menge möglicher Intervalle
hervortreten zu lassen;

3. hinter Konsonanzen stehen einfache Zahlenproportionen, hinter Dissonanzen


kompliziertere;

4. Konsonanzen können als Zusammenklänge für sich stehen, Dissonanzen fordern eine
Auflösung in Konsonanzen.

Die unter Punkt zwei erwähnte Tonverwandtschaft spielt generell eine maßgebende
Rolle bei der Wahrnehmung von Intervallen. Allgemein können folgende Unterschiede
zwischen den Intervallen erwähnt werden: zusammenstimmend, widerstreitend,
widerstrebend, sich zu einem höheren Ganzen vereinheitlichend, zusammenpassend und

34
verschmelzend. Intervalle, die eine Oktave des Grundtons als unteren Ton besitzen,
wirken “stehend” und “stabil”. Intervalle, die, obwohl grundtoneinheitlich, keinen
Grundtonvertreter besitzen, können als “schwebend” bezeichnet werden (Blume,
1989b, S. 1351).

Für die Wahrnehmung der Intervalle spielt wie bei der Erfassung von Kontur, Tonhöhe
und Timbre auch der rhythmische Kontext eine Rolle. Dieser bereitet den Hörer
rechtzeitig auf den Beginn bestimmter musikalischer Intervalle vor und vermittelt somit
eine Struktur, von der aus musikalische Veränderungen, wie Tonhöhenwechsel und
Intervallmodifikationen wahrgenommen und antizipiert werden können (Aldridge,
1996c, S. 31).

Die häufig anzutreffende Vorstellung einer inhärenten, perzeptuellen Vorliebe für


einfache Frequenzverhältnisse, also eine Vorliebe für Konsonanzen ist umstritten
(Schellenberg & Trehub, 1996). Da die einfachen Frequenzverhältnisse in der
westlichen Musikkultur strukturelle Bedeutung haben, wird die Universalität, die ihnen
aufgrund dessen zugeschrieben wird, oft als ethnozentrisch interpretiert. Schellenberg
und Trehub (Schellenberg & Trehub, 1994; Schellenberg & Trehub, 1996) gehen
jedoch von der Annahme aus, daß Intervalle mit einfachen Schwingungsverhältnissen
eine natürliche oder biologische Basis haben, die mit der bereits in der Antike und im
Mittelalter bestehenden Konsonanztheorie in Einklang stehen. Sie begründen dieses mit
der generellen Verbreitung von Oktaven (2:1) und Quinten (3:2). Während Oktaven
universell in Erscheinung treten, haben auch Quinten in den Kulturräumen von China,
Indien und Java strukturell signifikante Bedeutung. In vielen musikalischen Kulturen
werden melodische Linien mit Oktav- und Quintbordunen begleitet. Die Ergebnisse der
Untersuchungen von Schellenberg und Trehub beweisen, daß Kleinkinder unter einem
Jahr Vorlieben für einfache Frequenzverhältnisse (Konsonanzen) zeigen und daß ihre
Perzeption verschiedener Tonmuster mit einfachen oder komplexen
Frequenzverhältnissen (Dissonanzen) den Daten der gleichen Versuche mit Kindern
und Erwachsenen entsprechen. Die Autoren gehen davon aus, daß Menschen bei der
Verarbeitung von Tönen Prädispositionen für einfache Frequenzverhältnisse entwickeln,
die auch mit dem Dominieren von Tonskalen mit einfacheren Frequenzverhältnissen
übereinstimmen. Dieses läßt sich durch die ganze Geschichte hindurch und quer durch
viele Kulturen nachweisen. Wir können also davon ausgehen, daß unser
Konsonanzempfinden wahrscheinlich auch aus dem resultiert, was wir in unserer
Erziehung als konsonant erfahren haben und wie wir unser Empfinden für die spektrale
Struktur unseres Sprachklanges entwickelt haben.

Im Zusammenhang mit meiner Studie ist das “Implication-realization model” von E.


Narmour (Narmour, 1990; Narmour, 1992) erwähnenswert. Für Narmour ist die

35
Perzeption der Melodie eine Funktion von universellen Prinzipien, die in Verbindung
mit stilspezifischen Faktoren agieren. In diesem Sinne beschreibt das I.-R. Modell die
Kognition von Melodien als eine Serie von Schlußbildungen (closures), Implikationen
und Realisationen.

Wenn ein Intervall nach den oben erwähnten Kriterien keine schlußbildende Wirkung
(Funktion) besitzt, kann es im Hörer Implikationen hervorrufen. Die Gestaltprinzipien
Nähe, Ähnlichkeit und Symmetrie tragen zu diesen Implikationen bei. Da ein
unabgeschlossenes Intervall Implikationen für die Fortführung einer Melodie erzeugt,
wird es von Narmour als “implicit interval” bezeichnet. Das darauf folgende Intervall
ist das “realized interval”, das nicht mit den melodischen Implikationen übereinstimmen
muß.

Fünf Prinzipien beschreiben den Kern melodischer Implikationen: die Richtung


innerhalb der Register, der Intervallunterschied, die Rückkehr zum Ausgangsregister,
Nähe und Schlußbildung. Diese Prinzipien sind in Begriffen von Tonhöhenrichtungen
(aufwärts, abwärts, gleichbleibend) und Intervallabständen, die beide als die primären
Parameter der Melodie betrachtet werden, artikuliert.

Schellenberg (Schellenberg, 1996) betont, daß diese Prinzipien der perzeptuellen


Organisation auf ähnliche Weise funktionieren, wie die der visuellen. Als Beispiel eines
stark voraussagbarenden Faktors für visuelle Gruppierungen zieht er das Gestaltprinzip
Nähe heran (vgl. ‘Gruppierung von Tonhöhensequenzen’ und ‘Merkmale des heutigen
Melodiebegriffs’). Es ist somit nicht verwunderlich, daß dieses Prinzip die Perzeption
komplexer auditiver Muster wie z.B. Melodien beeinflußt. Das Überwiegen kleiner
Intervalle (benachbarte Töne) in Melodien, das in allen Musikkulturen anzutreffen ist,
unterstützt die Annahme, daß Nähe ein universelles Prinzip ist, das die Perzeption und
Kognition von Melodien beeinflußt. Die Signifikanz dieses Prinzips könnte auch
teilweise von den Begrenzungen in der vokalen Praxis herrühren, denn kleinere
Intervallabstände sind leichter zu singen als größere.

Da das Prinzip der Rückkehr zum Ausgangsregister eine Umkehrung der


ursprünglichen Richtung der Melodie und eine Rückkehr in die ursprüngliche Tonlage
bedeutet, beschreibt dieses Prinzip einen melodischen Archetyp, der die Tonbeziehungen
zwischen nicht kontinuierlichen Tönen vorweist. Mit dem Prinzip der Rückkehr zum
Ausgangsregister kann auch ein Tonhöhenmuster, bzw. eine Verlaufsform
hervorgerufen werden, die sich symmetrisch zur Zeitstruktur verhält. Symmetrie ist wie
Nähe ein wichtiger visueller Faktor, der die perzeptuelle Verarbeitung von überflüssigen
Informationen erleichtert. Symmetrie kann somit auch eine Basis für die Entwicklung
von Prädispositionen bilden.

36
Das Prinzip der Richtung innerhalb des Registers, das angibt, daß ein großes Intervall
einen Wechsel in der Melodierichtung impliziert, kann als Nebenprodukt des
Gestaltprinzips Nähe betrachtet werden. Mit einer fortlaufenden Folge von großen
Intervallen, deren Töne relativ weit voneinander entfernt liegen, wird in einer Melodie das
Prinzip der Nähe gebrochen. Derartige Intervalle können in einer Melodie einen Mangel
an Kohärenz hervorrufen. Der innere Zusammenhalt einer Melodie kann jedoch
zunehmen, wenn der Richtungswechsel, der durch ein großes Intervall hervorgerufen
wurde, mit kleineren Intervallen ausgefüllt wird (Meyer, 1973). Abbildung 2.11
verdeutlicht einen derartigen Richtungswechsel.

- j- œ œ. j j
&Œ œ œ. œ œ. J œ œ œ j
œ œ œ œ

Abbildung 2.11: ‘Richtungswechsel’ am Beispiel der Melodiestimme des Patienten der


zweiten Studie. Taktausschnitt T 22-24 aus Beispiel 2 der ‘Abschiedsmelodie’.

Beziehung von Melodie und Harmonie

Aus den bisher geschilderten Fakten ergibt sich, daß wir davon ausgehen können, daß in
Abhängigkeit vom kulturellen Kontext und der jeweiligen Erziehung jeder Mensch mehr
oder weniger stark ausgebildete Erwartungen im Hinblick auf den weiteren Verlauf einer
Melodie und ihrer harmonischen Sequenz hat. Diese Erwartungen gehören zum
wesentlichen Bestandteil des Musikhörens und scheinen eine bedeutende Rolle in der
kunstverständigen Wertschätzung von Musik und der Hervorrufung von emotionalen
und ästhetischen Reaktionen zu spielen.

Die Erwartungen, die während des Hörens von Melodien gebildet werden, resultieren
aus den dargelegten, wahrgenommenen charakteristischen Strukturen, die in jeder
Melodie gegenwärtig sind: Form der Kontur, Tonhöhenmuster, Intervallkonstellationen,
Tonhöhenregister, Timbre, tonale Schwerpunkte und rhythmisch-zeitliche Struktur.
Obwohl sich die Melodie in ihrer umfassenden Gestalt als selbständige Komponente
von ihrem musikalischen Kontext abgrenzen läßt, ist sie doch gleichsam
Informationsträger der eben aufgeführten verschiedenen Elemente, die perzeptorisch
verarbeitet werden müssen. Aus Gründen der natürlichen Begrenzungen, die dem
Fassungsvermögen unseres Gedächtnisses gesetzt sind, kann unser perzeptives System
nur eine begrenzte Anzahl gleichzeitig auftretender und simultan erklingender
Informationen aufnehmen (Drake & Palmer, 1993). Den hier zitierten Studien zur
melodischen Perzeption können wir teilweise entnehmen, daß in bezug auf die
natürlichen Grenzen unserer kognitiven Perzeption, musikalisch-melodische Vorgänge

37
nicht direkt in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden, sondern vom Hörer in Gruppen
segmentiert werden, um leichter verarbeitet werden zu können. Dabei können, wie
beschrieben, unterschiedliche Eigenschaften wie Kontur oder Timbre als
hervorstechende Merkmale bei der Wahrnehmung eine Rolle spielen.

Wie bereits verschiedentlich erwähnt, beziehen sich die Hörerwartungen auch auf die
harmonischen Beziehungen der einzelnen Elemente innerhalb des tonalen Systems.
Diese Beziehungen werden dann offenbar, wenn Töne einer Sequenz als Bestandteil
einer spezifischen Grundtonart oder zugrundeliegenden Skala wahrgenommen werden.
Diese werden dann in Abhängigkeit von beiden (Grundtonart und Skala) interpretiert.
Infolgedessen nehmen Töne spezifische Merkmale an, die die möglichen Erwartungen
determinieren (Povel, 1996). Diese Feststellungen werden von Thompson (Thompson,
1993) unterstützt, der demonstriert, daß das Werturteil über Melodien eine Sensitivität
für mögliche harmonische Begleitformeln reflektiert. Der Kontext der Grundtonart
beeinflußt nicht nur die Beurteilung der Melodie, sondern auch die des dazugehörigen
harmonischen Materials. Thompson stellt fest, daß bei Vorhandensein der stabilen
Struktur einer Grundtonart, diese in alle folgenden Akkordsequenzen mit einbezogen
wird und die Melodie in ihrer Beziehung zu beiden (stabile Struktur der Grundtonart
und Akkordsequenzen) wahrgenommen wird. Diese Tatsache bestätigt die in dem
Abschnitt: Tonhöhe, Timbre und Tonalität aufgeführten Kriterien von unstabilen Tönen,
die sich in Richtung tonal bestimmter, stabiler Töne bewegen.

Insgesamt ist es möglich, von einer grundlegenden “Spannung” zwischen Tönen zu


sprechen. Sie verdeutlicht die unserem westlichen tonalen Musiksystem
zugrundeliegende und vorherrschende Formierung harmonischer Erwartungen. Nach
Povel (Povel, 1996) reagieren in mehreren durchgeführten Experimenten Testpersonen
entsprechend der Hypothese von Cooke (Cooke, 1982). Cooke bringt mit ihr zum
Ausdruck, daß die Anziehungskraft zwischen den Tönen durch ihre relative Position, die
sie innerhalb der harmonischen Abfolge einnehmen, hervorgebracht wird: je früher ein
Ton in dieser Abfolge erklingt, desto elementarer wirkt er und zieht alle die nach ihm
erscheinenden Töne an.

Abbildung 2.12 zeigt die auf die C-Dur Skala bezogene dynamische Konfiguration, die
sich aus der harmonischen Anziehungskraft ergeben kann. C ist der Grundton mit
fundamentaler Bedeutung, G und E haben relative fundamentale Bedeutung, obwohl sie
auf den Ton C zurückbezogen sind. Alle anderen Töne sind auf diese drei Töne
zurückbezogen: D und Cis nach C; F nach E; Fis, Gis und A nach G; Ais nach A; H
nach C; Dis auf E zu. Der Ton Dis nimmt in seiner enharmonischen Form von Es eine
spezielle Position ein, indem er den dritten Ton der Mollvariante bildet.

38
A#

F#
A G
G#

H
C C#
D

F E D#

Abbildung 2.12: Die Anziehungskraft (Spannung) zwischen den Tönen einer Durton-
Skala, dargestellt anhand der C-Dur Skala nach Cooke (1959), in Povel 1996.

Ähnliche Aufstellungen zu den Tonbeziehungen können wir bei Zuckerkandl


(Zuckerkandl, 1956, S. 34 ff.) finden.

Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, muß noch einmal betont werden, daß trotz der
zahlreichen Untersuchungen zur kognitiven Perzeption von Melodie die Faktoren
ungeklärt bleiben, die eine Rolle bei der inneren, subjektiven Wahrnehmung von
Melodie spielen. Diese sind eng mit dem Willen und der Intention verbunden. Das Zitat
von Khan (Khan, 1988, S. 73) weist auf dieses Problem hin. Was anhand externer
Merkmale und äußerer Verhaltensmuster abgelesen werden kann, gibt noch keine
endgültigen Aufschlüsse darüber, wie das Wahrgenommene innerlich aufgenommen
wird. Wie ist das beschaffen, was uns von innen heraus beeinflußt?

Die musikalische Perzeption ist neben und zugleich mit der Wahrnehmung der
melodischen Elemente und Gestalt immer auch ein emotionales Hören. Der Hörer
reagiert in seiner individuellen Gefühlsdisposition subjektiv auf die jeweilige Musik. Die
Perspektive richtet sich somit auch auf den emotionalen Gehalt der Musik. Dieser
betrifft den Ausdruck und Eindruck der Musik im Bereich des Gefühlshaften. Damit
verbunden sind Fragen nach dem expressiven Charakter des Wahrgenommenen und
dem Effekt, den expressive Elemente im Zuhörer hervorrufen. Im folgenden Abschnitt
wird dieser Aspekt mit besonderer Berücksichtigung des Melodischen näher betrachtet.

39
M ELODIE UND E XPRESSIVIT ä T

“It is not experience that organizes


expression but the other way around -
expression organizes experience.
Expression is what first gives experience
its form and specifity of direction.”

Volosinov in (Shotter, 1996)

Expressivität wird oft als das Objekt von musikalischer Performance betrachtet (Palmer,
1996b). Nicht nur Musiker und Psychologen, sondern auch engagierte Musikliebhaber
und -kenner vertreten häufig die Meinung, daß die Schönheit der Musik im expressiven
Abweichen von der genau festgelegten Partitur liegt. Konzertaufführungen werden
dadurch interessant und gewinnen ihren Reiz aus der Tatsache, daß sie weit über die
Information des gedruckten Notenblatts hinausreichen. Bereits Seashore (Seashore,
1938) entdeckte in seinen frühen Studien zur musikalischen Performance, daß Musiker
sehr selten zwei und dieselben Töne auf die gleiche Art und Weise spielen. Tempo,
Lautstärke, Tonqualität und Intonation können innerhalb derselben Taktstruktur
wesentlich variiert werden. Derartige Variationsmöglichkeiten, die ihren Ausgangspunkt
in der kompositorischen Vorlage haben, aber individuell von ihr abweichen, bestimmen
das, was wir allgemein als “Expressivität” bezeichnen. Sie erklären, warum es uns nicht
gleichgültig ist, verschiedene Künstler zu hören, die dasselbe Stück vortragen. Sie
erklären auch, warum es wert ist, daß nachfolgende Generationen zum großen Teil
immer wieder dasselbe klassische Repertoire wiederholen. Neue, inspirierende und
verständnisbereichernde Interpretationen können immer wieder neu entstehen und das
öffentliche Musikleben bereichern und beleben.

Von der Sichtweise des Musikers aus ist die Wahl eines bestimmten, expressiven
Ausdrucksmittels auch eine rational getroffene. Es gibt z. B. allgemeine
Übereinstimmungen darüber, welche Noten innerhalb einer Melodie oder Tonfolge
unterschiedlich hervorgehoben werden sollten und welche nicht. Wir können
verschiedene Interpretationen miteinander vergleichen und begründen, warum uns die
eine angebrachter erscheint als die andere. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es für ein
bestimmtes Musikstück nur eine einzige, akzeptable Interpretation gäbe, denn diese sind
in ihrer Anzahl unbegrenzt. “Die” ideale Interpretation und Aufführung gibt es weder
im Bereich der Musik noch in dem der anderen Künste (Palmer, 1996b). Wir können
eine Aufführung als gut beurteilen, wenn es dem Künstler gelungen ist, seine
musikalisch- strukturelle Konzeption dem Publikum zu vermitteln. Auf diese Weise
entsteht Expressivität als eine Funktion beider Tatsachen, der Interpretation des
Künstlers und der Information, die aus der Notenvorlage, der Partitur gewonnen wird.
Somit können wir davon ausgehen, daß es Kriterien gibt, mit Hilfe derer die meisten

40
Musiker aufgrund übereinstimmender, vergleichbarer Ausbildungsvoraussetzungen und
gemeinsamer kultureller Gegebenheiten ähnliche Interpretationsweisen wählen, die einer
Komposition angemessen erscheinen.

Auch wenn es möglich ist, von einer gemeinsam geteilten “Sprache” der expressiven
“Regeln” zu sprechen führt diese doch keineswegs zu einer Gleichförmigkeit oder
Einheitlichkeit der Performance. Sloboda (Sloboda, 1985) stellt fest, daß sogar innerhalb
eines relativ eng definierten “rationalen” Systems expressiver Ausdrucksmittel das
Potential für individuelle Variationsmöglichkeiten noch immens groß ist. Selbst in einem
eng eingegrenzten musikalischen Ausschnitt gibt es noch viele “freie” Parameter: “We
may suppose that the way which different performers ‘fill in’ these free parameters is
what is responsible for their unmistakable individual style that permeates all their
performances”. Expressivität ist somit keine zufällige, arbiträre
Veränderungsmöglichkeit, die für eine musikalische Aufführung herangezogen wird; sie
bestimmt sich im wesentlichen auch durch die musikalischen Strukturen, durch die sie
zugleich eine gewisse Begrenzung erhält.

Die Bedeutung der expressiven Ausdrucksmöglichkeiten ist somit vieldeutig und immer
von dem jeweiligen musikalischen Kontext abhängig. In den vorangegangenen
Abschnitten ist deutlich geworden, daß wir mit der Melodie eine spezielle Form von
musikalischer Struktur vor uns haben, die innerhalb verschiedenster Kontexte entstehen
kann. Folglich bestimmt sich auch der Ausdruck einer Melodie von ihrem Kontext und
der ihr zugrundeliegenden Struktur, die die vielseitigen Einzelelemente wie Tonhöhe,
Kontur, Motivik, Intervallaufbau, temporal-rhythmische Anlage, Artikulation,
dynamische Beschaffenheit, Timbre und tonaler Aufbau in sich vereint. Die Art und
Weise, wie diese Elemente qualitativ geordnet und unterschiedlich hervorgehoben
werden, hängt von den jeweiligen musikalischen Wertvorstellungen und kulturellen
Gegebenheiten ab (vgl. Kapitel 1, ‘Melodie im Kontext der Musikbetrachtung’). Das
unmittelbare Empfinden für das, was im organischen Sinne melodisch möglich ist, ist
somit eine soziokulturelle wie auch sehr individuelle Tatsache. Aus diesem Grund wird
nicht näher auf die verschiedenen Versuche eingegangen, in denen musikalische
Intervalle mit bestimmten, fixierten Emotionen in Verbindung gesetzt werden. Diese
Abhandlungen unterscheiden sich auch in ihrem therapeutischen Bezug hinsichtlich
ihres jeweiligen, speziellen Interpretationssystems (Bonny & McCarron, 1984; Mahler,
1980; Nordoff & Robbins, 1986). Neben Mahler und Nordoff-Robbins hat sich auch
Polak (Blume, 1989b, S. 1359) mit dem Wirkungsgrad von Intervallen beschäftigt. Ihre
Ausführungen lassen sich auf den seit Kurth und Mersmann eingeführten Intervall-
Spannungs-Begriff und die durch Eimert und Krenek vorgenommenen sensualistischen
Einteilungen der Intervalldistanzen zurückführen. Das Problem der Konzepte Nordoff-

41
Robbins, Mahlers und Polaks ist, daß sie sich im ganzen auf die Untersuchung der
Einzelintervalle als spezifische Gefühlserreger beschränken. Tatsächlich hat aber jedes
Intervall nicht nur gegenüber jedem anderen seine Spezifika in distanzlicher,
kordanzlicher und sonanzlicher Hinsicht. Es wird auch durch die tonale Immanenz
seines tonalen, bzw. erweitert-tonalen musikalischen Gesamtsonanzfeldes so
entscheidend beeinflußt, daß es ganz verschiedene Wirkungsgrade und Bedeutungen
annehmen kann. Dieser gesamte Bereich ist so hintergründig und in sich vielschichtig,
daß sich daraus das immer noch unentschiedene Ringen um die Benennung seiner
Phänomene erklären läßt.

Insgesamt ist die Melodie als umfassende musikalische Erscheinung eng mit dem
Begriff der Expressivität verknüpft. Diese enge Verknüpfung hat, wenn wir an den
Melodiebegriff des 18./19. Jahrhunderts denken (vgl. Kapitel 1, ‘Ästhetische
Voraussetzungen’), Tradition. Die Unbestimmtheit des irrationalen, individuellen,
poetischen, melodischen Gedankens ist ein ästhetischer Grundgedanke, der über
Epochengrenzen hinausreicht. So war es immer die Melodie, von der, als Teilmoment
der Musik, Expressivität und Sprachcharakter erwartet wurde.

Für die Darstellung einer expressiv hervorgehobenen Melodie kommen, neben den
bereits erwähnten Mitteln, nach den Ausführungen Palmers (Palmer, 1996b) häufig die
temporale A-Synchronisation wie Tempoverzögerungen und - beschleunigungen,
dynamischer Wechsel und Artikulation zur Anwendung. Dynamische Hervorhebungen
werden oft herangezogen, um die melodische Kontur oder die Phrasenstruktur zu
markieren. Rubato und Tempowechsel sind andere expressive Charakteristika, die die
Struktur der Melodie unterstreichen. Insgesamt ist in einer Performance-Situation die
Hervorhebung der Melodielinie ein generell gehandhabtes und gängiges expressives
Ausdrucksmittel, das den Hörern ermöglicht, die Melodiestimme aus dem
mehrstimmigen Kontext herauszuhören. Ein Charakteristikum unserer westlichen
tonalen Musik sind die vielfältigen Möglichkeiten der Verknüpfung musikalischer
Elemente, die sich zwischen den musikalischen Ereignissen ergeben und somit in
unterschiedlichster Weise individuell hervorgehoben werden können. Diese vielfältigen
Möglichkeiten eines Beziehungsgeflechts sind historisch durch die Entwicklung der
Mehrstimmigkeit bedingt. In der Aufführung eines Musikstücks können somit, durch
Anwendung der expressiven Möglichkeiten, verschiedene Typen musikalischer
Strukturen in ihren Beziehungen hervorgehoben und spezifiziert werden. Einige der
expressiven Ausdrucksmittel können dabei, wie schon erwähnt, die Funktion erhalten,
die subjektive Interpretationsweise des Musikers klar und eindeutig hervorzuheben.
Unterschiedliche Interpretationen übertragen also den expressiven Ausdrucksmitteln
Intentionalität: “Interpretations bring intentionality to expressive features by giving them

42
their content, or by determining what they are about” (Palmer, 1996b, S. 52). Wenn also
die Hervorhebung der melodischen Linie als Ausdrucksmittel gewählt wird, bezieht sich
dieses Mittel auf den Inhalt der Melodie. Jedoch müssen nicht alle expressiven Mittel
intentional gemeint sein. Die Vorausnahme eines bestimmten Akkordtons kann
intentional auf die folgende Melodie hinweisen, aber auch als ein nur zufällig früher
gespielter Ton erscheinen.

Insgesamt lassen sich die expressiven Merkmale inhaltlich auf zahlreiche musikalische
Attribute und auf Spannungsmomente sowie Affekte beziehen. Dabei ist in einer
Performance-Situation die Beziehung zwischen der musikalischen Struktur und den
gewählten expressiven Ausdrucksmitteln wichtig.

Musikalisch expressive Ausdrucksmittel können zweifelsfrei das Erlebnis einer


melodischen Gestalt vertiefen. In einem aktiven Spiel auf Instrumenten kann das
gewählte Ausdrucksmittel die Gefühle der Person ausdrücken, die nach ihm greift und
es für sich benutzt. Somit gewährt dieses Ausdrucksmittel einen Einblick in die
momentane Stimmungslage dieser Person und hat ihr Analogat im menschlichen Sein.
Das, was mit Hilfe des musikalischen Ausdrucksmittels (dem Symbol) zum Ausdruck
(symbolisiert) gebracht wird, hat mit ihm eine logische Form gemeinsam . Ausdruck
und Ausdrucksmittel sind isomorph (Aldridge, 1996c, S. 93). Gefühle liegen jedoch
nicht unbedingt auf der gleichen Ebene wie Zustände von Erregungen; sie sind eher als
Ausdruck einer Person zu verstehen, die über und um ihr eigenes inneres Gefühlsleben
weiß. In dem zeitlichen Ablauf eines Gefühlszustands, der durch die gewählten
Ausdrucksmittel hörbar wird, liegen unerschöpfliche Variationsmöglichkeiten, die sich
nicht auf einen Nenner bringen lassen. Diese “Realitäten” können die Grenzen
konventioneller Kategorisierung überschreiten.

Die Logik von Emotionen

Daß Musik ein besonders geeignetes Medium ist, das stimulierend auf die Gefühlswelt
des Menschen einzuwirken vermag, ist eine allgemein anerkannte Tatsache. Welche
Beziehung besteht aber zwischen den musikalisch expressiven Formen und den zum
Ausdruck gebrachten menschlichen Emotionen?

Wir können davon ausgehen, daß die Bedeutung der Musik (vgl. Kapitel 1, ‘Melodie im
Kontext der Musikbetrachtung’) nicht allein in ihrer Eigenschaft als emotionales
Reizmittel zu sehen ist, sondern weit darüber hinausreicht. Susanne Langer formuliert es
folgendermaßen: “Musik ist ebensowenig die Ursache von Gefühlen wie deren
Heilmittel. Sie ist ihr logischer Ausdruck" (Langer, 1992, S. 216). Gefühle im
Menschen suchen in ihrer Dynamik und Beweglichkeit eine Form des Ausdrucks.

43
Gerade hierin liegt die bevorzugte Affinität des Gefühls zur Musik begründet, die in
ihrem sukzessiven Verlauf erlebte Zeit “kairos” (Aldridge, 1996c, S. 37) ist.

Wie in den Abschnitten zur Perzeption deutlich geworden ist, sind wir in der Lage,
Formen, Muster und Sequenzen verschiedener musikalisch-melodischer Elemente
wahrzunehmen. Jede Form können wir unmittelbar, ohne Zusatz gedanklicher
Anstrengung perzipieren, denn sie wird in der ihr eigenen Form erfahren. (Einen
Rhythmus, ein melodisches Motiv oder eine melodische Gestalt zu hören bedeutet, ein
Bewußtsein zu haben von Klangformen, die uns durch unsere Kultur vermittelt werden)
(Budd, 1985).

Die subjektive Erfahrung, mit der wir das Werk verstehen und ihren Wert begreifen, ist
beides nicht aussagekräftig und nicht repräsentativ. Wenn einem musikalischen Werk
ein hoher Wert beigemessen wird, so läßt sich dieser nicht von dem musikalischen
Material, den komponierten Klängen trennen. Der individuell unterschiedlich erfahrene
künstlerisch ästhetische Wert der Musik ist den Klangformen, aus denen die Musik
komponiert ist, inhärent und kann nicht von ihnen abstrahiert werden.

Auch wenn Musik in ihrer Essenz in der Weise eine abstrakte Kunst ist (autonom), die
sich (mit Ausnahme der Programmusik) in ihrer Kapazität nicht darauf beschränkt,
Gegenstände in der physikalischen Welt zu repräsentieren oder sich auf sie zu beziehen,
so wäre es dennoch falsch daraus zu schließen, daß die Erfahrung und der Wert der
Musik völlig getrennt von der außermusikalischen Welt zu sehen wäre. Einige
musikalischen Phänomene existieren nicht nur innerhalb der Musik und unsere
Vertrautheit mit den außermusikalischen Erlebnissen, Vorkommnissen und Vorfällen
können eine wichtige Rolle spielen, wie wir unsere Erfahrung von Musik umsetzen und
im Fall der praktischen Ausübung formen. Hier spielt der Rhythmus als ein
musikalisches Element externer und interner Art eine bedeutende Rolle. Er besitzt eine
Schlüsselfunktion im integrativen Prozeß zweier Vorgänge, in dem der musikalischen
Perzeption und dem der physiologischen Kohärenz (Aldridge, 1996c, S. 28). Wenn die
“äußere” musikalische Form in unserer Wahrnehmung mit unserer “inneren”
musikalischen Form, das heißt unserem Atemrhythmus übereinstimmt, bzw. diesen
“trifft”, reagieren wir emotional darauf; die musikalische Erfahrung wird
hervorgerufen. “External auditory perceptual is mediated by internal perceptual shaping
in the context of a personal rhythm” (Aldridge, 1996c, S. 29). Interessant erweist sich
hier die Bedeutung des Begriffes Kontext als `con textere`, was verknüpfen,
zusammenflechten und - weben meint. Wie ein Webmuster von einem anderen
durchkreuzt werden kann, wodurch ein weiteres “Interferenz-Muster” als Basis für
neue Möglichkeiten entsteht, so sind ebenso Klangfarbe und Rhythmus miteinander
verwoben, die immer wieder neue Klangkonstellationen hervorbringen können. Das

44
Zusammentreffen externer und interner Phänomene spielt in der kreativen
Musiktherapie von Nordoff-Robbins (Nordoff & Robbins, 1986) eine besondere Rolle,
auf die im nächsten Abschnitt “Improvisation als Mittelpunkt therapeutischen
Handelns” eingegangen wird.

Verschiedene Emotionen wie Freude, Trauer oder Sehnsucht können mit Hilfe
musikalisch expressiver Ausdrucksmittel in eine künstlerische Form gebracht werden,
die erlebbar wird. Musik kann also als eine Art symbolischer Form betrachtet werden,
die in der Darstellung und Präsentation ihrer musikalischen Aktionen eine “logische
Form” aufweist (Langer, 1992, S. 223). Was wir erleben und perzipieren wird in einer
Form begriffen, die, je nach musikalischem Inhalt, unterschiedlich ausfallen kann. Eine
melodische Figur, ein rhythmisch-melodisches Motiv, eine Tonhöhensequenz oder eine
bestimmte Intervallkonstellation können wir anhand ihrer zugrundeliegenden Form
erkennen. Langer weist auf die als erwiesen angesehene Tatsache hin, daß logisch
gesehen, die musikalischen Strukturen bestimmten dynamischen Organisationsformen
der menschlichen Erfahrung ähnlich sind. Akustische Erfahrungen sind auch im
visuellen Bereich zu finden und können ähnliche innere dynamische Züge aufweisen.
Bestimmte Aspekte unseres inneren Lebens besitzen formale Eigentümlichkeiten, “die
denen der Musik gleichen - Muster von Ruhe und Bewegung, Spannung und
Entspannung, Übereinstimmung und Unstimmigkeit, Vorbereitung, Erfüllung, Erregung
, plötzlicher Wechsel, usw” (Langer, 1992, S. 225). Die besondere Stärke der Musik
sieht Langer in ihrer einzigartigen Fähigkeit, Formen zu artikulieren, die durch die
Sprache nicht zu veranschaulichen und zum Ausdruck zu bringen sind: “Weil die
Formen des menschlichen Fühlens den musikalischen Formen viel kongruenter sind als
denen der Sprache, kann die Musik die Natur der Gefühle in einer Weise detailliert und
wahrhaftig offenbaren, der die Sprache nicht nahekommt” (Langer, 1992, S. 231).

Ästhetik und Emotion

Fast alle kognitiven Erkenntnisse involvieren Emotionen und umgekehrt involvieren


Emotionen Kognitionen (Shiblis, 1994). So ist z.B. in der kognitiven Emotionstheorie
die Emotion eng mit dem Ästhetischen, der Perzeption, Kognition und dem Kontext
verknüpft. Die Kognition ermöglicht uns, den ästhetischen Wert von Objekten
abzuwägen, bzw. zu beurteilen. Wir lernen und entscheiden, welche Erfahrung für uns
eine ästhetische ist. Eine ästhetische Emotion, die z. B. durch eine besondere
musikalische Erscheinung hervorgerufen wird, ist nicht nur körperliches Gefühl,
sondern wird von der Perzeption durchdrungen. Sie ist als unmittelbares, direktes und
spontanes Erlebnis immer auf gegenwärtige und vergangene Vorgänge der individuellen
Wertung bezogen. Das musikalische Ereignis z. B, das in uns ein Gefühl von Freude
hervorruft, kann zu einem späteren Zeitpunkt und in einem anderen Zusammenhang

45
ganz andere ästhetische Emotionen hervorrufen. Jeder ästhetischen Emotion entspricht
eine andere Kognition (Shiblis, 1994).

Emotionen rufen wir in uns selbst durch unsere eigenen Werturteile hervor. Klänge an
sich sind weder gut noch schlecht, sie erhalten allein durch unsere Sprache, die uns in
diesem Fall fehlleitet, ein quasi externes objektives Attribut. Allein schon der Begriff
“Musik” beinhaltet kognitives Erfassen und Einschätzen.

Negative Emotionen wie Angst können auch durch die Musik (Ästhetische Emotion)
hervorgerufen werden, sind jedoch von der durch die Lebensumstände hervorgerufenen
Angst zu unterscheiden. Levinson schreibt hierzu: “Negative emotional response to
music is desirable because it conduces to mental health; it is safe” (Levinson, 1982, S.
328). Wenn Musik oder Tragödie (im Bereich der Schauspielkunst) uns helfen, negative
Emotionen zu verstehen, besteht die Chance, daß wir mit ihnen eine andere Möglichkeit
des Umgangs im täglichen Leben finden. Dabei ist nicht nur eine mögliche Befreiung
von diesem Gefühlsaspekt entscheidend, sondern auch eine veränderte Einstellung ihm
gegenüber: “ Jealousy is not eliminated merely by having a good meal or listening to
relaxing music” (Shiblis, 1994, S. 379). Wenn uns die Kunst ermöglicht, negative
Emotionen besser zu verstehen, indem wir ein ästhetisches Verständnis für schwierige,
problematische Situationen aufbringen, könnte sie uns dazu verhelfen, zu lernen, auch im
täglichen Leben eine Distanz zu den eigenen negativen Emotionen zu finden. Probleme
und Widrigkeiten könnten somit als eine Chance angesehen werden, neue innere
Einstellungen zu finden und Probleme als eine Gelegenheit zu betrachten, neue
Lernerfahrungen zu machen. Nach Shiblis besitzt der ästhetische Aspekt die
Möglichkeit, negative Emotionen abzumildern. Damit wird er zu einem nützlichen
therapeutischen Instrumentarium. Im späteren Diskussionsteil wird auf diesen Punkt
noch ausführlicher eingegangen.

46
Kapitel 3

Musiktherapeutische Aspekte in ihrem Kontext

In den vorangegangenen Abschnitten der ersten beiden Kapitel sind einige Tatsachen
geschildert worden, die die äußeren Grenzpunkte markieren, innerhalb deren
Einflußbereich sich die musiktherapeutische Arbeit bewegt. Hier ist zu bedenken, daß
sie jedoch nur einen Teilbereich der Fakten darstellen, da sie bewußt von vornherein eine
Konzentration auf den melodischen Aspekt und die musikalische Improvisation (als das
Zentrum therapeutischen Handelns und der Lokalisation musiktherapeutischer
Prozesse) erfahren haben. Ich erinnere an die graphische Übersicht am Ende des ersten
Abschnitts, in der die Verflechtung dieser mannigfachen Bezüge angedeutet wurde. Es
wird verständlich, daß jegliche Äußerungen musikalischer, beziehungsweise
musiktherapeutischer Art ihre besondere Prägung von dem jeweiligen, sie umgebenden
Kontext erhalten, der sozial, technologisch-ökologisch, politisch, gesellschaftlich und im
umfassendsten Sinne kulturell sein kann. Die Bewußtwerdung dieser Tatsache kann uns
nicht nur eine Orientierung geben, sondern auch dazu verhelfen, unsere Position für die
Generierung von Forschungsfragen zu finden, wenn wir unsere Arbeit vertiefen
möchten: “...we must be able to look into the presuppositions for our work. We must
be able to see how certain values we hold determine our views upon man and music thus
influencing or professional choices as well as our scientific outlook and practice”
(Ruud, 1990b, S. 19). Damit macht sich aber sogleich ein Problem bemerkbar, das sich
aus den Eigenarten unserer pluralistischen, post-modernen Gesellschaft ergibt. Sie bietet
uns so viele Möglichkeiten, daß die Gefahr besteht, alle Dinge als relativ zu betrachten
und somit die Orientierung zu verlieren (Aldridge, 1997b).

Gesundheitskultur
Krankenhaus
Therapiekonzepte
Stationskultur
Musiktherapie
Sitzung

Abbildung 3.1: Musiktherapie im Kontext der Gesundheitskultur.

Unabhängig von den unterschiedlichen musiktherapeutischen Ansätzen und Methoden,


die sich auch in Anlehnung an bestimmte Wertvorstellungen und Konzepte wie
soziologische oder Konzepte der humanistischen Psychologie entwickelt haben, ist die

47
Musiktherapie als Teilbereich unserer Gesundheitskultur zu betrachten. Folgende
Einflußbereiche kommen zur Wirkung (s. Abb. 3.1)

Unser Gesundheitswesen läßt sich, ähnlich wie die Bereiche Kunst und Literatur, als
kultureller Prozess betrachten: “... health too is a cultural process and can be similarly
subjected to an aesthetic critique” (Aldridge, 1997b, S. 81). Was als gesund erachtet
wird hängt von kulturellen Normen ab. Menschen engagieren sich in Aktivitäten wie
Jogging, Bodybuilding oder Gymnastik und Sport, die als Kennzeichen des ‘Gesund-
Werdens’ oder ‘Gesund-Erhaltens’ dienen. Dieses reflektiert einen modernen Trend in
unserer Gesellschaft, der sich auf die Bildung einer eigenen Definitionsweise von
‘Gesund-Sein’ konzentriert, anstatt sich eine von anderen aufdrängen zu lassen. “While
personal active involvement has always been present in health care maintenance and
prevention, in that people have strategies of distress management, a new development
appeares to be that being a “healthy”, “creative”, “musical” or “spiritual” person are
considered to be significant factors in the composition of an individual`s “lifestyle”...
such a lifestyle is intimately bound up with how a person chooses to define him or
herself” (Aldridge, 1997b, S. 84-85). Das Zitat verdeutlicht, daß mit den Begriffen
gesund, kreativ, dynamisch, musikalisch und spirituell Kriterien angesprochen sind, die
für die Bildung der eigenen Identität und des selbstgewählten Lebensstils eine Rolle
spielen. Diese sind mit den verschiedenen kulturellen Werten verbunden, aber auch
damit, wie wir uns auf unseren eigenen Körper beziehen. Körpergröße und -form
repräsentieren in unserer modernen Gesellschaft wichtige Aspekte, die einen Teil
unserer persönlichen Identität bilden. Wie wir unseren Körper nach außen darstellen
hängt mit dem Bild zusammen, das wir von uns selber haben und damit, wie andere auf
uns reagieren. “It is a performance and, in being a performed reality, is the location for a
therapeutic endeavor” (Aldridge, 1996b, S. 106). Welcher Art die Performance auch
sein mag, ob musikalischer, bewegungsmäßiger, tänzerischer oder dramaturgischer Art,
immer ist der Körper involviert.

Einige Krankheiten, wie z.B. die des Brustkrebs (s. Studie 1) sind eng mit dem eigenen
Körperimage verbunden, das heißt mit dem Verlust eines Teils des Körpers, der tief in
die Sexualität und Feminität der Frau verwurzelt ist. Hier wird die Verflechtung mit dem
gesellschaftlich-kulturellen Aspekt besonders deutlich. Über die Bedeutung dieses
Krankheitsbildes wird in dem später folgenden vierten Teil dieser Arbeit näher
eingegangen. Aber auch die Symptome anderer Krankheitsbilder artikulieren sich
vorwiegend durch den Körper. Hierzu gehört der ganze Bereich der psychosomatischen
Erkrankungen. Dieser Bereich bildet mit der Konzentration auf das Erscheinungsbild
der Depression den klinischen Kontext der zweiten Studie, der in Kapitel 13 näher
ausgeführt wird.

48
Neben der Gesundheitskultur sind die jeweiligen Krankenhäuser zu nennen, die mit
ihren besonderen Therapiekonzepten Einfluß auf die Musiktherapie ausüben. Und
schließlich sind die Stationen zu erwähnen, die ihre eigenen Werte, Begriffe und
Verfahrensweisen heranziehen, um ihre Behandlungskonzepte zu verwirklichen.
Innerhalb des Kontexts eines solchen stationären Rahmens sind die Daten der beiden
Studien, die dieser Forschungsarbeit zugrundeliegen, generiert worden. Studie eins
bezieht sich auf die onkologische, Studie zwei auf die psychosomatische Station des
Gemeinschaftskrankenhauses in Herdecke. Die Präambel der Struktur des
Gemeinnützigen Gemeinschaftskrankenhauses liegt allen Abteilungen zugrunde:”
Unterstütze den kranken Menschen darin, seine individuellen Möglichkeiten zu
verwirklichen und in der Auseinandersetzung mit seinem kranken Leib, seinem
Schicksal und der Umwelt neue Verwirklichungsmöglichkeiten zu erlangen” (Rehm,
1989). Das Konzept der auf die Person als Ganzes ausgerichteten medizinischen
Betrachtungsweise ist Bestandteil der allgemeinen medizinischen Behandlung. Patienten
werden in der medizinischen Versorgung als aktive Partner angesehen und nicht als
passive Empfänger dieser Versorgungsmaßnahmen. In allen Abteilungen wird die Arbeit
von dem Gedanken getragen, daß der Einzelmensch das Maß für den therapeutischen
Prozeß ist und in seiner Individualität am Geschehen beteiligt wird. Somit spielen die
Kunsttherapien eine wichtige Rolle im Gesamtkonzept der medizinischen Behandlung.
Neben der Musiktherapie werden die künstlerischen Therapien Malen, Plastizieren,
Heileurythmie und Sprache einbezogen. Die Entscheidung für die Art der klinischen
Behandlungsmaßnahmen bezieht sowohl die Informationen und Meinungen des
Stationsteams als auch der verschiedenen Kunsttherapien mit ein. Kunsttherapeutische
Diagnose und Dokumentation des kunsttherapeutischen Prozesses spielen in den
Behandlungskonzepten eine wesentliche Rolle. Der Einsatz und die Funktion der
Kunsttherapien ist hier im wahrsten Sinne komplementär.

Wenn wir also die Musiktherapie innerhalb dieses Gesamtkontextes der


Gesundheitskultur betrachten wird es deutlich, daß wir mit unserer
musiktherapeutischen Arbeit in unterschiedliche Interaktionen einbezogen sind, in die
neben unseren eigenen, auch andere Wertvorstellungen und Normen involviert sind.
Eine Argumentationsweise, die sich nur auf die der Musik immanenten Wirkungskräfte
berufen würde, wird allein schon im Hinblick auf die dargelegten Fakten dieser
verschiedenen Einflußbereiche unhaltbar.

Ein weiteres Beziehungsgeflecht ergibt sich, wenn wir uns auf die musikalische
Improvisation selbst, als den Ort musiktherapeutischen Agierens konzentrieren. Hier
kommen weitere Aspekte zum Tragen, die die therapeutische Arbeit beeinflussen. Diese
Verflechtungen werden in der graphischen Übersicht, Abbildung 3.2 veranschaulicht:

49
Musikkultur

Perzeption

Musikästhetik

Improvisation

Erwartung

Beziehung

Wirkung/Effekt

Patient und Therapeut

Krankenhaus

Abbildung 3.2: Die Improvisation im stationären Kontext.

Der im Gesundheitswesen deutlich werdende Demokratisierungsaspekt wird auch von


Arnheim im Bereich der Künste hervorgehoben (Arnheim, 1986). Im Hinblick auf die
therapeutische Berechtigung der Künste nennt Arnheim zwei Merkmale, die die
gegenwärtige Stellung der Künste charakterisieren: ihre Demokratisierung und ihre
hedonistische Tradition in der westlichen Ästhetik. Als wichtig erachtet er dabei die
allmählich wachsende Überzeugung, daß jeder Mensch qualifiziert sei, von den Künsten
zu profitieren und jeder in sich die Möglichkeiten habe, ein Kunstwerk zu produzieren.
Seine Überzeugung, daß Kunst zunächst eine kognitive Funktion erfülle, deckt sich mit
den zahlreichen Ergebnissen zur kognitiven Perzeption und der kognitiven
Emotionstheorie (vgl. Kapitel 2, ‘Zur Perzeption von Melodie’ und ‘Melodie und
Expressivität’).

Unser erworbenes und aus unserer Umwelt angeeignete Wissen gelangt durch unsere
Sinne zu uns. Das, was wir durch unsere Augen, Ohren oder den Tastsinn empfangen,
sind jedoch Abbildungen und Vorstellungen, die weit davon entfernt sind, leicht lesbare
Diagramme der Natur oder der Funktion von Dingen zu sein: “Sensory perception,
therefore, cannot limit itself to simply recording the images that hit the receptor organs.
Perception must look for structure. In fact, perception is the discovery of structure”
(Arnheim, 1986, S. 253). Auf die vorliegende Forschungsstudie bezogen sind dieses die
Elemente der Melodie wie Tonhöhensequenzen, Kontur oder Intervallcharakter, die wir
in ihrer Struktur wahrnehmen. Die Struktur dieser melodischen Komponenten teilt uns

50
mit, auf welche Art und Weise sie miteinander interagieren und durch welche
Anordnung sie in Beziehung treten.

Arnheim hebt ebenfalls die expressiven Qualitäten von signifikanten Merkmalen unserer
Umgebung hervor, die besonders durch die Künste verkörpert werden wie Form, Farbe,
Textur und Bewegung. Durch die Möglichkeit ihrer abstrakten Erscheinung haben
Form, Farbe, Textur und Bewegung therapeutische Bedeutung. Anhand ihres abstrakten
Erscheinungsbildes wird es möglich sein, Muster und Formen im Kunstwerk oder
musikalischen Spiel der Patienten als eine Möglichkeit des von ihren gewählten Weges
des Seins und Handelns abzulesen. Diese Ausdrucksmöglichkeiten, die ästhetische
Qualitäten hervorbringen, spielen nicht nur um ihrer selbst willen eine Rolle, sondern
verkörpern sich als angenehme, beglückende und oft entspannende Aktivitäten. Mit
Hilfe der musikalischen Improvisation könnte durch den Prozess der künstlerischen
Tätigkeit Kreativität freigesetzt werden, die sich auf den Ausübenden, den Patienten,
überträgt und die ästhetische Qualität seines Spiels durch die Klarheit und Kraft seiner
künstlerischen Aussage expressiv offenbart. Ein wichtiges Kriterium für die Erfassung
und Beurteilung der Veränderung und des Wandels in der Therapie wäre somit
ästhetischer Art.

In diesem Zusammenhang läßt sich auch das von Ingarden beschriebene ästhetische
Erlebnis, das er als ein Betroffensein im `Jetzt` charakterisiert, heranziehen. Der von ihm
beschriebene Nachschaffungsprozess läßt sich in der Musiktherapie in besonderer
Weise mit Hilfe der musikalischen Improvisation, durch die Aktivierung der Perzeption
und der im Erleben vollzogenen Handlung realisieren.

Therapie kann also als Vehikel dienen, Ausdruck zu ermöglichen. Dieser ist jedoch nicht
von vornherein gegeben, sondern entwickelt sich erst im Verlauf der therapeutischen
Behandlungsphase. Mit der musikalischen Improvisation besteht somit die Chance, den
Boden vorzubereiten, von dem aus der Patient seine melodische Expressivität entwickeln
kann. Der entscheidende Punkt ist jedoch, daß wir eine “musikalische Sprache”
benutzen, die Patienten verstehen können. Ein ähnliches Argument begegnete uns in
dem Zitat der Künstler J. Johns und J. Cage (vgl. Kapitel 1, ‘Ästhetische
Voraussetzungen’). Für sie macht es keinen Sinn, wenn Künstler etwas ausdrücken,
das Menschen nicht verstehen können. Der über das Werk vermittelte Dia - log mit dem
Publikum könnte sich als einseitiger Mono - log erweisen. In der Therapie spielt der Dia
- log als Grundlage der Kommunikation mit den Patienten eine entscheidende Rolle. Es
wäre jedoch kaum möglich diesen mit Ausdrucksmitteln zu entwickeln, die den Patienten
fremd sind. Voraussetzung für die Bildung eines solchen Austausches ist das Erfassen
der kulturellen und ästhetischen Ausdrucksmittel und Ausdrucksweisen der Patienten.
Die Wahl der musikalischen Ausdrucksmittel hängt also, wie dargelegt, auch von dem

51
kulturellen Kontext der Patienten ab. Dieses war z.B. ein wichtiger zu
berücksichtigender Aspekt in der musiktherapeutischen Arbeit mit Patienten, die an
Morbus Alzheimer erkrankt waren (Aldridge & Aldridge, 1992).

Die musikalische Improvisation, die die Grundlage der schöpferischen Musiktherapie


bildet und dieser Forschungsstudie zugrundeliegt, basiert auf der von Nordoff und
Robbins (Nordoff & Robbins, 1977; Nordoff & Robbins, 1986) ursprünglich für
geistig und körperlich behinderte Kinder entwickelten Form der schöpferischen,
improvisatorischen Musiktherapie. In unterschiedlichen klinischen Bereichen wurde
diese im Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke in der Arbeit mit erwachsenen
Patienten weiterentwickelt. Aus dieser Erfahrung sind verschiedene Veröffentlichungen
mit unterschiedlichen Schwerpunkten hervorgegangen: (Aldridge, 1997a; Aldridge,
Brandt & Wohler, 1990; Aldridge, Brandt & Wohler, 1991; Aldridge, 1993c; Aldridge,
1996d; Ansdell, 1995; Gustorff, 1990; Gustorff, 1997a; Gustorff, 1997b; Hoffmann,
1997a; Hoffmann, 1997b; Neugebauer, 1996; Neugebauer, Gustorff, Matthiessen &
Aldridge, 1989).

Im nächstfolgenden Abschnitt wird näher auf die kreative Improvisation als


therapeutisches Mittel eingegangen.

I MPROVISATION ALS K ERNPUNKT THERAPEUTISCHEN H ANDELNS

Es wird hier von der Tatsache ausgegangen, daß Musik als absichtsvolle menschliche
Äußerung einen Sinn hat und in ihrem Vollzug Bedeutung erhält. Therapeutisch ist
dieses signifikant, denn es lassen sich daraus die verschiedenen Bedeutungsinhalte
ableiten, die Auskunft über entscheidende innere Prozeße des Patienten geben können.
Die Aufdeckung und Erforschung dieser Bedeutungsinhalte in bezug auf die
melodische Entwicklung ist Inhalt des Teils vier.

Das Improvisieren ist so alt wie die Menschheit. In allen Kulturen wurde und wird
improvisiert. Das Entstehen des ersten Musikmaterials der Menschheit war nur auf
improvisatorischer Grundlage möglich. Im Musikleben der außereuropäischen
Kulturvölker besteht teilweise noch die ursprüngliche Einheit der Gleichzeitigkeit von
schöpferischer Idee und Wiedergabe, die mittlerweile im westlichen Musikleben der
Gegenwart als selbstverständliche Spaltung hingenommen wird. Leider existieren nur
wenige Studien, die sich mit der Improvisation systematisch befassen. Im Bereich der
ethnomusikologischen Musik sowie in bestimmten improvisatorischen Formen der
klassischen Musik gibt es Untersuchungen, die sich ansatzweise mit improvisatorischen
Merkmalen und Modellen befassen (Brailoiu, 1984).

52
Die musikalische Improvisation hat sich seit 1938 mit der zunehmenden Verbreitung
und wachsenden Anerkennung des Jazz zu einem faszinierenden und prominenten
Faktor in der Ethnomusikologie entwickelt (Sawyer, 1996). Es zeigt sich jedoch, daß die
traditionellen Methoden der musikalischen Analyse, die im Hinblick auf das
komponierte, notierte Kunstprodukt entwickelt wurden, nur teilweise für die
Beschreibung improvisatorischer Vorgänge herangezogen werden können. Da sich die
meisten Analysen auf die musikalischen Formen der westlichen Musik und ihr
hochentwickeltes Notationssystem konzentrieren, zeigen ihre Deutungsansätze eine
gewisse statische und strukturelle Komponente, die den Unbestimmtheitsfaktor der
musikalischen Aufführung vernachlässigen. Dieser Unbestimmtheitsfaktor gehört
jedoch zu den wichtigen Merkmalen einer Improvisation und äußert sich im “Akt” der
Improvisation selbst, das heißt in der Aktivität des unmittelbaren Erfindens und
Ausführens von Musik. Im Gegensatz zu einer schriftlich fixierten Komposition, die das
Endergebnis eines musikalischen Schaffensprozesses visuell vor Augen führt, ist bei der
Improvisation das Moment des Unvorbereiteten, Spontanen gegenüber dem
Prämeditierten vorherrschend.

Zwei weitere charakteristische Eigenschaften der Improvisation, nämlich der zufällige


Charakter der Aufführung und das kollektive Phänomen der sich gegenseitig
beeinflussenden individuellen Spieler, sind mit linguistischen, semiotischen oder
strukturellen Modellen der musikalischen Analyse schwer zu erfassen und zu
beschreiben. Diese Methoden bieten generell wenig Anhaltspunkte, die sich als nützlich
erweisen könnten, die improvisatorisch abhängige Natur der Interaktion näher zu
erforschen. In einigen Beispielen der neueren Jazzliteratur sind die sich gegenseitig
beeinflussenden Prozesse bei Gruppenimprovisationen Gegenstand der
Untersuchungen von improvisatorischen Aufführungen (Berliner, 1994; Sawyer, 1992;
Sawyer, 1996).

Im Bereich der Sprachwissenschaften können wir parallele Vorgänge beobachten, die


sich in Argumenten ausdrücken, die die Anwendung bestimmter Modelle der
Konversationsanalyse in Frage stellen: ”Although we are dealing with a structured
ordering of message elements that represents the speaker`s expectations about what will
happen next, yet it is not a static structure, but rather it reflects a dynamic process which
develops and changes the participants interact” (Gumperz, 1982, S. 131). Um die
strukturellen Merkmale der Konversationsanalyse anzuwenden, müßte ein Gespräch wie
ein statisches Transkript behandelt werden. Mit einem derartigen Analyseverfahren
könnte man jedoch der Unbestimmtheit der sprachlichen Interaktion, die sich aktuell in
jedem Moment präsentiert, nicht gerecht werden.

53
Die musikalische Improvisation bildet eine wichtige Grundlage im Bereich der aktiven,
kreativen Musiktherapie. Dazu gehören die von Nordoff im Rahmen der therapeutischen
Arbeit mit behinderten Kindern entwickelten Techniken und Verfahren zur klinischen
Improvisation (Nordoff & Robbins, 1986). Sie dienen als Anregung und praktische
Hilfe zum Studium der Improvisation, die therapeutisch eingesetzt wird. Im Hinblick auf
ihren klinischen Kontext haben diese Techniken zugleich eine forschende,
unterstützende und bewegliche Komponente. Sie stellen jedoch keine systematisch
erforschten Untersuchungen über improvisatorisch-therapeutische Einsatzmöglichkeiten
dar.

Als eine weitere Quelle therapeutisch bezogener Improvisationen sind die


Improvisationsmodelle von Bruscia (Bruscia, 1987) zu sehen, in denen eine umfassende
Synopse verschiedenster therapeutischer Modelle, die die musikalische Improvisation
als primäre Methode der klinischen Intervention heranziehen, aufgeführt wird.
Allerdings sind bisher kaum Studien veröffentlicht worden, in denen seine
Improvisationsprofile angewandt und ausprobiert wurden.

Auch für Weymann bildet die Improvisation ein prominentes Werkzeug in der Therapie,
das, psychologisch gesehen, eine unbewußte Re-Inszenierung der Lebensproblematik
des Patienten hervorrufen kann (Weymann, 1990).

Einen interessanten Einblick in die Analyse einer Improvisation wird bei Lee (Lee, 1995;
Lee, 1996) gewonnen, der durch die Einbeziehung zweier Ebenen, der Makro - und
Mikroebene, den Versuch unternimmt, eine Formel für die Analyse der therapeutischen
Improvisation zu entwickeln. Hierbei stützt er sich auf die Methoden von Schenker und
Nattiez. In seinem Konzept spielt der Begriff der generativen Zelle “generative cell”
eine zentrale Rolle. Auch wenn es verständlich erscheint, im musiktherapeutischen
Kontext eine biologisch-physiologische Metapher für die Analyse klinisch bedeutsamer
Prozesse heranzuziehen, so impliziert die Wahl dieses Begriffes mit dem Bild der
einzelnen “generative cell” nicht nur eine mögliche potentielle Entwicklung sondern
führt auch das negative, expansiv, evertierende Bild der Zellvermehrung, das für manche
Krankheiten, wie Krebs charakteristisch ist, mit sich. Meines Erachtens läßt der Begriff
den wesentlichen Aspekt der Dynamik in der Therapie, die aus der Interaktion zweier
Individuen (Patient, Therapeut) besteht, außer Acht. Zwei gegensätzliche Pole sind
jedoch notwendig, damit Aktion, Reaktion und Interaktion entstehen können.

Eine andere Möglichkeit der Beschreibung musikalischer Aspekte von


musiktherapeutischen Improvisationen finden wir bei Ruud (Ruud, 1990b; Ruud &
Mahns, 1992 S. 117), der ein Vier-Stufen-Modell vorschlägt. Dieses, sich auf eine
phönomenologische Beschreibung der Musik (nach Ferrara) gründende Modell geht

54
zunächst von einem offenen Hören aus, möglichst frei von “vorgefaßten Erwartungen
und Meinungen”, um anschließend das musikalische Material von verschiedenen
Perspektiven aus zu untersuchen: einer strukturellen, semantischen und pragmatischen.

Voraussetzung für den therapeutischen Einsatz der musikalischen Improvisation ist der
Grundgedanke, daß keine musikalischen Vorkenntnisse notwendig sind um in einen
musikalischen Prozeß zu gelangen. Spieltechniken und Vorkenntnisse fließen zwar in
die Improvisation mit ein, bilden jedoch in diesem Zusammenhang nicht die Kriterien
der künstlerischen Äußerung, denn diese manifestieren sich erst im unmittelbaren
musikalischen Augenblick. Die Improvisation ermöglicht durch ihren flexiblen Einsatz
das aktive Musizieren auf einer Ebene, die für beide, Patient/in und Therapeut/in,
stimmig und passend ist. Diese aktive Form der Musiktherapie stützt sich also auf die in
jedem Menschen natürlich angelegten gestalterischen Kräfte und Fähigkeiten.

Warum übt die Improvisation in unserer Musikkultur eine große und faszinierende
Anziehungskraft aus und warum eignet sie sich für den Einsatz in der Therapie?

Improvisieren zu können bedeutet immer, etwas aus dem Stegreif tun zu können. Dieses
spontane Agieren macht eine Person gegenüber einer anderen, die nicht unmittelbar
handeln kann, überlegen. Schon aus dieser Tatsache heraus bildet das Improvisieren ein
nützliches Mittel zur Bewältigung verschiedenster Aufgaben in besonderen Situationen
des täglichen Lebens. Improvisieren meint also, “etwas ohne Vorbereitung, aus dem
Stegreif tun” (Drosdowski, 1989).Wenn wir die Ableitung aus dem italienischen
`improvvisare` und dem vorausliegenden lateinischen Verb `improvisus` mit
hinzuziehen, so haben wir die Bedeutung von unvorhergesehen, unerwartet, unvermutet,
aber auch von vorhersehen (lat. providere). Damit ist die antizipatorische Komponente
angesprochen, die im kognitiven System der Perzeption und im kulturellen Kontext der
Patienten eine Rolle spielt . Improvisieren bedeutet also das gleichzeitige Erfinden und
Realisieren von Musik. Entgegen einer oft begegnenden Auffassung ist Improvisation
keineswegs gleichbedeutend mit Freiheit, Willkür oder Minderwertigkeit (Blume, 1989b,
S. 1093). Sie ist auch nicht auf die Musik beschränkt, sondern spielt als Urform des
schöpferischen Ausdrucks in allen Künsten eine Rolle. So bestehen auf dem Gebiet der
Augenblicksäußerungen zahlreiche Querverbindungen zwischen den Künsten wie Tanz,
Musik, lyrische und epische Dichtkunst, Rhetorik oder Malerei.

Die Spannweite der musikalischen Möglichkeiten des Improvisierens ist sehr groß und
sicherlich von der Individualität jeder einzelnen Person abhängig. Jeder musikalische
Parameter kann improvisierend gestaltet werden, von formgebundenen bis
formungebundenen Prozessen oder von amorphen bis zu prägnanten und dezidiert
ausgeführten Spielphasen.

55
Wir wissen um die Bedeutung von Expressivität (vgl. Kapitel 2, ‘Melodie und
Expressivität’). Sie ist ein besonders wichtiger, wenn nicht der Hauptaspekt der
musikalischen Improvisation, der sich in ganz unterschiedlicher Formgebung der
musikalischen Parameter äußern kann. In spezifischer Weise vermag die musikalische
Improvisation individuelle Ausdrucksmuster hörbar werden lassen. Wir können sie als
musikalische Bewegung erfahren, die nicht nur eine äußere Komponente wie z.B. die
klar hörbare rhythmische Struktur, sondern auch eine innere Qualität besitzt. Mit der
inneren Qualität sind die Momente angesprochen, in denen die musizierende Person,
bzw. der Patient sein augenblickliches Befinden, sein momentanes menschliches Sein
zum Ausdruck bringt. Durch die Art und Weise, wie er sich zu sich selbst, zu seinem
musikalischen Spiel und zur Therapeutin in Beziehung setzt, erfahren wir viel über seine
Individualität. Dieses kann sich durch eine besondere Artikulationsweise oder durch die
Intensität des Ausdrucks in einer eigenen dynamischen und temporalen Konstellation
äußern. Wir hören das Entstehen von “Spontangestalten” und ihre weitere Entwicklung
im musikalischen Prozeß. Die aus dem Moment heraus entstehenden musikalischen
Ereignisse können die Richtung der musikalischen Improvisation bestimmen. Wir hören
in den sich ständig neu bildenden Gestalten auch die musikalischen Eigenarten des
Patienten. Hinter den expressiven Gestalten steht immer die ganze Persönlichkeit des
Menschen, der sich durch sie zum Ausdruck bringt. Auf der emotionalen Ebene können
wir mit den Patienten in Kontakt treten, ohne ein Etikett für die zum Ausdruck
gebrachten Gefühle verwenden zu müssen.

Dem Therapeuten fällt die Rolle zu, nicht nur musikalisch zu stützen und zu bestätigen,
sondern auch etwas in Verwandlung zu bringen. Ein Bewußtsein zu haben über die
momentan ablaufenden Prozesse und die musikalische Interaktion ist eine notwendige
Voraussetzung für die therapeutische Wirksamkeit dieser Maßnahme. Auch wenn es
uns nicht möglich sein wird, die musikalische Erfahrung des Patienten in seinem
gegenwärtigen Spiel vollständig zu erfassen (denn wir sind Teil dieses
Interaktionsprozesses), so kann von seinem musikalischen Material, seiner
Ausdrucksweise und von seinem musikalischen Verhalten abgelesen werden, was ihm
wichtig ist und was er uns eventuell mitteilen will. Der Therapeut sollte in ständiger,
einfühlender Wahrnehmung versuchen, die umfassenden musikalischen Äußerungen
und Verhaltensweisen des Patienten zu verstehen und musikalisch aufzunehmen.

Wenn sich im Verlauf einer musikalischen Improvisation eine Form herausbildet, so ist
diese nicht im Sinne eines Schemas, das wir z.B. im Bereich der Formenlehre als fixierte
Größe finden können, zu verstehen, sondern als die individuell gewachsene äußere
Gestalt, die sich aus den vorher erwähnten “Spontangestalten”, motivischen Elementen
und musikalischen Ereignissen ergibt. Dabei kann die “Spontangestalt” wie ein

56
melodisches Motiv autonom aus der Spielstruktur heraustreten und sich im Verlauf der
Improvisation mit anderen musikalischen Elementen zu einer umfassenderen,
übergeordneteren Gestalt formen. Die Form kann auch, im Sinne einer stützenden
Struktur (Kadenzformel, Rondoform, Variationsform, ostinate Form), als
therapeutisches Mittel herangezogen werden, das den Boden bildet, von dem aus der
Patient seine musikalischen Ideen verwirklichen kann. Die Beziehung zu dieser
therapeutisch genutzten Art der Form bedeutet keine Einschränkung, sondern eine
Stabilität und Sicherung, die Individualität ermöglicht.

Im Bereich der Jazzimprovisation hat das Zugrundelegen eines Schemas ähnliche


Bedeutung: “Gebunden zu sein an eine musikalische Form vermindert zwar die Anzahl
der Freiheitsgrade, ... reduziert jedoch keineswegs das kreative Ausschöpfen innerhalb
der musikalischen Form” (Jörgensmann & Weyer, 1991, S. 27). Die Improvisation
ermöglicht also das Werden des musikalischen Kunstwerkes in seiner sich allmählich
entfaltenden, individuellen Form gleichsam in ‘statu nascendi’ ganzheitlich zu erleben.

Ein wichtiger Aspekt, der die therapeutische Bedeutung der musikalischen Improvisation
hervorhebt, ist der der Kommunikation. Ruud (Ruud, 1990a) betrachtet die musikalische
Improvisation als eine Form von “proto-communication”, die den allgemeinen Boden
für Kommunikation und Interaktion bildet. Von einer ästhetischen Perspektive aus
gesehen ist die musikalische Kommunikation ein wichtiger Weg, “to define,
differentiate, investigate, and point towards nuances in inner life, or stirring, so far non
investigated areas in this landscape” (Ruud, 1990a, S. 15).

Weitere interessante Hinweise über die in der improvisatorischen Aufführungs-Praxis


ablaufenden Prozesse können wir der neueren Jazz-Literatur entnehmen. Berliner
(Berliner, 1994) betont z. B. den entwicklungsmäßigen Wandel von Imitation zur
Assimilation bis hin zur Innovation. Mit den Worten von Walter Bishop charakterisiert
er den erfolgreichen Prozeß der Individuation, der durch die verschiedenen
musikalischen Dimensionen wie Vibrato, Timbre, rhythmische und harmonische
Konzeption und ihrer Integration beeinflußt werden kann. Anders als in der
Konversation gibt es im Jazz, mit Ausnahme des bewußt gewählten Dialogs, kein
sequentielles Verhalten. Alle beteiligten Musiker tragen ihren Part ununterbrochen vor.
Trotzdem beschreiben viele Jazz-Musiker ihre Interaktionen auf der Bühne als eine Art
Konversation (Sawyer, 1996, S. 292): “I`d find that there are these things coming out of
myself, which I didn`t even know were there... Playing with the others triggers it, so
maybe consciously or subconsciously you`ll hear that thing, that you`re trying to find...
by listening to what other people have to say, and by talking to them about it, it`s like
talking about really great music, it`s guys getting together and talking about how sad or
lonely they feel, or how happy or angry.”

57
Hier wird deutlich, wie hoch der Mitteilungscharakter der improvisierten Musik auf der
Ebene der Gefühle erlebt wird. Dieses Erlebnis der musikalischen Form der Mitteilung
(an die eigene und die andere Person gerichtet) kann mit Hilfe der kreativen
Improvisation fundamentaler und befreiender wirken als die sprachliche Mitteilung, die
in Inhalt und Form begrenzt ist.

Wie in Kapitel 1 dargelegt, haben soziokulturelle Prozesse einen Einfluß auf das
Zustandekommen von Bedeutung. Auch das aktive Improvisieren involviert uns in
vielfältige kulturelle Werte und Normen. Somit bietet die musikalische Improvisation,
infolge ihrer flexiblen, wandelbaren Anlage, auch vor diesem Hintergrund eine gute
Möglichkeit, auf die unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen der Klienten zu
reagieren und entsprechend einzugehen. Die vorliegende Forschungsstudie
berücksichtigt diesen Faktor in dem Bewußtsein, daß beide, Patient(in) und Therapeutin,
in der westlichen Musikkultur aufgewachsen sind, die sich neben den zeitgenössischen
Entwicklungen durch die traditionellen Bindungen an das 19. Jahrhundert auszeichnet.

Z USAMMENFASSUNG UND SIGNIFIKANTE G ESICHTSPUNKTE F ü R DIE


T HERAPIE

“The sounds of a melody do not act on us solely as sounds, but as signs of our
affections, of our sentiments; it is in this way that they arouse in us the emotions that
they express and the image which we recognize in them”

Rousseau in (Scott, 1997, S. 817)

Die dargelegten historisch-musikologischen und kulturellen Tatsachen bieten einen


Verständigungsrahmen, der es ermöglicht, die Bedeutung der melodischen
Improvisation innerhalb des musiktherapeutischen Kontextes in einem größeren
Zusammenhang zu betrachten. Aus dem bisher Geschilderten ist deutlich geworden, daß
sich meine eigene Sichtweise von Musik an eine von Langer (Langer, 1992)
vorgeschlagene anlehnt, die die Musik als ein präsentatives, nicht-diskursives Symbol
betrachtet. Diese Position kommt nicht nur der Modalität meines eigenen
musikkulturellen Kontextes entgegen, sondern auch meinem therapeutischen Ansatz, der
die musikalische Improvisation als das zentrale Ausdrucksmittel in der Therapie
heranzieht. Die musiktherapeutische Situation, die beiden Studien als klinischer Kontext
zugrunde liegt, involviert den Patienten unmittelbar in eine musikalische Erfahrung, die
ein Erleben im Jetzt, im gegenwärtigen Augenblick ermöglicht. Zum Tragen kommen
somit die Aspekte der Wahrnehmung, des Erlebens, des Handelns und der Produktion.
Wie bereits erwähnt (vgl. Kapitel 2, ‘Zur Perzeption von Melodie’) fordert diese
musiktherapeutische Situation, daß im Hinblick auf die Perzeption von einem

58
phänomenologischen Verständnis von Perzeption ausgegangen werden muß, das mit
dem Medium Musik isomorph ist. Perzeption bedeutet in diesem Fall ein non-verbales,
qualitatives, holistisches Bewußtsein zu haben, das mit dem Phänomen der Musik
erscheint und zwar in dem Moment der praktischen Musikausübung selbst (Aldridge,
1996c, S. 24).

Das Unbekannte, nicht vorher Bestimmbare, das in der Zukunft Liegende spielt eine
entscheidende Rolle im therapeutischen Konzept. Auch im künstlerischen Bereich stellt
dieser unbekannte Aspekt eine charakteristische Eigenschaft im künstlerischen
Schaffensprozeß dar: “The function of art is to acquaint the beholder with something he
has not known before” (Langer, 1953, S. 22). Im Heilungsprozeß kann dieser Aspekt
Bedeutung erlangen, denn es ist diese Begegnung mit dem Unbekannten, die das
Wesentliche einer Krankheit ausmacht. Für den Patienten bedeutet dieses eine Reise in
die Ungewißheit, die eine Angst vor dem Verlust der eigenen Identität nach sich zieht
(Aldridge, 1990). Das Kennenlernen dieses unbekannten Aspekts umfaßt sowohl
Patient als auch Therapeutin und kann von beiden improvisatorisch, mit den Mitteln der
Kunst erfahren werden. Durch die Möglichkeit des kreativen Handelns können wir
jedoch mehr als unsere Pathologien (hörbar als Restriktionen oder musikalische
Inflexibilität) ausdrücken: sie ermöglicht uns ebenso den Ausdruck unserer Potentiale,
also das Kennenlernen zukünftiger Aspekte unseres Seins, die auf positive
Möglichkeiten des Wandels, der Entwicklung und des Wachstums hinweisen.

Einen positiven Ausblick für diese Situation gibt Ruud (Ruud, 1988, S. 209), der
vorschlägt, den improvisierenden Menschen als Vorbild für den handelnden Menschen
zu betrachten, “einen Menschen, der in einem Prozeß leben kann, in dem die innere
Stärke - als Voraussetzung oder Resultat seiner Improvisationsfähigkeit - den Spielraum
gib für psychische Flexibilität.”

In dieser Form der kreativen Musiktherapie ist, wie schon erwähnt, der Patient als
wahrnehmende, erlebende und handelnde Person tätig. Zwischen der Wahrnehmung
und der handelnden Ausübung, das heißt der Performance von Musik liegt das “Was”,
der Inhalt des musikalischen Materials. Um dieses “Was” untersuchen zu können,
muß das improvisatorische Material wie ein allmählich entwickeltes Kunstprodukt
behandelt werden, von dem eine Transkription hergestellt werden kann. Nur auf dieser
Ebene, einer Ebene, die sich bereits von der eigentlichen improvisatorischen Aktivität
entfernt hat, können analytische Untersuchungen über das gespielte, notierte
musikalische Material durchgeführt werden. Fragen, die in diesem Zusammenhang nur
schwer beantwortet werden können sind die nach dem zufälligen und kollektiven Aspekt,
die sich aus dem Moment der aktuellen Spielsituation ergeben und nicht ohne weiteres
visuell übertragen lassen. Desweiteren läßt sich das Erlebnis des Unmittelbaren und die

59
Expressivität nur aus “zweiter Hand” abschätzen und beurteilen. Mit Blick auf die
intersubjektiven Kriterien muß zugestanden werden, daß es nicht möglich ist, exakt
bestimmen zu können, wo die Grenzlinie der Expressivität im interaktiven Spiel von
Patient und Therapeutin genau verläuft.

Der Fokus dieser Arbeit liegt auf dem Moment der Melodieentwicklung. An Hand
zweier Studien versuche ich zu erforschen, wie sich im stationären Kontext, im Verlauf
einer therapeutischen Behandlungsphase eine Melodie entwickeln kann und welche
Bedeutung dieser Entwicklungsprozeß, der sich in einer umfassenden melodischen
Gestalt realisieren kann, für beide Patienten hat. Wie aus dem bisher Geschilderten
deutlich geworden ist, sind die vielfältigsten musikalischen Aspekte bei einem
Melodiebildungsprozeß beteiligt. Um der melodischen Analyse eines Kunstwerkes
gerecht werden zu können, kann es bei der Erfassung des melodisch Wesenhaften nicht
darauf ankommen, nach regelhaften, genormten melodischen Gebilden zu suchen; das
hat schon der Blick auf die historischen Tatsachen gezeigt. Es sollte vielmehr losgelöst
von etwaigen eigenen normhaften Vorstellungen versucht werden, das Zusammenwirken
der beteiligten musikalischen Einzelelemente wie rhythmisches, melodisches Motiv oder
Zelle, harmonische Struktur oder dynamische Vielfalt zu erkennen und das zu
beschreiben, was durch den kreativen Prozeß der Patienten als neu Geschaffenes
hervorgebracht worden ist. Für die Analyse des musikalischen Materials einer
melodischen Improvisation könnten folgende Punkte in der Musiktherapie wichtig sein:

• Die Ausbildung bestimmter Intervalle und besonderer Tonhöhenmuster.

• Das Vorhandensein eines rhythmischen Motivs, das stabilitätsfördernd wirken


könnte.
• Das Vorhandensein eines melodischen Motivs.

• Die weitere Entwicklung und Gestaltung des rhythmisch-melodischen Motivs zu


einem organischen Ganzen, durch Imitation, Assimilation oder Innovation.

• Die Integration der musikalisch-melodischen Elemente im Spiel des Patienten.

• Die Ausbildung von melodischer Kontur, Phrasen und Perioden in Beziehung zur
Harmonie, d.h. zur qualitativen Ordnung der Intervalle.

• Die expressive Selbstäußerung des Patienten mittels musikalisch-melodischer


Elemente.

• Die Artikulation und der musikalische Ausdruck, der alle dynamischen - und
Temponuancen einbezieht.

• Die musikalische Interaktion zwischen Patient(in) und Therapeutin.

60
Therapeutisch bedeutet dieses, immer wieder neu zu sehen, auf welche Art und Weise
sich die Patienten mit der melodischen Improvisation individuell ausdrücken und ihren
Ausdruck in eine für sie gemäße Form bringen können.

Für die melodische Improvisation stehen in den vorliegenden beiden Studien neben dem
Klavier die Instrumente Metallophon, Xylophon, Klangstäbe, Glockenspiel,
Marimbaphon und Vibraphon zur Verfügung, die perkussiv gehandhabt werden.
Bedingt durch die horizontale Anordnung der einzelnen Tonplatten (Klangkörper) ist
eine Spielbewegung vorgegeben, die mit den Tonabständen klein und groß korreliert.
Die besondere Art der Spielbewegung könnte die Perzeption der Differenz von
sukzessiven Tönen zu räumlich vorstellbaren Distanzen beeinflussen (vgl. Christensens
Ausführungen zu Tonhöhe und Timbre im Abschnitt ‘Zur Perzeption von Melodie’ in
Kapitel 2). Die somit gegebenen Möglichkeiten der unterschiedlichen Anordnung von
Tönen können verschiedene Tonhöhenmuster und melodische Formen ermöglichen.

Unter Einbeziehung der geschilderten Tatsachen könnten folgende Aspekte einer


Melodie Bedeutung für die musiktherapeutische Arbeit erlangen:

• Der Ausdruck von Bewegung, die in jedem Moment entsteht und wieder zerfällt; die
von einem Ton wegstrebt und auf den nächsten zustrebt und die damit verbundene
rhythmische Bewegungsordnung.

• Die je nach Intervallgröße ungeheure melodische Spannung, die ihre eigene


dynamische Kraft besitzt.

• Das Formerlebnis: mit dem Anfang einer Melodie haben wir sofort das Ganze im
Sinn.

• Die sich durch die melodischen Konstellationen ergebenden Gestaltprinzipien Nähe,


Ähnlichkeit und Symmetrie, die als universelle Prinzipien eine über die Melodie
hinausreichende Bedeutung haben.

• Das ästhetische Vergnügen, neue individuelle Formen zu entdecken, die von den
eigenen Hörerwartungen abweichen ( Auswirkungen der Inspirationsästhetik ).

• Die Aktivierung des gefühlsmäßigen und kognitiven Bereichs (der unmittelbare


Ausdruck melodischer Figuren und die Fähigkeit, sich an Motive und Melodien zu
erinnern).

Es sei noch einmal daran erinnert, daß, von einer musikologischen Sichtweise aus, das
Interesse und der Fokus auf dem fertigen, vollendeten Kunstwerk liegt. Im
therapeutischen Kontext spielt diese Sichtweise nur insofern eine Rolle, als sie die
gängigen musikalischen Parameter zur Beschreibung des gespielten musikalischen
Materials bereitzustellen vermag. In der Therapie liegt jedoch der Schwerpunkt auf dem
Prozeßhaften. Der Aspekt von Arnheim zeigt (vgl. Kapitel 2, ‘Melodie und
Expressivität’), daß mit der Demokratisierung der Künste eine neue Freiheit im Umgang
mit ihr getroffen worden ist, die die Kunst dem Menschen näher bringt und sie auf eine

61
besondere Art verlebendigt. Diese Verlebendigung weist individuelle, idiographische
Züge auf, die eine wichtige Rolle im therapeutischen Konzept spielen, das beiden
Forschungsstudien zugrundeliegt.

Die oben aufgeführten Gesichtspunkte weisen zwar in ihrer hypothetischen Anlage auf
interessante Merkmale hin, die eine entscheidende Rolle bei der melodischen
Entwicklung spielen könnten; sie erhalten jedoch erst dann ihre signifikante Bedeutung,
wenn sie in eine geeignete Methode eingebunden und durch eine entsprechende
Vorgehensweise verifiziert werden können.

Im Verlauf der Ausführung dieses ersten Teils der Arbeit ist deutlich geworden, daß sich
in dieser Forschungsstudie charakteristische Eigenschaften abzeichnen, die eine
Tendenz zur subjektiven Anlage und unkonventionellen Referenz sichtbar werden
lassen. Es liegt nahe, einen Weg zu suchen, der es ermöglicht, das, was von Patient und
Therapeutin artikuliert und ausgedrückt wurde, als individuelle Formen ihrer inneren
Realitäten zu akzeptieren. Es wird weiter gehofft, daß ein methodischer Weg gefunden
werden kann, der Möglichkeiten eröffnet, diese inneren Realitäten so transparent und
offen darzulegen, daß der Gefahr des Solipsismus begegnet werden kann.

Der zweite Teil dieser Arbeit befaßt sich mit einer solchen Suche nach einer allgemeinen
Methode, die den Voraussetzungen dieser Arbeit entsprechen könnte.

62
Teil II Kapitel 4

Suche nach der geeigneten Methode

In diesem Teil der Arbeit versuche ich über den Weg einer Literaturrecherche meine
eigene Position zu den dargelegten methodologischen Formen zu finden. Dieses wird in
den jeweiligen Abschnitten teilweise durch kursiv gedruckte und in persönliche Form
gebrachte gedankliche Subsumtionen, die sich auf das vorliegende Forschungsprojekt
beziehen, kenntlich gemacht.

Die verschiedenen methodologischen Aspekte, die sich alle unter das Qualitative
Forschungsparadigma einreihen, werden nur insoweit erläutert, als sie für die
vorliegende Studie relevant sind. Es erfolgt keine Wertung, beziehungsweise
Abgrenzung dieser zum konventionellen quantitativen Forschungsparadigma. Alle
aufgeführten Methoden haben ihre Vor- und Nachteile und werden in bezug auf diese
Studie charakterisiert. Somit konzentriert sich dieses Kapitel auf diejenigen Elemente
methodologischer Verfahrensweisen, die für die Durchführung der vorliegenden Studie
sinnvolle und pragmatische Wege weisen.

In den Zusammenfassungen erscheinen noch einmal in konzentrierter Form die für mich
wichtigsten methodologischen Kernpunkte, die die Wahl eines für diese Studie
akzeptablen methodischen Weges beeinflussen. Am Ende dieses Teils werden die
verschiedenen zur Diskussion gebrachten methodologischen Aspekte in Form einer
tabellarischen Übersicht zusammengefaßt und zur vorliegenden Forschungsstudie in
Beziehung gesetzt. Diese zusammenfassende Übersicht zeigt das Ergebnis der
methodologischen Diskussion und bildet somit die Grundlage des methodischen
Weges, auf der sich die Forschungsstudie aufbaut. Sie bildet auch gleichsam die Basis
für die Konzeption des Kapitels sieben "Verfahrensweisen der Musikalischen Analyse"
und den Entwurf der eigenen spezifischen Methode eines höranalytischen Prozesses,
der im vierten Teil "Studie 1" behandelt wird.

Ausgangspunkt jeder der dargestellten Studien ist, wie bereits erwähnt, die individuelle,
gemeinsam von Klient und Therapeutin entwickelte melodische Improvisation, die einen
musikalischen Sinnzusammenhang erkennen läßt und eine besondere therapeutische
Relevanz besitzt.

Da der von Klient und Therapeutin gemeinsam entwickelte musikalische Prozeß als sehr
nah und intim erlebt werden kann erfordert die Untersuchung solcher Vorgänge die
Einbeziehung der subjektiven Dimension in die Untersuchungsmethode.

63
F ORSCHEN

“ Wissen ist etwas, das man tun kann. Es ist eine schöpferische Aktivität, ein Prozeß
und kein fixiertes Produkt. Indem wir eine solche Position einnehmen, in der das
Wissen aktiv erworben wird, können wir auch den verschiedenen Künsten zugestehen,
wissenschaftlich zu arbeiten”

(Aldridge, 1996a, S. 7)

Sich auf die Suche begeben, zu forschen, läßt sich am besten durch das englische Wort
"research" ausdrücken, das von dem Altfranzösichen Wort "recerchier" stammt und wie
im Neu-Französischen "rechercher", im Sinne von nachforschen, zurück-,
beziehungsweise wieder suchen gebraucht wird. Im deutschen Sprachraum geht das
geläufige Verb "forschen" auf die Wörter "vorschen" (mhd.) und "forscon" (ahd.) mit
der Bedeutung "fragen, (aus)forschen" zurück, die sich beide wiederum auf die idg.
Wurzel "per(e)k", was "fragen, bitten" bedeutet, zurückführen lassen. Auch schließt sich
hier das Präfixverb "erforschen" (mhd. ervorschen) an (Drosdowski, 1989). Auf die
vorliegende Studie bezogen bedeutet dieses:

Ich frage nach den Wurzeln und Grundlagen meines therapeutischen


Handelns, das mir in seiner Tiefe noch nicht bewußt ist und von dem ich
erhoffe, Neues zu erfahren.

Desweiteren haben für die vorliegende Arbeit diese Wortbedeutungen insofern einen
Sinn, als sie an den eigentlichen Vorgang erinnern, der durch beständiges und
wiederholtes Er-forschen einen Weg der Entdeckungen und Erkundungen offenlegt.
Damit wird der Blickwinkel besonders auf den prozeßhaften Charakter dieser Tätigkeit
gelenkt, der durch das Bemühen und Ergründen um wissenschaftliche Erkenntnis
charakterisiert ist. Nach der Auffassung von Aldridge (Aldridge, 1996a) ist
"Wissenschaft ein Prozeß, eine Aktivität, die sich nicht als Regelwerk konstituiert, das
für alle Zeiten als Dogma in Stein gemeißelt ist".

Kunst und Wissenschaft sind die wichtigen Bereiche unseres Gesellschaftssystems, die
notwendig sind, um menschliches Leben auszudrücken. Beide führen zu einem
Bewußtsein der Form und des Ausdrucks. Bei der Suche nach dem "Sinn" in der
Forschung können die Media der Darstellung ebenso künstlerischer als auch
wissenschaftlicher Natur sein, indem sie die Kunst sowie die Wissenschaft des Heilens
parallel herausstellen (Aldridge, 1993b). Beides sind Aktivitäten, die Wissen schaffen.
In diesem Sinne können auch verschiedene Künste als wissenschaftliche Aktivitäten
betrachtet werden. Aldridge (Aldridge, 1996a) verdeutlicht dieses, indem er sich von der
kartesianischen Position "cogito ergo sum" - "ich denke, also bin ich" wegbewegt und

64
diese in "argo ergo sum" - "ich gestalte, deshalb bin ich" umwandelt und damit den
Zusammenhang von Geist und Körper hervorhebt.

Von den zahlreichen Definitionen zum Begriff "Forschung" (Drosdowski, 1989;


Makins, 1991; Partridge, 1966), die alle auf die Entdeckung von etwas Neuem, auch im
Sinne eines Wandels einer ursprünglich üblichen Betrachtungsweise von Dingen
hinweisen, ist eine Definition von Bruscia erwähnenswert. “Research “ definiert er als
"a systematic, selfmonitored inquiry which leads to a discovery or new insight, which,
when documented and disseminated, contributes to or modifies existing knowledge or
practice" (Bruscia, 1995a).

Das Zitat enthält folgende Komponenten:

1. Eine systematische Vorgehensweise. Diese fordert vom Forscher, daß er einen


Fokus oder eine Frage haben muß, aufgrund derer er sich eine angemessene
Methode für sein Forschungsvorhaben sucht. Dieses muß entsprechend formuliert
und organisiert werden.

2. Die Selbstüberprüfung. Sich selber ständig zu überprüfen bedeutet, kontinuierlich


zu beobachten und all die Faktoren zu arrangieren, die die ethische und
wissenschaftliche Integrität der Untersuchung beeinflussen.

3. Der Untersuchungsprozeß. Der Forscher hat nicht nur Daten zu sammeln und
Informationen zu organisieren, sondern muß über diese reflektieren, um neue
Einblicke zu gewinnen. Somit geht Forschung über eine bloße Datensammlung
hinaus und bezieht beides ein: Reflexion und Entdeckung. Reflektiert werden kann
über die verschiedenen Formen der Datenanalyse,wie statistische, logistische oder
ästhetische, was zur Entdeckung neuer Erkenntnisse, Verständniszusammenhänge
und Perspektiven führen und neue Ebenen der Wahrnehmung erschließen kann.

4. Einen Beitrag leisten zur Theorie und Praxis. Die Ergebnisse der Forschungsstudie
müssen auf irgendeine Weise dokumentiert und verbreitet , m. a. W. veröffentlicht
werden, andernfalls handelt es sich lediglich um persönliche Erkenntnisse.
Forschung hat folglich von Natur aus eher eine öffentliche und kollektive
Komponente als eine private und individuelle. Forschungsergebnisse, welchen
Formats sie auch sein mögen, sollten auf eine Art und Weise dokumentiert werden,
daß sie kommunizierbar werden.

Zu diesem Zitat läßt sich folgendes ergänzen: Das System der Selbstüberprüfung im
Untersuchungsvorgang ist von großer Bedeutung und kann zu neuen Einblicken führen.
Damit ist gesagt, daß für die Musiktherapieforschung nicht nur die Ergebnisse, sondern

65
beides, die Forschungsmethode (ihr Prozeß) und die Forschungsresultate (ihr Produkt),
wichtig sind. Beide reflektieren die therapeutische Situation, in der der therapeutische
Prozeß genausoviel enthüllt, bzw. zum Vorschein bringt, wie seine Therapieresultate.

In diesem Sinne wird hier der eigene Forschungsprozeß verstanden, der erlebt und als
ein Dokument prozeßhafter Erkenntnis betrachtet wird. Dieser Erkenntnisprozeß kann
ebenso zu den Forschungsergebnissen beitragen wie die Forschungsresultate der Studie
selbst.

Die Anwendung der aufgeführten Kriterien von Bruscia auf Forschungsvorhaben bringt
Vorteile für den Forscher selbst. Sie bieten einen äußeren Orientierungsrahmen, durch
den die Forschungsidee abgegrenzt und strukturiert werden kann und verringern somit
die Gefahr, sich im weiten Forschungsfeld zu verlieren. In diesem Sinne haben diese
Kriterien auch Relevanz für die vorliegende Studie. Sie bilden den äußeren Rahmen, der
als Voraussetzung dient, in die Tiefe gehen zu können.

Z UR S ITUATION DES F ORSCHENS IN DER MUSIKTHERAPEUTISCHEN


D ISZIPLIN

"To fall within the boundries of discipline research, the topic


must include these four elements: the client, the therapist,
the musical experience, and the therapeutic process".

(Bruscia, 1995a, S.26)

Forschungsstudien in der Musiktherapie durchzuführen bedeutet, wie es von etlichen


Autoren wie Aldridge, Bruscia, Ruud, Tüpker und Wheeler dargelegt wird (Aldridge,
1993b; Bruscia, 1995b; Ruud & Mahns, 1992; Tüpker, 1990; Wheeler, 1995), daß man
sich der Tatsache bewußt wird, in einem metakritischen Dilemma zu stecken, denn die
Fachdisziplin Musiktherapie ist interdisziplinär und von den Bereichen Musik
(systematische Musikwissenschaft), Medizin (Naturwissenschaft) und Psychologie
beeinflußt.

Die Art und Weise wie wir forschen, hängt mit der Philosophie, die wir von
Wissenschaft haben, zusammen (Aldridge, 1996a). Die umstrittenen Fragen der
wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Forschung sowie ihre
Methodenproblematik werden insbesondere von den Autoren Aigen (Aigen, 1995;
Aigen, 1996), Aldridge, (Aldridge, 1993a; Aldridge, 1993b; Aldridge, 1996a), Bruscia
(Bruscia, 1995b; Bruscia, 1995c; Bruscia, 1995d), Ruud (Ruud, 1990b; Ruud & Mahns,
1992), Smeijsters (Smeijsters, 1996), Tüpker (Tüpker, 1988; Tüpker, 1990) und
Wheeler (Wheeler, 1995) diskutiert.

66
Wie bei Aldridge zu lesen, ist die gegenwärtige Wissenschaftsdiskussion auf der
Grundlage unterschiedlicher Wahrheitsbegriffe geführt, die sich durch die krasse polare
Gegensätzlichkeit : Wahrheit, gesehen als eine absolute Größe und Wahrheit als ein
relativer Begriff, voneinander unterscheiden. Von dieser wissenschaftlichen Perspektive
hängt es ab, ob sich ForscherInnen im Bereich der musiktherapeutischen Disziplin für
das quantitative oder qualitative Forschungsparadigma entscheiden.

Anmerkung:

(Auf die Bedeutung der qualitativen Forschungsmethode und ihre Relevanz für diese
Studie wird in einem späteren Abschnitt näher eingegangen. Die Erwähnung beider
Methodenrichtungen (quantitativ und qualitativ) geschieht an dieser Stelle nur zur
Verdeutlichung der Situation in der musiktherapeutischen Forschung).

Smeijsters (Smeijsters, 1996) weist darauf hin, daß sich in der letzten Zeit in Europa und
in den USA ein qualitativer Charakter in den Forschungsstudien durchgesetzt hat.
Grund hierfür ist die Klage darüber, daß mit Hilfe des quantitativen Forschungsansatzes
die Essenz der Musiktherapie nicht zu fassen sei.

Dieser Kritik am quantitativen Denkansatz begegnet Aldridge, indem er die


Prozeßhaftigkeit und den aktiven Charakter von Wissenschaft betont und somit vielen
MusiktherapeutInnen entgegenkommt, die daran interessiert sind zu erfassen, was im
eigentlichen musikalischen Prozeß passiert und wie dieser mit den Veränderungen im
Menschen zusammenhängt.

Ein von ihm weiter hervorgehobener, wichtiger Aspekt, der die gegenwärtige Situation in
der Gesundheitspolitik wiederspiegelt, ist die in der derzeitigen
Wissenschaftsdiskussion geführte Debatte zwischen prozeßorientierter und
ergebnisorientierter Forschung, die eng mit der Frage nach der Wirtschaftlichkeit in der
Musiktherapie verknüpft ist (Aldridge, 1996a). Diese beeinflußt insofern
musiktherapeutische Forschungsvorhaben, als sich im Zuge allgemeiner
Einsparmaßnahmen im Gesundheitswesen der Schwerpunkt verstärkt auf den Nachweis
klinischer Ergebnisse gelegt hat. Derartige externe Fragestellungen beeinflussen nicht
nur die Forschungsaktivitäten innerhalb des musiktherapeutischen Bereichs, sondern
auch die anderer Bereiche in der gesamten westlichen Welt.

Aufgrund dieses fächerübergreifenden, multiplen Charakters in der Fachrichtung


Musiktherapie gibt es im Bereich des musiktherapeutischen Forschens folglich eine
große Bandbreite von Forschungsfragen und - ansätzen, die sich alle sehr unterscheiden.
Hinter ihnen verbirgt sich eine ganze Welt von Wertvorstellungen, die einen Einfluß auf
die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze haben (Ruud & Mahns, 1992, S. 136).

67
Ihre Methoden sind Teil einer umfassenden allgemeinen Forschungskonzeption, die auf
die speziellen Bedürfnisse der Musik und Musiktherapie angewendet sind. So haben
sich z.B. viele musiktherapeutische Forschungskonzepte in den Bereichen
Sozialwissenschaften, Psychologie, Erziehungswissenschaften (Heal & Wigram, 1993)
und Soziologie entwickelt. Dabei ist es nur natürlich, daß sich aus den verschiedenen
Richtungen heraus ähnliche Grundfragen ergeben, die jedoch mit unterschiedlichem
Schwerpunkt behandelt werden. Einen guten Einblick in die Vielfalt neuer
Forschungstechniken, die in den verwandten Disziplinen stetig weiterentwickelt wurden,
bietet das Buch "Music Therapy Research" (Wheeler, 1995).

Trotz der enormen Divergenz und Vielfalt, die in diesem Forschungsfeld herrscht, sollte
man sich doch immer wieder vergegenwärtigen, daß es unverkennbare, spezifische
Merkmale in der Musiktherapie gibt: die Musik und die musikalische Beziehung, die
sich innerhalb des interpersonellen Kontexts entfaltet. Bruscia (Bruscia, 1995a) schlägt
aus diesem Grund vor, Forschung im Bereich der Musiktherapie thematisch
einzugrenzen, was durch eine klare Definition der Aspekte: > Musiktherapie >
Musiktherapie als Disziplin , > Musiktherapie als Berufsfeld > Musiktherapie in der
Praxis und > Musiktherapie und Theorie erreicht werden könnte. Dieses wird im
folgenden kurz skizziert:

• Musiktherapie definiert Bruscia in Form einer Synthese bereits existierender


Definitionen:" Musictherapy is a systematic process of intervention wherein the
therapist helps the client to achieve health, using musical experiences and the
relationships that develop through them as dynamic forces of change". In diesem
Zitat werden vier Elemente als wesentlich erachtet: der/die KlientIn, der/die
TherapeutIn, die musikalische Erfahrung und der therapeutische Prozess..

• Musiktherapie als Disziplin ist im wesentlichen mit dem Prozeß beschäftigt, bei
dem Therapeuten Musik einsetzen, um Klienten zur Gesundheit zu verhelfen.
Forschungsthemen in diesem Bereich konzentrieren sich auf die Frage, wie
Musiktherapeuten mit Klienten interagieren, wenn sie Musik für therapeutische
Zwecke heranziehen. Im Zentrum der Forschung steht der Klient.

• Musiktherapie als Profession stellt sich als ein Berufsverband dar, der Mitglieder
organisiert, um Wissen und Praxis miteinander zu verbinden. Das bedeutet, die
praktische Arbeit mit Klinikern, Supervisoren, Theoretikern , Forschern,
Administratoren und Pädagogen auszutauschen, Erfahrungen zu teilen, Ergebnisse
anzuwenden und Projekte zu fördern. Forschungsthemen in diesem Feld
beschäftigen sich mit der Frage, wie Musiktherapeuten mit anderen Fachdisziplinen
wie sozioökonomischen, politischen und pädagogischen, die ihr Berufsfeld

68
beeinflussen, interagieren und mit ihnen umgehen. Im Zentrum der Forschung steht
der Musiktherapeut.

• Musiktherapie in der Praxis involviert im Bereich der klinischen Forschung drei


verschiedene Perspektiven: 1. die direkte Arbeit mit dem Klienten; 2. die
Beobachtung der eigenen Arbeit mit dem Klienten; 3. das Studium der
Beobachtungen der eigenen klinischen Arbeit für Forschungszwecke. In der
klinischen Arbeit geht es um Aktion, Reflexion und "Metareflexion".

• Musiktherapie und Theorienbildung hängen in der Forschung insofern zusammen,


als die Theorie eine Reihe von zueinander in Beziehung gebrachten Prinzipien
anzubieten hat und das zu organisieren und zu klären vermag, was durch Forschung
oder Praxis in Erfahrung gebracht wurde. Die Typen der verschiedenen Theorien
sind äußerst zahlreich und hängen immer von dem jeweiligen
Forschungsschwerpunkt ab. So ist es möglich, Theorien zu bilden, die verschiedene
Facetten klinischer Praxis und Forschung synthetisieren.

Für die vorliegende Studie, die sich mit der Entwicklung der Melodie im therapeutischen
Prozeß befaßt, bedeutet dieses, daß sie sich innerhalb der Grenzen des
Forschungsbereichs der musiktherapeutischen Disziplin und Praxis bewegt, denn ihr
aktueller Forschungsgegenstand bezieht die vier Elemente: Klient, Therapeutin,
musikalische Erfahrung und therapeutischer Prozeß mit ein,sowie das Beobachten der
eigenen klinischen Arbeit, die Aufschluß über die Entwicklung der Melodie im
therapeutischen Prozeß geben könnte.

SUBJEKTIVITäT - OBJEKTIVITäT

In den beiden vorhergehenden Abschnitten wurde der Rahmen abgesteckt, innerhalb


dessen die Forschungsstudie durchgeführt wird. Wie bereits erwähnt, erfordert die hier
angewandte Therapieform die Einbeziehung der subjektiven Dimension, denn die
Forscherin ist als Therapeutin selbst in den, mit dem Patienten gemeinsam entwickelten
musikalischen Prozeß, subjektiv erlebend einbezogen. Diese Tatsache erfordert die
Reflektion der in der Literatur häufig diskutierten Begriffe `Subjektivität-Objektivität`.
Ergänzend hierzu wird auch auf die Begriffe der Phänomenologie und Intentionalität
eingegangen, da beide in der Subjekt-Objekt-Diskussion eine Rolle spielen.

Wie bereits erwähnt, gilt es innerhalb der vielfältigen Disziplinen, die den Bereich der
Musiktherapie beeinflußen, die eigene Position zu finden. Fragen tauchen auf, die sich
mit der Integration von Distanz und Objektivität im therapeutischen Setting befassen.
Smeijsters (Smeijsters, 1996) hebt hervor, daß "objektivieren" innerhalb dieses Settings
bedeutet, sich auf das zu beschränken, was jeder ohne Empathie und Interpretation

69
wahrnehmen kann. Damit bezieht er sich auf die in der positivistischen Forschung
anerkannte Epistemologie der Objektivität, die sich innerhalb ihres Bezugs als die
sachgemäße, auf das Wesen der Sachverhalte gerichtete und von subjektiven Zusätzen
möglichst freie Analyse - und Beurteilungsmethode durchgesetzt hat. Mit dieser
Verfahrensweise wird jedoch, wie er kritisch anmerkt, die Wahrnehmung erheblich
eingeschränkt, so daß sich die Frage stellt, ob Objektivität das Wichtigste sein kann und
in einer therapeutischen Situation überhaupt zu erreichen ist.

Eine weitere zentrale Frage, die sich aus dieser Problematik ergibt, ist die, wie man von
seiner bisherigen Rolle des Therapeuten in die des Forschers überwechseln kann. In der
Literatur wird dieser Rollenkonflikt allgemein als eine der möglichen Gefahren genannt,
die entstehen kann, wenn Forschung in einem vertrauten Setting durchgeführt wird
(Schutz, 1993).

Allein in die andere Rolle des Forschers zu schlüpfen bedeutet jedoch nicht, daß man
sich damit schon gleichzeitig ein Merkmal an Objektivität angeeignet hat. Das
Menschsein, ob als Therapeut, Forscher oder Kollege, das in der Realität immer
subjektive Gefühle in jeder dieser Rollen einschließt, ist als eine Tatsache zu betrachten.
Und sicherlich sollte man nicht die Gefahr übersehen, daß auf diese Weise
Egozentrismus und das subjektive Weltbild des Forschers die Forschungsresultate
durchsetzen können (Bruscia, 1996).

Die Subjektivität des Forschers läßt sich nicht negieren, denn ein engagierter Forscher
kann und sollte sich nicht von seinen eigenen Erfahrungen und persönlichen
Perspektiven trennen. Schutz (Schutz, 1993) charakterisiert die Beziehung zwischen
dem Forscher und seinem Forschungsgegenstand als wechselseitig und dynamisch, in
der der Forscher als Agent sein Forschungsmaterial zum "Leben" erweckt und
interpretiert.

Eine im Forschungssetting vorgenommene Ausklammerung der persönlichen


Überzeugung kann also wenig effektiv sein. Somit geht es hier weniger um die Debatte
Subjektivität-Objektivität, als um eine generelle Anerkennung der Subjektivität des
Forschers, der Anerkennung seiner eigenen Werte und der Akzeptanz seiner Vorurteile
und Ansichten, die auch durch seinen sozialen und kulturellen Kontext bedingt sind.
Das bedeutet, daß mit einem solchen Forschungsansatz nicht die Validität der
Forschung in Frage gestellt wird. Mit der Anerkennung der Subjektivität als
konstituierender Faktor im Forschungsprozeß wäre es möglich, die intensive und
persönliche Natur des Forschungsprozesses zu erkunden und seinen potentiellen
Nutzen für den Forscher, der seine Subjektivität benutzt, zu erfassen (Schutz, 1993).

70
Um jedoch Eindeutigkeit zu erlangen und einen Fokus für sich finden zu können, ist es
notwendig, Klarheit über sich selbst zu erlangen, d.h. über sich als Therapeutin und als
Forscherin. Wenn wir in der Funktion als Forscher(in) unser Menschsein nicht
negieren möchten, wird es notwendig sein, uns selbst nach unseren speziellen
Wertvorstellungen und besonderen Denkweisen zu hinterfragen. Konkret heißt das:
Was sind die Paradigmen der von uns übernommenen philosophischen
Denkrichtungen? In welchem sozialen und kulturellen Kontext denken und handeln wir?
Was ist unser Verständnis vom Menschenbild? Was ist unsere Sichtweise von
Krankheit? Wie definiert sich die professionelle Seite unserer therapeutischen Arbeit in
Zusammenhang mit unseren persönlichen Wertvorstellungen im allgemeinen und
besonderen ? Was sind unsere Vorurteile (Bruscia, 1995b)? Für die Forscherin dieser
Studie stellt sich somit die Frage:

Mit welcher Methode läßt sich meine eigene Subjektivität erhellen, die in den
Forschungsprozeß über die Entwicklung der Melodie im therapeutischen Prozeß mit
einfließt?

Sobald man tiefer in die Analyse der eigenen Position gedrungen ist können
anschließend die Kenntnisse der verschiedenen wissenschaftstheoretischen Modelle und
Methoden auf den eigenen personellen und professionellen Kontext angewendet
werden. Dabei bildet das Phänomen, das mit der entscheidenden Forschungsfrage als
erstes ans Licht tritt, den Ausgangspunkt der Forschungsidee und die Grundmotivation
für den nächsten Schritt, der, wenn notwendig, verschiedene methodische Wege zur
Erhellung und Lösung dieses Phänomens organisiert (Bruscia, 1994; Bruscia, 1995b).

In der vorliegenden Studie erscheint das Phänomen als Melodiebildungsprozeß, als die
Entwicklung einer melodischen Form innerhalb der Musiktherapie, hervorgerufen durch
die individuellen Qualitäten im musikalischen Spiel des Patienten und der Therapeutin.
Die brennende Grundfrage, die sich hieraus entwickelt, lautet:

Auf welche Art und Weise und unter welchen Bedingungen entwickelt der /die
Patient(in) seine/ihre individuelle melodische Form, die ihm emotionale Ausdruckskraft
verschafft? Auf welche Art und Weise bringt die Therapeutin ihre melodische Form in
den therapeutischen Prozeß?

V ERBINDUNG ZU PHä NOMENOLOGISCHEN G RUNDIDEEN

Im Zusammenhang mit der Hervorhebung des Subjektiven in der musiktherapeutischen


Situation ist die Verbindung zum Phänomenologischen zu sehen, Phänomene als
Geschehnisse, Ereignisse, Erlebnisse, Besonderheiten oder Einmaligkeiten, die der
Mensch im Gegensatz zu seinem theoretischen Wissen erfährt. Als Beispiel läßt sich

71
das Licht anführen. Ein Phänomenologe würde das Verständnis von Licht auf seine
unmittelbaren Erfahrungen mit Licht gründen, wie hell, glänzend, warm oder beruhigend,
während ein Naturwissenschaftler das Licht als eine Wellenformel erklären würde
(Quail & Peavy, 1994).

Phänomenologen gehen davon aus, daß alle Dinge mit der erlebten Welt beginnen, der
Welt, wie sie gelebt und erfahren wird, bevor sie in Theorie abstrahiert und erklärt wird.
Erfahrungen sind ein Faktum in unserer Welt, sie existieren und müssen daher nicht in
wahr oder falsch, valide oder nicht valide kategorisiert werden. Allein aus ihrer einfachen
Existenz heraus sind sie wert, untersucht zu werden (Forinash, 1995).

Um ein Verständnis von diesen menschlichen Erfahrungen zu gewinnen, stützt sich die
Phänomenologie auf die Beobachtung und Feststellung der Art und Weise, wie Dinge
und Phänomene in unser Bewußtsein treten oder wie sie uns durch unsere Erfahrung
gegeben sind, anstatt den Ausgangspunkt in der Annahme einer besonderen
theoretischen Perspektive zu sehen. Indem es möglich ist, eine gelebte Erfahrung bewußt
zu machen, zu beschreiben und damit zu erhellen, kann sie mit der anderer Partizipienten
geteilt und verglichen werden. Wissen repräsentiert nach phänomenologischer
Sichtweise eine Vielzahl von Perspektiven, die als natürlich angesehen werden. Damit ist
gesagt, daß ähnliche als auch individuell unterschiedliche Erfahrungen nebeneinander
existieren und miteinander geteilt werden können.

Forinash (Forinash, 1995) zitiert Sartre, der eine enge Beziehung zwischen dem
erscheinenden Phänomen und der Struktur des menschlichen Bewußtseins sieht. Sie
hebt hervor, daß ein Ereignis nur auf der Ebene studiert werden kann, auf der es in der
Perzeption des Betroffenen erscheint. Damit wird deutlich, daß ein Ereignis nicht
losgelöst vom Perzipienten untersucht werden kann. Aldridge (Aldridge, 1996a, S. 12-
13) nimmt diese Tatsache als Grundlage für eine aus der Erfahrung sich bildende
Epistemologie, die im Gegensatz zu einer normativen Erkenntnistheorie steht, indem er
sagt:

" Es muß uns gelingen, Erfahrung als Perspektive unserer wissenschaftlichen


Aktivitäten aufzunehmen und subjektive Daten als Ausgangspunkt einzubeziehen statt
uns auf begrenzte Befragungen und sogenannte objektive Verfahren im Sinne einer
physikalischen oder technisch vermittelten Datenwelt zu begrenzen...

...Verständnis und Erkenntnis entstehen nicht allein aus einer distanzierten Haltung. Es
gibt auch Zeiten, die zur Kooperation auffordern und in denen die Identifikation mit
dem anderen essentiell ist...

72
...Das Bewußtsein besteht aus dem Beobachter, dem Beobachteten und der Erfahrung
des Beobachtens. Durch diese Erfahrung wird auch der Forscher sich immer
verändern."

Seine Sichtweise des phänomenologischen Vergleichs zwischen der Organisation der


Musik und des Selbst (Aldridge, 1989a), die eine Korrelation zwischen Musikform und
biologischer Form sieht, hat Bedeutung für die Musiktherapie. Aldridge übernimmt hier
von der europäischen traditionellen Phänomenologie (Husserl, Heidegger, Merleau-
Ponty) die Sichtweise der Konzeption des Seins, die das "Sein in der Welt" als Lichtung
und Offenbarung betrachtet und es als ein einheitliches Erleben ansieht. Diese
Sichtweise wird von ihm erweitert, indem er das Menschsein als "performed reality"
betrachtet, das nicht getrennt von der Welt, sondern mit der Welt aktiv, im Engagement
verbunden ist.

Im Phänomen der Musik erblickt er eine qualitative nonverbale und partizipatorische,


holistische Bewußtheit. Indem er sich auf Heideggers Äußerungen über das intuitive
Element im Verständnis von Phänomenen bezieht (phänomenologisches Konzept des
Seins), geht er davon aus, daß sich beim Hören von Musik das Phänomen in sich selbst
zeigt, m.a.W., daß es zu seiner eigenen Erklärung wird. Für ihn ist es somit naheliegend,
Menschen, bei ihrem "In die Welt kommen", als Musik zu verstehen, d.h. als
physiologisch und psychologisch komponierte ganzheitliche Wesen. Durch die
Heranziehung einer musikalischen Metapher bietet er eine Sichtweise an, die vorschlägt,
die menschliche Identität wie ein Stück sinfonischer Musik zu betrachten, die
kontinuierlich, im Moment komponiert ist. Diese steht im Gegensatz zu einer
mechanistischen Sichtweise des Menschseins, die auf den Körper fixiert ist, der mit
entsprechenden Behandlungsmethoden “repariert” werden muß. Diese Sichtweise
macht deutlich, daß wir nicht mechanisch gebaut sind: wir kommen in die Welt als
intentionale, biologische, psychologische und soziale Organismen, die konstant
improvisieren müssen, um den internen und externen Anforderungen des täglichen
Lebens begegnen zu können. Sogar auf der zellularen Ebene unseres Immunsystems ist
unsere Identität ein aktives System, das jeden Moment neu improvisiert, um für alle
Eventualitäten gewappnet zu sein.

Diese Tatsache der engen Verbindung zwischen dem Phänomen und der Struktur des
menschlichen Bewußtseins bezieht sich auch auf den von den Phänomenologen
benutzten Terminus der Intentionalität, der in der neueren Philosophie eine zentrale
Stellung einnimmt (Husserl, 1968).

INTENTIONALITäT

73
Der Begriff "Intentionalität" hat eine lange philosophische Tradition und wurde in seiner
zentralen Stellung innerhalb des seelisch-geistigen Lebens durch Brentano und Husserl
in den Vordergrund der Betrachtung gerückt (Spiegelberg, 1936).

Dinge können nicht unabhängig vom Bewußtsein, das diese erblickt, untersucht werden.
Es existiert eine Koexistenz zwischen dem Subjektiven und seiner Welt, eine
notwendige Einheit, die im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Sichtweise eines
Subjekt-Objekt-Dualismus steht (Quail & Peavy, 1994). Intentionalität bildet also die
Essenz des Bewußtseins und ist auf etwas gerichtet, das selber noch nicht bewußt ist,
das vielleicht "hinter" dem Bewußtsein liegt, wie z. B. die Erinnerung. Somit gesehen ist
Intention immer objektorientiert und kann eine Spannung zwischen dem Objekt und
dem Bewußtsein erzeugen. Ein Gedanke ist immer ein Gedanke von etwas (Vedeler,
1994). Das Bewußtsein kann sich durch den kreativen Akt in der Musiktherapie
ausdrücken und wird hier zu "Ich kann" statt "Ich denke" (Aldridge, 1990). "Ich kann"
ist ein wichtiges Element der Intentionalität, das nicht gemessen, aber gehört und
demonstriert werden kann. Die Bedeutung dieses Begriffes hat Relevanz für die
vorliegende Arbeit, denn

Intentionalität kann von mir nicht nur als eine dynamische Beziehung zwischen
der/dem Patientin(en), das heißt dem agierenden, tätigen Organismus und der Musik,
d.h. dem Objekt ihrer Aktion beschrieben werden, sondern diese, zwischen beiden
bestehende Beziehung kann von mir direkt wahrgenommen werden.

Es stellt sich nun die Frage, wie diese Wahrnehmung in die systematische Form einer
Forschungsmethodik gebracht werden kann. Ebenso muß gefragt werden, wie die
Bedeutung von Subjektivität und Objektivität systematisch in die methodische Form
integriert werden kann. Auf beide Fragen wird in Kapitel 6 (‘Subjektivität, Validität und
die Persönliche Konstrukt-Methodik’), in dem die eigene methodische Grundlage
entwickelt wird, näher eingegangen.

E LEMENTE PHä NOMENOLOGISCHER F ORSCHUNG

Die Phänomenologie wurzelt als Forschungsmethode in der phänomenologischen


Philosophie und hat dementsprechend eine reiche und in die Tiefe gehende Geschichte
(Forinash, 1995).

Als Methode zielt sie auf Entdeckung hin und bietet eine Möglichkeit, wesentliche
Qualitäten kunsttherapeutischer Phänomene zu erläutern, in der Art, wie sie von Klienten
erfahren werden. Aus diesem Grund beziehen Psychologen, Künstler, Kunst- und
Musiktherapeuten, Krankenschwestern und Krankenpfleger in ihre Forschungsstudien

74
häufig Ideen der phänomenologischen Philosophie ein und wenden diese auf
menschliche Erfahrungen an (Forinash, 1995).

Gerade in diesen Forschungsbereichen (Beck, 1994a; Beck, 1994b; Quail & Peavy,
1994) vermag die Phänomenologie als Methode einen Weg aufzuzeigen, der es uns
ermöglicht zu erfassen, wie bewußt erfahrene Phänomene, möglichst frei von
vorgefaßten Meinungen und Theorien über ihre Ursache, beschrieben werden können.
Dabei ist die Forscherin mit ihrem vollständigen Selbst, d.h. mit ihrem Vorwissen, ihren
Theorien und Vorurteilen das Hauptinstrument für die Datensammlung. Damit sich das
Bewußtsein der Forscherin erweitert, ist es notwendig, ihre vorgefaßten Meinungen von
Phänomenen beiseite zu stellen, bzw. auszuklammern, um die Wahrnehmung einer
gelebten Erfahrung wiederzuerlangen. Die vorgefaßten Meinungen der Forscherin
können mit der Ausklammerung gleichzeitig offen gelegt werden. Beck (Beck, 1994a)
unterstreicht den Erlebnisaspekt, indem sie sich auf Merleau-Ponty beruft, der ein
"Erstauntsein" seitens des Forschers über die gelebte Erfahrung als unerläßlich
betrachtet, um diese beschreiben zu können. Ähnlich äußert sich Smith (Smith, 1979),
der das Erlebnis der musikalischen Erfahrung und das musikalische Phänomen selbst
als wichtige und entscheidende Realität innerhalb der historischen Tradition der
Musikwissenschaft betrachtet.

Ein/e Forscher/in wird sich von seinen/ihren Vorurteilen, während seiner/ihrer


Reflektion über die zu untersuchende Erfahrung nie ganz frei machen können. Es wird
aber für ihn/sie möglich sein, diese zu kontrollieren. Beck macht in ihrer Studie zu
diesem Punkt einige Anmerkungen, z.B. sich während des Forschungsprozesses
wiederholt zu fragen, was man als selbstverständlich betrachtet, oder sich zu fragen, ob
das Phänomen aktiv oder passiv erfahren wurde. Eine andere Möglichkeit, die sie nennt,
sind Tagebuchaufzeichnungen, in denen der/die Forscherin über seine/ihre persönlichen
Gefühle reflektieren und somit seine/ihre Bewußtseinsebene während des
Forschungsprojekts erweitern kann.

Der phänomenologische Weg eignet sich besonders für die kreative Musiktherapie, da
er Möglichkeiten bietet, die Erfahrung der Klienten während der Therapie zu verstehen.
Statt sich vorschnell auf Interpretationen zu konzentrieren, die Gefahr laufen, sich vom
eigentlichen Phänomen zu entfernen, werden als erstes genaue Beschreibungen
angestrebt. Als Grundlage hierzu dienen Audiotapes der aufgenommenen
Musiktherapiesitzungen, die niedergeschrieben und mehrmals gehört, beziehungsweise
gelesen werden können. Der musikalische Text kann Hinweise über therapeutische
Prozesse und Veränderungen enthalten, die für die Gesamtentwicklung des
Therapieprozesses von Bedeutung sein können. Diese im musikalischen Text in
Erscheinung tretenden Phänomene, die signifikante Bedeutung erlangt haben, können

75
kategorisiert werden und zum Erkennen spezifischer Themen im therapeutischen Prozeß
führen.

Bei dem Versuch, über spezifische Themen in der Therapie zu sprechen, ist es wichtig
festzuhalten, daß sich die Therapiediskussion immer einige Schritte von der eigentlichen
künstlerischen Tätigkeit des Patienten und der Therapeutin wegbewegt. Aldridge
(Aldridge et al., 1990) macht auf diese Tatsache aufmerksam und nennt drei
verschiedene Ebenen, die sich von der aktiven Ebene der künstlerischen Aufführung
entfernen. Diese sind zu berücksichtigen, wenn wir über Therapie sprechen:

Ebene 1: Erfahrung, auf der das Phänomen erlebt wird. Es lebt und existiert in dem
Moment, wird aber nur teilweise verstanden. Deshalb ist es nicht möglich, darüber
vollständig zu berichten. Wir können das, was passiert sehen, fühlen, riechen,
schmecken und hören. Diese individuellen, expressiven Handlungen werden in den
modernen Sprachwissenschaften als parole bezeichnet (Burgin).

Ebene 2: Beschreibung, auf der wir über die therapeutische Situation, unter
Einbeziehung der jeweiligen Terminologie unserer künstlerischen Disziplin (Farbe,
Muster, Bewegung, Motiv, Thema) sprechen. Die Beschreibungen sind relativ sachlich
und auch überprüfbar (Tonbandaufzeichnungen). Sie entsprechen dem gemeinsamen,
miteinander geteilten Element der Sprache, den usage , die für systematisches Studium
zur Verfügung steht und zu unserem normalen, täglichen Diskurs gehört.

Ebene 3: Interpretation, auf der wir die abstrakte Basis innerhalb der Sprache: langue
artikulieren. Um erklären zu können, was in der Musiktherapie passiert oder das
Verhältnis zwischen Handlung und Heilung zu erläutern, ist es notwendig, musikalische
Veränderungen mit Begriffen der akademischen Disziplinen Psychologie und
Psychotherapie zu fassen oder sie in ein medizinisches System zu übertragen. Auf
dieser Ebene betreibt der Therapeut Interpretation, die ihn von dem, was geschehen ist,
weiter entfernt.

Auf der ersten Ebene existiert das für sich selbst, was in der künstlerischen Ausübung
innerhalb der therapeutischen Sitzung passiert. Alles andere ist Interpretation und hängt
von Sprache ab, die versucht, ihre Subjekt-Prädikat-Grammatik einer dynamischen
Aktivität aufzuerlegen.

Die zweite Ebene, "usage", die sich auf Beschreibungen des künstlerischen Prozesses
stützt und damit der eigentlichen therapeutischen Aktivität am nächsten steht, bietet eine
Möglichkeit, eine gemeinsame Sprache für Therapeuten zu bilden, die sich fachlich
austauschen wollen.

76
Häufig besteht die Gefahr, den therapeutischen Prozeß nur auf der dritten Ebene zu
beschreiben, das heißt interpretierend und schlußfolgernd. Auf dieser Ebene besteht
zwar die Einheit des sprachlichen Diskurses "langue", jedoch zeigt sie andererseits einen
Verlust begrifflicher Geschlossenheit und den eines konzeptuellen Zusammenhalts.

H ERMENEUTISCHE P H ä NOMENOLOGIE

Diese Unterscheidung in drei Ebenen läßt ein Bewußtsein dafür entstehen, auf welcher
Interpretationsebene man sich befindet. Diese bringen die hermeneutische
Phänomenologie in den Mittelpunkt der Betrachtung. Das Wort Hermeneutik stammt
von dem griechischen Wort hermeneia oder hermeneuein, mit der Bedeutung
"auslegen, erklären". Die griechische Wurzel dieses Begriffes macht deutlich, daß sie
das (Einzelheiten und Besonderheiten) zum Verständnis bringt, was den Prozeß der
Sprache involviert. Im Gegensatz zur erklärenden Methode der Naturwissenschaften will
die hermeneutische, "verstehende" Methode Äußerungen und Werke des menschlichen
Geistes, worunter auch Kunstwerke und Texte vielfältiger Richtungen zählen, aus sich
selbst und in ihrem Zusammenhang verstehen sowie ihren Sinn erschließen (Brockhaus,
1984). Die Hermeneutik kann als Wissenschaft betrachtet werden, die im Verlauf ihrer
bis in das Altertum zurückreichenden Geschichte durch die Reflexion der
Verstehensbedingungen eine ‘Theorie des Interpretierens, Deutens und Auslegens’
entwickelt hat

Die Deutungsarbeit beginnt schon auf der Wahrnehmungsebene, wo es gilt, das


empirisch Erscheinende zunächst so differenziert, konkret und wörtlich wie nur möglich
aufzunehmen, denn, so läßt sich in Abwandlung eines Wortes von Hoffmannsthal sagen,
“die Tiefe ist an der Oberfläche versteckt” (Schulz-Klein, 1997, S. 41). In der
Erstbegegnung mit dem zu Verstehenden offenbaren sich nach den Worten Heideggers
vielfach schon die Pforten, die den Zugang zum verborgenen Sinn bilden, den es zu
“entbergen” gilt (ebd., S. 41).

Einen Text zu verstehen bedeutet in der hermeneutischen Phänomenologie, die in den


Werken Heideggers wurzelt, sich selber in einer Art Dialog zu verstehen (Koch, 1994).
Das bedeutet, daß nicht nur ein Dialog zwischen dem Forscher und dem Text oder
einem anderen Forschungsmaterial stattfindet, sondern auch zwischen dem Leser und
den Interpretationen des/der Forschers/in. Dabei wird wie beim qualitativen
Forschungsansatz davon ausgegangen, daß Forscher und Leser ihre eigenen vorgefaßten
Meinungen haben, die sie mit einbeziehen. Diese Art von dialektischer Interpretation ist
offen gegenüber Re-Interpretationen, denn es wird nicht erwartet, daß Leser und
Forscher der gleichen Meinung sind (Annells, 1996). Allerdings sollte der/die
Forscher/in dem Leser den Weg aufzeigen, der ihn zu seinen Interpretationen geführt

77
hat und es somit dem Leser ermöglichen, den Argumenten des Forschers oder Autors zu
folgen. Entsprechend ist für die Hermeneutik des Gesprächs der Dialog und nicht die
Aussagelogik Quelle des Verstehens.

In diesem Zusammenhang läßt sich auch auf den Beziehungsaspekt der Deutung
hinweisen, der für die psychologische Deutung Relevanz besitzt (Bovensiepen, 1995).
Deutung und Beziehung bilden hier eine untrennbare Wirkungseinheit. Eine
erfolgreiche, therapeutisch wirksame Deutungsarbeit setzt im Jungschen Sinne eines
dialektischen Verfahrens nicht ein einseitiges Deuten des Therapeuten voraus, dem
sekundär das Verständlichmachen des Verstandes folgt, sondern vor allem eine
gemeinsame Sinnfindung, einen gemeinsamen Verstehensvollzug und letztlich ein aus
dieser gemeinsamen Arbeit hervorgegangenes Einverständnis (Schulz-Klein, 1997).

Die Hermeneutische Phänomenologie kann als postmodern klassifiziert werden, als sie
nach dem Verständnis und nicht nach der Theorie sucht. Sie richtet sich gegen das
kartesianische Weltbild, gegen die kartesianische Dualität, die eine Sichtweise vertritt, die
Körper und Geist trennt (Annells, 1996). Indem sie in der Tradition der
hermeneutischen Philosophie steht (Husserl), legt sie ihren Schwerpunkt auf die
Ontologie statt auf die Epistemologie und plaziert sich in ihrer postmodernen
Anlehnung innerhalb konstruktivistischer, interpretativer Untersuchungsparameter.

Die nahe Verbindung zum phänomenologischen Ansatz spielt in der vorliegenden


Forschungsarbeit eine Rolle, denn:

Ich verwende die pänomenologischen Grundgedanken nicht als Suche nach Wahrheit,
sondern als Suche nach der "Bedeutung und Relevanz" von musikalischen
Phänomenen, die auf menschliche Erfahrung gegründet sind. Ich suche nach dem
Ausdruck und der Form von "Bedeutung" , wie sie im musikalisch kreativen Prozeß als
innere Realität, zu einem bestimmten Zeitpunkt, entsteht.

Z USAMMENFASSUNG

Folgende Kernpunkte werden zum bisher Gesagten noch einmal zusammenfassend


herausgestellt und zur vorliegenden Studie in Beziehung gesetzt:

• Forschen wird innerhalb dieser Studie als offener prozesshafter Vorgang verstanden,
der die künstlerisch-therapeutischen Vorgänge im Melodiebildungsprozeß zum
Schwerpunkt des Untersuchungsvorgangs hat.

• Nach Bruscia (vgl. Abschnitt ‘Forschen’) erfordert die Aktivität dieses


Untersuchungsvorgangs einen Rahmen, innerhalb dessen die Forschungsidee

78
strukturiert und vertieft werden kann. Dieser besteht aus den Komponenten: 1.
Systematische Vorgehensweise; 2. Selbstüberprüfung; 3. Untersuchungsprozeß; 4.
Beitragsleistung zur Theorie und Praxis.

• Das Forschen im Bereich der musiktherapeutischen Disziplin geschieht in der


vorliegenden Studie innerhalb der Grenzen des klinischen Bereichs und schließt die
vier Elemente: 1. Klient 2. Therapeut 3. musikalische Erfahrung 4. therapeutischer
Prozeß ein.

• Die Suche nach der geeigneten Methode entwickelt sich aus dem personellen-
professionellen Kontext der Forscherin, der ihre Subjektivität miteinschließt.

• Die vorliegende Studie wählt als übergeordneten Aspekt den phänomenologischen


Ansatz, da er Möglichkeiten bietet, die subjektive Erfahrung des/der Klienten/in und
der Therapeutin während der Therapiesitzungen zu verstehen. Die Nähe zum
Phänomen steht hier im Vordergrund.

• Drei Ebenen werden bei der Beschreibung von musiktherapeutischen Phänomenen


berücksichtigt, um deutlich zu machen, daß durch den verbalen Diskurs der Ebenen
zwei und drei der Abstand zur eigentlichen aktiven Ebene der künstlerischen
Aufführung, in der Therapie stattfindet, immer größer wird.

Das Phänomen ist in diesem Fall nicht die verbale Antwort (verbal response) des/der
Patienten/in, sondern seine/ihre musikalische Antwort (musical response), die im
musikalischen Zusammenspiel zwischen Patient/in und Therapeutin in Erscheinung tritt.
Die Therapeutin erfährt den/die Patienten/in durch seine/ihre musikalischen Antworten.
Um die Bedeutung dieses musikalischen Phänomens innerhalb der musikalischen
Antworten zu verstehen, ist zunächst eine musikalische Analyse erforderlich. Auf diese
wird in den Kapiteln 7 und 8 (Teil III) näher eingegangen.

79
Kapitel 5
Das Qualitative Forschungsparadigma

Dieser Abschnitt befaßt sich mit verschiedenen methodologischen Verfahrensweisen, die


in ihrem jeweiligen Forschungsschwerpunkt, der häufig den prozeßhaften Charakter von
Phänomenen betont, auch die Forscherin als aktives, lebendiges Element in den
Forschungsprozeß mit einbeziehen. Sie stehen alle in enger Verbindung mit der
allgemein umfassenden Qualitativen Forschungsrichtung, die großen Wert auf situative
und strukturelle Kontexte legt. Diese allgemeine Forschungsmethode, die sich einer
qualitativen Datenanalyse verpflichtet, unterscheidet sich von dem eines traditionellen
Ansatzes quantitativer, statistischer Verfahrensweisen.

H EURISTISCHE F ORSCHUNG

Die vorliegende Studie hat einen auf die Autorin selbst bezogenen Charakter. Sie ist
nicht nach außen sondern nach innen gerichtet. Es ist eine Art "Innenschau", mit dem
Versuch, die Essenz und die Struktur der eigentlichen Bedeutung musikalischer
Phänomene, die im therapeutischen Kontext entstehen, zu entdecken. Dieser Prozeß
einer inneren Suche, durch den man die Natur und die Bedeutung von Erfahrung
entdeckt, ist ein heuristischer: "Heuristisch, gr.: heuriskein = entdecken, finden
(Moustakas, 1990). Heuristische Prozesse können kreative Selbstprozesse sein und zu
Selbstentdeckungen führen.

Die Methodologie heuristischer Forschung ist darauf ausgerichtet, qualitative


Darstellungen von Situationen, Ereignissen, Beziehungen, Gefühlen und Werten zu
erhalten, die von Personen tief erlebt werden. Mit Hilfe von detaillierten Beschreibungen,
Zitaten und Falldokumentationen ermöglicht diese Methode dem Forscher, aus diesen
Daten, reines Wissensmaterial abzuleiten und somit selbst Erfahrungen von der
empirischen Welt zu erlangen.

Der Fokus einer heuristischen Frage (Moustakas, 1990) liegt auf der Wiederbelebung
einer gelebten Erfahrung und ihrer vollständigen Darstellung durch den Blickwinkel
des/der Forschers/in selbst. Die Beschreibungen können in der Form von Beispielen,
narrativen Beschreibungen, Dialogen, Geschichten, Kunstwerken,
Tagebuchaufzeichnungen, autobiographischen Aufzeichnungen und anderen
persönlichen Dokumenten durchgeführt werden.

Die heuristische Methode kann somit ein wichtiger Beitrag innerhalb der
phänomenologischen Forschungsrichtung sein, wenn es darum geht, die Bedeutung

80
wichtiger menschlicher Erfahrungen zu verstehen. In diesem Sinne hat sie auch
Bedeutung für die Musiktherapieforschung, da sie innerhalb des qualitativen
Forschungsparadigmas der forschenden Person einen methodischen Weg weisen kann,
der sie aktiv, mit Hilfe von Selbstwahrnehmungs- (spontan notierte, selbstreflektierende
Gedanken zum Untersuchungsprozeß und zur Analyse) und Selbsterkenntnisprozessen
in den gesamten Forschungsprozeß miteinbezieht. Heuristisches Forschen involviert ein
Suchen, das introspektiv, meditativ und reflektiv ist und berücksichtigt als wichtige
Aspekte die Intuition, Inspiration und das Tazit Wissen des/der Forschers/in.

Für die vorliegende Studie hat dieser Ansatz insofern Relevanz, als er Kriterien anbietet,
die mit Hilfe von Intuition, Inspiration und dem Tazit-Wissen, (einem Vermögen, das
uns ermöglicht, die Einheit von individuellen Qualitäten zu erfassen), die Bedeutung der
musikalischen Sprache (statt der verbalen Sprache) innerhalb der musikalischen
Interaktion zwischen Patient/in und Therapeutin zu verstehen ermöglichen.

In Kapitel 10, Abschnitt ‘Spezifische Methode des höranalytischen Prozesses’, wird im


einzelnen darauf eingegangen, wie die Interpretation des musikalischen Materials in die
spezifische Methode eingebettet wird.

Q UALITATIVE F ORSCHUNG

Die Qualitative Forschungsmethode, die sich im Bereich der Sozialwissenschaften


entwickelte, hat dort Enthusiasmus und Kontroversen hervorgerufen (Gliner, 1994).
Forscher, die das logische, positivistische Paradigma für die Erklärung
sozialwissenschaftlicher Phänomene als zu eng und inadäquat hielten, reagierten mit
Begeisterung auf die Möglichkeit qualitativer Datenanalyse. Diese Einbeziehung eines
naturalistischen Paradigmas in eine rein scholastische Tradition, die historisch gesehen
positivistisch war, stieß jedoch gerade bei den Traditionalisten auf Widerstand.

Der Ursprung zwischen dieser quantitativen und qualitativen Forschungsrichtung liegt


in der Geschichte einiger Wissenschaftszweige begründet, besonders in der Soziologie
und der Sozialanthropologie (Strauss, 1994). In den Sozialwissenschaften ist die
Kontroverse um quantitative und qualitative Methoden vielleicht die hartnäckigste
(Wilson, 1982).

Der Begiff "qualitative Methoden" wurde im allgemeinen dazu eingesetzt, um die


Forschungsarbeiten derjenigen Wissenschaftler genauer zu bezeichnen, die im
Gegensatz zu vielen quantitativ arbeitenden Forschern, großen Wert auf situative und
strukturelle Kontexte legen. Dabei ging es nicht um eine grundsätzliche Wertung der
beiden methodischen Ansätze, sondern um eine klare Differenzierung dieser.

81
Strauss (Strauss, 1994) sieht den eigentlichen Unterschied beider Richtungen in der Art
und Weise, wie das Datenmaterial analytisch behandelt wird. Während in der
quantitativen Forschung statistische Verfahren oder andere mathematische Operationen
für die Analyse von Daten herangezogen werden, haben diese in der qualitativen
Forschung nur geringen oder gar keinen Anteil. Die qualitative Datenanalyse
unterscheidet sich in ihrer Vorgehensweise nicht von einem pragmatischen
Analyseverfahren des Alltagsmenschen, der sich praktischen oder persönlichen
Problemen zuwendet. Sicherlich hat im Alltagsleben jede Person in irgendeiner Form
mit qualitativer Analyse zu tun, ohne daß er lange darüber reflektiert, denn Urteile,
Entscheidungen und Handlungen wären ohne Analyse nicht durchführbar. Somit
können Schlußfolgerungen des Alltagsmenschen, wie auch die des Wissenschaftlers,
auf qualitativen Daten beruhen. Forscher benutzen jedoch diese alltagsweltlichen
Denkmuster in wissenschaftlich rigoroser Art, indem sie ihre Analysen auf
verschiedenen Ebenen von Explizitheit, Abstraktion und Systematisierung durchführen
(Strauss, 1994). Hiermit wird deutlich, wie nahe der Denkansatz der qualitativen
Forschungsmethode dem eines pragmatisch-analytischen ist.

Die qualitative Methode hat sich als sehr wertvoll für die Entwicklung in der
Musiktherapieforschung erwiesen und verspricht, innerhalb dieser, eine besonders
geeignete Methode zu sein, die Beziehung zwischen den charakteristischen
Eigenschaften gespielter improvisierter Musik und den therapeutischen Veränderungen
während des Therapieprozesses aufzudecken (Bruscia, 1994; Guzetta, 1989;
Langenberg, Frommer & Tress, 1992; Smeijsters, 1996; Tüpker, 1988).

Das qualitative Forschungsparadigma ist für diese Studie, die die Entwicklung von
melodischer Form innerhalb der Musiktherapie zu verstehen versucht, von großem
Nutzen:

Jede/r Patient/in bringt als einmaliges, individuelles Wesen seine/ihre einzigartigen


Qualitäten in die Therapie. Diese individuellen Qualitäten können im musikalischen
Spiel gehört werden.

Jede/r Therapeut/in bringt als einmaliges, individuelles Wesen seine/ihre einzigartigen


Qualitäten in die Therapie, die im musikalischen Spiel gehört werden können.

Beide, Patient/in und Therapeutin sind im musiktherapeutischen Prozeß eingebettet.


Die Interaktion beider kann im musiktherapeutischen Prozeß gehört werden.

G ROUNDED T HEORY

82
Grounded Theory ist Teil einer Gruppe von Forschungsmethoden wie qualitative
Inhaltsanalyse, Diskursanalyse, Konversationsanalyse, biographische Forschung,
narrative Interviews, objektive Hermeneutik, ethnographische Feldforschung und
Ethnomethodologie, die unter den Begriff "qualitative Forschung" fallen (Klusmann,
1995). Diese Methoden haben gemeinsam, daß sie nicht, wie in der quantitativen
Forschung üblich, Variablen operationalisieren und messen. Sie basieren auf den
epistemologischen Vorstellungen der Phänomenologie, der hermeneutischen
Wissenschaften, der verstehenden Soziologie und auf dem symbolischen
Interaktionismus.

Anselm Strauss entwickelte mit Barney Glaser den Forschungs-, Lehr-, und Lernprozeß
der Grounded Theory anhand einer Fülle gut ausgewählten, illustrativen Materials, das
vornehmlich aus dem klinischen Bereich stammt. In systematischer Weise zeigten sie
den Weg von der Datenerhebung bis zur Theorienbildung auf und machten ihn
transparent.

Vier zentrale Merkmale (Hildebrand, 1994) zeichnen die Grounded Theory gegenüber
den anderen, oben genannten methodischen Verfahrensweisen aus: 1. Der Fall als
eigenständige Untersuchungseinheit; 2. soziologische Interpretation als Kunstlehre; 3.
Kontinuität von alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Denken; 4. Offenheit
sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung.

Im folgenden werden Hildebrands Erläuterungen dieser vier Merkmale kurz


wiedergegeben:

Unter dem Fall als eigenständige Untersuchungseinheit (1) ist eine autonome
Handlungseinheit zu verstehen, die eine Geschichte hat, z.B. eine Krankengeschichte,
Familiengeschichte, Personengeschichte oder andere Geschichten in ihren sozialen
Zusammenhängen. Es ist ein Bestreben der Grounded Theory, den Fall immer zuerst in
seiner Eigenlogik zu rekonstruieren, d.h., ihn als Fall zur Sprache zu bringen. Dabei
geht es nicht um eine zu wiederholende Abbildung einer Wirklichkeit des Falles,
sondern um eine theoriebildende Gestaltung der Rekonstruktion des Falles, die immer
wieder zu ihm zurückkehrt. Innerhalb der identifizierbaren Grenzen des Falles wird der
Forscher in seinem Forschungsprozeß von seinem Erkenntnisinteresse geleitet, das die
enge Interaktion zwischen dem Forscher und seinem Gegenstand offenbart. Dieser auf
diese Weise entstehende Theoriegenerierungsprozeß wird von den Phänomenologen mit
"etwas erscheint als etwas für jemanden" umschrieben.

Sozialwissenschaftliche Interpretation als Kunstlehre macht deutlich, daß das Handeln


eines Wissenschaftlers in die Nähe künstlerischen Handelns rückt. Zwei zentrale

83
Momente kommen sowohl im künstlerischen wie auch im wissenschaftlichen Prozeß
des Schaffens zum Ausdruck: die Unvoreingenommenheit und Unbefangenheit des
Künstlers, bzw. Wissenschaftlers und das Gestalten von Wirklichkeit in der
künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit. Die
Grounded Theory entwickelte den Weg einer Kunstlehre für das spezifische
Verständnis des Theoriegenerierungsprozesses.

Kontinuität von alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Denken meint, daß nicht nur
eine Nähe zum künstlerischen, sondern auch zum alltäglichen Handeln besteht. Die
Grounded Theory möchte das alltägliche Erfahrungswissen wie das berufliche Wissen,
als unverzichtbare Quelle im theoretical sampling, einem grundlegenden Verfahren
innerhalb dieser Theorie, nutzen. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in dem praktisch
begründeten Bezug zu klinischen Handlungsfeldern. Der Blick ist auf jeden einzelnen
Patienten (=Fall) gerichtet.

Offenheit in der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung bedeutet, offen zu sein


gegenüber einer sich wandelnden Wirklichkeit, die im wesentlichen prozeßhaft ist und
ihre Begriffe, Konzepte und Kategorien im Untersuchungsprozeß der
wissenschaftlichen Erschließung der alltäglichen Wirklichkeit immer wieder neu zu
überprüfen und zu definieren. Damit wird deutlich, daß im Forschungsstil der Grounded
Theory keine genormten Theorien generiert werden, sondern eine kontinuierliche
Auseinandersetzung zwischen Determination und Emergenz herrscht.

Grounded Theory ist also ein bestimmter Stil von qualitativer Datenanalyse, der zu
einem tieferen Verständnis von Phänomenen beitragen kann. Er zeigt eine von vielen
Möglichkeiten, wie Theorien generiert und überprüft werden können. Er hängt nicht von
einer bestimmten Disziplin ab, sondern kann auf viele Forschungsdisziplinen übertragen
werden. Eine solche Theorie steht in enger Verbindung mit der Entwicklung von Daten
und dem Forscher, der selbst zum Instrument bei der Entwicklung der Grounded
Theory wird. Dabei weist ihr Stil auf eine Reihe von charakteristischen Merkmalen hin,
zu denen das Theoretical Sampling gehört.

N ATURALISTIC I NQUIRY

Naturalistic Inquiry ist ein von Lincoln und Guba (Lincoln & Guba, 1985) entwickeltes,
alternatives Forschungsparadigma, das sich von der rationalistischen
Untersuchungsmethode verschiedener Wissenschaftszweige abhebt. In der
Forschungsliteratur erscheint es häufig unter verschiedenen anderen Decknamen wie
postpositivistisch, ethnographisch, phänomenologisch, subjektivistisch, Fallstudie,
qualitativ, hermeneutisch und humanistisch. Mit Hilfe dieser zusätzlichen Speziallabels

84
versuchen Forscher, ihre eigenen Positionen zu den Implikationen des naturalistischen
Paradigmas, zu denen sie sich hingezogen fühlen, kenntlich zu machen (Lincoln &
Guba, 1985, S.8).

Für Lincoln und Guba steht der Begriff "naturalistisch" für eine übergeordnete
Perspektive von Evaluierung. Eine naturalistische Untersuchung ist das, was der
Forscher natürlicherweise tut. Da der Kontext eng mit der Bedeutung des
Untersuchungsvorganges verbunden ist, wird sie immer, im Gegensatz zu einem Labor-
Setting, innerhalb ihres natürlichen Settings durchgeführt. Aus diesem Grund ist es
praktisch unmöglich, naturalistische Studien in irgendeiner definierten Form zu planen,
bevor die eigentliche aktuelle Studie durchgeführt wurde.

Diese besondere Art von kontextueller Untersuchungsmethode verlangt ein


"menschliches" Instrument, das auf die unbestimmbare Situation flexibel und adaptiv
reagieren kann. Die Studie ist also generell an die natürliche Beschaffenheit ihres
Untersuchungsproblems, bzw. - gegenstandes gebunden.

Der Faktor der Kredibilität wird analog konventioneller Kriterien von interner und
externer Validität (vgl. Kapitel 6, Abschnitt ‘Persönliche Validität und die Struktur von
Bedeutung’) durch vier Kriterien getestet. Dieses sind:1. Glaubwürdigkeit; 2.
Übertragbarkeit; 3. Zuverlässigkeit; 4. Bestätigung. Diese vier Kriterien sollten sehr
früh, gleich zu Beginn jeder Studie eingesetzt und bis zum Ende des
Forschungsprozesses fortlaufend durchgeführt werden.

Naturalistische Untersuchungsvorgänge haben ein charakteristisches Muster eines


"Fließens", bzw. eines "Sich kontinuierlichen Entwickelns". Dieses wird im folgenden
Abschnitt anhand einer Abbildung näher erläutert.

D ER F ORSCHUNGSKREISLAUF DER N ATURALISTIC I NQUIRY

Die im folgenden aufgeführten Erklärungen und Erläuterungen des naturalistischen


Forschungskreislaufs beziehen sich auf die von Lincoln und Guba gegebenen
Ausführungen (Lincoln & Guba, 1985, S.187-217). Es ist wichtig zu betonen, daß das
Kernproblem der Forschungsfrage dem Forschungskreislauf eine natürliche, äußere
Begrenzung gibt und ihn im Fokus hält.

85
Der Naturalistische Forschungskreislauf
Natürliches Setting
fordert

Den MENSCHEN als FORSCHUNGS INSTRUMENT

aufbauend auf dem benutzt


TAZIT WISSEN Q U A L I TAT I V E M E T H O D E N
fließt ein in
GEZIELTE DATENERHEBUNG

DAS ENSTEHENDE DESIGN INDUKTIVE


wiederholend bis Redundanz erreicht ist DATENANALYSE

GROUNDED THEORY

involviert
AUSGEHANDELTE ERGEBNISSE

leiten über zum


FALLBERICHT

beide werden
IDIOGRAPHISCH INTERPRETIERT und VORSICHTIG ÜBERTRAGEN

Abb 5.1 nach Lincoln und Guba, The flow of naturalistic inquiry, S. 188

Im Natürlichen Setting wird der Begriff "natürlich" nicht im Sinne der


philosophischen Richtung des Naturalismus und auch nicht in der Gleichsetzung von
natürlich ="gut, wertvoll" verstanden. Das Naturalistische Paradigma will mit diesem
Begriff vorschlagen, daß Forschung aus einem natürlichen Setting heraus durchgeführt
werden sollte, da die Phänomene einer Studie, seien sie physikalische, chemische,
biologische, soziale oder psychologische, ihre Bedeutung genauso durch den Kontext
erhalten wie durch sich selbst. Diese Sichtweise stützt sich auf ontologische Positionen,
die von dem Axiom ausgehen, daß konstruierte Realitäten nicht davon getrennt werden
können, wie sie in der Welt erfahren werden, und daß jede vollzogene Beobachtung
zwangsläufig zeit- und kontextabhängig ist. Kein Phänomen kann außerhalb seiner
Beziehung zur Zeit und zum Kontext, die es hervorgebracht, bewahrt und unterstützt
haben, verstanden werden. Lincoln und Guba sehen sich in ihrer Argumentationsweise
auch durch die Rolle der DNA und RNA in der organischen Entwicklung unterstützt.
Der natürliche Rahmen eines Forschungssettings geht also von einer normalen und
nicht künstlich geschaffenen Alltagssituation aus.

Die Menschliche Persönlichkeit als Forschungsinstrument besitzt im Gegensatz


zu quantitativen Untersuchungsmethoden, die primär Laborinstrumente einsetzen, die
charakteristischen Notwendigkeiten, mit einer noch unbestimmten Forschungssituation
fertig zu werden. Im Gegensatz zu einer konventionellen Studie, in der alle Elemente

86
vorbestimmt und anschließend von der Studie selbst rekapituliert werden, sind die
naturalistischen Studien in ihrem Aufbau und Verlauf unbestimmt und nicht
vorhersehbar. Dieses nicht mehr neue Konzept wurde bereits in der klassischen
Anthropologie erprobt und hat sich, im Bereich der Feldforschungen, bis in die moderne
Soziologie erhalten.

Folgende Charakteristika qualifizieren den Menschen in der Rolle eines Instruments für
die Durchführung einer naturalistischen Forschung:

1. Reaktionsfähigkeit: aufgrund seiner Reaktionsfähigkeit kann der Mensch mit


Situationen interagieren, um Dimensionen persönlicher und sachlicher Indikatoren
wahrzunehmen, zu verstehen und deutlich zu machen.

2. Anpassungsfähigkeit: der Mensch ist in seiner Unvollkommenheit anpassungsfähig


und kann verschiedene Informationen simultan auf multiplen Ebenen sammeln und
unterschiedliche Ziele anvisieren, ohne zuvor, wie ein Meßinstrument, vorprogrammiert
zu sein. Ein Instrument, das für einige Faktoren als Taxierungsinstrument herangezogen
wurde, kann hingegen für das Assessment anderer Faktoren unbrauchbar sein.

3. Holistischer Schwerpunkt: jedes Phänomen erscheint in seiner Ganzheit innerhalb


seines umgebenden Kontextes. Der Mensch ist das einzige "Instrument", das die
Fähigkeit besitzt, mit einem Blick die Gesamtheit verschiedener und miteinander
verwobener Teile zu erfassen und zu verstehen.

4. Eine auf Wissen gegründete Entwicklung: der Mensch handelt kompetent und
simultan innerhalb der Domänen seines Aussage - und Tazitwissens.

5. Prozessuale Unmittelbarkeit: nur der Mensch besitzt die Möglichkeit, Daten zu


verarbeiten, sobald sie ihm zur Verfügung stehen, Hypothesen aus der Situation heraus
zu entwickeln und diese mit Probanden in der gleichen Situation zu überprüfen, in der
sie generiert wurden.

6. Möglichkeit für Klärungsprozesse und Zusammenfassungen: nur der Mensch besitzt


die einzigartige Fähigkeit, Daten zusammenzufassen und einem Probanden zum Zweck
der Korrektur, Klarstellung und weiteren Ausführung zurückzuleiten.

7. Möglichkeit der Erforschung atypischer und idiosynkratischer Responsekategorien:


atypische Responsekategorien können von einem Meßinstrument nicht erfaßt werden, da
sie nicht kodiert oder auf eine andere Art und Weise registriert, bzw. betrachtet werden
können. Für den Menschen ist es hingegen möglich, solche Kategorien zu erforschen

87
und nicht nur ihre Validität zu prüfen, sondern durch sie eine höhere Verständnisebene
zu gewinnen, die sonst nicht möglich geworden wäre.

Mit diesen Kriterien heben Lincoln und Guba die Glaubhaftigkeit des Menschen in
seiner Rolle als "Instrument" hervor. Der Mensch besitzt die wunderbare Eigenschaft
lernen und von Erfahrungen profitieren zu können. Wenn dieses Lernen durch einen
erfahrenen Mentor gelenkt wird, können bemerkenswerte Ergebnisse erzielt werden. Es
gibt somit keinen Grund anzunehmen, daß der Mensch nicht die Ebene der
Glaubwürdigkeit erreichen könnte, wie irgend ein Papier-Bleistift-Instrument.

Das Tazit Wissen weist auf die Tatsache hin, daß es unmöglich ist, alles Wissen in
sprachliche Form zu bringen. Dazu gehört auch, daß manche Dinge erst erfahren
werden müssen, bevor man sie versteht. Der wichtigste Unterschied zum Aussagewissen
oder Wortwissen ist der, daß das Tazitwissen aus Erfahrungen und der Reflektion über
diese Erfahrungen gewonnen wird. So beinhaltet das Tazitwissen eine Vielzahl nicht
ausdrückbarer Assoziationen, die neue Bedeutungen, Ideen und
Anwendungsmöglichkeiten entstehen lassen. Jeder Mensch hat die Erfahrung eines
Tazitwissens und jede Forschung ist, ob bewußt oder unbewußt von diesem Wissen
beeinflußt. Das naturalistische Paradigma folgt dieser Einsicht, indem es den Gebrauch
des Tazitwissens explizit macht und legitimiert. Entscheidend ist jedoch, das Tazitwissen
auf die Ebene des Aussagewissens (propositionellen Wissens) zu bringen, es sozusagen
explizit zu machen und in Sprache umzuwandeln, sodaß beides möglich wird, darüber
nachzudenken und es anderen zu kommunizieren.

Die für das Naturalistische Paradigma herangezogenen Qualitativen Methoden


kommen dem Menschen und Forscher, der dazu neigt, Methoden zu wählen, die eine
Erweiterung seiner normalen menschlichen Aktivitäten bedeuten, wie sehen, beobachten,
hören, lauschen, sprechen und lesen, entgegen.

Der Gesichtspunkt einer Gezielten Datenerhebung geht davon aus, daß jede
Sammlung von Daten mit einer bestimmten Absicht vollzogen wird. Innerhalb des
naturalistischen Forschungsvorhabens, das eng mit den kontextuellen Faktoren
verknüpft ist, werden zwei Gesichtspunkte genannt. Der eine konzentriert sich auf die
Erhebung einer Vielzahl spezifischer Daten, die dem Kontext seinen einzigartigen Flair
geben. Der andere Gesichtspunkt bezieht sich auf den Zweck der Generierung von
Informationen, auf denen sich das entstehende Forschungsdesign und die Grounded
Theory gründen können. Glaser und Strauss (Strauss, 1994) benutzen ihren Begriff
"theoretical sampling" mehr oder weniger synonym mit der von Lincoln und Guba
gewählten Bezeichnung "purposeful sampling". Der Zweck der Datensammlung besteht

88
also nicht in der Generierung ähnlicher Daten, die dahingehend entwickelt werden, um
generalisiert werden zu können.

Die Induktive Datenanalyse kann hier ganz allgemein als der Prozeß betrachtet
werden, in dem versucht wird, aus dem gesamten Datenmaterial einen Sinn zu machen
(entwickeln). Induktive, invers deduktive Datenanalyse, die schwerpunktmäßig in
konventionellen Untersuchungsmethoden angewandt wird, geht von dem rohen,
spezifischen Datenmaterial aus und überträgt es in zusammenfassende Kategorien von
Informationen, um Arbeitshypothesen oder sich daraus entwickelnde Fragen zu
definieren. Die induktive Datenanalyse hat Ähnlichkeiten mit einer Inhaltsanalyse, die in
ihrem analytischen Prozeß anstrebt, eingebettete Informationen aufzudecken und explizit
zu machen. Zwei wesentliche Subprozesse sind in diesem Verfahren involviert: die
Vereinheitlichung und die Kategorisierung. Das Vereinheitlichen ist ein Prozeß des
Kodierens, in dem rohe Daten transformiert und zu Einheiten aggregiert werden, die
präzise Beschreibungen relevanter, charakteristischer Inhalte erlauben. Diese Einheiten
sind als für sich stehende, interpretierbare Teile zu verstehen, die keiner zusätzlichen
Information bedürfen. Das Kategorisieren ist ein Prozeß, in dem die zuvor in Einheiten
gebrachten Daten organisiert werden und zwar entsprechend ihrer deskriptiven oder
schlußfolgernden Informationen über den Kontext, bzw. das Setting, aus dem die Daten
gewonnen wurden. Dieser Prozeß des Kategorisierens wurde auch von Glaser und
Strauss sehr detailliert beschrieben (Strauss, 1994).

Grounded Theory postuliert, als notwendige Konsequenz des Naturalistischen


Paradigmas, multiple Realitäten und macht die Transferierbarkeit der Teilergebnisse von
den Daten und den lokalen, kontextuellen Faktoren abhängig. Sie gründet und
entwickelt sich empirisch aus den Daten, statt a priori erklärt und aufgeschlüsselt zu
werden. Indem bewußt das Tazitwissen des Forschers mit einbezogen wird, kann hier
argumentiert werden, daß Dateneinheiten deshalb entstehen können, weil der Forscher
ein implizites Verständnis über ihre Wichtigkeit und Bedeutung mitbringt, anstatt ihre
Bedeutung mit Hilfe einer spezifischen theoretischen Formulierung hervorzuheben.
Durch die Einbeziehung des Tazitwissens wird nicht nur die Fähigkeit des Forschers
erweitert, Phänomene im Kontext zu verstehen und zu beurteilen, sondern auch das
Entstehen einer Theorie ermöglicht, die auf andere Art und Weise nicht hätte artikuliert
werden können. Somit trägt die Anwendung der Grounded Theory wesentlich zur
weiteren Entwicklung eines entstehenden Forschungsdesigns bei. Mit ihr und durch sie
werden die nächsten Schritte im Prozeß der Forschungsstudie definiert.

Das Entstehende Design ergibt sich aus den vorangegangenen Schritten des
Forschungskreises und kann aus diesem Grund nicht vorher bestimmt werden. Diese
Unbestimmbarkeit hängt mit der Existenz multipler Realitäten und den Konstrukten des

89
Forschers zusammen. Was die Forscherin an einer Stelle ihres Forschungsprozesses
lernt, ist immer von der Interaktion zwischen ihr und dem Kontext abhängig. Diese
Interaktion kann nicht vollständig vorausgesagt werden, sie kann sich erst nach einem
gegenseitig geführten Formungsprozeß beweisen. Alle diese Faktoren unterstreichen
den unbestimmbaren und offenen Charakter dieses Paradigmas, unter welchem
naturalistische Forscher ihre Arbeit ausführen.

Die vier Elemente: gezielte Datenerhebung, induktive Datenanalyse, Grounded Theory


und die Spezifizierung eines entstehenden Designs interagieren zusammen und bilden
innerhalb des Forschungskreislaufs einen inneren Zirkel. Im fortwährenden Verlauf des
Forschungsprozesses lassen sie neue Fragen, neue oder veränderte Hypothesen,
Elemente theoretischer Gesichtspunkte oder auch Lücken entstehen. Dieser
Untersuchungsvorgang wird anhand der vier Elemente so oft wiederholt, bis Redundanz
erreicht ist.

Mit dem Terminus Ausgehandelte Ergebnisse wird impliziert, daß beides, Fakten und
Interpretationen, ihren Weg zum Fallbericht, beziehungsweise Fallbeispiel finden
müssen. An dieser Stelle werden sie einer Prüfung seitens des Supervisors oder der
Personen, die in das Forschungsvorhaben involviert sind, unterworfen. Dieses
Aushandeln der Ergebnisse ist ein kontinuierlicher Prozeß, der schon gleich zu Beginn
der Studie formell und informell ausgetragen werden kann.

Die Ergebnisse fließen in den Fallbericht, der in seiner Form dem naturalistischen
Paradigma entgegenkommt. Er kann als das ideale Vehikel fungieren, das die
Kommunikation mit dem Leser herstellt, indem er ihm das beste "Portrait" der
Forschungssituation vermittelt. Einen genaueren Einblick in die Darstellungsform der
Einzelfallstudie wird in den Abschnitten: ‘Einzelfallstudie’ und ‘Klinische Anwendung
der Fallstudienmethodik’ gegeben.

Die Idiographische Interpretationsweise, die, bedingt durch die Einbeziehung des


Kontextes, ein holistisches Verständnis impliziert, ist eine weitere Konsequenz der
ontologischen Sichtweise des Naturalistischen Paradigmas. Sie eignet sich, im Vergleich
mit nomothetischen Interpretationsweisen besonders für die Studien, die sich forschend
mit dem Menschen und seinem Verhalten befassen. Im idiographischen Sinn haben die
aus einem bestimmten Kontext gewonnenen Ergebnisse nur Bedeutung für den
bestimmten Kontext und den bestimmten Zeitabschnitt, in dem sie gewonnen wurden.
Darüberhinaus besteht wie im Qualitativen Paradigma die Überzeugung, daß
Forschungsergebnisse nicht nur von dem Kontext, sondern auch von den
Wertvorstellungen des Forschers und seinen besonderen Interaktionen mit den
Forschungselementen abhängen.

90
Mit der idiographischen Interpretationsweise werden nicht die Faktoren
"Voraussagbarkeit und Kontrolle" postuliert, die häufig als Ziel wissenschaftlichen
Handelns genannt werden, sondern der Faktor "Verstehen", als das Verstehen der
Bedeutungsinhalte, die in verschiedenen Situationen erfahren wurden. Mit diesem
Postulat ("Verstehen") wird die idiographische Position nicht nur vertretbar, sondern
auch obligatorisch. Die Teilverständnisse dieses Postulats beziehen sich nur auf den
Kontext, aus dem sie hervorgegangen sind.

Die Vorsichtige Übertragung ist eine weitere Konsequenz der Naturalistischen


Haltung, die zum Ausdruck bringt, daß die Ergebnisse einer bestimmten Studie nicht
ohne weiteres auf andere Kontexte anderer Studien übertragen werden können. Die
Übertragbarkeit wird jedoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Sie muß aber in jedem
anderen Fall neu überprüft werden. Bei einer Anwendbarkeit oder Übertragung sollten
ähnliche Informationen für beides, den Sender und Empfänger des Kontextes gelten.
Deshalb sollte ein/e Forscher/in seine/ihre Forschungsergebnisse so umfassend und
klar darlegen, daß für den Leser seiner/ihrer Studie eine Übertragbarkeit möglich
erscheint.

Die Diskussion der charakteristischen Elemente des Forschungskreislaufs verdeutlicht


noch einmal den offenen Charakter des Naturalistischen Designs, das nicht entwickelt
und vervollständigt werden kann, bevor die eigentliche Studie durchgeführt wurde. Das,
was die Forscherin während ihrer Arbeit und ihres Forschens innerhalb des
Forschungskreislaufs leitet, ist der Fokus ihrer Studie. Für die Forscherin dieser Studie
hat das Naturalistische Paradigma mit seinem charakteristischen Forschungskreislauf
Relevanz, denn

meine brennende Forschungsfrage, die sich mit der Bedeutung der melodischen
Entwicklung innerhalb der musikalischen Improvisation befaßt, hat sich aus dem
natürlichen Setting meiner alltäglichen therapeutischen Arbeit herausgebildet. Somit
stellt der Forschungskreislauf für mich die geeignete Struktur eines methodischen
Kreislaufs dar, der mir den Weg weist, die während des Arbeitsprozesses
auftauchenden Fragen und Hypothesen zu ordnen, vertiefen und weiterzuentwickeln.

E INZELFALLSTUDIE

Als Darstellungsform qualitativer Phänomene in der Musiktherapie bietet sich


besonders das Design der Einzelfallstudie an.

Jeder Musiktherapieprozess kann in der Form einer Einzelfallstudie präsentiert werden.


Einzelfallstudien sind Teil des gesamten Spektrums der Forschungsmethodik, die für
die Ermittlung individueller Veränderungen in der klinischen Praxis angewendet werden.

91
Sie bieten den Vorteil, daß sie auf die klinischen Erfordernisse des Patienten und den
besonderen therapeutischen Ansatz des behandelnden Therapeuten abgestimmt werden
können (Aldridge, 1994).

Der Aufbau von Einzelfallstudien eignet sich zur Hypothesenbildung, zur Überprüfung
dieser Hypothesen in der täglichen klinischen Praxis sowie für die Differenzierung
klinischer Verfahren. Bei systematischer Anwendung könnten Einzelfallstudien das
ideale Werkzeug für entwicklungsorientierte, auf Kooperation ausgerichtete Forschung
darstellen, die Therapeuten unterschiedlichster Ausrichtung zusammenbringen kann. In
sehr geeigneter Weise berücksichtigen sie die Erfassung und Beurteilung individueller
Entwicklung sowie signifikanter Begebenheiten in der Patient-Therapeut-Beziehung
(Aldridge, 1994).

Für die kreativen Kunsttherapien sind Einzelfallstudien besonders wichtig, da sie eine
unmittelbare, stichhaltige Analyse der Patient-Therapeut-Interaktion berücksichtigt
(Jones, 1993).

Innerhalb dieses methodischen Ansatzes gibt es darüberhinaus Vergleichsmöglichkeiten


für unterschiedliche Datensammlungen über den therapeutischen Behandlungsablauf, so
daß intraindividuelle Vergleiche gemacht werden können.

Diese Art von prozesshafter Forschungsstrategie ermöglicht dem Therapeuten, in


hörender Weise genau festzustellen, wie das Phänomen der therapeutischen
Veränderung auf die therapeutischen Aktivitäten bezogen ist. Einzelfallstudien fördern,
gestützt durch die klinische Praxis, Theorienbildung und neue Modelle therapeutischer
Intervention, die sich aus der Aufstellung von Daten ergeben (Moras, Telfer & Barlow,
1993).

Tatsächlich ist der allgemein therapeutische Weg ein qualitativer, denn er stützt sich auf
die Beschreibung identifizierter Variablen, die innerhalb des therapeutischen Prozesses
entstehen und zur Veränderung gelangen. Für die Veränderungen im therapeutischen
Prozess wählt der/die Forscher/in spezifische Parameter aus, die er/sie innerhalb dieses
Kontextes (Veränderung im therapeutischen Prozess) in ihrem besonderen
Ausdrucksgehalt identifiziert (z.B. Variable: Angst / Herzfrequenz und Parameter:
Tempo / Tempoverhalten). Diese Art der Vorgehensweise wäre ähnlich der einer
Hypothesenbildung.

Die Bildung von Hypothesen (unbewiesene Vermutung, bzw. Annahme) stellt


insbesondere in den empirischen Wissenschaften eine Grundmethode dar, die zur
Erklärung und Begründung von Erfahrungen, Einzelerkenntnissen und Beobachtungen
herangezogen wird. Hypothesen wurden bereits von Newton (Brockhaus, 1984) in

92
gültiger Form als Annahme "causa ficta" definiert, die geeignet sind, Erscheinungen zu
erklären, ohne daß diese erwiesen sind.

In einem qualitativen Forschungsansatz sind Hypothesen prospektive Ideen, die in der


Forschungspraxis umgesetzt und ausprobiert werden müssen. Im Unterschied zum
naturwissenschaftlichen, traditionellen Ansatz, der die Hypothese als feste Idee
behandelt, die in ihrem theoretischen Gesamtsystem verifiziert oder falsifiziert werden
kann, erlaubt die qualitative Forschung einen flexiblen Umgang dieses Begriffes, der im
Verlauf einer Forschung verändert werden kann.

Die Einzelfallstudie ist besonders für den individuellen "Einzel-Zugang" in der


Musiktherapie geeignet. Sie kann den therapeutischen Verlauf, m.a.W. die Geschichte
des Patienten wiederspiegeln und formal zur Darstellung bringen. Dadurch kann der
Darstellungsstil durch eine wichtige Facette, durch die der persönlichen Beziehung,
bereichert werden (Aldridge, 1994).

K LINISCHE A NWENDUNG DER F ALLSTUDIEN -M ETHODIK

Bruscia hebt in seinem Buch "Case studies in music therapy" (Bruscia, 1991) die ganze
Bandbreite der zur Verfügung stehenden Methoden innerhalb der qualitativen
Forschungsrichtung hervor. Die meisten dieser Studien sind qualitativ und stützen sich
häufig auf die spezifischen Sprachformen der jeweiligen psychotherapeutischen und
musiktherapeutischen Richtungen.

Clair (Clair & Bernstein, 1990) beschreibt den Einfluß einer über 15 Monate
wöchentlich stattfindenden Gruppentherapiesitzung auf einen Patienten mit Demenz, der
insbesondere auf Musik und musikalische Stimulanz reagierte. Sie nahm die Sitzungen
auf Video auf und ließ sie von einem unabhängigen Spezialisten aus dem Bereich der
Verhaltensforschung im Hinblick auf die fünf Kategorien: Kommunikation -
Beobachtungsgabe - Verhalten im Zustand des Sitzens - Interaktion mit einem
Instrument - Ausdauer, im Sitzen zu verharren - analysieren.

Im gleichen Umfang, nur von einer psychoanalytischen Perspektive aus gibt Lecourt
(Lecourt, 1991) einen Überblick von 88 Musiktherapie-Sitzungen mit einem autistischen
Jungen. Ihre Fallbeschreibungen konzentrieren sich auf die Strukturen der
musikalischen Klangerfahrungen und ihrer Beziehung zum autistischen Jungen. Aus
diesem Fokus heraus entwickelt sie Prinzipien, die für das Verständnis des
therapeutischen Prozesses relevant sind. Die Art und Weise ihrer Darstellungsform, in
die ihr therapeutisches Verständnis einfließt, macht es für den Leser und Therapeuten
möglich, den therapeutischen Prozeß auf verschiedenen Stufen zu verstehen.

93
Auch Lett (Lett, 1993) wendet diese Form der "Meta-level"- Analyse in der Supervision
dreier Counsellors über einen Zeitraum von 10 Wochen an. Auch er illustriert seine
Arbeit mittels der Einzelfallstudie, die sich auf den Bericht einer der drei Counsellors
stützt. Jede Sitzung ist auf Video aufgenommen. Alle Beteiligten schreiben ihre
Eindrücke und Gefühle nieder, die sie hinsichtlich eines besonderen Klienten haben.
Von den Ergebnissen dieser Protokolle wählen beide, Supervisor und Counsellor,
Themen und signifikante Ereignisse aus, die sich auf die Gefühle und
Erfahrungsmomente beziehen. Von den Textprotokollen abgesehen gibt es für die
Counsellors zudem Gelegenheit, sich mit Hilfe anderer Kunstformen auszudrücken. Lett
benutzt eine Vielzahl visueller Abbildungsmöglichkeiten, um seine Berichte zu
illustrieren.

Einige Musiktherapeuten haben zusammen mit ihren psychotherapeutischen Kollegen


versucht, einen neuen methodologischen Weg zu generieren. Langenberg (Langenberg
et al., 1992) benutzt eine Methode der Auswertung von Tonbandaufzeichnungen, die
sowohl die Äußerungen von Patienten, unabhängigen, außenstehenden Beobachtern und
die des Therapeuten mit einbeziehen (Triangulation). Diese Beschreibungen sind
qualitativer Art, indem sie beide Qualitäten definieren: 1. Was ist als Inhalt gehört
(Qualität 1)? 2. Welche Gefühle oder Emotionen werden durch das Hören freigesetzt
(Qualität 2)? Das aufgenommene Material wird ausgewertet, indem innerhalb der
individuellen Aufzeichnungen thematische Motive identifiziert und auf ihre Ähnlichkeit
hin überprüft werden. Ergänzend zu der qualitativ-inhaltsanalytischen Auswertung wird
eine musikalische Analyse der Improvisation von zwei Komponisten durchgeführt.
Obwohl sich dieser Forschungsweg noch in seinen Vorstadien bewegt, zeigt er doch
durch die Reichhaltigkeit seiner auf musikalischen Phänomenen und therapeutischen
Beschreibungen basierenden Daten seine mögliche Anwendbarkeit als geeignetes
Forschungsmittel für die in der Praxis stehenden Psychotherapeuten und könnte in
diesem Bereich durchaus eine Resonanz finden.

Vor dem Hintergrund der Morphologischen Psychologie Wilhelm Salbers entwickelt


Tüpker (Tüpker, 1988) eine qualitative Methodik zur Beschreibung interaktiver Prozesse
in der klinischen Improvisation. Das Hören der Improvisation geschieht nicht durch eine
einzelne Person, sondern durch eine Gruppe und erfolgt in vier Schritten: Ganzheit,
Binnenregulierung, Transformation, Rekonstruktion. Mit Hilfe dieser werden die
“Formbildungen” und Strukturen, die sich durch die freie Improvisation zwischen
Patient/in und Therapeut/in ergeben, in Beziehung zum Krankheitsbild und den
“seelischen Konstruktionen” des/der Patienten/in gesetzt. Ausgangspunkt dieser
Methode ist, wie auch in der vorliegenden Forschungsstudie, das durch das
musikalische Phänomen hervorgerufene, unmittelbare Erlebnis. Tüpker bindet das

94
eigene Erleben methodisch ein, indem sie es als ein Instrument der Untersuchung
ansieht und es auf qualitativer Grundlage schrittweise beschreibt: “Wir folgen dem
Kriterium der Beweglichkeit, indem wir uns von dem Phänomen her `bewegen` lassen
und diese Bewegung und Bewegtheit zu beschreiben suchen (ebda., S. 64).

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Einzelfallstudien-Methodik den Vorteil hat,
daß empirische Daten erzeugt werden können, die sich in geeigneter Weise für den
weiteren Fortgang der Forschungsarbeit verwenden lassen, wobei sich durchaus
quantitative Beobachtungen (gemessene Zeitspanne in der Interaktion) und qualitative
Beobachtungen (Vermeidungsverhalten, Widerstand, Nähesuchen, Gebrauch von
Übergangs-Objekten) durchdringen können (Harvey & Kelly, 1993). Ein Nachteil
dieser Methodik sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, der darin besteht, daß, obwohl
Veränderungen im Einzelfall spezifisch sind, eine generelle Validität der
Behandlungsmethoden nur schwer zu vertreten ist (Aldridge, 1994).

Z USAMMENFASSUNG

Im folgenden erscheinen noch einmal zusammenfassend die wichtigsten


Gesichtspunkte, die die relevanten methodologischen Konzepte zum qualitativen
Forschungsparadigma in Beziehung setzen. Desgleichen wird die Bedeutung dieser
Konzepte für das Forschungsvorhaben dieser Studie herausgestellt.

Das Qualitative Forschungsparadigma ist eine allgemeine und umfassende


Forschungsrichtung, die großen Wert auf situative und strukturelle Kontexte legt und
aus diesem Grund ihrem Forschungsanliegen und Forschungsinteresse mit statistischen
Verfahrensweisen nicht mehr gerecht werden kann. Folglich hat sie sich auf
pragmatische Analyseverfahren konzentriert, die sie auf den verschiedenen Ebenen von
Abstraktion, Explizitheit und Systematisierung weiter entwickelte und verfeinerte. Zu
ihrer Begründung und methodischen Entwicklung zieht sie Verfahrensweisen aus den
empirischen Wissenschaften heran, die alle daran interessiert sind, "Qualitäten"
ausfindig zu machen und Wege zu ihrer Entdeckung, Abgrenzung, Umschreibung und
Charakterisierung zu weisen. Sie haben gemeinsam, daß sie auf den epistemologischen
Vorstellungen der Phänomenologie, der hermeneutischen Wissenschaften, der
verstehenden Soziologie und dem Symbolischen Interaktionismus basieren. Insofern
unterscheiden sie sich von den traditionellen Verfahrensweisen, die Variablen
operationalisieren und messen.

Die wichtigsten, genannten methodologischen Konzepte sind:

• Die heuristische Methode, die sich auf Selbstprozesse, die zur Selbstentdeckung
führen können, konzentriert. Sie bezieht den Forscher mit Hilfe von

95
Selbstwahrnehmungs - und Selbsterkenntnisprozessen aktiv in den gesamten
Forschungsprozeß mit ein. Für die Forscherin dieser Studie bedeutet dieses, daß sie
ihre Intuition, Inspiration und ihr Tazitwissen benutzt, um die Bedeutung der
musikalischen Sprache, im Gegensatz zur verbalen Sprache, innerhalb der
musikalischen Interaktion zwischen Patient/in und Therapeutin zu verstehen.

• Die Grounded Theory, die als Stil von qualitativer Datenanalyse zu einem tieferen
Verständnis von Phänomenen führen kann und konkrete Möglichkeiten aufzeigt, wie
Theorien gebildet werden können. Für die Forscherin dieser Studie ist die
Beziehung zur Grounded Theory insofern relevant, als sie sich selbst in enger
Verbindung mit ihrem Forschungsgegenstand sieht, d.h. mit dem Prozeß, Daten zu
generieren, die als Grundlage für die Entwicklung melodischen Spiels dienen. Indem
die Grounded Theory das alltägliche Erfahrungs - und berufliche Wissen in ihr
grundlegendes Verfahren mit einbezieht, sieht sich die Forscherin bestätigt, während
ihres "theoretical sampling" auf ihre eigenen Quellen zurückzugreifen.

• Die Naturalistic Inquiry, die innerhalb eines natürlichen Settings durchgeführt wird
und den Kontext in den Forschungsprozeß mit einbezieht. Der
Untersuchungsvorgang selbst zeigt ein charakteristisches Muster eines "Fließens"
oder "Sich kontinuierlichen Entwickelns", das die Interaktion der verschiedenen
Arbeitsschritte transparent macht. Für die Forscherin dieser Studie bietet der
Forschungskreislauf die geeignete Struktur eines methodischen Kreislaufs, der ihr
den Weg weist, ihre während des Forschungsprozesses entwickelten Fragen und
Hypothesen zu ordnen, vertiefen und weiterzuentwickeln. In dem von der Forscherin
entwickelten eigenen Methodenteil (s. Kapitel 8 und 10) wird auf diesen Kreislauf
noch einmal Bezug genommen.

• Das Design der Einzelfallstudie, das zur Hypothesenbildung (Hypothesen als


prospektive Ideen, die in der Praxis ausprobiert werden müssen) dient und die
individuellen Entwicklungen in der Patient - Therapeut - Interaktion zu erfassen
vermag. Die Forscherin wendet, da sie sich auf zwei Studien (=Fälle) konzentriert,
die Einzelfallmethodik an. Ihre allgemeine Hypothese besagt, daß die melodische
Improvisation ein wichtiger Aspekt der aktiven Musiktherapie sein kann, der
Patienten während ihrer stationären Phase einen Weg weisen kann, über den
Kontakt mit ihren kreativen Seiten zu einer neuen Identität zu gelangen. In dieser
Phase grundsätzlicher Transformation kann sie individuell unterstützend wirken.

Obgleich mit Hilfe der Einzelfallstudienmethodik empirische Daten erzeugt werden


können, kann diese Methodik jedoch keine generelle Validität für sich in Anspruch
nehmen.

96
Kapitel 6

Subjektivität, Validität und die Persönliche Konstrukt-Methodik

Im folgenden wird der Versuch unternommen, Kriterien zu entwickeln, die dem


Charakter dieses Untersuchungprozesses entsprechen. Da der subjektive Charakter in
diesem Forschungsprozess ein stärkeres Gewicht zeigt, scheint es deshalb insbesondere
notwendig zu sein, die Bedingungen einzubeziehen, die notwendig sind, diesem
Untersuchungsprozeß eine gerichtete, systematische und konsequente Form zu geben.

Aufgrund der geschilderten Ausführungen zur Situation des Forschens im


musiktherapeutischen Feld ergeben sich für die vorliegende Studie folgende
Voraussetzungen:

Das Forschen dieser Studie bezieht innerhalb ihres thematischen Schwerpunktes die
musikalisch-künstlerische Dimension in Verbindung mit kreativen Selbstprozeßen und
der Ästhetik des von Patient/in und Therapeutin gespielten Materials mit ein. Damit sind
Prämissen gesetzt, die die qualitative Forschungsmethode zum Schwerpunkt des
methodischen Vorgehens als geeignet erscheinen lassen. Eine traditionelle, normative,
positivistische Sichtweise, die Wert auf generalisierbare Referenzen legt, wäre zu fest
und unflexibel, um diesem Forschungsvorhaben eine entsprechend breite, variable
methodische Struktur zu bieten.

Dagegen findet diese Forschungsarbeit ihren Platz innerhalb des Rahmens einer
naturalistisch-heuristischen Sichtweise. Die Qualität ihrer Wissenschaftlichkeit zeigt
sich somit nicht in der Tatsache eines generalisierbaren Zeugnisses, sondern in ihrer
ausgeprägt subjektiven, unkonventionellen Aussage. Diese birgt jedoch, wie bereits in
Kapitel 4, Abschnitt ‘Subjektivität-Objektivität’ thematisiert, Gefahren in sich, unter
anderem die, daß subjektive Vorurteile die Erwartungen der Forscherin beeinflussen
können. Gefordert wäre also eine kritische Subjektivität, eine, die sich an eine
persönliche, distanzierte Sichtweise lehnt. In diesem Kapitel steht somit die Forscherin
im Blickpunkt der Betrachtung, die für sich einen Weg finden muß, ihre Subjektivität zu
beleuchten. So erscheint auch an dieser Stelle noch einmal die an die Forscherin selbst
gerichtete Frage:

Mit welcher Methode läßt sich meine eigene Subjektivität erhellen, die in den
Forschungsprozeß über die melodische Entwicklung im therapeutischen Prozeß mit
einfließt?

97
Die Forderung einer intersubjektiven Nachprüfbarkeit der Ergebnisse gilt für qualitative
wie für quantitative Ansätze in gleicher Weise. Gerade weil innerhalb des qualitativen
Paradigmas die Subjektivität des/der Forschers/in bewußt mit einbezogen wird, scheint
es hier notwendig zu sein, die einzelnen Schritte des Forschungsprozesses explizit zu
dokumentieren und zu begründen, damit sie nachvollziehbar werden. Aufgrund der
subjektiven, unkonventionellen Referenz wird es für diese Studie insbesondere
notwendig sein, in ihren Forschungsprozeß eine systematische Beobachtung
einzubeziehen, die eine erkennbare methodische Form zeigt, in der sich ihre
Wissenschaftlichkeit nachweisen läßt. Als Anlage dieser Forschungsstudie eignet sich,
wie in Kapitel 4, Abschnitt ‘Elemente phänomenologischer Forschung’ dargestellt, eine
in die Tiefe gehende, extensive Anwendung des phänomenologischen Ansatzes.

I DENTIFIKATION MIT DEM F OKUS

Die Forschungsfrage der vorliegenden Studie hat sich aus einem inneren Gewahrwerden
und einer eigenen Betroffenheit heraus entwickelt, deren Kernpunkte die
Ausdruckselemente der melodischen Form innerhalb des gemeinsamen Improvisierens
von Patient/in und Therapeutin sind.

Durch die Konzentration der Blickrichtung auf die Entwicklung und Bedeutung
melodischer Formen im therapeutischen Kontext wird die Forschungsfrage introspektiv.
Damit ist die Forscherin persönlich involviert. Sie sucht nach Qualitäten, Bedingungen
und Beziehungen, die der Grundfrage ihres Fokus unterliegen. Bruscia (Bruscia, 1995d)
betrachtet den Fokus einer Forschungsstudie als ein Zentrum der Motivation, das den
Forscher in seinem Forschungsweg inspiriert, zu einem Endziel hinleitet, es definiert
und eingrenzt. Sich zu fokussieren bedeutet in diesem Sinne, ein Phänomen zu
selektieren, das als "Zentrum der Aktivität, Attraktion und Aufmerksamkeit" dient.

Für Moustakas (Moustakas, 1990, S. 25) ist Fokussieren innerhalb der heuristischen
Forschung ein essentieller Prozeß. Dieser weist sowohl auf eine signifikante Idee des
Forschers hin, die für seine persönliche Entwicklung relevant ist, als auch auf den
Prozeß der Erschließung des inneren Gedankenraumes, der es dem Forscher ermöglicht,
sich seine Gedanken und Gefühle zu erschließen, die ihn Schritt für Schritt dem
Klärungsprozeß seiner Frage näher bringen. Er erörtert weiter, daß Fokussieren eine
innere Aufmerksamkeit ist, ein Verweilen mit einer Sache, ein anhaltender Prozeß eines
systematischen In-Kontakt-Tretens mit den wesentlichen Bedeutungsinhalten einer
Erfahrung. Dem Forscher ermöglicht somit das Fokussieren, etwas so zu sehen, wie es
ist und Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um sich von
zusammenhanglosen Einzelheiten und einem gedanklichen Durcheinander zu trennen
und Kontakt mit den notwendigen Wahrnehmungen und Einblicken in die eigenen

98
Erfahrungen aufzunehmen. Moustakas kommt zu dem Schluß, daß der Prozeß des
Fokussierens den/die Forscher/in in die Lage versetzt, Qualitäten einer Erfahrung zu
identifizieren, die nicht länger im Bewußtsein des Forschers geblieben sind, da er ihnen
als Individuum nicht die notwendige Zeit und innere Konzentration widmete.

Gleichzeitig kann der Prozeß des Fokussierens auch solche "Lichtblicke" und
"Richtungen" hervorheben, die während des Forschungsprozesses auftauchen und von
besonderem Interesse sind. Mit den "Lichtblicken" ist auch der Bereich der Intuition
angespochen, der in die Arbeit miteinfließt.

A UTHENTISCH SEIN

The work of art is itself authentic by reason of its entire self-definition: It is understood
to exist wholly by the laws of its own being, which include the right to embody painful,
ignoble, or socially inacceptable subject-matters.

(Trilling, 1972, S. 93)

Wie in Kapitel 5, Abschnitt ‘Qualitative Forschung’ hervorgehoben, ist eines der


Anliegen dieses Forschungsansatzes, die Integrität des Untersuchungsprozesses zu
etablieren. Eng damit verbunden ist der Begriff der Authentizität.

Die Betrachtung des Begriffes "Authentizität" erfolgt an dieser Stelle nur im


methodologisch kontextuellen Rahmen dieser Forschungsstudie. Um jedoch eine
Vorstellung von der generellen Anwendbarkeit dieses Terminus zu erhalten, soll
zunächst kurz auf seine allgemein gesellschaftliche Bedeutung eingegangen werden.

Der Begriff "Authentizität" hat als solcher eine umfangreiche, geschichtlich


philosophische Tradition. Diesem Begriff wurde nicht nur in unserem ausgehenden 20.
Jh. große Bedeutung zugemessen, er bildete auch in den vergangenen Jahrhunderten
einen Diskussionspunkt in der Auseinandersetzung mit der Identität des "Selbst".
Authentizität ist eng verknüpft mit Fragen über das "Selbst". Diese treten besonders
während des Übergangs von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft, bzw.
der modernen zur postmodernen Kultur auf (Erickson, 1995). Als Individuen einer sich
ständig verändernden Kultur sind wir zunehmend beunruhigt, nicht mehr länger in der
Lage zu sein, unser "wirkliches Selbst" zu finden, bzw. ein Gefühl von "nicht
authentisch sein" zu haben. Somit durchdringen Fragen zur Authentizität auch einen
Teil unserer Kultur. Sie erscheinen in unseren Institutionen, werden von
Sozialwissenschaftlern und - psychologen, die über die zeitgenössische Erfahrung des
"Selbst-Seins" und seinen Implikationen für die Identitätstheorie schreiben, geäußert
und durchdringen auch unser eigenes, individuelles Selbst (Erickson, 1995). Über den

99
Begriff Authentizität gibt es im Vergleich mit vielen anderen sozialen Konzepten
ebensoviele Definitionen wie Autoren, die darüber schreiben (vgl. auch die
Anmerkungen zur Authentizität von Lincoln und Guba (Lincoln & Guba, 1985)).

Erickson (Erickson, 1995) führt aus, daß das Selbst mit dem darin einbegriffenen
authentischen Selbst durch die dargestellten Verhaltensweisen komplexer Natur ist, das
heißt sich häufig ändert und zum Teil widersprüchlich präsentiert. Mit der Auflösung
eines absoluten Authoritätsdenkens ( Rückgang stabiler Gemeinschaften und familiärer
Bindungen) in einer sich ständig verändernden postmodernen Gesellschaft wandelt sich
auch das "Selbst". Damit das Selbst die sozialen Realitäten von heute reflektieren und
sich die Effekte des postmodernen Lebens einverleiben kann, muß es sich einen Sinn
geben, der beides ist, multidimensional und einheitlich, emotional und kognitiv und
individuell mit dem Sozialen verbunden. In diesem Sinne wird das Selbst von
postmodernen Feministinnen und Interaktionisten beschrieben. Sie betrachten es nicht
als ein konkret bestimmbares, einheitliches Wesen, sondern eher als ein kunstvolles
Gewebe individuell sortierter Beziehungen. Individuelle Selbstwerte tragen, wie das
Teilstück eines Webteppiches, zu einem übergeordneten Muster bei. Wie ein Teppich
trotz seiner scheinbar divergenten Bestandteile dem Betrachter den Sinn einer Ganzheit
vermittelt, vermag auch das vielfältige Selbst seinen individuellen, globalen,
biographischen Sinn vermitteln.

Auf das Individuum übertragen stellt sich nun die Frage, wie es diese komplizierten,
kontradiktionären, identischen Fragmente integrieren kann? Erickson meint hierzu, daß
im Gegensatz zur Romantik, in der sich das Selbst auf das nicht zu erschütternde
Konzept der Moral im Innern der eigenen Seele verlassen konnte, in der postmodernen
Zeit die Kräfte der Rationalität, des Verstandes und der Vernunft herangezogen werden,
auf die es sich stützen kann. Was wahr ist, hängt nun davon ab, zu wem man und in
welchem Kontext man spricht; ob man in der Lage ist, das richtige Image von sich
selbst zu präsentieren. Trotz dieser Schwierigkeiten und komplexen Gegebenheiten
sind die meisten Menschen in der Lage, zwischen den Anforderungen verschiedener
Identitäten zu wählen.

Wie ist dieses aber ohne die Existenz eines autonomen Selbst möglich? Auf diese
Frage gehen die zuvor erwähnten postmodernen Feministinnen und traditionellen
Interaktionisten ein. Sie definieren das Selbst als "Elemente in Beziehungen". Ein
eigenes Selbst zu haben bedeutet somit, ein biographisch einheitliches Set von
Beziehungen mit anderen zu haben. Dieser Bedeutungsinhalt des Selbst dient Erickson
als Argument für ihre Aussage, daß sich jeder Mensch über die Zeit sein eigenes
System von Selbst-Werten entwickelt.

100
Indem Erickson die Bedeutung der Beziehungen hervorhebt, zeigt sich die postmoderne
Forderung nach Authentizität als die nach dem Kontext, nach dem Selbst in
Beziehungen. Damit ist aber auch gesagt, daß die Bedeutungen der in einem
bestimmten Situationskontext implizierten Selbstwerte unterschiedlich sein können.
Dennoch ist nach Erickson diese Unterschiedlichkeit und Vielfalt der einzelnen
Selbstwerte strukturiert und von dem eigenen, sich auch in Wandlung befindlichen,
biographischen Selbst beeinflußt.

Ähnliche Ansichten über die Sichtweise des Selbst finden sich in der asiatischen
Literatur (Erickson, 1995), in der bei der Entwicklung des Selbst ein Schwerpunkt auf
die Rolle der Emotionen gelegt wird. Durch die Einbeziehung dieser Komponente läßt
sich die Betrachtungsweise zu einem Selbst erweitern, das in wechselseitiger
Abhängigkeit zum Kontext steht, interdependent statt dependent ist, beziehungsfähig
statt autonom ist, permeabel statt begrenzt ist, emotional und kognitiv ist statt das eine
oder andere zu sein. Nach Erickson wäre die Klage über das Nicht-Selbst-Sein oder
Nicht-Authentisch-Sein eher als eine Frage nach den Bedingungen des Kontextes
aufzufassen, in welchem die Erfahrung von Nicht-Authentisch-Sein zu einem Problem
werden kann. Alle Aufmerksamkeit sollte deshalb auf die Facetten des Selbst und
seiner Beziehungen im kontextuellen Rahmen gerichtet sein, die von dem sich im
Konflikt befindenden Individuum wahrgenommen werden.

In enger Verbindung zur Authentizität steht der Begriff Autonomität, über den es zwei
verschiedene Arten von Theorien gibt: 1. Theorien, die die Freiheit betonen, zwischen
Alternativen zu wählen und 2. Theorien, die auf die persönliche Authentizität fokussiert
sind (Waller, 1995). Beide haben ihre Anziehungskraft, denn einerseits wünschen wir
uns die Freiheit zwischen einer Vielfalt von Alternativen zu wählen, bewundern aber
andererseits auch die standfeste Position von "hier stehe ich, ich kann nicht anders
handeln". Beide Arten (Autonomität als Alternativen und Autonomität als persönliche
Authentizität) müssen nicht miteinander in Konflikt stehen. Sie sind verschiedene
Aspekte einer alles vereinheitlichenden, natürlichen Autonomität und können in ihrem
natürlichen Setting und in ihrer natürlichen Umgebung: Gesellschaft, Individuum,
biologische Natur, beobachtet und untersucht werden.

Die menschliche Authentizität involviert die Möglichkeit, eigene Wünsche zu ordnen.


Diese Möglichkeit, die eigenen Wünsche hierarchisch zu ordnen, kann die Ressourcen
erweitern und die Aufrechterhaltung eines dazu notwendigen Verhaltens unterstützen.

Was würde dieses für eine Forscherin bedeuten, die ihre Wünsche entsprechend ihrer
brennenden Forschungsfrage ordnet?

101
Es wäre vorstellbar, daß sie in der von ihr gewählten theoretischen Richtung ganz
authentisch engagiert ist und diese auch dann weiterverfolgt, wenn sie vielleicht weniger
vielversprechend erscheinen mag. Diese Aufrechterhaltung eines notwendigen
Verhaltens, trotz eventueller Zweifel, könnte wichtig sein, neue Erkenntnisse zu
gewinnen. Wenn nun aber das Engagement der Forscherin zur Obzession wird und sie
blind macht gegenüber anderen Möglichkeiten, wird ihre verzerrte Pseudoauthentizität
destruktiv, was fatale Folgen für den gesamten Forschungsprozeß haben könnte. Waller
(Waller, 1995) schlägt hier die natürliche Authentizität vor, die dann nützlich und
vorteilhaft ist, wenn sie mit der Wahrnehmung anderer, offener Möglichkeiten verknüpft
ist, die vielleicht vorteilhafter sein könnten als die, die man gerade verfolgt. Eine Stärke
dieser, von ihr vorgeschlagenen natürlichen Authentizität ist die, daß sie eine
symbiotische Verbindung zwischen Authentizität und Alternativen herzustellen vermag,
eine Symbiose, die sich durch ihre enge, gegenseitig unterstützende Verbindung
auszeichnet.

Das autonome Streben nach Alternativen (Waller, 1995) verlangt keine Wunderkraft.
Sie bietet uns genau das an, was unsere in Bewegung befindliche, natürliche Umwelt für
uns formt: die uns zur Verfügung stehenden Alternativen, die sich entsprechend unserer
Umwelt, unserer Bedingungen und Voraussetzungen wandeln. Somit steht die natürliche
Authentizität nicht in Opposition zu einem derartigen Suchen nach Alternativen; im
Gegenteil, sie bewahrt uns nützliche Wege und Theorien, die sonst anderwärtig verloren
gehen könnten. Auf diese Weise wird beides, die Suche nach Alternativen und das
Aufrechterhalten der eigenen engagierten Autonomität Bestandteil einer natürlichen
Authentizität. Beide können partnerschaftlich miteinander in Verbindung stehen.

Inwieweit hat der Begriff der “Authentizität” Relevanz für die musiktherapeutische
Situation dieser Forschungsarbeit?

Wenn wir Wallers Argumente aufgreifen, können wir feststellen, daß auch im Kontext
der Musiktherapie der Begriff der natürlichen Authentizität lebendig wirksam ist. Nur
durch die Erfahrung seines authentischen Selbst kann der Patient in den therapeutischen
Prozeß kommen. In diesem wird der Patient, im gegenwärtigen ganzheitlichen
Musikerleben, auch fortwährend vor die Situation gestellt, sich zu entscheiden und im
Spiel nach Alternativen zu suchen. Dabei hilft ihm der auf das Handeln ausgerichtete
therapeutische Ansatz einer aktiven Musiktherapie, der im Patienten, während des
musikalischen Improvisierens, die Aspekte Spontaneität und Kreativität aktiviert und im
"Jetzt-Erleben" unbewußte (Inspiration, Intuition, Phantasie) und bewußte (Vorstellung,
Form, konstruktive Phantasie, Ausdruck) Momente vereinigt. Im prozeßhaften
musikalischen Spiel wird der Aspekt "Bei sich bleiben, auf Sicherheit gehen" oder
"Etwas wagen, Unbekanntes ausprobieren", zu einer fortwährenden, konfrontierenden

102
Tatsache. Im Vergleich zu Lebenssituationen kann diese Tatsache jedoch mehr als ein
gefahrloses, spielerisches Übungsfeld betrachtet werden, denn seine Spielsituation kann
immer wieder neu definiert werden und die in der musikalisch therapeutischen Situation
als unbequem erlebten Entscheidungen können meistens wieder verändert werden.

Wenn wir der Frage nach der Authentizität im Bereich der Musikphilosophie nachgehen
zeigt sich eine ähnliche Forderung nach der Aufdeckung des kontextuellen
Zusammenhangs. Adorno hat hier einen rigorosen Ansatz vertreten, der sich auf das
musikalische Material und den musikalischen Diskurs bezieht (Adorno, 1995). Für ihn
ist ein musikalisches Kunstwerk nur dann authentisch, wenn es im Hinblick auf die
Wahl seines musikalischen Materials und seiner technischen Handhabungen nicht nur
die Ideen und die persönliche interne Welt des Komponisten spiegelt, sondern auch die
externe, historische Welt und unsere Interaktionen mit ihr.

Die Anwendung des Begriffes "natürliche Authentizität" von Waller (Waller, 1995)
bedeutet für mich, meinen eigenen Quellen zu vertrauen, sie als authentisch und valide zu
akzeptieren und das anzunehmen, was durch Gedanken, Gefühle, Sinne und Intuition zu
mir fließt. Meine eigene Authentizität verstehe ich auch im Sinne Ericksons, die
Authentizität als ein allmählich, über die Zeit entwickeltes eigenes System von Selbst-
Werten definiert, das in seiner Beziehungsvielfalt von dem eigenen, sich auch in
Wandlung befindlichen, biographischen Selbst strukturiert ist. Da dieser Begriff
kontextuell ist und alle persönlichen, professionellen und umwelt- und
situationsbedingten Faktoren miteinbezieht, die alle den Forschungsprozess
beeinflussen können, wird Authentizität zu einem zu erörternden Punkt. Für mich stellt
sich somit die Frage:

Wer bin ich in der Person als Forscherin? Wie definiert sich mein eigenes System von
Selbstwerten im Bereich der melodischen Improvisation, d.h. in Beziehung zur Melodie
und in Beziehung zu den Patienten?

Wie erhalte ich Zugang zu meinen unbewußten Selbstwerten und Denkstrukturen?

P ERS ö NLICHE V ALIDIT ä T UND DIE S TRUKTUR VON ‘B EDEUTUNG `

Wie wir gesehen haben, ist es dieser Forschungsstudie nicht möglich, generalisierbare
Referenzen anzubieten. Infolgedessen wird in diesem Abschnitt eine Möglichkeit
aufgezeigt, wie mit Hilfe eines bestimmten methodischen Weges die eigenen
Vorstellungen, Denkstrukturen und subjektiven, persönlichen Perspektiven erhellt und
für den Leser transparent gemacht werden können.

103
Der Begriff "Validität" ist ein allgemeiner Terminus, der herangezogen wird, um die
Glaubwürdigkeit einer Arbeit im Bereich wissenschaftlicher Forschung zu etablieren.
Innerhalb unserer Kultur wird das Wort "valide" dann herangezogen, wenn etwas als
korrekt bezeichnet wird. Dieses bezieht sich sowohl auf die Schlüssigkeit einer Aussage,
als auch auf die Art und Weise, wie diese Schlußfolgerungen erzielt werden.

Im quantitativen Forschungsparadigma hat dieser Begriff eine relativ strenge Bedeutung.


Er ist in Sub-Kategorien unterteilt, die sich auf die Begriffe ‘interne und externe
Validität’ beziehen, die mit der Arbeitsdurchführung und Argumentationsweise
assoziiert sind (Gliner, 1994). Innerhalb der qualitativen Forschungsmethode hat sich
dieser Begriff durch die Etablierung der Faktoren "Aufrichtigkeit" und
"Glaubwürdigkeit" instituiert.

Die Art und Weise, wie der Begriff "Validität" innerhalb dieser Studie Anwendung
findet, geschieht in Anlehnung an die Methoden der Qualitativen Forschung (Denzin &
Lincoln, 1994; Lincoln & Guba, 1985). Wenn wir zur archaischen Bedeutung dieses
Wortes zurückkehren, treffen wir auf die Wurzel dieses Begriffs, die aus dem
Lateinischen stammt: validus = robust und valere = streng sein. In diesem Sinne
könnte vorgeschlagen werden, daß sich die Validität einer Arbeit auf ein strenges,
robustes Argument stützt. Die Kraft dieses Arguments bildet die Prämissen, auf denen
es sich gründet.

Die Grundlage, auf der sich im Sinne der qualitativen Forschung Validität als
Glaubwürdigkeit herausbilden kann, ist durch folgende Faktoren erreichbar: 1. zu
zeigen, daß die Arbeit eine wohl gegründete Argumentationsbasis aufweist, 2. die
Voraussetzungen, die bei der Forschungsarbeit eine Rolle spielen, transparent zu
machen, 3. eine Reihe von relevant erscheinenden Beobachtungen und
Klanginterpretationen entwickeln und diese Interpretationen glaubwürdig zu machen.

Es wäre also möglich, einen Schritt in Richtung einer Etablierung von Glaubwürdigkeit
zu vollziehen, wenn wir die verschiedenen Blickwinkel, Ansichten, Grundgedanken und
Vorurteile von Forschern offenlegen. In diesem Sinne stellt sich auch hier die Frage an
die eigene Person der Forscherin:

Was sind die Voraussetzungen meiner Forschungsarbeit? Welche Sichtweisen habe


ich von melodischer Gestalt, bzw. melodischer Nicht-Gestalt?

Für eine qualitative Studie wäre es also notwendig, die persönlichen Vorverständnisse
der forschenden Personen aufzudecken und zu klären versuchen. In den folgenden
Abschnitten geht es um solch einen methodischen Weg, der aufzuzeigen vermag, auf
welche Art und Weise die subjektiven persönlichen Perspektiven offengelegt werden

104
können. Diese Methode hat den Vorteil, daß sie thematisch auf verschiedene
Forschungsbereiche angewendet werden kann. Als Beispiel dient in der vorliegenden
Studie das Element “Melodie”. Mit ihm kann gleichzeitig offengelegt werden, wie sich
für mich als Forscherin mein eigenes System von Selbstwerten in Beziehung zur
Melodie und zu Patienten definiert.

Das vorliegende Forschungsprojekt, das sich mit der Entwicklung des melodischen
Spiels innerhalb des musiktherapeutischen Kontextes befaßt, kann, wie bereits
ausgeführt, nur subjektiv sein (vgl. Kapitel 4 ‘Subjektivität-Objektivität’ und Kapitel 5).
Es handelt von der Art und Weise, wie Musik als seelisches Geschehen erlebt und
gehört wird und ist deshalb teilweise mit der individuellen Arbeitsweise der Forscherin
verbunden. Zwei Fragen stellen sich hier:

• Erstens: Enthält die vorliegende Arbeit Aspekte, die Bedeutung für die eigene
praktische Arbeit haben? Oder formell ausgedrückt, gibt es in dieser Arbeit
irgendeinen Aspekt, der generalisiert werden könnte? Dieses wäre eine Frage nach
der externen Validität.

• Zweitens: Gibt es in meinem eigenen Spiel blinde Flecken? Diese Art der Frage
würde sich mehr mit der internen Validität befassen.

Mit dem Konversationsparadigma (Thomas & Harri-Augstein, 1985), das in den


folgenden Abschnitten vorgestellt wird, besteht die Möglichkeit, auf die Fragen nach der
externen und internen Validität einzugehen. Indem die Struktur meiner
Bedeutungsinhalte und Denkweisen offengelegt wird, kann mit ihm veranschaulicht
werden, wie ich als Forscherin meine eigene Arbeit verstehe. Auch von dieser
Perspektive aus gesehen ist diese Forschungsarbeit hermeneutisch. Es geht hier um das
Anliegen und die Bedeutung der Signifikanz menschlichen Verständnisses und
menschlicher Interpretation.

Viele der in der qualitativen Forschung herangezogenen Begriffe wie


Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit und Legitimität werden als valide Werturteile
angesehen. Es ist deshalb grundsätzlich schwierig, die Untersuchungsergebnisse von
der Person der Forscherin zu trennen, bzw. separat zu behandeln. In bezug auf diese
Forschungsstudie wird hier realiter der Versuch unternommen, meine Vorurteile als
Forscherin während des Forschungsprozesses aufzudecken und herauszufinden, wie
diese meine Arbeit beeinflussen. Auch aus diesem Grund ist ein solches Vorgehen in
der Arbeitsweise zwangsläufig subjektiv. Es geht also darum, die Prämissen von
Subjektivität zu entdecken. Damit soll nicht die Legitimität meiner Person als Forscherin
etabliert werden. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, die Vorurteile, mit denen die

105
Daten gesammelt und interpretiert wurden, zu erläutern. "Bedeutung" ist den Daten nicht
inhärent. Sie ist beeinflußt von der Art und Weise, wie die Realität von mir interpretiert
wird (vgl. Kapitel 4, Abschnitt "Zur Situation des Forschens in der
musiktherapeutischen Disziplin") und von der Tatsache, daß Interpretation von Situation
zu Situation unterschiedlich ausfallen kann (Dzurec, 1989). Durch die Offenlegung und
Erläuterung dieser Zusammenhänge wird es dem Leser möglich sein, die
Interpretationsergebnisse mit den Voraussetzungen seiner eigenen Interpretationsweise
und seinen eigenen Vorurteilen zu vergleichen und zu erkennen, ob und wie beide
miteinander resonieren.

Eine der Stärken qualitativer Forschung ist ihre Auseinandersetzung mit der
Interpretation. Diese ist hermeneutisch (Moustakas, 1990) und resoniert deshalb mit den
Prozessen, die im Bereich der kreativen Künste mit Therapie involviert sind (vgl. Kapitel
4, Abschnitt ‘Elemente phänomenologischer Forschung’). In der vorliegenden Studie
liegt der Fokus auf der Entwicklung des melodischen Spiels. Somit wäre als erster
Schritt zu untersuchen, wie ich als Forscherin Melodien auffasse und verstehe und
festzustellen, welche Signifikanz diese für mich haben. Es wird hier offensichtlich, daß
Elemente einer persönlichen Intention die Forschungsarbeit durchdringen. In der
Einleitung ist es deutlich gemacht worden, daß die Wahl des Fokus nicht willkürlich
getroffen wurde. Der Prozeß dieser Doktorarbeit ist also eng mit meiner persönlichen
Entwicklung als Forscherin verknüpft. Das bedeutet für mich:

Das Offenlegen meiner persönlichen Bedeutungsinhalte und Intentionen, die auf den
Inhalt meiner Forschung bezogen sind, ist für mich ein wichtiger und spannender
Schritt nach vorn, die Arbeit zu verstehen.

P ERS ö NLICHE K ONSTRUKT T HEORIE

Im vorangegangenen Abschnitt wurde die Anwendung eines bestimmten methodischen


Weges generell erläutert, mit dem persönliche Validität und - Bedeutungsinhalte
offengelegt werden können. Innerhalb einer qualitativen Forschungsarbeit, die die
Subjektivität der Forscherin miteinbezieht, ist die Einbeziehung einer solchen Methode
unabdingbar, um Glaubwürdigkeit zu gewährleisten und eine Transferierbarkeit möglich
erscheinen zu lassen. In diesem Abschnitt geht es darum, dem Leser zu demonstrieren,
daß mit dem von George Kelly (1955) entwickelten Konversationsparadigma die
Möglichkeit besteht, diesem Anliegen näher zu kommen. Zunächst wird ein allgemeiner
Einblick in die Entstehung dieser Methode gegeben, sowie einige der charakteristischen
Merkmale hervorgehoben. Im Anschluß (vgl. Abschnitt ‘Methode’) werden am Beispiel
“Melodie” im einzelnen die methodischen Schritte aufgezeigt, die zur Offenlegung
meiner persönlichen Perspektiven (als Forscherin) über Melodien führen. Die

106
Ergebnisse (vgl. Abschnitt ‘Ergebnisse’) werden anschließend diskutiert und zum
Forschungsthema in Beziehung gesetzt.

Die "Personal Construct Theory" von George Kelly (1955) und die mit ihr verwandte
"repertory grid method" (Smith, 1979) wurden vornehmlich zu dem Zweck konzipiert,
Systeme über "Bedeutung" zu entwickeln und herauszubringen. Dieser Ansatz hat nicht
die Identifikation normativer Muster zum Mittelpunkt seines Interesses, sondern die
idiosynkratische Bedeutung, die auf unverhüllte und explizite Weise verdeutlicht wird.
Da jedoch jedes Set von Bedeutungsinhalten, beziehungsweise - merkmalen persönlich
und deshalb einmalig ist, geht diese Theorie von der Tatsache aus, daß jeder Mensch am
gemeinsamen kulturellen Leben Anteil hat und folglich seine Erfahrungen, Einblicke
und die für ihn bedeutungsvollen Ereignisse mit anderen Menschen teilen und mitteilen
kann. Der"Personal Construct" - Ansatz ermöglicht jedem Menschen, sein Verständnis
und seine Meinungsbildung von der Welt anderen so greifbar zu machen, daß
gemeinsame Ansichten über Bedeutungsinhalte identifiziert werden können. In dieser
"Konversationsmethode", die Kelly für Unterrichtssituationen, Counselling und
Therapie entwickelte, läßt sich eine potentielle Relevanz für die kreativen Kunsttherapien
und die Supervision erblicken. Tatsächlich diskutiert Kelly den Menschen als ein
Wesen, das einen Zugang zur Wissenschaftlichkeit hat. Der Mensch kann seine Ideen
über die Welt als Hypothesen entwickeln und sie anschließend in der Praxis
ausprobieren. Aufgrund von Ereignissen und Erfahrungen werden diese sodann
revidiert. Durch diesen Vorgang werden Erfahrungen bearbeitet und entsprechend der
Art ihrer Auslegungen geformt. Jede Situation bietet das Potential für eine alternative
Sichtweise der Deutung und Strukturierung von Wirklichkeit an. Der persönliche
Konstrukt-Ansatz ermöglicht es, verschiedene Bedeutungsinhalte über spezifische,
natürliche Settings herauszulocken, in denen Erfahrungen gewonnen wurden.

Autoren qualitativer Methoden, insbesondere Lincoln und Guba (Denzin & Lincoln,
1994; Guba & Lincoln, 1989; Lincoln & Guba, 1985) präsentieren sich selber als
Konstruktivisten. Aus diesem Grund wäre es sinnvoll, eine historische Verbindung zu
Kellys Konstrukt-Theorie zu ziehen. Allerdings findet sich in keinem der zuvor zitierten
Hauptwerke über qualitative Forschung (vgl. Kapitel 4 und 5) irgendein Verweis auf
Kelly. Nur bei Moustakas (Moustakas, 1990) können wir einen Hinweis auf Kelly
finden. Dieser zeigt sich im Begriff der "Immersion", der verdeutlicht, daß Forscher
während des Zusammentragens ihrer Forschungsdaten subjektiv gefragt werden, welche
persönlichen Gedanken ihnen während ihrer Arbeit gekommen sind. Die Lektüre von
Kellys Werk macht deutlich, daß er selbst von einer praktischen Erfahrung der Welt
überzeugt ist und diese besonders hervorhebt. Diese Überzeugung findet Eingang in
seine Methode, in der die Begriffe, die er für die Identifikation seiner Konstrukte

107
heranzieht, nicht die Konstrukte selber sind. Er argumentiert, daß jeder von uns ein
persönliches Glaubenssystem besitzt, mit dem er aktiv die Welt interpretiert. Menschen
schaffen und verändern die Welt zusammen mit ihren eigenen Theorien.

Diese Grundansichten Kellys lassen sich auf das vorliegende Forschungsprojekt


anwenden. Mit Hilfe dieser Methode versuche ich herauszufinden, wie ich meine Welt
der musikalischen Erfahrung in einem bestimmten Bereich der musikalischen Aktivität,
dem des melodischen, organisiere. Da die Melodie der gewählte Fokus meiner Studie
ist, macht es einen Sinn, die Arbeit gleich von Anfang an zu fokussieren. Um
Glaubwürdigkeit herzustellen ist es für mich deshalb wichtig, meine eigenen Konstrukte
über die Welt der Melodien zu bilden und darüber zu reflektieren.

Ich gehe von der Überzeugung aus, daß Reflexionen eine tiefere Ebene erreichen, wenn
sie nach außen getragen werden. Um Glaubwürdigkeit zu etablieren und Vertrauen in
meine eigene Person zu setzen muß ich in der einen oder anderen Form mein
Verständnis über die Welt, über Melodien explizit machen. Mit dem Repertoire-Gitter-
Ansatz ("Repertory Grid Approach") wähle ich einen solchen Weg, der meine
Verständnisse formal präsentiert.

Methode

Ein Vorteil dieser Methode besteht darin, daß sie mit Hilfe des Computers selbständig
ausgeführt werden kann. In dem vorliegenden Fall wurde diese Methode von mir unter
Einbeziehung meines methodischen Supervisors selbständig durchgeführt.

Zunächst wählte ich verschiedene Melodien aus, die für mich von Bedeutung waren. Der
Fokus dieser Aufgabe bestand darin, meine persönliche Meinung von Melodien, die ich
rezipierend aufnahm, herauszulocken. Von mir wurden nur solche Melodien
herausgesucht, die mir gerade zur Verfügung standen und für mich signifikant waren.
Es ist wichtig zu betonen, daß bei dieser ersten Auswahl bestimmter Elemente (in diesem
Fall Melodien) grundsätzlich keine Erwartungen über die persönliche Meinung,
hinsichtlich emotionaler oder intellektueller Assoziationen, formuliert werden, obwohl
auch solche Äußerungen in Erscheinung treten können. Diese erste Auswahl erscheint
nur als einfache Frage, die die musikalische Erfahrung als solche zu selektieren
versucht. Wie es Kelly selber ausdrückte, besteht der Vorteil dieser Vorgehensweise
darin, daß verbale Label oder Bezeichnungen für die Konstrukte herausgelockt werden
können, die präverbaler Natur sind. In meinem Fall wählte ich eine Darstellungsweise,
die auf meinen Kenntnissen und individuellen Neigungen beruht und ihren
Ausgangspunkt im eigenen musikalischen Erfahrungsbereich hat. Der eigene
musikalische Erfahrungsbereich wurde also mit Hilfe der Elemente (Melodien) in einen

108
verbalen Bereich übertragen. Dieser Vorgang des Verbalisierens der musikalischen
Erfahrung ist ein wichtiger Schritt, um Glaubwürdigkeit zu etablieren.

1. RICHARD STRAUSS (1864-1949), LIEDER,"DIE NACHT" OP. 10/3.


JESSYE NORMAN, HERMANN VON GILM.

2. DIMITRI SCHOSTAKOWITSCH (1906-1975),


SONATA OP. 40 FÜR VIOLONCELLO UND KLAVIER.THEMA DES
VIERTEN SATZES: ALLEGRO. VIOLONCELLO: JULIAN LLOYD
WEBBER, KLAVIER: JOHN MCCABE

3. J.S.BACH (1685-1750), CHORALVORSPIEL "ICH RUF`ZU DIR,


HERR JESU CHRIST" BWV 639. BEARBEITUNG: FERRUCCIO
BUSONI. KLAVIER: ALFRED BRENDEL.

4. FREDERIC CHOPIN (1810-1849), PIANO CONCERTO NO.2 IN F


MINOR, OP. 21. THEMA DES ZWEITEN SATZES, LARGHETTO.
KLAVIER: CLAUDIO ARRAU. LONDON PHILHARMONIC
ORCHESTRA, ELIAHN INBAL.

5. LEOS JANACEK (1854-1928) , AUF VERWACHSENEM PFADE,


"UNSERE ABENDE". KLAVIER: RUDOLF FIRKUSNY.

6. ENRIQUE GRANADOS (1867-1916),DANZAS ESPANOLAS, NR. 4


"VILLANESCA". KLAVIER: ALICIA DE LAROCHA.

7. RICHARD STRAUSS (1864-1949), TOD UND VERKLÄRUNG OP.24,


TONDICHTUNG FÜR GROßES ORCHESTER.KOMP. 1890.
"VERKLÄRUNGSTHEMA". BERLINER PHILHARMONIKER, H. V.
KARAJAN.

8. ANTONIN DVORAK, SYMPHONIE NR. 8 G-DUR OP. 88. THEMA


DES DRITTEN SATZES: ALLEGRETTO GRAZIOSO. LONDON
SYMPHONY ORCHESTRA, WITOLD ROWICKI.

Tabelle 6.1 : Acht ausgewählte Melodien oder melodische Themen

Acht Melodien wurden von mir ausgewählt (s. Tabelle 6.1) und auf eine Audiokassette
aufgenommen. Die Audiokassette diente während des Herausbildungsprozesses der
Konstrukte als Erinnerungshilfe der verschiedenen Melodien. Dieselbe Aufnahme
wurde ein Jahr später noch einmal benutzt, um die originalen Konstrukte zu verifizieren.
Jede dieser acht Melodien fungierte als ein Element in der Herausbildung eines
"repertory grid". Genauer ausgedrückt war jede dieser während des Hörvorganges der
verschiedenen Melodien vollzogenen Erfahrungen ein Element in diesem "Grid".

Die Konstrukte wurden durch die Benutzung der standardisierten Form der dreiwertigen
Erzeugung (Triaden-Entlockung) gebildet (s. Abb. 6.1). Von den acht Elementen
wurden drei Melodien ausgewählt und so miteinander verglichen, daß sich zwei in einem
Punkt ähnelten und eine sich in diesem Punkt von den beiden anderen unterschied.
Meine Aufgabe war es, die Ähnlichkeit und den Unterschied zu identifizieren. Der

109
Prozeß des randomisierten Auswählens der Triaden aus den acht Elementen konnte
computerisiert werden. Das RepGrid-Programm wurde benutzt, um die Konstrukte zu
bilden und die Daten zu analysieren (RepGrid 2 V2. 1b, aus dem Centre for Person-
Computer Studies, Calgary, Canada).

In Abb. 6.2 (erster Schritt) sehen wir, daß die melodischen Themen der Komponisten
Schostakowitsch, Bach und Janacek verglichen wurden. Obwohl bis zu diesem
Zeitpunkt noch keinem der beiden Pole eine Bezeichnung gegeben wurde, kann aus der
Abbildung abgelesen werden, daß in meiner Hörerfahrung Schostakowitsch im Kontrast
zu Janacek steht. Im zweiten Schritt wurden beide Pole des Konstrukts benannt.
Anschließend konnten die restlichen Melodien, das heißt die Elemente des Grid, den
Konstrukt-Polen zugeordnet werden.

Die sich bei diesem Prozeß herausbildende Rangordnung ist die einer relativen
Positionsfindung, die ohne die Verwendung von Zahlen wie ein intuitiver Appell wirkt.
Alle Elemente müssen entsprechend der für sie gewählten Bezeichnungen angeordnet
werden. Diese Anordnung erfolgt rein visuell nach ihrer relativen Distanz und wird so
lange manuell adjustiert, bis sie adäquat erscheint.

Abb. 6.3 veranschaulicht eine von mir durchgeführte Rangordnung aller melodischer
Elemente zu den beiden Konstrukten “innig nah-distanziert” und “weich-energisch”.

In Abb. 6.4 ist zu erkennen, wie zwei melodische Elemente (Schostakowitsch und Bach)
den vollständig erzeugten bipolaren Konstrukten zugeteilt wurden.

Die Analyse der Daten war abgeschlossen, mit anderen Worten, alle Konstrukte waren
erzeugt, als von mir keine weiteren Ähnlichkeiten, beziehungsweise signifikanten
Unterschiede festgestellt werden konnten.

110
In einem Punkt unterschiedlich
Schostakowitch

Elemente/Melodien
Die Nacht
Chopin
Janacek
Granados
Verklärungsthema
Dvorak

Bach
In einem Punkt ähnlich

Abbildung 6.1: Die Veranschaulichung der Konstrukt-Triaden-Erzeugung und ihre


Zuordnung.
Schritt 1 Schritt 2
Unterschied Schwebend
Janacek Janacek

Zuzuordnende Elemente
beschriftete Konstruktpole
unbeschriftete Konstruktpole

Melodien und Themen

Die Nacht
Chopin
Granados
Verklärungsthema
Dvorak

Bach Bach

Schostakowitch
Ähnlichkeit Verankert

(Im ersten Schritt werden die Konstrukt-Pole entsprechend der kontrastierenden Elemente
(Schostakowitsch und Janacek) unterschieden. Im zweiten Schritt werden die Konstrukt-Pole
beschriftet und die Melodien diesen zugeordnet).

Abbildung 6.2: Die Bezeichnung der Konstrukt-Pole und die Zuordnung der Elemente.

111
innig nah weich
Die Nacht Die Nacht

Janacek Chopin

Chopin Janacek

Dvorak

Verklärungsthema Granados

Dvorak Bach

Bach Verklärungsthema

Granados

Schostakowitch Schostakowitch
distanziert energisch

Abbildung 6.3: Beispiel von zwei Konstrukten “innig nah-distanziert” und “weich-
energisch”, nachdem die Melodien zugeordnet wurden.
Bach
vom Melodiefluß bestimmt metrisch-harmonisch bestimmt
bewegt gleichförmig
harmonisch subaltern harmonisch bedeutend
antizipierbare Wendungen überraschende Wendungen
verankert schwebend
Stufenbewegung großer Ambitus
distanziert innig
unbeteiligt erregt
stringent verspielt
gehalten vorwärtsdrängend
grob zart
die Oberfläche die Tiefe
Geschlossenheit Offenheit
Ausgeglichenheit Spannung
gleichbleibend steigernd
unteilbar teilbar
energisch weich
Schostakowitch

(Die nach oben weisenden Häkchen stellen die Rangplazierungen des melodischen
Elements Bach auf dem jeweiligen Konstrukt dar.Die nach unten weisenden Häkchen
stellen die Rangplazierungen des melodischen Elements Schostakowitsch auf dem
jeweiligen Konstrukt dar).

Abbildung 6.4: Die Rangordnung zweier melodischer Elemente auf allen erzeugten
Konstrukten.

112
Fokus - Analyse

Es gibt zwei prinzipielle Formen der Datenanalyse und Präsentation. Die eine ist die
Form einer Hauptkomponentenanalyse, die eine räumlich konzeptuelle Struktur der
Daten aufzeigt. Die andere ist die Form einer Fokus-Analyse, die eine hierarchisch-
konzeptuelle Struktur der Konstrukte darstellt. Jede dieser Formen kann graphisch
dargestellt werden. Beide Graphiken bieten eine Möglichkeit der Datenpräsentation für
weitere Analysen. Ein Teil der Technik dieser Methode besteht darin, daß mit dem
Supervisor oder anderen Fachkollegen über die präsentierten Daten diskutiert werden
kann. Mit den Analysen ist jedoch der Forschungsprozeß im Hinblick auf eindeutige
Resultate keineswegs abgeschlossen. Wie alle Forschungsmethoden verlangen Resultate
Interpretation. Somit bin ich als Forscherin hier gefragt, ob die Präsentation der Daten
für mich einen Sinn ergibt, d.h., ob ich in ihnen Muster entdecke, die mich in meiner
Erkenntnis weiterbringen. Wichtig ist also die aktive, reflektierende Auseinandersetzung
mit dem Material, die eine Grundlage für die Etablierung von Validität in einem
qualitativen Paradigma bilden kann.

Die kalkulierende Analyse übernimmt die Werte des Konstrukts wie sie den Elementen
zugewiesen wurden und stellt sie so dar, als repräsentierten sie Punkte im Raum. Die
Dimensionen dieses Raums sind von der Anzahl der involvierten Elemente bestimmt.
Der Zweck dieser Analyse besteht darin, die Beziehung zwischen den Konstrukten, wie
sie durch den elementaren Raum definiert wurde, zu bestimmen. Durch den Vorgang der
Kalkulation wird in den Daten nach Mustern gesucht; mit anderen Worten, Konstrukte
und Elemente werden so lange organisiert, bis Muster gefunden werden. Da während
dieses Vorgangs Cluster mit ähnlichen Daten organisiert werden, wird dieser auch als
Clusteranalyse bezeichnet. Mit ihr können wir erkennen, wie sich einige Konstrukte
ähneln, wenn sie räumlich angeordnet sind. Zwei nah beieinander liegende Konstrukte
können z. B. auf die gleiche Weise benutzt worden sein. Andere, die nicht äquivalent
sind, können sich auf die Konstellation der Gesamtheit der Daten auswirken.
Tatsächlich präsentiert die Hauptkomponenten-Analyse der Daten solch ein stellares
Erscheinungsbild ( s. Abb. 6.5 ).

Hier sind die beiden Hauptkomponenten der Daten als Achsen benutzt, auf die die
Konstrukte projiziert wurden. Dieses erlaubt mir, die Dimensionen, auf denen meine
Erfahrungen von Melodie analysiert wurden, abzuschätzen und zu beurteilen. In diesem
Fall bilden die Konstrukte "innig nah - distanziert" eine Hauptachse, während die
Konstrukte "überraschende Wendungen - antizipierbare Wendungen" für den Rest der
Analyse zählen.

113
gleichförmig Janacek
metrisch-harmonisch überraschende Wendungen
Schostakowitch bestimmt
harmonisch bedeutend

gehalten
Spannung Offenheit

rnd
energisch stringent schwebend

e
Verklärungsthema

steig
unbeteiligt die Tiefe unteilbar
grob
Stufenbewegung Bach innig nah
distanziert großer Ambitus
zart Die Nacht

d
teilbar

iben
die Oberfläche erregt
verankert Chopin

hble
Ausgeglichenheit verspielt weich
Geschlossenheit

gleic
vorwärtsdrängend
harmonisch subaltern
Granados
antizipierbare Wendungen vom Melodiefluß bestimmt
bewegt
Dvorak

(Die gepunkteten Linien, die die horizontale ‘innig nah - distanziert’ und vertikale ‘überraschende Wendungen
- antizipierbare Wendungen’ Achse anzeigen, repräsentieren die beiden Hauptachsen, um die herum alle Daten
organisiert sind. Die Elemente erscheinen als Melodien an der entsprechenden räumlichen Stelle mit * und
Komponistennamen; z.B. * Die Nacht).

Abbildung 6.5: Eine Hauptkomponentenanalyse der originalen, auf Melodie bezogenen


Konstrukte.

Die Fokusanalyse strukturiert diejenigen Konstrukte und Elemente in linearer


Anordnung, die im dimensionalen Raum am dichtesten beieinanderliegen. Diese werden
dann sortiert und auf ihre Ähnlichkeit hin vermessen (in Prozent). Die Cluster dieser
Konstrukte werden anschließend berechnet, indem die sich am meisten ähnelnden
selektiert und als hierarchisches Baum-Diagramm präsentiert werden. In Abb. 6.6 läßt
sich z.B. erkennen, daß die Konstrukte "grob - zart" und "innig nah - distanziert"
rangmäßig ähnlich sind und deshalb eine ähnliche Funktion und Bedeutung haben. An
Hand beider Analyseformen ist es mir möglich, etwaige Beziehungen zu entdecken, die
für mich Relevanz haben könnten.

In einem nächsten Schritt wurde versucht, Bezeichnungen für die gruppierten


Konstrukte zu finden (s. Abb. 6.7). Diese Bezeichnungen repräsentieren für sich
genommen selber Konstrukte auf einer höheren Abstraktionsebene. Sie sind ein Schritt
nach vorn, um Kategorien zum Zweck der Analyse von Fallstudienmaterial in der
qualitativen Forschung zu bilden. Hier lassen sich Analogien mit dem Prozeß des
Generierens von Kategorien in den "Grounded-Theory"-Methoden feststellen (vgl.
Kapitel 5, Abschnitt ‘Grounded Theory’).

114
2 3 6 8 7 1 4 5 100 90 80 70 60
unbeteiligt 8 1 9 5 8 13 11 10 7 8 erregt
Stufenbewegung 6 3 2 1 11 10 5 13 9 6 Großer Ambitus
stringent 9 4 6 3 11 1 9 13 7 9 verspielt
steigernd 15 7 13 8 4 1 9 12 6 15 gleichbleibend
Spannung 14 6 13 12 8 1 5 11 7 14 Ausgeglichenheit
harmonisch bedeutend 3 1 10 9 11 4 2 8 3 3 harmonisch subaltern
überraschende Wendungen 4 3 10 12 13 11 7 10 2 4 antizipierbare Wendungen
gleichförmig 2 3 4 12 13 8 10 11 1 2 bewegt
metrisch-harmonisch bestimmt 1 1 5 13 13 9 12 10 6 1 vom Melodiefluß bestimmt
energisch 17 1 8 9 10 7 13 12 11 17 weich
grob 11 1 6 5 8 7 13 11 10 11 zart
distanziert 7 1 7 5 8 9 13 11 12 7 innig nah
die Oberfläche 12 1 7 5 6 11 12 10 13 12 die Tiefe
teilbar 16 1 2 3 5 12 13 10 11 16 unteilbar
verankert 5 2 1 3 5 6 9 7 13 5 schwebend
Geschlossenheit 13 1 9 2 3 7 4 11 13 13 Offenheit
vorwärtsdrängend 10 4 10 3 1 7 6 13 12 10 gehalten
2 3 6 8 7 1 4 5 100 90 80 70 60 50
5 Janacek
4 Chopin
1 Die Nacht
7 Verklärungsthema
8 Dvorak
6 Granados
3 Bach
2 Schostakowitch

Abbildung 6.6: Eine Fokusanalyse der Originalkonstrukte, die sich auf die Melodien
beziehen.

vorwärtsdrängend gehalten
Geschlossenheit Offenheit Orientierung
verankert schwebend
unbeteiligt erregt
musikalische
teilbar unteilbar
Formung
die Oberfläche die Tiefe

distanziert innig nah

grob zart
Gefühl
energisch weich

metrisch-harmonisch vom Melodiefluß


bestimmt bestimmt
gleichförmig bewegt
Musikalisch
überraschende Wendungen antizipierbare Wendungen

harmonisch bedeutend harmonisch subaltern


elementar
stringent verspielt

Stufenbewegung großer Ambitus Bewegung


steigernd gleichbleibend

Spannung Ausgeglichenheit
Spannung

Abbildung 6.7: Konstrukte der Melodien, in ähnliche Gruppen geordnet.

115
Ein Jahr später

Um den Analyseprozeß zu verfeinern, wurde dasselbe Grid ein Jahr später wiederholt,
damit festgestellt werden konnte, ob für mich in dieser Zwischenzeit, nach dem Hören
weiterer verschiedener Fallbeispiele, die Konstrukte stabil geblieben sind (s. Abb. 6.8,
6.9, 6.10 und 6.11). Da sich der anfängliche Fokus auf das Hören gegebener Melodien
begrenzte, wurde nun in Erwägung gezogen, auch die Konstrukte herauszulocken, die
sich auf eine bestimmte Anzahl von Patientinnen bezogen, die gerade zu dem Zeitpunkt
von mir musiktherapeutisch behandelt wurden (Abb. 6.12). Somit konnten verschiedene
Erfahrungsbereiche gegenübergestellt und miteinander verglichen werden: Der Bereich
des Hörens von Musik als Kunst (Melodien) und der des Hörens von Musik als
Therapie.

Bach
gleichbleibend Janacek
unbeteiligt
gleichförmig Ausgeglichenheit gehalten
Stufenbewegung harmonisch bedeutend
metrisch-harmonisch bestimmt überraschende Wendungen
Schostakowitch teilbar
stringent weich diezart
Tiefe
verankert innig nah
Geschlossenheit Die Nacht
distanziert Offenheit
grob schwebend
die Oberfläche energisch verspielt
unteilbar
Granados vom Melodiefluß bestimmt
Chopin
harmonisch subaltern antizipierbare Wendungen großer Ambitus
vorwärtsdrängend SpannungDvorak bewegt
erregt
steigernd

Verklärungsthema

Abbildung 6.8: Eine Hauptkomponentenanalyse der auf die Melodien bezogenen


Konstrukte, ein Jahr später.

116
2 6 8 7 4 1 5 3 100 90 80 70 60
antizipierbare Wendungen 4 13 1 4 2 8 12 11 5 4 überraschende Wendungen
harmonsich subaltern 3 11 1 4 3 8 10 12 6 3 harmonisch bedeutend
teilbar 16 1 2 7 13 10 9 11 4 16 unteilbar
Geschlossenheit 13 1 5 6 8 10 12 13 4 13 Offenheit
grob 11 1 8 8 6 12 13 12 9 11 zart
energisch 17 1 5 8 6 12 13 11 9 17 weich
die Oberfläche 12 1 4 7 8 12 13 11 11 12 die Tiefe
distanziert 7 1 3 7 5 12 13 11 6 7 innig nah
verankert 5 1 3 8 9 13 12 11 6 5 schwebend
metrisch-harmonisch bestimmt 1 1 4 9 10 13 12 7 5 1 vom Melodiefluß bestimmt
Stufenbewegung 6 1 2 11 9 13 10 6 3 6 großer Ambitus
gleichförmig 2 1 8 11 7 13 10 4 3 2 bewegt
stringent 9 1 2 8 4 13 9 7 3 9 verspielt
vorwärtsdrängend 10 1 2 2 4 11 7 13 12 10 gehalten
erregt 8 2 4 4 1 6 12 9 13 8 unbeteiligt
Spannung 14 3 8 9 1 6 6 10 13 14 Ausgeglichenheit
steigernd 15 7 5 6 1 3 3 12 13 15 gleichbleibend
2 6 8 7 4 1 5 3 100 90 80 70 60 50
3 Bach
5 Janácek
1 Die Nacht
4 Chopin
7 Verklärungsthema
8 Dvorak
6 Granados
2 Schostakowitch

Abbildung 6.9: Eine Fokusanalyse der auf die Melodien bezogenen Konstrukte, ein Jahr
später.
6 1 4 3 8 7 2 5 10 9 8 7 6 5
energisch 17 17 weich
distanziert 7 7 innig nah
grob 11 11 zart
unteilbar 16 16 teilbar
Stufenbewegung 6 6 großer Ambitus
stringent 9 9 verspielt
gehalten 10 10 vorwärtsdrängend
die Oberfläche 12 12 die Tiefe
bewegt 2 2 gleichförmig
Ausgeglichenheit 14 14 Spannung
von Melodiefluß bestimmt 1 1 metrisch-harmonisch bestimmt
antizipierbare Wendungen 4 4 überraschedne Wendungen
haarmonisch subaltern 3 3 harmonisch bedeutend
Geschlossenheit 13 13 Offenheit
verankert 5 5 schwebend
gleichbleibend 15 15 steigernd
unbeteiligt 8 8 erregt
6 1 4 3 8 7 2 5 10 9 8 7 6 5

5 Janácek
2 Schostakowitch
7 Verklärungsthema
8 Dvorak
3 Bach
4 Chopin
1 Die Nacht
6 Granados

Abbildung 6.10: Vergleich des Original Grid Konstrukts mit einem ein Jahr später
durchgeführten Grid Konstrukt unter Anwendung derselben Elemente.

117
Bach Janacek

Gleichbleibend Janacek
Schostakowitch Beruhigend

Unbeteiligt Verklärungsthema
Schost akowit ch Bach
Die Nacht
closed Die Nacht open

Granados Erregt Ch opin


Chopin
Dvorak

Granados Erregend
Verklärungsthema
Dvorak Steigernd

Abbildung 6.11: Kontraste in den Konstrukten der Elemente und in der Anordnung der
Elemente, ein Jahr später.
Nähe Distanz
Beziehung
flexibel im Spiel fest im Spiel zur Musik
starke Reaktion auf Harmonie schwache Reaktion auf Harmonie
in Melodie kommend melodisch unzugänglich musikalisch
elementar
Dynamik begrenzt Dynamik ausschöpfend
kooperativ renitent
Ausdrucksbereitschaft Zurückhaltung im Ausdruck musik-
sich öffnen sich schützen therapeutisch
spontan ins Spiel kommen überlegt ins Spiel kommen
bezogen zum Grundtempo vom Grundtempo getrennt
freie Spielbewegungen gehemmte Spielbewegungen
verborgen im Kontakt offen im Kontakt Beziehung
zur Therapeutin

Abbildung 6.12: Konstrukte, bezogen auf Therapie und ihre Anordnung in ähnliche
Gruppen.

Ergebnisse

In Abb. 6.5 können wir zwei Hauptachsen erkennen, die auf "innig nah - distanziert"
und "überraschende Wendungen - antizipierbare Wendungen" bezogen sind. Wenn wir
weiter auf Abb. 6.6 blicken ist erkennbar, daß diese beiden Hauptkonstrukte selber
zweier Clusterbezeichnungen angehören. "Innig nah" ist mit "zart, weich und Tiefe"
verbunden, das, wie in Abb. 6.7 sichtbar, von mir selbst mit "Gefühl" bezeichnet wurde.
Das Konstrukt "antizipierbare Wendungen" ist mit Harmonie, Rhythmus und
melodischem Fluß einer übergeordneten musikalisch elementaren Kategorie verbunden.
Diese Art von Kategorien sind konform mit einer musikologischen Analyse; "Gefühl"
wäre dann ein Äquivalent von Expressivität und "antizipierbare Wendungen" würde den

118
Aspekt der Originalität in der Inspirationsästhetik (Abraham & Dahlhaus, 1982)
reflektieren (vgl. Kapitel 1 ‘Die Melodie im Kontext der Musikbetrachtung’). Wenn wir
jedoch noch einmal den Blick auf Abb. 6.7 richten tauchen andere Eigenschaften auf, die
auf beide Kategorien “Gefühl" und "musikalisch elementar" bezogen sind. Dazu gehört
eine Kategorie, die viel dynamischer ist. Ich habe diese mit "musikalische Formung"
etikettiert. Die Konstrukte sind hier in der Tat doppeldeutig; "teilbar - unteilbar" tendiert
zu "Gefühl", wie auch das dazu bezogene Konstrukt "unbeteiligt - erregt", während
"verankert - schwebend" eine Verbindung zur Kategorie “musikalisch elementar” zeigt.
Die anderen dynamischen Kategorien "Orientierung", "Bewegung" und "Spannung"
beziehen sich auf vorherrschende musikologische Konzepte, die mit Melodie assoziiert
sind (Abraham & Dahlhaus, 1982).

Während verfeinerte Konstrukte eine Verbindung zur musikalischen Form haben, sind
diejenigen Konstrukte hervorzuheben, die sich auf die Expressivität beziehen, in diesem
Fall auf "Gefühl". Diese sind für meine Beziehung zur Melodie signifikant. Da sich
meine Dissertationsthese auf die Entwicklung von Melodie in der musiktherapeutischen
Praxis bezieht, kann es möglich sein, daß die Kategorie Gefühl, die besonders auf
“innig nah” und “distanziert” bezogen ist, eine wichtige Rolle im Prozeß meines
Assessments therapeutischer Vorgänge spielt.

Wenn auch das Rating der Konstrukte nach einem Jahr generell gleich geblieben ist,
haben sich einige erwähnenswerte Veränderungen ergeben. Die Kategorien
"musikalisch elementar" und "Gefühl" sind miteinander verschmolzen (s. Abb. 6.9).
Jetzt übernimmt "Offenheit - Geschlossenheit" die vorherige Position des
vereinheitlichenden Konzepts für die Gefühls-Konstrukte, die zuvor auf “innig nah”
bezogen waren. Ebenso übernimmt es die Position der musikalischen Konzepte, die
zuvor auf “verspielt” bezogen waren (s. Abb. 6.8). "Gleichbleibend - steigernd" und
"unbeteiligt - erregt" sind die Konstrukte, die die größten Unterschiede vorweisen (s.
Abb. 6.10). Tatsächlich ziehe ich es vor, die Bezeichnung der Konstrukte "unbeteiligt -
erregt" erneut zu wählen, anstatt die Bezeichnung "beruhigend - erregend"
heranzuziehen. Es ließe sich hier hypothetisieren, daß durch die verlängerte Periode
meiner Auseinandersetzung mit Melodie, während meines ersten Forschungsjahres die
Kategorien "Gefühl" und "musikalisch elementar" durch die Hervorhebung und
Betonung von "Intensität" und "Erregung" verbreitert wurden (s. Abb. 6.11).

Persönliche Meinung

Zunächst muß hier die Tatsache berücksichtigt werden, daß die spontane Auswahl von
acht Melodien abhängig war von den vorhandenen CDs, die mir zum Zeitpunkt der
Durchführung dieser Methode zur Verfügung standen. Insofern kann diese Auswahl

119
kein repräsentatives, beziehungsweise vollständiges Bild meiner eigenen
Bedeutungsinhalte über Melodien vermitteln. Es kann davon ausgegangen werden, daß
im Fall einer erneuten Auswahl von Melodien die Wahl auf andere Komponisten wie
Vivaldi, Mozart, Verdi, Bizet, Schubert oder Rodrigo fallen würde. Die Auswertung und
Reflexion über die acht Melodien berücksichtigt also den zeitlichen und
situationsbedingten Kontext.

Mit Blick auf die Ergebnisse der Analyse wird deutlich, daß in meiner Beziehung zur
Melodie die Expressivität eine große Rolle spielt. Expressivität ist für mich sehr eng mit
der Kategorie “Gefühl” verknüpft. Diese definiert sich genauer in ihrer Verbindung zu
den Konstrukten “innig nah”, “distanziert”, “zart”, “weich” und “tief”. Diese
Aspekte spielen nicht nur in meinem therapeutischen Assessment eine große Rolle,
sondern insbesondere auch in meiner Beziehung zu meinen eigenen Gefühlen. Es ist
offenbar geworden, daß diese eine starke Verbindung zum Melodischen aufweisen, dem
Aspekt in der Musik, der meinen eigenen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten am
meisten entgegenkommt. Es ist derjenige Aspekt der Musik, der mir sehr vertraut ist und
auf den ich mich gewissermaßen “verlassen kann”. Für mich bedeutet er das Erleben
von Intimität und von unmittelbarer Nähe. Mein eigenes Empfinden und Gespür, mein
eigenes Inneres kann ich mit der Melodie am besten zum Ausdruck bringen. Der
melodische Ausdruck hat etwas mit Annahme, im Sinne von sich selbst annehmen,
Wahrheit, Identität, Authentizität und Verbundenheit zu tun. Das Gefühl von
Authentizität und innerer Verbundenheit erlebe ich am stärksten im melodischen
Ausdruck. Für mich ermöglichen Melodien Einblicke in die persönlichsten Gefühle.

Die eigene Gefühlswelt sehe ich hier mit einem Teil des theoretischen Abschnitts dieser
Arbeit verknüpft. In Teil I, Kapitel 1, Abschnitt ‘Melodie im Kontext der
Musikbetrachtung’ und Kapitel 2, Abschnitt ‘Die Logik von Emotionen’ habe ich
Position zu Susanne Langers (Langer, 1953; Langer, 1992) Einblicken und
Ausführungen über die Beziehung zwischen menschlicher Bedeutungsfindung, Logik
und Emotionen bezogen. Ihre Äußerungen sind für mich sinnvoll, denn mein Bedürfnis
strebt dahin, die eigenen Gefühle in eine logische Form (melodische Form) zu bringen,
die für mich Bedeutung hat. Innerhalb dieser Form kann ich meine Gefühle tief in ihrer
vollen Realität erfahren.

Abgesehen von Bach stammen die meisten der von mir zu diesem Zeitpunkt
ausgesuchten Melodien aus dem 19./20. Jahrhundert. Tatsächlich zeige ich eine starke
Affinität zu Orchesterwerken dieses und des letzten Jahrhunderts. Welche Bedeutung
haben diese Melodien für mich?

120
Mit Blick auf die ausgewählten Beispiele wird deutlich, daß ihre melodische Substanz
auch sehr eng mit Expressivität verbunden ist. Wie wir in Teil I dieser Arbeit erfahren
haben, wird der melodische Gedanke im ästhetischen Denken dieser Zeit
(Romantik/Spätromantik) sowohl in der Instrumental - als auch in der Vokalmusik als
Ausdruck eines herausgehobenen Augenblicks verstanden. Für mich haben diese
Melodien ähnliche Bedeutung, allerdings mit einer stärkeren Verlagerung auf den
inneren Ausdruck. Auch wenn sie als Instrumentalmelodien erklingen heben, sie sich
durch den Ausdruck ihrer inneren Stimme hervor. Einer inneren Stimme, die ich in mir
selber wahrnehme und die mit mir zu tun hat. Als Beispiel kann ich den den zweiten
Satz des f - moll - Klavierkonzerts von Chopin anführen, bei dem das Thema von dem
Soloinstrument in lyrischer Weise “molto con delicatezza” wie ein “Gesang”
eingeführt wird. Nach dem einleitenden As - Dur Akkord tritt diese “Stimme”
individuell hervor. Ihre Melodielinie zeigt freie Umspielungen und auffallend große
Sprünge, die den Tonumfang als solchen großzügig und fast grenzenlos erscheinen
lassen. In ihm wird das Melodische in delikater Weise zum Ausdruck gebracht (s.
Konstrukte “zart”, “weich”, “spielerisch”). Auch “Die Nacht” von R. Strauss bringt
für mich etwas zum Ausdruck, was mit Schlichtheit, Tiefe, Weite, Einfachheit und
Natürlichkeit zusammenhängt. Beide Melodien “sprechen” meine innere Stimme an:
der große Tonumfang im Thema von Chopin, der frei und fast grenzenlos wirkt, bietet
mir Raum für die eigenen inneren Gefühle, die ich hier akzeptieren und annehmen kann.
Ich bin mir hier am nächsten. Diesem entspricht die horizontale Hauptachse mit den
Konstrukten “innig nah - distanziert” (s. Abb. 6.5).

Dieses Vertrautsein im Zustand der größten Nähe zum eigenen Selbst ist ein Aspekt, der
auch in meiner therapeutischen Improvisation mit Patienten eine große Rolle spielt. Er
bildet das Konstrukt “Nähe - Distanz” in der Beschreibung von sechs Patientinnen aus
meiner therapeutischen Praxis (s. Abb. 6.12). Erst durch das Bewußtwerden meiner
eigenen Erfahrungen der unterschiedlichen “Gefühlsprozesse, beziehungsweise
Gefühlsnuancen” und durch meinen eigenen reflektierenden Prozeß dieser
verschiedenen Erfahrungsebenen (auch mit Hilfe des Supervisors) wird es mir möglich
sein, Patienten in die melodische Erfahrung zu führen. Die eigene Bewußtheit über
innere Prozesse im Bereich des Melodischen sensibilisiert mich in meiner
Wahrnehmung und meinem Gespür für den Menschen, der von dem eigenen Gefühl der
Akzeptanz und Annahme im Moment des Erlebens überwältigt ist. Die bewußt
gewordene Erfahrung des Erlebens der eigenen inneren Stimme hilft mir, das
therapeutisch - melodische Spiel für Patienten so auszurichten, daß sie durch den Prozeß
der melodischen Improvisation eventuell in die Lage kommen, ihre eigene Stimme zu
finden.

121
Vielleicht könnte man an dieser Stelle einwenden, warum der Fokus nicht auf die
gesungene Melodie gelegt wird, die wir mit unserem ureigensten Instrument bilden
können und somit viel intimer, näher und authentischer sein kann als die
Instrumentalmelodie. Sicherlich wäre die gesungene Melodie für die therapeutische
Entwicklung des Patienten von unschätzbarem Wert. Aber nicht jeder Mensch hat
unmittelbaren Zugang zu seiner Singstimme und nicht jeder Mensch singt von sich aus
gern oder zieht seine eigene Stimme für spontanes Gestalten heran. Mit dem
Stimmklang sollte behutsam umgegangen werden, denn mit ihm dringen wir in die
Intimsphäre des Menschen ein. Am Timbre seiner Stimme erfahren wir etwas über seine
momentane Grundstimmung. Somit vermag die Sing -, aber auch Sprechstimme die
unmittelbaren Stimmungen und Emotionen auf empfindliche Weise offen und bloß zu
legen. Die Instrumentalmelodie bietet hier Möglichkeiten, die den Menschen in dieser
Hinsicht etwas mehr schützt. Wir können also festhalten, daß auch mit einem
melodischen Instrument die innere melodische Stimme tief erfahren und erlebt werden
kann, wie wir es später anhand der beiden Studien sehen werden.

Die andere vertikale Hauptachse von Abbildung 6.5 zeigt die Konstrukte “antizipierbare
Wendungen - überraschende Wendungen”, um die sich die Melodien von Dvorak,
Granados und Janacek räumlich organisieren. Diese melodischen Beispiele stehen für
mich stellvertretend für die Erfahrung von Sicherheit und Novität, aber auch für die
Erfahrung von ‘sich auf etwas verlassen können’ und ‘sich überraschen lassen
können’. Hier ist es besonders der harmonische und rhythmische Aspekt, der
Bedeutung erlangt und mit seiner antizipierbaren Komponente Sicherheit und Vertrauen
hervorrufen kann. Das Neue und Überraschende, nicht Vorhersehbare im melodischen
Verlauf zeigt mir neue Möglichkeiten, die auch in mir vorhanden sind, zu denen ich
Zugang finden kann, mit denen ich kreativ umgehen und gestalten kann. Indem ich
andere Möglichkeiten in mir selbst entdecke, die mir neue Perspektiven eröffnen, ist der
Blick nach vorn gerichtet. Für die therapeutische Arbeit mit Patienten ist dieses ein
wichtiger Faktor. Er bedeutet, daß wir (Patient und Therapeutin) mit der melodischen
Improvisation Wege beschreiten können, die es den Patienten ermöglicht, in sich neue,
individuelle Ausdrucksformen zu entdecken, die ihnen ein neues Bild von sich selbst
vermitteln. Ein Bild von sich, das in der Zukunft liegt und sich in der Zukunft als neue
Selbstfindung gestalten kann. Den Anstoß hierzu könnte die melodische Improvisation
geben.

Dieses würde auch bedeuten, daß Möglichkeiten gefunden werden könnten, mit seinen
Emotionen anders umzugehen. Der von mir hervorgehobene Faktor ‘Form’ bringt
Sicherheit und Vertrauen. Formen können wiederholt, das heißt sie können noch
“sicherer” gemacht werden. Ich selbst brauche für mich einen sicheren Gefühlsraum,

122
um mich ausdrücken zu können; ebenso benötigen Patienten einen Raum, in dem sie
sich sicher fühlen und ausdrücken können. Es ist meine Aufgabe als Therapeutin, ihnen
diesen Gefühlsraum zu etablieren, der ihnen Sicherheit und Vertrauen bringt. Innerhalb
dieses geschützten Gefühlsraums gibt es etwas, das sie neu erleben können, das sie neu
und spontan ergreifen können. Die Logik der Therapie und die Gefühle sind hier nicht
getrennt, sondern interagieren miteinander.

Für mich haben Melodien, wie bereits erwähnt, mit Wahrheit, Authentizität und sehr viel
mit “Selbst-Sein” zu tun. Insofern nehmen sie einen hohen Stellenwert in meiner
therapeutischen Arbeit ein. Mit Hilfe von Melodien besteht die Möglichkeit, emotionale
Zustände zu enthüllen, zum Vorschein zu bringen, zu erleichtern, zu vertiefen, zu
reflektieren und individuell zu formen. Im folgenden Abschnitt wird auf diesen Punkt
noch einmal eingegangen.

P ATIENTINNEN UND K ATEGORIEN

Wenn wir die Konstrukte betrachten, die sich auf die Beschreibung von sechs
Patientinnen meiner therapeutischen Praxis beziehen, zeigt sich ein anderes Set von
Konstrukten (s. Abb. 6.12). Die Hauptkategorie dieses von mir mit
"musiktherapeutisch" bezeichneten Sets handelt von technischen Faktoren, die mit dem
musikalischen Spiel verbunden sind. Allerdings könnte das Konstrukt "kooperativ sein"
und "sich öffnen" auch für die therapeutische Beziehung signifikant sein. Das alles
umfassende und miteinander verbindende Konstrukt ist dasjenige, das die Beziehung
zur Therapeutin kennzeichnet. Die Kategorie "Musik" ist der Kategorie ähnlich, die bei
der Auslegung der Melodien benutzt wurde.

"Beziehung zur Musik" ist eine Kategorie, die ein technisches Element enthält, das auf
Flexibilität im Spiel bezogen ist. Hier aber erscheint auch das Konstrukt "Nähe -
Distanz". "Innig nah - distanziert" und "sich öffnen - sich verschließen" erscheinen in
beiden Sets der Konstrukte. Obwohl beide Begriffsets in beiden Analysen von mir
unterschiedlich benutzt wurden, bin ich versucht anzunehmen, daß das melodische Spiel
auf mein therapeutisches Assessment bezogen ist, das heißt darauf, wie sich die
Patientinnen während ihres melodischen Spiels auf mich, auf die Therapeutin beziehen.
Dieses würde auch die im vorangegangenen Abschnitt geäußerten Gedanken und
Argumente über meine Beziehung zu Patienten unterstützen. Es wird deutlich, daß für
mich die Melodie einen Hauptfaktor in meiner Erfassung und Bemessung
therapeutischer Veränderungen bildet. Die Melodie ist für mich der musikalische
Aspekt, der die musikalischen Faktoren Rhythmus und Harmonie vereinigt und der als
Indikator für eine therapeutische Veränderung fungieren kann.

123
In der Gegenüberstellung der Konstrukt-Gruppierungen, die in Tabelle 6.2 sichtbar wird
ist erkennbar, daß einige Kategorien aufeinander bezogen sind.

Melodische Kategorien Therapeutische Kategorien

Orientierung Beziehung zur Musik

Musikalische Formung Musikalisch elementar

Gefühl Musiktherapeutisch

Musikalisch elementar Beziehung zur Therapeutin

Bewegung

Spannung

Tabelle 6.2: Die Gruppierungen der Kategorien, von 2 verschiedenen Bereichen der
musikalischen Erfahrung aus gesehen.

Schlußfolgerungen

Der Vorteil, auf diese Weise methodisch vorzugehen, liegt darin, daß ich in der Person
als Forscherin einen Blick davon bekommen kann, wie die Welt der Melodien durch
mich konstruiert wird. Diese während meines Forschungsprozesses generierten
Konstrukte und Kategorien dienen als Grundlage für meinen Austausch mit dem
Supervisor. Die Grid-Daten stellen für mich, wenn sie als Schwerpunktanalyse (Abb.
6.6), oder Hauptkomponentenanalyse (Abb. 6.5) präsentiert werden, Karten desselben
Bereichs dar, die für mich die entscheidenden Bedeutungsfaktoren von Melodie
enthalten. Die Konstrukte als solche sind jedoch nicht selber der Bereich, um den es
geht. Was wir hier vor uns haben,sind verbale Konstrukte, die im Raum eingezeichnet
sind und sich als Artefakts präsentieren, über die reflektiert und diskutiert werden kann.
Indem sie präsentierbar und bewußt gemacht worden sind, sind sie offen für
Diskussionsverhandlungen und damit offen für Validität. Es ist diese Pespektive von
Bewußtheit, die Giorgio für den Ausgangspunkt einer phänomenologischen Forschung
fordert (Giorgio, 1994). Mit dieser Methode ist sichtbar geworden, was meine
persönlichen Perspektiven und Voreingenommenheiten sind. Mit der Darstellung
meines Prozesses des Konstruierens und Zerlegens können beide, der Leser und ich
erkennen, was ich meine, wenn ich über Melodie spreche, beziehungsweise wie ich über
Melodie denke. Dieses bedeutet, interne Validität zu etablieren.

In dem vorausgegangenen Abschnitt über phänomenologische Elemente in der


Forschung (Kapitel 4) habe ich auf drei unterschiedliche Ebenen von Interpretation
aufmerksam gemacht. Während der musikalische Ausdruck auf der experimentalen
Ebene eins, als Enthüllung, Aufdeckung und Mitteilung erscheint, befindet sich das

124
Konstruieren und Zerlegen auf der zweiten, einer phänomenologisch reduzierten Ebene.
Die höhere Ebene der Interpretation, auf der Kodierung und Kategorisierung
durchgeführt werden, umfasst die Ebene drei. Das Umsetzen und Formulieren der
Konstrukte in Worte ist deskriptiv, bleibt jedoch nahe am musikalischen Phänomen, in
diesem Fall nahe an der Bedeutung von Melodie selbst. Mit der Anwendung dieser
Methode besteht für mich die Möglichkeit, mit Ideen und Bedeutungen so umzugehen,
als wären sie selber Objekte. Für mich hat die Einbeziehung dieser drei verschiedenen
Evaluationsebenen Relevanz, denn mit ihnen versuche ich innerhalb meiner
phänomenologisch orientierten, qualitativen Forschungsstudie die im Mittelpunkt
stehende erlebte Erfahrung zu beschreiben. Die Einbeziehung dieser drei Ebenen
vermittelt mir nicht nur eine Orientierung und ein Bewußtsein für die Stufe, auf der ich
gerade arbeite; sie hilft mir auch zu verstehen, wie sich die herausgebildeten Begriffe
und Kategorien zu den entdeckten Bedeutungsinhalten beziehen.

Mit dem "Personal Construct" Ansatz wurde eine allgemeine Methode vorgestellt, die
für verschiedene Zwecke spezifiziert werden kann. Sie ist eine flexible Methode, die
meinen Bedürfnissen entgegenkommt, indem sie eine Struktur anbietet, innerhalb derer
es möglich ist, zu arbeiten. In den Kapiteln 10 und 14 wird dieser Prozeß noch weiter
verfeinert und fließt in die eigene spezifische Methode mit ein.

Die "Personal Construct" Methode erweist sich für das Forschen innerhalb des
qualitativen Paradigmas als vorteilhaft, denn es hat sich gezeigt, daß es möglich ist, aus
den Forschungsdaten selbst Kategorien entsprechend meiner Perzeptionen zu
generieren und diese mit den schon bestehenden Kategorien zu vergleichen. Die
Wiederholung des Repertory Grid hat verdeutlicht, daß innerhalb eines größeren
Zeitabschnitts eine Übereinstimmung und Konsistenz in meinen Aussagen bestand,
daneben aber auch subtile Veränderungen zu beobachten waren. Wenn Realität
entsprechend unseres Wissens von Welt konstant überarbeitet und revidiert wird, dann
wird es relevant sein, die während des Zeitablaufs des Forschungsprozesses beliebig
erscheinenden Veränderungen festzuhalten (Seed, 1995).

Mit der Darstellung dieser auf mein Forschungsvorhaben angewandten Methode konnte
ein Bild über einen Abschnitt meines Forschungsprozesses vermittelt werden. Dieses
ermöglichte mir zugleich, aus der Distanz heraus einen Blick auf meinen eigenen
Forschungsprozeß zu werfen. Er hat die Form einer qualitativen Selbst-Erkundung, mit
der ich während der gesamten Forschungszeit mein Verständnis kontinuierlich
offenlegen und überprüfen konnte. Dieses hat mich dazu geführt, nicht nur nach der
Relevanz und Bedeutsamkeit von Melodie im therapeutischen Prozeß zu fragen, sondern
auch der Frage nachzugehen, warum Melodie für mich selber so wichtig ist. Diese Art
des subjektiven Forschens bedeutet, daß ich als Forscherin auf meine Glaubwürdigkeit

125
hin hinterfragt werde. Mit der Offenlegung der generierten Konstrukte und Kategorien
konnte ich die von mir benutzten Konzepte unter Beweis stellen. Wie bereits erwähnt,
wird im späteren vierten Teil dieser Arbeit diese Methode zum Zweck der Datenanalyse
noch einmal spezifiziert.

Z USAMMENFASSUNG

Der Weg, der in diesem Kapitel beschritten wurde, um die verschiedenen


methodologischen Verfahrensweisen, die alle dem Qualitativen Paradigma verpflichtet
sind, auf meine Situation hin zu beleuchten und zu reflektieren, deckte nicht nur die
Breite verschiedener Möglichkeiten der Orientierung und Positionsfindung im
musiktherapeutischen Forschungsfeld auf, sondern zeigte konkrete Beispiele eines
methodischen Operierens innerhalb einer qualitativen Sichtweise. Auf diesem Weg des
methodologischen Recherchierens habe ich mich stets von meiner Forschungsfrage
nach den Bedingungen der Entwicklung eines Melodiebildungsprozesses leiten lassen.
Diese Forschungsfrage bildet den Fokus dieser Studie. Für mich stellt dieser nicht nur
ein Motivationszentrum dar, sondern bildet gleichsam die Grundlage einer sich
entwickelnden Methode, die aus den Interaktionen zwischen den verschiedenen
methodologischen Perspektiven und meinem Forschungsphänomen hervorgeht. Der
Fokus dieser Studie ist also ein entscheidender Faktor, der sowohl den
Forschungsrahmen begrenzt als auch das Forschungsdesign strukturiert.

Authentizität manifestiert sich für mich in der Art und Weise, wie ich die Forschung
durchführe. Dazu gehören: der Fokus, die Art und Weise der Datensammlung und
Datenverarbeitung, die Entdeckungen, Teil - und Forschungsergebnisse und die
gewählte Form für die Kommunikation der Teil - und Forschungsergebnisse.
Authentisch zu sein bedeutet für mich, meinen eigenen Quellen zu trauen und das
anzunehmen, was durch Gedanken, Gefühle, Sinne und Intuition zu mir fließt.
Desweiteren verstehe ich meine Authentizität als ein eigenes, allmählich über die Zeit
entwickeltes System von Selbst-Werten (vgl. Kapitel 6, ‘Authentisch sein’).

Aus diesem wird deutlich, daß es notwendig ist, die eigenen persönlichen
Bedeutungsfaktoren offenzulegen, um Glaubwürdigkeit in die Forschungsstudie zu
etablieren. Der "Personal Construct" Ansatz hat sich hier als ein hilfreiches Instrument
erwiesen, das flexibel eingesetzt werden konnte, um die unbewußten Denkprozesse im
Bereich des Melodischen und Therapeutischen offenzulegen.

126
Im folgenden werden die für diese Studie ausgewählten entscheidenden
methodologischen Aspekte übersichtlich in Form einer Tabelle und einer Abbildung
aufgeführt.

Die Tabelle 6.3 zeigt die übergeordnete Struktur dieser Forschungsstudie. Sie stützt
sich auf die für die Forschung entscheidenden Komponenten, die der Definition von
Bruscia (vgl. Kapitel 4, Abschnitt ‘Forschen’) entnommen sind.

FORSCHUNGSRAHMEN
KOMPONENTEN NACH BRUSCIA FÜR DIE STUDIE GEWÄHLTE KOMPONENTEN
(BRUSCIA, 1995D, S. 21)
SYSTEMATISCHES VORGEHEN • Fokus: Melodische Entwicklung
• Grenzen setzen anhand der Elemente:
Klient, Therapeut, musikalische Erfahrung,
therapeutischer Prozeß (Ansatz nach
Nordoff/Robbins )
• Wahl der Methode innerhalb des Qualitativen
Paradigmas.
SELBSTÜBERPRÜFUNG • Verwendung von Tagebuchaufzeichnungen (die
Bedeutung des Forschungsprozesses).
• Anwendung der ‘Personal Construct’ Methode für
die Validierung von Subjektivität.
UNTERSUCHUNGSPROZEß • Der Forschungskreislauf der Naturalistic Inquiry.
• Die ‘Personal Construct’ Methode und die Repertory
Grid Methode.
• Datensammlung: Episoden.
• Entwicklung einer spezifischen Methode der
Datenanalyse: Vier- Spalten Analyse; Vier- Ebenen
Analyse.
BEITRAG LEISTEN ZUR THEORIE Entwicklung einer Form der Dokumentation aus der
UND PRAXIS Methodologie, als:
• graphische Darstellung des musikalischen
Entwicklungsprozesses,
• Dokumentation der Art und Weise, wie sich eine
Melodie aus musikalischen Elementen entwickelt,
• Veröffentlichung in der Fachliteratur innerhalb des
Bereichs der klinischen Praxis.

Tabelle 6.3: Der "Forschungsrahmen".

Die Abbildung 6.13 zeigt in übersichtlicher Form, wie ich meinen eigenen
Forschungsprozeß organisiere. Hierzu wird das von Lincoln und Guba entwickelte
Muster "The Flow of Naturalistic Inquiry" angewendet (vgl. Kapitel 5, Abschnitt
‘Naturalistic Inquiry’ und ‘Der Forschungskreislauf der Naturalistic Inquiry’) und auf
die Besonderheiten meiner Forschungssituation übertragen.

127
DER NATURALISTISCHE FORSCHUNGSKREISLAUF
Natürliches Setting:
Die aktuell durchgeführten
Musiktherapiesitzungen der Studien I
und II, innerhalb des stationären
Rahmens
fordert ▼
die Person der Therapeutin als
Forschungsinstrument
aufbauend auf ihrem ▼ benutzt ▼
Tazit Wissen, das mit Hilfe Qualitative Methoden:
der Personal Konstrukt heuristischer Weg von
Theorie von Kelly und der Selbsterkenntnisprozessen;
Repertory Grid Methode phänomenologischer Weg, der
aufgedeckt wird. die in den Forschungsprozeß
involvierten Phänomene als
Ausdruck der Erfahrung
einbezieht; Tagebuch-
aufzeichnungen;
Methoden der musikwissen-
schaftlichen Analyse
engagiert in ▼
Gezielte Datenerhebung:d i e
Zusammenstellung von Episoden
Das entstehende Design: Induktive Datenanalyse:
das sich prozeßhaft zu wiederholen bis Redundanz erreicht Musikalische Analyse nach der
entwickelnde Design der ist spezifischen Methode unter
Forschungsstudie, das sich auf Einbeziehung der analytischen
graphische und notationelle Situationen von Nattiez (Nattiez,
Darstellungen stützt und die 1990); hermeneutische Methode
sich inhaltlich entwickelnden der Evaluierung an Hand der drei
Forschungs-schwerpunkte Interpretationsebenen.
konsequent miteinander
verknüpft

Grounded Theory:
Generierung von Zwischen- und Teilergebnissen; Entwicklung
von Konstrukten und Kategorien aus dem Datenmaterial der
Episoden; Be-arbeitung der Fragen und Hypothesen.
involviert ▼
Ausgehandelte, abgestimmte Resultate:
Analyse- und Interpretationsergebnisse werden an Hand der
‘Personal Construct’ Theorie und mit dem Supervisor geprüft
leiten über zum ▼
Fallbericht:
die Form des Fallberichts für die Studien I und II wird in den
Gesamtentwurf der Forschungsarbeit integriert

beide werden ▼
Idiographisch interpretiert:
die persönliche Interpretationsweise ist ein Teilverständnis,
das die Bedeutung der melodischen Entwicklung nur in ihrem
Kontext zu vermitteln vermag.
und
vorsichtig übertragen:
die Übertragbarkeit kann in jedem anderen Fall neu überprüft
werden. Voraussetzung wäre ein ähnlicher, vergleichbarer
Kontext.

Abbildung 6.13: Die Organisation des Forschungsprozeßsses im Naturalistischen


Forschungskreislauf.

128
Die induktive Datenanalyse legt eine musikalische Analyse zugrunde die sich, wie wir
später sehen werden (s. Kapitel 8 ‘Der analytische Diskurs von Nattiez’), an den
analytischen Situationen von Natttiez orientiert. Das folgende Kapitel 7 reflektiert im
Hinblick auf den Fokus dieser Forschungsarbeit einige generelle Gesichtspunkte zu den
Verfahrensweisen der musikalischen Analyse.

129
Teil III
Kapitel 7
Verfahrensweisen der Musikalischen Analyse

O RIENTIERUNG UND F OKUS

Ein wichtiger Teilbereich dieser Forschungsarbeit bilden die Analyse und Interpretation
des Datenmaterials. Aus diesem Grund beschäftigt sich dieses Kapitel mit
Verfahrensweisen der musikalischen Analyse. Dabei wird von der allgemein bekannten
Tatsache ausgegangen, daß es keine Methode der musikalischen Analyse gibt, die für
sich den Anspruch erheben kann, vollständig zu sein, weder als feststehende, lehrbare
Methode, noch als ein Verfahren, das jedem Musikwerk gerecht werden könnte. Es ist
nicht das Ziel dieses Kapitels, das gesamte Feld der musikalischen Analyse zu
überschauen, damit ein möglichst vollständiges Bild von den zahlreich existierenden
musikanalytischen Verfahrensweisen erzielt werden kann. Vielmehr steht auch hier der
Fokus der Forschungsstudie, der die perspektivische Sichtweise der Forscherin im
Hinblick auf analytische Verfahrensweisen bestimmt, im Mittelpunkt der Betrachtung.
Anstatt sich auf unterschiedliche analytische Ansätze zu konzentrieren und ihre Vor -
und Nachteile zu prüfen, wird es hier vorgezogen, Elemente analytischer Prozesse
aufzudecken, die den technischen und ästhetischen Aspekt der Musik beschreiben. Der
Forscherin ist bewußt, daß sie mit ihrem Fokus ihre persönlichen Perspektiven zum
Ausdruck bringt. Diese persönliche, subjektive Tatsache war thematischer Gegenstand
des sechsten Kapitels, der dort von verschiedenen Seiten aus beleuchtet und diskutiert
wurde.

Um eine Orientierung zu finden, die gleichzeitig den äußeren Rahmen dieser Studie
fixiert, liegt der Schwerpunkt auf der Erkennung und Bestimmung von Funktionen,
Tendenzen und Richtungen der musikalischen Analyse, die anhand eines kurzen
historischen Rückblicks dargestellt werden. Die Problematik der musikalischen Analyse
sowie ihre Kriterien und Zielsetzungen werden anschließend reflektiert und für das
Anliegen der Forschungsstudie geprüft. Keineswegs ist beabsichtigt, eine erneute
Metatheorie der Analyse zur Darstellung und Diskussion zu bringen, sondern von
vornherein eine auf den Kontext dieser Forschungsstudie bezogene Auswahl eines
bestimmten spezifischen Weges in Angriff zu nehmen und diesen zu begründen.

Darüberhinaus wird dem Fokus der Studie entsprechend, ein analytischer Rahmen
entwickelt, der dem Kontext der Forschungsstudie entspricht und sich auf die drei
Interpretationsebenen (vgl. Kapitel 4, ‘Elemente phänomenologischer Forschung’)

130
beziehen läßt. Die eigene Auseinandersetzung mit dem musikalischen Textmaterial wird
als ein pragmatischer Untersuchungsprozeß verstanden, in dem es darum geht,
musikalisch genau zu sehen und eine angemessene Verfahrensweise der methodischen
Analyse zu finden. Der analytische Prozeß als solcher kann als eine lebendige, direkte
Kommunikation mit dem musikalischen Material der Daten (Improvisationsausschnitte)
betrachtet werden, in der die Musik noch einmal wiederbelebt und nachgeschaffen wird.

D ER A NALYSE -B EGRIFF IM K ONTEXT DER HISTORISCHEN


M USIKWISSENSCHAFT

Mit dem Thema "Analyse" werden methodologische Probleme der historischen


Musikwissenschaft berührt, die in zahlreichen metatheoretischen Untersuchungen
immer wieder neu reflektiert werden. Zur Orientierung und Verdeutlichung der aktuellen
Gesamtproblematik des Analyse-Begriffes wird in diesem Abschnitt die historische
Bedingtheit des Verständnisses von Analyse erläutert.

Die Historische Musik trat erst mit der Aufklärung ins eigentliche musikalische
Bewußtsein. Dem widersprach auch nicht der ständige Rückgriff auf Autoritäten wie die
Bibel, die Kirche oder ältere Theoretiker, in deren Händen ausschließlich Lehre und
Forschung lagen. Auch das Wahrnehmungsvermögen für das jeweils Neue, das seit
dem Mittelalter in jeder Generation prägnanten Ausdruck fand, indizierte noch kein
eigentlich historisches Bewußtsein, denn bis ins 18. Jahrhundert galt, daß Musik dem
Bedarf des Augenblicks zu dienen habe und Neues dazu da sei, Altes abzulösen
(Krummacher, 1978).

Erst mit der Aufklärung wurde eine Zäsur gesetzt, die auch die Musikgeschichte ins
musikalische Bewußtsein rückte. Ausschlaggebend hierfür war die Frage nach dem
Kunstcharakter von Musikwerken, das heißt nach den Merkmalen, die ein Kunstwerk
befähigen, über seine Bestimmung hinaus fortzuwirken (Krummacher, 1978). Kant wies
in seiner "Kritik der Urteilskraft" (1790) unter anderem auf die Schwierigkeit hin,
Aussagen und Urteile über das Schöne in der Natur und in der Kunst zu begründen.
Was er als Möglichkeit in Betracht zog, hat sich in der aktuellen Musik der Wiener
Klassik manifestiert: die Loslösung des Begriffes der Musik als Kunst von äußeren
Funktionen zum Zweck ihres Fortbestehens nach eigenen, ästhetischen Gesetzen (vgl.
hierzu Kapitel 7: Analyse als Rezension im Abschnitt ‘Tendenzen der Musikalischen
Analyse’). Voraussetzung hierfür war sowohl ein kritisches Denken über die Grenzen
menschlichen Erkenntnisvermögens als auch über die Grenzen der Geschichtlichkeit.
Das Problem, mit der ästhetischen Dimension die Dimension der Geschichte zu
vermitteln, war ein zentrales Thema der Ästhetik Hegels (vgl. Kapitel 1).

131
Die Erinnerung an eine ältere Musik wie z.B.Werke von Bach, Händel und Buxtehude,
wurde erst nach der Wiener Klassik, im Gefolge der Aufklärung mit dem Entstehen der
idealistischen Ästhetik möglich. Musik konnte nun als Kunst außerhalb ihres
historischen Kontextes erfahren werden. Das "Neue" war dabei ein Begriff des
Kunstwerkes, der bis 1950 als einzig denkbarer und damit außergeschichtlicher
Kuntbegriff schlechthin galt. Zu ihm gehörten Kategorien wie Einmaligkeit,
Unwiederholbarkeit, Originalität und Artifizialität, Zweckfreiheit und Ungebundenheit
(Krummacher, 1978). Die Entstehung des Begriffes des "autonomen" Kunstwerks als
eines zweckfreien, in sich selbst begründeten Kunstwerkes, das mehrmals rezipiert
werden kann, machte diese Entwicklung deutlich. Die autonome Musik war in ihrer
musikalischen Eigengesetzlichkeit nicht nur ein Ergebnis eines Entwicklungsprozesses
und eine geschichtliche Tatsache, sondern zeigte sich auch, wie zuvor dargelegt, als
ästhetische Idee.

Erst die Neue Musik hat durch ihre radikalen Eingriffe bewußt gemacht, wie die für
natürlich gehaltenen Normen wie funktionale Harmonik, quadratische Periodik,
Konsonanz und Dissonanz, Tonsystem und Instrumentalfarben, auf denen die Musik
seit der Klassik basierte, historisch bedingt waren und durch die Kunstwerke weiter
vermittelt wurden.

Einen weiteren Einfluß auf die Bedeutung der musikalischen Analyse übte die seit den
sechziger Jahren entwickelte Wissenschaft von der Musik aus, die bewußt nach dem
Vorbild der Linguistik konzipiert wurde: die Semiotik der Musik. Diese beanspruchte,
nicht nur neue Wege musikalischer Analyse gefunden zu haben, sondern beinhaltete
auch grundsätzliche Aussagen über Wesen und Funktion der Musik (Schneider, 1980).
Die semiotischen Musik/Sprachtheorien haben sich zunächst fast ausschließlich im
anglo-amerikanischen und französischsprachigen Raum entwickelt. Sie stützten sich auf
verschiedene Ansätze wie die von Morris, Mukarovsky, Eco, Molino und Jakobson
(Schneider, 1980). Bedeutende Autoren, die sich auf diesen Ansatz konzentrierten, sind
unter anderem der musikwissenschaftlich interessierte Linguist Ruwet, der Musikologe
Lidov und Nattiez.

Desgleichen hat sich innerhalb der Musikwissenschaft eine musikhistorisch abgeleitete


Sprachtheorie der Musik entwickelt, die sich auf die Analogie zwischen Musik und
Diskurs stützte. Einen gut fundierten und differenzierten Überblick der aktuellen
Theorien finden wir bei Stephen Davies (Davies, 1994). Sorgfältig vergleicht er relevante
Sprachtheorien der Musik, wobei er sich immer von seinem subjektiven Interesse nach
dem Ausdruckscharakter und dem Bedeutungsinhalt von Musik leiten läßt.

132
Der Sprachtheorie von Musik liegt eine generelle Auffassung zugrunde, die von der
Sprachfähigkeit der Musik ausgeht. In ihrem Forschungsfeld sucht sie nach den
Grundlagen, auf denen die Möglichkeit der Ausbildung einer "Tonsprache" zu beruhen
vermag. Somit hat sich auch innerhalb dieses Bereiches eine fast unübersehbare Anzahl
von musikalischen Sprachmetaphern gebildet, die von der musikhistorischen Forschung
aufgegriffen und problematisiert wurde. Eine unmittelbare Quelle für diese Entwicklung
der Sprachauffassung der Musik bildete die Musikauffassung des 18. und 19.
Jahrhunderts.

Im 18. Jahrhundert bildete sich der Begriff “Musik als Sprache” in Verbindung mit der
Eingliederung der Musik in das System der "schönen Künste", also mit der
Ästhetisierung der Musik, heraus. Somit ist jener Zeitpunkt als unmittelbare Quelle zu
nennen, von der aus sich die zeitgenössische Sprachauffassung der Musik abgehoben
hat. Eggebrecht (Eggebrecht, 1977) hält den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
entwickelten Musik-Sprachbegriff, der Musik als Gefühlssprache verabsolutierte, als
einen sehr begrenzten Ansatzpunkt, der zudem die Geschichtlichkeit der Musik
ignorierte. Auch Krummacher (Krummacher, 1978, S. 378) sieht in diesem Ansatz der
verabsolutierten Gefühlssprache der Musik, der noch teilweise in der zeitgenössischen
Literatur anzutreffen ist, eine Gefahr, denn "Gefühle sind nicht bloß wandelhaft,
sondern sie enthalten Erfahrungen, die auch historisch geprägt sind. Niemand ist
autonom genug, um ohne übernommene Urteile und Erfahrungen auszukommen. Ob
bewußt oder nicht: auch Gefühlsurteile sind von historischen Implikationen
durchsetzt". Für ihn ist es durchaus legitim, wenn der Zugang zur Musik von
emotionalen Erlebnissen ausgeht. Jedoch sind diese keine Grundlage für die Bildung
eines Werturteils über Musik. Vorbedingung für dieses ist die genaue Kenntnis des
Musikwerkes und die Analyse seiner theoretischen und historischen Prämissen,
andernfalls läuft man Gefahr, sich selbst einzugrenzen und seine Vorurteile zu
bewahren.

Eggebrecht (Eggebrecht, 1977, S. 10) sieht in dem Begriff "Tonsprache" eine andere
Möglichkeit der Bestimmung von Musik, die geschichtlich nicht begrenzt ist und
dennoch die Geschichtlichkeit zum Prinzip erhebt; denn für ihn kann von Tonsprache
nur dort die Rede sein, wo der Ton als "Sprachwert" zu geistiger Mitteilung befähigt ist.
Tonsprache wird hier im Sinne des "sich von innen heraus gestalteten Geistes"
verstanden, der sich die Wörter wie die Töne als Medium seiner selbst erschafft. In
seinem Buch "Musik verstehen" (Eggebrecht, 1995, S.129) führt er diese Gedanken
über das Sprechen und Verstehen von Musik noch konkreter aus. Das ästhetische
Verstehen ist als ästhetisches Erkennen auf das Benennen hin angelegt, denn es richtet
sich in seiner begrifflichen Reflexion dem sprachlichen Erfassen entgegen. Das

133
erkennende Verstehen greift also nach den Worten, um das ästhetische Verstehen zu
benennen. Beide Arten des Erkennens haben gleichermaßen Zugang zur Musik. Der
Unterschied besteht allein in der Begrifflosigkeit des ästhetischen Erkennens, solange es
sich in der Form des ästhetischen Verstehens bewegt und in der Begrifflichkeit des
erkennenden Verstehens. Die Grenze zwischen beiden Zugangsarten ist nur theoretisch,
denn es kann im Einzelfall nicht genau bestimmt werden, wo dieses benennende
Erfassen einsetzt und wie weit es bereits beim ästhetischen Verstehen mitspielt. Alles
ästhetische Verstehen, wie z.B. der Auf - und Abstieg einer Tonfolge oder das Lauter -
und Leiserwerden, das in seiner Form ganz im Begrifflosen verbleibt, beginnt schon
beim Kleinkind mit der Wiedererkennung einer Melodie und vermag sich im Rahmen
der ästhetischen Erfahrung bis hin zu den innersten Zellen einer Musik auszubilden.

Moraitis (Moraitis, 1994, S.294) hebt in seiner Hochschulschrift "Zur Theorie der
musikalischen Analyse" hervor, daß ein Musikverstehen im Sinne eines musikalischen
Vortrags oder einer Analyse in erster Linie ein Verstehen der spezifisch musikalischen
Zusammenhänge bedeutet, wobei ein derartiges Verstehen zunächst in einer durchaus
sprachunabhängigen Weise vonstatten gehen kann: spontan und intuitiv. Diese
nonverbale Art des Musikverstehens bedient sich, im Sinne des von Dahlhaus
entwickelten Begriffs der impliziten Theorie, dennoch verborgener Prämissen, die vom
Wissenschaftler aufgedeckt und beschrieben werden müssen. Es ist eine Tatsache, daß
jegliche Wissenschaft des Mediums der Sprache bedarf, und dies nicht nur für die
Kommunikation ihrer Resultate, sondern bereits für die Benennung der
Erkenntnisgegenstände, das heißt die Formulierung der Probleme, die Beschreibung von
Beobachtungen und die Feststellung von Hypothesen. Dabei ist die Unterschiedlichkeit
der Medien "Sprache" und "Musik" offenkundig: "die Sprache der musikalischen
Analyse stellt ein von der durch sie beschriebenen Musik verschiedenes Medium dar"
(Moraitis, 1994, S. 294). Diese Tatsache sollte allerdings nicht zu der Annahme
verleiten, daß sich die Musik aus diesem Grunde einem sprachlichen Zugang a priori
entziehe. Wollte man derart enge Maßstäbe anlegen, wäre die wissenschaftliche
Erforschung nahezu jeden Gegenstandes von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Für Moraitis sind die beiden, zuvor bei Eggebrecht zitierten Zugangsarten: das
nonverbale und das begriffliche Musikverstehen schwer voneinander zu trennen, da
offensichtlich zwischen beiden Interdependenzen bestehen. Zur Verdeutlichung dieses
Sachverhalts zitiert er Dahlhaus, der diese Tatsache mit den folgenden Worten
formuliert (Moraitis, 1994, S.295):

"Das Verstehen von Musik erscheint demnach als Aneignung einer sowohl
musikalischen als auch musikalisch-sprachlichen (oder musikalisch-literarischen)

134
Tradition: einer Überlieferung, in der die ‘Interpretation ‘ als »Musik machen« und
die ‘Interpretation’ als »Musik auslegen« ineinanderfließen."

In ähnlicher Weise macht Adorno auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Musik
und Sprache (Literatur) aufmerksam: “Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen;
Musik interpretieren: Musik machen” (Gier, 1997, S. 9). Daraus resultiert unter
anderem die Aussichtslosigkeit aller Versuche, Musik mittels (wissenschaftlischer)
Sprache zu analysieren.

Wir können ermessen, wie komplex der hier nur kurz umrissene Kontext der
musikalischen Analyse im Bereich der historischen Musikwissenschaft ist. Im
folgenden soll nun konkreter nach der Bedeutung von Analyse ausgeschaut werden.
Wie ist der Analyse-Begriff in seiner musikalischen Wortbedeutung zu verstehen?

Was heißt "Analyse" ?

Der Terminus Analyse hat eine griechische Wurzel: "analysis" und bedeutet
"Auflösung". Ein Sachverhalt wird unter Berücksichtigung seiner Teilaspekte
zergliedert, zerlegt und untersucht (Brockhaus, 1984). Bei der musikalischen Analyse
wird eine Komposition in ihre Bestandteile zerlegt und auf ihre Voraussetzungen hin
untersucht. Dieses Moment der Auflösung eines Gegebenen in seine Bestandteile kann
ein gewisses Unbehagen erzeugen, das sich in der Befürchtung äußert, mit der
Zergliederung in Teile einen Verlust der Ganzheit in Kauf nehmen zu müssen. Im
Zusammenhang mit dem allgemeinen Auftrag der musikalischen Analyse hat bereits zu
Anfang dieses Jahrhunderts der Musiktheoretiker August Halm (Budde, 1977, S. 75)
auf dieses Verhältnis von Ganzheit und Einzelbestandteil hingewiesen:

"Die gute Analyse aber will uns ja gerade auf die Zusammenhänge führen, und die
Allermeisten haben das groß nötig, denn fast alle hören viel zu sehr nur das einzelne;
ja man kann ruhig behaupten: der normale Zuhörer löst durch sein Hören das Ganze
beständig auf in einzelne Eindrücke. Dem gerade, diesem eigentlich zerstörenden,
unfreiwilligen Analysieren will die sogenannte musikalische Analyse abhelfen; sie will
unser Hören stärken und weiten, will uns dazu erziehen, daß wir unsere Sinne
schärfen, indem wir immer mehr von ihnen verlangen."

Auf die Erfassung von Einzelheiten kann in einer Analyse kaum verzichtet werden.
Jedoch genügt es nicht zu erkennen, was im einzelnen vorgeht. Wichtiger ist, die
Funktion der Einzelheiten im Zusammenhang zu erkennen und ihre musikalischen
Vorgänge im Gesamtwerk zu erfassen. Die Gefahr des Trennens und Gliederns liegt auf
der Hand. De la Motte (de la Motte, 1968) macht auf diesen Punkt aufmerksam, indem
er zum Vergleich den lebenden und toten Körper heranzieht. Ein toter Körper läßt sich

135
sezieren, in ihm gibt es wirklich "Teile". Eine Komposition sollte jedoch als lebendiger
Organismus behandelt werden, indem zwar die einzelnen Organe, also die einzelnen
Bestandteile dargestellt werden können, sie aber im Zusammenwirken mit den übrigen
Bestandteilen (Organen) ergründet werden müssen. Dabei können nicht die Bestandteile
getrennt werden, die im Klangbild lebendig zusammengehören.

Unter der musikalischen Analyse ist also generell das Zurückführen von Werken auf
ihre Bestandteile, formalen Elemente und Prinzipien zu verstehen, die zum Erkennen und
Verstehen musikalischer Zusammenhänge führen und das Werk zugleich als ein Ganzes
erscheinen lassen. Zu ihrer Aufgabe gehört es, die Zusammenhänge einer Komposition
zu erklären und damit ihren Sinn zu erschließen (Dahlhaus & Eggebrecht, 1979).

Dieser allgemeine Auftrag wird von de la Motte (de la Motte, 1968, S. 9) noch präzisiert,
indem er von der musikalischen Analyse als einer dreifachen Aufgabe spricht:
1."Erkennen der Details 2. Erkennen der Zusammenhänge, also Funktion der Details
im Ganzen der Komposition 3. Aufbau und sprachliche Darstellung der Analyse."
Diese dritte Aufgabe bezieht die technische Komponente der Analyse mit ein, die für de
la Motte ebenso zum analytischen Ergebnis gehört wie die Komposition und
Kompositionstechnik. Damit verweist er gleichzeitig auf das Problem der Interpretation,
auf das er jedoch in diesem Zusammenhang nicht näher eingeht.

Der Prozeß der musikalischen Analyse ist in dieser Forschungsarbeit Teil des gesamten
Interpretationsprozesses, denn, wie bereits dargelegt, ist alles Interpretation, was von der
Sprache und in diesem Fall der analytischen Technik, die das analytisch Ergründete in
Worte bringt, abhängt. Die musikalische Analyse findet in dieser Studie
schwerpunktmäßig auf der zweiten Interpretationsebene statt. In diesem Zusammenhang
ist zu betonen, daß eine Deutung, bzw. Interpretation einer künstlerischen Ausübung nie
das Kunstwerk, das im Moment existiert (Ebene eins) und erlebt wird, erreichen kann -
sonst wäre sie selbst Kunstwerk. Während des analytischen Vorgangs ist es wichtig
sich zu vergegenwärtigen, auf welcher Ebene die Analyse vorgenommen wird (Aldridge,
1996c).

H ISTORISCHE P ERSPEKTIVE

Als historische Erscheinung ist die eigentliche musikalische Analyse verhältnismäßig


jung. Sie erwuchs im 19. Jh. ganz allmählich aus den Bedürfnissen der
musikgeschichtlichen Schreibung einerseits und der Kritik und Unterrichtung des
Publikums bis zur Unterweisung der Musikstudierenden andererseits (Blume, 1989a).
Zwar fand bereits von der Antike bis zur Renaissance und ebenso im Klassischen China
und Indien eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Musik statt. Diese erfolgte

136
jedoch von einer theoretischen Perspektive aus, die sich der geltenden Musikauffassung
unterordnete, die die Musik als Teil der kosmischen Ordnung (mathematische
Musikauffassung des Aristoteles und Pythagoras) und als ein Instrument der
moralischen Erziehung (Platon) verstand (Cook, 1995).

T ENDENZEN DER M USIKALISCHEN A NALYSE

In der Zeit vor dem 19.Jh. bildeten sich verschiedene Tendenzen der musikalischen
Analyse aus (Budde, 1977), die im Gegensatz zu der eigentlichen Ausbreitung im 19.
Jh. unterschiedliche Schwerpunkte bildeten. Die wichtigsten Tendenzen werden hier
kurz dargestellt:

• Analyse als Exemplifizierung musikalischer Sachverhalte (ausgehendes 16. und


beginnendes 17. Jh.), z.B. der Figurenlehre. Kompositorische Detailmomente
wurden an einer zeitgenössischen Komposition exemplifiziert. Zugleich galt die
analysierte Komposition als eine Art Muster und Vorbild, das nachgeahmt werden
konnte, beziehungsweise dem kompositorisch zu folgen war.

• Analyse als Beurteilung von Kompositionen, die mit dem Aufkommen einer
publizistisch orientierten Musikliteratur im 18. Jh. einhergingen. Diese Analysen
verfolgten den Zweck, die Qualität oder auch das Fehlerhafte einer Komposition zu
beweisen, das heißt eine Komposition nach objektiven Gesetzen zu beurteilen.

• Analyse als Gegenstand der Kompositionslehre, die seit dem ausgehenden 18.
Jahrhundert versuchte, den angehenden Komponisten in das Normgefüge der
klassisch-tonalen Musiksprache, die erlernt werden mußte, einzuführen. Analyse
wurde somit zu einem Teilgebiet der kompositorischen Handwerkslehre.

• Analyse als Rezension fand seit dem ausgehenden 18. Jh. in zunehmendem Maße
Eingang in Musikzeitschriften, in Form von Kritiken und Besprechungen. Aufgrund
analytischer, bzw. quasi-analytischer Untersuchungen wurde versucht, objektive
Urteilskriterien zu finden, die es dem Hörer und ausübenden Dilettanten
ermöglichen sollten, eine Komposition richtig einzuschätzen. Insofern konnte vor
dem Hintergrund analytisch gewonnener Maßstäbe ein Musikstück zum
Gegenstand ästhetischer Reflexion werden. Als Musterbeispiel einer solchen Kritik,
die ästhetisches Urteil und analytische Beweisführung miteinander verband, galt
E.T.A. Hoffmanns Rezension der Fünften Symphonie von L.van Beethoven, die
1810 in der “Allgemeinen Musikalischen Zeitung” erschien und Robert
Schumanns 1835 in der “Neuen Zeitschrift für Musik” veröffentlichte Rezension
der "Symphonie Fantastique" von Hector Berlioz.

137
D IE A USBREITUNG DER A NALYSE IM 19. JAHRHUNDERT

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts breitete sich die musikalische Analyse von
Kompositionen stetig aus und erhielt damit ein immer größeres Gewicht. Dabei
zeichneten sich unterschiedliche Richtungen ab (Budde, 1979):

• Die Analyse innerhalb der Kompositionslehre, das heißt Analyse als Teilgebiet der
Ausbildung von Komponisten, wie sie sich seit der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts entwickelt hat.

• Die Analyse als eine auf Urteile zielende Einführung in Musikwerke für Hörer und
Musiker, das heißt für Rezipienten und Interpreten. Hierzu zählte das erste
selbständige, bedeutende Werk von H. Kretschmar (1886), "Führer durch den
Konzertsaal", eine Sammlung knapper Analysen von Kammermusikwerken bis zur
Symphonie.

• Die Form der Analyse, die mit unterschiedlichen Musiktheorien einherging, um


diese zu stützen und zu verifizieren. Sie diente primär dazu, Gesetzmäßigkeiten aus
gegebener Musik zu deduzieren, um ein musiktheoretisches System zu stützen.
Andererseits wurde Analyse auch in entgegengesetzter Richtung betrieben, indem
Kompositionen nach jenen Gesetzmäßigkeiten, die innerhalb einer Theorie zu einem
geschlossenen System entfaltet waren, analysiert wurden.

Diese zuletzt genannte Richtung ist am Beispiel der Harmonik zu beobachten. In diesem
Bereich haben sich musiktheoretische Systeme am meisten ausgebreitet, was zur Folge
hatte, daß harmonische Analysen nicht nur im 19. Jahrhundert sondern auch heute noch
durchweg nach musiktheoretischen Systemen verlaufen. Als Beispiele anderer
Gesetzmäßigkeiten sind die Riemannschen Theorien nicht nur der Harmonik, sondern
auch die der Rhythmik und Metrik zu nennen. Seine zwischen 1917 und 1919
erschienenen Analysen der Klaviersonaten von Beethoven dienten zur Erhärtung dieser
Theorien. Zu jener Zeit war es üblich, auch andere Kompositionen nach seinen Theorien
zu analysieren.

D IE A USBREITUNG DER A NALYSE IM 20. JAHRHUNDERT

Der seit dem beginnenden 19. Jahrhundert zu beobachtende Individuationsprozeß in der


Musik hat nicht nur erneut das Analysieren von Musik ausgelöst, sondern umgekehrt ist
auch der Individuationsprozeß selbst auf Analyse angewiesen (Budde, 1977). Diese
Tendenz zeigt sich vor allem in der Musik des 20. Jahrhunderts. Die beachtliche
Ausbreitung von Analysen im 20. Jh. ist ein Indiz dafür, daß viele Kompositionen nicht
mehr unmittelbar verstanden wurden.

138
Das primäre und wichtigste Anliegen von Analysen (s. Abschnitt 2,’Was heißt
Analyse’), nämlich die Erklärung von Musikwerken, galt für alle Kompositionen,
sowohl für die frühen des 16. Jahrhunderts als auch für die des 20. Jahrhunderts. Dabei
spielte es keine Rolle, welche Tendenzen sie ausbildeten. In dem Maße, wie die Musik
einen gewissen theoretischen Aspekt nach außen kehrte, wie z.B. die Zwölftontechnik,
serielle Technik, Aleatorik, Klangflächenmusik, Minimal Music oder Neue Einfachheit,
bemächtigte sich die Analyse der Kompositionen.

Der erwähnte zunehmende Individuationsprozeß im 20. Jahrhundert, der von dem


Verlangen geprägt war, eine individuell unverwechselbare Gestalt zu finden, hatte zur
Folge, daß man sich den Normen der musikalischen Wirklichkeit entzog (Budde, 1977).
Die Neue Musik verstand sich nicht mehr vor dem Hintergrund der klassisch-tonalen
Musik, die ihr allgemeines Verständnis in dem komplexen syntaktisch-
grammatikalischen Gefüge hatte. Die Differenz zwischen dieser allgemeinen Norm und
dem Besonderen der Individualisierung wurde immer größer. Die Utopie dieser neuen
und neuesten Musikrichtung war, daß die Musik aus der Unmittelbarkeit des
Besonderen und Individuellen der Musikwerke begriffen werden sollte. Mit Hilfe der
Analyse sollte die Sinnhaftigkeit dieser Werke auch "objektiv" unter Beweis gestellt
werden.

Somit wurde seit Arnold Schönberg die Analyse zum eigentlichen Zentrum eines
fortschrittlichen Kompositionsunterrichts (Beck, 1974; Budde, 1979). Die skizzierte
Tendenz konnte sich auch in seiner Kompositionslehre abzeichnen. Schwerpunkt dieser
Lehre bildete die Analyse der Kompositionen der Klassik und des 19. Jahrhunderts, um
dem Schüler eine genaue Kenntnis des normativen Hintergrunds der traditionellen
Musik zu vermitteln. Aufgrund dieser Kenntnisse sollte der Schüler in die Lage versetzt
werden, die verschiedenen Stufen der Entwicklung, die zur Neuen Musik führten, in
ihrer geschichtlichen Logik zu begreifen.

Neben Schönberg gab es weitere, zahlreiche Arbeiten, die Schwerpunkte in dieser


Entwicklung bildeten. Dazu gehören die Untersuchungsmethoden von Schenker, die
eine Möglichkeit der hierarchischen Zuordnung von kleineren Einheiten zu größeren
Formen aufzeigen. Am Beispiel eines Sonatensatzes zeigte er, wie sich das melodisch-
thematische und harmonische Material auf einfache Tonfolgen zurückführen läßt und
verwies damit auf die Einheitlichkeit im Aufbau eines Sonatensatzes. Durch die
Zusammenfassung seiner Ergebnisse in übersichtliche graphische Darstellungen konnte
er die dynamisch-musikalische Entstehung eines Sonatensatzes verdeutlichen (Blume,
1989a, S. 452; Davies, 1994).

139
Zu erwähnen sind auch die Hermeneutiker H. Kretzschmar und A. Schering. Mit seiner
von einer ästhetischen Grundanschauung aus entwickelten musikalischen Hermeneutik
versuchte H. Kretzschmar (Blume, 1989a, S. 451) die Affektenlehre wiederzubeleben.
A. Schering, ein späterer Repräsentant dieser Interpretationsmethode, äußerte sich in den
dreißiger Jahren über die Dimensionen von "Sinndeutung" und führte den
Symbolbegriff ein.

Der Musiktheoretiker E. Kurth (Abraham & Dahlhaus, 1982, S. 31; Moraitis, 1994, S.
226) galt als Vertreter der sogenannten Energetik. Auf den Fundamenten der
Stilpsychologie aufbauend schrieb er sein bekanntes Werk "Grundlagen des linearen
Kontrapunkts", mit dem er versuchte, einen Einblick in ein tieferes Verständnis
kompositorischer Gestaltungsprinzipien zu geben. Nach seiner Theorie sind melodische,
harmonische und rhythmische Elemente Energieträger, die den Fortgang der Musik
bestimmen und die inneren kohärenten Einheiten definieren. Die philosophische
Grundlage seiner Gedankengänge baut auf Schopenhauers Auffassung von Musik als
selbstbestehendes Abbild des weltschöpferischen und kulturschöpferischen Willens auf.
Eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse und Denkweisen finden wir in seinem
Werk ‘Musikpsychologie’ (Kurth, 1947). Rothfarb (Rothfarb, 1991) mißt diesem
Werk eine signifikante Rolle bei, da es zwischen einer rein akustisch bezogenen
Tonpsychologie und einer Musikpsychologie unterscheidet, die den erlernten und
angenommenen kulturellen Einfluß hervorhebt.

In diesem Zusammenhang sind ebenso die bereits in Teil I zitierten Musikologen Meyer
und Zuckerkandl zu erwähnen. Nach Meyer ist Musik ein dynamischer Prozeß:
”...music is a dynamic process. Understanding and enjoyment depend upon the
perception of and response to attributes such as tension and repose, instability and
stability, and ambiguity and clarity” (Meyer, 1967, S. 43). In ähnlicher Weise äußert
sich Zuckerkandl über die dynamischen Qualitäten von Tönen (Zuckerkandl, 1956).

H. Mersmann entwickelte seine theoretisch ästhetischen Schriften zu Fragen der


Musiklehre und musikalischen Analyse auch von einer phänomenologischen
Perspektive aus (vgl. Mersmann, H., ‘Versuch einer Phänomenologie der Musik’,
Darmstadt 1973). Darüberhinaus war er immer bemüht, jede Einzelbetrachtung aus dem
Gesamtwerk abzuleiten und das Kunstwerk nie isoliert, sondern stets in seiner
kulturgeschichtlichen Bindung zu betrachten (Blume, 1989a, S. 136).

Der zuvor erwähnte Individuationsprozeß in der Musik, der eine beachtliche


Ausbreitung von Analysen hervorrief, verstärkte sich in der Entwicklung der Neuen
Musik nach 1950. Werke waren nicht mehr unmittelbar aus sich selbst heraus
verständlich und waren auf Erläuterungen, beziehungsweise Analysen angewiesen.

140
Analytische Untersuchungen legten nicht nur die materiellen Bedingungen vieler
Kompositionswerke bloß, sondern stellten aufgrund ihrer Resultate die
Voraussetzungen bereit, neue Kompositionen zu produzieren (Budde, 1979). Diese
entwickelten sich während und nach den sechziger Jahren innerhalb einer pluralistisch-
individuellen und auf das kompositorisch immer "Neue" gerichteten Sichtweise des 20.
Jahrhunderts.

Z UR S ITUATION UND P ROBLEMATIK DER MUSIKALISCHEN A NALYSE

Aus der historischen Betrachtungsweise ist deutlich geworden, daß die musikalische
Analyse seit rund zwanzig Jahren in das Zentrum musiktheoretischer Unterweisung
gerückt ist und sich zu einem Hauptgebiet innerhalb der historischen
Musikwissenschaft entwickelt hat. Wie sehr sie gefragt ist, zeigt die große Anzahl an
einschlägigen Publikationen und die Entwicklung einer zunehmenden
Professionalisierung und Differenzierung (Cook, 1995). Damit ist jedoch zugleich die
Analyse zu einem fast unübersehbaren Problem geworden.

Die sich seit den sechziger Jahren häufenden analytischen Untersuchungen von
Kompositionen zeigen in ihrer gegenseitigen Abgrenzung und Schwerpunktbildung so
große Vielfalt, daß es kaum möglich ist, einen gemeinsamen roten Faden zu entdecken
(Budde, 1979). Andererseits ist feststellbar, daß trotz unterschiedlicher Ausformungen
ähnliche Grundfragen an die zu analysierenden Werke gestellt werden (Cook, 1995).
Diese betreffen

• 1. die Teilungsproblematik einer Komposition in mehr oder weniger voneinander


unabhängige Sektionen, Abschnitte oder Motive,

• 2. die verschiedenen Bezüge der einzelnen Abschnitte und musikalischen


Komponenten zu - , bzw. untereinander, und

• 3. den Einfluß des Kontextes auf die einzelnen Komponenten und Teilabschnitte.

Aus diesem zunehmenden Differenzierungsprozeß heraus haben sich, ausgehend von


den gemeinsamen Grundfragen, verschiedene analytische Richtungen herausgebildet, die
ihren Ausgangspunkt aus zwei Hauptrichtungen genommen haben. Die beiden
Hauptrichtungen formierten sich aus der Art und Weise, wie an eine Analyse
herangegangen wurde: die eine konzentrierte sich auf die übergeordnete Form, die
andere auf rhythmische, harmonische und melodische Inhalte (Cook, 1995). Je
nachdem, ob das Besondere einer Komposition im Detail oder der großformalen Anlage
gesehen wurde, also in Abhängigkeit von der jeweiligen perspektivischen Sichtweise,
wurden unterschiedliche Schritte gewählt. Somit lassen sich folgende Formen aufzählen
(de la Motte, 1968; Kühn, 1993): Formanalyse (Aufbau, Gruppierung, Zyklus,
Zusammenhang, Bindung-Freiheit), Detailanalyse (im Mittelpunkt stehen

141
kompositorische Details verschiedenster Art wie Motiv, Bewegung, Akkordaufbau,
Ambitus oder Struktur), Takt-für-Takt-Analyse oder Al-fresco-Analyse, System-Analyse
(Systematische Untersuchung des Notentextes unter einem einzigen analytischen
Gesichtspunkt), Kategorien-Analyse (z.B. Sonatensatzform, Taktgruppen-Gliederung,
Motivbau oder Wiederholung-Neuerfindung), Funktionsanalyse,Wort-Ton-
Analyse,Vergleichende Analyse (zur Darstellung der Spannweite eines Formtypus und
Verdeutlichung ungewöhnlicher kompositorischer Lösungen im Vergleich mit typischen
Beispielen), Spezialanalyse (Beschränkung auf ein bestimmtes Formproblem, z.B. die
Funktion von Zäsuren und Generalpausen, Bedeutung der Enharmonik, Auswirkungen
eines Zentralmotivs oder die Untersuchung der Satzdichte als Ordnungsfaktor),
Tendenzanalyse (ähnlich der Spezialanalyse, doch Absicht und Resultat der Analyse
offenbaren sich erst am Ende, nach der Entwicklung der Argumente, als entscheidendes
Schlußargument),Voraussetzungslose Analyse (aus der Unzulänglichkeit der
Terminologie für die Untersuchung kontemporärer Musik entstanden).

Diese Entwicklung eines zunehmenden Differenzierungsprozesses hat dazu geführt, daß


die Analyse nicht mehr nur dem Theorieunterricht, der Gehörbildung oder der
Musikgeschichte und Formenlehre zugeordnet wurde, sondern daß sie sich als eigenes,
selbständiges Fach mit bestimmter curricularer Position innerhalb der musikalischen
Ausbildung etablierte (Möllers, 1979).

Die zahlreichen Publikationen über musikalische Analyse, von denen hier nur einige
genannt werden wie Zimmerschied (Zimmerschied, 1974), Kelterborn (Kelterborn,
1981), Kühn (Kühn, 1992), Eggebrecht (Eggebrecht, 1977; Eggebrecht, 1995), Cook
(Cook, 1995) und Nattiez (Nattiez, 1990) konzentrierten sich nicht nur auf Beispiele
durchgeführter Analysen, sondern wendeten sich vielmehr verstärkt der Reflexion über
die Bedingungen und Möglichkeiten der Analyse zu, das heißt es drängte sich immer
mehr eine "Meta-Analyse" in die eigentliche Werkanalyse mit ein. Diese Entwicklung
ist sicherlich eine notwendige Reaktion auf die unübersichtlich gewordene Vielfalt
analytischer Ansätze, die die Frage nach dem Sinn dieser Analysen aufwarfen und Kritik
übten an ihrer zunehmenden Begrifflichkeit und verwirrenden, nicht einheitlich
gewählten terminologischen Vielfalt. Nattiez (Nattiez, 1990, S. 156) zeigt am Beispiel
der melodischen Analyse die Breite der existierenden terminologischen Unklarheiten
auf. Auch Pierre Boulez (Budde, 1979, S. 155) äußert sich entschieden zu diesem
Problem, indem er Analysen gleichsetzt mit "fiktiven Kursbüchern, deren Züge nie
abfahren werden".

Neben diesen beanstandeten terminologischen Unklarheiten sind andere kritische


Stimmen darauf gerichtet, daß sich die Mehrzahl der Analysen auf den "materialen"
Bereich einer Komposition konzentrieren, das heißt nur die Materialkonstellationen

142
einer Komposition herausarbeiten und den ästhetischen Sinn der Komposition
vernachlässigen (Budde, 1979). Ähnlich äußert sich Cook (Cook, 1995) über den
Unsinn von Analysen, die am klanglichen Erlebnis vorbei Aussagen über das Werk
machen. Nach seiner Überzeugung würden Analysen ihren allgemeinen Auftrag
verfehlen, wenn sie, wie die Entwicklung im 20. Jahrhundert gezeigt hat, zu einer quasi
wissenschaftlichen Disziplin würden, die ihr eigenes Existenzrecht beansprucht und sich
im wesentlichen unabhängig zeigt von den praktischen Überlegungen der musikalischen
Aufführungspraxis und der Art des Effekts auf den Hörer.

Die Musik, wie sie für den Rezipienten in Erscheinung tritt und wie sie dem jeweiligen
Analytiker erscheint, bedeutet nicht notwendigerweise dasselbe. Die Beziehung
zwischen beiden ist eines der größten Probleme von Analyse überhaupt.

Z USAMMENFASSENDE G EDANKEN DER HISTORISCHEN


B ETRACHTUNGSWEISE

Die Analyse von Kompositionen war nicht selbstverständlich; sie begegnete in der
Geschichte der Musik erst seit dem frühen 17. Jahrhundert.

• In der Barockzeit diente sie zur Exemplifizierung der Figurenlehre. Die analysierten
Kompositionen galten zugleich als nachzuahmende Muster.

• Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurden Analysen zu einem Teilgebiet der
kompositorischen Handwerkslehre; als vorbildlich eingeschätzte Meisterwerke
wurden analysiert.

• Seit dem 19. Jahrhundert bildete die Analyse von Kompositionen eine gleichsam
objektive Voraussetzung zur Aufstellung allgemein gültiger Urteilskriterien von
Musik. Sie siedelte sich zumeist im Bereich der Kritik und Rezension an und
richtete sich weniger an die Komponisten, sondern mehr an den Kenner und
Liebhaber.

• Seit dem frühen 19. Jahrhundert diente die Analyse zur Unterstützung und
gleichzeitigen Exemplifizierung musikalischer Theorien und betrachtete die Musik
fast ausschließlich unter theoretischen Aspekten.

• Im Verlauf des 19./20. Jahrhunderts versuchte die Analyse den individuellen


Sinnzusammenhang einer Komposition herauszuarbeiten und bewußt zu machen.
Sie näherte sich der Interpretation und geriet in den Bannkreis der Hermeneutik.

143
• Die Analyse der neuen und neuesten Musik des 20. Jahrhunderts wurde zur
Voraussetzung der Schaffung neuer Kompositionen. Sie versuchte die materielle
Basis von Musik forschend zu erarbeiten. Aufgrund analytischer Einsicht konnten
neue, unbekannte musikalische Materialbereiche bewußt und komponierbar gemacht
werden.

Die historische Übersicht verdeutlicht uns, daß sich mit dem jeweilig veränderten
Entwicklungsstand der Musik auch die Form und Situation der Analyse verändert hat
und daß die Problematik dieser Tätigkeit in der häufig gestellten Frage nach dem Sinn
von Analyse zum Ausdruck kam. Somit hat jeder musikanalytische Ansatz in seiner
historisch-wissenschaftlichen Einbindung seine eigene, durch die Analyse führende
Metapher mit spezieller Terminologie und theoretischer Festlegung entwickelt. Folgende
Aspekte lassen das Phänomen der Analyse als ein fast unlösbares Problem erscheinen:

• Die teilweise Übernahme traditioneller Terminologien auf neue musikalische


Sachverhalte.

• Die daraus resultierenden terminologischen Unklarheiten, die im musikalisch


Elementaren keinen Konsens ergeben (z.B. die unterschiedliche Bedeutung des
Begriffes "Periode" im 18. Jahrhundert und heute oder die unterschiedliche
Verwendung des Begriffes "Exposition").

• Die Lösung und Trennung einer Vielzahl von Analysen aus dem geschichtlichen
Kontext.

• Die analytischen Kontroversen innerhalb verschiedener Verfahrensweisen und die


bewußte Abgrenzung verschiedener Methoden voneinander.

• Die Verselbständigung professionalisierter und kompliziert entwickelter Methoden.

• Die Entwicklung musikalischer Analysen jenseits des Erlebnischarakters und


Effekts, den Musik auf Hörer ausübt.

• Die Entwicklung analytischer Methoden jenseits eines praktischen


Anwendungsbereichs innerhalb des Lernfelds der Musik.

• Die Schwierigkeit, aus der Vielfalt von Methoden den für das Werk angemessenen
Weg zu finden.

So haben sich heute generell zwei Thesen zur musikalischen Analyse herausgebildet, die
sowohl das historische Selbstverständnis als auch die Aktualität von Analyse etablieren
(Kühn, 1993). Es gilt, beide Thesen zu verbinden, denn ohne den historischen Bezug

144
verfehlt die Analyse den aus seiner Zeit heraus geprägten Sinn eines Werkes. Eine
Analyse, die aus ihrer eigenen geschichtlichen Perspektive verfährt, erschließt den
jeweils aus ihrer Zeit heraus aktuellen Sinn eines Werkes. Aus ihrer aktuellen
Blickrichtung heraus kann sie das Werk verlebendigen und an ihm Neues sichtbar
werden lassen.

Als nächstes wäre zu untersuchen, welche Konsequenzen die dargelegten Tatsachen für
die Forschungsstudie haben.

145
Kapitel 8
Die für die Forschungsstudie relevanten Kriterien der Musikalischen
Analyse

Im vorangegangenen Kapitel 7 ist deutlich geworden, wie groß und fast unübersehbar
die Variationsbreite verschiedener Ansätze zur musikalischen Analyse geworden ist.
Ursache dafür ist zum Teil die sich immer wiederholende Erkenntnis, daß die Erfahrung
von Musik schwierig zu beschreiben ist. Zum anderen hat sich die Form und Situation
der musikalischen Analyse durchweg in Abhängigkeit vom jeweiligen
Entwicklungsstand der Musik verändert. So konzentrieren sich einige Analysen auf
bestimmte musikalische Stile oder Kompositionsmethoden, die sich eng auf
musikalisch-technische Dinge beziehen. Andere sind in umfassendere, allgemein
philosophische oder psychologische Fragen engagiert.

Es ist offensichtlich, daß mit der Konzentration auf einen bestimmten Aspekt nicht alles
über ein Musikstück erklärt werden kann. Dieses sollte auch keine Vorbedingung einer
zweckmäßigen Analyse sein, denn in der Tat wäre so ein Ansinnen bei den meisten
Musikwerken praktisch nicht einmal möglich, besonders dann nicht, wenn die
analytischen Erklärungen eine direkte Verbindung zu den Hörerfahrungen haben
sollten. Es kommt also in erster Linie darauf an, das Wesentliche auf den Punkt zu
bringen. Dieses trifft auch auf die Analyse musiktherapeutischen Materials zu.

Unabhängig davon, nach welchem Ansatz und Schwerpunkt eine Analyse ausgerichtet
ist, das primäre Objekt der musikalischen Analyse ist immer die Erklärung eines
besonderen musikalischen Werkes, das sich durch seine Materialstruktur und seinen
historischen und aktuellen Kontext erschließt.

Folgende Überlegungen fließen aus den bisher geschilderten Tatsachen in die


Konzeption einer dieser Studie angemessenen musikalischen Analyse ein:

Es steht zweifellos fest, daß es keinen fixierten Weg einer musikalischen Analyse gibt,
der allgemeine Gültigkeit besitzt. Der Weg hängt von verschiedenen Faktoren ab: von
der Person der Analytikerin, ihrer besonderen Situation, ihrer Fragestellung und der
Musik selbst. Je nachdem zu welchem Zweck die Analyse durchgeführt wird und
welche Art des musikalischen Materials untersucht werden soll, wird der eine oder
andere Aspekt in Betracht gezogen werden müssen. Für mich ist es wichtig, Klarheit
über meine eigenen Vorstellungen im Hinblick auf Analyseverfahren zu gewinnen und
sie in bezug auf meine eigene Forschungsarbeit zu entwickeln und systematisieren.

146
Mit meinem Forschungsschwerpunkt, der die Entwicklung einer Melodie in der
improvisierten Musiktherapie aufdecken möchte, ist es nicht ohne weiteres möglich, eine
Methode heranzuziehen, die im Hinblick auf das komponierte, notierte Kunstprodukt
entwickelt wurde (s. Kapitel 3, Abschnitt ‘Improvisation als Kernpunkt therapeutischen
Handelns’). Hier geht es um “komponierte” improvisierte Musik, die durch die Natur
der Interaktion zwischen Patient/in und Therapeutin entstanden ist. Es bedarf also einer
Methode, die so flexibel ist, daß sie auf die offene und unbestimmte Situation einer
Improvisation angewendet werden kann, um Richtungen und Tendenzen erfassen zu
können. Es geht nicht nur darum, die sich allmählich formenden und verändernden
musikalischen Gestalten herauszulösen, sondern auch zu berücksichtigen, wie die
Therapeutin die Patienten durch ihre gemeinsam geschaffene Musik erfährt, denn wie
auch Pavlicevic feststellt:” This direct experiencing of the client - and of the client in
relation to ourselves - through music, generates direct emotional communication between
therapist and client” (Pavlicevic, 1997, S. 56). Dieser zuletzt genannte Aspekt, der eng
mit der Person der Therapeutin und Forscherin selbst verbunden ist, läßt sich kaum mit
den Methoden einer musikalischen Analyse erfassen, die darauf fixiert ist, die technische
Seite eines Kunstwerkes zu erhellen. Er kann jedoch, wie wir in Kapitel 6 erfahren
haben, mit Hilfe der Personal Construct-Methode einbezogen und beleuchtet werden.

Andere Forscher haben, mit Blick auf diesen Aspekt, im Bereich der improvisierten
Musiktherapie Methoden des offenen Hörens entwickelt (Bruscia, 1995d, S. 418;
Bruscia, 1995e, S. 323-324; Lee, 1995).

Wie im zweiten Teil dieser Forschungsarbeit, in dem ich nach dem geeigneten
methodischen Ansatz forschte, stellt sich für mich auch hier die Notwendigkeit, einen
Fokus zu finden, der die Analyse im Kontext dieser Forschungsstudie in die richtige
Richtung lenkt.

Zunächst müssen die Aspekte genannt werden, die den äußeren Rahmen setzen,
beziehungsweise die Bedingungen aufzeigen, unter denen die musikalische Analyse
durchgeführt wird. Dazu gehören:

• Der musikalisch kulturelle Hintergrund der Forscherin

• Der Zweck ihres Forschungsanliegens

• Die Art des musikalischen Materials, das sich aus den Improvisationsausschnitten
der verschiedenen Sitzungen bildet

Es ist eine Tatsache, daß jeder Mensch von der ihn umgebenden Kultur mit geprägt ist
(s. Kapitel 1). Auf die Situation der Improvisation bezogen bedeutet dieses, daß wir nie
“leer” ins musikalische Spiel kommen, sondern auch das mitbringen, was unsere

147
Ausdrucksmuster und musikalischen Gestalten geprägt hat. Beide, Patient/in und
Therapeutin sind von der westlichen tonalen Musik geprägt, auf die, infolge ihrer
charakteristischen Dominanttendenzen, generell die Begriffe Spannung und
Entspannung angewendet werden. Diese Voraussetzungen haben auch Einfluß auf das
musikalische Material, das von der Forscherin in den klinischen Improvisationen
therapeutisch-improvisatorisch eingesetzt wird und das den Ausgangspunkt ihrer
Datenerhebung bildet. Ihre eigenen musikalischen wie außermusikalischen Erfahrungen
(und die der Patienten) gehören also mit zu den Aspekten, die den äußeren Rahmen für
die musikalische Analyse bilden. Mit dem von der Therapeutin erschaffenen
Improvisationsmaterial treten die allgemein verbindlichen Kategorien und
Gesetzmäßigkeiten der tonalen Musik der letzten 200 Jahre und ihre idiomatischen
Formeln, die die Musik erweiterten und bereicherten, in den Vordergrund der
Betrachtung. Aus diesem Grund ist es sinnvoll und opportun, für diese Studie einige der
Begriffe und Kriterien der traditionellen musikalischen Analyse heranzuziehen.

Eine weitere Fokussierung ergibt sich durch die zentrale Frage nach den musikalischen
Bestandteilen wie Ausdrucksmustern, Gesten, charakteristischen Figuren oder
musikalischen Handlungsweisen, die die Entwicklung einer vollständigen melodischen
Gestalt ermöglichen. Damit wird von vornherein der Blick auf kleinste Einheiten, auf
Muster, Motive oder Figuren gelenkt und auf die Art ihrer Verquickung und weiteren
Entwicklung. Aufgrund dieser Tatsache bietet sich eine funktionale Betrachtungsweise
an, die die vielfältigen Bezüge der einzelnen musikalischen Parameter aufdeckt und in
Beziehung zum musikalischen Ganzen setzt.

In Teil 1 dieser Forschungsarbeit wurde die musikalische Gestalt der Melodie als ein
überaus komplexes, umfassendes musikalisches Gebilde dargestellt, an dem vielfältige
musikalische Elemente Anteil haben. Dementsprechend wurden von mir im Abschnitt
‘Signifikante Gesichtspunkte für die Therapie’ (Kapitel 3) Kriterien aufgeführt, die für
die Analyse des musikalischen Materials einer melodischen Improvisation von
Bedeutung sein könnten. Im Hinblick auf die in Kapitel 7 dargelegten Tatsachen
erhalten diese Kriterien auch im Zusammenhang mit traditionellen, analytischen
Verfahrensweisen ihre Bedeutung. In ihrer Aufstellung werden Elemente der skizzierten
Theorien über Perzeption, Kognition, Emotion, Formdynamik und Gestalt sichtbar. In
den folgenden Abschnitten werden die Hauptkriterien der Melodie, die die Grundlage
des analytischen Materials bilden, in ihrer Begrifflichkeit und Bedeutung näher
untersucht.

148
T RADITIONELLE K RITERIEN

In der Musik des 18. bis 19. Jahrhunderts hängen Form und Tonalität eng zusammen.
Die Tonalität bildet das Fundament der Form, und die Form erscheint als Ausprägung
der abstrakten Tonalität zu konkreter musikalischer Gestalt (de la Motte, 1968). Das
Ordnungsprinzip der Tonalität zeigt sich in der Bezogenheit aller musikalischen
Vorgänge auf eine harmonische Grundformel, die Kadenz. Die Kadenzordnung gilt
nicht nur im harmonischen Bereich, sondern auch im melodischen und metrisch-
rhythmischen.

Die Entwicklung der musikalischen Form im späten 18./19. Jahrhundert ist als ein
dynamischer Prozeß zu sehen, der im Kontrast steht zur aufgelockert und graziös
wirkenden Musik des galanten und empfindsamen Stils des musikalischen Rokoko des
frühen 18. Jahrhunderts (vorklassische Übergangszeit) (Wörner, 1965, S.230).

Ein weiteres Kriterium für den Formbildungsprozeß ist die Konzentration auf das
Thematische und seine Verarbeitungsmöglichkeiten. Darüberhinaus bringt die
Darstellung eines Themas Entscheidendes über den Charakter einer Komposition zum
Ausdruck. Während der hochklassischen Zeit (bis um 1810) entfaltet sich das
künstlerische Prinzip am fruchtbarsten in der motivisch-thematischen Arbeit, die bis ins
20. Jahrhundert fortwirkt. Das Motiv gibt der Musik als zeugende musikalische Floskel
seine Prägung und ist charakteristisch für den inneren musikalischen Zusammenhalt. Es
wird aus den thematisch melodischen Bögen (und melodischen Perioden) selektiert,
verselbständigt und in den Mittelpunkt der kompositorischen Vorgänge gerückt. Das
bedeutet: Motive werden verknüpft, kombiniert, wiederholt, verändert, erweitert oder
durch rhythmische, harmonische, modulatorische, polyphone und dynamische
Möglichkeiten verkürzt.

Die Formen, die sich in der Zeit des Spätbarocks ausbilden, wiederholen sich in der
Frühklassik und kennzeichnen Werke der Wiener Klassik und der Folgezeit. Während
der Romantik ist das Thema als Substrat eines Prozesses zu sehen, der dem Thema
formale Funktion verleiht und somit musikalische Bedeutung stiftet (Dahlhaus, 1980, S.
13). Dahlhaus unterscheidet deutlich zwischen der melodischen Substanz, dem "Einfall",
der als Inbegriff von Musik gilt (vgl. Kapitel I) und seiner weiteren Entwicklung, in die
er hineingezogen wird und die von kompositorisch funktionalem Denken beherrscht ist.
Somit rückt die Entwicklung der Themen und ihre Transformation, die auf einer immer
komplexer werdenden harmonischen Basis aufbaut, stärker in den Vordergrund und läßt
eine neue, umfassende "Formdynamik" entstehen.

149
Ein Resultat dieses Prozesses ist z.B. die Symphonie. Sie gilt als die repräsentative
Gattung der Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts, in der sich durch die Erweiterung
der orchestralen Mittel wichtige kompositorische Neuerungen vollziehen. Neben der
motivisch-thematischen Arbeit entstehen vor allem Variantenbildungen durch das
Prinzip des dramatischen Ausdrucks (Dahlhaus, 1967 S. 155).

Im Blick auf die traditionelle Musik von ca. 1800 bis 1950 sind es insbesondere vier
Bereiche, die gleichsam die Voraussetzung für den kompositorischen Zusammenhang
darstellen:

Thematik - Motivik - Harmonik - Rhythmik

Für eine Analyse ist somit die Untersuchung harmonischer, melodischer und
rhythmischer Vorgänge zentral, da sie mit der Vertikale, Horizontale und Bewegung die
tragenden Dimensionen der Musik erfaßt (Kühn, 1993). Der Bereich der Form, dessen
Fundament die Tonalität ist, kann als übergeordnete Größe betrachtet werden, die sich
aus dem Zusammenspiel von Thematik, Motivik, Harmonik und Rhythmik ergibt.

Da diese Kriterien zentrale Bedeutung im Analyseprozeß dieser Studie haben, wird im


folgenden eine generelle Definition dieser Begriffe gegeben, die sich auf ihre
etymologische Geschichte, ihre Verwendung und Inhaltsmerkmale der allgemein
üblichen lexikalischen Quellen (Blume, 1989a; Dahlhaus & Eggebrecht, 1979) und auf
Schoenbergs Analysekriterien stützt (Schoenberg, 1967). Hervorgehoben werden dabei
besonders die Termini Motiv und Thema, während Harmonie und Rhythmus nur in
ihrer Beziehung zum Thematischen betrachtet werden. Schönberg legt in dem zitierten
Werk musikalische Vorgänge sprachlich und begrifflich so deutlich und fundamental
dar, daß diese als musikalische Grundsätze betrachtet werden können, die ohne
besondere Schwierigkeiten auf verschiedene Stile, zeitgenössische Musik und
Improvisationen im therapeutischen Kontext angewendet werden können.

D ER M OTIV - BEGRIFF

Die etymologische Wurzel (Blume, 1989a, S. 283) geht zurück auf das spätlateinische
Wort “motivus”, mit der Bedeutung von "beweglich". Die passive Bedeutung
"beweglich, zur Bewegung geeignet" wandelt sich in eine aktive um. Das Substantiv
"motivum" findet sich im 15. Jahrhundert ausschließlich in aktiver Bedeutung und wird
mit Beweggrund, Anreiz, Antrieb, Triebfeder, Entscheidungsgrund, Ursache und
Leitgedanke gleichgesetzt. In dem Wort Motiv sind folglich Momente des
Ursprünglichen und Aktivierenden enthalten.

150
Im 18. Jahrhundert zeigt die Verwendung des Begriffes bei Rousseau, der das "motif"
in seinem Dictionnaire de Musique definiert, daß das Wort in einem modernen Sinne
von "Verfahrensweise" musikalisch begriffen wird. Andere musiktheoretische Schriften
und Lexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie die von Marx (1837) und Lobe
(1844) zeigen noch keine terminologische Erfassung dieses Begriffes, oder setzen die
Wörter Motiv und Thema gleich (Dahlhaus & Eggebrecht, 1979).

In den musiktheoretischen und ästhetischen Abhandlungen des 20. Jahrhunderts werden


die Termini Motiv und Thema vielfältig eingesetzt. Ihre vieldeutige Verwendung weist
auf eine grundsätzliche Verständigungsproblematik hin, die mannigfache Auffassungs -
und Standpunktunterschiede aufdeckt. Die Kernfrage, an der sich die terminologischen
Merkmale scheiden, ist die, ob die Begriffe Motiv und Thema in ihrer analytischen
Anwendung funktional oder phänomenal gedacht werden. Die erste, funktionale
Betrachtungsweise konzentriert sich auf die Funktion des Motivs für das ganze Werk,
bezieht also von vornherein die Wechselwirkung zwischen Teil und dem Ganzen ein.
Die zweite Betrachtungsweise, als deren Repräsentant Riemann (Dahlhaus &
Eggebrecht, 1979, S. 158) gelten kann, geht von den motivischen Erscheinungen aus, die
das Ganze als Summe dieser Teile betrachtet. Er verwendet den Terminus Motiv als
Grundbegriff seines "Systems der musikalischen Rhythmik und Metrik" (Leipzig,
1903). Im Zusammenhang mit seiner Phrasierungslehre gilt für das Motiv das "Prinzip
der obligatorischen Auftaktigkeit" (Blume, 1989a, S. 285). Ungeachtet der
unterschiedlichen funktionalen Bedingungen verabsolutiert Riemann den Begriff Motiv,
indem er ihn anhand klassischer Formgegebenheiten exemplifiziert und auch auf solche
musikalischen Erscheinungen anwendet, die im 17. und 18. Jahrhundert mit der
Bezeichnung "Figur", "Gang" und "Lauf" versehen waren und in ihrem musikalischen
Aufbau andere funktionale Bedingungen beinhalteten, als das von ihm terminologisch
bestimmte "klassische" Motiv. Diese von Riemann ausschließlich auftaktig gedachte
Motiv-Auffassung, aus der er, wie bereits erwähnt, Konsequenzen für seine Lehre der
Phrasierung gezogen hat, wird heute als zu eng betrachtet. Dagegen reiht sich sein
Standpunkt in das allgemeine Verständnis über Motivik ein, der das Motiv nicht nur als
ein rhythmisches Gebilde betrachtet, "sondern vielmehr ein nach allen Seiten hin
bestimmtes musikalisches Konkrete, an welchem Melodie, Harmonie, Dynamik und
Klangfarbe Anteil haben".

Nach dem musikalischen Sprachgebrauch ist mit dem Terminus Motiv der kleinste Teil
eines Themas gemeint, dem innerhalb der Komposition Selbständigkeit zukommt. Diese
Selbständigkeit stellt sich als eine hörbare Einheit dar, die aus der Kombination von
Intervall (en) und Rhythmus besteht. Aus der Vereinigung dieser beiden Faktoren

151
entsteht die charakteristische Kontur eines Motivs, die sich dem Gedächtnis einprägt
und zugleich eine darin enthaltene Harmonie ausdrückt.

Aus einer vergleichenden Betrachtungsweise der Funktionen von Motiven ergeben sich,
je nachdem, welcher Parameter in seiner Funktion und Wirkungsweise stärker
hervortritt, unterschiedliche Motive, die sich entsprechend als Grundmotiv, Leitmotiv,
rhythmisches Motiv, melodisches Motiv, harmonisches Motiv oder Begleitmotiv
bezeichnen lassen können. Schoenberg (Schoenberg, 1967, S.15) z.B. charakterisiert
das Grundmotiv, zu dem fast jede Figur eines Musikstückes eine Verwandtschaft
aufweist, auch als Keim der musikalischen Idee.

Von der Art der Verwendung und Entwicklung des Motivs hängt es ab, wie sich der
endgültige Eindruck eines Stückes bestimmt. Jedes Element, beziehungsweise Merkmal
eines Musikstückes oder Themas wird als Motiv angesehen, wenn es als solches
behandelt wird, das heißt wenn es mit oder ohne Variation wiederholt wird. Die
Verwendung des Motivs kann als eine genaue, modifizierte oder entwickelnde
Wiederholung erscheinen. Durch seine Impulseigenschaft kann es funktional als
formauslösendes Moment (causa movens) erscheinen und durch seine
charakterisierende Funktion (causa effeciens) für eine umfassendere Gestalt
ausschlaggebend sein (Blume, 1989a, S. 292).

Die weitere Verarbeitung des Motivs durch musikalische Prinzipien kann durch einen
bestimmten positionellen und funktionalen Einsatz zu wichtigen Hauptfaktoren der
Vereinheitlichung führen und ebenso zu Ausdrucksträgern mit charakterbestimmender
Kraft werden. Allein schon für die zuletzt genannte Aufgabe bringen die
Verarbeitungsmöglichkeiten eine relative Eignung mit, denn die primären Eigenschaften
eines Motivs liegen in seinem Potential, dem Antriebhaften, im Sinne der Aufschließung,
Fortführung und Kombination. Für die Erfassung und Abgrenzung, bzw. Eingrenzung
musikalischer Motive gilt nach wie vor die von Riemann geäußerte Feststellung, daß
"von dem Erkennen der vom Komponisten gemeinten Motivbegrenzung in erster Linie
das wirkliche Verstehen einer Melodie abhängt" (Blume, 1989a, S. 300).

Für die Begriffe Motiv und Thema bietet sich sowohl vom Wortgehalt wie vom
Sachverhalt her die funktionale Sichtweise an, die auch in der neueren
musikanalytischen Literatur vertreten ist. Für die Forschungsstudie sind folgende
Faktoren wichtig:

Die für die Forschungsstudie relevanten zentralen Bestimmungsgrößen sind das


melodische -, rhythmische - und das Begleitmotiv. Letzteres kann in verschiedenen
Typen auftreten, wobei eine der wichtigsten Funktionen darin besteht, die

152
Vereinheitlichung mit der Melodie zu etablieren. In seiner Form ist das Begleitmotiv so
beschaffen, daß es, je nach Eigenart des Themas, modifiziert, liquidiert oder aufgegeben
werden kann (Schoenberg, 1967, S. 37).

Beispiel eines Begleitmotivs aus der ersten Studie, Episode 5, T 1 - 2

Ú 80
b
& b b 34 ˙
1

Patientin (Vokal)
œ ˙ œ
π
3 Û Da
Œ Û Û Û Û
da
Û
Patientin (Koreatr.) 4
p Klavier

b 3 Œ œœœœ
Therapeutin (Vokal) &b b 4 œ j
œ . #œ ˙ .

Die Patientin läßt in einer tiefer gelegenen ostinaten Begleitstimme den Grundton c1
erklingen und vereinheitlicht damit die über ihr erklingenden Melodietöne der
Therapeutin.

Das melodische Motiv kann in seiner charakteristischen diastematischen Art, z. B.


Sekundwechsel-Motiv, Tonleiter- oder Sexten-Motiv beschrieben werden.

Beispiel eines melodischen Motivs aus der ersten Studie, Episode 9, T 1 - 2

q = 100 Andante
1

4
Patientin (Metallophon) &4 œ œ ˙ œœ˙
π
˙ ˙ ˙ ˙
4
Therapeutin (Klangstäbe) &4

Das melodische Motiv in der Stimme der Patientin macht sich hier durch seine
Intervallstruktur kenntlich: die ansteigende große Sekunde wird mit einer kleinen Terz
verbunden, die in die entgegengesetzte Richtung weist. Die rhythmisch gewählte Form
unterstützt die melodische Kontur, indem für den schrittweisen Anstieg Viertel-Werte
gewählt werden und die abfallende Terz mit einer halben Note hörbar gemacht wird.

Das rhythmische Motiv charakterisiert sich z.B. durch hervortretende Achtel -, Triolen -
oder Synkopen-Motive.

153
Beispiel eines rhythmischen Motivs aus der ersten Studie, Episode 1, T 15

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
P.
˚ ˚j̊
b b b œ œ ‰ . . œj̊œ œ ‰ . . œ
Th. &

Im geraden Takt erscheint das rhythmische Motiv in der Stimme der Patientin als Viertel
mit zwei folgenden Achteln, aus dem sich eine einheitliche Schwerpunktbildung ergibt,
die an akzentuierenden Versbau des vierzeitigen Dactylus æ » » erinnert.

Mit der Anwendung des Motiv-Begriffes in der oben genannten Auffächerung wird
versucht, einer normierenden Vielfalt der Motivbegriffe aus dem Wege zu gehen, da sie
das eigentlich Schöpferische, die individuellen musikalischen Erscheinungen im Spiel
der Patienten durch ihre Begriffsbildung einengen.

In beiden Forschungsstudien (Teil IV) werden Motive in ihrem funktionalen Sinn


betrachtet. Dieser kennzeichnet sie durch folgende Faktoren:

• 1. durch ihre Impulseigenschaft und Funktion des formauslösenden Moments


(causa movens)

• 2. durch ihre charakterisierende Funktion (causa effeciens) für eine umfassende


Gestalt

• 3. durch ihre wörtliche oder variierte Wiederholung

Motiv und Thema zeigen sich also am deutlichsten in ihrer konstitutiven Funktion durch
den variativen Einsatz ihrer eigenen Substanz. Dabei geht das Motiv nach Funktion und
Gestalt weit mehr als das Thema in einer größeren Ganzheit auf. Aus diesem Grunde
muß sich eine Analyse auch auf die charakteristischen Verarbeitungsweisen stützen, die
wichtig sind für die Erfassung bestimmter Tendenzen im musikalischen Ausdruck, die
sich im musikalischen Spiel der Patienten abzeichnen. In den Kapiteln 11 und 15 von
Teil IV werden diese musikalischen Verarbeitungsweisen, die auch als musikalische
Gestaltungsprinzipien erscheinen, genau analysiert. Durch die Art und Weise, wie sie im
Spielverlauf positioniert und benutzt werden, können sie deutliche Hinweise darüber
geben, welche Kraft ihnen von den Patienten zugemessen wird, beziehungsweise welche
Kraft aus ihrer Impulseigenschaft gezogen wird, um neue, unbekannte Wege
musikalisch zu beschreiten.

154
D ER T HEMA - BEGRIFF

Die Etymologie des Wortes geht auf eine griechische Wurzel zurück, die in ihrer
Ableitung soviel wie “das Gesetzte, der Satz, das Aufgestellte” bedeutet (Blume, 1989a,
S. 281). Für den Gebrauch in der Musik ist die Wortbedeutung das "Vorgestellte,
Verheißene" interessant. Aus den verschiedenen Quellen ergibt sich zusammenfassend
eine vom ursprünglichen Wortgehalt her gerechtfertigte doppelte Anwendung: 1. als
Satz, Aufstellung, der einen Zusatz, bzw. Gegensatz zur Kommentierung oder zum
Vergleich herausfordert, 2. als Vorgestelltes, Verheißenes, das einen weiteren Einsatz der
eigenen Substanz, mit oder ohne Abwandlung erwarten läßt (Blume, 1989a, S. 281).

Die Sachgeschichte des Wortes steht im engen Zusammenhang mit seiner Geschichte
als musikalischer Terminus. Mit dem ersten Auftreten des Begriffes "Thema" im 16.
Jahrhundert wird das Wort auch von den Theoretikern zur Kennzeichnung eingesetzt.
Themen werden im ursprünglichen Wortsinn "aufgestellt" und kommen zum "Einsatz".

In der zweiten Hälfte des 18. und 19. Jahrhunderts werden die Begriffe Thema und
Hauptsatz synonym verwendet und auf Tonstücke instrumentaler und vokaler Art
angewendet. Unter dem Einfluß der Literarisierung und Poetisierung der Musik im
späten 19. Jahrhundert (s. auch Abschnitt "Traditionelle Kriterien") wird dem Thema
eine Fassung zuteil, die allgemein vom Hauptgedanken spricht, "der aber mehr aus der
Tätigkeit des Gefühls als der des Verstandes hervorgeht" (Blume, 1989a, S. 289).

Die Sinnhaftigkeit und musikalische Aussage eines Themas beruht in der europäischen
Hörtradition auf der tonsprachlichen Gestik der thematischen Gestalten (s. Abschnitt
"Traditionelle Kriterien") und auf ihren intendierten Beziehungen. Mit der
tonsprachlichen Gestik sind die musikalisch-künstlerischen Ausdrucksmittel gemeint,
die zum Zweck einer seelischen Bewegtheit den inneren Ausdruck eines Themas
verdeutlichen. Somit können sich persönliche Aussage und individuelles
Ausdrucksverlangen in verschiedenen thematischen Gestalten realisieren und zu
vielfältigen Beziehungen im thematischen Spannungsfeld führen. Das Sinnhafte und
Bedeutungsvolle in der Musik erschließt sich also mit Hilfe der musikalisch-
künstlerischen Ausdrucksmittel aus der Form eines organisierten Prozesses heraus, der
einer Konzentration auf thematische Tongestalten bedarf. Ähnlich dem Motiv können
auch die thematischen Gebilde in besonderer Weise wiederholt, verarbeitet und mit
charakteristischen Merkmalen ausgestattet werden. Thema und Motiv stellen somit die
bedeutsamsten Mittel des Selbstverständnisses in der Formgebung der instrumentalen
Kunstmusik dar.

155
Die Schwierigkeit der terminologischen Bestimmung der Begriffe Thema und Motiv
liegt in der Tatsache begründet, daß der Wortgehalt nur sehr allgemeines ausdrückt, was
zur Folge hat, daß sich daraus ein vielfältiger Sprachgebrauch ergeben hat. Dieser
wiederum läßt sich für eine Inhalts-Bestimmung begrifflich nur schwer fassen. Aus
diesem Grund kann es, wie wir auch in Teil I gesehen haben, in einer historischen
Betrachtungsweise, für beide: Thema und Motiv, keine Definition geben, die alle
spezifischen Merkmale umfaßt. H. Eggebrecht formuliert diesen Sachverhalt sehr
treffend mit den Worten "Die Definition des Terminus ist seine Geschichte" und weist
damit auf die grundsätzliche Begriffsbildungsproblematik hin (Blume, 1989a, S. 289).

Das Thema stellt im Gegensatz zum Motiv bereits ein erstes Ergebnis eines
musikalischen Formungsprozesses dar. Die Art und Weise, wie ein Thema geprägt ist,
schließt eine Formvorstellung des Ganzen ein. Ein Beispiel, das diesen Sachverhalt
unterstreicht, wäre die kompositorische Form der Passacaglia, die sich aus dem Typ
ihrer besonderen thematischen Gestalt entwickelt. Somit besteht die konstitutive
Aufgabe eines Themas in erster Linie darin, funktionales Zentrum im
Beziehungsgeflecht einer Komposition zu sein. Alle Formglieder hängen in ihrem
Sinngehalt und in ihrer Sinnhaftigkeit von einem oder mehreren Themen ab.

Die Konstruktion eines einfachen Themas, bzw. eines vollständigen musikalischen


Gedankens ist in der Regel als Periode oder Satz dargestellt, die aus einer geraden
Anzahl von Takten, gewöhnlich acht oder einem Vielfachen von acht, besteht.

Das folgende Beispiel ist aus der Studie 1 entnommen. Es zeigt die von der Patientin
gespielte, in sich geschlossene Gestalt eines Themas. Episode 9, T 1 - 8 :

q = 100 Andante
1

P. (Metallophon) & 44 œ œ ˙ œœ˙ œœœœ œœ˙


π
˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ œœ˙
Th. (Klangstäbe) &4 4

œœ˙ œœ˙ œœœœ œœ


˙
˙ ˙ ˙ ˙ ˙ œœ œ˙
œ

Nicht nur für das Motiv, sondern auch für das Thema bietet sich sowohl vom
Wortgehalt wie vom Sachverhalt her eine funktionale Sichtweise an, aus der sich

156
folgende Kriterien aufstellen lassen (Blume, 1989a, S. 289), die für die
Forschungsstudie relevant sind:

• 1. Die formale und inhaltliche Bedeutung des Themas, die als konstitutiver Faktor
für ein musikalisches Ganzes, das ein Werk, Satz, Zyklus oder ganzheitlicher
Abschnitt sein kann, fungiert. Dieser Faktor bildet die Bezugsgestalt zum Ganzen.

• 2. Dieses sein Wesen bestimmende Merkmal, das nur dem Thema zukommt,
erfordert materielle und ideelle Wiederkehr.

• 3. Das Thema und seine Wiederholung erscheint in relativer Geschlossenheit, das


heißt es ist melodisch und harmonisch begrenzt.

• 4. Dem Thema kommt ein musikalischer Gestaltcharakter zu, der, bedingt durch die
Integration seiner diastematischen und rhythmischen Form, zur Wiedererkennung
führt.

Entsprechend der verschiedenen Formen im Bereich der Kunstmusik können sich auch
aus den spezifischen Eigenschaften der musikalischen Improvisationen von Patient und
Therapeutin weitere Merkmale ergeben, die zur Bedeutung der thematischen Aussage
beitragen.

M ELODIE UND T HEMA

Die Vorstellung des Melodischen ist eng verbunden mit der von Sangbarkeit (s. Teil I,
Kapitel 2). Die Natur und Technik der natürlichen menschlichen Stimme bestimmt, was
singbar ist; in der instrumentalen Melodie hat sich die Vorstellung des Melodischen als
freie Anpassung an dieses Vorbild entwickelt. Die Freiheit der Instrumentalmelodie ist
jedoch ebenfalls an die jeweiligen technischen Begrenzungen der verschiedenen
Instrumente gebunden. Instrumentalmelodien der Klassik zeigen keinen großen
Unterschied zu vokalen Melodien. Sie können häufig mit geringen Veränderungen
vollkommen nachgesungen werden.

Sangbarkeit im volkstümlichen Sinn erweckt die Vorstellung von langen Notenwerten,


einem flüssigen Wechsel der Register, wellenartiger Bewegung, die eher stufenweise als
sprunghaft fortschreitet, der Vermeidung übermäßiger und verminderter Intervalle, eines
vorsichtigen Gebrauchs von Dissonanzen, eines Verweilens in der Tonart und ihrer
verwandten Regionen und der allmählich eingeführten Modulationen (Schoenberg, 1967
S.45). Das Gegenteil dieser Attribute würde die Nicht-Sangbarkeit, bzw. das
Unmelodische zum Ausdruck bringen. Auch wenn durch die Voraussetzungen des
vokal Möglichen, Grenzen des Melodischen klar dargelegt werden können, so kann
generell, bedingt durch den musikalischen Wandel, der im ersten Viertel des
neunzehnten Jahrhunderts begann, nicht festgestellt werden, was als unmelodisch zu
gelten hat. Allein die Entwicklung der Harmonie und ihr Einfluß auf alle Begriffe der

157
musikalischen Ästhetik macht deutlich, daß der Versuch von Definitionen,
beziehungsweise allgemeine Vorstellungen von Melodie nicht auf alle Formen zutreffen.

Was die melodischen (diastematischen und rhythmischen) Eigenschaften eines Themas


betrifft, so decken sie sich mit denen der Melodie, beziehungsweise eines ihrer Teile
oder Fragmente. Jedes Thema unterliegt also erscheinungsmäßig den allgemeinen
melodischen Kategorien (vgl. Kapitel 1). Begrifflich sind Thema und Melodie nur durch
ihre Funktion zu unterscheiden, d.h. in ihrer Zweckbindung, wie sie in den
verschiedenen Vokalformen zum Ausdruck kommt. Erfüllt eine Melodie die oben
genannten Thema-Kriterien (vgl. Abschnitt "Der Thema-Begriff"), so ist sie auch ein
Thema und umgekehrt, erfüllt ein Thema melodische Kategorien, so ist es auch eine
Melodie.

Darüberhinaus gilt, daß ein Thema nicht a priori ein solches ist, sondern erst durch seine
konstitutive Funktion zu einem solchen wird, was sich in der Wechselwirkung seiner
Gestalt, beziehungsweise Erscheinungsweise mit seiner Funktion zeigt. Dadurch
offenbart sich seine Bezugsqualität.

Z UM B EGRIFF DER THEMATISCH-MOTIVISCHEN A RBEIT

Zu den traditionellen Verfahren der musikalischen Analyse gehört der Begriff der
thematisch-motivischen Arbeit. Er kennzeichnet die intensive Verarbeitung der Motive,
die einem Thema zugrundeliegen. Wie im Abschnitt “Der Motiv-Begriff” deutlich
geworden ist, sind im Motiv selbst bereits schon seine primären Eigenschaften angelegt:
sein Potential für das Antriebhafte, im Sinne der Aufschließung, Fortführung und
Kombination. Motive können ausgesponnen, abgewandelt, umgruppiert und kombiniert
werden, so daß das kompositorische Geschehen mit dem Thema beständig in
Zusammenhang steht, aus dem es entwickelt ist und mit dem es sich auseinandersetzt
(Dahlhaus & Eggebrecht, 1979, S. 590). Es geht hier also um die weitere Verarbeitung
des Motivs durch die musikalischen Prinzipien.

Der thematische Verarbeitungsprozeß wurde bereits in der Fugenkomposition des


17./18. Jahrhunderts, entsprechend des simultanen und konstruktiven Materialdenkens
dieser Zeit vorgebildet, kam aber zur eigentlichen Geltung in der Sonatensatzform
(Übergangs - und Durchführungsteile) und wurde, von ihr ausgehend, zum zentralen
Gestaltungsprinzip in der Musik seit der Frühklassik. In ihr wurden, gemäß dem
sukzessiven, entwickelnden Individualdenken, oft alle Prinzipien aufgeboten, so daß mit
ihr eine historische Stufe in der Verarbeitungstechnik erreicht war. Grundsätzlich neue
Gestaltungsmittel waren nur durch den Bruch mit dem traditionellen Musikbegriff
möglich, wie z.B. mit der seriellen Musik.

158
Hier muß noch einmal betont werden, daß eine sinnvolle phänomenale Typisierung des
Motivs kaum denkbar ist. Eine normierende Terminologie ist fragwürdig, da sie dazu
zwingt, das eigentlich Schöpferische, den musikalischen Reichtum als Ausnahmen oder
Abweichungen von der Norm zu deklarieren (Blume, 1989a, S. 300). Dementsprechend
können die vielfältigen Verarbeitungsmöglichkeiten eines Motivs nur in Verbindung mit
seiner einmaligen, individuellen Erscheinung betrachtet werden. Grundsätzlich lassen
sich alle musikalischen Attribute eines Motivs und Themas verändern: die rhythmische
Gestalt, die diastematische Gestalt, die Harmonie, die Klangqualität und der
Gestaltcharakter durch Richtungswechsel, wie die Umkehrung und der Krebs.
Wiederholung und Veränderung sind als die gestaltungsmäßigen Grundkategorien zu
betrachten, die nur im Zusammenhang mit der jeweiligen musikalischen Idee und dem
musikalischen Material ihre jeweilige Bedeutung erhalten. Als häufig zu beobachtende
Veränderungen (Möglichkeiten der Verarbeitung) können wir neben der wörtlichen
Wiederholung die Sequenzierung, die variative Wiederholung (motivische
Aufschließung, Ableitung) und partiale Wiederholung (motivische Abspaltung) und die
motivische Auflösung (passagenhafte Fortspinnung) nennen.

Zwei Beispiele für Veränderung, beziehungsweise Verarbeitung werden aus der ersten
Studie herangezogen. Das erste Beispiel verdeutlicht in der Stimme der Patientin eine
Sequenzbildung.

Episode 7:

1 -
P. œ
& œœ œ œœ

Th. &Œ Œ œ

Das zweite Beispiel zeigt in der Stimme der Patientin den Ansatz einer Umkehrung.

Episode 11, T 3-4:

-
œœœœœ œ œœœœ
˙

Der Begriff der thematisch-motivischen Arbeit ist für die musikalische Analyse
therapeutischer Improvisationen insofern von Bedeutung, als er das relevante Prinzip des
Variierens vermittelt, das als das wichtigste musikalische Gestaltungsmittel angesehen
wird. Im Hinblick auf die therapeutische Verwendbarkeit der Gestaltungsmittel wird hier

159
noch einmal das betont, was bereits im Abschnitt zum Motiv - Begriff zum Ausdruck
kam. Wenn wir die vielfältigen musikalischen Verarbeitungsmöglichkeiten als Ausdruck
individueller, idiographischer Gestaltungsweisen betrachten, so könnten diese nützlich
sein, bestimmte Tendenzen im musikalischen Spiel der Patienten zu erfassen und
Aussagen über die möglichen weiteren Entwicklungen im Spiel der Patienten machen zu
können. Der Aspekt der Veränderung gehört mit zu einem der wichtigen allgemeinen
therapeutischen Ziele. Mit der therapeutischen Improvisation kann der Weg zur
Veränderung unterstützt, durch den musikalischen Prozeß selbst erfahren und umgesetzt
werden. In den musikalischen Gestaltungsmitteln liegen die unerschöpflichen kreativen
Potentiale, die im Prozeß ihrer Ausübung und klanglichen Realisierung eine
Transzendenz herbeiführen können, die eine andere, neue Bewußtwerdung ermöglicht
(Aldridge, 1995).

H ARMONIE UND R HYTHMUS ALS TRAGENDE ELEMENTE DES


T HEMATISCHEN

Das Kriterium der relativen Geschlossenheit einer thematischen Gestalt wird besonders
durch die tonartliche Bindung erreicht.

Die Bindung der Formglieder an das Thema trifft auch auf die tonale Ordnung zu. Die
musikalische Analytik bezeichnet diese auf den Dreiklang der Grundtonart bezogene
gesetzmäßige harmonische Mitte-Bezüglichkeit als "funktionale Harmonik". Der
Zusammenhang zwischen den beiden funktional erfaßten Bereichen, dem harmonischen
und dem thematischen, besteht darin, daß die Tonika im Spannungsfeld der Harmonik
eines Werkes das leistet, was dem Thema in Hinsicht auf alle Gestaltungsfaktoren
zukommt, nämlich zentrale Bezugsqualität zu sein. Den dominantischen
Nebenfunktionen in der Harmonik entsprechen in der Thematik die Funktionen von
Seiten - oder Gegenthemen (Sonate), bzw. von tonalen Beantwortungen (Fuge). Beide
Male stehen diese Gegensätze ("Gegen-Sätze") normalerweise auf dominantischer
Ebene (Blume, 1989a, S. 290).

Als Mittel zur Vereinheitlichung und Stütze der Melodie kann die harmonische
Begleitung in ähnlicher Weise organisiert werden wie ein Thema, z.B. durch den
Gebrauch eines Motivs, des Begleitmotivs (Schoenberg, 1967). Seine Behandlung ist
von der Eigenart des jeweiligen Themas abhängig und kann in der Erscheinungsform
eines Ostinatos, Orgelpunktes oder choralartig, figurativ, unterbrochen, komplementär
und stimmführungsmäßig kontrapunktisch, bzw. semi-kontrapunktisch erscheinen.

160
Darüberhinaus stiftet Harmonie Form in allen Größenordnungen: für die
Zusammengehörigkeit oder Trennung, die Geschlossenheit oder Offenheit von Motiven
und Taktgruppen, für den Bau von Themen, für Satzteile und die Organisation ganzer
Sätze (Kühn, 1993). Die Aktivität harmonisch-klanglichen Geschehens prägt nicht nur
die musikalische Form, sondern trägt entscheidend zum musikalischen Ausdruck bei.

In therapeutischer Hinsicht kommt der Harmonie ähnliche Funktion zu. Sie


vereinheitlicht und stützt die melodische Stimme der Patientin, sie fördert die weitere
musikalische Entwicklung und Formung und trägt in ihrer jeweiligen klanglichen
Aussage entscheidend zum musikalischen Ausdruck bei. Die therapeutische Bedeutung
dieses musikalischen Aspektes läßt auch ein Prinzip deutlich werden, das alle Aspekte
unseres Lebens berührt. Als Menschen sehnen wir uns von Natur aus nach Harmonie,
besonders dann, wenn wir in unserer Befindlichkeit eingeschränkt sind. So wird es für
uns immer wieder eine neuartige Harmonie sein, die wir uns selber im Austausch mit
unserer Umwelt schaffen müssen.

Ein Beispiel für die stützende Funktion der Harmonie bildet ein Ausschnitt aus Episode
7:

- - -
& œœœœ œ œœœœœœœ œ œ œ œ œ. œ œ œ œ œ œ
2 3 4 5

P.
œ œ œ
œ œ œ œ œœœ
œ
& Œ Œœ œ Œ Œ Œ ‰ œ Œ ‰ œ Jœ
Th.
J J J

Die Melodiestimme der Patientin wird von der Therapeutin durch ein Oktavostinato
unterstützt. In den Takten 2 und 3 unterstreicht es gleichzeitig die natürlichen
Taktbetonungen, wechselt dann aber in ein rhythmisiertes Ostinato über, das im
spannungsreichen Verhältnis zur natürlichen Taktbetonung steht.

Der musikalische Rhythmus prägt im allgemeinen den musikalischen Charakter (vgl.


die verschiedenen Tanzformen und Polonaisen und Märsche). Es ist daher schwer, sich
eine Tonfolge ohne den Rhythmus zu merken. Allbekannte Themen oder
Volksliedmelodien sind leicht nur an ihrem Rhythmus zu erkennen. An ihm haftet
Ausdruck. Der Begriff Rhythmus impliziert stets zwei Qualitäten: die Tongewichts -
und die Tonlängenverhältnisse. Primär sind es diese beiden Qualitäten, die uns die
rhythmischen Vorgänge geradezu körperlich erleben lassen. Gegenüber der "Melodik"
und "Harmonik" ist der Rhythmus die elementare, ohne Umwege eingehende und
"verständliche" musikalische Dimension (Kühn, 1993).

161
Ähnlich wie die Harmonie zeigt der Rhythmus in seiner Funktion vielfältige
Differenzierung. In seinem Verhältnis zur Melodie oder zum Thema ist der Moment
entscheidend, wo er zur Substanz zur Themenbildung wird und mit ihr verschmilzt. Er
kann somit das Thema vertreten, bzw. repräsentieren. Eine rhythmische Zelle kann selbst
motivischen Rang haben. Die Entwicklung der Themen aus einem rhythmischen Motiv
können häufig bei Schubert und Brahms beobachtet werden (z.B. Schubert: "Der Tod
und das Mädchen"; Klaviersonate a-Moll op. posth. 143, erster Satz; Brahms: Themen
der Vierten Symphonie e-moll op. 98).

In der motivischen Verflechtung von Rhythmus und Thema kann der Rhythmus
tragende, aber auch impulshafte Funktion besitzen, die zu einem zielgerichteten
musikalisch-melodischen Prozeß führt.

Ein Beispiel für diese impulsgebende Funktion des Rhythmus ist der Beginn der
Melodie “Ein Spaziergang durch Paris” aus der letzten Sitzung der Studie 1:

b Adagio
& b 64 œ ˙ œ
1

b œ ˙ œ n˙
P.
œ ˙

Mithilfe der rhythmischen Zelle, dem jambischen Fuß, eröffnet sich die Patientin den
tonalen Raum.

D ER ANALYTISCHE D ISKURS VON N ATTIEZ

Nattiez (Nattiez, 1990) greift die in den Abschnitten zu den Verfahrensweisen der
musikalischen Analyse dargelegte Problematik der terminologischen Unklarheiten auf,
indem er die elementaren musikalischen Terminologien des melodischen Bereichs
verschiedener theoretischer Abhandlungen und Enzyklopädien, insbesondere der
französischen und englischen Literatur, miteinander vergleicht. Zu den untersuchten
Begriffen gehören: Zelle, Motiv, Figur, Phrase und Periode. Aus seiner Aufstellung
wird deutlich, daß in allen drei Sprachräumen (französisch, englisch, deutsch) keine der
genannten Begriffe in ihrer jeweiligen Literatur standardisiert sind. Auch wenn in diesen
Quellen selbst auf die Unzulänglichkeit solcher Definitionen klar hingewiesen wird, gibt
es dennoch keine gemeinsame Grundlage, von der aus Begriffe definiert werden
können.

Seine Kritik (Nattiez, 1990, S.160) richtet sich insbesondere gegen die Metasprache der
musikalischen, insbesondere melodischen Analyse, die den intuitiven Ideen vieler
Musikwissenschaftler entsprungen ist und sich in vagen Formulierungen äußert, wie
z.B. die "Natur" der Phrase und für ausreichend gehalten werden, jeden musikalischen

162
Text zu bestimmen. So hat für ihn, innerhalb der divergenten Metasprache, diese Art der
intuitiven und vagen Anwendung melodischer Termini das Entstehen einer präzisen
Methodologie verhindert, die es z.B. ermöglichen könnte, eine Phrase klar abzugrenzen
und zu definieren.

Mit seinem Versuch, alle bisherigen Ansätze einer musikalischen Semiotik kritisch zu
durchleuchten, hat er gleichzeitig eine eigene, umfassende Konzeption entwickelt, die er
an verschiedenen Werken dieses Jahrhunderts, darunter Debussy, "Syrinx" und Varese,
"Densitiy 21.5", erprobte. Dabei ist festzustellen, daß Nattiez selbst keine generelle
Definition von den oben erwähnten melodischen Termini entwickelt hat, sondern diese
an verschiedenen Werken des zwanzigsten Jahrhunderts verifiziert.

In seiner Konzeption einer musikalischen Semiotik wurde er durch die Arbeiten von
Ruwet, Jakobson und Levi-Strauss inspiriert. Ein spezifisches Merkmal seines eigenen
Konzepts besteht darin, daß es einerseits eine Semiotik der Musik und andererseits eine
Semiotik des musikwissenschaftlichen Sprachgebrauchs beinhaltet. Diese beiden
Seiten sind für ihn nicht voneinander zu trennen, denn sie repräsentieren in ihrer Einheit
die Semiotik der Musik. Schneider (Schneider, 1980, S. 230) zitiert ihn diesbezüglich:
"Es handelt sich hier in Wirklichkeit um ein Vorhaben, denn die Musik ist nicht
erkennbar ohne Begriffe und der musikwissenschaftliche Begriff bekommt nur einen
Sinn, indem er auf den musikalischen Sachverhalt angewandt wird". Damit nähert er
sich der zuvor dargelegten Position von Dahlhaus (vgl. Abschnitt "Der Analyse-Begriff
im Kontext der historischen Musikwissenschaft", S. 7).

Für Nattiez stellen die Begriffe Phrase und Zelle semiologische Einheiten dar, die mit
Interpretation verbunden sind und die Phrase ganz allgemein als eine längere Einheit in
Kontrast zur Zelle , als der kleinsten Einheit setzen. Seine melodischen Terminologien
wie Zelle, Motiv, Figur, Periode, Phrase gehören zum "niveau neutre", das allgemein mit
der traditionellen Formal-Analyse, also einer technologischen Zergliederung,
vergleichbar ist. Ein Merkmal seines Analyseverfahrens ist die systematische Trennung
des melodischen und rhythmischen Parameters in Verbindung mit einer Zerlegung des
Notentextes von größeren zu kleineren Einheiten fortschreitend und umgekehrt. Auf
diese Weise läßt er z. B. eine Analyse mit der Segmentierung einer kleinsten Einheit
beginnen, um dann die Komplettierung zu größeren Einheiten zu beschreiben, oder der
analytische Ausgangspunkt ist eine größere Einheit, innerhalb der er kleine
Zusammenhänge identifiziert, aus der sich eine Hierarchie verschiedener musikalischer
Ebenen ergeben kann (Nattiez, 1975).

Mit dem "niveau neutre" bezeichnet Nattiez eine Ebene der Analyse, auf der das
analytische Verfahren von Anfang bis zu Ende durchgeführt wird. Der Unterschied zu

163
anderen Formal-Analysen besteht darin, daß während des Analyseverfahrens von
vornherein keine Vorentscheidungen rezeptionstheoretischer Art zugelassen werden,
sondern der analytische Weg, unabhängig von den Ergebnissen, auf der Ebene "neutre"
konsequent bis zu Ende durchgeführt wird. In diesem ersten Analyseverfahren bildet der
Begriff Taxonomie, den er aus der Botanik und Zoologie entlehnt, einen wichtigen
Bestandteil seines methodischen Vorgehens: Um, wie in der Botanik, Einheiten zu
klassifizieren und Beziehungen (Identität, Ähnlichkeit, Transformation) zwischen den
Einheiten in einer Tabelle auflisten zu können, muß auch die Musikanalyse in einer
ersten Phase taxonomisch verfahren (Nattiez, 1975, S. 104). Mit Hilfe der Auflistung
dieser Beziehungen in Form einer Tabelle kann anschließend nach den Funktionen
dieser Einheiten im Hinblick auf die "poietic(s)" und "esthesic(s)" gefragt werden. Das
taxonomische Verfahren geschieht also auf der neutralen musikalischen Ebene ("niveau
neutre") und wird dann mit der poietischen Ebene ("poietic level") und der esthesischen
Ebene ("esthesic level") in Beziehung gesetzt.

Einige in seiner Semiotik verwendeten Begriffe sind in der deutschsprachigen


musikwissenschaftlichen Literatur ungebräuchlich. Dazu gehören die eben genannten
Begriffe "poietic" und "esthesic", als auch das Begriffspaar etisch/emisch, das in der
nordamerikanischen Linguistik gebräuchlich ist. Das zuletzt genannte Begriffspaar ist
der Tagmemik (einer der Richtungen innerhalb der nordamerikanischen Linguistik)
entnommen und von den Bezeichnungen "phonetisch" und "phonemisch" abgeleitet
(Schneider, 1980, S.234). Dieses verdeutlicht, daß der von der Tagmemik
eingenommene Standpunkt, alle Sprachen lassen sich vom etischen Standpunkt aus
direkt beobachten und beschreiben, auch von Nattiez übernommen wird. Er verwendet
das Begriffspaar in ähnlicher Bedeutung, indem er feststellt, daß die Beschreibung oder
Analyse von Musik immer von bestimmten Vorstellungen geleitet wird und von der
Perzeption und einem Urteilsvermögen abhängen. Diese Vorstellungen und die ihnen
entsprechende Analyse sind kulturspezifisch oder wie Nattiez sagt, emischer Natur. Um
sich von solchen kulturspezifischen Auffassungen frei zu machen und die Analyse nicht
gleich zu Anfang von diesen Vorentscheidungen beeinflussen zu lassen, sollte die
Identifizierung von musikalischen Einheiten eines Musikwerkes zunächst mit Hilfe der
etischen Beschreibung vorgenommen werden (Nattiez, 1975, S. 355), das die
Beschreibung des "niveau neutre" ist. Hiermit wird deutlich, daß Nattiez auf
verschiedenen Ebenen der Analyse operiert:

• der Ebene des "Niveau neutre", einer neutralen Ebene in der Musik, auf der sich mit
Hilfe der "etic approach" (Nattiez, 1990, S. 61), also des etischen Ansatzes die erste
Analysephase abspielt, die das reine musikalische Material beschreibt.

• der emischen oder esthesischen Ebene, die von kulturspezifischen Vorstellungen


geleitet ist und mit Hilfe des "emic approach", des emischen Ansatzes beschrieben
wird (Nattiez, 1990, S. 61).

164
Diese beiden Ebenen werden von der poietischen Ebene ("poietic level") unterschieden,
auf der das Musikwerk als solches angesiedelt ist; gemeint ist die eigentliche
musikalische Komposition. In Anlehnung an Nattiez (Nattiez, 1990, S.46) lassen sich
diese drei Ebenen folgendermaßen darstellen:

Poietische Ebene Neutrale Ebene Esthesische Ebene


"poietic level" "neutral level" "esthesic level"
Die Komposition, der Die physikalisch-klangliche Das perzeptive
aktuell hörbare Klang Definition, die Beschreibung Urteilsvermögen im Kontext
der musikalischen des reinen musikalischen kulturspezifischer
Aufführung Materials, das als Notentext Voraussetzungen
vorliegt

Abbildung 8.1: Die verschiedenen Ebenen der Analyse nach Nattiez (Nattiez, 1990 S.
46).

Nattiez macht einen entscheidenden Unterschied zwischen dem musikalischen Zeichen,


einem graphischen Element der Partitur und dem Prozeß der musikalischen Aufführung.
Sowohl die Produktion von Musik (der Kompositionsvorgang) als das durch die
Aufführung sich klanglich entfaltende musikalische Werk gehören dem poietischen
Prozeß an. Der Aspekt des gezielten Hörens, des sinnlichen Erfassens und Erkennens,
also der Perzeption, der aus dem Wahrgenommenen einen Sinn macht, gehört dem
esthesischen Prozeß an.

Anhand dieses für die Analyse aufgestellten, trinomischen, musik-semiologischen


Modells verdeutlicht Nattiez, wie poietische und esthesische Interpreten mit dem
objektiven Material der Musik, das als Partitur vorliegt, verbunden sind: durch die
neutrale Ebene. Für ihn hat somit die Analyse der konstituierenden Bestandteile der
Musik Vorrang. Sie sind die notwendigen Voraussetzungen, die durch die neutrale
Ebene bereitgehalten werden. Der Interpret steht mit seinem Wissen und seiner Intuition
hinter seinem eigenen analytischen Diskurs. Sowohl sein Tazit Wissen als auch seine
persönlich bedingten subjektiven Voraussetzungen, die den von Nattiez geschilderten
kulturspezifischen Beeinflussungen der dritten Ebene entsprechen, fließen in den
esthesischen Prozeß ein. Aufgrund der möglichen Beziehungen zwischen der neutralen
Ebene und den poietischen und esthesischen Prozessen kommt Nattiez (Nattiez, 1990,
S.140) zu sechs analytischen Situationen, die im folgenden wiedergegeben werden
(Siehe Abbildung 8.2)

165
Poietische Prozesse Werkimmanente Esthesische Prozesse
Strukturen
"Poietic processes" "Immanent structures “Esthesic processes”
of the work"

(I) Immanente Analyse

(II)
Induktive Poietik
(III)
Externe Poietik
(IV) Induktive Esthetik
(V)
Externe Esthetik
(VI) K o m m u n i k a t i o n z w i s c h e n d e n d r e i E b e n e n

Abbildung 8.2: Die sechs analytische Stationen nach Nattiez (Nattiez, 1990 S. 140).

Die werkimmanente Analyse (I) ist eine Art des analytischen Vorgehens, das mit einer
impliziten oder expliziten Methodologie arbeitet und nur die dem Werk eigenen
Konfigurationen herausstellt.

Den Terminus "Induktive Poietik" (II) schlägt Nattiez für die Vorgehensweise vor, die
von der neutralen Ebene ausgehend Schlußfolgerungen über den poietischen Prozeß
zieht. Diese Situation erscheint dann, wenn bei der musikalischen Analyse
Rückschlüsse auf die Intention des Komponisten gezogen werden (z.B.die Bedeutung
der Quarten und Quinten innerhalb eines Themas als Grundmotive für das
Gesamtwerk). In vielen Fällen wird der Analytiker durch seine Kenntnisse über die
jeweilige Epoche oder stilistische Merkmale des Komponisten bestätigt.

In der dritten Situation (III) verhält es sich umgekehrt. Hier greift der Analytiker auf ein
poietisches Dokument zurück, das ein Faksimile, Brief, Plan oder skizzenhafter Entwurf
eines Komponisten sein kann und untersucht das Musikwerk im Licht dieser
Informationen. Beides trifft auch auf den esthesischen Prozeß zu.

Die Situation der induktiven Esthesik (IV) ist die am häufigsten vorkommende, da sich
die meisten Musikologen selber in der Position eines kollektiven Bewußtseins von
Zuhörern sehen, mit der Haltung "das ist, was man hört" und ihre Analysen in
perzeptorischer Hinsicht für relevant halten. Diese Art der Analyse gründet sich selbst
auf perzeptorische Introspektion oder auf bestimmte, allgemein verbreitete Ansichten
musikalischer Perzeption wie z.B. die Entdeckung des Kopfmotivs eines Fugenthemas.

166
Andererseits (V) ist es möglich, mit den Perzeptionen der Zuhörer zu beginnen, indem
diese zuerst gesammelt werden, um anschließend ein Verständnis davon zu gewinnen,
wie das Musikwerk von ihnen wahrgenommen und verstanden wurde. Diese Art der
Vorgehensweise wird auch von der Experimental-Psychologie übernommen.

Den fünf analytischen Situationen fügt Nattiez eine sechste (VI) hinzu, die komplexer
Natur ist. Sie kommt dann zum Tragen, wenn eine werkimmanente Analyse
gleichermaßen für den poietischen und esthesischen Prozeß relevant ist. Als Beispiel
hierfür nennt Nattiez Schenkers Theorie. Schenker zieht zwar Beethovens Skizzen als
Ausgangspunkt seiner Analyse heran, demonstriert jedoch gleichzeitig anhand seiner
analytischen Ausführungen, wie das Werk Beethovens gespielt und aufgefaßt werden
sollte. Damit wird es erforderlich genau festzulegen, was die neutrale Ebene mit der
poietischen und esthesischen verbindet. Im Falle Schenkers könnte man zu den
Situationen III und IV zurückkehren und in ihrem Sinne verfahren. Schenkers Appell
für die poietische Ebene ist extern, seine esthesische Ebene hingegen induktiv.

Jenseits dieser Vorgehensweise wäre es desweiteren notwendig, zwischen dem


Deskriptiven und dem Normativen zu unterscheiden.

Vielleicht bringt Nattiez` Trilogie: neutral-poietisch-esthesisch für die Theorie der


musikalischen Analyse keine neuen Erkenntnisse, aber sie bietet die Möglichkeit einer
neuen Art der Organisation musikalischer Informationen zu analytischen Zwecken. Die
von ihm aufgeführten sechs "Haupt-Situationen" der musikalischen Analyse bilden mit
ihrer perspektivischen Tripatition den Rahmen einer systematischen Sichtweise zur
Einordnung und Bestimmung von Analysen. In positiver Weise ermöglicht diese
holistische Sichtweise, das Potential und die Relevanz einer Analyse unter der
Gesamtheit des musikalischen Prozesses zu erfassen und zu definieren, aber ebenso die
Grenzen der musikalischen Analyse darzulegen.

Im folgenden Abschnitt wird erläutert, welche Relevanz die analytischen Situationen


Nattiez’s für die in Teil 2 (Kapitel 4, Abschnitt ‘Elemente phänomenologischer
Forschung’) erläuterten drei Interpretationsebenen haben.

D IE A NWENDUNG N ATTIEZ ` AUF DIE DREI I NTERPRETATIONSEBENEN

Zunächst wird noch einmal an das von Aldridge (Aldridge, 1996c, S.144) entwickelte
Modell der drei Interpretationsebenen erinnert, das die unterschiedlichen Ebenen des
Auslegens bewußt macht und kennzeichnet. Während der musikalische Ausdruck, das
heißt die tatsächlich gespielte Musik, auf der ersten, experimentalen Ebene erscheint,
befindet sich die Analyse, als Enthüllung und Mitteilung des musikalischen Materials,

167
auf der zweiten, phänomenologisch reduzierten Ebene. Die höhere Interpretationsebene
ist die Ebene drei, auf der das Kodieren und Kategorisieren zum Tragen kommen.

Da es sich hier um eine qualitative Forschungsarbeit handelt, in der es auch um die


Erfassung und Beschreibung der gelebten Erfahrung geht, erweist sich diese Methode
als besonders geeignet, denn sie ermöglicht der Forscherin während ihres analytischen
Arbeitens, sich fortwährend bewußt zu sein, auf welcher Beschreibungsebene sie gerade
arbeitet. Darüberhinaus kann mit dieser Methode ein Verständnis davon gewonnen
werden, auf welche Art und Weise Begriffe, Bezeichnungen, Umschreibungen und
Kategorien gebildet werden und wie diese auf die entdeckten Bedeutungsinhalte
bezogen sind. Die Transparenz dieses methodischen Konzepts ermöglicht eine ständige
Überprüfung und Nachweisbarkeit des Beziehungsgeflechts der einzelnen untersuchten
Komponenten.

Aldridge (Aldridge, 1996c) weist auf eine weitere Tatsache hin, die wichtig ist, wenn im
Bereich der aktiven künstlerischen Therapie geforscht wird: Das, was auf der ersten
experimentalen Ebene erscheint, ist von einer künstlerischen, dynamischen Aktivität
bestimmt, die fließenden Charakter besitzt und einer sprachlich grammatikalischen Form
oft unzugänglich ist: "Kunst als aufgeführte Kunst gründet sich auf eine ganz andere
Grammatik als die der Sprache; auf eine der Dynamik, des Prozesses, des Werdens und
des In-Aktion-Kommens" (Aldridge, 1996c, S.163). Damit wird deutlich, daß wir in
dem Versuch, über die Therapie zu sprechen, uns durch den Prozeß des Abstrahierens
von dem eigentlichen Phänomen der musiktherapeutischen Erfahrung wegbewegen.
Spielen wir z. B. einer Kollegin einen Ausschnitt aus einer aufgenommenen
Musiktherapiesitzung vor, würde die Kollegin in dem ihr vorgespielten musikalischen
Ausschnitt eine erfahrene musikalische Situation hören, die bereits einen Schritt von der
originalen Sitzung entfernt ist. Da es sich um technisch aufgenommene Musik handelt,
hat diese bereits etwas von den Qualitäten der unmittelbar erlebten Situation verloren,
auch wenn sie noch, innerhalb der Möglichkeiten klanggetreuer Aufnahmetechniken,
identisch mit der originalen Erfahrung ist. Ähnlich verdeutlicht die Verwendung von
Wörtern wie z.B. die des Wortes "Musik", daß wir nicht nur eine Vorstellung von dem
haben, was wir wahrgenommen haben, sondern durch die besondere Wahl für einen
bestimmten Begriff bereits eine Feststellung über die wahrgenommenen Klänge
getroffen haben. Derartige Abstraktionen sind unvermeidlich, sobald wir beginnen,
Situationen, innerhalb derer wir agieren, zu beschreiben. Mit diesen bewußt
vorgenommenen Beschreibungen innerhalb der Grenzen einer Interpretationsebene,
kann ein Verständnis über die Bildung und Verwendung verschiedenartiger Begriffe
gewonnen und somit Unklarheiten möglichst gering gehalten oder sogar vermieden
werden.

168
Auch Nattiez gibt mit seinem für die Analyse entwickelten trinomischen Modell
Beispiele für unterschiedliche Beziehungen, die sich aus der Beschreibung der Musik
und den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten ergeben, je nachdem, von welcher
Ebene, bzw. Situation der Forscher (Musikologe) ausgeht. Aldridge (Aldridge, 1996c,
S.165) hat diese Beziehungen in die musiktherapeutische Situation und den
musiktherapeutischen Forschungsansatz übersetzt:

A NALYTISCHE S ITUATIONEN MUSIKTHERAPEUTISCHE K ONSTITUTIVE AND


NACH NATTIEZ INTERPRETATIONEN REGULATIVE REGELN
Die Musiktherapiesitzung Konstitutive Regeln
Ebene 1
Die Klänge selbst, die Erfahrung
als solche, die musikalische
Aufführung als Phänomen
I Werkimmanente Analyse, Die Noten und der Notentext Ebene 2
der neutrale Boden der als Beschreibung
Musik, der zu untersuchende musikalischer Ereignisse
physikalische Körper der
Musik, die Partitur
II Induktive Poietik Der musiktherapeutische Aufdeckung und Beschreibung,
Index von musikalischen Beschreibungen der Geschehnisse
Ereignissen in der musiktherapeutischen
Situation
III Externe Poietik Klinische Berichte anderer
praktizierender
Therapeuten/Ärzte,
Zeichnungen und Bilder aus
der Kunsttherapie
IV Induktive Esthesik Musiktherapeutische Ebene 3
Bedeutungsinhalte, Interpretation und Diskurs,
Interpretationen m i t die Beziehung zwischen der
therapeutischer Signifikanz musikalischen oder klinischen
Aktivität und den
Interpretationsschemata
V Externe Esthesik z.B. Methoden der
Psychologie, oder
Beurteilung der gewählten
Episoden durch Experten als
T e i l e i n e r
Forschungsmethodologie
VI Eine komplexe immanente Therapeutische Regulative Regeln
Analyse, die den neutralen Interpretationen, die von
Boden der Musik auf beide, einem bestimmten Schema
die Poietik und Esthesik ausgehen, aber bei
bezieht therapeutischen Erklärungen
intuitiv genutzt wurden

Abbildung 8.3: Die Beziehung zwischen Nattiez` analytischen Situationen,


musiktherapeutischen Interpretationen und den konstitutiven und
regulativen Regeln nach Aldridge (Aldridge, 1996 S. 165).

Dieses von Aldridge entwickelte Schema bietet eine dynamisch-horizontale Sichtweise


an, die den Vorteil hat, daß sie eine Verbindung mit dem Zeitfaktor herstellt, der für die
Musik entscheidend ist und sich in der musikalischen Aufführung realisiert.

169
Die folgenden Erläuterungen dieses Schemas basieren auf den Ausführungen von
Aldridge (Aldridge, 1996c, S.163-172).

Konstitutive Regeln - Ebene eins: Erfahrung - Voraussetzung für die therapeutischen


Beschreibungen, die auf der zweiten Ebene ausgeführt werden, ist die Ebene der aktiven,
musikalisch-schöpferischen Darstellung. Was auf dieser Ebene der musikalischen
Aufführung passiert, das heißt was im aktiven musikalischen Spiel innerhalb der
Musiktherapiesitzung erfahren und erlebt wird, existiert für sich selbst. Dieses sind die
konstitutiven Regeln, die z. B. die Erfahrung von verschiedenen Klängen ermöglichen.

Ebene zwei: Aufdeckung und Beschreibung - Mit Begriffen unserer musikalischen


Fachsprache können wir das ausdrücken, was in der therapeutischen Situation passiert
ist. Diese Beschreibungen, die verifiziert werden können, kommen als lexikalische
Begriffe in unser Bewußtsein. Beispielsweise können wir in der Musiktherapie über die
besonderen Motive oder rhythmischen Muster, in der Kunsttherapie über besondere
Farben und Formen sprechen. Zur Verdeutlichung ist es möglich, diese Dinge anhand
von Tonbandaufzeichnungen und Bildern zu hören, beziehungsweise zu sehen. Hier
haben wir das miteinander geteilte Element der Sprache, das uns zum systematischen
Studium zur Verfügung steht. Diesen Teil unseres alltäglichen Diskurses betrachtet
Nattiez (Nattiez, 1990, S.46,140) als Notentext oder neutrale Verständnis-Ebene, auf der
die werkimmanente Analyse stattfindet (Situation I). Während auf der ersten Ebene
Klänge erfahren werden, wird auf der zweiten Ebene Musik perzipiert und verlangt
deshalb eine Beschreibung, die selbst auf einer Theorie des Perzipienten gestützt ist.
Diese erscheint als Index der musikalischen Ereignisse mit entsprechenden
Beschreibungen des musikalischen Materials und entspricht Nattiez` zweiter Situation,
der Entdeckung besonderer Motive oder Intervalle, die für das Gesamtwerk oder die
Person des Komponisten von Bedeutung sind.

Das Zurückgreifen auf ein poietisches Dokument, das in der dritten analytischen
Situation zum Ausdruck kommt, entspricht der Einbeziehung externer Interpretationen,
bzw. externer klinischer Berichte, die mehr Informationen als die Musik enthalten. Es
zeigt sich hier, daß auch Nattiez als Musikologe bereit ist, in eine musikalische Analyse
mehr als nur die reinen musikalischen Ereignisse einzubeziehen.

Ebene drei: Interpretation und Diskurs - Auf dieser Ebene wird das, was in der Musik
- oder Kunsttherapie passiert mit den Begriffen und Terminologien eines anderen
Systems, d.h. einer anderen akademischen Disziplin wie Psychologie, Psychotherapie
oder ein bestimmtes medizinisches System erklärt. Sobald wir also die Beziehung
zwischen der musiktherapeutischen Aktivität und dem Prozeß des Heilens aufdecken,
sind wir mit Interpretation involviert. Entsprechend hierzu sind die analytischen Ebenen

170
IV bis VI zu sehen, wobei die Komplexität der sechsten Ebene darin besteht, daß
Schlußfolgerungen aus dem Beziehungsgeflecht des neutralen Grundes der Musik mit
der Poietik und Esthesik gezogen werden.

Anhand dieser Sichtweise läßt sich beobachten, wie Konstrukte auf aktive Art und
Weise einen Sinn erhalten, indem sie horizontal betrachtet und miteinander in Beziehung
gesetzt werden. Diese Art der Sichtweise begegnet gleichzeitig einer häufig geäußerten
Kritik am konstruktivistischen Ansatz, der sich durch seine vertikale Form der
Darlegung und Interpretation von Konstrukten als ziemlich statisch erweist (Aldridge,
1996c, S.166). Aldridge schlägt vor, Konstrukte in horizontale Form zu bringen, damit
nicht nur ihre Erscheinungsart (konstitutiv) und Interpretation, sondern auch ihre
Konsequenzen (regulativ) ermessen, bzw. festgestellt werden können. Zur
Verdeutlichung dieser Sichtweise von Konstrukten zieht er ein alltägliches Beispiel
heran: Wir fragen jemanden, warum er etwas getan hat (Grund) und was er daraufhin als
nächstes getan hat (Tat). Zunächst versuchen wir also ein Verständnis von etwas zu
gewinnen, um anschließend feststellen zu können, was die konsequente Aktion war.
Aldridge (Aldridge 1993a) entwickelte daraus einen formellen theoretischen Ansatz von
konstitutiven (das, was einen Sachverhalt bestimmt; das, was ein Motiv bestimmt) und
regulativen Regeln (die Aktion, die aus dem Sachverhalt folgt; das, was mit einem Motiv
gemacht wird), die auf persönlichen Auffassungen gegründet sind. Konstitutive Regeln
stellen also einen bestimmten Sachverhalt oder einen bestimmten Zustand, wie z.B. den
einer Erkältung dar, regulative Regeln sind dann aufgerufen, wenn sich eine besondere
Aktivität anschließt wie die, sich ins Bett zu legen. Einen Sinn von etwas zu machen (vgl.
das zuletzt genannte Beispiel) gründet sich also auf Regeln (konstitutiven und
regulativen).

Mit Hilfe dieser Form der analytischen Methode von konstitutiven und regulativen
Regeln kann klinisches Textmaterial (Externe Poietik) bearbeitet und analysiert werden.
Auf diese Weise können Musiktherapeuten verdeutlichen, wie sie ihre klinische
Argumentationsweise bilden, die sich auf spezifische Ereignisse des Therapieverlaufs
gründet. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, daß die konstitutiven und regulativen
Regeln nicht im Sinne fixierter, niedergeschriebener Regeln zu verstehen sind. Sie
repräsentieren das, was im aktuellen musikalischen Spiel passiert ist. Damit bilden diese
"Regeln" eine Form der Strukturierung klinischen Wissens. Sie könnten in
Zusammenarbeit mit anderen Klinikern angewendet werden, um herauszufinden, ob
bestimmte Formulierungsweisen dem Verständnis der Kliniker und dem der
Musiktherapeuten entsprechen. Es ist wichtig zu betonen, daß diese Regeln für den
Therapeuten und seinen Patienten spezifische Regeln darstellen, die deshalb nicht
generalisiert werden können.

171
Wenn also konstitutive Regeln generell auf den Sinn und die Bedeutung von Zuständen,
bzw. Phänomenen bezogen sind, beziehen sich regulative Regeln auf das Prozeßhafte,
auf die Verbindung beider Elemente: Sinn und Aktion. Auf diese Weise kann
nachvollzogen werden, wie das Datenmaterial aus dem Text klinischer Berichte,
entsprechend einer Verständnishierarchie, zusammengestellt worden ist. Desweiteren ist
es möglich, zu erkennen, auf welcher Ebene das musikalische Verhalten beschrieben
wurde und wie diese Beschreibungen im weiteren Verlauf interpretiert wurden. Auf
diese Art und Weise erhält man einen Indikator über die Komplexität des
musiktherapeutischen Diskurses. Beides kann somit ausgedrückt und erklärt werden:
das, was in der Musiktherapie stattfindet und das darauf bezogene Verständnis der
Musiktherapeutin/Forscherin.

Zur Verdeutlichung wird ein Beispiel für die Bildung einer konstitutiven und regulativen
Regel im Kontext eines musiktherapeutischen Ausschnitts aus der ersten Studie
gebracht (s Abb. 8.4). Der Kontext ist durch die in Teil IV gewonnenen Kategorien der
Episoden bestimmt, die dort näher erläutert werden.

Diese Form der analytischen Methode von konstitutiven und regulativen Regeln bildet
quasi den Hintergrund meines Index, der den Verlauf der Musiktherapiesitzungen und
ihre ausgewählten Ausschnitte (Episoden) dokumentiert. Im Appendix-Teil wird die
Form des Index (4 Spalten-Index) an Hand eines Beispiels näher erläutert.

Das Schema von Aldridge ist, wie die Konstrukt-Methode von Kelly (vgl. Kapitel 6),
eine Form qualitativer Selbsterforschung. Es ermöglicht mir, mein Verständnis über die
eigenen Vorgänge der Analyse und Interpretation kontinuierlich zu überprüfen, indem
ich den Ablauf meiner Schlußfolgerungen offenlege.

172
Epi

M Int K n,m
Ebene1 Ebene2 Ebene3

Epi = Kategorien der Episoden


= ‘im Kontext von ’
Mu = musikalisches Beispiel, Ebene 1
= ‘wenn.....dann’
Int = Interpretation, Ebene 2
= ‘zählt als’
K = Kategorie der Konstrukte

n,m = musiktherapeutische Bedeutung , Ebene 3

(Epi) Formbildend auf den musikalischen Kontext einwirken

œœœ Motiv
AKTION,
Baustein für ein Thema
(Mu, (Interpretation) zählt als (Kategorie,
musikalisches Beispiel) Bedeutung)

Ebene1 Ebene2 Ebene3

Abbildung 8.4: Konstitutive und regulative Regeln für die musiktherapeutische


Improvisation nach Aldridge (1996).

Z USAMMENFASSUNG

Dieses Kapitel verfolgte das Ziel, eine Methode der musikalischen Analyse zu erkunden,
die dazu verhilft, die Entwicklung einer Melodie im Kontext der improvisierten
Musiktherapie aufzudecken. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Ausgangspunkt für
das zu analysierende Datenmaterial von vornherein festliegt: es handelt sich nicht um
komponierte Kunstmusik, die analysiert werden muß, sondern um improvisierte Musik,
die im klinischen Kontext, aus dem Moment heraus entstanden ist und im nachhinein
aufgeschrieben und ins Notenbild übertragen wurde.

Der Grundstock des Datenmaterials bilden also die Improvisationen beider Studien, die
durch die Anwendung des methodischen Verfahrens der Grounded Theory und mit
Hilfe des Naturalistischen Forschungskreislaufs eine Konzentration auf bestimmte
spezifische Ausschnitte, die Episoden erfahren haben (s. hierzu die näheren

173
Erläuterungen in Kapitel 10). Die somit von mir mehrmals gehörten und anschließend
notierten Improvisationsausschnitte (Episoden) der Therapiesitzungen können als eine
Form des “Zusammenfügens” der gespielten Musik betrachtet werden, die die visuelle
Grundlage des Notenmaterials bildet. Entsprechend der Forschungsfrage gilt es also,
nach den Quellen der Melodiebildung und des musikalischen Ausdrucks zu forschen,
die sich durch die Existenz individuell gestalteter Parameter und ihrer
Wechselbeziehungen ergeben. Demnach bietet es sich an, nach den Einzelheiten zu
schauen, das heißt nach individuellen Ausdrucksmustern und nach der Art und Weise,
wie diese in den Improvisationen verknüpft werden. Die Untersuchung richtet sich also
auf die Erscheinung rhythmischer, melodischer und harmonischer Motive, auf die Art
und Weise, wie sie gebildet werden, wie sie verknüpft und zu übergeordneten Einheiten
geformt werden und in welchem Maße sie zur Expressivität beitragen. Hierzu verhilft
Nattiez` neutral-poietisch-esthesische Trilogie.

Da es im Spiel der Patienten um intrapersonelle und im Spiel mit der Therapeutin um


interpersonelle Beziehungen geht, sind es die idiographischen Muster und Motive, die
am meisten Auskunft geben können über Absichten und Tendenzen im Spielausdruck
des Patienten. Die Betrachtung des Details und seine Weiterentwicklung im interaktiven
Spiel von Patientin und Therapeutin kann das individuell Prägende im musikalischen
Spiel der Patienten aufdecken. Es kann eine ganze Improvisation oder mehrere
Improvisationen durchdringen und zur individuell-spezifischen Struktur der Musik des
Patienten beitragen. Somit ist es zweckmäßig, im Sinne von Nattiez` Segmentierung
nach Teilmomenten (Motiven, Zellen) zu suchen, die in Abhängigkeit von und im
Zusammenwirken mit anderen musikalischen Aspekten ihren vollen Sinn entfalten. Sein
Verfahren deckt sich in dieser Hinsicht mit traditionellen Analyseverfahren, die die
Trennung der musikalischen Parameter in Verbindung mit einer Zerlegung des
Notentextes von größeren zu kleineren, beziehungsweise kleineren zu größeren
Einheiten fortschreitend, vornehmen. Die Möglichkeit des Zurückgreifens auf und
Weiterentwickelns von Motiven durch die verschiedensten Formen des Veränderns und
Variierens könnten die Entwicklungsmomente im Spiel der Patienten verdeutlichen und
unter Umständen den Nachweis erbringen, daß sie eine innere Wandlung vollzogen
haben. Alles zusammen macht die Form des Ausdrucks aus. Dabei kann davon
ausgegangen werden, wie es ähnlich auch von Meyer und Palmer gesehen wird (Meyer,
1996; Palmer, 1996a), daß die äußere Gestalt mit dem inneren Gehalt korreliert. Die
musikalische Idee, die sich in den musikalischen Teilmomenten manifestiert, realisiert
sich in ihrer äußeren, zusammenhängenden Form und erhält in ihrer äußeren Gestalt ihre
eigene individuelle Ausdruckskraft.

174
Die Möglichkeit der Integration der analytischen Situationen von Nattiez mit
musiktherapeutischen Interpretationen und den konstitutiven und regulativen Regeln
nach Aldridge stellt eine flexible Handhabung in der Analyse und Interpretation des
musiktherapeutischen Datenmaterials bereit. Sie hat den Vorteil, daß mit ihr
Gedankengänge und Schlußfolgerungen immer transparent gemacht werden können.

Nachdem in diesem dritten Teil der Arbeit die Voraussetzungen zur musikalischen
Analyse im Kontext der Forschungsstudie geschaffen worden sind, ist es nun wichtig,
nach den eigentlichen, therapeutischen Kriterien zu fragen, die in den Studien 1 und 2
eine Rolle spielen. Hierzu wird die Persönliche Konstrukt - Methodik herangezogen, die
zu diesem Zweck noch einmal eine Spezifizierung erfährt, um die therapeutischen
Kategorien zu generieren, die der Analyse des Datenmaterials zugrundegelegt werden.
In dem folgenden vierten Teil dieser Arbeit wird die eigene Methodik entworfen und auf
beide Studien angewendet.

175
Teil IV Kapitel 9
Studie I: Die Entwicklung einer Melodie im Verlauf einer
Improvisation: “Ein Spaziergang durch Paris”

Dieser vierte Teil der Forschungsarbeit kann als eine Art “Entdeckungsreise” in das
Datenmaterial beider Studien betrachtet werden. Als ihr Wegweiser dienen die in Kapitel
10 detailliert aufgeschlüsselten spezifischen Methoden des höranalytischen Prozesses.

In der ersten Studie geht es um die Entwicklung einer Melodie mit einer
Brustkrebspatientin, in der zweiten Studie um die Entwicklung einer Melodie mit einem
Patienten der psychosomatischen Station, der an einer funktionell somatisierenden,
reaktiven Depression erkrankt ist.

Da der Fokus dieser Arbeit auf der Entwicklung der Melodie liegt, spielt die Krankheit
als solche nur eine untergeordnete Rolle. Um jedoch einen Einblick in den klinisch-
therapeutischen Kontext gewinnen zu können, wird zunächst in den ersten beiden
Abschnitten der Studien (s. ‘Der therapeutische Kontext’ und ’Die Krankheit im
Kontext’) das klinisch-therapeutische Umfeld umrissen. Die Erläuterung dieses
Kontextes ist, wie zuvor dargelegt (vgl. Kapitel 1 ‘Melodie im Kontext der
Musikbetrachtung’ und Kapitel 3 ‘Musiktherapeutische Aspekte in ihrem Kontext’),
wichtig, um den Einfluß der verschiedenen Aspekte auf die therapeutische Arbeit sowie
ihre vielfältigen Interaktionen im Bewußtsein zu haben und bei der Auswertung der
Studien mit zu berücksichtigen.

Im Anschluß an die ersten beiden Abschnitte werden die jeweiligen Melodien: “Ein
Spaziergang durch Paris” (Kapitel 9, Studie 1) und “Die Abschiedsmelodie” (Kapitel
13, Studie 2) vorgestellt und analysiert. Beide Melodien sind in der letzten
Therapiesitzung der Patienten entstanden, die für beide gleichzeitig den Abschluß des
stationären Aufenthalts, d. h. den Abschied von den Stationen und die Rückkehr in ihre
Alltagswelt bedeutete.

Das Miterleben und Betroffensein von der Ausdrucksqualität beider Melodien sowie
das Einbezogensein in die sich entfaltenden melodischen Gestalten bildeten die
Motivation und den Ausgangspunkt für diese Forschungsstudie (vgl. Einleitung). Es
war das Erlebnis des gemeinsamen Teilens von Momenten innerhalb eines Prozesses,
der zu einer umfassenden Melodie führte und somit Bedeutung erlangte. Es war auch
ein Erleben der individuellen Ästhetik des Momentes, die von den Patienten zum
Ausdruck gebracht wurde und in ihrer dynamischen Expressivität nicht nur auf den
Augenblick des Jetzt-Erlebens, sondern auch auf einen Wandel, d. h. auf neue, in der

176
Zukunft liegende Möglichkeiten hinwies. Beide Melodien wurden von mir als eine Art
Höhepunkt in der therapeutischen Behandlungsphase erlebt, der gleichzeitig den
Abschluß dieses Zeitabschnitts bildete.

Die Hypothese dieser Forschungsarbeit hat sich somit insbesondere aus diesen beiden
Studien und meinen Erfahrungen in den klinisch ausgerichteten Improvisationen
entwickelt, in denen melodische Elemente eine signifikante Rolle spielten. Sie wird an
dieser Stelle noch einmal in Erinnerung gerufen: Es wird die Hypothese aufgestellt, daß
mit der melodischen Improvisation Patienten die Möglichkeit geboten werden kann, ihre
durch die Krankheitssituation bedingten heftigen und zum Teil konträren Gefühle, das
heißt ihre inneren Realitäten in eine für sie expressive Form zu bringen, die dynamisch
und wandelbar ist. Wenn dieses möglich ist, besteht der Grund meines
Forschungsprojekts darin, festzustellen, wie wir (Patient/in und Therapeutin) den
Moment erreicht haben, aus dem heraus sich die Melodie geformt hat. In den beiden
folgenden Studien wird es meine Aufgabe sein, herauszufinden, welche Elemente aus
den Improvisationen der Musiktherapiesitzungen Anteil an der sich später formenden
Gestalt der Melodie haben. Die Hypothese verdeutlicht also das Auftauchen und die
Bildung einer Melodie in der Therapie.

D ER THERAPEUTISCHE K ONTEXT

Im ersten Teil dieser Forschungsarbeit wurde bereits ein kurzes Bild vom klinisch-
therapeutischen Kontext beider Studien gegeben. Wir wissen, daß die
musiktherapeutischen Sitzungen ihre besondere Prägung nicht nur von der
Patient/Therapeut - Beziehung erhalten, sondern auch von dem jeweiligen, sie
umgebenden Kontext, der im umfassendsten Sinne kulturell sein kann. Der
Zusammenhang dieses Gefüges wurde bereits in Kapitel 3, Abb. 3.1 ‘Musiktherapie im
Kontext der Gesundheitskultur’ thematisiert und wird hier in bezug auf die erste Studie
spezifiziert.

Die Abbildung 9.1 verdeutlicht, daß die Musiktherapiesitzung in das Gesamtkonzept


des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke eingebettet ist. Dieses ist wiederum
abhängig von der Gesundheitspolitik, die durch ihre politische Einflußnahme, z.B.
Reformpakete, Sparmaßnahmen, Rationalisierung und Optimierung,
Krankenversicherungen, sich unmittelbar auf die verschiedenen
Kunsttherapieeinrichtungen auswirken kann.

177
Gesundheitskultur

Krankenhaus

Therapiekonzepte
Stationskultur

Musiktherapie Allgemein
Sitzung

Schöpferische
Musiktherapie
Spezifisch
Onkologische Station
Anthroposophische Medizin

Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke

Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 9.1: Schöpferische Musiktherapie im Kontext der Krankenhauskultur.

Krankenhaus

Träger des Krankenhauses in Herdecke ist der Gemeinnützige Verein zur Entwicklung
von Gemeinschaftskrankenhäusern e.V. Dieser Verein entstand aus einer Initiative
junger Ärzte und Medizinstudenten heraus, die sich insbesondere der klinischen
Weiterentwicklung der anthroposophischen Medizin widmeten. Begonnen hatte dieser
Impuls mit der Einrichtung des klinisch-therapeutischen Instituts in Arlesheim
(Schweiz) und führte 1960 zur Gründung des Gemeinnützigen Vereins zur Entwicklung
von Gemeinschaftskrankenhäusern. Eine der zentralen Gründungspersönlichkeiten des
Herdecker Krankenhauses hat wesentlich dazu beigetragen, daß die anthroposophische
Therapieeinrichtung als Teil einer pluralistischen Medizin ins Arzneimittelgesetz
aufgenommen wurde.

Alle Stationen des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke orientieren sich an einem


Menschenbild, das den Menschen als ein körperliches, seelisches und geistiges Wesen
in seinen Schicksals - und Lebensbezügen begreift. So werden auch von diesem
Verständnis des Menschenbildes ausgehend, die kulturellen Angebote im

178
Gemeinschaftskrankenhaus organisiert. Entsprechend definiert sich die
Krankenhauskultur durch ein breites Angebot von Konzerten für Patienten, Mitarbeiter
und Freunde, Theateraufführungen, Ausstellungen, Vorträge, Lesungen sowie andere
interne Veranstaltungen zu den jeweiligen Jahreszeiten.

Die anthroposophische Medizin wird im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke nicht als


prinzipielle Alternative gesehen, sondern als eine Erweiterung der naturwissenschaftlich
orientierten Medizin. Berücksichtigung erfährt dabei die Einsicht, daß die auf den
Körper fixierte Medizin überwunden werden sollte durch eine Auffassung von
Krankheit und Gesundheit, die auch die seelischen, geistigen und sozialen Dimensionen
des Menschen miteinbezieht. Die Erfassung der Wechselwirkungen dieser
Dimensionen ist eines der Ziele des medizinischen Gesamtkonzepts des
Gemeinschaftskrankenhauses. Aufgrund der auf diese Art gewonnenen Einsichten
werden mit Blick auf den Patienten differenzierte Therapiekonzepte aufgestellt, die nach
individuellen Gesichtspunkten in gemeinsamer Absprache mit dem behandelnden Arzt,
den Pflegenden und Therapeuten getroffen werden. Dabei wird auch die Mitwirkung
des Patienten am eigenen Heilungsprozeß als entscheidend betrachtet. Seine innere
Kraft und sein Wille zur Heilung stehen im Mittelpunkt bei der Aufstellung von
Therapiekonzepten.

Stationen

Auf allen Stationen sind die Behandlungsmethoden ganzheitlich orientiert. Die Pflege
und die erweiterten Therapieformen sind darauf ausgerichtet, die Selbstheilungskräfte
und Entwicklungsmöglichkeiten der Patienten in körperlichen, seelischen, initiativen und
sozialen Prozessen zu wecken und zu fördern. Die Therapieabteilungen des
Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke weisen eine breite Fächerung in Bäderabteilung
(Rhythmische Massage und Rhythmische Bäder in der Physiotherapie),
Krankengymnastik, Logopädie, Ergotherapie und Reittherapie auf. Als Kunsttherapien
sind Eurhythmie und Heileurhythmie, Maltherapie, Musiktherapie und Plastiziertherapie
vertreten. Darüberhinaus gibt es unterstützende Einrichtungen wie z.B.
Krankenhausseelsorge und Sozialdienst.

Auch auf der onkologischen Station wird die Arbeit der Ärzte, Pflegenden und
Therapeuten von dem Gedanken getragen, daß der Einzelmensch das Maß für den
therapeutischen Prozeß bildet und daß er als Individualität entscheidend am Geschehen
dieses Prozesses beteiligt ist. Die medikamentöse Therapie wird durch äußere
Anwendungen wie Bäder, Wickel, Auflagen, Fiebertherapie, Misteltherapie und
Kunsttherapien ergänzt.

179
Musiktherapeutischer Ansatz

Die hier angewandte therapeutisch-kreative Form der Musiktherapie ist auf der von
Nordoff und Robbins (Nordoff & Robbins, 1977), ursprünglich für geistig, emotional
und physisch behinderte Kinder, initiierten Methode gegründet, die später an der
Privaten Universität Witten/Herdecke für die Arbeit mit erwachsenen Patienten
weiterentwickelt wurde (vgl. Kapitel 3 ‘Improvisation als Kenpunkt therapeutischen
Handelns’). Mittelpunkt des musiktherapeutischen Geschehens ist die von Patient und
Therapeut gemeinsam ausgeführte Improvisation auf unterschiedlichen rhythmisch-
melodischen Instrumenten. Es ist ein kreativer Ansatz, der den Therapeuten auf drei
Ebenen involviert: 1. der Ebene, auf der er die musikalischen Quellen erzeugt und
therapeutisch einsetzt; 2. der Ebene, auf der er seine therapeutischen Erfahrungen und
klinischen Techniken kreativ von Moment zu Moment nutzt; 3. der Ebene, auf der er den
Therapieprozeß von Sitzung zu Sitzung gestaltet, indem er den Patienten durch die
verschiedenen Stadien seiner Entwicklung hindurch kreativ unterstützt.

Diese Form der Musiktherapie ist als “approach” zu verstehen, das heißt, sie zeigt
vielfältige Wege auf, wie einem entwicklungsverzögerten Kind begegnet werden kann
und bietet eine Reihe verschiedener Techniken an, die eine therapeutische Arbeitsform
entstehen lassen können. Grundlage dieser Arbeitsform bilden die Beantwortung der
individuellen Bedürfnisse des Kindes und die eingesetzten, individuellen klinischen
Mittel des Therapeuten. Diese Form der improvisatorischen Musiktherapie ist
keineswegs als allgemeinverbindliche Methode zu betrachten, die mit feststehenden
Regeln arbeitet. Ihre Komponenten sind idiosynkratisch ausgerichtet und
berücksichtigen die Individualität des Kindes und die des Therapeuten. So muß in dieser
“komponierten” Form der Musiktherapie jeder Therapeut entsprechend seiner eigenen
individuellen musikalischen Fähigkeiten seinen eigenen therapeutischen Weg finden
und gestalten.

Der ausgesprochen individuelle Charakter jeder Improvisation macht das transpersonale


Ereignis dieser therapeutischen Situation deutlich, bei der jede Aktivität unlösbar von der
des Therapeuten ist (Aldridge, 1993a).

Dieser individuelle Charakter der therapeutischen Improvisation macht es gleichsam


erforderlich, nach Kriterien zu suchen, die das transpersonale Ereignis im musikalisch
interaktiven Spiel von Patient/in und Therapeutin aufdecken. In den Kapiteln 10 und 13
werden, wie bereits angekündigt, auf der Grundlage der Persönlichen Konstrukt -
Methodik die therapeutischen Kategorien beider Studien erzeugt. Sie bilden quasi das
Substrat für die Analyse und Interpretation des Datenmaterials.

180
Die musiktherapeutische Behandlungsphase spielte sich für die Patientin der ersten
Studie während ihrer relativ kurzen, zwei bis drei Wochen umfassenden, postoperativen
stationären Phase ab und erstreckte sich auf insgesamt sechs Sitzungen. Diese fanden
zweimal wöchentlich für jeweils 45 Minuten statt.

D IE K RANKHEIT IM K ONTEXT

“Frage nicht, welche Krankheit die Person hat,


sondern welche Person die Krankheit hat”

(Sacks, 1995, S. 9)

Im folgenden Abschnitt wird kurz auf die Bedeutung der Krebserkrankung in unserer
Gesellschaft eingegangen und auffällige Merkmale der psychologischen, soziologischen
und musiktherapeutischen Literatur hervorgehoben. Eine detailliertere Ausführung
dieses Krankheitsbildes findet sich im Artikel “A walk through Paris”: The
development of melodic expression in music therapy with a breast-cancer patient
(Aldridge, 1996d). Sinn dieses Abschnitts ist, den Kontext dieser Krankheit so
darzulegen, daß der Leser einen informativen Einblick in dieses Krankheitsbild erhält.
Es wird erhofft, daß dieser Einblick ihm erlaubt, die Ergebnisse der ersten Studie vor
diesem Hintergrund in einer umfassenderen und breiteren Sichtweise betrachten zu
können. Eine Kurzinformation zur Krankheitssituation der Patientin selbst wird am
Ende dieses Abschnitts gegeben.

Brustkrebs

Brustkrebs ist unter den rund 200 verschiedenen Krebsarten die verbreiteste unter
Frauen mit steigender Tendenz. Gleichwohl werden bei ihr die höchsten
Überlebensraten festgestellt.

Die Bedeutung der Diagnose Krebs und die Rolle, die diese Krankheit in unserer
Gesellschaft spielt, ist in der Literatur häufig reflektiert. Krebs, eine Erkrankung des
Körpers, die sich ausdehnt und verbreiten kann, wird in unserer Gesellschaft nicht nur
als Krankheit betrachtet, sondern erscheint z.T. als bösartiger, unbezwingbarer Feind,
der das eigene Leben mit allen beruflichen Möglichkeiten und Aufstiegschancen
gefährden kann. Susan Sontag (Sontag, 1993) spricht der Krankheit Krebs, deren
Kausalität noch im Dunkeln liegt, die größte Möglichkeit zu, der Gesellschaft als
Metapher zu dienen, was moralisch als falsch empfunden wird. Ähnlich äußert sich
Wilkinson, die es nicht für einen Zufall hält, daß diese Krankheit oft innerhalb eines
moralischen Kontextes betrachtet wird (Wilkinson & Kitzinger, 1993).

181
Die Erfahrung von Brustkrebs ist in unserer westlichen Gesellschaft, in der die Brust
der Frau ein Teil des kulturellen Codes für Feminität und Sexualität bedeutet, besonders
tief und kann psychische Traumata hervorrufen (Wear, 1993). Die am meisten
gefürchtete Folge dieser Krankheit ist die Verstümmelung oder Amputation eines Teils
des Körpers, den damit verbundenen Schmerzen, der Ungewißheit des
Behandlungserfolges, der Angst vor einem Wiederauftreten des Krebses und der Angst
vor dem Tod. Mit dieser Krankheit werden also fundamentale Ängste hervorgerufen, die
mit Empfindlichkeit, Hoffnungslosigkeit und der Ungewißheit vor der Zukunft
assoziiert sind (Wong & Bramwell, 1992). Im Stadium dieser tiefsten Unsicherheit
können Fragen nach Schuld, nach eigenem Fehlverhalten auftauchen und Dinge, die
man am meisten fürchtet, können leicht mit der Krankheit identifiziert werden, die als
abstoßend und häßlich empfunden wird.

Coping und psychosoziale Faktoren

Die zahlreichen physischen, sozialen und emotionalen Belastungsfaktoren, die von


Patientinnen ertragen werden müssen, machen den Gebrauch von Coping-Mechanismen
erforderlich, um das innere Gleichgewicht aufrechterhalten zu können. Die meist
zitierten Indikatoren sind: Depression, Angst, Ärger, Fatigue, Verzweiflung und
Unsicherheit. Die psychologischen Auswirkungen dieser lebensbedrohenden Krankheit
wurden mit unterschiedlichen Schwerpunkten (psychologisch, psychosozial,
Copingforschung) in verschiedenen psychoonkologischen Forschungen intensiv
untersucht (Berti, Hoffmann & Möbus, 1993; Carter, 1993; Carter & Carter, 1993;
Carter, Carter & Prosen, 1992; Cunningham, 1993; Geyer, 1993; Hürny et al., 1993;
Nelson, Friedman, Baer, Lane & Smith, 1994; Rawnsley, 1994; Shapiro, Rodrigue,
Boggs & Robinson, 1994; Stanton & Snider, 1993; Wong & Bramwell, 1992).

Ergebnisse dieser Studien weisen auf den positiven Effekt von psychosozialen
Interventionen hin, die die Krankheitsprogression beeinflussen können. Spiegel
(Spiegel, 1991) untersuchte in seiner Studie mit Brustkrebspatientinnen den Effekt von
psychosozialer Intervention auf die Stimmung und das Schmerzempfinden seiner
Klientinnen und stellte eine positive Wirkung auf diese Variablen fest, die sich nicht nur
in einer Reduzierung von Stimmungsschwankungen und geringerem Schmerz äußerten ,
sondern ebenso durch verminderte Phobie und bessere Copingreaktionen. Für ihn liegt
der Vorteil psychosozialer Interventionen somit in einer grundsätzlichen Verbesserung
der Lebensqualität der Klientinnen. Auch im Hinblick auf die Verstärkung des
Optimismus bilden psychologische Interventionen einen signifikanten Beitrag zur
Krebsbehandlung. Was diese Tatsache so evident macht, ist nicht nur die Reduzierung
der Gefühle von Isolation und Hoffnungslosigkeit, sondern eine festzustellende
Zunahme der natürlichen Killerzellen, die einen wichtigen Teil des

182
Immunabwehrsystems gegen Krebs bilden (Andersen, 1992; Eysenck, 1994; Levy et al.,
1992).

Allgemein wird in der Literatur die Hospitalisationsphase mit der Operation als eine der
schwierigsten Perioden während des gesamten Krankheitsverlaufs bezeichnet (Heim,
Augustiny, Schaffner & Valach, 1993; Stanton & Snider, 1993). Die Patientinnen sind
nicht nur mit dem Risiko der Operation und einer möglichen negativen Prognose
konfrontiert, sondern mit dem Verlust der Brust, was nicht nur ein gestörtes
Körperimage nach sich zieht, sondern auch eine verminderte Selbstachtung. Die
Forderung nach emotionaler Unterstützung der Patientinnen während dieser belastenden
Zeitphase ihrer Krankheit ist ein häufig wiederkehrendes Thema in der Nursing-
Literatur (Carter, 1993; Carter, 1994; Wong & Bramwell, 1992). Ergebnisse einer in
Schweden durchgeführten Studie von Palsson und Norberg (Palsson & Norberg, 1995)
konnten bestätigen, daß sowohl emotionale Unterstützung als auch eine neustrukturierte
Fürsorge (wie z.B. kürzere Wartezeiten zwischen Diagnose und zytologischer
Untersuchung, persönliche Gespräche mit dem Arzt und einer Krankenschwester über
die Diagnosen, die während des Krankenhausaufenthalts weitergeführt werden oder der
Kontakt zu einer Gemeindeschwester schon während der stationären Zeit und nach der
Entlassung aus dem Krankenhaus) bei vielen Patientinnen zu verstärkten Gefühlen der
Sicherheit und des Geschütztseins führten.

Brustkrebs und die Musiktherapie

Bedingt durch den besonders hohen, streßvollen Charakter der Krebserfahrung verlangt
die Krebsbehandlung eine komplexe Behandlungsmethode, die über das rein
Medizinische hinaus psychologische, psychosoziale und soziale Aspekte miteinbezieht.
In diesem Zusammenhang hat auch die Musiktherapie, die insbesondere auf die
emotionalen Belastungsfaktoren einwirken kann, an Bedeutung gewonnen.

Im "Supportive Care Program of the Pain Service" der Neurologischen Station des
Sloan-Kettering Cancer Center New York wird Musiktherapie zur Beruhigung
eingesetzt, um Angst zu reduzieren, Entspannung zu begünstigen, um andere
Schmerzkontrollmethoden zu unterstützen und die Kommunikation zwischen Patient
und Familie zu verbessern (Bailey, 1983; Bailey, 1985; Bailey, 1986; Coyle, 1987). Da
Depressionen bei dieser Patientengruppe eine häufige Erscheinung sind, ist es denkbar,
daß die Musiktherapie auf diesen Parameter einen Einfluß hat und zur Aufbesserung der
Lebensqualität beitragen kann.

Heyde und von Langsdorff (Heyde & v. Langsdorff, 1983) heben hervor, wie wertvoll
ein Therapieprogramm sein kann, das gleichzeitig aktiv und perzepierend ist. Im

183
Erlebnis der Entdeckung ungeahnter Fähigkeiten sehen sie eine Chance für die
Entwicklung neuer Kräfte. Erfolgserlebnisse im schöpferisch - künstlerischen Handeln
könnten ihrer Meinung nach zum Abbau der individuellen und völlig unterschiedlichen
psychosozialen Probleme führen. Allerdings fehlen hier noch die Beweise.
Anhaltspunkte für die positive Wirkung der Musik - und anderen Kunsttherapien sind
meistens subjektiv.

Bailey entdeckte bei Krebspatienten eine signifikante Besserung der Gemütsverfassung,


wenn ihnen statt Tonbandkassetten Live-Musik vorgespielt wurde. Dieses führte sie auf
das menschliche Element des stärkeren Involviertseins zurück (Bailey, 1983).

Eine wichtige Rolle spielt auch der rezeptive Einsatz von Musik während der
Chemotherapie. Hier dient sie als Mittel zur Entspannung und Ablenkung (Kammrath,
1989). Es wird berichtet, daß viele Krebspatientinnen eine allgemeine Linderung
verspüren und daß Übelkeit wie auch Erbrechen reduziert sind (Kerkvliet, 1990). In
einer Studie von Frank (Frank, 1985), bei der Musikkassetten und ‘Guided imagery’ im
Zusammenhang mit pharmakologischen Mitteln gegen Erbrechen eingesetzt wurden,
konnte festgestellt werden, daß die ‘State anxiety’ eindeutig reduziert wurde, mit einer
anschließenden deutlichen Abnahme von Erbrechen. Übelkeit wurde hingegen nicht
reduziert. Die Tatsache, daß die Probanden Erleichterung empfanden, wurde als ein
ermutigendes Zeichen betrachtet, Musiktherapie als ergänzende Behandlungsform
einzusetzen.

Musiktherapie und Schmerzlinderung

Die ablenkende Wirkung von Musik konnte auch im Rahmen der Schmerzbehandlung
beobachtet werden. McCaffery (McCaffery, 1990) setzte Musiktherapie bei einer
pharmakologischen und einer nicht pharmakologischen Methode der
Schmerzbehandlung von Krebspatienten mit chronischen Schmerzen ein, wobei die
nicht pharmakologische Intervention in Form des rezeptiven Einsatzes von Musik
innerhalb einer Entspannungstherapie vom Schmerz ablenkte.

In Schmerzkliniken wird Musik ergänzend als linderndes Mittel (Foley,


1986)herangezogen (Foley, 1986). In einer Studie von Zimmermann (Zimmermann,
Pozehl, Duncan & Schmitz, 1989) wurde einer Kontrollgruppe mit Patienten, die an
chronischen Schmerzen litten, ihre Lieblingsmusik vom Tonträger in Verbindung mit
Suggestion vorgespielt. Man versuchte den Einfluß dieser Art der Musikeinwirkung auf
die Kontrollgruppe zu untersuchen und stellte fest, daß sich nicht nur das emotionelle
Leiden, sondern auch die aktuellen physischen Schmerzen verringert hatten. Dieses

184
würde bedeuten, daß der Einsatz von Musiktherapie eine unmittelbare Wirkung auf
sensorische Parameter hätte.

Musiktherapie und Coping

Die bereits erwähnte Möglichkeit, mit der Musik einen positiven Einfluß auf Emotionen
gewinnen zu können, erhält noch größere Bedeutung, wenn man an ihren wohltuenden
Nutzen für den Copingprozeß denkt. Aus der Literatur ist bekannt, daß psychologischer
und sozialer Stress die Copingaktivität beeinflussen können und infolgedessen einen
Einfluß auf das Immunsystem ausüben. Es wäre durchaus zu spekulieren, daß die durch
die kreative Musiktherapie stimulierten positiven Gefühle die Copingaktivitäten steigern
und dadurch einen positiven Einfluß auf die Erhöhung des Immunsystems ausüben
könnten.

Die Anwendung der aktiven, improvisatorischen Form der Musiktherapie bezieht den
Patienten als eigenständigen, aktiven Partner in den musikalischen Prozeß mit ein. Sie
deckt sich mit der Grundhaltung des Herdecker Krankenhauses, die den Patienten als
aktiven Partner in der medizinischen Versorgung ansieht, statt ihn in die Position eines
passiven Empfänger medizinischer Versorgungsmaßnahmen zu bringen. Dieser Aspekt
der Einflußnahme des Patienten auf sein eigenes Schicksal ist von besonderer
Bedeutung und könnte insbesondere durch die Einbeziehung der kreativen
Musiktherapie unterstützt werden. Der Patient hat die Möglichkeit, auf seine Spielweise
Einfluß zu nehmen, ihr eine neue Richtung zu geben und damit gleichsam die
Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Somit kann die Bewältigung eines
musikalischen Prozesses mit seinen ablaufenden Veränderungen, ähnlich wie die im
sozialen und familiären Rahmen, auch in der Musik zu einer gemeinsamen Anstrengung
werden.

In diesem Zusammenhang ist noch einmal an die Betrachtungsweise des


phänomenologischen Vergleichs zwischen der Organisation der Musik und der
Organisation des Selbst von Aldridge (Aldridge, 1989b) zu erinnern, die eine
Korrelation zwischen Musikform und biologischer Form erbringt (s. Kapitel 4,
Abschnitt ‘Verbindung zu phänomenologischen Grundideen’). Durch die Benutzung
einer musikalischen Metapher bietet er eine Sichtweise an, die vorschlägt, die
menschliche Identität wie ein Stück sinfonischer Musik zu betrachten, die kontinuierlich
im Moment komponiert ist. Diese steht im Gegensatz zu einer mechanistischen
Sichtweise vom Menschsein, die auf den Körper fixiert ist und ihn als etwas betrachtet,
das repariert werden muß.

185
Die Anwendung der musikalischen Metapher auf das menschliche Individuum macht es
uns möglich, dieses in dynamischer Art und Weise als ein ganzheitliches Selbst zu
“hören” und zwar nicht nur innerhalb seiner eigenen musikalischen Gestaltung,
sondern auch in der Beziehung zu dem Therapeuten. Mit der Form des musikalischen
Dialogs wäre es für Patientinnen möglich, z.B. mit Hilfe eines rhythmischen Motivs, in
einen gegenseitigen Austausch von Emotionen zu kommen und diese im musikalischen
Spiel zu regulieren. Diese Überlegungen stützen auch ein Hauptargument, das in den
musikalischen Komponenten die fundamentalen Bestandteile der Kommunikation sieht
(Aldridge, 1996c; Ruud, 1990a) und den Rhythmus als einen Hauptfaktor in der
Kommunikation betrachtet. Dieser ist für die Art und Weise, in der wir zu uns selbst
und zu anderen in Beziehung treten von fundamentaler Bedeutung. Da die musikalische
Zeitstruktur, innerhalb der der musikalische Ausdruck rhythmisch-melodischer Motive
stattfindet, nicht statisch ist, kann mit Hilfe dieser Form, die zugleich kohärent ist, auf ein
flexibles Reagieren seitens der Patientinnen eingewirkt werden.

Wir können also festhalten, daß die Musiktherapie einen positiven Effekt auf ähnliche
Parameter auszuüben vermag, die auch durch psychosoziale Interventionen eine
Verbesserung aufweisen. Mit ihrer individuell angelegten Methode unterstützt sie
Ergebnisse verschiedener Langzeitstudien, die demonstrieren, daß auch weniger
emotional leidende Patientinnen mit sehr unterschiedlichen Einstellungsprofilen zu ihrer
Krebserkrankung besonders von individuell gemessenen, psychosozialen Interventionen
profitieren (Nelson et al., 1994). Als rezeptive und aktive Form kann sie physische
Entlastung bringen, psychologisch auf emotionale Streßfaktoren einwirken, die
kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern und durch die Anregung des
interpersonellen Kontakts auf soziale Schwierigkeiten eingehen und das Gefühl von
Isolation reduzieren.

Trotz der oben aufgeführten verschiedenen Forschungsstudien ist bisher wenig über den
Einsatz von Musiktherapie speziell mit Mammakarzinompatientinnen veröffentlicht
worden. Auch mit Blick auf den Prozeß einer melodischen Entwicklung im Kontext
einer musiktherapeutischen Behandlungsphase existieren meiner Information nach
kaum Studien, die speziell diesen Prozeß thematisieren.

Zur klinischen Situation der Patientin

Die Patientin der ersten Studie ließ sich wegen des ganzheitlich orientierten
medizinischen Ansatzes und der breit gefächerten Therapieangebote im
Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke operieren und behandeln.

186
Zum Zeitpunkt ihrer Operation (Ablatio mammae) war sie 33 Jahre alt. Sie war
verheiratet und hatte einen 5-jährigen Sohn. Die Operation erfolgte aufgrund eines
linksseitig invasiv gewachsenen, großen duktalen Mammacarcinoms (Grad 2).
Zusätzlich wurden 4 axilläre Lymphknoten entfernt. Als Therapien erhielt sie
Radiotherapie, Misteltherapie, Fiebertherapie sowie Heileurhythmie und Musiktherapie.

D IE M ELODIE : “EIN S PAZIERGANG DURCH P ARIS ”

Die Melodie, die in diesem Abschnitt vorgestellt wird, ist in der sechsten, d. h. letzten
Sitzung der Patientin entstanden und bildet den Hauptbestandteil dieser Sitzung. In
dieser äußerte die Patientin den Wunsch, auf dem Metallophon zu spielen. Das
Instrument wurde von mir so eingerichtet, daß sie die harmonische C - Mollskala mit
dem Ambitus c1 - as2 zur Verfügung hatte. Ich begleitete sie auf dem Klavier. Diese in
der letzten Sitzung entstandene Melodie leitet den Untersuchungsprozeß ein, da sich von
ihr ausgehend meine Hypothese zu dieser Forschungsarbeit entwickelt hat. Der Leser
sei noch einmal daran erinnert, daß hier bewußt die Qualitative Methode gewählt wurde,
um das Prozeßhafte innerhalb der Entwicklung einer melodischen Improvisation greifen
und beschreiben zu können. Es geht hier darum, wie eine Melodie entstanden ist und
welchen Anteil Patientin und Therapeutin daran haben. Es ist zu vermuten, daß innerhalb
der ersten und letzten Sitzung “etwas” geschehen ist, das auf die Melodie der letzten
Sitzung hinweist. Dieses “etwas” kann ein vielseitiges Erscheinungsbild haben, wie das
eines melodischen, harmonischen oder rhythmischen Motivs oder einer besonderen
musikalischen Geste. Die Frage ist also, welche Wurzeln hat diese Melodie hat und auf
welche Phänomene sie sich in der Musik als Therapie zurückführen läßt. Diese Frage,
die den Ursprung und das Prozeßhafte, das zur umfassenden melodischen Gestalt der
letzten Sitzung geführt hat, zu entdecken versucht, ist thematischer Inhalt von Kapitel 12.
Der Weg dorthin wird in den Kapiteln 10 und 11 beschrieben, die gleichzeitig die
Voraussetzungen für die Entdeckung der Zusammenhänge bilden. In diesem Abschnitt
geht es darum, die Melodie “Ein Spaziergang durch Paris” vorzustellen und ihre
Bedeutung für die Patientin zu reflektieren.

Von dieser melodischen Improvisation wird der wichtigste Ausschnitt präsentiert: der
Anfang mit dem sich daraus entwickelnden weiteren Verlauf und zwei Ausschnitte, die
aus dem späteren Verlauf der melodischen Improvisation stammen. Der erste, längere
Ausschnitt ist taktmäßig fortlaufend durchnumeriert. Die beiden darauf folgenden,
kürzeren Ausschnitte erhalten ihre Taktnumerierung unabhängig voneinander. Zur
besseren Übersicht werden die melodischen Phrasen in Form von Abschnitten mit
Großbuchstaben gekennzeichnet. Die Abschnitte des ersten, längeren Ausschnitts sind
mit den Buchstaben A bis D gekennzeichnet, die beiden später folgenden Abschnitte mit
E und F.

187
Um die Entwicklung der sich entfaltenden melodischen Stimme der Patientin möglichst
deutlich darzustellen, wird auf die vollständige Notation der Stimme der Therapeutin
verzichtet.

Beispiel A

b Adagio
& b b 64 œ œ n˙ œ ˙ œ
1

Patientin
˙ œ ˙
˙ œ ˙ œ
? b b 64 Œ ∑
Therapeutin
b

b ˙ œ ˙ œ œ nœ Œ
Pat. &b b nœ ˙ œ ˙ œ ˙
p
œ
? bb ˙ œ ˙ œ. œ
Th.
b & ˙ œ ˙ œ Jœœ˙ œ

œ
6

b œ
Pat. &b b ˙ œ ˙ œ ˙ n˙

b ˙ œ œ ˙ œ œ œ œ
. œ
Th. &b b œ œ.
J J œ œ

b ˙ ˙
8

œ ˙ œ
Pat. &b b
p
b œ ˙
Th. & b b n˙ œ ∑

Beispiel B
- -
bb 6 œ ˙ œ ˙ œ ˙ œ ˙
9

Patientin & b 4 Œ
p
b -̇ -œ -̇ -œ -̇ . ˙. -̇ -œ -̇
11

&b b œ

b -œ -̇ œ Œ -œ -œ
14

&b b ˙ œ- -̇ . ˙ œ n˙
p
b
17

&b b ˙ œ ˙ œœ œ -̇ œ ˙ œ œ œ nœ

b -̇ œ œ. œ œ œ
20

&b b J

Abbildung 9.2: Anfang der Melodie und ihr weiterer Verlauf. Beispiele A und B.

188
(A) Die Patientin beginnt ihr Spiel im ruhigen Andante-Tempo mit einem Auftakt. Ein
rhythmisches Motiv ist erkennbar, das, man könnte es mit einem kleinen Keim
vergleichen, in sich die Möglichkeit zur Entwicklung birgt. In der Verslehre der
hellenistischen Zeit (Aristoxenos` “Rhythmik-Fragmente”) ist es ein Jambus (s. Abb.
9.2).

Diese rhythmische Zelle hat in zweifacher Hinsicht Bedeutung:

1. Sie gibt der Patientin Halt und Stabilität innerhalb ihrer Spielaktivität, um
die melodische Seite der Musik zu entdecken.

2. Gleichzeitig ist sie ein Bewegungsimpuls, der ihr ermöglicht, den


harmonischen Tonraum von c-moll zu erfahren.

Dieser von der Patientin formulierte "Klangfuß" ist die von ihr eingeschlagene
"Gangart", die sie durch die Improvisation führt und die für alles Folgende den Maßstab
abgibt.

Zusammenfassend kann der Abschnitt A als klangliche Orientierung im harmonischen


Bereich von c-moll bezeichnet werden. Die Patientin beginnt auf dem Grundton, findet
ganz natürlich ihren Weg über die höher gelegene Quinte, Oktave und Quarte. Nach den
ersten vier Takten führe ich ein melodisches Element ein.

(B) Hier geht es nicht mehr länger um eine Orientierung im tonalen Raum, sondern um
bewußtere Wahrnehmung und bewußteres Einhören in die Tonbeziehungen, was hörbar
wird durch die differenzierte Anschlagsart der Patientin (s. Abb. 9.2). Ihre
Wahrnehmung des harmonischen Tonraums wird durch die Hervorhebung der zentralen
Töne: Grundton und Quinte deutlich. Es sind für sie harmonische Orientierungspunkte,
von denen sie ausgehen und wieder zurückkehren kann. Gegenüber der melodisch
hervortretenden Stimme des Klaviers sucht sie sich als Kontrast eine harmonische
Mittelstimme. Im letzten Takt des Beispiels entwickelt sie eine auftaktige Figur, die zum
nächstfolgenden Abschnitt führt.

(C) In diesem Beispiel beginnt die Patientin ihr Spiel melodisch zu formen. Die
Tonhöhenstruktur (Diastematik) steht im Vordergrund, sie ist nicht nur geformt,
sondern zeigt gleichzeitig rhythmische Vielfalt (s. Abb. 9.3). Beide Elemente, das
melodische und rhythmische, korrespondieren miteinander und gehen eine Symbiose
ein. Jeder Ton steht in Beziehung zu den nächstfolgenden, wie es sich an Hand der
Phrasierungsbögen darstellen läßt.

189
Beispiel C
b œ -̇ œ ˙
& b b 64 œ œ J œ
21

Patientin

œ
22
b j œ ˙
&b b ˙ œ œ. œ œ œ n˙

b ˙ ˙ œ œ œ œ œ
24

&b b œ ˙ œ
p
œ œ œ œ
26
b
&b b ˙ ˙ nœ œ œ œ

b
28

&b b ˙ œ œ ˙ œ œ ˙ œ œ ˙ œ nœ

b j
30

&b b ˙ œ œ. œ nœ œ ˙ nœ ˙ œ œ

b
32

&b b ˙ œ.
œ ˙ œ

Beispiel D

b 6
&b b 4 œ. œœœœ œ œœ
33

Patientin
œ J
34

b
&b b œ œ ˙ œ œ œ œ œ
˙ œ ˙
36
b
&b b ˙
œ ˙ œ œ ˙ œ ˙ œ œ
p
b
38

&b b ˙ ˙ nœ œ ˙ œ
œ ˙ œ
b ˙ œ œ ˙ œ œ ˙ œ œ ˙
40

&b b œ œ

b ˙ œ œ ˙ œ j
42

&b b œ ˙ œ. œ œ nœ

b
44

&b b ˙ œ ˙ Œ

Abbildung 9.3: Weiterer Verlauf der Melodie. Beispiele C und D.

190
In diesem Beispiel sehen wir die Entwicklung formaler Prinzipien der Musik:

• die Entfaltung eines Taktmotivs zu 2-Takt-Phrasen.

• die Entfaltung der melodischen Struktur, der Diastematik.

• die Entwicklung von tonaler Einheit durch Rückkehr zu harmonisch zentralen


Tönen.

• die experimentelle Erfahrung, im unmittelbaren, gegenwärtigen Spiel, Musik in


Form zu bringen.

(D) In diesem Abschnitt ist die Melodie stärker ausgeformt: nach dem auftaktigen
Oktavsprung aszendiert und deszendiert sie in Zwei-Takteinheiten, wobei die Patientin
konsequent den Grundton hörbar macht (s. Abb. 9.3).

Beispiel E

b -
& b b 64 ˙ œ œn œ œ œ œ
1

Patientin
œ˙ œ ˙ œ ˙ œ

b n-œ
3

b
& b œ œ œ œ œ
˙ œ ˙ œ ˙ œ
Beispiel F

b bb 6 œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œn˙ œ
1

Patientin & 4

œ œ œ œ
3

b
& b b œ œ nœ œ œ ˙ œ ˙ œ œ

5
b
&b b œ œ œ œ œ œ œ œ œ ˙ œ œ œ œ œ nœ

œ ˙
7

b ˙
&b b ˙ nœ œ ˙ œ œ Œ

Abbildung 9.4: Späterer Verlauf der Melodie.

(E) und (F) In Abschnitt E betont sie jeweils den Taktbeginn, was ihrer deszendierenden
Skalenbewegung entgegenkommt (s. Abb. 9.4). In Abschnitt F variiert sie die
Skalenbewegung in horizontaler Linienführung durch eine Art Umspielung der
zentralen harmonischen Töne (s. Abb. 9.4). Der Rhythmus besteht aus völlig gleichen

191
Notenwerten (Achtelnoten), das heißt seine Bedeutung tritt hinter die der
Tonhöhengestaltung zurück. Der Sinn ihres Spiels liegt hier in der Gestaltung der
horizontal bewegten Diastematik.

Betrachtet man die Bewegung im Detail, so entdeckt man, ausgehend von der
ursprünglichen rhythmischen Zelle, typische Motivbildungen:

Im 8.-9. Takt von Abschnitt C (s. Abb. 9.3) sequenziert sie dieses Motiv in
Aufwärtsrichtung. In den Takten 8-10 von Abschnitt D (s. Abb. 9.3) gibt sie ihm durch
seine Wiederholung mehr Bedeutung. Erkennbar wird die Korrespondenz ihrer
Melodieteile, die häufig 4 Takte umfassen. Das von mir angebotene harmonische Gerüst
übernimmt die tektonische Funktion, über der sich die melodische Inspiration der
Patientin frei variierend entfaltet hat.

Zur Bedeutung der Melodie

Welche Bedeutung hat diese Melodie für die Patientin?

Einen Hinweis darauf hat die Patientin selber gegeben. Als die Improvisation beendet
war, teilte sie mir mit, wie sie sich während ihres Spiels gefühlt und erlebt hat. Sie sprach
von warmen und tiefen Gefühlen, die sie begleitet hätten und davon, daß sie sich
während dieser melodischen Improvisation in einem wunderbaren Spaziergang durch
die sonnigen Straßen von Paris erlebt hätte.

Wenn wir über ihre eigenen Äußerungen reflektieren, dann zeigen diese eine emotionale
Qualität, die positiv in die Zukunft weist.

Das Erlebnis des Spazierengehens und Bummelns kennen wir als das einer langsamen,
gleichmäßigen Bewegung, die wir im Zusammenhang mit einer schönen Umgebung
besonders genießen können. Während des Spazierengehens hat man gewöhnlich kein
Ziel; wenn es eins gäbe, dann wäre es das, sich am langsamen, gleichmäßigen
Fortbewegen zu erfreuen. Hier geht es um eine besonders schöne Umgebung, in die
sich die Patientin versetzt hat, um die Stadt Paris, der Stadt mit einer einmalig schönen
und offenen Architektur, prachtvollen Häuserfassaden, breiten Raum gebenden Alleen,
Straßencafes, Bistros, Gourmet-Restaurants und interessanten Schaufensterauslagen.
Paris ist bekannt als Stadt mit eigener besonderer kultureller Prägung und
atmosphärischer Ausstrahlung. Ein Stadtbummel durch diese Stadt ist eine ästhetische
Erfahrung, die alle unsere Sinne wachrufen, anregen und sättigen kann: neue,
wechselnde Anblicke, verschiedene aromatische Düfte und Klangkulissen, die wir mit
allen unseren Sinnen aufnehmen und auskosten können. Man könnte sagen, daß sich
hier alle unsere Sinne in Harmonie befinden.

192
Für die Patientin war dieser musikalische Spaziergang etwas, das sie genossen hat. Er
war mit Wärme, Licht und tiefen Gefühlen verbunden und hat ihr ein nachhaltiges,
angenehmes Erlebnis bereitet.

Was unterstützt in der Musik ihr Erlebnis von Paris?

Es ist deutlich, daß die Patientin mit ihrer Melodie, die sie gefühlsmäßig tief erlebt, eng
verbunden ist. Wenn wir den Beginn ihrer melodischen Improvisation betrachten (s.
Abb. 9.2, Beispiel A), können wir eine Offenheit feststellen, die nicht durch zwanghafte
Zielorientierung eingeschränkt ist. In einer aszendierenden Bewegung eröffnet sie sich
ihren tonalen Raum. Das harmonische Gerüst, das ab Abschnitt C (s. Abb. 9.3, Beispiel
C) zunehmend von der Therapeutin übernommen und beibehalten wird, kann als
“Urmuster” der tonalen Bestätigung angesehen werden, das das melodische Spiel der
Patientin stützt und hält. Es bildet die ‘Architektur’ ihrer melodischen Improvisation
und bildet den Rahmen für die ästhetische Erfahrung dieser Melodie. Auch mit dem
Tongeschlecht Moll ergeben sich Assoziationen zu Paris, den französischen Chansons,
zu deren Merkmalen unter anderem auch der Mollcharakter und der ungerade Takt
gehören.

Wir wissen, daß der jambische Fuß, wie auch sein trochäisches Gegenstück ein Baustein
für alle menschliche Kommunikation ist. Mit dem jambischen Fuß beginnt die Patientin
ihre melodische Improvisation. Hier nehmen wir den inneren Strom ihrer Energie wahr,
den sie mit diesem Versmaß kommuniziert. Es ist der von ihr im langsamen Tempo
beschrittene Weg, der sie durch ihre Melodie führt und ihr das positive Erlebnis der
sonnigen Straßen von Paris bringt. Diese Kommunikation mit ihrem inneren Selbst, die
sie über ihre eigenen tiefen, warmen Gefühle vollzieht, geschieht mit der von ihr
gewählten Form des jambischen Fußes. Er wird von der Patientin als das
Initiationsmotiv eingebracht, das ihr zur Entwicklung und Entfaltung der melodischen
Gestalt dient und gleichzeitig zum gemeinsamen Interaktionsmuster zwischen Patientin
und Therapeutin wird.

193
Kapitel 10
Spezifische Methode des höranalytischen Prozeßes

In den Teilen I - III dieser Arbeit habe ich meine Ansichten, Denkweisen,
Überzeugungen und mein Veständnis über Melodie erörtert, methodisch aufgeschlüsselt
und persönlich zum Ausdruck gebracht. Es wurde dargelegt, warum die Qualitative
Methode für den Forschungsweg dieser Arbeit die geeignete Grundlage bildet, warum
eine Sichtweise gewählt wurde, die musiktherapeutische und musikalische Parameter
heranzieht, anstatt sich auf die Polarität ‘gesund - krank’ zu stützen und warum es in
dieser Form des methodischen Vorgehens nicht möglich sein wird, generalisierbare
Aussagen machen zu können. Es ist meine Überzeugung, daß jedes musikalische
Element eine ganze Bandbreite von expressiven Bedeutungsinhalten besitzt, die von allen
Menschen, die die gleiche musikalische Kultur teilen, tazitmäßig verstanden werden
können.

Die im folgenden dargelegte spezifische Methode beschreibt den umfassenden


höranalytischen Prozeß, der in mehreren Stufen erfolgt. Dieser Prozeß selbst
charakterisiert sich durch seine deduktive Komponente, indem er sich in seinem
Gesamtverlauf zunehmend spezifiziert. Der konzeptuelle Rahmen dieses Prozesses, der
den umfassenden Prozeß des Hörens, Analysierens und Interpretierens zu gliedern und
differenzieren vermag, wird durch den Naturalistischen Forschungskreislauf und die
Personal Konstrukt Methode von Kelly gebildet. Das Hören der Therapiesitzungen
geschieht also im Sinne der Naturalistic Inquiry in Form eines Kreislaufs auf
verschiedenen Ebenen. Die Systematik dieses höranalytischen Vorgangs zeigt eine
deduktiv-induktive Kreisform. Das Induktive (mein Fokus auf melodische Motive)
bestimmt das Deduktive (die mit dem Melodischen verbundenen musikalischen
Aspekte) und das Deduktive bringt mich wieder auf eine tiefere Ebene des Induktiven
zurück (vgl. Kapitel 6, Abschnitt “Zusammenfassung”). Als Strukturhilfe des Hörens
dienen Indexmuster (4 Spalten-Index, 4 Ebenen-Index), die im Appendix-Teil am
Beispiel der Studie 1 näher erläutert werden. Beide dienen als Analysemuster der
Episoden.

Abbildung 10.1 verdeutlicht die Sequenz des höranalytischen Kreislaufs. Dieser liegt
beiden Studien zugrunde.

Um einen ersten, allgemeinen Überblick und Gesamteindruck des Therapieverlaufs


gewinnen zu können, werden alle fünf Therapiesitzungen der ersten Studie in ihrem
Gesamtverlauf gehört. Während dieses Vorgangs wird von allen Sitzungen ein erster
Index erstellt (s. Appendix).

194
Hören der gesamten Engere Auswahl Selektion von Episoden
Sitzungen. von bestimmten aus den ausgewählten
Erstellen eines Musiktherapiesitzungen Musiktherapiesitzungen
“Vier-Spalten-Indexes” Studie1: Sitzung 2 und 4 Studie1: Episoden 1-16
Studie1: Sitzung 1-5 aus der 2. und 4. Sitzung

Abbildung 10.1: Prozeß des höranalytischen Kreislaufs im Sinne der Naturalistic


Inquiry

Aus dem ersten Hörkreislauf entwickelt sich ein zweiter, der signifikante Sitzungen
selektiert, die wichtiges Datenmaterial hinsichtlich musikalisch-melodischer Elemente
aufweisen. Dadurch ergibt sich eine Konzentration auf bestimmte Sitzungen. Von
diesen Sitzungen ausgehend werden durch erneutes Hören bestimmte Episoden
ausgewählt, die das Ausgangsmaterial für die Analyse und Interpretation bilden. Als
Ergebnis des höranalytischen Kreislaufs der ersten Studie haben sich 16 Episoden
herausgebildet.

Mit hHlfe der Persönlichen Konstrukt-Theorie von George Kelly und der damit
verbundenen ‘repertory grid method’ werden von mir die musiktherapeutischen
Parameter gebildet. Dieser Vorgang beginnt mit der Generierung von Konstrukten aus
den Episoden. Von diesen ausgehend werden wiederum, auf einer höheren,
beziehungsweise abstrakteren Ebene, Kategorien gebildet. Abbildung 10.2
veranschaulicht die methodischen Schritte der Bildung der Konstrukte und Kategorien,
wie sie beiden Studien generell zugrundeliegt.

Kategorien der Episoden

Ausgewählte Episoden
T H E R A P I E V E R L A U F
Abbildung 10.2: Das Generieren von Kategorien aus dem Therapieverlauf

D ATENSAMMLUNG : DAS H ERAUSSUCHEN VON E PISODEN

Wie wir vorher gesehen haben (vgl. Teil II, Persönliche Konstrukt-Theorie), konnten mit
Hilfe der Methode von Kelly und ihrer spezifischen Anwendung auf das Element
Melodie, meine Denkweisen und Bedeutungsinhalte über Melodie herausgelockt
werden. Mit diesem Vorgang ist transparent und bewußt gemacht worden, welche
Eigenschaften des Melodischen für mich wichtig sind, wie ich Melodien höre, was mich
an ihnen anspricht und wie ich sie werte.

In diesem vierten Teil der Forschungsarbeit liegt der Fokus auf Episoden, die aus den
Musiktherapiesitzungen als Elemente herausgebildet werden. Meine Episodenauswahl

195
bildet einen Teil des Forschungskreislaufs der Natural Inquiry, der einen Zyklus
darstellt. Die graphische Übersicht der Sequenz des Hörkreislaufs (s. Abb. 10.1) ist
Bestandteil dieses Zyklus. Aus diesem Kreislauf heraus werden Ausschnitte selektiert,
die verdeutlichen, daß im Zusammenspiel zwischen Patientin und Therapeutin etwas
passiert ist, das für die Melodieentwicklung wichtig ist. Diese engere Auswahl über das,
was passiert ist und für mich Bedeutung hat, bezeichne ich mit Episoden. Es sind die für
die Analyse ausgewählten Momente, die die Grundlage für die Generierung der
Konstrukte bilden.

Aus folgenden Gründen wird in diesem analytischen Teil der Arbeit der Fokus auf
Episoden gelegt:

1. Es liegt auf der Hand, daß der gesamte therapeutische Zeitverlauf zuviel Material
beinhaltet, das nicht adäquat ausgewertet werden kann und teilweise keine relevante
Bedeutung für meine Forschungsfrage besitzt.

2. Mit der Konzentration auf Episoden wird von mir eine Auswahl getroffen, die die
wichtigen Momente in der Therapie kennzeichnen. Jeder Therapeut begegnet im Verlauf
seiner therapeutischen Arbeit derartigen Momenten und bezeichnet sie mit
unterschiedlichen Begriffen wie ‘critical moments’ (Dorit Amir; 1. Internationales
Symposium für qualitative Forschung, Düsseldorf 1994), ‘pivotal moments’ (Denise
Grocker; Research Conference, Melbourne 1995) oder ‘arena of change’ (Carolyn
Kenny; 1. Internationales Symposium für qualitative Forschung, Düsseldorf 1994).

Wenn wir einen Blick auf die Wurzel des Begriffs ‘Episode’ werfen, treffen wir auf das
aus dem Griechischen stammende Wort ‘epeisodion’ mit der Bedeutung von
“Hinzukommendes”, “von außen dazukommend” (Pfeifer, 1997, S. 291). In der
altgriechischen Tragödie werden damit die zwischen die einzelnen Chorteile
eingeschobenen Dialogteile bezeichnet. Das Grundwort von ‘ep-eis-odion’ heißt
‘hodos’ = Weg, Gang, das Gehen. Interessant ist auch eine Definition von Harre und
Secord, die mit Episoden irgendeinen Abschnitt im menschlichen Leben bezeichnen, der
eine oder mehrere Personen involviert und der von einer inneren Struktur bestimmt
werden kann (Harre & Secord, 1973).

Trotz seiner inpräzisen Komponente wird dieser Begriff allgemein gern herangezogen,
wenn menschliches Verhalten betrachtet wird, das im interpersonellen Bereich lokalisiert
und durch diesen strukturiert ist. Die Beschreibung und Analyse von Episoden kann
von unterschiedlichen Ebenen aus erfolgen, einer kulturellen, persönlichen und
familiären Ebene (Pearce & Cronen, 1980).

196
Auf der kulturellen Ebene erscheinen die Episoden als sanktionierte Verhaltens - und
Bedeutungsmuster, die unabhängig von einer besonderen individuellen Meinung
existieren. Analysen reflektieren auf dieser Ebene das Konzept von signifikanten
Symbolen und die öffentlich geteilten Meinungen wie sie von Mead und Duncan
beschrieben werden (Duncan, 1968; Mead, 1934). Zu diesen kulturell signifikanten
Episoden gehören Rituale wie Hochzeiten, Beerdigungen sowie ritualisierte Wege des
Umgehens mit sozialen Begebenheiten wie Gruß -, Abschiedsformen und Formen von
Respektäußerungen.

Auf der persönlichen Ebene können Episoden als Bedeutungs - und Verhaltensmuster
individueller Personen gesehen werden. Hier handelt es sich um eine private Meinung,
die das Verständnis des Individuums von Formen und sozialen Interaktionen, in denen
es beteiligt ist, beziehungsweise beteiligt sein möchte, repräsentiert.

Auf der familiären Ebene werden Episoden als allgemeine Aktionsmuster betrachtet, die
eine reziproke Perspektive annehmen (Procter, 1981). Diese familiären
Meinungsbildungen haben sich über einen längeren Zeitraum durch zahlreiche
Interaktionen herausgebildet. In der Art und Weise, wie Leute zusammenleben,
koordinieren sie ihr Verständnis über die Bedeutung von Welt.

Mit der Anwendung des Begriffs ‘Episode/n’ für das Datenmaterial beider Studien wird
verdeutlicht, daß die ausgewählten Ausschnitte als zeitliche Momente im Verlauf der
therapeutischen Behandlungsphase verstanden werden, in denen Patient/in und
Therapeutin durch etwas hindurchgehen. Es sind Ausschnitte, die das
“Hinzukommende” als das Hinzukommen einer neuen Erfahrung verstehen, die durch
“etwas”, z. B. eine neue Form des Ausdrucks, der Aktion oder des Dialogisierens
hervorgerufen werden kann. Im Sinne von Harre und Secord wird angenommen, daß die
Episoden von einer inneren Struktur bestimmt werden, die sich nicht nur aus der
intrapersonellen, sondern insbesondere aus der interpersonellen Beziehung zwischen
Patient/in und Therapeutin ergibt. Somit enthalten die Episoden für die Frage dieser
Forschungsstudie wichtiges Grundmaterial, wie z. B. dyadische Interaktionsmuster,
deren Bedeutung herausgefunden werden muß. Nicht die Therapiesitzungen als Ganzes
spielen hier also eine Rolle, sondern die ausgewählten Episoden, die strukturierte
Interaktionen in der Zeit sind.

Wie bereits erwähnt weist die erste Studie insgesamt 16 Episoden aus zwei Sitzungen
auf, die in Tabelle 10.1 zur Darstellung kommen.

197
2. SITZUNG 1. Improvisation Episoden 1 bis 6
P.: 2 Koreatrommeln (Hände) (1) Anfang: rhythmischer Kontext
Th.: Klavier
(2) weiterer Verlauf: Dialog
(3) weiterer Verlauf: c-moll, 6/8 Takt
(4) weiterer Verlauf: innere Öffnung
(5) weiterer Verlauf: vokale Beteiligung
(6) Ende: vokal-instrumentale Schlußge-
staltung.
2. Improvisation Episoden 7 bis 10
P.: Metallophon, Pentatonische (7) Anfang: melodischer Kontext
Skala c1- a2 (1 Schlegel)
Th.: Klangstäbe c2- c4
(8) weiterer Verlauf: Stimmführung
(9) weiterer Verlauf: Phrasenbildung
(10) weiterer Verlauf: Verwandlung
3. Improvisation Episode 11
P.: Metallophon, Pentatonische (11) Mitte und Ende: melodisch
Skala c1- a2 (2 Schlegel) innovatorisch, Impuls für
Th.: Klavier Schlußgestaltung.
4. SITZUNG 2. Improvisation Episode 12
P.: Bongos (Hände) (12) Ende: Anpassung
Th.: Klavier
3.Improvisation Episoden 13 bis 15
P.: Bongos (Hände) (13) Anfang: Spiel allmählich verdichtend
Th.: Klavier
(14) weiterer Verlauf: kräftige
Ausdrucksweise haltend.
(15) Ende: Abschlußwirbel
5.Improvisation Episode 16
P.: gr.Tr., kl.Tr., gr.Becken, (2 (16) Anfang und weiterer Verlauf: Taktform
Schlagstöcke) entwickelnd, alle Instrumente sinnvoll
Th.: Klavier einsetzend.

Tabelle 10.1 Studie 1: Übersicht der Episoden 1 - 16

D IE V ALIDIERUNG DER E PISODEN MIT HILFE DER P E R S ö N L I C H E N


K ONSTRUKT -THEORIE

In diesem Abschnitt wird dargelegt, wie die aus dem Hörkreislauf gewonnenen 16
Episoden mit Hilfe der Repertory Grid Analyse ausgewertet werden. Als erstes erfolgt
die Darstellung der Konstrukte an Hand der Abbildung 10.3. Mithilfe der
Clusteranalyse werden anschließend die Kategorien der Konstrukte erzeugt. Eine
weitere Erzeugung von Kategorien erfolgt durch die Grid Analyse, die nicht nur die
Konstrukte bündelt, sondern auch eine übergeordnete Form der Episoden darstellt. In
diesem Fall handelt es sich also um Kategorien der Episoden, die charakteristische
Muster aufweisen.

198
Die Erzeugung der Konstrukte

Nachdem sich aus dem höranalytischen Kreislauf, aus der engeren Auswahl der zweiten
und vierten Sitzung, 16 Episoden herausgebildet haben (vgl. Tabelle 10.1) werden aus
diesen 16 Episoden, mit Hilfe der Repertory Grid Analyse, Konstrukte gebildet. Es sei
noch einmal daran erinnert, daß hier eine weitere Spezifizierung der Kelly-Methode
vorgenommen wird, in der es darum geht, festzustellen, welche Bedeutung ich den
Episoden beimesse. Jede Episode fungiert als ein Element in der Herausbildung eines
‘Repertory Grids’. Jede Erfahrung dieser wahrgenommenen und gezielt gehörten
Episoden ist ein Erfahrungselement in diesem ‘Grid’.

Die Frage lautet also: Was ist der Inhalt dieser Episoden (Elemente), warum sind sie für
mich signifikant? Welche Bedeutung haben sie für mich? Wie ähnlich oder
unterschiedlich sind die Episoden in ihrem Inhalt? In diesem ersten Schritt wird also der
Inhalt der Episoden erfaßt und in seiner Ähnlichkeit, bzw. Unterschiedlichkeit geordnet
(bipolare Konstrukte). Dieses geschieht, wie wir in Kapitel 6 (s. Abschnitt ‘Methode’)
gesehen haben, durch die standardisierte Form der dreiwertigen Erzeugung: drei
Episoden werden so miteinander verglichen, daß sich zwei in einem Punkt ähneln und
eine sich in diesem Punkt von den beiden anderen unterscheidet. Dieser Vorgang wird
so lange wiederholt, bis keine weiteren Ähnlichkeiten, beziehungsweise Unterschiede
gefunden werden können. Der Inhalt dieses Prozesses erscheint als Konstrukte. Aus
den 16 Episoden der ersten Studie wurden insgesamt 13 Konstrukte gebildet.
2 9 7 11 10 8 6 5 4 3 13 12 1 16 14 15 100 90 80 70
klares Beispiel,unbeeinflußt 1 15 5 6 4 13 12 11 10 7 8 9 8 1 15 14 14 1 logische und musikalische Reaktion
auf Sicherheit gehen 11 8 9 6 13 12 14 11 10 5 4 2 1 3 7 13 15 11 etwas wagen
Unsicherheit in der Spielabfolge 2 5 10 8 14 13 9 7 6 4 4 1 2 3 12 11 15 2 entwickelte Eigenständigkeit
in der Zurückhaltung gehalten 8 5 10 7 12 9 14 13 1 2 4 6 6 3 11 11 15 8 Möglichkeit eines starken Ausdrucks
beibehaltend 13 6 8 7 11 15 15 4 2 1 1 3 3 5 12 9 13 13 in Verwandlung bringend
im Spiel verweilend* 6 3 9 11 13 14 15 7 1 1 4 5 8 5 6 6 12 6 Spiel entwickelnd*
anpassend* 7 5 10 9 15 14 15 13 4 1 7 2 1 6 8 3 12 7 führend*
simultanes Spiel* 5 15 12 8 9 11 14 10 5 5 4 1 13 6 7 2 3 5 dialogisches Spiel*
überlegend reagierend* 9 15 9 13 11 10 12 7 5 5 8 2 2 4 1 3 6 9 spontan reagierend*
gleichlaufende Stimmführung 12 9 7 13 11 10 12 14 15 5 3 4 1 8 2 4 6 12 kontrastierende Stimmführung
rhythmisch betontes Spiel* 4 6 9 14 15 15 14 13 12 11 8 7 5 4 1 3 2 4 melodisch betontes Spiel*
rein instrumentales Spiel 3 8 5 6 10 8 5 15 15 11 10 7 9 2 1 3 3 3 innere Bereitschaft mitzusingen
Tendenz Spiel zu verdichten 10 10 14 9 5 15 7 6 13 12 11 3 2 4 8 3 1 10 Tendenz in die Ruhe überzugehen
2 9 7 11 10 8 6 5 4 3 13 12 1 16 14 15 100 90 80 70 60
15 E15
14 E14
16 E16
1 E1
12 E12
13 E13
3 E3
4 E4
5 E5
6 E6
8 E8
10 E10
11 E11
7 E7
9 E9
2 E2

Abbildung 10.3: Konstrukte der 16 Episoden

199
Die Erzeugung der Kategorien aus den Konstrukten

Die Hauptkomponenten - und Schwerpunkt,- bzw. Fokusanalyse ermöglichen mir,


durch vergleichendes und systematisches Erfassen von ähnlichen und unterschiedlichen
Konstrukten, auf einer abstrakteren Ebene Kategorien zu bilden, die für meine
musikalische Analyse relevant sind. So haben sich folgende Muster von Kategorien
gebildet, die in der Abbildung 10.4 sichtbar werden.

KONSTRUKTE KATEGORIEN
1 logische und musikalische Reaktion
INTUITION
11 etwas wagen
2 entwickelte Eigenständigkeit ENTSCHEIDUNG
8 Möglichkeit eines starken Ausdrucks
13 in Verwandlung bringend
6 Spiel entwickelnd* AKTION
7 führend*
5 dialogisches Spiel*
9 spontan reagierend* BEZIEHUNG
12 kontrastierende Stimmführung
4 melodisch betontes Spiel*
EXPRESSIVITÄT
3 innere Bereitschaft mitzusingen
KONTEMPLATION
10 Tendenz in die Ruhe überzugehen

* Vor- und selbstgegebene Konstrukte. Die anderen Konstrukte haben sich aus dem Prozeß der
Triadenentlockung ergeben.

INTUITION (Konstrukt: > Logische und musikalische Reaktion /


Unbeeinflußtes Spiel)
ENTSCHEIDUNG (Konstrukte: > Etwas wagen / Auf Sicherheit gehen; >
Entwickelte Eigenständigkeit / Unsicherheit in der
Spielabfolge; > Möglichkeit eines starken Ausdrucks / In
der Zurückhaltung gehalten)
AKTION (Konstrukte: > In Verwandlung bringend / Spiel
beibehaltend; > Spiel entwickelnd / Im Spiel verweilend;
> Führend / Anpassend)
BEZIEHUNG (Konstrukte: > Dialogisches Spiel / Simultanes Spiel; >
Spontan reagierend / Verzögernd reagierend; >
Kontrastierende Stimmführung / Gleichlaufende
Stimmführung)
EXPRESSIVITÄT (Konstrukte: > Melodisch betontes Spiel / Rythmisch
betontes Spiel; > Innere Bereitschaft mitzusingen / Rein
instrumentales Spiel)
KONTEMPLATION (Konstrukt: > Tendenz, in die Ruhe überzugehen/
Tendenz, das Spiel zu verdichten)

Abbildung 10.4: Die Erzeugung von Kategorien aus den 13 Konstrukten

200
Kategorien der Episoden

Die Grid Analyse zeigt weitere Muster, die sich aus den Episoden ergeben. Die
Abbildung 10.5 läßt Dreier - und Zweierbündelungen erkennen oder hebt einzelne, für
sich stehende Episoden hervor (Ep. 2). Insgesamt lassen sich aufgrund der gebündelten
Muster acht übergeordnete Gruppierungen erkennen, die von mir kategorisiert wurden.

Unbeeinflusste musikalische Organisation

Anpassende, zurückhaltende Spielweise

Dialogische und simultane Spielweise


Musikalisch integrierende Spielweise

Entwicklung musikalischer Parameter

Formbildend auf den musikalischen


Musikalische Führung übernehmen
Entwicklung zum eigenständigen
aktiven Spielpartner

Kontext einwirken
VIII I VII III IV VI V II

E15 E14 E16 E1 E12 E13 E3 E4 E5 E6 E8 E10 E11 E7 E9 E2

Abbildung 10.5: Kategorien der bezogenen Elemente (Episoden) aus der Grid Analyse

Die Kategorien der Konstrukte und Episoden nehmen eine Schlüsselfunktion in meiner
weiterführenden musikalischen Analyse ein. Mit ihnen sind neue Bedeutungsinhalte
gefunden und formuliert worden, die die Konstrukte in einem weiteren Schritt reduziert
haben. Die Kategorie ‘Aktion’ ist zum Beispiel eine Bezeichnung übergeordneter Art,
die die drei sich ähnelnden Konstrukte: ‘in Verwandlung bringen’, ‘Spiel entwickelnd’
und ‘führend’ zusammenfaßt. Somit haben wir hier eine höhere Abstraktionsebene
erreicht, die weiterführende Bedeutungszusammenhänge des musikalischen Materials
offenlegen kann. Die Kategorien der Episoden verdeutlichen den übergeordneten
Zeitverlauf der Therapie. Hier lassen sich acht Perioden erkennen, die für den Aufbau
und die Entwicklung von Melodie wichtig sind.

201
Unbeeinflusste musikalische Organisation

Anpassende, zurückhaltende Spielweise


Dialogische und simultane Spielweise

Musikalisch integrierende Spielweise

Entwicklung musikalischer Parameter


Formbildend auf den musikalischen
Musikalische Führung übernehmen

Entwicklung zum eigenständigen


aktiven Spielpartner
I II III IV Kontext einwirken
V VI VII VIII
E1 E2 E3 E4 E5 E6 E7 E9 E8 E10 E11 E12 E13 E15 E14 E16

T H E R A P I E V E R L A U F
Abbildung 10.6: Die Darstellung der acht Perioden des Therapieverlaufs

Um die Zusammenhänge der Kategorien und Konstrukte visuell leichter erfassen zu


können wird zu diesem Zweck ein Analysemuster entwickelt, in dem die musikalisch
relevanten Beispiele und ihre Bedeutungen, die als Konstrukte und Kategorien
formuliert wurden, in einen übersichtlichen Zusammenhang gebracht werden. Im
Appendix-Teil dieser Arbeit wird am Beispiel der Episode acht aus der ersten Studie
dieses Analysemuster dargestellt und näher erläutert.

D IE B EDEUTUNGSINHALTE DER KATEGORIEN

Es ist wichtig darzulegen, welche Bedeutungsinhalte den Kategorien beigemessen


werden. Nur so kann transparent gemacht werden, was sich hinter den Begriffen verbirgt
und wie sie im Kontext der ersten Studie verstanden und angewendet werden.

Intuition

Die etymologische Erklärung (Pfeifer, 1997) dieses Begriffes stützt sich auf das mlat.
Wort "intuitio", das ‘unmittelbare Anschauung’ bedeutet. Dazu gehört das lat.Wort "in-
tueri" = anschauen, betrachten. Somit weist die Wortbedeutung auf eine unmittelbare,
ganzheitliche Sinneswahrnehmung und ein unmittelbares, nicht diskursives Erkennen
eines Vorgangs hin, das sich von einem Beobachten von Einzelheiten unterscheidet. Es
ist ein gefühlsmäßiges, instinktives Erfassen des Wesens eines Gegenstandes in einem
Akt, ohne Reflexion. Dazu gehören auch die Eingebung und das erahnende Erfassen.

202
In diesem Sinne erschließt sich die Bedeutung dieser Kategorie für die vorliegende
Studie als intuitive, natürliche Reaktionsweise der Patientin. Damit ist gemeint, daß die
Patientin, aufgrund ihrer Intuition, den musikalischen Ablauf in seinem Gesamtkontext
ganzheitlich wahrnimmt und erfaßt. In ihrer Anpassung an den musikalischen Kontext
kann sie sich musikalisch unterschiedlich verhalten: abwartend, folgend oder vorsichtig
kooperierend.

Das unter diese Kategorie fallende Konstrukt ist: > Unbeeinflußtes Spiel/Logische und
musikalische Reaktion.

Entscheidung

Die Wurzel dieses Begriffs geht auf das ahd. ‘intsliozan’ = aufschließen, öffnen und
mhd. Wort ‘entsliezen’ = aufschließen, befreien, lösen, zurück (Pfeifer, 1997). Somit
enthält diese Kategorie folgende Bedeutungsinhalte: In der Situation sein, sich zu
entscheiden. Eine innere Bereitschaft zum eigenen Ausdruck haben, sich von etwas
lösen, bzw. befreien, um etwas Bestimmtes in Angriff zu nehmen. Die kohärente
Identität der Patientin ist in ihrem musikalischen Spiel dadurch hörbar, daß die
musikalischen Phänomene und Parameter im Prozeß sind und als Prozeß erscheinen.
Die unter diese Kategorie fallenden Konstrukte sind: > Etwas wagen/Auf Sicherheit
gehen; > Entwickelte Eigenständigkeit/Unsicherheit in der Spielabfolge; > Möglichkeit
eines starken Ausdrucks/In der Zurückhaltung gehalten.

Aktion

Die etymologische Deutung (Pfeifer, 1997) dieses Begriffes bezieht sich auf das im 16.
Jh. erscheinende, gleichbedeutende lat. Wort "actio", das zum lat. Wort "agere, actum" =
treiben, handeln, tätig sein, eine Rolle spielen, gehört. Auch verwandte Begriffe wie
"Akteur" und "agieren" können hier einen tieferen Einblick in die Wortbedeutung dieser
Kategorie vermitteln. Frz. "acteur", lat. "actor”, “actoris” (gen.) meint nicht nur die
handelnde Person, sondern auch die handelnde Person auf der Bühne. Das seit dem
16.Jh. existierende Verb "agieren" geht auf lat. "agere" mit der Grundbedeutung treiben,
antreiben, in Bewegung setzen, zurück. Von dieser Grundbedeutung ausgehend hat das
Verb zahlreiche Ableitungen und Präfixverbbildungen entwickelt.

Die Grundbedeutung dieses Begriffes kennzeichnet auch die Bedeutung dieser


Kategorie. Die Patientin erscheint als ‘Akteurin’ wie auf einer unsichtbaren Bühne,
indem sie, aus einer bestimmten inneren Verfassung heraus, etwas in Bewegung setzt,
etwas bewirkt. Indem sie etwas (= die Musik) antreibt, wirkt sie aktiv auf den
musikalischen Prozeß ein und bestimmt somit das zukünftige musikalische Geschehen.
Konkret heißt das:

203
• Im Prozeß sein und konkret handeln können ("Alea iacta est"= die Würfel
sind gefallen).

• Die Entschlußkraft haben, konkret handeln zu können.

• Auf externe Forderungen (Interventionen der Therapeutin) flexibel reagieren


können. Auf die eigenen internen Forderungen (interne Impulse) flexibel
reagieren können.

Die musikalischen Aktivitäten, die als künstlerisches Medium dieser Entschlußkraft


dienen, zeigen sich in den musikalischen Prinzipien und Parametern. Sie ähneln und
decken sich teilweise mit den von Bruscia (Bruscia, 1987, S. 416) unter den Begriffen
"salience" und "variability" aufgeführten Aspekten der improvisatorischen Techniken. In
Tabelle 10.2 sind sie hierarchisch, nach dem Grad ihrer Verfügbarkeit in einer
autonomen Handlungsweise, geordnet. Die für die erste und zweite Studie relevanten
Prinzipien sind:

Handlungsweisen Musikalische Prinzipien


orientieren und sichern andeuten, wiederholen, zurückspielen,
komplementieren, vervollständigen
entwickeln und organisieren imitieren, sequenzieren, modulieren, variieren,
formen, gestalten, integrieren, intensivieren,
steigern
bestimmen und kontrollieren einwerfen, eingreifen, intervenieren,
kontrastieren, differenzieren, diminuieren,
crescendieren, Wechsel hervorrufen,
Übergänge herstellen, pausieren, ausdehnen,
verlängern, augmentieren, Raum einfügen,
Platz geben, pausieren, begleiten, führen, bzw.
anführen

Tabelle 10.2: Handlungsweisen und musikalische Prinzipien

Diese getroffenen Zuordnungen sind nicht als ein festes Schema gedacht, sondern sie
schildern die musikalischen Prinzipien, die am häufigsten mit den zugeordneten
Handlungsweisen auftreten. Selbstverständlich können auch einige dieser aufgeführten
musikalischen Prinzipien anderen Handlungsweisen zugeordnet werden,
beziehungsweise sich mit diesen überschneiden. Sie sind als mögliche Kombinationen
gedacht, die bei der Analyse in Erwägung gezogen werden können.

Die unter diese Kategorie fallenden Konstrukte sind: > Spiel in Verwandlung bringen; >
Spiel entwickelnd; > Führend.

204
Beziehung

In der etymologischen Deutung (Pfeifer, 1997) haben wir den Hinweis auf die Verbform
"ziehen", ahd. "ziohan", got. "tiuhan", mhd. "ziehen". Das Wort "ziehen" gehört zu einer
indogerman. Wurzel "deuk"= ziehen oder lat. "ducere"= ziehen, führen. Aus dieser
Form haben sich zahlreiche Präfixbildungen und Zusammensetzungen entwickelt. Im
mhd. bedeutet das Wort "beziehen" zu etwas kommen, etwas erreichen. Somit zeigt sich
die Bedeutung der Kategorie "Beziehung" als eine menschliche Verbindung, die auf
einen inneren Zusammenhang hindeutet, der durch die Verbformen ziehen und führen
eine innere Aktivität und Zielgerichtetheit aufweist. Konkret bedeutet das für diese
Studie:

• Seine Position in der musikalischen Beziehung finden (P./Th.).

• Die Art und Weise, musikalisch in Beziehung zu treten (intrapersonell und


interpersonell).

• Die Möglichkeiten des musikalischen ‘In-Beziehung-Tretens’


(intrapersonell und interpersonell) wahrnehmen und ergreifen.

• Die Etablierung der musikalischen Beziehung im wechselseitigen


Verhältnis.

• Das ‘Miteinander-Teilen’ der musikalischen Spielaktivität.

Die Beziehung kann an Hand der musikalischen Prinzipien und Parameter


nachgewiesen werden. Wie bei jeder Kommunikation haben wir hier einen Inhalts - und
Beziehungsaspekt, nämlich das "Was" (die Information) und das "Wie" (der Hinweis
darauf, wie der Sender das Was vom Empfänger verstanden hat und verstanden haben
möchte) (Watzlawick, Beavin & Jackson, 1990). Während Beziehungen im alltäglichen
Leben häufig weniger bewußt und ausdrücklich definiert werden, können sie in Form
einer musikalischen Beziehung direkt gehört und nachgewiesen werden. Watzlawicks
Hinweis über die Definition einer Beziehung läßt sich direkt auf die musikalische
Beziehung übertragen: diese rückt um so mehr in den Hintergrund, je spontaner und
unmittelbarer sie in ihren Äußerungen vollzogen wird, während konfliktreiche
Beziehungen unter anderem durch wechselseitiges Ringen um ihre Definition
gekennzeichnet sein können, wobei der Inhaltsaspekt fast völlig an Bedeutung verliert.
Eine unbelastete Beziehung (Beziehungsebene) zeigt sich in der Freiheit der
musikalischen Gestaltung, die vom Patienten spontan und aus eigenem Antrieb geäußert
wird. Damit rückt der Inhaltsaspekt der Beziehung, das heißt die Variationsvielfalt in der
musikalischen Gestaltung in den Vordergrund. Selbstverständlich ist diese von den
individuellen Voraussetzungen der Patientin und der Therapeutin abhängig. Tabelle 10.3
führt den Zusammenhang zwischen der musikalischen Äußerung und der Beziehung
deutlicher vor Augen.

205
Parameter und Definition der Beziehung
musikalische Prinzipien
Rhythmus, Harmonie, Parameter und musikalische Prinzipien
Melodie, Tonhöhe, Timbre, können die idiographischen
rhythmisch-metrischer Kommunikationsaspekte bilden, mit denen
Spielfluß, Artikulation, der/die Patient/in den musikalischen Bezug
Dynamik, Tempo, zu sich selbst (intrapersonell) und zur
musikalische Prinzipien Therapeutin (interpersonell) findet, bzw.
(s.Kategorie Aktion) definiert.
Musikalischer Dialog Der Bedeutungsinhalt des musikalischen
Dialogs kann mit Hilfe der dialogischen
Struktur ausgehandelt werden: Geben und
Nehmen, Anführen und Folgen, Call und
Response in dichter, strukturierter oder
freier Abfolge.
Der musikalische Dialog kann helfen, eine
Beziehung zu bewerkstelligen und zu
etablieren.

Tabelle 10.3: Zusammenhang zwischen den musikalischen Parametern und der intra-
und interpersonellen Beziehung.

Die in dieser Kategorie enthaltenen Konstrukte sind: > Dialogisches Spiel; > Spontan
reagierend; > Kontrastierende Stimmführung.

Expressivität

Die etymologische Deutung (Pfeifer, 1997) des gleichbedeutenden Begriffes


"Ausdruck" entwickelte sich aus dem altgermanischen Verb "drücken", ahd. "drucchen".
Das Verb gehört mit der Grundbedeutung "reiben, bedrängen" zu der unter "drehen"
behandelten Wortgruppe. Schon im Mhd. wird es auf den geistigen und seelischen
Druck übertragen ohne seinen eigentlichen Sinn zu verändern.

Das Verb "ausdrücken" wird im 16. Jh. nach dem Vorbild von lat. "exprimere" auf
sprachliches Ausdrücken übertragen und dann allgemein auf das künstlerische
Gestalten.

Die etymologische Erklärung dieses Begriffes trifft auch auf die musiktherapeutische
Situation zu. Sich ausdrücken können und wollen setzt einen inneren geistigen und
seelischen Druck voraus ("reiben, bedrängen"), der durch künstlerisches Gestalten,
Lösen und Veranschaulichen eine Umwandlung erfahren kann. Konkret bedeutet diese
Kategorie für die erste Studie:

• Sich öffnen und aufgeschlossen sein für Expressivität.

• Zulassen der eigenen Expressivität, des eigenen, momentanen Ausdrucks.

206
• Die Ausdrucksfindung, die sich im musikalischen Spiel des Patienten zu
entwickeln und etablieren vermag.

Die in dieser Kategorie enthaltenen Konstrukte sind: > Melodisch betontes Spiel; >
Innere Bereitschaft, mitzusingen.

Expressivität äußert sich in den und durch die musikalischen Parameter und Prinzipien.

Kontemplation

Dieser Begriff ist aus dem lat. ‘contemplatio’ = Anschauung, Betrachtung, entlehnt, mit
der entsprechenden Verbform ‘contemplari’ = beschauen, betrachten (Pfeifer, 1997).
Das Wort zeigt eine Verbindung zu lat. ‘templum’ mit der ursprünglichen Bedeutung
von ‘abgegrenzter Bezirk’, ‘Beobachtungsfeld für die Vogelschau’. Das Substantiv
wird in bezug auf das geistige Schauen zu einem Begriff in Religion und Mystik und
bezeichnet die Versenkung in die Werke Gottes und in die Gottheit selbst.

Kontemplation meint im Kontext dieser Studie, die Möglichkeit einer inneren


Versenkung und gleichzeitigen Selbstbesinnung im musikalischen Ausdruck zu finden.
Das setzt eine innere Balance sowie eine Ausgewogenheit von Nähe und Distanz voraus.
Konkret hat diese Kategorie folgende Bedeutung:

• Selbstbesinnung und innere Sammlung im musikalischen Spiel.

• Vertiefung und Versenkung in das musikalische Spiel.

• Innere Sammlung in der musikalischen Tätigkeit.

• Läuterung und Verfeinerung im musikalischen Spiel.

Das in dieser Kategorie enthaltene Konstrukt ist: > Tendenz, in die Ruhe überzugehen.

Z USAMMENFASSUNG

Den Fokus meiner Analyse bilden die durch die Persönliche Konstrukt Theorie
gewonnenen Kategorien der Konstrukte und Episoden. Diese konnten an Hand der
Abbildungen 10.4 und 10.5 vermittelt werden. Abbildung 10.4 stellt die Konstrukte als
relevante Kategorien der musikalischen Analyse dar, Abbildung 10.5 zeigt die Episoden
als relevante Kategorien im Therapieverlauf. Aus den Abbildungen der Grid Analyse ist
deutlich geworden, daß die Episoden nicht isoliert voneinander auftreten, sondern auf
bestimmte Art und Weise miteinander verbunden sind. Das, was sie verbindet, ist durch
den Inhalt der Konstrukte bestimmt. Ein Beispiel für ein derartiges
‘Verbindungsmuster’ können wir in der Dreierbündelung der Episoden 8, 10 und 11
entdecken (vgl. auch Ep. 14, 15 und 16). Diese Dreierbündelung stellt ein Beispiel für

207
die Kategorie: “Entwicklung musikalischer Parameter” dar. Die Frage lautet also: Wie
hängen die musikalischen Elemente, die in den Episoden 8, 10 und 11 entwickelt
wurden, mit den von mir erzeugten Kategorien der Konstrukte, das heißt mit Intuition,
Aktion, Beziehung, Expressivität und Kontemplation, zusammen? In dem vorliegenden
Beispiel wurde von mir, ausgehend von dem Muster der Dreierbündelung, das mit
“Entwicklung musikalischer Parameter” bezeichnet wurde, ein Zusammenhang
zwischen dem musikalischen Material (Rhythmuswechsel), und der Kategorie Aktion
gesehen.

Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge führt uns in das folgende Kapitel 11, in dem
die fokussierte Analyse der ersten Studie durchgeführt wird.

208
Kapitel 11:

Analyse und Ergebnisse

In diesem Kapitel kommen die Analyse und ihre Ergebnisse zur Darstellung. Die
Gliederung des deskriptiven Diskurses erfolgt entlang der Kategorien der Episoden, die,
wie wir in Kapitel 10 gesehen haben, ein Verlaufsmuster von acht Perioden aufweisen
(vgl. Kapitel 10, Abb. 10.6)

Damit der Leser die aufgedeckten Zusammenhänge im Analyseteil besser mitverfolgen


und in Beziehung setzen kann wird eine vollständige Abbildung der einzelnen Episoden
den jeweiligen Analyseabschnitten vorangestellt. Um dem Leser die musikalischen
Interaktionen und Bezüge zwischen Patientin und Therapeutin und vice versa deutlicher
vor Augen führen zu können werden zusätzlich graphische Zeichen, wie Richtungspfeile
und Linien zur Hilfe gezogen. Kreise heben die Bedeutung besonders wichtiger und
aussagekräftiger musikalischer Merkmale hervor. Die Kennzeichnung
zusammenhängender Teile, wie Motive und Motivgruppen wird mit Hilfe von Klammern
dargestellt. Die Unterscheidung kontrastierender, beziehungsweise variierender Motive,
Motivgruppen oder Abschnitte wird, wie allgemein üblich, mit kleinen, beziehungsweise
großen Buchstaben gekennzeichnet.

209
y
Rhythmische Stimme der Patientin auf den
Naturfellinstrumenten: Koreatrommel und Bongos
(Episoden 1-6, 12-15)
Rhythmische Stimme der Patientin auf der großen Trommel
(Episode 16)

1
Rhythmische Stimme der Patientin auf der kleinen
Trommel (Episode 16)

y Y
Rhythmische Stimme der Patientin auf dem Becken
(Episode 16)
und

1
Parallel ausgeführte Spielweise der Patientin auf der kleinen
Trommel (Episode 16)

Innermusikalische Bezüge im Spiel der Patientin und


Therapeutin

oder

Musikalische Bezüge zwischen Patientin und Therapeutin:


von einer Seite ausgehend

oder
Musikalische Bezüge zwischen Patientin und Therapeutin:
von beiden Seiten ausgehend
Hervorhebung aussagekräftiger, musikalischer Merkmale

Kennzeichnung bestimmter Töne mit fixierter Tonhöhe,


nicht fixierter Tonhöhe und akzenthafter Hervorhebung

y q
oder 3v
Kennzeichnung zusammenhängender Teile, wie Motive und
oder
Motivgruppen

a b Unterscheidung kontrastreicher Motive und Motivgruppen


oder

a a1 Unterscheidung ähnlicher Motive und Motivgruppen


oder

A oder B Kennzeichnung größerer Formabschnitte

Legende der graphischen Zeichen:

210
Unbeeinflußte musikalische Organisation (Ep. 1)

EPISODE 1:

Kontext: Episode 1 zeigt den Anfang der ersten Improvisation aus der zweiten Sitzung.
Die Patientin spielt mit den Händen auf 2 Koreatrommeln (Naturfelltrommeln) und wird
von der Therapeutin auf dem Klavier begleitet.

-
q = 110 Moderato
1
4¿Œ¿Œ ¿¿¿Œ ¿Œ¿Œ ¿¿¿Œ ¿Œ¿Œ ¿¿¿ Œ
Patientin (Koreatr.) 4
P p
b œ
Therapeutin (Klavier) & b b 44 ∑ ∑ œ
˙ ˙ œ œ œ .œ. ˙ ˙ œ œ n œ œ . .

7
- - - - - -
¿ Œ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰
p
P.

b œ œ œ œ nœ œ œ j œj
Th. & b b œ nœ œ œ œ œ œ œ œ . . œ œ nœ ˙ ˙ ˙ œ œ œ œ . œ.

13
-
¿ ¿¿¿¿¿¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿ ¿ ¿¿¿ ¿¿ ¿ ¿¿¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿
P.

˚ ˚p
j̊ j
b j j œ œ œ . . œ . . œ œ œ œj . .˚j̊
j̊ œ ˚j̊
Th. b
& b ˙ ˙ œ œ œ œ œ.. ‰ œœ ‰ ‰ ‰ ‰
œ œ œ œ œ œ œ ‰ . .œ

18
- - - - - -
P. ¿ ¿ ¿ Œ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿¿Œ Ó
b j ˚ j j
œ j̊
Th. b
& b œ œ ‰ œœ‰ . œ. œ œ œ œ œ œ œ œ œ . œ. œ œ œœ œ . .œ ˙ œ œ . .œ œ Œ Ó

Diese Episode wird durch die Kategorien Intuition und Entscheidung bestimmt.
Intuition zeigt sich gleich zu Beginn der Episode. Unbeeinflußt von der Therapeutin
beginnt die Patientin in einem moderaten Tempo mit einer zweitaktigen rhythmischen
Gestalt, die sie in leiserer Abstufung (p) wiederholt:

211
-
q = 110 Moderato

¿Œ¿Œ ¿¿¿Œ ¿Œ¿Œ ¿¿¿Œ ¿


P
mp pp
∑ ∑ ˙ ˙ œ œ œ œ .œ. ˙

Bei der ersten Darstellung dieser rhythmischen Gestalt fällt in Takt 2 ein leichter Akzent
auf die zweite Zälzeit. Die Therapeutin setzt imitatorisch in Takt 3 mit einer zweitaktigen
Phrase eines insgesamt acht Takte umfassenden Themas in f-moll, in rhythmisch
ähnlicher Konstellation ein. Das Ende der zweitaktigen Phrase ist scharf punktiert, so
daß sich für den folgenden Takt eine auftaktige Wirkung ergibt. Dadurch wird der
Spielfluß angetrieben. Zum Thema erklingt eine einfache Quintbegleitung, die, wegen
ihrer untergeordneten Funktion, nicht im Notenbild erscheint. Intuition zeigt sich auch
in den Takten 8, 10 und 15:
10 1
¿ ¿ ¿ Œ
8 9
¿ ¿ ¿ Œ
15 1
¿ ¿¿¿ ¿¿
˚j̊ ˚j̊
œ œ œ œ‰ . .œ ‰ . .œ
œ œ œ œ œ.. œ œ nœ ˙ œœ

Die Takte 8 und 10 stellen Phrasenenden (Männliche Endungen) dar, in denen die
Patientin eine konsequente Spielweise wählt. Die Schlußbildung in Takt 10 weist durch
das harmonische Moll eine stärkere Halbtonspannung zur Tonika auf. In Takt 15 sehen
wir eine lebendige Unterteilung zwischen Viertel- und Achtelwerten, die die Patientin zur
rhythmisch-melodischen Variante des Themas konsequent über zwei Takte beibehält.
Die rhythmisch-melodische Variante des Themas vollzieht sich in einer
Abwärtsbewegung von f2 nach as1 mit Doppelpunktierungen, die kurz und präzise
artikuliert werden.

Ein Beispiel für die Kategorie Entscheidung bilden die Takte 11-12 und 19-23:
11 12 -
¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰
p
j j
˙ ˙ œ œ œ œ œ . œ.

212
19
- 20
- - - - -21 22 23
Œ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿¿Œ Ó
˚j̊ j
œ œ œ œ œ œ œjœ œ . œ. œ œ œœ œ . œ. ˙ œ œ . .œ œ Œ Ó

Bei der Wiederholung des Themas (T 11 ff) wählt die Patientin eine variierende
Spielweise, indem sie sich für Achtelgruppen entscheidet, mit Taktbetonung auf der
dritten Zählzeit. Auch hier ist Intuition wirksam, denn die Wiederholung des Themas
wird von der Patientin antizipiert. Die Therapeutin läßt die Wiederholung des Themas
mit synkopischer Variante erscheinen. Die Takte 15-18 der variierten
Themenwiederholung münden gleichzeitig in ein zweites Thema (T 19-23), das an die
Melodieführung des Spirituals ‘Go down Moses’ erinnert. In diesem Thema werden
die Synkopierungen und scharfen Punktierungen als charakteristische rhythmische
Merkmale beibehalten. Die Patientin entscheidet sich hier für eine begleitende und
kräftiger betonte Spielweise in Vierteln, die zum Phrasenende hin decrescendiert. Dieses
‘Schwächerwerden’ am Ende einer Phrase oder musikalischen Einheit läßt auch ein
Element von Intuition durchblicken, denn es zeigt eine natürliche, sinnvolle Reaktion in
bezug auf Schlußbildungen.

Welche Bedeutung hat Episode 1?

Episode 1 verdeutlicht, daß bei der Patientin intern eine innere Struktur lebendig ist, die
sie ins Spiel bringen kann. Sie zeigt ein Formempfinden für Zweitaktmotive, die sie im
Spielverlauf unmittelbar zum Ausdruck bringen kann. Die Therapeutin reagiert darauf
mit einer entsprechend klaren melodischen Struktur. Gleichzeitig treibt sie durch die
Verwendung von Vorschlagbildungen und portato/staccato-Artikulation das Spiel voran.
In der Spalte ‘Persönliche Bemerkungen’ (Indexmuster) ist hierzu entsprechend
angeführt: “Ich (Th.) versuche das Spiel der Patientin in Gang zu halten”. Von mir
wird das Spiel der Patientin zunächst zurückhaltend, musikalisch anpassend, aber auch
beteiligt, mit der Fähigkeit zu gestalten, erlebt. Ihre gestalterischen Fähigkeiten deuten
sich durch ihren Spielausdruck im Rhythmischen, Dynamischen, in der Formbildung
und Artikulation an.

213
Dialogische und simultane Spielweise (Ep. 2)

EPISODE 2:

Kontext: Episode 2 folgt etwas später, nach der Episode 1 und zeigt den weiteren
Verlauf der ersten Improvisation aus der zweiten Sitzung an.

-
44 ‰ ¿j¿ ¿ ¿ ¿
1

¿¿¿ ¿¿¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿ ¿¿¿¿¿ Œ


Patientin (Koreatr.)
p p p
œ
4 œœj̊ œ Œ œ Œ œœj̊œ Œ œ Œ œj̊œ œ Œ bœjœ Œ œj Œ Ó
Therapeutin (Klavier) &4 œ œ œ œ œ œ
F
5

P. Ó‰ ¿ ¿ ¿ Ó ¿ ¿ ¿ Ó ¿ ¿
π Ó ¿π
¿j ¿
-3 flüchtig hastig subito
3 3 3

œœœ œ œœ œœ œ bœ œ œ œb œ œ œ
Th.
&œ Œ Œ Œ œ Œ Œ Œ b œœœ Œ Œ Œ b œœœ Œ Œ Œ

9
Ó ¿ ¿ Ó ¿ ¿ ¿ Ó ¿ ¿ ¿ Ó ¿ Œ
p P
P.
leise, aber deutlicher
œ œ œ œ œ œ œ œ
œ œ
Th.
& b œœœ n œœœ Œ Œ b œœœ n œœœ Œ Œ œ œ Ó bœ nœ Ó
p p

13 tremolo

Ó ¿ Œ Ó ¿ Œ Ó ¿ Œ Ó ¿¿¿¿¿¿¿¿
f ƒ ß P
P.

œ œ œ œ
œ œ œœœ Œ
Th.
& b œœœ Œ Ó œ
b œœ Œ Ó Ó
œ
Œ Ó
f f f f

In dieser Episode kommen die Kategorien Intuition, Entscheidung und Aktion zur
Geltung. Intuition wird durch die Takte 2-5 verdeutlicht, Entscheidung durch die Takte
7-12 und Aktion durch die Takte 13-16.

214
Intuition:
v e r z ö g e r n d

2 3 4

¿¿¿ ¿¿¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿ ¿¿¿¿¿ Œ


p p
. . . .
j̊ œ œ œ
œ n œœ œ
j̊ j
œ Œ œ Œ œ Œ œœ Œ Œ Ó
n œœ j œ

Ó‰ ¿¿¿
-3 flüchtig
flüchtig

œn œ œ œ
œ Œ Œ Œ

In den Takten 2-4 antizipiert die Patientin den aufsteigenden f-moll Dreiklang, der eine
harmonische Entwicklung zur höheren Quint impliziert. Die durch den aufsteigenden f-
moll Dreiklang erzeugte Erwartungsspannung wird durch die Erweiterung der
Tonabstände von Oktave und Vorschlagnoten unterstützt. Ebenso tragen Artikulation
und die durch sie deutlich hervorgehobenen Viertelpausen auf der zweiten und vierten
Zählzeit dazu bei. Aufgrund dieser musikalisch erzeugten ‘Erwartungshaltung,
beziehungsweise ‘Erwartungsspannung’ verfällt die Patientin in eine Achtelbewegung,
die sie in Takt 4 mit einem Viertel auf der dritten Zählzeit abschließt. Ein Höhepunkt ist
erreicht, der durch die Viertelpause seine zusätzliche Wirkung erhält. Allerdings
schwächt die Patientin selbst ihre einmal begonnene und mitvollzogene Steigerung
durch eine leichte Bewegungsverzögerung in den Takten 3 - 4 wieder ab. Hier zeigt sich
deutlich ihre Ambivalenz im Mitgehen oder vorsichtigen Verweilen. In T 5 übernimmt
die Therapeutin die Entscheidung für den musikalichen Fortgang. Mit einer schnell
dahingespielten Triolenfigur im F-Dur Tonbereich lädt sie zum Dialog ein. Die Patientin
reagiert spontan auf dieses dialogische Angebot. Sie ergänzt im gleichen
Betonungsverhältnis mit demselben rhythmischen Muster, das sie in Takt 2 verwendete.
Ihre Antwort ist jedoch flüchtig und hastig gespielt.

215
Entscheidung:

7 8

Ó ¿ ¿
π Ó ¿π
¿ ¿
j
subito
3 3

œ bœ œ œ œ bœ œ œ
b œœœ Œ Œ Œ bœœœ Œ Œ Œ

s.T2,5,6
9 10 11 12

Ó ¿ ¿ Ó ¿¿¿ Ó ¿¿¿ Ó ¿ Œ
leise, aber deutlicher p P
œ œ œ œ œ œ œ œ
œ œ
bœœœ n œœœ Œ Œ b œœœ n œœœ Œ Œ œ œ Ó b œ nœ Ó
p p
In den Takten 7 und 8 variiert die Patientin ihre Antwort entsprechend des von der
Therapeutin eingeführten kontrastierenden Harmoniewechsels nach Moll, indem sie sich
für subito pp und zwei gleichmäßige Viertel entscheidet (rhythmische Vergrößerung).
Ihr nur einmal auftretender Vorschlag in Takt 8 kann als zufällig und flüchtig, oder aber
als intendiert, in Beziehung zu den Vorschlägen der Therapeutin (T 1-4) betrachtet
werden. Ab Takt 10 greift die Patientin wieder auf das Muster von T 5 zurück. In T 12
reduziert sie ihre Antwort auf ein Viertel. Insgesamt hat sie sich stärker in den
Vordergrund gespielt. Die von der Therapeutin hervorgehobenen Triolenmuster (T 5-8)
exponieren insbesondere den Taktbeginn und haben somit eine starke ‘ziehende’
Wirkung, die auf Ergänzung hinzielt. Unterstützt wird diese Wirkung durch die
dissonierenden Klangfarben der Intervalle (None) und des verminderten Dreiklangs
(d/f/as).

Aktion:

tremolo
13 14 15 16

Ó ¿ Œ Ó ¿ Œ Ó ¿ Œ Ó ¿¿¿¿¿¿¿¿
f ƒ ß P
œ œ œ

œœœœ Œ Ó œœœœ Œ Ó œœœ Œ Ó Œ Ó
œ
f f f f
In T 13 greift die Therapeutin den Viertelschlag der Patientin von T 12 auf und geht in
kräftige Akkordblöcke über. Die Spitzentöne formieren sich zu einem sukzessiven

216
melodischen Verlauf, mit Leittonspannung und nach C modulierend, was durch die
gepunktete Linie hervorgehoben ist. Bedingt durch die Akkordblöcke, die mit den
Viertelschlägen der Patientin alternieren, verlangsamt sich der Bewegungsfluß. Im Spiel
der Patientin zeigt sich eine dynamische Entwicklung von forte bis zum sforzato mit
einer abschließenden Tremolobewegung in mezzopiano.

Welche Bedeutung hat Episode 2?

Das unmittelbare Eingehen der Patientin auf das dialogiche Angebot verdeutlicht ihre
spontane Beziehungsfähigkeit . Sie ist wahrnehmend und zeigt intuitives Gespür für ihr
eigenes musikalisches Spiel, das sich sinnvoll formiert und in Beziehung zur Musik der
Therapeutin setzt. Im Kontrast dazu steht die Art und Weise, wie sie zu ihrem eigenen
Spiel in Beziehung steht: etwas unsicher, distanziert, noch nicht völlig inkorporiert.
Dieses ist hörbar in ihrem unsicheren Verhältnis zum Tempo und ihrer verzögernden,
ambivalenten Spielweise. Jedoch wird in T 12 von der Patientin selbst eine Wende
hervorgerufen, die sich in Aktion umformt. Mit ihrer Spielreduzierung auf ein Viertel
unterbricht sie den metrischen Lauf; die Bewegung verlangsamt sich, so daß mehr Raum
für dynamische Ausdrucksmöglichkeiten entsteht. Hier wagt sich die Patientin,
unterstützt von der Therapeutin, vor und setzt die, bereits in T 9 deutlicher werdende
Spielweise fort, dynamisch steigernd bis zum sforzato. Die Interaktionsmuster:

Th. cœœœœ Ó

P. c Ó œœœ Ó œ œ Ó Œ œ

werden von beiden gesteuert, kontrastiert, entwickelt und variiert. Im interaktiven Spiel
besteht hohe Intensität und Aufmerksamkeit.

217
Musikalisch integrierende Spielweise (Ep.3, 4, 5)

EPISODE 3:

Kontext: Episode 3 ist der weitere Verlauf der ersten Improvisation aus der zweiten
Sitzung. Die Musik ist inzwischen nach c-moll moduliert und hat die Form eines 6/8
Taktes angenommen.

Largo qk = 40 -
6 ¿ j j - j j- j
¿¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
1

Patientin (Koreatr.) 8p

b 6 œ œ œ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ . œ œ œœ . œ œ œ œj j
& b b 8 œ œ nœ œ. œ. nœ œ
p j j j
œ ‰ œ œ œœ . œ œœ . œ œ œ œ
Therapeutin (Klavier)
œ œ œ œ œ
? b 6 œœ . œœ . œ. œ. œ. œ œ œ
b b 8 J
- j- j j j j - - - - j j j
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
5

Œ
P.
p
j
b œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
œœ .. œœ .. œ nœ
j
œ œ œ œ œ œ œ
&bb
j f j j
œ œ œ œœ . œ œœ .. œ. œ œ
Th.

? b œ œ œ œ j œœ .. œ. œ œ
bb œ œ œ œ œ. œ.

- j -j j j j j j
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
10

P.

j
b œ œ œ œ œ œœ . œ œ œœ . œ œ œ œ œ nœ j
œ œ œ œ œ œ œ
&b b œ. œ.
j j j
œ œ. œœ .. œœ .. œœ . œ œ.Œ œ œœ .. œœ ..
Th.

? b œœ . œ.
b b

j j j j j j j j j j
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
14

P.

b j j j
& b b œ œ #œ œ œ œ œ œ j j j
œ œ œ œ œ œ œ nœ j
œ nœ . œ.
j j
Th.

? b
œ œ œ. œœ .. œ. œœ .. œ. œ œ j Œ œ œ œ
b b J J œ œ œ. œ.

In dieser Episode kommen die Kategorien Beziehung und Entscheidung zur Geltung.
Sie sind nicht scharf voneinander zu trennen, sondern lassen sich teilweise auf dieselben
Notenausschnitte anwenden. Beziehung läßt sich an Hand der Takte 1-6, 9, 13 und 18
nachweisen, Entscheidung an Hand der Takte 5-8 und 12.

218
Beziehung:

Die Takte 1-4 verdeutlichen, daß die Therapeutin zu einem langsamen Thema in c-moll
übergewechselt ist, das in einem schwingenden 6/8 Metrum erklingt. Die Episode
beginnt mit der ersten 4-taktigen Phrase des Themas, die auf einem Halbschluß, dem
Dominant-Sept-Klang endet und somit ein unabgeschlossenes Gebilde darstellt. Dieser
erste 4-Takter entspricht dem Vordersatz einer 8-taktigen Periode. Das Bezugssystem
von 2 → 2+2 = 4 → 4+4 = 8, mit der dahinter liegenden Idee von Ergänzung,
Entsprechung und Korrespondenz, bestimmt auch die motivischen und harmonischen
Beziehungen innerhalb dieser Episode. Im Verlauf dieser Episode wird der Vordersatz
mehrmals wiederholt, so daß sich folgender formaler Aufbau ergibt:

Takte: 4 (1-4) + 4 (5-8) + 4 (9-12) + 6 (13-18)


Abschnitte: A A A B

Der Vordersatz hat die Harmoniefolge: t, s und D7, die in gebrochenen Begleitakkorden
in Aufwärtsrichtung, entsprechend der metrischen Grundbetonung, erscheint. Die
Melodiestimme zeigt eine in Terzen verlaufende Sekundbewegung mit dem Kernmotiv
‘a’, das aus drei-Achtel-Tongruppen besteht und wiederholt wird. Die Patientin bezieht
sich zur Melodie durch die Übernahme des rhythmischen Grundmusters der Melodie,
das durch die Motivformen ‘a’ und ‘b’ verdeutlicht wird.

Motiv a: a Motiv b: b
j
¿ ¿ ¿ ¿ ¿
Sie ‘schwingt’ im metrischen Zeitmaß des 6/8 Taktes, indem sie die erste und vierte
Zählzeit hervorhebt:

Largo qk = 40

- j - j -
b a a b

68 ¿ ¿j ¿ ¿ ¿ ¿.
j j
2 3 4

¿ ¿ ¿ ¿a ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
p a a
j
b

b b b 68 œœ œœa n œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ ..
œœ . œ œ œœ . œ œ œ œ nœ œ
j
œ. œ. b
p j j j
œ œ œ œ œ ‰ œ œ œ
œ. œ œ
œ. œ œ œ œ
6 œ œœ . œ. œ œ. œ œ œ
bbb 8 œ . œ. J

219
Beziehung, Entscheidung:

a
- j- j --- - j
b a b b b
5 j 6 j7 j 8 9

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿a ¿ ¿ ¿ ¿ a¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
a
j a

œœœœœœ œœœœ œ œœ . œ œ œœ . œ œ œ œ œ
n œ œ
j
œ. œ. b
j f
œ œ.
mf
œ œ œ œ . œ œ .
j
œœ œœ œ œ œ. œ
. œ. œ.
œ œ

Bei der Wiederholung des Themas in Takt 5 beginnt die Patientin mit Motiv ‘b’,
beziehungsweise setzt ihre Spielweise der Takte 3-4 fort. Den 6. Takt spielt sie simultan
zur Therapeutin mit ‘a’. Ausschlaggebend hierfür könnte der Anstieg zur Quint sein. In
Takt 7 erklingt ‘b’ im Kontrast zu ‘a’ (Th.). Eine deutliche Entscheidung für Motiv ‘a’
wird in Takt 8 durch die einzeln hervorgehobenen Töne hörbar. Hier folgt sie der
abfallenden Melodielinie, die in die Halbschlußspannung mündet. Der von der
Therapeutin wiederholte Vordersatz des Themas erklingt bei der Wiederholung ohne
Terzen, das heißt der Melodieverlauf tritt klarer in den Vordergrund und zeigt eine
dynamische Entwicklung zum mezzoforte.

Mit der zweiten Wiederholung des Vordersatzes in Takt 9 dominiert im Spiel der
Patientin das Motiv ‘b’, das sie zeitversetzt mit einem auftaktigen Achtel beginnen läßt.
Hier bezieht sich die Patientin auf die rhythmische Begleitfigur der Therapeutin. Im
Gegensatz zum gesteigerten Forte der Therapeutin erklingt ihr Spiel in leiser Dynamik:

b
9 j j
Œ ¿ ¿ ¿
p a
jœœœœœ œ
f j j
b b

œ œ
œœ . œœ .

Entscheidung:

In der zweiten Takthälfte von Takt 12 , das heißt am Ende des Vordersatzes, entscheidet
sich die Patientin für das Grundmotiv ‘a’ und übernimmt damit gleichsam die
Achtelbewegung der Therapeutin:

220
s.T. 8
b a
12 j 13

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
a

œ œ œ n œ œj œ
b
j j p
œœ . œ œ . Œ œ œ
œ

Mit dieser Entscheidung für das Motiv ‘a’ leitet sie gleichsam zum sechstaktigen
Nachsatz (Formabschnitt B) über.

Wenn wir nach der Bedeutung dieser dritten Episode fragen so ist als erstes die
interpersonelle Beziehung zu nennen, die zwischen Patientin und Therapeutin deutlich
hörbar wird. Beide teilen sich die Schwerpunkte des schwingenden Metrums. Die Wahl
des Largo-Tempos und der Tonart c-moll ist von der Therapeutin nicht nur intuitiv
gewählt (das Erspüren eines inneren Ausdrucksbedürfnisses bei der Patientin), sondern
zeigt auch eine bestimmte Ausdrucksweise der Therapeutin, die ein Teil von ihr ist. Die
persönliche Bemerkung der Therapeutin in der Indexspalte lautet hier: ” Ein Element
von Vertrauen ist spürbar”. Die hier zum erstenmal auftretende Tonart c-moll als auch
der 6/8 Takt sind beides wichtige Elemente in der Melodie “Ein Spaziergang durch
Paris” der letzten Sitzung.

Von Bedeutung ist auch die Hinwendung der Patientin zum Melodischen. Sie perziptiert
den Melodiverlauf und die harmonische Bewegung im Baß. Aus beiden Elementen
formt sie ihre eigene “Spielstimme”. Auffällig sind die Takte 8 und 12 (Schlußtakte
des Vordersatzes), in denen sie fast führend hervortritt. Während sie in Takt 8 den
Melodieverlauf stark artikuliert (die Pause in Takt 9 könnte man als notwendige
“Atempause” für das vorangegangene, stärkere Hervortreten deuten) übernimmt sie mit
dem Motiv ‘a’ in Takt 12 die Überleitung zum Nachsatz (Formabschnitt B), der
wiederum zum offenen Dominant-Septklang überleitet. Der von der Therapeutin in
piano abgehobene Nachsatz wird von der Patientin konsequent mit dem Motiv ‘b’
gestaltet, in ruhiger Ausführung und mit einer Tendenz zur Verzögerung (T 17 und 18).
Hier vertieft sie sich durch Beibehaltung des melodischen Motivs in den ruhigen
Ausdruck. Ihre Verzögerung ist auf die ab Takt 15 einsetzende, auslaufende
rhythmische Bewegung im Spiel der Therapeutin zurückzuführen.

Das Ende dieser Episode erzeugt durch den erneut hervorgerufenen Halbschluß eine
Erartungshaltung und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Kommende, auf Episode vier.

221
Musikalisch integrierende Spielweise (Ep. 4)

EPISODE 4:

Kontext: Episode 4 folgt unmittelbar auf Episode 3.

q»ªº Andante 1

3
4 ∑ ¿ Œ ¿¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ -¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
p
Patientin (Koreatr.)

b 3
&b b 4 œ ˙ œ ˙ œ œœœœ
œ œœœœ œ œœœœ
vocal

œ p œ œ œœ œœ œœ œ
˙ œ œ œ ˙ œ œ
Therapeutin (Klavier)
? b 3 ∑ œ œ
b b 4 œ
räuspern
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
6
P.

b
&b b œ œ œ œ œ. j
˙ œ ˙ œ œœœœ œ œ œœ
œœ
voc.

œ œ œ œ œ
? b œ œ œ n ˙˙ œ œ ˙
Th.
œ œ ˙
bb ˙ œ œ ˙
œ

P.
12
-¿ Œ ¿ ¿
vollerer Klang
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
b j j
voc. &b b œ ˙ œ œ. œ œ œ. œ ˙ œ ˙ œ
Th.
˙˙ ˙˙ n œœ œ n ˙˙ œœ
? b œœ œ œœ ˙ ˙ œ
b b œ œ œ

Die wichtigste Kategorie innerhalb dieser Episode ist die Beziehung. Sie zeigt sich
innerhalb der Formabschnitte 1-4, 5-8, 9-12 und 13-16. In den letzten Takten dieser
Episode, in Takt 12-16 treffen wir auf die Kategorie Expressivität .

Beziehung:

Die Therapeutin führt ein neues Thema in der gleichen Tonart c-moll ein. Es ist durch
seine gesanglich-lyrische Komponente hervorgehoben und weist eine ähnliche formale
Disposition auf, wie sie schon in Episode 3 zu beobachten war. Formal handelt es sich
um einen achttaktigen Vordersatz mit zweitaktigem Bezugssystem, das wie in Episode 3
von der Idee der Ergänzung, Entsprechung und Korrespondenz bestimmt ist. Der
achttaktige Vordersatz wird mit einer kleinen rhythmischen Variante wiederholt (s.
Übersicht Episode 4 mit der entsprechenden Kennzeichnung der Formabschnitte A: T
1-8 und A’: T 8-16). Die veränderten Betonungsverhältnisse lassen hier einen 3/4 Takt
entstehen.

222
Die ersten acht Takte werden von dem zweimalig aufstrebenden melodischen Anstieg (T
1-2 + 3-4) und einem einmaligen melodischen Abstieg zur Dominante bestimmt (T 5-6
+ 7-8). Die Kontur der Melodie zeigt eine leicht unterbrochene Bogenform:

Der zweimalige melodische Anstieg besteht aus der Wiederholung der Motivform a:

q = 90 Andante1
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ -¿ Œ ¿
2 3 a 4

∑ ¿ Œ ¿¿ ¿ Œ ¿
p a a

œ œ œœœœ œ ˙ œ œœœœ œ ˙
p œœ œœ œœ œœ
∑ œ ˙ œ œ ˙ œ

Charakteristisch ist die, nach dem Quart-Auftakt aufstrebende flüssige Achtelbewegung


in Sekundgängen zur Qinte g1, die einen kleinen Höhepunkt darstellt. Den Impuls erhält
dieser Bewegungsanstieg durch die Schwerpunktbetonung der erten Zählzeit, die sich in
Takt 2 durch die Wiederderholung der Quinte g1 in eine kontrastierende Synkope
verwandelt. Die Melodielinie wird von der Therapeutin vokal verstärkt. In den Takten 1-
2 bezieht sich die Patientin fast reflexhaft auf den melodischen Anstieg der Motivform
‘a’, während sie in den Takten 3-4 eine deutliche Übernahme der Motivgruppe ‘a’ zeigt.
Den melodischen Höhepunkt, das g1, hebt sie durch die Betonung der ersten Zählzeit (T
4) und die anschließende Pause hervor.

223
Der melodische Abstieg (T 5-6 + 7-8) wird von der Therapeutin aus den Motivformen
‘b’ und ‘c’ gebildet. Auffällig ist die rhythmische Identität zwischen den beiden
Motivformen ‘a’ und ‘b’ :

b b (siehe auch a)
5 6 7 8
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
b c

œ œ œ œœ œ œ œ ˙ œ ˙
œœ œ œœ œ œœ œ
œ œ œ n ˙˙ œ
œ ˙

Die Patientin bezieht sich auf die Motivgruppe ‘b’, die sie simultan zur Therapeutin
übernimmt und über der ausklingenden Motivform ‘c’ weiterträgt.

Den gleichen melodischen Bezug, jetzt deutlicher zur Motivgruppe ‘a’, zeigt die
Patientin bei der leicht variierten Wiederholung des Themas ab Takt 9. Das Räuspern in
Takt 10 teilt uns mit, daß ein Innenbezug stattfindet und sie sich vorbereitet, innerlich
mitzusingen:
10 räuspern
¿ ¿ ¿

œ œ. j
œœ œ
˙

In den Takten 10 und 11 läßt sich ansatzweise ihr Mitsummen vernehmen. Dieser
intrapersonelle Bezug, den ich auch als ein ‘innerliches Angerührtsein’ betrachte, zeigt
sich ebenso in den Takten 13 und 14 in der von ihr stärker hervorgehobenen
Ausdrucksweise.

Expressivität:

Im Sinne der Bedeutungsinhalte von Expressivität beginnt hier die Patientin, sich
innerlich zu öffnen und einen eigenen Ausdruck zuzulassen. Dieses geschieht in den
Takten 10 - 12 noch sehr vorsichtig und zaghaft in summender, kaum hörbarer Weise.
Man könnte es als eine innere Vorbereitung auf einen, sich erst noch entwickelnden,
eigenen Ausdruck ansehen. Das Zulassen eines volleren Klangausdrucks macht sie in

224
den Takten 12 - 15 auch durch ihre Spielweise deutlich, die die Fellmitte hervorhebt.
Das Auslassen der zweiten Zählzeit (Viertelpause) in den Takten 12 und 15 (s. auch T 2
und 4) verdeutlicht ihr Hervorheben und Ausspielen des Taktschwerpunkts:
12
-¿ Œ ¿ 13
¿ vollerer
¿ Klang
¿
14
¿ ¿ ¿
15
¿ Œ ¿

j j
œ ˙ œ œ. œ œ œ. œ ˙ œ
˙˙ ˙˙ n œœ œ
œœ œ œœ ˙ ˙ œ
œ œ œ
Wenn wir nun insgesamt nach der Bedeutung dieser Episode für die
Melodieentwicklung fragen so kann hier festgestellt werden, daß das Element von
Vertrauen, das die Therapeutin bereits in der dritten Episode spürte, hier deutlich zum
Vorschein kommt. Es hat sich im Kontext einer ruhigen Liedmelodie in Moll gebildet
und zeigt sich bei beiden (Patientin und Therapeutin) im gemeinsamen Teilen der
Ausdrucksqualität dieser Liedmelodie. Die klinische Absicht der Therapeutin bestand
darin, die Faßlichkeit der Musik für die Patientin durch die inneren musikalischen
Bezüge und die leicht variierte Wiederholung der melodischen Elemente zu erleichtern
und für sie hörbar zu machen. Die Einladung zum Vokalisieren hat den melodischen
Bezug verstärkt und eine Verbindung zum expressive Element hergestellt. Das
Verbundensein mit dem melodischen Element zeigt sich auch in den Takten 7 und 16, in
denen die Patientin die Melodieform (gemeinsame rhythmische Form von Motivgruppe
‘a’ und ‘b’ ) weiterträgt:

a (b) 16
¿ ¿ ¿ ¿ ¿
7
¿ ¿ ¿ ¿ ¿
a (b)

˙ œ ˙ œ
œ n ˙˙ œœ
˙

225
Musikalisch integrierende Spielweise (Ep. 5)

EPISODE 5:

Kontext: Episode 5 beginnt wenig später nach Episode 4, bewegt sich also noch im
tonalen Rahmen von c-moll, mit der hörbar werdenden vokalen Beteiligung der
Patientin.

Ú 80
1
b 3
Patientin (Vokal) &bb 4
π˙ œ
Da
˙ œ œ ˙ n˙ œ
da da da da

34 Û Œ Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û
Patientin (Koreatr.)
p Klavier

b 3 Œ œ œ œ œ
Klavier
j Œ œ
Therapeutin (Vokal) & b b 4 œ œ . # œj ˙ . œ œ. œ ˙ . nœ œ œ
Da da da da da da

bb
5
C m in G M aj7

& b j j
œ œ. œ ˙ œ œ œ œ. œ ˙ œ ˙ œ ˙ œ
P. vok.

da da da da dam da dam da

P. Tr.
Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û ÛÛ Û Û Û Û

b j ΠKlavier

Th. vok. & b b œ œ. œ ˙. œ œ œ œ ˙ œ ˙ œ œ œ . # œj ˙ Œ


da da da dam da da dam da da
C m in F m in 6 C m in

b
11

&bb œ ˙ ˙ œ ˙ œ
P. vok.
nœ ˙
dam da dam hm

Û Û. Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û Û
J
P. Tr.

b
&bb œ œ. œ
j
œ œ. œ
j j
œ œ. ˙ œ
Th. vok.
œ
dam ba da da da da da da da dam
G M aj7 C m in

Auch in dieser Episode spielen die Kategorien Beziehung und Expressivität eine Rolle,
die hier noch eine stärkere Gewichtung erfahren. Beide Kategorien sind gleichwertig
vertreten, wobei sich die Expressivität stärker auf die Vokalstimme der Patientin bezieht.

Das wesentliche Merkmal dieser Episode ist die melodisch stimmliche Führung der
Therapeutin und die vokale Beteiligung der Patientin. Rhythmisches Spiel und vokale
Gestaltung können beide von der Patientin als zwei unterschiedliche Ausdrucks - und

226
Aktionsformen integriert werden. Die musikalische Grundlage dieser Episode bildet ein
zweitaktiges melodisches Motiv (s.Takt 1-2, Th. Vokal):

jŒ œ œ œ œ
œ œ . #œ ˙ . Klavier

Es ist rhythmisch bewegt, zeigt sich mit synkopischer Wirkung (Punktierung auf der
zweiten Zählzeit) und lang nachklingender, punktierter Halben. Grundsätzlich bleibt im
Verlauf der Episode 5 das Erscheinungsbild dieses melodischen Motivs in seiner
rhythmischen Form gleich; die melodischen Varianten ergeben sich in Abhängigkeit von
dem harmonischen Verlauf und bestehen aus Spiegelungen (s. T. 3-4, Th. Vokal):

j Œ œ œ œ
Klavier

œ œ . œ ˙ .n œ

und Sequenzbildungen (s. T. 11-12,Th. Vokal):

j j
œ œ. œ œ œ. œ
Beziehung:

Diese Kategorie wird im Spiel der Patientin auf vielfältige Art und Weise sichtbar. Wie
bereits erwähnt, ist die Patientin in der Lage, das Vokale mit dem Instrumentalen zu
verbinden. Dieser intramusikalische Bezug zeigt sich z.B. in den Takten 2, 4 und 6 in
ihrem rhythmischen Spiel in Form des ruhig durchgführten Grundschlags (Beziehung
zum Tempo und Metrum):

Achtelunterteilungen (s. T 3, 7-10, 12-13) wählt sie ausschließlich auf der dritten
Zählzeit. Indem sie die zweite und dritte Zählzeit deutlich hörbar zurücknimmt, teilweise
“verschluckt” wird die auftaktige Wirkung zur folgenden eins betont, die sie leicht
hervorhebt.

227
Mit ihrer Vokalstimme bezieht sich die Patientin zur Harmonie und zum zweitaktigen
melodischen Motiv. Sie antizipiert die Harmonien, wählt meistens die Grundtöne der
Harmonien (s. T 1-3, 7-8, 13-14), oft auch die Terz (s. T 4, 6, 9-11) und einmal die
Quint (s. T 12). Indem sie die Grundtöne der Harmonien über zwei Takte erklingen läßt
und sie grundsätzlich tiefer legt als die Melodiestimme der Therapeutin, hat sie die
Funktion einer zweiten Begleitstimme übernommen, die in ostinater Weise zur
Melodiestimme in Beziehung tritt (s. z.B. T 1-2):

πDa˙ œ da˙ œ
Û Œ ÛÛ Û Û Û
p
j Œ. œ œ œ œ
Klavier

.
œ œ #œ ˙
Da da
C min

Der interpersonelle Bezug zwischen Patientin und Therapeutin wird in musikalischer


Hinsicht auch durch den dichten Austausch und die Übernahme der stimmführenden,
beziehungsweise begleitenden Elemente erreicht. In den Takten 7-8, dem Höhepunkt
dieser Episode, wird das ostinate Begleitelement der Patientin von der Therapeutin
übernommen und erscheint hier als melodischer Höhepunkt über der Subdominante f-
moll. Die Patientin unterstützt diesen Höhepunkt in melodischer Stimmführung, indem
sie sich auf den Grundton f1 bezieht. Dieser wird von ihr von der unteren Quart c1
‘angesungen’ und rhythmisch-melodisch gestaltet. In den folgenden Takten 9-10
übernimmt die Therapeutin wieder die melodische Führung, während die Patientin in
ihre ursprüngliche ostinate Begleitstimme übergeht:

j
7 8 9 10

œ œ œ . œ ˙ œ ˙ œ ˙ œ
dam da dam da
Û ÛÛ Û Û Û ÛÛ Û Û Û ÛÛ Û Û Û Û
er
˙ œ ˙ œ j Œ
œ œ . #œ ˙
da da dam da da
F min6 C min

Expressivität:

Expressivität zeigt sich insgeamt in der Art und Weise, wie sich die Patientin stimmlich
und rhythmisch zum Ausdruck bringt. Ihr Stimmklang ist sehr leise (pp), aber deutlich

228
partizipierend auf der Vokalsilbe “da”. Als rhythmisch ostiate Begleitstimme hat sie
sich dem ausströmenden Atem angepaßt. Von den harmonischen Grundfunktionen
ausgehend geht sie in eine Art polyphone Stimmführung über (s.T 4-6), melodisch
hervortretend bis zur Quarte f1 (s. T 7-8). Hier wechselt sie ihre Vokalksilbe zu “dam”:

5
j
6 7
j 8 9

œ œ. œ ˙ œ œ œ œ . œ ˙ œ ˙ œ
da da da da dam da dam da

Kontinuierlich führt sie ihre Stimme über die Terz und Quinte der Dominante abwärts
zum Grundton c, den sie stimmlich zurücknimmt und auf der Silbe “hm” ausklingen
läßt:
11 12 13 14

nœ ˙ œ ˙ ˙ œ ˙ œ
dam da dam hm

Mit Episode 5 werden folgende Tatsachen sichtbar, die von Bedeutung sind:

An Hand der Vokalstimme der Patientin läßt sich erkennen, daß sie einen starken Bezug
zur Harmonie und insbesondere zu den Grundtönen hat. Der Klangausdruck von Moll,
in diesem Fall c-moll und die gewählte Tonlage scheinen ihrer Altstimme und ihrem
Ausdrucksbedürfnis entgegenzukommen, denn sie tritt mit ihrer Stimme mühelos in
Beziehung zur Therapeutin. Sie läßt ihren eigenen stimmlichen Ausdruck zu, der sehr
behutsam und leise gehalten ist und insgesamt im Hintergrund bleibt. Trotz dieses
zurückhaltenden Ausdrucks ist sie musikalisch sicher und findet ihren Weg entlang der
Grundharmonien von c-moll. Der harmonische Bezug scheint für sie die Brücke zum
melodischen Bezug zu bilden. Sie muß sich erst “harmonisch” erleben, bevor sie in
eine melodisch-führende Aktion überwechseln kann.

Von Bedeutung ist auch die Tatsache, daß die Patientin sowohl auf der vokalen wie auch
rhythmisch-instrumentalen Ebene agieren kann. Innen (Vokalisieren) und Außen
(Rhythmisieren) können miteinander verbunden werden und zum musikalischen
Kontext in Beziehung gesetzt werden.

229
Musikalische Führung übernehmen (Ep. 6)

EPISODE 6:

Kontext: Episode 6 folgt etwas später nach Episode 5 und bildet das Ende der ersten
Improvisation aus der zweiten Sitzung.

Ú 120 Allegro
b 3
1

Patientin (Vokal) &b b 4 œ. j


œ nœ œ. j
œ nœ œ .
j
œ ˙ œ-----
n œ
F jam ba
3 ¿ ¿ ¿ ¿ da¿ jam¿ -¿
ba
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
da jam ba da da –
Patientin (Koreatr.) 4
p - - -
b bb 3 j j j
rit.
Therapeutin (Vokal) & 4 œ œ. œ œ œ. œ œ œ. œ ˙ œ
ƒ jam Maj7 bar da
G
jam ba da jam ba da da _

Ú 70
bbb
5 Adagio
& j j j
œ œ. œ œ œ. œ œ œ. œ ˙
P. vok.

œ
¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
dam ba da dam ba da dam ba da da –
P. Tr.
J
b - - -
&b b œ j j j j
œ. œ œ œ. œ œ œ. œ œ
Th. vok.

œ. œ
dam ba da dam ba da dam ba da da _ da
C min F min C min

b
9

P. vok. &b b Œ j j ∑
œ. œ œ œ. œ ˙ œ ˙ œ
F
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
da da da da da
¿ ¿ ¿
da –
¿ ¿ ¿
– –
¿ Œ Œ
P. Tr.
@ @ @ @ @ @
p
b
rit.

Th. vok. &b b j j ∑


œ œ. œ œ œ- . œ ˙ œ ˙ œ
da da da da da da da _ _ _
G Maj C Maj

Das musikalische Material von Episode 6 entwickelt sich aus dem der vorangegangenen
Episoden 4 und 5. Im Vordergrund steht das melodische Motiv mit seinem
gleichbleibenden, charakteristischen Rhythmus, der Punktierung auf der zweiten
Zählzeit. Die Entstehung und Weiterentwicklung dieses melodischen Motivs läßt sich
anhand der Episoden 4 bis 6 verfolgen. In Episode 4 formt sich seine endgültige
rhythmische Gestalt, in Episode 5 erscheint es in verschiedenen Variationen und
Abwandlungen, in Episode 6 wird es intensiviert, indem es durch seine harmonische
Bindung innerhalb einer viertaktigen Phrase aneinandergereiht wird:

230
Ep.4, T 2: Ep. 4, T 13:
j
œ ˙ œ œ. œ
Ep. 5, T 1-2: Ep. 6, T 1-2:
Œ œ œ œ œ - -
œ œ . # œj ˙ . œ.
j j
œ œ œ œ. œ

Neben den Kategorien Beziehung und Expressivität kommt hier die Kategorie Aktion
zur Geltung. Alle drei Kategorien sind musikalisch miteinander verbunden und
beeinflußen sich gleichzeitig.

Aktion:

Ú 120 Allegro 2 3 4

j j j
œ. œ nœ œ . œ nœ œ. œ ˙ œ----
Fnœ jam ba da jam ba da jam ba da da –

In den Takten 1-4 wagt sich die Patientin mit ihrer Stimme hervor, die nun deutlicher
(mf) zu hören ist. Den Ansporn hierzu gibt die Therapeutin, die kurz zuvor sowohl das
Tempo (Allegro), die Lautstärke (ff), als auch den Stimmausdruck (Betonung auf dem
zweiten Viertel) intensiviert hat. Der Wechsel der Vokalsilben wird von ihr mitvollzogen.
Er unterstützt in Verbindung mit der rhythmischen Synkopierung den lebendigen
Charakter dieser Takte.

Die Atemlänge hat sich in Anlehnung an die melodische Phrase (Aneinanderreihung des
melodischen Motivs über dem G-Dur Septakkord) auf vier Takte erweitert.

Aktion zeigt sich auch im rhythmischen Spiel der Patientin in der dichter gewordenen
rhythmische Bewegung:

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿

Diese Achtelbewegung dient ihr in Takt 4 gleichzeitig für die Einführung eines
Ritardandos, das in ein neues, langsameres Adagio-Tempo überleitet:
4

˙ œ-----
¿ ¿ ¿ ¿ ¿
da –

rit.

˙ œ
da _

231
Auch an der Schlußgestaltung ist die Patientin aktiv beteiligt. In Takt 10 initiiert sie mit
ihrem rhythmischen Spiel ein erneutes Ritardando mit einer sich anschließenden , leise
auslauenden Tremolobewegung und markiert das Ende dieser Episode, das gleichzeitig
das Ende der ersten Improvisation bildet, mit einem Abschlag.

Beziehung:

5 Ú 70 Adagio 6 7 8

j j j
œ œ. œ œ œ. œ œ œ. œ ˙ œ
¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
dam ba da dam ba da dam ba da da –

J
- - -
j j j j
œ œ. œ œ œ. œ œ œ. œ œ œ. œ
dam ba da dam ba da dam ba da da _ da
C min F min C min

Im Adagio-Abschnitt ab Takt 5 löst sich die Patientin von ihrer tiefer gelegenen
Begleitstimme und geht in die Melodiestimme über, die sie mit der Therapeutin unisono
erklingen läßt. Dieser enge melodische Bezug erstreckt sich bis Takt 13, also bis zum
Ende der Episode. Die Melodiebewegung erfolgt überwiegend in Sekundabständen, ist
also leicht vokalisierbar.

Expressivität:

In Takt 8 erreicht die Patientin ihren vollen Stimmklang auf dem kl. g. Entsprechend
hierzu ändert sie ab Takt 5, mit Beginn des ruhigeren Adagio-Abschnitts den
musikalischen Ausdruck ihrer rhythmischen Begleitstimme, die nun wieder, wie in
Episode 5, im ruhigen Grundschlagspiel und der ostinaten Begleitfigur (vgl. Episode 5,
T 7-10) erscheint:
¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
J

Ihr imitatorischer Stimmeinsatz in Takt 10 verdeutlicht, daß sie ihren vollen


Stimmausdruck beibehält und bis zum Schluß auf einem Atem ausklingen läßt.
Musikalisch erfolgt von T 9-13 eine Wende nach C-Dur (gleichnamige Durtonart). Der
zeitlich versetzte Stimmeinsatz läßt vermuten, daß die Patientin die Durwendung
antizipiert. Beide Vokalstimmen erklingen auf dem Ton ‘g’, das heißt sie verbinden die
Molldominante mit der Quint der neuen Tonika. Somit trägt die Patientin mit ihrem
ausdrucksvollen Stimmklang zum Stimmungsumschwung und zur Öffnung nach Dur
entscheidend bei.

232
Welche Bedeutung hat Episode 6?

Auch in dieser Episode integriert die Patientin zwei musikalisch unterschiedliche


Aktionen: ihre rhythmische und vokale Aktion, die sie in der Funktion einer tiefer
gelegenen Begleitstimme zur Melodiestimme der Therapeutin in Beziehung setzt.
Schrittweise erweitert sie ihren Aktionsradius: Ritardando (T 4) → langsames Tempo (T
5 ff) → Unisono, zur Melodiestimme überwechselnd (T 5 ff) → Stimmvolumen (T 8 ff)
→ Ritardando (T 10) → Tremolo (T 11-12) → Schlußton (T13). Gleichzeitig erweitert
sie damit ihre Ausdrucksmöglichkeiten. Insgesamt spiegeln diese den musikalischen
Ausdruck der Episode 6 wider.

Der von der Therapeutin zuvor hervorgerufene intensive Klangausdruck im schnellen


Allegrotempo, der bereits vor der Episode 6 auftauchte, war vielleicht notwendig und
mußte von der Patientin “ausgespielt” werden, um ihr einen neuen Ausdruckswechsel
zu ermöglichen. In der Indexspalte “Persönliche Bemerkungen” hat die Therapeutin
ihren Eindruck von der Patientin folgendermaßen notiert: Patientin: ”Ich kann meinen
Weg finden (singen)”.

Formbildend auf den musikalischen Kontext einwirken (Ep. 7, 9)

EPISODE 7:

Kontext: Episode 7 zeigt den Beginn der zweiten Improvisation aus der zweiten Sitzung.
Die Patientin spielt mit einem Schlegel auf dem Metallophon. Sie hat dort die
Pentatonische Skala mit dem Ambitus c1 - a2 zur Verfügung. Die Therapeutin begleitet
sie in höherer Lage: c2 - c4 auf den Klangstäben. Dieses Lagenverhältnis entspricht dem
der Episoden 5 und 6, in denen die Patientin die tiefere Begleitstimme zur höher
gelegenen Melodiestimme der Therapeutin gewählt hat .

- - œ œ œ œ œ œ-
œ œœ œ -
q = 80
œ
& œ œœœ œœœ œœ
1

Patientin (Metallophon)
œ œ œ œ œ

Therapeutin (Klangstäbe) & ∑ ∑ ∑ Œ Œ œ


- - -
œ œ œ œ
6

& œœœœ œ œœ œœœœ œ œ œ œ œ. œ œ œ œ œ œ œ œ œ


2 3 4 5

P.
œ œ œ
œ œ œ œ œœœ œ œœœ œ
œ Œ œ Œ œ Œ Œ Œ ‰ œ Œ ‰ œ Jœ Jœ Œ
Th.
& J J J J

233
Episode 7 wird durch die Kategorien Intuition, Aktion und Beziehung bestimmt.

Intuition:

q = 80
œ - -
œ œ œ
œ œ œ œœ œœœ

Gleich zu Beginn der Improvisation strebt die Patientin mit einem Glissando spontan
aufwärts. Mit diesem melodischen Weg ins “Unbekannte” baut sie sich gleichzeitig
ihren rhythmisch-metrischen Boden (s. Achtelfolgen und akzentuierte Viertel) und
etabliert ihr Andantetempo als sichere Platform, von der aus sie “experimentieren”
kann. Ihr spontanes Glissando verdeutlicht, daß sie instinktiv die dem Instrument
eigenen klanglichen Möglichkeiten erfaßt.

Aktion:

Unter diese Kategorie fällt die Art ihrer Stimmführung. Sie bewegt sich in
Sekundabständen auf - und abwärts, entsprechend der pentatonischen
Skalenkonstellation. Im Kontrast hierzu erscheint der aufwärts gerichtete Tonsprung
von c1 nach f2, als Intervall der Undezime. Aus dieser Stimmführung heraus bildet sie
Kernmotive, die sich zu übergeordneten Motivformen zusammensetzen:
Motivform Motivform
q = 80
- - œ œ œ - -
œ œ œ œ œ œ œ
1

œ œ
œ œ œ œœ œœœ œœ œ œ œ
Kernmotiv Kernmotiv Kernmotiv Kernmotiv

Mit Takt 2 findet die Patientin ihre Taktstruktur (4/4) und beginnt melodisch zu
gestalten. Die von ihr gebildeten Motivformen entwickeln sich aus dem Impuls ihres
spontan ausgeführten Spielbeginns heraus, desweiteren aus der Art ihrer Stimmführung
und Artikulation:

- - - œ. œ œ
œ œ œ
6
œ œ œœ œœ
2 4 5

œ œ œ œ œœœ œ
œœœœ œœ œ œ œ œ œ œ

Beziehung:

Die intramusikalische Beziehung zeigt sich im Spiel der Patientin in der Entwicklung
und der Kombination des Kernmotivs und der Motivformen. In Verbindung damit

234
variiert sie in Takt 5 den Rhythmus (Achtelpunktierung auf der ersten Zählzeit), was zu
einem lebendigen Ausdruck führt. Dieses mag auch auf die in Takt 4 erscheinende
rhythmisierte Oktave in der Stimme der Therapeutin zurückzuführen sein:

- -
œ. œ œ œ œ œ œ
4 5

œœœœœ œ
œ œ œ œœœ
Œ ‰ œJ Œ ‰ œJ Jœ
J

Tonwiederholungen dienen der Patientin häufig als Ausgangspunkt für eine neue
melodische Bewegung. Die von ihr gebildeten Motivformen weisen eine zielgerichtete
klangliche Zentrierung auf, die sie teilweise durch Tonwiederholungen bestätigt. So ist
z.B. die Motivform in Takt 2 auf den Klang a1 ausgerichtet, in Takt 4 wird d1 umspielt
und in Takt 6 wird d2 angestrebt. Ihre eigenständig gebildeten Motivformen zeigen eine
musikalische Logik und sind sinnvoll aufeinander bezogen.

Die Therapeutin spielt mit ihrem klanglich höher gelegenen Ostinato eine
untergeordnete Rolle.

Welche Bedeutung hat Episode 7?

In Episode 7 zeigt die Patientin, im Rahmen der klanglichen Möglichkeiten dieses


Instruments, ihre Fähigkeit, melodisch zu gestalten. Dieses gelingt ihr ganz mühelos.
Gleich zu Beginn der Episode eröffnet sie sich ihren Tonraum, zunächst von c1 nach d2,
dann ein zweites mal in einem großen Sprung von c1 nach f2. Sie hält sich nicht zurück,
sondern zeigt Aktivität, indem sie sich ihren eigenen musikalisch-melodischen Kontext
schafft. In der Indexspalte dieser Episode hat die Therapeutin hierzu vermerkt: P.: “Ich
öffne mich”.

Ihre kreativen Motivgruppen bringt sie in eine lebendige Zweitaktform, deren Beginn sie
jeweils betont und somit klar macht. Die melodische Kontur ihrer Motivformen zeigt
eine ausgewogene Bewegungsrichtung. Ein melodischer Anstieg wird häufig mit einer
abfallenden Bewegungsrichtung ausgeglichen:
T1 2 3 4 5 6 7

235
In dem was die Patientin spielt und wie sie spielt entwickelt sie eine Sicherheit, die sie in
ihrem melodisch kreativen Gestalten weiterbringt. Die Tonwiederholungen dienen ihr
dabei nicht nur als klangliche Orientierung sondern bilden gleichzeitig den
Ausgangspunkt für ihre neuen Motivgruppen. Durch ihren formbildenden Einfluß auf
das melodische Geschehen kann sich die Therapeutin auf ein Begleit-Ostinato
zurückziehen.

Diese, durch die Analyse hervorgehobenen musikalischen Merkmale im Spiel der


Patientin sind wichtig, denn sie verdeutlichen, daß sich die Patientin in einem
kontinuierlichen Fluß des Neuschöpfens und Gestaltenkönnens erlebt. Diese Erfahrung
ist für sie insofern von Bedeutung, da der Blick nach vorn gerichtet ist, so daß sie ihre
eigenen neuen Möglichkeiten des Seins erfährt.

Formbildend auf den musikalischen Kontext einwirken (Ep. 7, 9)

EPISODE 9:

Es wird noch einmal daran erinnert, daß Episode 7 und 9 zusammen eines der Muster
bilden, die sich aus der Grid-Analyse ergeben haben. Beide gehören der
Zweierbündelung an, die von mir mit “Formbildend auf den musikalischen Kontext
einwirken” gekennzeichnet wurde. Die zeitlich dazwischenliegende Episode 8 ist
Bestandteil eines anderen Musters (Dreierbündelung). In ihr kommen andere
musikalische Merkmale zum Vorschein, die sich einer anderen Kategorie: “Entwicklung
musikalischer Parameter” unterordnen.

Die Kategorien der Episode 9 sind Aktion, Beziehung und Expressivität. Sie sind
musikalisch miteinander verbunden und erstrecken sich gleichmäßig über die gesamte
Episode.

236
q = 100 Andante
1

Patientin (Metallophon) & 44 œ œ ˙ œœ˙ œœœœ œœ


˙ œœ˙ œœ˙
π
˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ œœ˙ ˙ ˙ ˙ ˙
4
Therapeutin (Klangstäbe) &4

˙ ˙ œ œ ˙ œ œ ˙
7

&œ œ œ œ œ œ
˙ ˙ ˙
P.

˙ œ œ œ œ ˙ ˙√ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙
Th.
&

œ œ œ œ œ œ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ œ œ œ œ œ œ ˙
13

P. &
P
(√
˙) ˙ ˙ ˙ œ œ œ œ œ œ ˙ œ œ ˙ œ œ ˙
Th.
&
19

œ œ œ œ œ ˙ ˙ ˙ ˙
P. &˙ ˙ œ œ ˙ œ ˙
œ œ œ œ œ œ œ œ ˙ ˙ ˙ ˙
Th.
& ∑ ∑

Aktion:

Auch in dieser Episode zeigt die Patientin ihre Fähigkeit, ohne Hilfe und große
musikalische Unterstützung ihre eigene melodische Ausdrucksform zu finden. Dabei
hilft ihr, wie wir in den vorangegangenen Episoden bereits beobachten konnten, ihre
rhythmisch-metrische Integrität. Im ruhigen Andante-Tempo bildet sie ihren eigenen
metrischen Grund, der für sie Sicherheit bedeutet.

Das rhythisch-melodische Kernmotiv dieser Episode hat zwei Funktionen: erstens dient
es der Stabilität, zweitens bildet es, indem es von der Patientin wiederholt wird, den
Ausgangspunkt für seine melodische Erweiterung. Sichtbar wird diese Tatsache in den
Takten 1-4, 5-8 und 11-14. Als Beispiel dienen uns hier die Takte 1-4:

q = 100 Andante

œœ˙ œœ˙ œœœœ œœ˙


π
Kernmotiv

237
Die auf diese Weise entstehenden Vier-Takt-Phrasen ergänzen sich im weiteren Verlauf
der Episode zu Acht- und Sechs-Takt-Phrasen.

Dieses Ergreifen und klangliche Umsetzen einer motivisch-melodischen Idee zeigt sich
auch darin, daß die Patientin zweitaktige Abschnitte mit Orgelpnktmotivik bildet, die im
Kontrast zu den melodischen Teilen stehen. Hier zeigt sich auch der musikalische
Einfluß der Therapeutin, die bereits in Episode 7 mit dem Orgelpunkt das melodische
Spiel der Patientin unterstützte.

Die Orgelpunktabschnitte erscheinen in den Takten 9-10, 15-16 und 23-24. Im Spiel der
Patientin haben sie einerseits die Funktion eines Kontrastteils, zeigen andererseits auch
ihre überleitende Funktion, da sie, wie in Takt 8 ff sichtbar, die melodischen Phrasen
klanglich verknüpfen (s. T 8-11):

˙ ˙ œ œ ˙
œ œ ˙ ˙ ˙
Beziehung:

Die von der Patietin entwickelten Kernmotive und Motivformen bilden die
idiographischen Kommunikationsaspekte, mit denen sie den musikalischen Bezug zu
sich selbst herstellt. Dieser Bezug ist innerhalb der Episode 9 als auch zwischen den
Episoden 7 und 9 anhand ihrer Motive und Motivformen nachweisbar: Die rhythmische
Konstellation ihrer Motive ist gleich. Infolge des neuen Tempos ist sie in Episode 9
lediglich in Viertel/Halbe-Werten notiert.

Kernmotiv Ep. 7, erste Zeile: Kernmotiv Ep. 9, T 1:


-
œœœ œœ˙
π
Motivform Ep. 7, T 3: melodisch erweitertes Motiv Ep. 9, T 7:
-
œœœœœœœ œ œ œ œ œ œ
˙

238
Dieser innere Bezug zum eigenen Spiel, der keineswegs flüchtig ist, sondern sich auf
ihrer kreativen Erfahrung aufbaut, wird in der Art und Weise, wie die Patientin ihre
Motive bildet und melodisch formt deutlich sichtbar. Auf diese Weise kann sie, wie
unter der Kategorie Aktion beschrieben, übergeodnete Formen bilden, die ihre
musikalischen Äußerungen in einen inneren Zusammenhang bringen.

Kernmotiv und melodische Motivformen bilden die Kommunikationsaspekte auch in


der Beziehung zwischen Patientin und Therapeutin. Von ihrem Orgelpunkt ausgehend,
der den Klanggrund etabliert, übernimmt die Therapeutin die Kernmotive und
melodischen Motivformen der Patientin (s. T 2-5). In Takt 4 z.B. erscheint das
Kernmotiv als Spiegelung.

œœ˙ œœœœ œœ˙ œœ˙

˙ ˙ ˙ ˙ œœ˙ ˙ ˙

Dieser interpersonelle Bezug wird auch anhand der Takte 13-18 sichtbar. Hier
übernimmt die Patientin mit ihrem Wechsel zum Orgelpunkt (T 15-16) gleichsam die
begleitende Funktion zum melodisch ausgerichteten Spiel der Therapeutin.
Anschließend entwickelt sie in den Takten 17-18 die von der Therapeutin begonnene
melodische Linie durch Übernahme desgleichen Tons ‘f ‘(als f2) weiter. Ausschnitt
Takt 13 bis 18:
Orgelpunkt
œ œ œ œ œ œ ˙
13
˙ ˙ ˙ ˙ œ œ œ œ œ œ ˙
Orgelpunkt
P
(√
˙) ˙ ˙ ˙ œ œ œ œ œ œ ˙ œ œ ˙ œ œ ˙

Dieser enge Bezug zwischen Patientin und Therapeutin, der sich im gegenseitigen
Austausch melodischer und kontrapunktischer Elemente offenbart, zieht sich bis zum
Ende dieser Episode hin. Ausschnitt Takt 19 bis 23:

239
19

œ œ œ œ œ ˙ ˙
˙ ˙ œ œ ˙ œ ˙
œ œ œ œ œ œ œ
œ ˙ ˙ ˙ ˙

Expressivität:

Die auch in dieser Episode klar zum Vorschein kommende Gestaltungsfähigkeit der
Patientin dient ihr dazu, sich in einer ruhigen, zarten melodischen Weise auszudrücken.
Dabei erlebe ich sie ganz authentisch, und das nicht nur im wahren Ausdruck ihrer
selbst, sondern auch in der Beziehung zu zu mir, zur Therapeutin.

Welche Bedeutung hat Episode 9?

In Bezug auf die melodische Entwicklung weist diese Episode musikalische Fakten auf,
die uns über die inneren Motive und Realitäten der Patientin informieren. In Episode 7
hat sich bereits gezeigt, wie mühelos die Patientin melodisch gestalten kann. Hier
können wir feststellen, daß Melodie für sie das Element bedeutet, das sie aktiv formen
und zum Ausdruck bringen kann. Im Vergleich zu Episode 7 geht sie hier noch einen
Schritt weiter. Sie bildet umfassendere Formen (Einheiten von acht oder sechs Takten)
und fügt neue, kontrastreiche Abschnitte ein, das heißt, sie greift stärker und führender
in die musikalische Beziehung ein. Wir können also feststellen, daß die Patientin in
eigenständiger Weise ihre musikalische Beziehung zur Therapeutin spielt und formt.
Bei der Therapeutin entsteht der Eindruck, daß die Patientin mittlerweile Vertrauen in
sich selbst und in die therapeutische Beziehung etabliert hat und somit ihre Aktionen
und Handlungen in ihrem Bezug zur Therapeutin genießen kann. Für mich als
Therapeutin klingt diese Episode wie ein gegenseitiges: “Ich höre dich und spiele
dich”.

Entwicklung musikalischer Parameter (Ep. 8, 10, 11)

EPISODE 8:

Kontext: Episode 8 gehört zum Muster der Dreierbündelung aus der Grid-Analyse.
Obwohl sie sich im zeitlichen Verlauf etwas später an die Episode 7 anschließt, hat sie
eine andere inhaltliche Bedeutung. Diese weist auf Gemeinsamkeiten mit den Episoden
10 und 11 hin.

240
1
q = 100
- j - j
& 44 œ œ œœœœœœœœ œ‰‰œœ‰‰œ
3

œœ
œœœ œ œ œ
Patientin (Metallophon)

f subito p
œ œ œœœ œ. œ œ Œ
Therapeutin (Klangstäbe) & 44 œ œ œ Ó œœœœ ‰œœ‰‰œœ‰
-
5
j œ- œ - -j œj - j œ œ œ .
œ œ œ œ œ œ œ
P. &œ ‰œ ‰‰œ ‰œ
cresc. f
Th. &‰ œ œ ‰ ‰ œ œ ‰ ‰ œ œ ‰ ‰ œ œ œ œ Œ ‰ œ ‰ ‰ œ.

Auch in dieser Episode geht es um die Kategorien Aktion, Beziehung und Expressivität.
Sie stehen aber hier in einem anderen Bedeutungszusammenhang, nämlich dem der
Entwicklung musikalischer Elemente. Es stellt sich also hier die Frage, wie die
musikalischen Elemente, die sich in Episode 8 entwickelt haben, durch Aktion sichtbar
werden.

Aktion:
-
œœœœœœœœ
3

subito p
Ó œœœœ
Die von der Patientin in Takt 3 in subito piano eingeführten Tonwiederholungen dienen
ihr zum Zweck der Entwicklung einer eigenen melodisch-thematischen Aussage, die erst
im weiteren Verlauf erkennbar wird. Zunächst entscheidet sie sich für eine musikalische
Veränderung, die ihre bisherige zweitaktig geformte Spielweise unterbricht (s. T 1-2).
Dieser Wechsel kündigt eine dynamische Entwicklung an, die gleichzeitig im
rhythmisch-interaktiven Spiel mit der Therapeutin in Takt 6 zum Höhepunkt geführt
wird.

241
Takt 4 Takt 5-6

j - j j - - -j
œ‰‰œœ‰‰œ œ- œ
‰œœ‰‰œ œ ‰œ œ œ
cresc.ff
‰œœ‰‰œœ‰ ‰œœ‰‰œœ‰ ‰œœ‰‰œœœ

Aus diesem interaktiven Spiel heraus baut sie allmählich ihre thematische Stimme auf,
indem sie sich von der Tonwiederholung (c2) löst, in die obere Sekunde d2 wechselt
und schließlich in die obere Quart f2 übergeht.

j œ- œ - -j œj - j œ œ œ .
œ ‰œ œ œ œ œ œ œ
f
‰ ‰œœ‰‰œœœ œ Œ ‰ œ ‰‰ œ.

Beziehung:

Auch hier müssen wir uns fragen, wie die in Episode 8 entwickelten musikalischen
Elemente durch die Kategorie Beziehung sichtbar werden. Ein klares Beispiel hierfür ist
das Interaktionsmuster das im Austausch mit der Therapeutin von der Patientin gestaltet
wird (Akzent auf dem zweiten Achtel, dynamisch graduell steigernd):

j -
œ‰‰œœ‰‰œ

‰œœ‰‰œœ

Das Interaktionsmuster bildet sich aus der von der Therapeutin in Takt 4 eingefügten
Achtelpause heraus, die die Achtelkette unterbricht und somit in das sich anschließende
komplementäre “Zwiegespräch” zwischen Patientin und Therapeutin führt. Für das

242
“Zwiegespräch” wählt die Therapeutin die untere Quint (f1). Am Ende von Episode 8
treffen sich beide auf dem gleichen Ton (f).

Expressivität:

In dieser Episode ist die emotionale Ausdruckskraft der Patientin an die von ihr
entwickelte melodisch-thematische Gestalt gebunden. Ausgangspunkt ist der von ihr
gewählte Ton c2 , von dem aus sie ihre melodischen Intervalle bildet, die sie in einer
sinnvollen Gestalt vereint. Eine besondere Rolle spielt dabei das Intervall der Quart, das
sie betont und sequenziert. Die Quart ist das Intervall mit starker Signalwirkung (s.
Wanderlieder, Tanzlieder, Jagdsignale) und aufforderndem Charakter. Auch die
melodisch-thematische Gestalt der Patientin signalisiert eine klare Aussage, die
dynamisch (forte, Akzent) und positiv nach außen gerichtet ist. In ihrer Ausstrahlung
richtet sie sich direkt an die Therapeutin und lädt zum Mitmachen ein.

Welche Bedeutung hat Episode 8 und welche Rolle spielt sie im Hinblick auf die
Melodieentwicklung?

Das wichtigste Merkmal im Spiel der Patientin ist ihre Entwicklung zur führenden
Melodiestimme, die sie deutlich zum Ausdruck bringt. Sie entwickelt diese aus der
rhythmischen Interaktion heraus und verbindet sie mit ihrer klanglich-dynamischen
Gestaltung. Das dichte Klanggewebe zwischen Patientin und Therapeutin spiegelt den
dichten Bezug im simultanen und komplementären Spiel von beiden wider. Im
gemeinsamen Spiel erfährt sich die Patientin durch die Therapeutin (und umgekehrt).
Die Erfahrung einer ihrer inneren Realitäten zeigt sich in dieser Episode als Ausdruck
einer Entschlußkraft, die sich in der Form der von ihr entwickelten melodischen Gestalt
manifestiert. Damit wird eine positive Kraft spürbar, die sich von ihrer Krankheit
abwendet und auf ihre Potentiale richtet. Die persönliche Bemerkung der Therapeutin in
ihrem Eindruck über die Patientin lautet: P.: “Ich entscheide mich”.

243
Entwicklung musikalischer Parameter (Ep. 8, 10, 11)

EPISODE 10:

Kontext: Episode 10 ist Bestandteil des Musters aus der Grid-Analyse


(Dreierbündelung) und gehört inhaltlich zu den Episoden 8 und 11. Zeilich stellt sie den
weiteren Verlauf von Episode 9 dar. Sie ist die letzte Episode der zweiten Improvisation
aus der zweiten Sitzung.

&
œ œ
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ ˙.
œ œœœ
Patientin (Metallophon)
œ
f agitato
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ√ œ
rit.

Therapeutin (Klangstäbe) &


stringendo

U
˙. 1 œ œ œ 3 œ œ œ
P. & œ Œ Ó Œ œ Œ ∑
p π calando
(√) œ ˙ √ œ œ œ œ œ œ
Th. &œ Ó Œ œ Œ Ó Œ œ Œ

Auch hier kommen die Kategorien Aktion, Expressivität und Beziehung zur Geltung,
deren Bedeutung unter dem Aspekt von Verwandlung zu sehen ist.

Aktion:

Episode 10 geht ein Abschnitt mit lebhafter schneller Spielbewegung und erregt
bewegtem Ausdruck voran. Das Metrum ist variabel. Den Impuls hierfür hat die
Therapeutin mit ihrer raschen Tremolobewegung im Quart- und Terzklang gegeben. Der
Beginn von Episode 10 zeigt den Übergang dieses schnellen Teils in einen ruhigeren
und ausdrucksmäßig konträren Teil. Den Anstoß für diese musikalische Verwandlung
gibt die Patientin. Interessant ist zu sehen, wie sie dabei vorgeht: Im variablen Metrum
gestaltet sie die Tonhöhe von f2 abwärts führend bis c1 und wieder ansteigend über f2
zum g2 (Fermate).

244
œ œ œ œ ˙.
œ œ œ œ œ œ œ
œ œ œœœœ
f agitato
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ√ œ
rit.

stringendo

U
˙.

p
(√) œ ˙
œ

Die ansteigende Bewegung dient ihr für die Einführung eines Ritardandos, bei dem sie
die Töne länger ausklingen läßt (rhythmische Vergrößerung), bis sie auf dem Ton g2 die
Fermate einfügt und damit den Wendepunkt signalisiert. Im Spiel der Therapeutin
erklingt die ansteigende Bewegung im dreigestrichenen Oktavraum zeitlich versetzt als
Reminiszenz der Verwandlung.

Die Patientin bringt etwas in Verwandlung das für sie eine Bedeutung hat. Um dieses zu
erreichen wird sie aktiv und gestaltet die Tonhöhe in Verbindung mit dem Tempo und
der Dynamik.

Expressivität und Beziehung:

Beide Kategorien sind hier miteinander verknüpft. Nach dem Wendepunkt macht es die
Patientin klar, wie es für sie weitergeht. Sie möchte ein Zwiegespräch, das sehr zart,
empfindsam aber gleichzeitig klar in seiner Aussage ist. Dieses verdeutlicht sie mit
einem konkreten melodischen Motiv, indem sie zunächst den Tonraum mit einer großen
Sexte öffnet, um anschließend schrittweise zum f2 zu gelangen. Diese melodische
Aussage wird in einem ruhigen, intimen Ausdruck gespielt (leichte Verzögerung des
melodischen Intervalls der gr. Sexte). Die Therapeutin übernimmt von der Patientin den
Ausdruck und die Klarheit der melodischen Aussage und antwortet in der höher
gelegenen Oktave.

245
1 œ œ œ 3 œ œ œ
œ Œ Œ œ
Ó Œ ∑
p π calando
√ œ œ œ œ œ œ
Ó Œ œ Œ Ó Œ œ Œ

Welche Bedeutung hat Episode 10?

Die Entwicklung im musikalischen Spiel der Patientin zeigt hier wie sie auf Dynamik,
Tempo, Tonhöhen - und motivisch-melodische Gestaltung zurückgreift, um die von ihr
beabsichtigte Form und Expressivität des weiteren Spielverlaufs zu bestimmen.
Aufgrunddessen verwandelt sie den stringenten Charakter des vorangegangenen Spiels
(der von der Therapeutin initiiert wurde und ihr als externe Forderung zugetragen
wurde) in ein ruhiges, langsames, dialogisches Spiel, das durch seinen intimen Ausdruck
Nähe und Vertrautheit ausstrahlt. Damit zeigt sie, daß sie in der Lage ist, auf die
Interventionen der Therapeutin zu reagieren, indem sie sich zunächst anpaßt, aber dann
dem folgt, was sich ihr als interner Impuls mitteilt. Da das Vertrauen in der
therapeutischen Beziehung etabliert ist kann sie ihrem eigenen inneren Impuls folgen
und ihn in ihrem Gestaltungsmodus in direkter Weise an die Therapeutin richten. Die
persönliche Bemerkung der Therapeutin in ihrem Eindruck über die Patientin lautet: P.:
“Ich suche den Dialog, aber im ruhigen Austausch”.

Entwicklung musikalischer Parameter (Ep. 8, 10, 11)

EPISODE 11:

Kontext: Episode 11 gehört als letztes Beispiel zum Muster (Dreierbündelung) der
Grid-Analyse. Im Gegensatz zu den beiden zugehörigen Episoden 8 und 10 stammt es
aus der dritten Improvisation der zweiten Sitzung. Die Patientin spielt auf demselben
Instrument, mit demselben Tonmaterial, hat jedoch zwei Schlegel zur Verfügung. Sie
wird von der Therapeutin diesesmal auf dem Klavier begeleitet. Episode 11 beginnt in
der Mitte und erstreckt sich bis zum Ende der dritten Improvisation.

246
>S
q» 120 Allegro
1
- - - œ
Patientin (Metallophon) &c œœœœœ œ œœœœ
˙
œœœœœ œ œœœœ˙
œœ œ
œ.
œ œ œœœœ
f spirituoso P
& c Œ œœ ˙œ œ Œ œ ˙ ‰ ˙
œ œœ

œœœ
˙ ‰ ˙
œœœ

œœœ
˙
P
˙ ˙˙ œ˙ œ ˙ ˙
? c ˙˙ ˙
Therapeutin (Klavier)

Œ œ œ œ Œ œ œ œ Œ œ œ œ
˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙
7
œ œ œ œ œ œ œ -
œ œ œ Œ ∑
P. & œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
P
œ œ œ œ œ œ ˙˙˙ ˙ ˙ œ ˙œ œ ˙˙˙ ˙˙˙˙
&‰ œ œ œ Ó ˙ œ œ ‰œ œ ˙
œ œ p f J
Th.
p π
?œ œ œ œ ˙ ˙ œ œ œ œ ˙ Œ ∑ ∑
œ Œ œ Œ ˙ ˙ ˙ ˙ œ

œœœœœ œ œœœœœ œ
13

∑ ∑ ∑ ∑ œœœ
P. & œœœœœ œ œœ
œ
rit.
œœœœœ œ œœœœœ œ w
& œ œ œœ œ œ œ ∑ œœœœœ œ w ∑
Œ ˙
Th.
˙ w ˙ ˙ ˙ ˙ w
? ∑ ∑ œ Œ ˙ ˙ ∑ ˙ ˙ w

80 Andante
21
q» œ œ ˙ œ œ ˙ œ œ ˙ w
∑ ∑ ∑ ∑ œ œ
P. & œ œ
π ∏
œ œ ˙
perdendosi
œ œ ˙ œ œ ˙
&œ œ ˙ ∑ ∑ œ œ ˙ ∑ œ œ ˙ ∑ ∑
π π π
˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ w

Th.

? ˙ ˙ ˙ w

Auch in dieser Episode erweitert und vertieft die Patientin ihren Umgang mit den
musikalischen Prinzipien und Parametern, die durch die Kategorien Aktion, Beziehung
und Kontemplation ihre Bedutung erlangen.

Aktion:

Als Beispiel für Aktion können die Takte 1-4, 5-6 und 7-8 herangezogen werden.

247
Takte 1-4:

q» 120 Allegro
- -
œœœœœ œ œœœœ œœœœœ œ œœœœ ˙
˙
f spirituoso
Œ œœ ˙œ œ Œ œ ˙ ‰ ‰ ˙
P œ œœ˙ œœœ
˙˙ ˙ ˙˙ œ œ
˙ ˙ ˙ ˙ Œ œ œ œ
˙ ˙

Gleich in den ersten vier Taktn zeigt die Patientin ihre zunehmende Fähigkeit,
musikalisch-thematisches Material zu variieren und zu entwickeln. Dieses verdeutlicht
sie, indem sie unbewußt formgestaltende Prinzipien, wie Imitation und Spiegelung
anwendet. Ihren kräftigen, spontanen Ausdruck kann sie in eine klare zwei -,
beziehungsweise viertaktige Form bringen. Von der Therapeutin wird der Klanggrund
F-Dur (Dur-Pentatonik) mit der Quint im Baß etabliert. Desweiteren unterstützt sie die
Patientin, in Anlehnung an ihre charakteristische Dreiklangsmelodik, mit einem
Wechseltonmotiv (T 3 ff).

Takt 5-6: Takt 7-8:


Zwischentakte Entwicklung
S
-
œœ œ
- . >œ œœœœœ œœ œ
œ œ œ
œœ ˙ œ œ œœœœœ
œ
P
˙ ‰ ˙ ‰ ˙ ‰ œ œ Ó ˙
œœ œœœ œœœ œ
œ œ p
œ œ˙ œ ˙Œ œ œ˙ œ Œ˙ œ œ˙ œ œœ œ œœ œ ˙˙ ˙
Œ Œ ˙

In diesen Takten fällt auf wie unmittelbar sich ein, durch eine Person hervorgerufenes,
musikalisches Element auf eine andere Person übertragen kann. Der Oktavsprung am
Ende des Wechseltonmotivs in der Stimme der Therapeutin (T 4) wird direkt von der
Patientin aufgegriffen und in ihre Motivbildungen integriert. In Takt 6 ff hält sie an dem
Oktavmotiv fest, das hier nach oben sequenziert und somit in eine Ausdruckssteigerung
einbezogen wird. Die Takte 5 und 6 haben hier die Funktion von Zwischentakten und
erinnern an die Kontrastabschnitte von Episode 9.

248
Die Takte 7-8 zeigen deutlich die Weiterentwiklung zu einem melodischen Bogen durch
aszendierende und deszendierende Bewegung.

Beziehung:

Das dialogische Angebot der Therapeutin wird von der Patientin in Takt 12
aufgegriffen.

∑ œ œ œ œ œ œ
˙ œ ˙œ P˙
‰ œJ œ œ ˙˙˙ ˙˙˙˙
p π
∑ ∑

Sie antwortet mit einem melodischen Motiv, indem sie sich, wie zu Beginn der Episode
tonal auf F stützt. Mit diesem Dialog beginnt ein neuer Abschnitt, der von einer anderen
Ausdrucksqualität bestimmt ist. Er erstreckt sich bis zum Ende dieser Episode (T 29)
und bildet gleichzeitig den Schluß der dritten Improvisation der zweiten Sitzung. In
diesem Abschnitt nähern sich beide, Patientin und Therapeutin in der Dynamik (mp, pp)
und in einer fast identischen melodischen Aussage. Die anfängliche lebendige, zügige
und spielerische Ausdrucksweise hat nun eine ruhigere und besonnenere Qualität
angenommen.

In Takt 20 kündigt die Patientin durch eine deszendierende und ritardierende Tonfolge
(d2 nach c1) ihre Absicht zur Schlußgestaltung an. Takt 18-20:

œœœœœ œ œœœ
∑ œœ
œ
œœ œ œ œ œ rit.w

˙˙ ˙ w
∑ ˙ w

Kontemplation:

Wie im Abschnitt “Die Bedeutungsinhalte der Kategorien” erwähnt, meint


Kontemplation im Kontext dieser Studie, daß die Patientin eine Möglichkeit der inneren
Versenkung und gleichzeitigen Selbstbesinnung im musikalischen Ausdruck gefunden

249
hat. Ihre Tendenz, in die Ruhe überzugehen, zeigt sich bereits mit der deszendierenden,
ritardierenden Tonfigur von Takt 20. Diese deutliche musikalische Geste der Patientin
wird von der Therapeutin aufgegriffen, indem sie mit Hilfe eines Dreitonmotivs ein
neues, ruhiges Tempo stabilisiert. Mit diesem neuen Andante-Tempo beginnt die
neuntaktige Coda, in der das Wechselspiel zwischen Patientin und Therapeutin mit
diesem Motiv fortgesetzt wird. Das Motiv ist in seiner melodisch-rhythmischen
Bewegung reduziert. Es konzentriert sich zunächst auf einen Klang und läßt sich auf das
Kernmotiv aus Episode 9 zurückführen (vgl. Ep. 9 T 1-2).

Takte 21-22:

q» 80 Andante
œ œ ˙

œœ˙ π
œœ˙ ∑
˙ ˙ π
˙ ˙

Im weiteren Verlauf variiert die Patientin das Motiv indem sie es deszendieren läßt und
die Lautstärke immer stärker zurücknimmt (ppp). Mit der erneut eingeführten
deszendierenden Tonfolge von d2 (T 28) und dem oktavierten Schlußton auf f2 beendet
sie die Improvisation.

Takte 27-29:

œ œ w
∑ œ œ
perdendosi

œœ˙ ∑ ∑
π
˙ ˙ ˙
wÓ ˙ ww

Obwohl aus stimmtechnischen Gründen f1 als logischer Schlußton denkbar wäre, wählt
die Patientin den viel höher gelegenen Ton f2, den sie zart verklingen läßt.

Welche Bedeutung hat Episode 11?

Episode 11 offenbart die Gestaltungskraft der Patientin und ihre Freude, im synchronen
Spielverlauf aktiv ihren Part zu übernehmen. In einem zügigen Allegro-Tempo kann sie

250
den melodischen Verlauf im kräftigen Forte-Ausdruck spontan formen. Dabei verliert
sie nicht die Kontrolle, sondern wird durch ihre eigene Gestaltungskraft gehalten und
geführt. Die dynamisch hervorgehobenen Oktavsprünge vermitteln den Ausdruck einer
inneren, positiven Bejahung und Affirmation. Die Art ihrer melodischen Gestaltung
zeigt die Form von Dreiklangsmelodik mit der Bevorzugung von Terzen, Quarten und
Sekunden. Sie erscheint lebendig und vital und strahlt eine heitere, fast übermütige
Grundstimmung aus.

In dem von der Therapeuin eingeführten ruhigeren dialogischen Teil sind die beiden
Momente (T 20, 28) hervorzuheben, in denen die Patientin das musikalische Geschehen
auf eine andere Ausdrucksebene bringt (Ritardando, langsames Tempo, abgestufte
Dynamik pp und ppp). Wie bereits erwähnt, trägt dieses entscheidend zur
Schlußgestaltung bei. Die Bedeutung dieses Abschnitts liegt in der Tatsache, daß die
Patientin im interpersonellen Bezug eine innere Balance und Ausgewogenheit von Nähe
und Distanz gefunden hat. Dadurch vermag sie sich in ihr musikalisches Spiel zu
vertiefen und zu versenken, was von mir mit der Kategorie Kontemplation bezeichnet
wird. Diese innere Sammlung, zeigt sich äußerlich in der Konzentration auf ein einziges
Element, dem “Schlußmotiv” (T 21, 22). Diese Verfeinerung und sorgfältige Führung
im musikalischen Spiel der Patientin, die sie bis zum Schluß dieser Episode ( der dritten
Improvisation) aufrecht erhält reflektiert ihre Bereitschaft zur inneren Sammlung und
Vertiefung.

251
Anpassende, zurückhaltende Spielweise (Ep. 12, 13)

EPISODE 12:

Kontext: Episode 12 stammt aus der vierten Sitzung und stellt das Ende der zweiten
Improvisation dar. Die Patientin spielt mit beiden Händen auf den Bongos und wird von
der Therapeutin auf dem Klavier begleitet.

- - - - ->
4 ¿ ‰ ¿j ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰ ¿j ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰ ¿j ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ
1

Patientin (Bongos) 4
f
b
& b bb 44 - ‰ j -
‰j
-
‰j ‰j
-- --
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œ œœ œœ œœ œœ
Therapeutin (Klavier)
f j j
? bb b 44 œ œ ‰ œ œ œ œ œ œ œ ‰ œ œ œ œ œ œ œ ‰ œjœ œ ‰ œj œ œ œ œ
b œ œŒ Œ ‰ œ œ œŒ Œ ‰ œ œ œ‰œ œ œ‰œ œ œ œ œ
J J J J
5 - j -
P. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ Œ
b - -
& b bb ‰ j ‰ j
œœ œœ œ œœ œœ œœ œ
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œ œ œ œ
Th.

? bb b œ
b œ œ ‰ œj œ œ œ œ œ œ ‰ œj œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
œ Œ œ œ œ œŒ œ œ œ Œ œ Œ œ Œ œ Œ

9 > >
P. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ. Œ ¿ Œ Ó
œ
b - Œ Œ œ Œ
& b bb ‰ j‰ j‰ j ‰ j ∑
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
Th.

j j j > >
? bb b œ œ ‰ œ œœ œ ‰ œœ œ œ ‰ œ œœ œœ œ Ó Œ œ Œ Ó
b œ œ Œ J Œ J Œ Œ œ œ

Die Episoden 12 und 13 bilden das Muster der Zweierbündelung in der Grid-Analyse,
mit der inhaltlichen Bedeutung von “Anpassende, zurückhaltende Spielweise”. Beide
haben also im Hinblick auf diese Kategorie etwas Gemeinsames.

In der Episode 12 geht es schwerpunktmäßig um die Kategorie Aktion. Intuition kommt


am Ende dieser Episode zur Geltung. Es stellt sich hier die Frage, welche Verbindung
die anpassende und zurückhaltende Spielweise der Patientin in dieser Episode mit
Aktion und Intuition hat.

252
Aktion:

Diese Episode zeigt in der Spielweise der Patientin wie sie reagiert, wenn sie mit einer
kraftvollen Ausdrucksweise konfrontiert wird. Die Theapeutin interveniert, indem sie die
Führung und den Ausdruck als externe Forderung an die Patientin heranträgt. Das
musikalische Material besteht aus einer dichten Aufeinanderfolge stark rhythmisierter
Achteltongruppen in Terz- und Quintführungen im geraden 4/4 Takt. Der Ausdruck
bestimmt sich durch diese, im Vordergrund stehende, rhythmisch-metrisch akzentuierte
Gestaltungsweise in Verbindung mit einem schnellen Tempo, kräftiger Dynamik, tiefer
Tonlage im As-Dur-Bereich und einem Portato-Spiel. In der Art ihres variierten
Auftretens werden die Achteltongruppen als Taktmotiv a (T 1) und a’ (T 3, 9, 10)
gekennzeichnet.

Takt 1: Takt 3:
a a1
- -
‰j ‰ ‰
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœjœœ œœ œj
j
œœ œœ ‰ œ œ œ œ
œ œ œ ‰ œjœ œ ‰ œj
Œ Œ ‰œ œ œ‰œ œ œ‰œ
J J J
Takt 9: Takt 10:

a1 a1
-
‰ j‰ j‰ j ‰ j
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
j j j
œ œ ‰ œ œœ œ ‰ œœ œ œ ‰ œ œœ œœ
œ œ Œ J Œ J Œ Œ

Die Therapeutin hebt insbesondere die ‘Wiederholung’ als musikalisches Prinzip


hervor. Daraus ergeben sich Zweitaktformen, die sich zu einer übergeordneten Form von
vier Takten zusammenschließen: Takt 1-4, Takt 5-6, Takt 9-12. Eine besondere Rolle
spielt hier der Kontrast zwischen der stark synkopisch-rhythmisierten Bewegungsaktion
(Taktmotive a und a’) und der ruhigeren, gleichmäßigen Bewegung in Form von
Grundschlägen, die den “Boden” hörbar werden lassen. Diese ruhigeren Takte sind mit
Taktmotiv b gekennzeichnet. Deutlich sichtbar wird dieser Kontrast z.B. in den Takten
3-4 und 6-7.

253
Takte 3-4:

a1 b
- -- --
‰j ‰j
œœ œœ œœ œœ œœ œ œœ œœ œœ œ
œ
œœ œœ ‰ œjœœ œœ ‰ œj œœ œœ œœ œ
‰œ ‰œ œ
J J

Die Aktion zeigt sich also im Spiel der Patientin in einer anpassenden und
bewegungsmäßig zurückhaltenden Spielweise. Sichtbar wird dieses gleich zu Anfang in
den Takten 1-2 und in Takt 4.

Takte 1-2: Takt 4:

- a - a - -b>
j j
¿ ‰¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿ Œ
f a b
- -- --
a
-
‰j ‰j
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œ
f œ
j j
œ œ‰œ œ œ œ œ œ œ‰œ œ œ œœ œœœ œ
œ œŒ Œ ‰ œ œ œŒ Œ ‰ œ œœœ œ
J J

In leicht zurückhaltender Bewegung paßt sich die Patientin dem Rhythmus der
Therapeutin an, den sie simultan mit gleicher Akzentuierung und Dynamik ausführt.

Der von der Therapeutin hervorgerufene Ausdruck ist so zwingend, daß die Patientin in
den Spielfluß mitgerissen wird. Die Takte 6-8 veranschaulichen dieses.

Takte 6-8:

a b1 b1
- j -
¿ ¿ ‰¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿Œ ¿ Œ
a b b
-
‰ j
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœœ œœ œœ œœ œœœ œœ œœ
j
œ œ‰œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
œ œŒ œ œ œ Œ œ Œ œ Œ œ Œ

254
In Takt 7 ist die Patientin noch von der vorangegangenen schnellen Achtelbewegung
(Taktmotiv a) beeinflußt, die sie mit in die in ruhigere Grundschlagbewegung
hinüberträgt (erstes Viertel). Während die beiden Achtel verfrüht und leicht
unkontrolliert wirken, macht die auf der zweiten Zählzeit erscheinende Viertelpause
deutlich, daß sich die Patientin in dieser neuen Bewegung Raum und Orientierung
verschaffen will. In Takt 8 übernimmt die Patientin das Achtelmotiv auf der ersten
Zählzeit als eigenständiges Gestaltungselement. Auf lebendige Weise variiert sie hier
das Taktmotiv b.

Intuition:

Bereits in den Takten 9-10 antizipiert die Patientin die Schlußbildung dieser
Improvisation, die sich im Spiel der Therapeutin durch die Wiederholung des variierten
Taktmotivs a’ (synkopiert) ankündigt. Die Patietin erfaßt gefühlsmäßig und instinktiv
das Ende dieser Improvisation und reagiert in Takt 11 entsprechend mit einer verkürzten
Achtelbewegung und zwei anschließenden Viertelpausen. Diese geben Raum für den
Oktavklang in der Stimme der Therapeutin. Gleichzeitig heben sie den Effekt des
akzentuierten authentischen Schlußklangs (T 12), den die Patientin simultan mit der
Therapeutin als Abschlag vollzieht, noch stärker hervor.

Takte 9-12:
a b
> >
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ. Œ ¿ Œ Ó
a1 a1 œ
-
‰ j‰ j‰ j ‰ j Œ Œ œ Œ ∑
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
j j j > >
œ œ ‰ œ œœ œ ‰ œœ œ œ ‰ œ œœ œœ œ Ó Œ œ Œ Ó
œ œ Œ J Œ J Œ Œ œ œ

Welche Bedeutung hat Episode 12?

Diese Episode zeigt, daß sich die Patientin herausfordern läßt und ihr Spiel, trotz
zurückhaltender Anpassung, individuell ausrichten kann. Deutlich wird dieses in den
Takten 9 und 10, in denen sie ihre eigene Stimme gegenüber die der der Therapeutin
hält.

Desweiteren wird deutlich, daß in dieser Episode die Beziehung der Patientin zum Forte
eine andere ist als in Episode 11, in der sie ihre melodische Gestaltungskraft mit einer

255
kräftigen Dynamik verbinden kann, das heißt eigenständiger agieren kann. In dieser
Episode steht die rhythmisch-metrische Aktion im Vordergrund. Die Patientin gestaltet
mit beiden Händen unter direkter Berührung des Trommelfells. Sie benutzt die ganze
Handfläche für ihre starken Betonungen, meistens auf der ersten Zählzeit. Mit ihrem
rhythmisch-metrischen und akzentuierten Spiel beeinflußt sie unmittelbar den Klang
und erfährt somit auf direkte, leibhaftige Weise den Energieaustausch. Der
therapeutische Effekt liegt nicht nur in der Stärkung der physischen und geistigen
Kräfte. Diese Art der Intervention ermöglicht der Patientin auch den Zugang zu ihren
eigenen kreativen Ressourcen, den sie allein nicht ohne weiteres gesucht oder sich
zugetraut hätte. Somit ist sie durch das aus ihr herausgelockte kräftiges Trommelspiel in
Kontakt getreten mit einem Aspekt ihres Wesens, der im Alltagsbewußtsein vielleicht
nicht so augenscheinlich freigegeben worden wäre.

Wenn wir nach der Bedeutung dieser Episode für die Melodieentwicklung fragen, dann
liegt diese in der Art und Weise wie die Patientin die ruhigen und heftigen Akzente setzt,
die dem Rhythmus die vibrierende Spannung verleihen. Im simultanen Spiel mit der
Therapeutin übernimmt sie die führende rhythmische Stimme und bringt sie
entsprechend der Zweitaktgruppen in eine übergeordnete Form. Es sind also die
Elemente von Klang, Bewegung, Vibration, Akzent, Führung und Form, die hier von ihr
in konzentrierter Art erfahren werden und die auch eine Rolle bei der Gestaltung des
Melodischen spielen.

256
Anpassende, zurückhaltende Spielweise (12, 13)

EPISODE 13:

Kontext: Episode 13 stellt den Anfang der dritten Improvisation aus der vierten Sitzung
dar. Die Patientin spielt wie in Episode 12 auf den Bongos und wird von der
Therapeutin auf dem Klavier begeleitet.

1
q = 70 Adagio
- -
4 ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿ ¿
4
P
Patientin (Bongos)

4 -
&4 ∑ ∑ ˙ j
˙ œ. œ˙
Therapeutin (Klavier) P
?4 ∑ ∑ ∑ ∑
4
5 -
P.
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
- - ˙ j
˙ j ˙ œ. œ ˙
&˙ œ. œ ˙ ˙ œ. œ ˙
F stringendo
Th.
? ∑ ∑ ∑ ∑
q =110 Allegro
9

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
11

P.
F
j ˙ j
∑ ˙ œ. œ ˙
& œ. œ ˙ ˙ œ. œ ˙
œ. œ ˙ f
Th. œ. œ ˙ œ œ œ œ œ ˙
? ∑ œ. œ ˙ œ œ
J
13

P.
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
˙˙ œ.
˙ ˙ œ ˙ ˙
˙
œ.
j
&˙ œ. œ ˙ ˙ œ ˙
J ˙ œ. œ ˙
Th.
œ œ œ œ œ œ œ œ #œ œ œ œ œ
?œ ˙ ˙ œ œ

Episode 13 gehört zusammen mit Episode 12 zum Muster der Zweierbündelung aus der
Grid-Analyse, das sich durch die inhaltliche Bedeutung von “Anpassende,
zurückhaltende Spielweise” kennzeichnet. Auch in dieser Episode geht es
schwerpunktmäßig um die Kategorien Intuition und Aktion. Zu untersuchen ist also der
Zusammenhang zwischen Aktion, Intuition und einer anpassenden, zurückhaltenden
Spielweise.

257
Intuition:

Der kräftige Abschluß der vorausgegangenen, dynamisch ausdrucksstarken Episode 12


zeigt Auswirkungen auf den Beginn der unmittelbar folgenden dritten Improvisation, der
mit Episode 13 dargestellt wird. In ihrer Zurückhaltung im Anführen und eigenen
Erspielen einer neuen Musik wählt die Patientin intuitiv ein ruhiges Ausgangstempo
(Adagio) in mezzo piano und findet ihren musikalischen Weg über die Gestaltung einer
Zweitaktform mit zwei unterschiedlichen rhythmischen Motiven: Motiv a und b.

Takte 1-2:

q = 70 Adagio

-a
- b
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿ Œ
P
Die Patientin verliert die leichte Instabilität ihres Spielbeginns, indem sie in Takt 2 die
Hauptbetonung auf die erste Zählzeit legt und zusätzlich gliedernde Achtel einfügt. Hier
offenbart sich eine innere Haltung der Patientin: abwartend, nicht festgelegt, offen für
das, was kommen kann, Bereitschaft zur Anpassung und zur Veränderung.

Diese beiden Anfangstakte ähneln denen der ersten Improvisation aus der zweiten
Sitzung, die durch Episode 1 dargestellt sind.

Episode 1, Takte 1-2:

q = 110 Moderato

-
¿Œ¿Œ ¿¿¿Œ
P
In beiden Episoden bringt sie ihr Formempfinden für Zweitaktgruppen zum Ausdruck
und ihre Fähigkeit, mit unterschiedlichen Motiven gestalten zu können, indem sie sie
miteinander korrespondieren läßt. Wiederholung und Ergänzung sind die musikalischen
Prinzipien, mit denen sie sich orientiert und zugleich ihren “Improvisationsboden”
sichert.

Die Therapeutin entwickelt in rhythmischer Korrespondenz zu dieser zweitaktigen


Gestalt der Patientin eine zweitaktige Motivgruppe, die sich im weiteren Verlauf zu
einem achttaktigen Thema (T 3-10) in reinem d-moll entwickelt.

258
Takte 1-4:

a b a b
- -
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
P
-
∑ ∑ ˙
˙ œ . œj˙
P
Charakteristisches Merkmal dieser zweitaktigen Motivgruppe ist die aufsteigende Quint
(T 3) mit dem sich anschließenden, nach unten führenden Wechseltonmotiv (T 4).

Diese zweitaktige Motivgruppe, die sich im weiteren Verlauf zur Oktave erweitert, bildet
die Grundlage des Themas. In klanglicher Hinsicht weist dieses Thema weder eine
Leittonspannung noch eine Dominantspannung auf. Beim melodischen Verlauf
überwiegen das Quint -, Oktav -, sowie das Sekundintervall, das in ein Wechseltonmotiv
integriert ist. Alle melodischen Intervalle erscheinen mit einem starken Grundtonbezug
zum Ton D und vermitteln somit in ihrer gesamten Erscheinung einen Ausdruck von
Ruhe und Sicherheit.

Aktion:

Aktion zeigt sich im Spiel der Patientin ab Takt 7, mit der Abkehr von ihrer zweitaktigen
Form, die nun durch die Aneinanderreihung ihres rhythmischen Motivs b und seiner
variierenden Verdichtung (T 9) abgelöst wird.

Takte 5-8:

-
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿ ¿

˙ - - ˙ œ. j
j ˙ œ˙
˙ œ. œ˙ ˙ œ. œ˙
F stringendo

259
Takte 9-10:

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿

œ. j ∑
œ˙
œ. œ˙
œ. œ˙
∑ œ. œ˙
J
Ausgelöst wird diese Anpassung und Umstellung im Spiel der Patientin durch mehrere
musikalischen Veränderungen, die die Therapeutin hervorruft: Erweiterung des
Quintmotivs zur Oktave, Erweiterung zur Zweistimmigkeit, Wechsel in ein höheres
Klangregister, das anchließend in die Baßlage mündet und den gesamten Klangraum
erweitert, sowie Steigerung der Lautstärke und des Tempos (stringendo). Somit führt die
Patientin ihr Spiel, ganz zielbewußt und in engem musikalischen Kontakt zum erneuten
Themeneinsatz in Takt 11 hin.

Aktion wird auch in den Takten 11- 16 in der Bedeutung von Anpassung und
Umstellung sichtbar.

Takte 11-12:

q =110 Allegro
a1 b1

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
F
˙ j
˙ œ. œ˙
˙ œ. œ˙
f
œ œ œ œ œ˙
œ œ

Mit der Wiederholung des Themas in Takt 11 wird ein schnelleres Grundtempo
(Allegro) zugrunde gelegt. Dieser neue, gesteigerte Ausdruck wird von der Patientin mit
einem neuen Zweitakter gebildet, der wiederum aus zwei unterschiedlichen, sich
ergänzenden rhythmischen Motiven besteht, Motiv a’ und b’. Diese Möglichkeit der
Umstellung und Anpassung der Patientin durch neue Formen der Aktivität geschieht
immer in enger Verbindung zum musikalischen Kontext, der von der Therapeutin
geschaffen wird (Ausdruckssteigerung durch Dynamik und Baßbegleitung).

260
Welche Bedeutung hat Episode 13?

Die Bedeutung von Episode 13 ist in Verbindung mit Episode 12 zu sehen, die beide
inhaltlich miteinander verbunden sind.

Die Patientin ist in der Lage, ihren metrisch-rhythmischen Einfall zu organisieren. Sie
sichert sich den “Boden” ihrer musikalischen Aktion, indem sie eine zweitaktige Form
als Grundlage ihres musikalischen Spiels wählt. Dabei kommt auch hier ein
charakteristisches Element ihrer Gestaltungsweise zum Vorschein, das bereits in
Episode 1 zu beobachten war. Es verdeutlicht ihre spezifischen Zweitaktformen, die aus
unterschiedlichen, miteinander korrespondierenden, rhythmischen Motiven bestehen.

Auch in dieser Episode wirkt sich der äußere Einfluß der Therapeutin (verfrühter
Einsatz, drängendes Tempo) auf das Spiel der Patientin aus. Hier zeigt sich dieser
Einfluß jedoch mehr in der Aktion der Verwandlung ihres musikalischen Materials und
weniger in der Gestaltung des Dynamisch-Akzenthaften. Die Patientin stützt sich dabei
auf eines ihrer rhythmischen Motive (b) und entwichelt es im Sinne des musikalischen
Kontextes.

Die Aktion der Patientin bildet sich aus ihrer anpassenden, aber offenen Spielhaltung
heraus, die im Dynamischen zurückhaltende Züge zeigt. Sie kann auf die von ihr kreativ
hervorgebrachten rhythmischen Motive zurückgreifen, diese neu formen (s. a`+ b`) und
in einen anderen Ausdruck verwandeln (s. Allegro). Kreativität offenbart in diesem
Sinne die Fähigkeit der Patientin, Ursprüngliches hervorzubringen, sich von etwas lösen
zu können und wieder neue Wege als neue geistige Welten zu erschaffen.

261
Entwicklung zum eigenständigen, aktiven Spielpartner (Ep. 14, 15, 16)

EPISODE 14:

Kontext: Episode 14 gehört mit den beiden letzten Episoden 15 und 16 zum Muster der
Dreierbündelung aus der Grid-Analyse. Alle drei Episoden sind durch die inhaltliche
Bedeutung von ‘Entwicklung zum eigenständigen, aktiven Spielpartner’ miteinander
verbunden.

Trotz unterschiedlicher inhaltlicher Bedeutung stammt Episode 14 noch aus der dritten
Improvisation der vierten Sitzung. Die Patientin spielt also noch auf den Bongos und
wird von der Therapeutin auf dem Klavier begleitet. Episode 14 beginnt im späteren
Verlauf der Improvisation, nach Episode 13.

q =130 Allegro

44 Œ ‰ ¿j ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ Œ ¿ Œ ¿ ¿
1

Patientin (Bongos)

4 œ œœ œ œœ œœ œœ œ œœ œœ œœ œ œœ œœ
&4Ó Œ œœ
œ œœ œ œ œ œœ œ œ œ œœ œ œ
Therapeutin (Klavier)
f
?4 Ó
4 Œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ

>
5
> > > -
P. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
ƒ ƒ
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œ œ œ œ Jœ œJ œJ œJ œJ œJ
&œ œ œ œ œ œ œ œ ‰ ‰ ‰ ‰ ‰ ‰
œ œ œ œ œœ œœ œœ œœ
? œœ œ œœ œ œ œ œœ œœ œœ œœ
Th.

œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ

P. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿


√j j j j F
œœ
œ œ œ œ œœœ œ œœœ œ œœœ
& ‰ ‰ ‰ ‰ Œ Œ Œ ‰ J

œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
? œœœ œœ œœ œœ
Th.

œ œ œ œ œ œ Œ œ œ œ Œ œ Œ ‰ ‰

262
-
13
- - - . - -
P. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿- ¿ ¿ ¿ Œ
œ œ P
œ bœ œ œ œ œ œ
‰ J œ œœ œ œ œœ œœ
3

& Œ œ J Ó œœ œ œ
œ
P
œœ œœ œœ œœ œœ
Th.

?œ Œ Ó œ
œ œ œ œ œ Œ Œ

17
> >
P. ¿ Œ ¿ Œ ¿ ¿¿¿ Œ
¿ ¿ Œ ¿ ¿ Œ ¿ Œ
>3
œ Œ Œ œ œ œ œ Œ Œ œ œ œ œ œ œ œœ œ œ
3 3 3

& œ Œ Œ œœ œ œ
Th.
œ œ œœ
œ
?œ Œ Œ œ œ
œ Œ Œ œ œ
œ Œ Œ œ œ Œ Œ œ
3
21

P. ¿¿¿ Œ ¿ ¿¿¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ Œ ¿¿¿¿


3 3 3 3 3

œ œœœœ œœœ œ œ œ
& œ Œ œœ œ œ œ œœ œ œ œ œœ œ œ œ œ Ó
Th. œœ œœœ œœ œœ œœ œœœ œœœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
? œ Œ œ œ œ Ó

In dieser Episode kommen die Kategorien Aktion, Expressivität und Beziehung zur
Geltung. Diese Kategorien sind also hier vor dem Hintergrund der Entwicklung zum
eigenständigen, aktiven Spielpartner zu betrachten.

Aktion und Expressivität:

Aktion und Expressivität sind in dieser Episode eng miteinander verbunden und erhalten
dadurch tiefere Bedeutung.

Der musikalische Inhalt dieser Episode bestimmt sich aus einem Entwicklungsabschnitt,
der über eine erste Stufe der Steigerung (T 7) zum Höhepunkt in Takt 10 führt. Nach
diesem Höherpunkt, baut sich die vorherige Steigerung allmählich ab und führt in Takt
15 zu einem spielerischen, auf rhythmische Muster konzentrierten Abschnitt mit hoher
gestalterischer Präzision. Der musikalische Kontext ist durch die Therapeutin bestimmt.
Desgleichen geht auch der Impuls zur Transfomation primär von der Therapeutin aus.
Trotz dieses Anstoßes von außen entwickelt die Patientin eine innere Energie, die sich

263
aktiv auf den musikalischen Prozeß auswirkt und diesen mit bestimmt. Dieses zeigt sie
im Verlauf der Takte 4 bis 10.

Takte 4-6:

> > > > -


¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿
ƒ
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
œœ œ œœ œœ œ œ œ œ œ œ œ œ
œ œœ œ œ
œ œ œ œ
œ œ œ œ œœ œ œœ œ œœ œ œœ œ

Takte 7-8:

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
œ œ œ œ œ œ ƒœ œ œ œ
‰ J‰ J ‰ J ‰ J ‰ J ‰ J

œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
œ œ œ œ œ œ œ œ

Takte 9-10:

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿
√j j j j
œ
‰ œ ‰ œ ‰ œ ‰ œ œœ œ Œ

œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
œ œ œ œ œ œ œ Œ

Während die Patientin in Takt 4 ihr “Grundschlagspiel” zu den durchgängigen


Quartakkorden der Therapeutin durch Viertelpausen auflockert, übernimmt sie ab Takt 5
die Führung: sie verstärkt ihre Akzente, ihre Dynamik und gibt in Takt 6 mit ihrer
verdichtenden Achtelbewegung den Anstoß für die nächste Steigerungsstufe. Damit baut
sie auf ihre Art die musikalische Steigerung sukzessiv auf. Ihre Ausdrucksqualität ist

264
von ihrem Willen und ihrer Energie bestimmt und hat etwas von einer nicht locker
lassenden, besitzergreigfenden Komponente.

Die Therapeutin verfällt in Takt 6 in die, durch die Patientin ausgelöste Achtelbewegung
und synkopiert sie im weiteren Verlauf, in Verbindung mit einem kontinuierlichen
Tonhöhenanstieg von c3 bis a3.

Aktion zeigt sich im Spiel der Patientin auch im weiteren Verlauf der Episode an Hand
ihrer konsequenten Stimmführung und der Aufrechterhaltung ihres stringent gehaltenen,
kräftigen Ausdrucks.

Takte 13-16:
- - - - . - -
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
œ œ œ bœ œ œ Pœ
œ œ
Œ œ J ‰J œ œœœ œœœ œœ Ó
œ
P
œœ œœ œœ œœ œœ
œ Œ Ó œ œ œ œ œ Œ Œ

In engem Kontakt zur abwärts führenden, sykopierten Oberstimme der Therapeutin


(Steigerungsabbau) gibt sie in der Tonstärke etwas nach und artikuliert ihr Spiel, so daß
es eine stärkere inhaltliche Prägnanz erhält. Ihr starkes Formbewußtsein äußert sie durch
die drei kräftig ausgeführten Viertelschläge in Takt 16, die den vorangegangenen
Abschnitt vollenden.

Beziehung und Expressivität:

Expressivität und Beziehung erscheinen in den letzten Takten dieser Episode. Auch sie
sind auf das engste miteinander verbunden.

Takte 17-20:

17
> >
¿ Œ ¿ Œ ¿ ¿¿¿ Œ ¿ Œ ¿ Œ ¿ ¿ Œ ¿
>3
Œ Œ œœ œ œ Œ Œ œœ œ œ Œ Œ œœ œ œ œ œ œœœœ
3 3 3

œ œ
œœ œ œœ œ œœ
œ œ œ
œ Œ Œ œ Œ Œ œ Œ Œ Œ Œ œ

265
Takte 21-23:

3
21

¿¿¿ Œ¿
¿¿¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ
3 3 3 3 3

œ œœœœ œœœ œ œ Œ œœœ œ œœœœ œœœ


œ œ œ œ
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
œ œ œŒœ œ œ

Dieser rhythmisch bestimmte Abschnitt hat als Kern seiner musikalischen Aussage ein
Triolenmotiv mit angehängtem Viertel, das von der Therapeutin eingeführt und ab Takt
21 stärker aneinandergereiht wird.

Hier offenbart sich eine bewegte Aktivität der Patientin, die selbstbewußt und im engen
Kontakt zur Therapeutin durchgeführt wird. Der Ausdruck ihres Spiels ist kraftvoll und
zeigt eine positiv erhabene Grundstimmung. Gemeinsam trägt sie mit der Therapeutin
den Effekt der Viertelpause (s. T 16, 18, 19 zweite Zählzeit), übernimmt jedoch
sinnvollerweise nur einmal das Triolenmotiv.

Welche Bedeutung hat Episode 14?

In dieser Episode offenbart die Patientin Ausdauer und Energie. Mit ihrer intensiven
“nicht locker lassenden” Spielweise verbindet sie die musikalischen Abschnitte und tritt
mit ihrer energetischen Ausdrucksweise führend hervor. Der Patientin gelingt es, ihre
aufgebaute und aufgestaute kraftvolle Spielweise zu transformieren (T 17 ff). Damit
zeigt sie sowohl emotionale als auch musikalische Flexibilität.

In Verbindung mit der kräftigen Ausdrucksweise vollzieht die Patientin eine


Hinwendung zur Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Dieses erreicht sie über ihren
intramusikalischen Bezug zur Form. Musikalisch Entwickeln heißt Möglichkeiten
abtasten, musikalische Vorgänge antizipieren und ihre Auswirkungen erahnen. Wir
können dieses bei der Patientin beobachten, denn die Art und Weise ihrer
Weiterentwicklung der eigenen rhythmischen Motive und Zweitaktformen ist Ausdruck
musikalischer Logik. Im interaktiven und interpersonellen Prozeß ist sie aktiv am
dichten Netz der musikalischen Beziehungen beteiligt.

266
Entwicklung zum eigenständigen, aktiven Spielpartner (Ep. 14. 15. 16)

EPISODE 15:

Kontext: Episode 15 ist sehr kurz, da sie sich auf die Schlußbildung der dritten
Improvisation konzentriert.

Patientin (Bongos)
æ¿ æ¿ æ¿ æ¿ ¿
trem. agitato Ï "Pfh"


œ œ œœ œ œ œ
& œœ œœ œ œ Ó œ œ
ƒ Ï
Therapeutin (Klavier)

œ œ œ
& œœ œœ œœ ? Ó
œ œ œ

Auch diese Episode ist vor dem Hintergrund der Entwicklung zum eigenständigen,
aktiven Spielpartner zu betrachten. Ihre Kategorien sind Aktion und Expressivität. Wie
in Episode 14 sind beide Kategorien auf das engste miteinander verbunden. Aktion ruft
die besondere Ausdrucksstärke dieser Episode hervor. Dabei wirkt sich der innere
Druck und Impuls für einen kräftigen Ausdruck vice versa auf die Aktion aus.

Aktion und Expressivität:

Wirbel
æ¿ æ¿ æ¿ æ¿ ¿
trem. agitato Ï "Pfh"


œœ œ œ œ
œœ œœ œ œ œ
œ œ œ Ó
ƒ Ï
œ œ
œœ œœ œœ œ ? Ó œ œ
œ

trem.

Die Schlußbildung kündigt sich im musikalischen Material in der Stimme der


Therapeutin durch die Auflösung der Taktgrenzen an. Drei Quartakkorde führen im
hohen Register der dreigestrichenen Oktave zunächst zum betonten Oktavklang d und
nach einer nicht exakt bestimmbaren Pause, mittels einer in Baß - und Oberstimme
ausgeführten Tremolobewegung, zum Oktavklang c. Die Tonalität ist ambiguos, zumal
keine Leitton - und Dominantspannung vorherrschen.

267
Die Patientin antizipiert die Schlußbildung und geht in einen ausdrucksstarken
Schlußwirbel über. Trotz der offenen harmonischen Führung und der Unterbrechung
durch die eingefügte Pause läßt sich die Patientin in ihrer Schlußgestaltung nicht
beeinflußen. Mit Beginn ihres Wirbels steigert sie kontinuierlich die Lautstärke bis sie
den richtigen Moment ihres Schlußabschlags erreicht hat.

Was ist die Bedeutung von Episode 15?

Auch in dieser Episode offenbart die Patientin Ausdauer und Energie. Ihre kreative
Kraft steht in engem Kontakt mit ihrer emotionalen Kraft. Sie äußert sich mit der
Bedeutung von lebendig sein, in der Situation sein, mit sich und der Welt engagiert sein
(tremolo, agitato). Die Art und Weise, wie selbstverständlich und stringent sie die
Schlußsteigerung durchführt, bekundet ihre zunehmende Eigenständigkeit und
Selbstbestimmung in der musikalischen Beziehung zur Therapeutin.

Das Ende dieser Episode läßt vermuten, daß mit dieser Schlußsteigerung auch ein Effekt
von Katharsis ausgelöst ist. Dieser, von der Patientin erzeugte, kontinuierlich sich
steigernde, ausdrucksstarke und nicht nachlassende Schlußwirbel fordert sie in
körperlicher und geistiger Hinsicht. Es entsteht der Eindruck, daß sie ihre Energie
ausspielen muß, um zu ihrer eigenen Konklusion gelangen zu können, die sich nach
dem kräftigen Abschlag im starken Ausatmen “Pfh” löst und läutert.

268
Entwicklung zum eigenständigen, aktiven Spielpartner (Ep. 14, 15, 16)

EPISODE 16:

Kontext: Episode 16 stellt den Beginn und weiteren Verlauf der fünften Improvisation
aus der vierten Sitzung dar. Die Patientin hat drei Perkussionsinstrumente vor sich,
bestehend aus großer und kleiner Trommel, sowie großem Becken. Sie spielt mit zwei
Schlagstöcken und wird von der Therapeutin auf dem Klavier begleitet.

Ú 90 Andante
P. (Becken) Ó Œ y ∑ ∑ cÓ Œ y
P. (Kl. Trommel) 1 1 1 Œ Ó Œ 11 . Œ 11 . Œ 11 . c Œ 1 1 1 Œ
p gliss.
t tt . t Œ t Œ t Œ c T- Ó
decisio
P. (Gr. Trommel) ∑
√˙ p
-
& # ˙ #˙ c
Therapeutin (Klavier)
˙ w
? c

Ó y Œ
2

B. ∑ ∑ ∑
K. Tr. Ó 1 1 ∑ Œ 111 1 ∑
G. Tr. t ttÓ t ttŒ t t Ó Œ t ttt t
F
- -
& #w #w #w ∑
P
Th.
? w
p
y y y Œ
6

B. ∑ ∑ ∑
1 111 1 ∑ 1 11Œ 1 ∑
p
K. Tr.

G. Tr. ∑ ∑ ∑ t t ttt
#w
Œ œ œ # œ˙ œ
6

&#w #w ˙ Œ # œ# œ# œ œ
Th.
? p

269
Y Ó Y Ó
10

B. - ∑ ∑
K. Tr. 1 1 1 1 1 ∑ ∑ ∑
G. Tr. ∑ t t t t t t Ó t t t t Ó t t t
#w Œ #œ #œ#œ œ
œ œ œ œ
10

& wŒ # œ # œ # œ œ Œ #œ#œ#œ œ Œ #w
w
Th.
?

Œ y y Œ Œ y y Œ
14

B. - ∑ ∑
K. Tr. Ó Œ 11 1 1 1 Œ ∑ ∑
F
G. Tr. t Ó Œ ∑ t t t t t t t ∑
P
14
#w Ó œœ œ ˙˙ œœ œœ œ ˙˙ œœ # œœ œ
& #w # # ww Œ #œ Œ #œ œ Œ#œ Œ #œ œ Œ œ
π
Th.
?

ΠY y
18

B. ∑ π ∑ ∑
K. Tr. ∑ ∑ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
F
G. Tr. t- t t t t t t ∑ ∑ ∑
18
#˙ œœ œœ œ # ˙˙ œœ œœ œ ˙˙ œœ œ # œœ ˙˙ œœ œ
& Œ˙ # œ œ Œ œ
Œ
?
P œ #œ ˙ œ
Ó Œ
Th.

Y Ó Y Ó
22

B. ∑ ∑
K. Tr. Ó 1 1 1 1 1 1 1 1 Ó 1 Œ ∑
G. Tr. ∑ ∑ ∑ t t t t t t
22
# œœ ˙˙ œœ œ # œœ ˙˙ #œ #˙ œ #œ #˙ œ #œ
& œ œ œ
Œ
#œ ˙ œ #œ ˙ F œ
Th.
?œ Œ œ œ Œ œ
œ œ

270
Œ y y Œ y Ó Œ
26

B. ∑ ∑-
K. Tr. ∑ ∑ 1 11 1 1 1 Œ 1 1 1 1
≤t t≤ f
G. Tr. t Œ Ó t≤ Œ ∑ ∑
#˙ j œ #F #œ #œ #œ œ œ
‰ œ œ ˙ œ œ ## œœœ œœœ œœ œœ
26

& ˙ œ œ
Œ # œœ œœ œ œ
Œ
#œ œ ˙ w ƒ
Th.
? ˙ œ ˙ œ
œ Œ

y Ó Œ y Ó Œ Ó Œ y
30

B.
ƒ ∑ ∑
K. Tr. Œ 1 1 11 Œ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 Œ 1 Œ 1 Œ
ß
G. Tr. ∑ ∑ ∑ ∑ ∑
#œ œœ œœ œ # ˙˙ # œœ œ œœ œœ # œœ # œœ #œ œ œ œ # œœ œ œœ
Œ œœœ œœ
30

& # œœ œ œ œ #˙ #œ œœœœ #œ
? ˙œ œ œ #œ ˙ œf œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
Th.
Œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
Ó

Episode 16 ist die letzte Episode der Studie 1 und gehört zusammen mit den Episoden
14 und 15 zum Muster der Dreierbündelung, das mit ‘Entwicklung zum eigenständigen,
aktiven Spielpartner’ betitelt wurde. Diese Episode bildet also, als Bestandteil der letzten
Phase, den Abschluß der Melodieentwicklung im Verlauf des therapeutischen
Behandlungszeitraums.

Episode 16 gehört mit ihren 34 Takten zu der längsten und umfassendsten Episode der
ersten Studie. Die in ihr zur Geltung kommenden Kategorien sind Entscheidung,
Aktion, Beziehung und Expressivität . Da diese Kategorien sowohl einzeln, als auch in
Verbindung mit einer anderen Kategorie auftreten erfolgt ihre Analyse sukzessiv, im
zeitlichen Ablauf ihres Auftretens innerhalb dieser Episode.

Entscheidung:

Die Kategorie Entscheidung beginnt in Takt 1. Ihr voraus geht ein kurzer Abschnitt, der
ein Bild davon vermittelt, wie die Patientin ihr Spiel beginnt: in leiser Tongebung
probiert sie alle drei Instrumente aus (gliss.). Dabei ist sie ganz offen, ohne auf ein
bestimmtes Metrum fixiert zu sein. Ihre Wahrnehmung und Konzentration richten sich
primär auf die klanglichen Unterschiede ihrer Instrumente und den Kontrast von dunkel
und hell. Als deutliches rhythmisches Element bildet sich ein, zuerst auf der großen
Trommel gespieltes, Vorschlagmotiv heraus, das ihr zum Auspropieren der klanglichen
Gestaltungsmöglichkeiten dient.

271
Vorschlagmotiv:

tt.
p
Die Art und Weise, wie sie es auf der großen und kleinen Trommel erklingen läßt,
äußert sich in seiner effektvollen, beliebigen und spielerisch freien Wirkung. Von der
Therapeutin wird dieser offene und klangbezogene Charakter der Spielweise der
Patientin aufgegriffen und in eine zurückhaltende, einstimmige Ganztonmotivik
integriert.

Die Patientin hört sich mit Hilfe dieses Vorschlagmotivs, das sie mit einem Viertel
abwechselt, in diesen Klangkontrast ein:

Ó Œ 1 1 . Œ 1 1 .Œ 1 1 .
t t t. t Œ t Œ t Œ
p
Dieser offene Beginn bildet quasi die Voraussetzung für die Kategorie ‘Entscheidung’,
denn hier gibt sich die Patientin Spielraum, um wahrzunehmen und sich innerlich auf
die Improvisation vorzubereiten. Deutlich hörbar wird diese Hinwendung zur
Entscheidung ab Takt 1. Die Patientin löst sich von ihrer offenen, probierenden Art und
nimmt etwas Bestimmtes in Angriff: das Tempo, die Taktart, die Struktur und
Klanggestaltung.

Takt 1: Takt 3:
Ú 90 Andante
cÓ Œ y Ó y Œ
c Œ 111 Œ ∑
c T- Ó t ttŒ t
decisio

F
- -
c #w
w P
c

272
Am Beispiel der Takte 1 und 3 können wir eine klare Taktform mit einem ebenso klaren
rhythmischen Muster erkennen:

‹ ‹ ‹ ‹ ‹
Dieses rhythmische Muster bildet die Grundlage für die Takte 1 bis 6. Die Patientin
verteilt es auf die drei, ihr zur Verfügung stehenden Instrumente und variiert ihre Form
in jedem Takt, so daß kein Takt gleich erklingt. Mit Ausnahme von Takt 6 wählt sie den
Hauptschwerpunkt (erste Zählzeit) stets auf der großen Trommel (s. T 1 und 3). Durch
den häufigen Instrumentenwechsel, der ein Nebeneinander von fluktuierenden Klängen
erzeugt, kann die Patientin immer neue Schwerpunkte hervorrufen und damit das
gesamte Klangbild anreichern und beleben. In Takt 1 entwickelt sie eine Klangabfolge,
die von der tiefen Trommel ausgeht und über die Mittellage der kleinen Trommel bis
zum hellen Becken führt. Diese Abfolge hebt die Klangschwerpunkte der ersten und
vierten Zählzeit hervor. In Takt 3 kontrastiert sie den tiefen Klang mit dem hohen
Beckenklang. Dadurch werden die erste und dritte Zählzeit stärker in den Vordergrund
gerückt.

Diese Kategorie verdeutlicht, daß die Patientin ihre Sensibilität für Klangphänomene
gestalterisch nutzt und somit das musikalische Geschehen bestimmt. Mit dieser
deutlichen Hinwendung zur Entscheidung im Spiel der Patientin beginnt die
Therapeutin, jeden Takt mit einer ganzen Note zu begleiten. Dabei konzentriert sie sich
auf das klangliche Moment und die Tonbeziehungen, die in ihrer Folge den farbigen,
atmosphärischen Charakter der Ganztonmotivik hervorheben.

Takte 1-4:
- - -
#w #w #w
w
P
Diese Tonfolge wird in den folgenden Takten wiederholdt und abgewandelt und kann
daher als das Grundthema betrachtet werden, das sich integrierend auf den
Zusammenhang des Spiels von beiden, Patientin und Therapeutin auswirkt.

273
Aktion:

Takte 5-8:

∑ ∑ y y y Œ ∑
∑ 1 111 1 ∑ 1 11Œ 1
p
t ttt t ∑ ∑ ∑

∑ #w #w Œ œ œ# œ˙ œ
˙
p
w
p

In den Takten 5-8 wird eine bewußtere Aktion im Spiel der Patientin deutlich. Sie
“sequenziert” ihre rhythmische Grundform von der tiefen zu höher gelegenen
Klangfarbe und schließt ihre Klanggestaltung in Takt 7 mit drei Vierteln auf dem hellen
Beckenklang ab. In dieser Aktion zeigt sich wiederholt die Fähigkeit der Patientin,
formbildend auf das musikalische Geschehen einzuwirken. Sie zieht Folgerungen aus
dem, was sie gespielt hat und setzt es in musikalische Logik um: drei Viertelschläge auf
dem Becken bilden eine Zäsur und lassen einen Enschnitt hörbar werden. Damit weist
die Patientin gleichzeitig auf die Möglichkeit von etwas Neuem hin.

Diese Zäsur hat Auswirkungen auf das Spiel der Therapeutin. Von ihrem Grundthema
ausgehend entwickelt sie im Ganztonraum ein neues Thema, das die rhythmische
Grundform der Patientin integriert. Neben der rhythmischen Struktur weist es eine
wellenförmige Binnenbewegung auf.

Takte 8-9:

#w
Œ œœœ œ
˙ #˙ Œ # œ# œ# œ œ
p

In seiner klar differenzierten, zweisimmigen Anlage wirkt es wie ein Zwiegespräch, das
zwischen dem ruhigen, taktübergreifendem Grundthema (ganze Noten) und der
bewegteren, auf - und abwärts führenden zweiten Stimme abläuft.

274
Beziehung und Aktion:

Beziehung und Aktion zeigen sich in enger Verbindung in den Takten 11 bis 19.
Patientin und Therapeutin bewegen sich synchron zueinander, ohne ihre Identität
aufzugeben. Im folgenden wird abschnittweise diese enge Verbindung aufgezeigt.

Takte 11-14:
s.T7

∑ Y Ó Y Ó Œ y y Œ
∑ ∑ ∑ Ó Œ 11
t ttttt Ó tttt Ó ttt t Ó Œ
#w Œ # œ# œ# œ œ #w
Œ œœœ œ
Œ # œ# œ# œ œ w
#w #w
π

In den Takten 11-14 wandelt die Patientin ihre rhythmische Grundform in Anlehnung
an die fließende Wellenbewegung des Themas der Therapeutin in eine ihr entsprechende
Achtelbewegung um und verkürzt sie sukzessive bis Takt 14. Als Klangkontrast läßt sie
zum ersten mal den Beckenklang auf dem Taktschwerpunkt (erste Zählzeit) erklingen.

Die stützenden ganzen Noten in der Stimme der Therapeutin bilden den klanglich-
thematischen Rahmen der musikalischen Aktionen von beiden, Patientin und
Therapeutin.

Takte 15-17:

Œ - ∑ ∑ Œ y y Œ
1 1 1 1 1 Œ ∑ ∑
F
Œ ∑ t ts.T11
t t t t t ∑
P
Ó œœ # œœ ˙˙ # œ œœœ œœ # œœ ˙˙ # œ œœœ # œœ œœ
#
# ww Œ Œ Œ Œ Œ

275
Takte 18-19:

∑ Œ Y y
π
∑ ∑
t- t s.T16
t t t t t ∑
# ˙˙ œœ œœ œ # ˙˙ œœ œœ œ
Œ #œ œ Œ œ
P

In Ausschnitt T 15-19 balanciert die Patientin ihr Spiel nicht mehr zwischen Trommel
und Becken, sondern sie ergreift mit dem Wechsel zur kleinen Trommel (T 14/15),
Initiative für eine neue Spieleinheit. Diese Entschlußkraft der Patientin manifestiert sich
in ihrer, in Takt 14/15 in mezzoforte ausgeführten, auftaktigen rhythmischen Figur:
-
1 1 1 1 1 Œ
F
Œ
Im weiteren Verlauf greift sie in T 16 und 18 auf ihre rhythmische Form von Takt 11
zurück und kontrastiert diese mit ruhigeren, variierenden Schlägen auf dem Becken.

Die von der Patientin initiierte auftaktige rhythmische Figur hat Signalwirkung und
beeinflußt das Spiel der Therapeutin. Ab Takt 15/16 integriert sie das auftaktige Motiv
in ihre rhythmische Struktur und wechselt von ihrem bisherigen polyphonen
Zwiegespräch in eine homophone Stimmführung (zwei - und dreistimmig) über, in der
Terz - und übermäßige Quartklänge dominieren.

Beziehung:

Von Bedeutung ist diese Kategorie in den Takten 25 bis 27, da sie hier den Bezug zur
thematischen Führung und zum melodischen Motiv in der Stimme der Therapeutin
veranschaulicht.

276
Takte 25 -27:

Œ y y Œ ∑
∑ ∑
t t Œ Ó t t t≤
≤ ≤
#œ #˙ jœ #F ˙ œ
œ ˙ ‰œ œ
#œ œ ˙ w

œ
Das hervorstechende melodische Motiv ist die auftaktige, ansteigende übermäßige Sexte
mit der sich anschließenden, nachklingenden großen Terz auf dem Ton fis2. Es kündigt
sich zum ersten mal in Takt 23/24 an. Dieses Motiv zeigt deutlich auffordernden
Charakter. Der Ton fis2 wird, in Verbindung mit c2, Bestandteil des Tritonusklanges.
Nach seinem melodischen Wechselspiel mit e2 hebt er sich in Takt 27 wieder nachhaltig
hervor.

Die Patientin bezieht sich auf das melodische Motiv, ergänzt es zunächst auf dem
Becken und komplementiert es in Takt 27 mit drei markanten Viertelschlägen auf der
großen Trommel. Ihre Ergänzung fällt jeweils auf den Ton fis2 , so daß folgende
melodische Linie vorstellbar wäre:

#œ #œ œ œ œ œ œ #œ œ œ
œ Œ

Wir können auch hier von einer Signalwirkung sprechen, die in Takt 27 von der
Patientin ausgeht und sich auf den Fortgang der Episode auswirkt. Im direkten
Anschluß ruft diese Wirkung die beiden Kategorien Expressivität und Beziehung
hervor. Wir können also Takt 27 als den Takt betrachten, der eine Wende im Ausdruck
ankündigt.

Expressivität und Beziehung:

Die Therapeutin greift in den Takten 27 bis 31 die von den drei Vierteln ausgehende
Energie im Spiel der Patientin auf und wiederholt die melodische Linie, indem sie ihren
Ausdruck dynamisch (ff) und harmonisch verstärkt.

277
Takte 27-31:

∑- y Ó Œ y Ó Œ y Ó Œ
ƒ
1 111 11 Π1 1 11 Π1 1 11 Π1 1 1
Œ f ß
∑ ∑ ∑ ∑
#œ # œœ œœ œœ œ# œ # œœ œœ œœ œ œ # œœ œœ œœ œ # ˙˙ Œ œœœ
œ
#œ œ œ Œ #œ œ œ Œ #œ œ œ œ #˙
ƒ œ œ œ #œ ˙ œf
˙ œ ˙ œ Œ ˙ Ó Œ œ
œ

Die Patientin hält konsequent an ihrem “eingeschlagenen Kurs” fest. In engem Bezug
zum melodisch-thematischen Verlauf wiederholt sie ihre rhythmische Form mit
stärkerem Ausdruck. Dieses erreicht sie durch eine Schwerpunktbildung auf dem
Becken (erste Zählzeit), durch ein kräftiges Forte und eine sich insgesamt steigernde
Spielintensität. Diese Ausdrucksintensivierung erstreckt sich bis zu einem Sforzato, das
sie in Takt 31 erreicht.

Die Bedeutung von Takt 27 wird auch im folgenden Ausschnitt, der die letzten Takte der
Episode umfaßt, deutlich.

Takte 31-34:

Œ ∑ Ó Œ y ∑
1 1 1 1 1 1 1 1 Œ 1 Œ 1 Œ
∑ ∑ ∑
œœœ # œœ œ œœ œ # œœ # œœ #œ œ œ œ # œœ œ œœ œ
#œ œ œœœœ #œ œ
f
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ

In diesen Takten wird die begonnene Ausdruckssteigerung weiter fortgeführt. Die


Musik der Therapeutin nimmt marschähnlichen Charakter an. Die Thematik erscheint in
Akkordblöcken mit einem in Fortissimo verlaufenden Baß-Ostinato.

278
Die Patientin variiert ihre rhythmische Form zugunsten ihres eigenen Ausdruckswillens:
ihre “Viertelschläge” erklingen nun in einem kraftvollen, mächtigen Forte, das sie durch
den Wechsel in eine parallele Spielweise verstärkt zum Ausdruck bringt.

Wenn wir das rhythmische Material der Patientin in ihrer spezifischen Zuordnung der
Instrumente betrachten können wir feststellen, daß sie den Instrumenten unterschiedliche
rhythmische Bedeutung beimißt. Der großen Trommel ordnet sie neben einem
Schwerpunktschlag häufig eine dichte rhythmische Abfolge zu.

Takt 11, große Trommel:

t t t t t t

Die kleine Trommel zeigt wiederholt die aufgelockerte, wechselnde ‘schwer-leicht -


Formation’:

Takt 20, kleine Trommel:

1 1 1 1 1 1

Dem Becken ordnet sie, entsprechend seines nachklingenden Klangcharakters, weniger


rhythmische Motive als Einzelschläge zu, die sie, in Kongruenz mit ihrer formalen
Gestaltung, unterschiedlich ausführt.

Takte 7, 14, 22:

y y y Œ Œ y y Œ Y Ó

Allein diese Übersicht veranschaulicht, wie differenziert sich die Patientin äußern kann.
Beim Wechsel der Instrumente läßt sie sich manchmal Zeit, indem sie Pausen auf der
vierten und ersten Zählzeit einfügt (s. T 7, 17, 19, 24, 26, 27). Hier entsteht der Eindruck,
daß sie sich selber Raum gibt, um den Klangwechsel bewußt vollziehen zu können.

Welche Bedeutung hat Episode 16?

Zunächst einmal haben wir hier zwei Attribute, die die Patientin zu vereinen mag:
Offenheit und Entschlußkraft. Beides kann sie, unabhängig von der Therapeutin, für
sich im Spiel umsetzen.

Zu Beginn der Episode steht das Klangerlebnis im Spiel der Patientin im Vordergrund.
Dieses erforscht und erweitert sie, indem sie immer neue Klangstrukturen durch die
Einbeziehung aller drei Instrumente bildet. Die Patientin ermöglicht sich die

279
Wahrnehmung der verschiedenen Klanggebilde, indem sie eine bestimmte rhythmische
Form zeitweilig beibehält, die ihr Stabilität, gehörsmäßige Sicherheit und Genuß
verschafft. Auch hier vermag sie zwei gegensätzliche Elemente auszubalancieren: das
invariante und variante Element. Für die Patientin bedeutet dieses, bei etwas bleiben
können, etwas weiterbestehen lassen, aber auch etwas verändern und in Verwandlung
bringen können.

Ihre Gestaltungsfähigkeit setzt sie mit dem erweiterten Klangspektrum ein. Besonders
deutlich heben sich in klanglich-gestalterischer Hinsicht ihre formbildenden Kräfte
durch Zäsuren- und Schlußbildungen ab. Diese zeigen dynamisch-innovatorische
Tendenzen, die neue Ausdrucksstärken hervorbringen und weitertragen, bis sie ihre volle
Ausdruckskraft erreicht hat (s. T 31 ff, parallele Spielweise in gleichmäßigen Vierteln).
Diese führt sie in selbstbewußter und selbstbestimmender Weise aus. Somit ist die
Patientin in der Lage, ihre rhythmische Form zugunsten ihres Ausdruckswillens zu
variieren.

Einen Hinweis zu dieser dynamischen Entwicklung finden wir in Takt 27. Mit den drei,
von der Patientin ausgeführten akzentuierten, dunklen Schlägen erinnert er an den
Symbolgehalt der Zahl drei. Die Zahl ‘Drei’ ist Zeichen des Dreiecks und symbolisiert
die Trinität Gottes. Auch in der Musk spielte sie von jeher eine große Rolle: die
Dreizählung galt als das perfekte, vollkommene Grundmaß. Sie fand auch
Entsprechungen in der Formgestaltung (Barform), im Dreiklang und der Oktave, die
nicht nur sich selbst, sondern auch das Ergebnis von Quinte und Quarte ist (Blume,
1989). Wir können hier spekulieren, daß auch die Patientin in sich etwas vereint hat:
äußerlich durch die drei unterschiedlichen Instrumente mit ihrem spezifischen
Klangcharakter und den Klangabstufungen von dunkel - mittel und hell; innerlich durch
ihre Integrität von Aktion, Beziehung und Expressivität, die sie zusammenhängend zum
Ausdruck bringt.

280
Kapitel 12
Die Beziehung zwischen den Episoden und der Melodie
“Ein Spaziergang durch Paris”

In diesem Kapitel geht es darum herauszufinden, welche Zusammenhänge zwischen den


Episoden bestehen und zu entdecken, wie die Episoden mit der Melodie der letzten
Sitzung in Verbindung stehen. Desweiteren wird versucht, das Prozeßhafte im Verlauf
der Episoden, die strukturierte Interaktionen in der Zeit sind, hervorzuheben.

In Kapitel 11 konnten die für die Kategorien der Konstrukte relevanten musikalischen
Elemente aufgedeckt und zu den Kategorien der Episoden in Beziehung gesetzt werden.
Durch diesen Vorgang konnten musikalische Muster in ihrer Bedeutung präzisiert
werden. So wurden viele unterschiedliche Beispiele aufgeführt, die die Kategorien
Intuition, Entscheidung, Aktion, Beziehung, Expressivität und Kontemplation belegen
konnten. Das Ergreifen der Initiative für ein Ritardando oder der Wechsel einer
rhythmischen Form sind nur zwei Beispiele von vielen anderen, die die Kategorie Aktion
im Spiel der Patientin anhand des Notenbildes nachweisen.

D ER E NTWICKLUNGSVERLAUF DER K ATEGORIEN DER E PISODEN

Im folgenden betrachten wir zunächst die übergeordnete Form des Therapieverlaufs, die
sich aus den Kategorien der Elemente (Episoden) ergibt. Als graphische Übersicht wird
hierzu eine Art “Landkarte” des Therapieverlaufs entworfen (s. Abb. 12.1), die in
Kapitel 11 in ähnlicher Konstellation den Verlauf von acht Phasen übersichtlich vor
Augen führte. Wenn wir die Verbindungen und Zusammenhänge der Dreier - und
Zweiergruppierungen der Elemente aus der Grid-Analyse (s. Kapitel 10, Abschnitt
‘Kategorien der Episoden’, Abb. 10.5) betrachten, läßt sich eine weitere übergeordnete
Form von fünf Phasen feststellen.

In dieser “Landkarte” konzentrieren wir uns auf die Kategorien der Elemente
(Episoden) selbst, das heißt auf ihre inhaltliche Bedeutung. An Hand der Graphik ist
eine Entwicklung im Therapieverlauf festzustellen:

Ausgehend von der Erfahrung einer musikalischen Beziehung, die in dialogischer und
synchroner Form erscheint und die Phase der Kommunikation kennzeichnet, kann die
Patientin ihr musikalisches Spiel integrieren. Das heißt, daß musikalische Motive für sie
bedeutungsvoll werden, daß sie sich innerlich öffnen und emotional bewegen lassen
kann und daß sie ihr ‘Inneres’ mit ihren äußeren Aktionen verbinden kann. In ihr
musikalisches Spiel integriert sie auch die interpersonelle Beziehung zur Therapeutin.

281
2 INTEGRATION MELODIE
“Ein Spaziergang durch Paris”
Musikalisch Anpassande, 1 Kommunikation
integrierende zurückhaltende
Spielweise 4 FORMBILDUNG Spielweise 2 Integration
3 Führung
4 Formbildung
Formbildend Entwicklung
5 Eigenständigkeit

282
auf den musikalischer
musikalischen Parameter
1 KOMMUNIKATION
3 FÜHRUNG Kontext einwirken 5 EIGENSTÄNDIGKEIT
Unbeeinflußte Dialogische Musikalische Entwicklung zum
musikalische und simultane Führung eigenständigen
Organisation Spielweise übernehmen aktiven Spielpartner

Entwicklungsprozeß der 5 Phasen wird von der Melodie abgeschlossen.


der Kategorien der Elemente (Episoden), die 5 Phasen aufweist. Der
Abbildung 12.1: Darstellung der übergeordneten Form des Therapieverlaufs an Hand
Die ‘Musikalisch integrierende Spielweise’ ist Voraussetzung dafür, daß die Patientin
‘musikalische Führung’ übernehmen kann. Die positive Erfahrung dieser Kategorie hat
dazu beigetragen, daß die Patientin an Sicherheit gewonnen hat. Dieses hat ihr
ermöglicht, den Verlauf der Improvisation zu beeinflussen und ihnen eine Richtung zu
geben, die ihrer Expressivität und eigenen Ausdrucksweise entsprechen.

Auf diese Erfahrung kann die Patientin aufbauen. Sie wagt den Schritt nach vorn,
‘Neues’ zu entwickeln. Dabei nutzt sie ihre eigene Gestaltungskraft und läßt sich von
dieser leiten. Damit hat sie ein Element der melodischen Qualität in sich hervorgerufen,
das der führenden und leitenden Stimme.

Die sich bisher kontinuierlich aufbauende Entwicklung im therapeutischen Verlauf wird


durch die ‘Anpassende, zurückhaltende Spielweise’ unterbrochen. Hier gibt die
Patientin die Führung wieder ab und überläßt sich der Leitung der Therapeutin.
Hervorgerufen ist diese Regression durch die Intervention der Therapeutin, die als
externe Forderung an die Patientin herangetragen wurde (vgl. Episoden 12 und 13).
Damit ist für die Patientin eine deviate Situation entstanden, die eine neue Orientierung
erforderlich machte.

Diese Neuorientierung war wahrscheinlich notwendig, damit die Patientin in eine neue
Entwicklungsphase überwechseln konnte. Die neue Phase zeichnet sich durch eine freie,
souveräne Qualität aus. Hier hat sich die Patientin zum eigenständigen, aktiven
Spielpartner entwickelt. Diese Umwandlung zum eigenständigen Spielpartner, die
dynamisch-innovatorische Tendenzen zeigt, hat ihr ermöglicht, Signale zu setzen, die auf
einen möglichen zukünftigen Weg hinweisen.

Diesen beschreitet sie mit ihrem ‘Spaziergang durch Paris’, der in seiner vollständigen
melodischen Gestalt das vereint, was sie zuvor im Kontext der jeweiligen
Improvisationen als eigene Erfahrungskategorien musikalisch durchlebt hat.
Kommunikation, Integration, Führung, Formbildung und Eigenständigkeit sind die
Kategorien, die sich durch den expressiven Gehalt ihrer Melodie ausdrücken.

Es gibt also eine deutliche Entwicklung im Verlauf der Kategorien der Elemente, die zur
Melodie der letzten Sitzung führt, sich in ihr niederschlägt und dort nachweisen läßt. Sie
gründet sich auch auf die verschiedenen Verbindungen der jeweiligen Kategorien:
‘Unbeeinflußte musikalische Organisation’ ist mit ‘Dialogischer und simultaner
Spielweise’ verbunden; ‘Musikalisch integrierende Spielweise’ zeigt eine Verbindung
zu ‘Anpassende, zurückhaltende Spielweise’; ‘Formbildend auf den musikalischen
Kontext einwirken’ ist mit ‘Entwicklung musikalischer Parameter’ verbunden
(entsprechend der Abbildung der Grid-Analyse). Somit haben wir fünf übergeordnete

283
MELODIE
2 INTEGRATION
“Ein Spaziergang
durch Paris”
Musikalisch Anpassande,
integrierende zurückhaltende 1 Kommunikation
Spielweise 4 FORMBILDUNG Spielweise
2 Integration
3 Führung
Formbildend Entwicklung 4 Formbildung
auf den musikalischer
musikalischen Parameter 5 Eigenständigkeit
1 KOMMUNIKATION Kontext einwirken 5 EIGENSTÄNDIGKEIT
3 FÜHRUNG

Therapieverlauf. Sie weist zwei Zyklen auf.


Unbeeinflußte Dialogische Entwicklung zum

284
musikalische und simultane Musikalische eigenständigen
Führung
Organisation Spielweise aktiven Spielpartner
übernehmen

Intuition Intuition Intuition Intuition


Entscheidung Entscheidung Entscheidung Aktion Aktion Aktion Aktion Aktion Entscheidung
Beziehung Beziehung Beziehung Beziehung Intuition Expressivität Aktion
Expressivität Expressivität Expressivität Expressivität Entscheidung Beziehung
Aktion Beziehung Expressivität
Kontemplation Kontemplation

KATEGORIEN KATEGORIEN
der KONSTRUKTE der EPISODEN
ZYKLUS 1 ZYKLUS 2
Kommunikation, Integration, Führung, Formbildung und Eigenständigkeit.

Abbildung 12.2: Darstellung der Kategorien der Konstrukte in ihrer Zuordnung zum
Phasen erhalten in Anlehnung an ihre inhaltliche Bestimmung die Bezeichnungen:
Phasen, die zur Entwicklung der Melodie der letzten Sitzung geführt haben. Diese
D ER E NTWICKLUNGSVERLAUF DER K ATEGORIEN DER K ONSTRUKTE

Die Frage ist nun, wie die Patientin von einer Episode zur anderen gelangt ist, wie sie
von einer Entwicklungsphase in die nächste überwechseln konnte. Zu diesem Zweck
werden die Kategorien der Konstrukte herangezogen, die die relevanten Kategorien der
musikalischen Analyse bildeten. Als Übersicht dient uns wieder eine Graphik, die die
Kategorien der Konstrukte in ihrer Zuordnung zum Therapieverlauf (Kategorien der
Episoden) veranschaulicht (s. Abbildung 12.2).

Wenn wir den Verlauf der Kategorien der Konstrukte in ihrer Beziehung zum
übergeordneten Therapieverlauf (Kategorien der Episoden) betrachten,so fallen zwei
Zyklen auf (s. Abb.12.3):

ZYKLUS 1 ((Intuition, Entscheidung) Aktion) Beziehung, Expressivität Kontemplation

ZYKLUS 2 (Aktion, Intuition) Expressivität, Entscheidung, Beziehung MELODIE

Abbildung 12.3: Darstellung der Zyklen 1 und 2, die sich aus den Kategorien der
Konstrukte ergeben.

Im ersten Zyklus verbindet die Patientin ihre Intuition mit Entscheidung, wodurch die
neue Kategorie Aktion entstehen kann. Entscheidung und Aktion führen die Patientin zu
den Kategorien Beziehung und Expressivität. Wie im Analyseteil deutlich geworden ist,
bedingen beide einander. Sie bilden in ihrer Kombination einen Schwerpunkt innerhalb
dieses ersten Zyklus. Sie werden von der Patientin im Wechsel mit Aktion und Intuition
über drei Phasen des Therapieverlaufs “durchgearbeitet” und “durchlebt”. Auch die
Kategorie Aktion tritt in ihrer Rolle führend hervor. Sie wird von der Patientin in ihrer
dritten Entwicklungsphase erneut aufgegriffen und bleibt bis zum Schluß ein
maßgeblicher Faktor in ihrem Spiel.

Am Ende dieses ersten Zyklus kommt als neue Kategorie Kontemplation hinzu. Anhand
des Verlaufs dieses ersten Zyklus läßt sich ablesen, daß beide Kategorien Beziehung
und Expressivität, die sich wie ein Band durch den ersten Zyklus ziehen, zu einem
Höhepunkt führen, der als Kontemplation erscheint. Diese neue Kategorie offenbart
sich als Läuterung und Verfeinerung im musikalischen Spiel der Patientin (vgl. Episode
11).

Im zweiten Zyklus greift die Patientin noch einmal auf ihre Intuition zurück. Wir wissen,
daß dieses Zurückgreifen auf die erste Kategorie (erste Phase des Therapieverlaufs) mit
der Intervention der Therapeutin zusammenhängt. Diesmal greift aber ihre Aktion über
ihre Intuition hinaus und führt sie in die Kategorien Expressivität, Entscheidung und

285
Beziehung. In diesem zweiten Zyklus erscheinen mit Ausnahme der Kontemplation alle
Kategorien in konzentrierter Form. Mit Blick auf die letzte Phase im Therapieverlauf
kann die Patientin hier das hervorrufen, was sie zu einem eigenständigen, aktiven
Spielpartner werden läßt. Es ist augenscheinlich, daß die Beziehung im zweiten Zyklus
eine untergeordnete Rolle spielt. Sie wurde bereits im ersten Zyklus mit sich, also
intrapersonell und interpersonell mit der Therapeutin ausgehandelt und in Kongruenz
gebracht. In diesem Zyklus zeigt die Patientin ihre gewonnene Unabhängigkeit und
Selbständigkeit im aktiven Spiel, was sich in ihrer neuen Ausdrucksqualität offenbart.
Dieser Zyklus leitet direkt in die Melodie über, die von den Kategorien Intuition,
Entscheidung, Aktion, Beziehung, Expressivität und Kontemplation getragen wird.

Faktoren der Melodieentwicklung in Studie 1

Wenn wir auf die Ausgangsfrage dieser Forschungsstudie zurückkommen, die auf der
Suche nach den Quellen der Melodieentwicklung war, so läßt sich für die Patientin der
ersten Studie folgendes feststellen:

• Fünf Phasen (Kommunikation, Integration, Führung, Formbildung


Eigenständigkeit) verdeutlichen im Therapieverlauf dieser Patientin die “Stationen”,
in denen sie “verweilen” mußte, um unterschiedliche Erfahrungen zu sammeln, die
sie schließlich kontinuierlich zu ihrer Melodie führten. Diese Stationen mußte sie
durchlaufen, um zu dem Ausdruck gelangen zu können, der ihrer Identität und
Authentizität entsprach. Somit bilden Kommunikation, Integration, Führung,
Formbildung und Eigenständigkeit die Voraussetzungen für die Entstehung der
Melodie der letzten Sitzung.

• Die Art und Weise wie sie ihre Erfahrungen gesammelt hat, wird durch die
Kategorien der Konstrukte verdeutlicht. So können wir im Hinblick auf die erste
Studie feststellen, daß die Patientin mit Hilfe ihrer Intuition zur Entscheidung und
Aktion gelangt ist, die sie in Beziehung zu sich selbst und der Therapeutin gebracht
hat. Dadurch ist sie mit ihrer expressiven Seite in Kontakt getreten, die sie durch die
Weiterentwicklung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten zur Kontemplation führte. In
einer sich anschließenden Regressionsphase hat sie noch einmal auf ihre Intuition
zurückgreifen können, die diesmal jedoch von ihrer Aktion geleitet wurde. Somit ist
sie verstärkt aus dieser Phase herausgekommen und hat in neuer Weise ihre Aktion,
Expressivität, Entscheidung und Beziehung für eine neue Qualität ihres Ausdrucks
genutzt. Mit diesen Kategorien, die die zentralen Modalitäten im Spiel der Patientin
darstellen, formt sie ihre Melodie der letzten Sitzung.

Diese Feststellung läßt sich mit einigen musikalischen Beispielen belegen.

286
D ER N ACHWEIS DER E NTWICKLUNG AN HAND EINIGER MUSIKALISCHER
B EISPIELE

Intuition

An Hand der Abbildung 12.3 läßt sich erkennen, daß die Kategorie Intuition beiden
Zyklen angehört, wobei ihr Stellenwert in Zyklus 2 hinter den der Kategorie Aktion
zurücktritt. Intuition tritt häufig dann in Erscheinung, wenn die Patientin ihr Spiel
beginnt (Anfang der Improvisationen). Charakteristisch für diesen Spielbeginn ist der
Gestaltcharakter ihrer zweitaktigen rhythmischen Formen (EP 1, T 1-2; EP 13, T 1-2).
An Hand der folgenden Übersicht (Abbildung 12.4) kann nachvollzogen werden, wie
sich die Intuition der Patientin im Verlauf der fünf Phasen gewandelt hat:

Ep1, T1-2 - Ep1, T15 Ep2, T3-4


-
¿Œ¿Œ ¿¿¿Œ ¿ ¿ ¿¿¿ ¿¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿ ¿¿¿¿¿ Œ
p p

Ep7, Anfang -
Ep13, T1-2 -
œ - -
œ œ œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿ Œ ¿
œ œ œ œœ œœœ

MelodiebeginnT1-2 “Ein Spaziergang durch Paris”


1
œ n˙
2
œ ˙ œ ˙3

œ ˙ œ ˙

Abbildung 12.4: Beispiele zur Intuition und ihr Verlauf innerhalb der fünf Phasen.

Ausgehend von ihrer zweitaktigen rhythmischen Form kann die Patientin diese durch
die von der Therapeutin erzeugten ‘Erwartungsspannung’ auflösen und in eine
passagenhafte Fortspinnung übergehen (Achtelbewegung), die auf den Höhepunkt
hinzielt (EP 2, T 3-4). Intuition zeigt sich im melodischen Spiel der Patientin durch ihre
spontan gestaltete klangliche Öffnung des ihr zur Verfügung stehenden Tonraums, die
sie mit einem metrisch-rhythmischen ‘Boden’ verbindet, um für sich ein ruhiges
Ausgangstempo zu etablieren (EP 7 Anfang). Diese intuitiv vollzogene Verbindung und
Integration der Einzelelemente Ton, Klang, Ambitus, Richtung, Metrum, Rhythmus und
Tempo führen zu dem Beginn ihrer Melodie der letzten Sitzung, die, wie die zuletzt
genannten Beispiele, von ihrer Intuition getragen wird. Das bedeutet, daß die Patientin
auf ihre inneren gestalterischen Kräfte zurückgreifen kann und in sehr selbständiger
Weise, mit Hilfe des Jambischen Fußes ihren eigenen melodischen Weg organisiert.

287
Die Art und Weise wie die Patientin die Melodie der letzten Sitzung beginnt,
verdeutlicht, daß die Patientin durch eine Entwicklung gegangen ist. Sie hat sich für
einen bestimmten melodischen Weg entschieden, den sie kontrollieren und mit
Deutlichkeit artikulieren kann. Dennoch ist sie offen für das, was kommt. Durch diese
Klarheit im Spielausdruck exponiert sie gleichsam ihre Persönlichkeit und gibt ihren
inneren Gefühlen eine Qualität, die sich in der logisch entfaltenden Form offenbart.

Aktion

Wie bereits erwähnt, hat sich Aktion aus der Verbindung der beiden Kategorien Intuition
und Entscheidung herausbilden können (s. Abb. 12.3). Die musikalischen Beispiele von
Aktion sind häufig durch dynamische Attribute charakterisiert (vgl. EP 2, T 14-15). Sie
zeigen somit eine deutliche Verbindung zu den Kategorien Beziehung und Expressivität.
Im wechselnden Bezug zu diesen Kategorien erscheint Aktion in der Impulsgebung
eines Ritardandos (EP 6, 10), eines Kernmotivs (EP 7), das sich im weiteren Verlauf zu
einem viertaktigen melodischen Thema (EP 9 und 11) oder in Beziehung zur
Therapeutin zu einer umfassenden rhythmischen Form (EP 13, T 11-16) entwickelt,
einer subito piano - Intervention (EP 8, T 3), einer ausdrucksstarken Schlußgestaltung
(EP 15),sowie einer eigenständigen, souveränen Spielgestaltung (EP 16).

Diese sich deutlich abzeichnende Entwicklung innerhalb dieser Kategorie trägt dazu bei,
daß die Patientin in der Melodie der letzten Sitzung führend hervortritt und dadurch ihre
Expressivität zum Ausdruck bringen kann (s. Tabelle 12.1).

Beginn des Abschnitts C


b œ -̇ œ ˙
& b b 64 œ œ J œ ˙ j
œœ.œ œœ

œ.œ œœœœœœ
Beginn des Abschnitts D
b 6
&b b 4 œ J ˙ œ ˙ œœ
Beginn des Abschnitts E -
b
& b b 64 ˙ œ œn œ œ œ
œœ˙ œ ˙ œ
œ ˙
b 6 œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œn˙
Beginn des Abschnitts F
b
& b 4 œ

Tabelle 12.1 “Ein Spaziergang durch Paris” Beginn der Abschnitte C - F

Bezüge zwischen den Kategorien innerhalb des ersten Zyklus

Beziehung und Expressivität sind die beiden Kategorien, die sich im ersten Zyklus aus
Intuition, Entscheidung und Aktion ergeben und zur Kontemplation führen. Im zweiten

288
Zyklus treten sie in Verbindung mit Entscheidung auf und leiten zur Melodie der letzten
Sitzung über.

Von den zahlreichen Beispielen werden nur einige herausgegriffen, die die geschilderten
Bezüge, die zur Entwicklung der Melodie in der letzten Sitzung führen, unterstreichen.

Beziehung
- j j- j
¿¿¿¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿
œœ . œ œ œœ . œ œ œ œj j Expressivität,
œ. œ. nœ œ
j j j Beziehung
œœ . œ œœ . œ œœ œ
œ œ œ j
œ. J œ œ. œ ˙ œ
Ep3,T3-4 da
Û Û Û
da da da
Û Û Û

j ΠKlavier
œ œ . œ ˙ . œœœ œ
Expressivität
vollerer Klang
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ da
C m in
da da dam
F

j j Ep5,T5-6
œ œ. œ œ œ. œ
˙˙ ˙˙
˙ ˙
œ œ
Ep4,T13-14

Beziehung,
Expressivität
j - - -j j - j
œ œ ‰ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ.
f
Kontemplation
‰ ‰œœ‰‰œœœ œ Œ ‰ œ ‰‰ œ.
œ œ ˙ w
∑ œ œ œ
Ep8,T6-7 œ
∏ perdendosi
∑ œœ˙ ∑ ∑
π ˙ ˙ ˙ π
wÓ ˙ ww
˙
Expressivität,
Beziehung Ep11,T26-29
1 œ œ œ 3 œ œ œ
œ Œ Œ œ Ó
p π calando
√ œ œ œ
Ó Œ œ Œ Ó Œ
Ep10,T1-3

Abbildung 12.5: Beispiele der Kategorien und ihre Entwicklung innerhalb des ersten
Zyklus.

Das musikalische Beispiel EP 3, T 3-4 (s. Abb. 12.5) verdeutlicht die interpersonelle
Beziehung von Patientin und Therapeutin im gemeinsamen Teilen des schwingenden 6/8
Metrums, das im tonalen Rahmen von c-moll harmonisch erscheint. Sie führt zur
Expressivität, die sich in Beispiel EP 4, T 13-14 in Form eines volleren Klangausdrucks

289
zeigt. Beide Beispiele tragen dazu bei, daß in EP 5, T 5-6 Expressivität und Beziehung
in enger Konstellation auftreten, wobei die Expressivität stärker auf den Stimmausdruck
der Patientin und die Beziehung auf ihren intramusikalischen Bezug (Vereinigung der
Vokal - und Instrumentalstimme im Ausdruck von c-moll harmonisch) zugeordnet
werden können. Alle drei Beispiele verdeutlichen ihre Position innerhalb der
übergeordneten zweiten Entwicklungsphase (s. Abb. 12.2), die die musikalisch
integrierende Spielweise der Patientin kennzeichnet. Sie hat Einfluß auf den weiteren
Therapieverlauf und zeigt sich in ihrer engen Konstellation in der vierten Phase, die
inhaltlich von der Entwicklung musikalischer Parameter bestimmt ist. Beziehung
verdeutlicht sich in EP 8, T 6-7 (s. Abb. 12.5) durch das Interaktionsmuster, das von der
Patientin im Austausch mit der Therapeutin graduell gesteigert und zu einer melodischen
Gestalt geführt wird. An diese bindet sie ihre emotionale Ausdruckskraft, die sie durch
die Gestaltung der Elemente Dynamik, Artikulation und motivische Fortspinnung
hervorbringt. In Beispiel EP 10, T 1-3 (s. Abb. 12.5) vertieft die Patientin ihre
Expressivität mit Hilfe des von ihr initiierten ruhigen dialogischen Spiels, das die
interpersonelle Beziehung hervorruft. Expressivität bezieht sich hier auf die
Tonbeziehungen, insbesondere auf das melodische Intervall der ausdrucksstarken
großen Sexte. Beide Beispiele tragen zur Kontemplation in EP 11, T 26-29 bei. Das
abwärts geführte Schlußmotiv verdeutlicht die innere Sammlung und Konzentration auf
ein Element.

Bezüge zwischen den Kategorien innerhalb des zweiten Zyklus

Diese Kette von Beziehungen setzt sich im zweiten Zyklus fort. Die Abbildung 12.6
verdeutlicht den Verlauf der musikalischen Bezüge.

Der zweite Zyklus (s. Abb.12.3) ist dem Beginn des ersten ähnlich. Hier steht jedoch
die Aktion, die von der Intuition getragen wird, im Vordergrund und zeigt sich in
Beispiel EP 13, T 11-12 (s. Abb.12.6) in der Form eines Zweitakters, der aus
unterschiedlichen, variierten rhythmischen Motiven besteht (a’ und b’). Von hier aus
erfolgt eine direkte Anbindung an die Expressivität, die sich in Beispiel EP 14, T 5-6 (s.
Abb.12.6) durch die starke dynamische Gestaltung ausdrückt. Beide Kategorien führen
über die Entscheidung ( s. Beispiel EP 16, T 1, das eine klare Taktform, Motivik und
Klangstruktur zeigt) zur Expressivität, die von der Beziehung getragen wird. Das
musikalische Beispiel hierfür ist EP16, T 26-27 (s. Abb.12.6). In engem Bezug zum
melodisch-thematischen Verlauf intensiviert hier die Patientin ihr expressives Spiel, das
sich mittels der rhythmischen Motive in der Gestaltung der Klangstruktur, Dynamik und
Artikulation ausdrückt.

290
Der zweite Zyklus verdeutlicht, daß sich die Dynamik im Therapieverlauf verstärkt hat:
die Patientin geht von der Phase der Integration direkt in die Phase der Eigenständigkeit
über. Selbstverständlich ergibt sich diese Eigendynamik hauptsächlich aus der
Interaktion von Patientin und Therapeutin, die in jeder Therapiesitzung relevant ist.

Aktion, Intuition
q =110 Allegro
11

¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
F
˙ j
˙ œ. œ˙
˙ œ. œ˙
f œ
Entscheidung Expressivität, Beziehung
œ˙
œ œ œ œ œ
Ú 90 Andante y
cÓ Œ y ∑ ∑-
Ep13,T11-12 . c Œ 111 Œ ∑ 1 1 1 1 1 1 Œ
f
c T- Ó
decisio t≤ t≤ t≤ Œ ∑
F
#˙ œ #œ #œ #œ
c
- œ # œœ œœ œœœ œ # œœ
Expressivität #œ œ Œ
w w ƒ
> > > > - ˙ œ ˙
5

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ c œ
ƒ
œœ œœ œœ œœ œœœ œœ œœœ œœ Ep16,T1 Ep16,T26-27
&œ œ œ œ œ œ
œ œ œ œ œ œ œ œ
?œ œ œ œ œ œ œ œ

Ep14,T5-6

Abbildung 12.6: Beispiele der Kategorien und ihre Entwicklung innerhalb des zweiten
Zyklus.

Intuition, - -œ
Entscheidung Beziehung, Aktion
- -
œ ˙ œ ˙ ˙ œ ˙ Œ -œ -œ
˙ œ ˙ œœ ˙ œ ˙
B,T1-2 p B,T8-10

Aktion, Expressivität Aktion, Expressivität


-̇ œ ˙
œ œ œJ œ ˙ œ œ . œj œ œ n ˙ œ. œ œ œ œ œ œ œ
œ J ˙ œ ˙
C,T1-2 D,T1-2

Kontemplation Kontemplation
˙ œœ˙ œœ ˙ œœ˙ œœ ˙ œ ˙ œœ
˙ œ ˙ œœ ˙ œ ˙ œœ ˙ œ ˙ œ
D,T4-6 p D,T8-10

Aktion
- Aktion, Expressivität
œ
œn œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œn˙ œ
œ ˙ œ ˙ œ ˙ œ
E,T1-2 F,T1-2

Abbildung 12.7: Der Verlauf der Kategorien der Konstrukte dargestellt an der Melodie
“Ein Spaziergang durch Paris”

291
Kategorien der Konstrukte im Verlauf der Melodie

In Abbildung 12.7 werden Beispiele aus der Melodie der letzten Sitzung aufgeführt, die
in ihrer melodischen Gestalt das vereinen, was sich zuvor im Verlauf der Episoden als
Kategorien der Konstrukte herausgebildet hat.

Es läßt sich erkennen, daß mit der Gestaltung dieser letzten Melodie, die die Kategorien
der Konstrukte in ähnlicher Abfolge und Konstellation vereint, wie wir sie im Ablauf der
beiden Zyklen beobachten konnten, die Patientin ihre letzte Phase zum Abschluß
gebracht hat. In komprimierter Form erscheint im Prozeß der sich entfaltenden Melodie
ihre gesamte therapeutische Entwicklung, die an Hand der 5 Phasen des
Therapieverlaufs nachgewiesen werden konnte.

Das von der Patientin zu Beginn der Improvisation (A) eingebrachte Initiationsmotiv (s.
Kapitel 9, Abb.9.2) wird zum gemeinsamen Interaktionsmuster von Patientin und
Therapeutin, das zur Entwicklung der melodischen Gestalt beiträgt. Im Verlauf der
Melodie verändert es in Beziehung und im Zusammenhang mit den Kategorien seine
Gestalt auf vielfältige Weise.

Die emotionale Qualität, die hörbar ist im Spiel der Patientin, läßt sich nicht vom
musikalischen Material, das die Patientin entwickelt hat, eliminieren, da es sich in seiner
aktiven und lebendigen Weise durch die Kategorien der Konstrukte zeigt.

Es wird hier deutlich, daß das Erlebnis einer sich auf diese Weise entfaltenden Melodie
ein Erlebnis einer sinnvollen Ganzheit ist, die sich durch ihre hohe Gestaltqualität
vermittelt: ein sich entwickelndes melodisches Gebilde, das mehr Eigenschaften besitzt
als die Summe ihrer einzelnen musikalischen Elemente ausmachen würde. Die
Gestaltqualitäten lassen sich am vorliegenden Beispiel an Hand der Anschaulichkeit
seiner Form, der Synthese seiner Einzelelemente und der Möglichkeit seiner
Transponierbarkeit nachweisen. Es ist gut möglich, daß die vorgegebene C-Moll Skala
mit den in ihr enthaltenen drei Halbtonschritten (wobei der wichtigste der durch die
Erhöhung des 7. Tons entstandene ist, mit dem übermäßigen Sekundabstand zwischen
dem 6. und 7. Ton) ein möglicher Auslöser für die sich frei entfaltende Spielweise der
Patientin ist. Die der Skala immanente Tonspannung könnte die sich in ihrem Spiel
zeigende Bewegungsenergie hervorgerufen haben, die jeden Ton in ein bestimmtes
Kräfteverhältnis zu den übrigen einordnet und ihm somit eine funktionelle Bedeutung
für den Gesamtverlauf gibt (s. Kapitel 9, Abb. 9.3 und 9.4, Abschnitte D, E und F).

Der im Spiel der Patientin hörbar werdende harmonische Bezug, insbesondere der zum
Grundton, läßt vermuten, daß sie einen Weg des Ausdrucks gefunden hat, der sie zum
einen zentriert und ihr zum anderen eine Neuorientierung finden läßt. Vielleicht kann der

292
Wert des Grundtons darin gesehen werden, daß er diese neue Identitätssuche verankert
und eine Basis für neue Orientierungsmöglichkeiten bereitzuhalten vermag. So könnte
der von dieser Patientin häufiger aufgesuchte Grundton mit einer neuen
Identitätsfindung verbunden sein.

Es kann jetzt auch nachvollzogen werden, daß das melodische Erlebnis für die Patientin
eine tiefere Bedeutung hat. Die Patientin hat für sich nicht nur eine Möglichkeit
gefunden, ihrer inneren Expressivität eine Form zu geben. Das melodische Erlebnis
ermöglicht ihr gleichsam, indem es sie in eine neue und angenehme Umgebung versetzt
hat, sich in einer positiven Weise zu erfahren. Es ist bekannt, daß positive Gefühle sehr
wichtig und nützlich für den Copingprozeß während der postoperativen
Behandlungsphase sind (s. Kapitel 9, Abschnitt ‘Musiktherapie und Coping’). Mit
ihrer eigenen Melodie kann die Patientin erfahren, daß sie in der Lage ist, etwas Schönes
und Ästhetisches zu gestalten, das sich aus ihrem Inneren heraus entwickelt. Hinter der
Melodie steht also eine Persönlichkeit, die sich nicht nur körperlich mutuliert, sondern
vor allem von innen heraus als schön erfährt. Diese Dimension von Schönheit bringt sie
auf eine neue Ebene, die mit Hoffnung verbunden ist, einem Aspekt, der als die
motivierende Kraft für das Erreichen innerer Ziele gesehen wird (Aldridge, 1995).Damit
eröffnet sich die Patientin neue Perspektiven für die Überwindung ihrer Krankheit,
indem sie sich mit Hilfe ihrer schöpferischen Kräfte als neue, transzendierte
Persönlichkeit realisiert.

293
Kapitel 13

Studie 2: Die Entwicklung einer Melodie im Verlauf einer


Improvisation: ”Die Abschiedsmelodie”

In dieser Studie geht es um die Entwicklung einer Melodie mit einem Patienten der
psychosomatischen Station, der an einer funktionell somatisierenden, reaktiven
Depression erkrankt ist.

Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, daß die Krankheit des Patienten
innerhalb dieser Forschungsstudie eine untergeordnete Rolle spielt und die unter diesem
Kapitel angeführten Abschnitte: ‘Der therapeutische Kontext’ und ‘Die Krankheit im
Kontext’ lediglich dazu dienen, das Umfeld dieser zweiten Studie darzulegen. Damit
wird erhofft, dem Leser den Einfluß der verschiedenen Aspekte auf die therapeutische
Arbeit sowie ihre vielfältigen Interaktionen bewußt zu machen.

Die Vorstellung der “Abschiedsmelodie” bildet den Abschluß dieses Kapitels und leitet
gleichzeitig in das nächstfolgende Kapitel 14 über, das sich mit der Erzeugung und
Bearbeitung des Datenmaterials, den Episoden, befaßt. Wie wir in der ersten Studie
gesehen haben, liegt der Fokus dieser Forschungsarbeit auf der Formierung einer
vollständigen melodischen Gestalt im Kontext der Musiktherapie und auf dem
Entwicklungsprozeß, der zu dieser umfassenden melodischen Gestalt geführt hat.

D ER THERAPEUTISCHE K ONTEXT

Wie in der ersten Studie dargelegt, sind auch in dieser zweiten Studie die
Musiktherapiesitzungen von der Grundhaltung des Krankenhauses beeinflußt, die sich
in einer besonderen Sichtweise des Krankheits - und Gesundheitsbegriffs und in
entsprechenden Therapiekonzepten äußert. In bezug auf den Patienten der zweiten
Studie wird dieser Zusammenhang noch näher spezifiziert:

Station Jona

Die Abbildung 13.1 weist neben den bereits in Studie eins erläuterten Bezügen als
spezifisches Merkmal die Station Jona auf.

Station Jona ist die internistisch-psychotherapeutische Station des


Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke. Sie bietet Therapiemöglichkeiten für Patienten
mit

• Psychosomatischen Erkrankungen und Störungen im weiteren und engeren


Sinne

294
• Neurotischen und reaktiven Störungen (z. B. mit Ängsten oder Depression),
Angststörungen sowie Persönlichkeitsstörungen, die mit körperlicher
Begleitsymptomatik einhergehen

• Somatopsychischen Störungen, das heißt seelischer Beeinträchtigung bei


schwerer körperlicher Erkrankung wie Tumorerkrankung

Gesundheitskultur

Krankenhaus

Therapiekonzepte
Stationskultur

Musiktherapie Allgemein
Sitzung

Schöpferische
Musiktherapie
Spezifisch
Station Jona
Anthroposophische Medizin

Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke

Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 13.1: Schöpferische Musiktherapie im Kontext der Krankenhauskultur

Die Station verfügt, im Rahmen einer psycho- und sozialtherapeutisch ausgerichteten


Stationskultur, über die medizinischen Möglichkeiten einer internistischen Station im
Allgemeinkrankenhaus. Basis der Behandlung ist, wie auf der onkologischen und allen
anderen Stationen auch, die Zusammenarbeit im Team, das aus Ärzten, Pflegenden,
Kunsttherapeuten, Physiotherapeuten und Mitarbeitern anderer Berufsgruppen besteht.

Grundlage des Behandlungskonzepts sind tiefenpsychologische und systemische


Sichtweisen von Krankheit und Gesundheit vor dem Hintergrund des Menschenbildes
der anthroposophischen Medizin. Gesundheit und Krankheit werden als Prozesse
verstanden, die in bezug zur individuellen biographischen Entwicklung stehen und einer
Vielzahl von bio-psycho-sozialen Einflüssen unterliegen. Bei der Behandlung werden
körperliche, soziale und seelisch-geistige Aspekte einbezogen, wie zum Beispiel die
rhythmische Gestaltung des Tageslaufes. Therapeutisch wird mit tiefenpsychologisch

295
fundierter Einzel- und Gruppen-Psychotherapie, auch unter Anwendung imaginativer
Verfahren (Katathym-Imaginative Psychotherapie) gearbeitet. Eine große Rolle spielen
die künstlerischen Therapien (Malen, Musik, Plastizieren, Heileurhythmie und Sprache),
die integraler Bestandteil des Therapiekonzeptes sind. Desweiteren wird auf der Station
mit Märchen, Volkstanz und anderen Elementen gearbeitet. Soweit es für den
therapeutischen Prozeß sinnvoll ist, werden Angehörige einbezogen und psychosoziale
Beratungen durchgeführt.

Voraussetzung für eine Behandlung ist die Bereitschaft des Patienten, sich auf die
Therapie und die damit verbundenen Veränderungsprozesse einzulassen. Zur Klärung
der Indikation und Motivation sind aus diesem Grunde für eine Behandlung
Vorgespräche erforderlich. Die Patienten werden gebeten, vor dem ersten Gespräch in
einem Brief ihre Beschwerden und ihre Erwartungen an die Therapie zu schildern.

D IE K RANKHEIT IM K ONTEXT

In diesem Abschnitt kann nur ein vereinfachter, informativer Hintergrund des


Krankheitsbildes der Depression gegeben werden, der zur Erläuterung des Kontextes
der zweiten Studie mit beitragen soll.

Es wird angenommen, daß grundsätzlich jeder Mensch im Laufe seines Lebens in die
Lage kommen kann, unter gewissen Umständen mit einer Depression zu reagieren
(Haenel, 1986). Aus diesem Grund lassen sich Depressionen in der Geschichte weit
zurückverfolgen, auch wenn sie anders genannt und interpretiert wurden. Obwohl
depressive Verstimmungen zu den häufigsten seelischen Störungen gehören (ungefähr
ein Sechstel der Bevölkerung gerät einmal oder öfter im Leben in eine ernste depressive
Krise), gibt es fachlich keinen Konsens darüber, was Depressionen eigentlich sind, wie
sie entstehen und wie sie zu behandeln sind (Eberhard & Eberhard, 1997).

Zudem ist zu berücksichtigen, daß die Auffassungen über die Ätiologie und Behandlung
der Depression, wie andere Krankheitsbilder auch, von der jeweiligen Weltanschauung
und Kultur einer bestimmten Epoche abhängen. An Hand der Vielfalt von
Therapievorschlägen, die im Laufe der Geschichte zu verfolgen sind, wird sichtbar,
welche Unsicherheit und Hilflosigkeit gegenüber diesem Leiden herrschte.

Die somatischen Therapien, wie sie im 20. Jahrhundert entwickelt wurden sowie die in
der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts entwickelte Psychopharmakotherapie und die
Fortschritte in der psychodynamischen Betrachtungsweise trugen dazu bei, dem
Krankheitsbild der Depression näher zu kommen. Insbesondere haben im Bereich der
Neuroendokrinologie neuro-psychophysiologische und chronobiologische
Untersuchungen zu Ergebnissen geführt, die eine deutlichere Abgrenzung einzelner

296
depressiver Subtypen ermöglichte und dadurch therapeutische Bedeutung gewannen
(Rose, 1991). Trotz der neuen Erkenntnisse und effizienteren Möglichkeiten der
verschiedenen Behandlungsweisen wird das Verständnis für das Phänomen Depression
insgesamt noch als lückenhaft und unvollständig bezeichnet (Haenel, 1986).

Zum Begriff der Depression

“In Wirklichkeit ist die unendliche Vielfalt erlebter depressiver Zustände bei jedem
Menschen anders” (Dörner & Plog, 1984, S. 201)

Wenn wir in der Fachliteratur (Bräutigam, Christian & von Rad, 1992; Dörner & Plog,
1984; Kraus, 1983; Philipp, 1983; Rose, 1991) nach der Möglichkeit einer genaueren
Klärung dieses Begriffes suchen, können wir feststellen, daß der Begriff “Depression”
für die Beschreibung eines breiten Bereichs von Störungen des Erlebens, Befindens und
Verhaltens gebraucht wird. Hinzu kommt, daß die Abgrenzung einer
behandlungsbedürftigen Depression von einem normalpsychologischen Zustand der
Depression und Traurigkeit, der als Reaktion auf einen Verlust oder Schmerz auftritt,
nicht immer einfach zu vollziehen ist. Eine Hauptschwierigkeit beim Begriff Depression
liegt also darin, daß er allgemein sowohl als Konstrukt wie auch als Bezeichnung
spezifischer Verhaltensereignisse verwendet wird. Die mannigfltigen Umstände aber, die
den Begriff Depression in seiner Verwendung als Konstrukt evozieren, sind nicht genau
definiert (Benesch, 1981).

Zur Vermeidung begrifflicher Verwirrungen ist man dazu übergegangen, drei


terminologische Ebenen voneinander abzugrenzen. Auf der symptomatologischen Ebene
meint Depression einen Zustand affektiver Verstimmtheit, Traurigkeit und
Niedergeschlagenheit. Die syndromatologische Ebene kennzeichnet eine regelhafte
Kombination von emotionalen, kognitiven, motorischen und körperlich-vegetativen
Störungen. Auf der nosologischen Ebene erscheint die Depression nicht nur als eine
bestimmte Krankheitseinheit mit wechselndem Symptomprofil. Je nach Art des
depressiven Krankheitsbildes werden auf dieser Ebene auch Vorstellungen von der
Verursachung, dem Verlauf, der Prognose und den Therapieerfordernissen
miteinbezogen.

Depression wird in der Fachliteratur also als ein symptomatologisch orientierter


Oberbegriff angesehen. Aufgrund seines vielfältigen und variierenden
Erscheinungsbildes kommt es immer wieder zu Versuchen einer klassifikatorischen
Ordnung. Sie wird einerseits phänomenologisch, also nach ihrem Erscheinungsbild und
andererseits nosologisch, nach ihrer Ursache und ihren Entstehungsbedingungen
geordnet. Unter die zuletzt genannte Gruppe fällt die traditionelle Klassifizierung der

297
Depression in psychogene, somatogene und endogene Depression. Diese traditionelle
Einteilung kann jedoch die vielfältigen Bedingungsmechanismen und
Entstehungsweisen dieses Krankheitsbildes nur unzulänglich wiedergeben. Ein
umfassendes Modell, das die Entstehung aller Formen befriedigend erklärt, existiert
nicht (Rose, 1991).

Es ist davon auszugehen, daß die bio-medizinischen Erfolge einen Schwerpunkt in der
Behandlung von Depressionen bilden. In den folgenden Abschnitten wird eine
psychosomatische Betrachtungsweise reflektiert, die interessante Aspekte für die
musiktherapeutische Arbeit bietet.

Psychosomatische Aspekte

Die Autoren Eberhard, K. und Eberhard, G. (Eberhard & Eberhard, 1997) können sich
eine Depression ohne psychische oder somatische Determinanten nicht vorstellen. Mit
ihrer psychosomatischen Sichtweise folgen sie der modernen Entwicklung der
wissenschaftlichen Depressionsforschung.

Die Interaktion von körperlicher und seelischer Verfassung wird selten so deutlich wie
bei der Psychosomatik und Somatopsychik von Depressionen gesehen. Hier zeigt sich
zugleich auch die Verschränkung von Anlage und Umwelt, Persönlichkeit und Situation,
psychodynamischen Ursachen und Verselbständigung eines Themas im Seelischen und
Leiblichen (Bräutigam et al., 1992). Körperliche Beschwerden und funktionelle
Symptome können z.B. als Begleiterscheinung einer depressiven Verstimmung so stark
in den Vordergrund treten, daß sie das gesamte Zustandsbild beherrschen und die damit
einhergehenden Stimmungsveränderungen leicht übersehen werden. Das kann bei allen
Depressionen der Fall sein, wie z.B. bei der reaktiven Depression, die unmittelbar aus
der Situation zu verstehen ist.

Auch die moderne Psychoanalyse vertritt nach dem Vorbild der psychosomatischen
Medizin ein integratives Wechselwirkungskonzept, nach dem vorgegebene somatische
Schäden wie genetische, neuronale, toxische oder infektiöse Defekte des limbischen
Systems eine Disposition für dysfunktionale psychische Verarbeitungsformen schaffen.
Dabei können psychische Störungen destruktiv auf die biochemischen Funktionen des
zentralen Nervensystems zurückwirken und umgekehrt (Eberhard & Eberhard, 1997).

In psychoanalytischer Sicht erscheinen Depressive häufig abhängig von der Realpräsenz


gewöhnlich idealisierter Objekte, was auch ihre Empfindlichkeit für Trennungen
ausmacht (Bräutigam et al., 1992). Die Eigenständigkeit des psycho-sozio-somatischen
Selbsterlebens, die sich nur aus der Gegenüberstellung bilden kann, bleibt häufig aus.
Wegen dieser nicht hinreichenden Trennung von Selbst und Objekt werden spätere

298
Trennungserlebnisse zu einem psychosomatischen Problem: Objektverlust bedeutet
demnach drohender Verlust des eigenen Selbst. Zur Abwehr dieser existentiellen
Bedrohung dient die Organerkrankung. Die Abhängigkeit von einem äußeren
Realobjekt verschiebt sich auf eine Abhängigkeit von einem inneren Objekt, also einem
Organ des eigenen Körpers mit der sich das psychische Selbst schützen will. Diese
Tendenz zur Internalisierung und Somatisierung seelischen Leidens und äußerer
psychosozialer Konflikte liegt nicht nur im spezifischen Krankheitsbild des Patienten
selbst, sondern auch innerhalb der modernen technischen Medizin, wenn psychosoziale
Konfliktfelder ausgeschaltet werden. Diese Tendenz besteht leider auch im öffentlichen
Bewußtsein, in dem seelische Störungen eine Diskriminierung darstellen.

Zur Bedeutung und Therapie der Depression

Wie differenziert auch mancher Versuch einer subklassifizierenden Auffächerung des


Depressionsbegriffs ausfallen mag, so sagen diese Einteilungen so gut wie nichts über
die Art, den Verlauf und die Bedeutung dieser Krankheit für den Betroffenen aus
(Eberhard & Eberhard, 1997).

In der Fachliteratur werden allgemeine Faktoren aufgeführt, die Beispiele für die
körperlichen und seelischen Erscheinungen geben, unter denen die Patienten leiden. So
nennt die Symptomatik z.B. allgemeine Mißempfindungen, Schmerzen diffuser oder
brennender Art, Schlafstörungen, Müdigkeit, Erschöpfung, Schwäche, Antriebsmangel,
Apathie und Leistungsunfähigkeit, die häufig mit Selbstvorwürfen gekoppelt sind sowie
Schweregefühle im Körper (Bräutigam et al., 1992). Desweiteren werden Hinweise auf
typische Erkrankungssituationen gegeben. Zu einer solchen gehören z.B.
Veränderungen in der Biographie eines Patienten, die einen Geborgenheitsverlust, eine
Trennung, eine Isolierung und einen Zuwachs an Verantwortung beinhalten können.

Ähnliche Faktoren werden vom Internationalen Klassifikationsschlüssel der WHO


aufgeführt, nach dem die Symptome folgendermaßen beschrieben werden (Eberhard &
Eberhard, 1997, S. 15):

In typisch leichten, mittelgradigen oder schweren Episoden leidet die betreffende


Person gewöhnlich unter gedrückter Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und
Verminderung des Antriebs. Die Verminderung der Energie führt zu erhöhter
Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Deutliche Müdigkeit tritt oft nach nur
kleinen Anstrengungen auf.

Andere häufige Symptome sind:

• 1. Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit

299
• 2. Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen

• 3. Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit

• 4. Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven

• 5. Suizidgedanken, Selbstverletzungen, Suizidhandlungen

• 6. Schlafstörungen

• 7. Verminderter Appetit

Wie bei den manischen Episoden zeigt das klinische Bild beträchtliche individuelle
Varianten...In einigen Fällen stehen zeitweilige Angst oder Gequältsein und motorische
Unruhe mehr im Vordergrund als die Depression.

Diese Art der klinischen Diagnosen und Beschreibungen der Symptomatik von
Depression vermitteln jedoch wegen der “Geschichts - und Gesichtslosigkeit” ihrer
Darstellung kein anschauliches Bild von der Bedeutung dieser Krankheit für den
Patienten selbst. Wenn es darum geht, nicht nur nach der Bedeutung und der Erfahrung
von Depression, sondern von Krankheit generell zu suchen, ist es hilfreich auf narrative
Formen zurückzugreifen, in der der Patient seine Geschichte erzählt. Diese haben zwar
nicht die Substanz, mit der ein konventioneller Forschungsbericht ausgestattet ist, aber
sie haben etwas von der dynamischen Ausdrucksweise einer lebendigen Sprache, die
uns unmittelbar anrühren und bewegen kann. Damit sind die musikalischen Qualitäten
der Sprache gemeint: “The essence of language is that of musical form, which is the
vehicle for the content of ideas” (Aldridge, 1996b, S. 100). Der Inhalt von Geschichten
vermittelt sich, ähnlich der Kunst, durch die Form seiner Darstellung: “Stories have a
metaphorical shape and form which recreate a pattern of being, a pattern of being which
symptoms also represent as a metaphorical, albeit restricted, reality” (Aldridge, 1996b,
S. 101). Muster können wahrgenommen und auf menschliche Weise verstanden
werden. Sicherlich können derartige Geschichten nicht allein mit gewöhnlichen
Methoden ausgewertet werden, die die quantifizierte Sprache der Fachwissenschaft
heranzieht. Aldridge schlägt deshalb eine deskriptive Methode vor, die Patienten
ermutigt, nicht nur ihr Kranksein während des stationären Aufenthalts auszudrücken,
sondern auch zum Ausdruck zu bringen, wie sie sich täglich zu Hause und bei der
Arbeit fühlen und erleben. Auf diese Weise können Bedeutungen in ihrer realen
Existenz manifestiert werden. Mit einer deskriptiven Wissenschaft menschlichen
Verhaltens, die sich auf einer ästhetischen Komponente gründet, wäre es also möglich,
auf kreative Weise das auszudrücken, was menschlich ist: was es bedeutet, sich gesund
zu fühlen und was es bedeutet, krank zu werden. “These narratives can be understood
as being structured according to rules of construction, as are musical compositions”
(ebd., S. 101).

300
In diesem Zusammenhang sind noch einmal die bereits zitierten Autoren Eberhard zu
erwähnen, die nach einer Möglichkeit gesucht haben, die Bedeutung dieser Krankheit an
Hand ihrer Eigenheiten und Verlaufsmuster, die in den Krankengeschichten ihrer
Patienten erkennbar werden, greifbarer zu machen. Auf einem hermeneutischen Weg
haben sie versucht, ihre etwa achtzig depressiven Patienten gründlicher zu verstehen,
indem sie auf Grundlage ihrer tiefenpsychologisch orientierten Therapie möglichst viele
lebensgeschichtliche Daten erhoben haben, um daraus eine für Patient und Therapeut
nachvollziehbare Entwicklungsgeschichte zu knüpfen. Ihre Stichprobenwahl hatte
keinerlei systematischen Charakter. Beim Vergleich der Lebensgeschichten kamen sie
insgesamt auf zehn psychodynamische Verlaufsmuster. Diese haben sie an Hand
sorgfältig ausgewählter Romanfiguren der Literatur demonstriert und auf der Basis
einschlägiger Theorien aus der wissenschaftlichen Fachliteratur erklärt. Mit dieser
Möglichkeit der Aufstellung haben die Autoren die Depression nicht als
Ergebniszustand aufgefaßt, sondern als einen Prozeß, der verschiedene Verläufe
aufweisen kann. Insgesamt führen sie zehn Verlaufstypen der depressiven
Verstimmungen auf (Eberhard & Eberhard, 1997, S. 29):

• 1. Vereinsamte Depressivität aus ungetrösteter Trauer

• 2. Erschöpfungsdepressivität aus überfordernden Notlagen

• 3. Klaglose (oder entsagende) Depressivität aus hingenommener Ohnmacht

• 4. Dissoziale Depressivität aus emotionaler Deprivation

• 5. Selbstverachtende Depressivität aus oraler Fixierung

• 6. Regressive (eventuell klagende) Depressivität aus dekompensierter


Überanpassung
• 7. Demonstrative Depressivität aus histrionischer Persönlichkeitsentwicklung

• 8. Autodestruktive Depressivität aus verinnerlichten Ambivalenzkonflikten

• 9. Leere Depressivität aus unerfülltem Narzißmus

• 10. Larvierte Depressivität aus internalisiertem Depressionsverbot.

Diese herausgearbeiteten Formen typischer Verläufe zeigen ihren Nutzen sowohl für
den Patienten als auch den Therapeuten. Läßt sich die Geschichte eines Patienten einem
Verlaufstyp zuordnen, vermittelt allein schon diese Entdeckung ein Erfolgserlebnis für
die gemeinsame hermeneutische Arbeit und schafft Verbindung zwischen Patient und
Therapeut auf der geistigen Ebene. Das ist bei den Patienten wichtig, die auf der
seelischen Ebene keine oder nur pathologische Beziehungen anbieten können.

301
Die vergleichende Zuordnung zu einem Verlaufstyp eröffnet ebenso Erlebnisse des
Verstehens und Verstandenwerdens. Am anderen kann die eigene Tragödie, die ähnliche
Züge trägt, zur Kenntnis genommen und über die Identifikation mit ihm der eigene
Leidensprozeß mit - und nachgefühlt werden.

Auch wenn keine eindeutige Zuordnung möglich sein sollte, könnte der Vergleich,
mindestens im Denken des Therapeuten, einen identitätsstiftenden Beitrag zur
Strukturierung und zum Verstehen der individuellen Lebens - und Leidensgeschichte
des Patienten leisten.

Die Autoren betonen, daß es in therapeutischer Hinsicht auch innerhalb der


Verlaufstypen erhebliche interindividuelle Differenzen gibt, die es notwendig erscheinen
lassen, verschiedene therapeutische Verfahren zu integrieren und sie als Werkzeug eines
methoden - und schulenübergreifenden problemorientierten Gesamtkonzeptes zu
betrachten. In ihren therapeutischen Verfahren stützen sie sich auf die Metaanalyse von
Grawe et al. (Grawe, Donati & Bernauer, 1994). Grawe faßt die wirksamsten
Therapiefaktoren unter drei Perspektiven zusammen (Grawe et al., 1994, S. 638 ff.):

• Unter der Beziehungsperspektive ist die Fähigkeit des Therapeuten


angesprochen, zu einer möglichst guten Therapiebeziehung beizutragen.

• Unter der Klärungsperspektive wird die Fähigkeit des Therapeuten


thematisiert, dem Patienten zu einem besseren Verstehen seines eigenen
Erlebens und Verhaltens zu verhelfen.

• Unter der Problembewältigungsperspektive ist die Fähigkeit des


Therapeuten gefordert, den Patienten ganz direkt bei der Bewältigung
konkreter Lebensprobleme zu unterstützen.

Wie wir oben gesehen haben (Abschnitt ‘Zum Begriff der Depression’), ist es
angesichts der Heterogenität der Depressionsformen aussichtslos, nach einer
allgemeingültigen, typenübergreifenden lehr - und lernbaren Depressionstherapie zu
suchen. Die Möglichkeit eines individuellen Verstehens kann nicht aus dem Besitz einer
allgemeinen Depressionstheorie fließen. Die Autoren K. und G. Eberhard sind der
Ansicht, daß der validitätsorientierte Weg der Hermeneutik, der bei jedem Patienten
immer wieder neu zur Anwendung gebracht werden muß, eine gute Möglichkeit bietet,
das individuelle Verstehen des Krankheitsbildes und seine Bedeutung für den Patienten
am besten erfassen zu können.

Mit Blick auf die oben zitierten Perspektiven kann hier schon festgestellt werden, daß
die improvisierte Musiktherapie für die Beziehungsperspektive und Klärungsperspektive
Möglichkeiten anzubieten hat, nicht aber für die Problembewältigungsperspektive. Unter
dem Aspekt der Klärungsperspektive kann die Melodie eine Rolle spielen. Sie selbst
bietet vielleicht Möglichkeiten zu einer Klärung. Hier kann auf Beispiele aus der

302
Musikliteratur verwiesen werden, wie z.B. auf das Verklärungsthema von Richard
Strauss (Tod und Verklärung op. 24), das eines der Elemente in der Darstellung der
Methode des ‘Persönlichen Konstrukt’ Ansatzes von Kelly bildete (s. Kapitel 6,
Abschnitt ‘Persönliche Konstrukt-Theorie’). Am Verklärungsthema demonstriert
Strauss formal die zeitgemäße Auffassung einer Themeneinführung. Das Thema wird
nicht mehr repräsentiert, sondern entwickelt und findet erst allmählich in mehreren
Phasen zu seiner vollständigen Gestalt. Im Verlauf dieses musikalischen
Entwicklungsprozesses ‘klärt’ es sich, bis es seine adäquate Ausdrucksform erhalten
hat. Ein ähnlicher Prozeß ist in der Musiktherapie denkbar, in der ein Patient allmählich
zu seiner Melodieform finden kann, die einen Klärungsprozeß im eigenen Erleben
auszulösen vermag.

Musiktherapie und Depression

“Wenn Sie mit der Analysestunde beginnen, vergessen Sie alles, was Sie wissen, und
tun Sie nur eines: so gut wie möglich zuhören” (Eberhard & Eberhard, 1997, S. 137)

Das oben angeführte Zitat ist eine Aussage, die die Analytikerin Jeanne Lampl de Groot
viele Male von Professor Freud hat sagen hören. Es führt uns direkt in den Bereich des
musiktherapeutischen Vorgehens und verweist auf einen wichtigen Aspekt, der in beiden
Therapieformen eine wichtige Rolle spielt, den des Zuhörens. Wie bereits erwähnt,
vermittelt sich jedem Gesprächstherapeuten beim Zuhören der Schilderung der
Lebensgeschichte eines Patienten auch seine dynamische Ausdrucksweise. Dazu
gehören Sprechtempo, Phrasierung, Rhythmus, Tonhöhe, Intonation und Stimmklang.
Wie wir wissen, bilden diese supramentalen Eigenschaften unserer Sprache, die
musikalischer Natur sind, die Fundamente unserer Kommunikation (Aldridge, 1996b, S.
35) und spielen daher in jeder Therapieform eine wesentliche Rolle. Sie teilen uns etwas
mit, was über die Krankheit hinausreicht. Die improvisatorische Musiktherapie arbeitet
mit diesen Qualitäten, die sie dem Assessment und dem Aufbau der Therapiesitzungen
zugrunde legt.

Auch hier (vgl. Studie 1 Abschnitt ‘Musiktherapie und Coping’) bietet die
Einbeziehung der kreativen Musiktherapie für die Patienten die Möglichkeiten, ihre
Lebensgeschichte kreativ zum Ausdruck zu bringen. Damit würden sie nicht nur ihre
Pathologien, sondern auch ihre Potentiale ausdrücken, die als real existierende Faktoren
in ihren eigenen Lebensprozessen eine Rolle spielen. Die Erfahrung beider
Komponenten könnte für den Prozeß der Genesung eine Rolle spielen. Gerade im
Hinblick auf chronifizierte Krankheiten, wie z.B. die Depression, deren körperliche
Symptome im medizinischen Behandlungsrahmen schwierig zu interpretieren sind, hat
der Patient mit Hilfe der kreativen Musiktherapie die Möglichkeit, seine Symptome, die

303
Gefühle und Kognition involvieren, expressiv zum Ausdruck zu bringen und sich damit
selbst einen direkteren Zugang zu den eigenen innerpsychischen Prozessen zu
verschaffen. Indem sich diese Form der kreativen Musiktherapie nicht auf die Defizite
einer Person, sondern auf die Entwicklung ihrer individuellen Anlagen und Potentiale
konzentriert, wird ihr die Möglichkeit geboten, sich im Moment des Gestaltens als ‘neu’
zu erfahren. Wie der Patient seine Identität im kreativen Spiel formt wird ein Indikator
dafür sein, wie er seine Probleme bewältigen will (Aldridge, 1996a).

Auch im Sinne der oben genannten Therapiefaktoren würde die kreative Musiktherapie
effektiv zum Einsatz kommen können. Unter dem Blickwinkel der
Beziehungsperspektive formt der Musiktherapeut seine klinische Beziehung mit dem
Klienten durch das Medium der Musik in ähnlicher Weise wie ein Gesprächstherapeut,
der die idiomatische Sprache oder eine besondere Konnotation der Phrase wählt, um die
therapeutische Beziehung zu etablieren (Pavlicevic, 1997).

Die Musiktherapie spielte als Heilfaktor im Bereich der psychischen Krankheiten schon
immer eine wesentliche Rolle. Dieses kann bis ins griechische Altertum zurückverfolgt
werden (Haenel, 1986). Auch im 20. Jahrhundert gehört die Musiktherapie zum
Bestandteil eines umfassenden Behandlungsprogramms. Im Hinblick auf die
psychotherapeutische Praxis ist die Arbeit von Schwabe zu erwähnen, die auf
psychodynamischen Musiktherapiemethoden beruht (Schwabe, 1987). Auch Reinhardt
und Ficker (Reinhardt & Ficker, 1983) entwickelten Schwabes Methode in der Arbeit
mit depressiven Patienten weiter, wobei es beabsichtigt war, diese Patienten durch
Musikhören zu einer Gegenüberstellung mit sich selbst und ihrer Umgebung zu
verhelfen.

Einen weiteren Beitrag über den Einsatz der kreativen Form improvisatorischer
Musiktherapie im Bereich psychischer Krankheiten finden wir bei Pavlicevic und
Trevarthen (Pavlicevic & Trevarthen, 1989; Pavlicevic & Trevarthen, 1991). Sie haben
das musikalische Spiel von 15 schizophrenen - , 15 depressiven Patienten und 15
klinisch normalen Kontrollpersonen miteinander verglichen. Zu diesem Zweck wurde
eine Musik-Interaktionsskala mit 6 Interaktionsebenen, vom gänzlich fehlenden (Ebene
1) bis zum etablierten, gegenseitigen Kontakt (Ebene 6) entwickelt, um den emotionalen
Kontakt zwischen Patient und Therapeutin evaluieren zu können. Als ein kritisches
Element in der Interaktion wurde von ihnen die Einstellung beider (Klient und
Therapeutin) auf einen gemeinsamen Puls betrachtet. Obwohl es der Therapeutin gelang,
mit der Gruppe der depressiven Patienten Kontakt aufzunehmen, schienen diese seltener
die musikalische Initiative ergreifen zu wollen. Mit der Kontrollgruppe war es nicht nur
möglich, einen musikalischen Kontakt aufzubauen, sie war auch in der Lage, eigene
Initiativen zu ergreifen. Dagegen schien die Gruppe der schizophrenen Patienten

304
musikalisch kaum ansprechbar und idiosynkratisch in ihrer Spielweise, was mit anderen
Studien über Schizophrenie übereinstimmte.

Diese sich ganz auf empirische Daten gründende Arbeit zeigt auf überzeugende Weise
die Argumentationsweise der Autorin und ihre sich daraus entwickelnden
Schlußfolgerungen.

Grundsätzlich sind beim Einsatz der aktiven, improvisatorischen Musiktherapie zwei


Faktoren zu berücksichtigen, die Erfahrung des aktiven Hörens, bziehungsweise
Perzipierens und des gleichzeitigen aktiven Spielens von Musik. Das musikalische Spiel
des Patienten wird von der Therapeutin im gemeinsamen, beiderseitigen musikalischen
Austausch reflektiert. In dieser Konstellation hat der Patient die Gelegenheit, sich in
seinem ganzen Sein (Erlebnis) und in Beziehung zu einer anderen Person (Verhalten) zu
erfahren. Es kann angenommen werden, daß während des therapeutischen Prozesses die
Erfahrung des sich allmählichen Formens des eigenen Selbst und des Selbst in
Beziehung zu einer anderen Person (Therapeutin) die Funktion einer ‘Erklärung’
anzunehmen vermag. Die positive Seite dieses Prozesses ist, daß der Patient
buchstäblich hört, wer er ist, wie er sich weiter entwickelt und wie er sein möchte oder
sein könnte. Das Positive liegt also im Potential des Patienten selbst, in seinen
Möglichkeiten (und seiner Wahl) initiativ zu handeln und nicht länger depressiv sein zu
müssen. Die aus einer Depression resultierenden Defizite können somit ‘komponiert’
und damit ‘flüssig’ gemacht, das heißt transformiert und umgewandelt werden. Dabei
kann jedes vom Patienten eingeführte musikalische Element oder jegliches musikalische
Verhalten als Basis seiner Initiative dienen, die mit der/demTherapeutin(en)
weiterentwickelt werden kann. Somit läßt sich vorschlagen, daß Initiative und die sich
daraus ergebenden Tendenzen, beziehungsweise Richtungen im musikalischen Spiel
eine Erklärung anzubieten haben. Im Hinblick auf den Aspekt der Melodie ließe sich
folgern, daß Initiative, Tendenzen und Töne in Form konkret entwickelter Motive oder
Motivgruppen den Weg bereiten, der zur Melodie des Patienten führen könnte.

Zur klinischen Situation des Patienten

Der Patient der zweiten Studie hat sich auf eigenen Wunsch und auf Empfehlung eines
Arztes zur stationären Behandlung auf die internistisch-psychotherapeutische Station
(Station Jona) des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke gemeldet. Die massive
Zunahme seiner somatischen Beschwerden machten einen klinischen Aufenthalt für ihn
erforderlich.

Der Patient ist zum Zeitpunkt seiner Aufnahme 32 Jahre alt, als wissenschaftlicher
Mitarbeiter tätig und arbeitet an seiner Promotion. Seine Zukunftsaussichten schildert er

305
selbst als unbestimmt und ungewiß, wobei es sein Wunsch wäre, die Universität
verlassen zu können. Nach seinen Angaben lebt er in einer partnerschaftlichen
Gemeinschaft mit einer Studentin. Beide haben einen sechsjährigen Sohn.

Die Diagnose zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme lautet: funktionell


somatisierende reaktive Depression.

Zu seiner Person und seinen Beschwerden gibt der Patient folgendes Bild:

Seit der Kindheit leidet er häufig an rezidivierenden Mittelohrentzündungen, die zu einer


zweimaligen Operation an einem beidseitigen Cholesteatom führten. Nach weiteren
Ohroperationen ist das Gehör trotz Hörhilfe eingeschränkt. Durch seine Hörminderung
fühlt er sich psychisch stark belastet. Im Alter von 20 Jahren taucht bei ihm ein
Symptom auf, das ihn in den folgenden Jahren nicht mehr verläßt: innere,
nervenaufreibende Spannungen, die insbesondere bei Entscheidungssituationen
auftreten und mit Schweißausbrüchen verbunden sind. Dabei stellt er immer wieder
Entscheidungen um oder revidiert sie. Diese Spannungen haben sich auf alles andere
übertragen, das heißt auf Beruf und Umfeld, mit der Folge einer allgemeinen
Verunsicherung und Angst. Vermehrt treten Zweifel bei seiner Berufswahl auf, die mit
einem Verlust des Selbstwertgefühls verbunden sind. Im Alter von 25 Jahren leidet er
immer häufiger unter Muskelschmerzen (Muskelzittern) in den Beinen und später in
den Armen, die er durch Sporttreiben zu beheben versuchte. Sein Zustand verschlechtert
sich jedoch zunehmend. Rückenschmerzen, Kopfdruck, Zittern, Schwindel, Seh - und
Sprechstörungen, funktionelle Beschwerden des Verdauungssystems sowie
Einschränkung seiner Denk - und Merkfähigkeiten kommen hinzu. Er spürt, daß er
manchmal zusammenhanglos redet und sich nicht auf den Gesprächspartner einstellen
kann. Er hat keine positiven Gefühle mehr, statt dessen häufen sich Zustände der
Hilflosigkeit und Angst. Er hat den Eindruck abzurutschen und zu zerfallen.

Zu seinen Erwartungen und Zielvorstellungen, die von ihm, im Falle einer stationären
Aufnahme, in einem Vorgespräch erbeten wurden, äußerte er sich folgendermaßen:

Er möchte zur Ruhe und ins Gleichgewicht kommen und seine Probleme behutsam
angehen. In seinem augenblicklichen Stadium spürt er, daß er den Überblick verloren
hat und daß Körper, Seele und Geist in ständigem Ungleichgewicht sind. Es ist ihm
bewußt, daß die Gleichgewichtswiederherstellung eine große Mitarbeit von ihm verlangt,
aber auch, daß er bereit ist, diese zu wollen. Er erhofft sich von der Therapie, die
Zusammenhänge, die seine Biographie offenbart, klarer durchschauen zu können. Viele
seiner körperlichen Beschwerden betrachtet er als eine Folge seines großen Verlustes an
Selbstvertrauen, vielleicht bedingt durch das elterliche Leben, denn sein Vater ist seit

306
vielen Jahren alkoholkrank. Er hofft weiter, daß ihm auch die begleitenden
Kunsttherapien wie Mal - und Musiktherapie helfen könnten, seine Kräfte
wiederzuerlangen. Desweiteren wünscht er sich, wieder fester an Entscheidungen
herangehen zu können. Er weiß, daß er zu oft und zu lange seine Wünsche oder
Gedanken im verborgenen gehalten hat. Somit erhofft er sich durch den Aufenthalt in
Herdecke eine Hilfestellung für eine grundlegende Wende in seiner Biographie, die er
allein bisher noch nicht leisten konnte.

Während seines vierwöchigen stationären Aufenthalts erhielt der Patient als begleitende
Kunsttherapien Plastizieren und Musiktherapie (was ein Wunsch von ihm war). Er
hatte während seiner Schulzeit klassische Gitarre erlernt und erinnerte sich gern an
Situationen, in denen er mit anderen zusammen musizierte. Die Musiktherapiesitzungen
fanden einmal wöchentlich statt und erstreckten sich auf 45 Minuten. Insgesamt hatte
der Patient vier Musiktherapiesitzungen.

D IE “A BSCHIEDSMELODIE ”

In diesem Abschnitt wird die ‘Abschiedsmelodie’ vorgestellt. Sie ist in der letzten
Sitzung des Patienten entstanden und bildet den Hauptbestandteil der vierten Sitzung. In
dieser äußerte der Patient den Wunsch, auf dem Vibraphon spielen zu dürfen. Das ihm
zur Verfügung stehende Instrument hat einen Tonumfang von drei Oktaven (f - f3). Da
die Klangstäbe mit den jeweiligen klangverstärkenden Metallröhren entsprechend der
Anordnung der Klaviertastatur gelagert sind, besteht die Möglichkeit sowohl diatonisch
als auch chromatisch zu spielen. Anstelle des Elektromotors, der die charakteristischen,
dem Vibrato ähnlichen Schwebungen der Töne hervorruft, hat der Patient zum Zweck
des freien Ausschwingens der einzelnen Töne das Pedal (Fußhebel) des Instruments
benutzt, das er mit dem Fuß bedienen konnte. Er spielte auf dem Instrument mit zwei
Filzkopfschlegeln und wurde von mir auf dem Klavier begleitet.

Diese in der letzten Sitzung entstandene Melodie leitet auch in dieser Studie den
Untersuchungsprozeß ein. Die Frage nach den Ursprüngen und dem Prozeßhaften, die
zu dieser umfassenden melodischen Gestalt geführt haben, ist thematischer Inhalt des
Kapitels sechzehn. Wie in Studie eins wird zu diesem Zweck der gleiche methodische
Weg gewählt, der das Prozeßhafte in der melodischen Entwicklung aufzudecken
versucht. Dieser methodische Weg wird in den Kapiteln vierzehn und fünfzehn
beschritten und bildet gleichzeitig die Voraussetzung für die Entdeckungen der
Zusammenhänge und Verquickungen.

In diesem Abschnitt geht es also darum, die “Abschiedsmelodie” vorzustellen und ihre
Bedeutung für den Patienten zu reflektieren. Von der melodischen Improvisation der

307
vierten Sitzung wird daher der wichtigste Ausschnitt präsentiert, der sich aus dem
Anfang und dem späteren Verlauf der Melodie mit dem abschließenden Ende
zusammensetzt. Es handelt sich also um zwei Beispiele, die in den Abbildungen 13. 2
bis 13. 8 dargestellt werden.

1 œ œ
Patient &c œ œ œ œ Œ Œ œœœœ
œ
Œ œ œ Œ Œ
π P
&c ∑ ∑ ∑ ∑
Therapeutin

?c ∑ ∑ ∑ ∑

3 3

3
5
3

& œœœœ œ
Ó œœ œ
œ
∑ 4
œ œœœœ œ œ
P.

3
F
œ œœ ˙
rit.
œ 3
&w ∑ 4 ∑
π F 3 œ
œœœ ˙ w
Th.

? ∑ ∑ 3
4

j .
c ‰ œ œj‰ Ó 45 64
9

&œ Ó œ œ ‰œ œ œ ˙ c œœœœœœ‰ Ó
J
P.

√œ
œ
accel. 3
œœ œ
∑ c ∑ 5 œœ
˙
˙ cŒ ‰ 6
& 4 4
Th.

? œ. . . . . ˙˙ ˙˙
œ œ c œ. œ ˙ 5

˙ ˙ c ∑ 6
4
sostenuto

Abbildung 13.2: Beispiel 1a: Anfang der “Abschiedsmelodie”

308
-œ œ ˙ >√ œ
ڜ80a tempo
6 74 œœ œœ œ œ 34 œ 58 J œJ œJ œJ ‰ 78
13

P. & 4 œœ œ œœœ Œ
π
F agitato3œ ˙ f rit.√
œœœœœ œ pœ œ
6 œœ˙
& 4 Ó Œ ˙˙ 4 Ó Ó 7 œœ 34 œ œ Œ Œ 58 œœ œœ œœ 78
œ œ J
Th. p
?6 ∑ 74 ∑ 34 rit. ∑ 58 ∑ 78
4

-œ œ
& 78 Ó 68 ≈œj̊œj œ œ œ œ. œ. 48 œ œ ≈ œ œ œ œ. œ. -
17
œ œœœ ‰ ‰ œœ œ
P.
J J œ œ
œœ- œœ œœ œœ F
œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ- œ œœ œ œ œ œœ œ œœ œ œœ œœ œœ- œ œœ œ
& 78 J J J 68 J J J J œ
œ 48 œJ œJ œ œ J J œ œ
Th.

? 78 ∑ 68 ∑ 48 ∑ ∑
21
œœœ
j -œ œ 7 j -j -j j 4 . . j ..
P. & J ‰ œ
œ œ œ œ ‰ œ 8 œœœœ œ œ ‰ œ 8
œ
œ œ œœ œœ œœ
‰ œœ
œœ
œœ œœ œ-
œ œœ œœ œ
-
œœ œœ œœ œ œ œ œ œœœdeciso F
œ œœ 7 œ œ œœ œ œ
8 J J J Œ 48 ‰ Jœ Œ
œ œ œ
&J J J J
Th. p
? ∑ ∑ 7 ∑ 4 ∑
8 8

..
25
j ‰ . . .. j ‰ j Œ œ j œ
j
P. & œœ œœ œœ œ œ œ œ œ œ
œ œ œ œ œ œ
œœ J œ J œ

. m
œ. œ. œ. œ. œœ. œœ œœ œœ
&œ Œ œ œœ œ œ œ œ
J J
œ
Th.
m
? ∑ ∑ ∑ ∑

Abbildung 13.3: Beispiel 1b: Anfang der “Abschiedsmelodie”

309
Darstellung: Beispiel 1: Anfang der “Abschiedsmelodie”

Takte 1-5 (s. Abb. 13.2):

Nach einem zweimal aufwärts geführten Glissando, das sehr leise, leicht und flüchtig
gespielt ist, beginnt der Patient mit einer viertaktigen Gestalt, die aus zwei sich
entsprechenden Takteinheiten besteht. Den äußeren Rahmen seiner abwärts geführten
Tongestalten bildet das Intervall der Quint (T 2-3), wobei sie den Tonraum e-moll
natürlich (T 3) oder phrygisch mit ausklingender phrygischer Sekunde (T 5) andeuten.
Als charakteristisch erweist sich das durch die Pausen abgesetzte Terzmotiv in Vierteln,
das mit der beschleunigenden Achteltongruppe ergänzt, aber auch kontrastiert wird. Die
beiden Viertelpausen (T 2, 4) haben hier energetische Funktion, denn sie erhöhen die
Erwartung des weiteren Ablaufs der begonnenen Gestalt. Diese spiegelt sich in der
flüchtigen, effektvoll ‘hingeworfenen’ Tonfolge des Patienten. Trotz der klar
erkennbaren musikalischen Anlage zeigt seine viertaktige Gestalt keine integrierte,
zusammenhangstiftende Wirkung, sondern erscheint (trotz Pausen) wie ‘atemlos’
aneinandergereiht.

Takte 6-11 (s. Abb. 13.2):

Mit dem Einsatz der Therapeutin, die ähnliche Klangfiguren aufgreift, entspinnt sich ein
dialogisches Wechselspiel, in dessen Verlauf sich das Tritonusintervall klanglich
hervorhebt. In den Takten 9-10 versucht die Therapeutin das Spiel ein wenig zu bremsen
und zu fokussieren, indem sie die decrescendierende und ritardierende melodische Figur
des Patienten (T 8-9) in rhythmischer Vergrößerung weiterführt (sostenuto). Jedoch
unterbricht der impulshafte, vorzeitige Einsatz des Patienten mit einem abwärts geführten
Tritonus-Motiv den dialogischen Austausch und bringt erneut Energie und Bewegung
ins Spiel.

Takte 12-15 (s. Abb. 13.2 und 13.3):

In zunehmend beschleunigender Bewegung (accelerando, agitato) und von der


Therapeutin imitiert, treibt der Patient seine Sechzehntel-Sekundfiguren in die Höhe, bis
er sie in Takt 14 von dem Ton c3 beginnend in Terzen und Sekunden wieder abwärts
führt und langsam auslaufen läßt. Entsprechend zum Anstieg der Tonhöhe hat er auch
die Dynamik verstärkt, die innerhalb kürzester Zeit zusammen mit der abwärts
führenden Tonfigur wieder von f zum pp geführt wird. Takt 15 zeigt eine Wende an.
Indem der Patient sich auf ein singuläres Zweitonmotiv in Form einer ansteigenden
Sekunde konzentriert, das mit einer Pause ergänzt wird, setzt er eine Zäsur zum
vorangegangenen Steigerungsabschnitt. Die Pause hat hier die Funktion einer inneren
Neuorientierung und Einstellung auf das,was kommt.

310
Takte 16-23 (s. Abb. 13.3):

Die neue musikalische Idee des Patienten zeigt sich in einem klareren Tempo (Andante)
und einem zunächst deutlicher definierten, durchgehenden Achtelpuls, der von der
Therapeutin in Takt 17 aufgegriffen und mit rhythmisch wechselnden Terzgestalten
begleitet wird. Das zum ersten Mal anklingende Achtelmetrum in der Stimme des
Patienten wird von ihm mit einer in Terzen abwärts geführten Tonfigur verbunden.
Sobald das Achtelmetrum in der Stimme der Therapeutin erklingt (T 17), wendet er sich
davon ab und spielt versetzt zum metrischen Grund der Therapeutin abwärts geführte
und häufig mit Synkopen durchsetzte Tonpassagen. Die zahlreichen Unterbrechungen
(Pausen) innerhalb und zwischen den Passagen des Patienten heben den permutierenden
Effekt seiner Spielweise hervor. Der freie Einfall von Takt 16 hat sich in den folgenden
Takten nicht weiter kristallisiert, sondern bleibt unkonkret, unverbindlich und
spielerisch. In Takt 23 wandelt sich die Unbestimmtheit durch den nun deutlichen
tonalen Bezug in Bestimmtheit und Entschiedenheit um (decisio).

Takte 24-28 (s.Abb. 13.3):

Mit Takt 24 läßt der Patient ein klares, kurzes auftaktiges Thema im ebenso deutlich
definierten 2/4 Takt entstehen, das ebenmäßig gegliedert ist (2+2). Dabei übernimmt er
die Terzen aus dem Terz-Begleitmotiv der Takte 17 bis 23, das der Therapeutin zur
Gestaltung und Bildung des metrischen Grundes gedient hat. Mit der Fortsetzung
seines Spiels in Terzen hebt er nicht nur den harmonischen Faktor hervor, sondern
macht gleichzeitig deutlich, daß er sich einem tonalen Zentrum (C-Dur) zugewendet hat.
Mit dieser Entscheidung und der damit verbundenen bewußt gewählten
Artikulationsweise (staccato) entsteht ein tänzerisches Element in seinem Spiel, das an
eine Polka erinnert.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß sich der Anfang dieser melodischen
Improvisation der letzten Sitzung durch die Flüchtigkeit, Unverbindlichkeit und
Offenheit im musikalischen Ausdruck des Patienten charakterisiert. Das musikalische
Spiel vermittelt den Eindruck von etwas ‘Vorübergehendem’. Der kurze Dialog findet
nur auf dieser Ausdrucksebene statt, die teilweise aus den heftig herausgespielten und
‘abgespielt’ wirkenden Tonfiguren besteht. Entsprechend charakterisiert sich die
intermusikalische Beziehung zur Therapeutin. Insgesamt besteht eine schnelle
Aufeinanderfolge des musikalischen Geschehens, wobei die dissonante Färbung des
Klanggeschehens auch durch den Tritonus-Klang bewirkt wird. Die scheinbare
Souveränität im Spiel des Patienten stützt sich auf seine Musikalität und seine
musikalischen Vorerfahrungen. Er ist wahrnehmend, perzipiert und antizipiert
musikalische Ereignisse und gibt den Anschein, daß er bewußt die musikalische Ebene

311
wählt, auf die er sich beziehen möchte. Der Patient trifft musikalische Entscheidungen
und bestimmt im interaktiven Spiel mit der Therapeutin den Fortgang des gemeinsamen
musikalischen Spiels.

In dem folgenden Abschnitt erfolgt die analytische Beschreibung des zweiten Beispiels.

Darstellung: Beispiel 2: Späterer Verlauf und Ende der “Abschiedsmelodie”

Takte 1-15 (s. Abb. 13.4 und 13.5):

Der gesamte Abschnitt der Takte 1-15 kann als eine Art Vorbereitung für die in Takt 16
einsetzende Melodiebildung betrachtet werden. Der Patient sucht nach dem passenden
musikalischen Ausdruck. Die im ersten Beispiel beschriebenen charakteristischen
Tonfiguren und Terzklänge erscheinen hier in ähnlicher Weise gestaltet und variiert.
Dabei legt er sich in tonaler und metrischer Hinsicht nicht fest, sondern hält sein Spiel
offen. Seine Unentschlossenheit drückt sich in klanglicher Hinsicht durch die Glissandi
(T 6, 13), die taktrhythmisch ungenaue Fortführung seines Spiels sowie die dialogisch
geführten und aufwärtsgerichteten, ‘fragenden’ Motive aus. Charakteristische Merkmale
sind neben den erwähnten flüchtigen Glissandi, ‘hingeworfene’ kurze Tonfiguren (T 7,
11-13), schnell beginnende Spielimpulse, die anschließend auslaufen und sich
verlangsamen (T 1, 3, 15), Kontrast von deutlich artikulierten und flüchtig
angeschlagenen Tönen und hervorgehobene, komplexere Tonfiguren, die in sich
konsequent gestaltet sind. Die intermusikalische Beziehung zur Therapeutin zeigt sich
im Melodischen, im Aspekt der Diastematik und ist in den Takten 5-10 nachzuweisen.
Hier führt der Patient die begonnene Aufwärtsbewegung in der Stimme der Therapeutin
fort, ergänzt in Takt fünf harmonisch, den Arpeggioakkord in Takt sieben motivisch
(Vorschlagmotiv) und komplementiert die begonnene Aufwärtsbewegung durch
Terzsequenzen, die er allmählich schrittweise abwärts führen läßt. Die deutlich
hervorgehobene Überleitungsfigur der Therapeutin auf dem G-Dur Septakkord (T 14),
der in seiner Funktion als Dominantseptakkord die zu erwartende Tonart C-Dur
ankündigt, wird von dem Patienten in Takt fünfzehn aufgegriffen. Die Spielweise des
Patienten verrät uns, wie er sich auf das Kommende innerlich einstellt. Mit der
Einbeziehung des Pedals, des Crescendos und Ritardandos weist er deutlich auf eine
neue Ausdrucksweise hin und lenkt alle Aufmerksamkeit auf die kommende neue
melodische Aussage. Bemerkenswert ist hierbei die leichte Verzögerung (nach f1) vor
dem Einsatz seiner neuen melodischen Idee.

312
- -- -
œ œ œ. œ. œ œ œ œ œ 2 œ œ œ 5
1
œœœœœ œ œ
3

Patient &c œ 4 ∑ c 4
F allentando P
2 5
&c Ó ‰ œ. 4 ˙
c
gg ˙˙ 4
˙ g
Therapeutin

?c Ó œ œ œ 2 ˙ ˙ 5
œ 4 c Œ 4
P
œœ œ œ
5
4
œ œ œŒ œ˙ œ œ
P. &4 Ó Œ œ œœ œ cÓ Œ Ó œ
œ ‰J œ

°* ° π √
œœ˙ ˙
5
&4 œ œ œ œ œœ c ˙ w gg œœœ œœ g ˙˙
œ gg ˙ ∑
gg g
Th.
w ˙ œ
ww ˙ œ œ
? 45 cŒ ∑ ∑
p
9 œœ œœ œœ œ œ
...
œœœ œœ œ
P. & Œ Œ ‰J ‰JŒ ‰ Ó ≈ Ó
œ√
∏ °
œ œ œœ œœ œœ œœ œœ ˙ œ œ œ œœ œ
œœ œœ gg ˙˙ Ó
& gg

ggg ˙˙ ˙
Th.

? ∑ ∑ ˙

Abbildung 13.4 : Beispiel 2a

313
œ - - -
lento
œœœ
45
13

P. & Œ ∑ œ œ œ œ œ œ œœœ c œ œ ˙
indecisio gliss. ° * F
∑ œœœœ˙ 5 c ∑
& 4 ˙ œ œ œ

ggg ˙˙˙ ˙˙ ˙˙ œœ ˙˙
Th. cal.
˙
? ∑ g ˙
45
˙ œ ˙ c ‰ œœ œœ ˙
p J

17 ..
P. &œ œ ˙ œ œ œ œ œ œ ˙ œ œ œ œ Œ Œ œœ .
° ° p
&œ œ
‰ œœ œ
œ
œ ˙ œ Œ Œ œ œœ œ
œ œ Ó Œ ‰ œj
œ œ
Th. π ‰œ œj˙˙
?Œ œ ˙ ∑ œ ˙ œœœ Ó ‰ œjœœ œ
œ œ
p p
qk»∞º
- - jj
j- œ œ.
21

& œœ . œœ . œœ . œ Œ œ œ. œ œ. J œ œ œ j
œ œ œ œ
P.

F
˙ ˙ -
& ˙ œ˙
∑ Ó Œ œ
˙ œ

Ó ˙˙ ˙
Th.

?˙ ˙ œ ˙˙ ˙˙˙ Ó œ
˙ œ œ ˙˙ œ
œ ˙ ˙

qk»§º
-
œœœœ 68 œ .
25 3

& œ . œœ œ œ œ ‰. œœ œ œ œ
3
œ
œ œ œ œ œ
R
P.

F P
- √ œ.
&˙ Ó ˙ Ó œœ œ
œ
68 œ .
œ œ

Œ Œ
Th.

?Ó œ ˙ œ œ Œ œ 3
œœ 68 ∑
œ
œ œ œ œ œœ
œ œ ˙

- j -
œ.
29

P. & œ. œ œ œ œ œ œ. œ œ œ œ. œ œ œ

&Œ ‰ œ.
œ. œ. œ œ œ ˙˙˙. ..

. . ‰œ
Th.

? œ œ ∑ œ. œ ‰ œŒ œœ œœ
œ J ˙. ‰

Abbildung 13.5: Beispiel 2b

314
33 - . . . -
& œ. j œ. œ. œ.
œ œ œ. œ œ œ œ.
P.

rit. π
j
&Œ ‰ Œ j œ.
œ
œ. Œ ‰ Œ œ œ.
œ œ
g œœ .. œ
P
œ
Th.

?Œ ‰ œ. œ. œ. œ
œ
J ‰ ∑
˙. œ. Œ ‰
37
j jœ j j œ œ œ œ œ œ
P. &œ œ œ. œ œ œ œ. œ œ

& œ˙ .. œ. Œ ‰ œœ œ œ
œ ..
Œ ‰ ‰
œ. œ. œ
J ˙ œ
? œœ . œ. . ‰ œ‰
Th.

œ œ. Œ ‰ œœ . ˙. œ œ. œ. œ œ
J ΠJ

j
j œj œ
41 attacca
œ
P. & œ. œ œ œ œ œ
œ. œ œ œ œ.
œ
f
∑ œ œ œ œ. œ.
& œ œ œ œ. œ. œ. œ.
œ œ œ
f
œ œ
Th.
? œ
œ
∑ œ œ ∑
œ œ
œ

œ. j - - -
œ. œ
45
œ œ œ œ œ.
P. & J œ œ œ. œ œ œ
F f
œ œ œ œ
& œœ .. œ.
œ. œ
J œ. Œ ‰ ∑
j f j
Th.
œ. œ œ. œ œ œ œ
œ
? œ œ. ∑ Œ œ
œ
J Œ.
œ œ.
J
Abbildung 13.6: Beispiel 2c

315
>
49
- - - > - j
& œ. œ œ œ. œ. œ œ œ
œ. œ œ œ
P.
œ œ œ

& œ .. Œ. œ .. ∑
œ œ .. œ œ œ œ œ.
Œ p. - -œ -œ
œ œ œ œ œ œ œ
Th.
?œ J
œ
J œ
œ
J œ J
œ
J œ J
p

j j j
œ.
53

œ. œ œ.
P. & œ œ œ. œ œ œ œ œ œ

& œ. œ.
Œ. œ. Œ. ∑
œœ ..
œ. .
Th.
? œ œ œœ
œ œ œ. œ œœ . œ.
œ J J œ J J
- - - - > >œ œ
œœ œ
œ. œ œ œ. œœœœœœœœœœœœ œ œ œ.
57

œœ œ œ
P. & J
f
& œ. œ œ œ. œ œ œ œ œ œ œ œ Œ. j ∑
œ. œ œ
Th.
?œ jœ j œ jœ œ œ.
œ œ œ œ
œ. œ. œ. œ. œ œ œ œ œ
œ œ J J
61
œ. œ j - - -
P. & œ. œ. œ œœ‰ ‰ œ œ œ œ. œ œ œ
- -œ -œ -œ . j
& ∑ œœ ..
œ œœ .. œœ . œ œœ . œ œ

œœ œ. . œ.
Th.
? œ œ œ œ œ Œ.
œ J J œ J œ J

- - qk»¢º dolce
j
j
65

& œ. œ j Œ. œ œ œ œ œ.
œ.
P.
œ œ œ œ

>œ . œ.
rit.

œœ .. Œ. Œ.
& œœ .. œ. œ. œ.
Th. œ
p π œœ œœ œœ
? J Œ. ∑ Œ œ
J
œ
J
œ
J
œ
J
œ
π
Abbildung 13.7: Beispiel 2d

316
œ. j > j
69

P. & œ. œ œ œœ œ ‰
œ œ œ
j
œ œ œ œ.
œ œ œ

œ .. œ .. œœ .. œœ .. j
& œ. œ œ. œ œ. œ œ œ œ œ
œ.
œ œ œ œ œ. œ. œœ ..
Œ.
Th.
?œ Œ œ œ œ. œ.
œ J Œ J

- - - - - j
73
j j j œ œ œ œ- œ œ. œ œ œ œ œ
P. &œ œ œ œ œ œ
J
j œœ ...
allarg.

œ. Œ Œ j Œ.
& œ. œ œ œ œ. œ.
œ
œœ œ œ
œ
J
Th.
? œ. œ.
œ j j j j
œ J œ. œ œ œ œ œ œ
◊ œ œ

- -- - -
77
j j jj
P. & œ œ œ. œœ . œ œ œ œ œ œ œ. œ œ œ j
œ œ œ œ.
j œ. Œ.
& œ. œ. œœ œ œœ œ. . œ œ . œœ ..
œ
j j
œ œ œ œ œ.
œ
J
œ.
Th.
? œ œ J ∑ œ
œ
œ œ œ œ œ
œ J œ J J œ J œ J J
82 - - - - j j
P. &œ jœ j œ. œ
œ œ œ œ. œ. œ.
œ œ
P ∏
j j œ.
& Œ. Œ. œ œ
œ
œ
œ œœ œ . œ.
ggg œ ..

œ. Jj J
j œ ∏
Th.
? œ œ
Œ œ œ œ ∑ ∑
œ œ. œ œ
œ J J J

Abbildung 13.8: Beispiel 2e

Takte 16-27(s. Abb. 13.5):

Das Neue erweist sich in der Stimme des Patienten als ein in Sekunden aufwärts
geführtes melodisches Motiv, das sich von den bisher überwiegend abwärts geführten
Tonfolgen abhebt. Diesem Motiv mißt er Bedeutung zu, denn jeder einzelne Ton wird
von ihm artikuliert und im Charakter eines Lento vorgetragen. Als neu erweist sich auch
seine Entscheidung für einen harmonischen Bezug (C-Dur) und seine Anbindung an

317
eine Taktform (4/4). Mit der Wiederholung und Erweiterung des ansteigenden
Sekundmotivs (T 17-18) entschließt er sich für eine umfassendere melodische
Gestaltung, die einen Zusammenhang von insgesamt acht Takten (T 16-23) entstehen
läßt. Aus diesem Formzusammenhang heraus erweitert er variierend seine melodische
Gestalt (T 24-27). Diese steht in enger Beziehung zur Grundharmonie. Dabei
entwickeln sich seine rhythmischen Ideen folgerichtig und in enger Anbindung zur
melodisch-harmonischen Spannung. Seine Vorschlagmotivik (T 20-21) erscheint hier in
der Art von ‘Seufzermotiven’, die in Erwartung der von der Therapeutin eingeführten
Harmonien zurückgehalten werden, um die Auflösung der Vorhalte und Leittöne zur
Wirkung kommen zu lassen. Der interpersonelle Bezug wird dichter und weist im
Musikalischen auf das gemeinsame Teilen der melodischen Linie hin. Dieses kann nur
im mutuellen Aufeinander-Warten erreicht werden. Die Taktübergänge verdeutlichen
diesen Tatbestand am eindrücklichsten, wie zum Beispiel in T 21/22, 23/24, 25/26 und
26/27/28.

Takte 28-50 (s. Abb. 13.5 und 13.6):

Die in der Stimme des Patienten erstmals auftretenden Achteltriolen (T 25, 26), die von
der Therapeutin in der Baßbegleitung gespiegelt werden, führen zu einer neuen
Taktform (6/8). Diese läßt die weiterentwickelte Melodie in einem anderen fließenden,
beweglichen und schwingenden Ausdruck erscheinen. Der neue auftaktige
Phrasenbeginn als aufsteigende Dreiachtelbewegung mit anschließenden,
ausschwingenden punktierten Viertelnoten dient dem Patienten als melodisches
Ausdrucksmittel. Durch seine dynamische Gestaltung und bewußte Artikulation mißt er
ihr Bedeutung bei. In subtiler Weise formt er diese zusammenhängende, achttaktige
melodische Phrase ( T 28-36), die er im weiteren Verlauf auf vierzehn Takte erweitert (T
36-50). Kennzeichnung des äußeren Rahmens ist seine Rückkehr zur Grundtonart (C-
Dur). Als ein charakteristisches Element erweist sich in der Melodiegestaltung des
Patienten die starke Öffnung des Tonraums, die in ihrer Tendenz bereits in den Takten
6-8, 23, 35 zu erkennen war. Besonders deutlich fällt sie in den Takten 43-46 mit der
Tonraumöffnung c1 bis g2 ins Gewicht. Sie korrespondiert mit der Begleitstimme der
Therapeutin, die zuvor in den Takten 41 bis 43 den Tonraum ausgehend vom
Baßregister (G) bis zum Diskant (e2) aufgeschlossen hat und ihn im Baßregister noch
einmal von C bis c1 durchlaufen läßt. Die durch die Therapeutin hervorgerufene scharfe
Dissonanz in Takt sechsundvierzig verunsichert den Patienten in der Beibehaltung
seiner melodischen Führung in keinster Weise. Besonders auffällig sind seine
artikulierten Phrasenenden. Mit Souveränität führt er die melodische Linie in engem
harmonischen Bezug und umfassender Gestaltung weiter.

318
Takte 50-85 (s. Abb. 13.7 und 13.8):

In diesem Abschnitt hören wir eine von dem Patienten deutlich ausgeformte und
entwickelte melodische Steigerung zu einem melodischen Höhepunkt (T 59), der sich
als Höhepunkt der gesamten melodischen Improvisation erweist. Der Patient bedient
sich dabei seines Dreiachteltonmotivs, mit dem er konsequent den Aufbau der
Steigerung verfolgt. Die stufenweise Vorbereitung auf den Höhepunkt selbst erreicht er
durch eine Konzentration auf die Diastematik (Anstieg in der Tonhöhe, Reduzierung auf
ein Wechseltonmotiv) und rhythmische Verkürzung (punktierte Achtel, Sechzehntel), die
kurz vor dem Höhepunkt zu einer Verdichtung und Steigerung in der Bewegung führen.
Artikulation und dynamische Gestaltung erscheinen in Kongruenz zu den beschriebenen
Steigerungsfaktoren.

Diesem kraftvollen und vom Patienten stringent durchgeführten melodischen


Spannungsaufbau (T 50-59) steht eine in Zweitaktgruppen abwärts geführte
Spannungsauflösung gegenüber, die sich durch ihre motivische Auflockerung
charakterisiert (T 60-67). Durch die Art und Weise, wie der Patient die musikalischen
Elemente zu seinem Zweck heranzieht, spezifiziert und kombiniert, wirken hier
Spannungsaufbau und - abbau wie komponiert.

Die Spannungsauflösung charakterisiert sich in der Stimme des Patienten durch die
synkopisch gehaltene, abwärts geführte Melodielinie (T 60), die in ihrem Fortgang (T
62) unschlüssige Züge aufweist. Um dieses abzufangen, übernimmt die Therapeutin von
T 62 bis 66 die melodische Führung, die es wiederum dem Patienten ermöglicht, in die
Begleitstimme überzugehen und sich damit auf eine klare Stimmführung (entsprechend
der Melodielinie) zu konzentrieren. Interessanterweise zeigt er sich auch in der
Übernahme der Funktion einer zweiten Begleitstimme äußerst aktiv und in gewisser
Weise führend, denn er zögert das Phrasenende hinaus, beziehungsweise überläßt es
klanglich der Therapeutin (T 67), um mit einem anderen Ausdruck wieder führend
hervorzutreten. An seinem musikalischen Verhalten ist die Tatsache bemerkenswert, daß
er nicht in den sich anbietenden Schlußton c1 (Tonika) übergeht, sondern das Ende
offen hält, indem er pausiert und damit den letzten Schlußton quasi der Therapeutin
überträgt (mit dem Ton g1 hält sie die Schlußbildung ebenso offen).

Schlußgestaltung

Die neue Ausdrucksfindung des Patienten kann als eine Coda, beziehungsweise als
umfassende Schlußbildung der gesamten melodischen Improvisation betrachtet werden.
Der Patient beginnt diesen Schlußabschnitt in extrem leiser Tongebung (ppp) auf der

319
Quinte g1 , also ebenso offen, wie er den vorangegangenen Abschnitt beendet hat.
Folgende Merkmale bestimmen diesen Schlußteil:

• Die Beibehaltung des wiegenden Melodierhythmus.

• Das Zurückgreifen auf die harmonisch bezogenen, auf - und abwärts führenden
Dreitonmotive mit überleitenden Funktionen.

• Das ruhige Ausspielen von Überleitungsfiguren (T 69/70; 88/89).

• Das insgesamt breitere Ausspielen der Tonfiguren (allargando).

• Das reduzierte Tempo im Charakter eines Largo in Verbindung mit einer


entsprechenden Agogik.

Melodierhythmus und dynamische Gestaltung in Verbindung mit Agogik bilden die


Reminiszenz der vorausgegangenen Anlage, beziehungsweise Architektur der gesamten
melodischen Improvisation. Psychologisch kann der Schlußabschnitt als ein
Ausschwingen der zuvor gemeinsam erlebten, stark hervorgegangenen melodischen
Steigerung angesehen werden. Bedeutsam ist die Tatsache des ‘Zu-Ende-Bringens’
einer gemeinsam erlebten spannungsreichen, melodischen Improvisation, in der eine
dichte interpersonelle Beziehung herrschte, die sich musikalisch im engen Geflecht des
Austauschs von melodischen Motiven sowie einem sich überlagernden harmonischen
Stimmgeflecht ausdrückte.

Nach dieser melodischen Improvisation äußerte sich der Patient zu seinem Spiel. Es
paßte für ihn zur Stimmung des Tages, die vom Abschied geprägt war. “Der Abschied
kommt in der Musik raus”, meinte er und hat damit ausgedrückt, daß er aus der
‘geborgenen und sicheren’ Umgebung, in der er zwar mit sich selbst konfrontiert wurde
und die ihn auch therapeutisch gefordert hat, wieder verstärkt in die Eigenverantwortung
entlassen wird, die ihm mit seinen Schwierigkeiten der Selbstentscheidungsprozesse und
der damit verbundenen Minderung seines Selbstwertgefühls so sehr zu schaffen macht.

Zur Bedeutung der Melodie

Wenn wir die Bedeutung dieser ‘Abschiedsmelodie’ für den Patienten reflektieren, sind
zunächst einmal zwei Tatbestände zu nennen:

1. Offensichtlich spielte seine Hörminderung während der melodischen Improvisation


und auch während der übrigen Musiktherapiesitzungen keine Rolle. Diese Tatsache
wird allein schon an Hand seiner Fähigkeiten der dynamischen Gestaltung sowie seiner
differenzierten Wahrnehmungsmöglichkeiten offenbar. Vielleicht können die stärker

320
herausbrechenden, impulshaften Tonfiguren und das ausgespielte Forte auf eine
Hörminderung hinweisen; für die Therapeutin spiegeln sie jedoch eher seine momentane
Situation und seine persönlichen Eigenschaften wider.

2. Es ist offensichtlich, daß seine musikalischen Vorerfahrungen in die melodische


Improvisation miteinfließen. Sie zeigen sich in seiner Spielfreude und Ausdrucksweise,
die offen und explorativ ist. Der Beginn der melodischen Improvisation (Beispiel 1)
verdeutlicht aber auch seine Begrenzungen, die in der musikalischen Beziehung als Teil
der interpersonellen Beziehung zum Ausdruck kommen. Im Verlauf der Melodie
(Beispiel 2) nimmt diese Einschränkung ab. Der Patient ist in der Lage, im Kontext der
interpersonellen Beziehung, die sich musikalisch im dichten harmonisch-melodischen
Bezug äußert, in freier, gestalterischer Weise zu agieren.

Mit dieser melodischen Improvisation vermittelt sich der Eindruck, daß der Patient die
Gelegenheit ergreift, kreativ zu sein und sich im kreativen Spiel näherzukommen. Dieses
schafft er zweifelsohne auf überzeugende Weise. Die Nuancen seiner
Ausdrucksfähigkeiten erstrecken sich vom zarten, subtilen Ton bis zum ausgespielten
kräftig hervorbrechenden Ton. Sein Bedürfnis nach Ausdruckserweiterung,
beziehungsweise Selbstfindung ist musikalisch in der zunehmend differenzierter
werdenden Expressivität seines Spiels und den sich entwickelnden melodischen Linien
nachweisbar.

Im Hinbick auf die vom Patienten selbst geäußerten Schwierigkeiten der


Entscheidungsfindung (sowohl für sich selbst als auch in Beziehung zu einer anderen
Person) hat diese melodische Improvisation gezeigt, daß der Patient zur Entscheidung
fähig ist. Er scheut sich nicht davor, sondern läßt sich darauf ein und versucht sie
musikalisch umzusetzen. Während diese Entscheidungsprozesse von ihm anfangs
(Beispiel 1) nur sehr vage und oberflächlich geäußert werden, gelangt er allmählich mit
jedem neuen Entscheidungsschritt zu einem neuen Ausdruck und damit näher zu sich
selbst. Somit hat sich die Unbestimmtheit seiner musikalischen Ausdrucksweise, die zu
Anfang der ‘Abschiedsmelodie’ verstärkt hervortrat, im Verlauf seiner Melodie
zunehmend verloren und macht einer bestimmteren, geradlinigeren und eindeutigeren
Ausdrucksweise Platz. Dieser Prozeß der Selbstfindung hat ihn schließlich zu einer
selbstgewählten, expressiven melodischen Steigerung geführt. In Beziehung zur
Therapeutin entscheidet er sich für diese Steigerung, die er sukzessiv aufbaut. Dabei
stützt er sich auf seine eigenen, im interaktiven Zusammenspiel gewonnenen
Erfahrungen und läßt sich in der anschließenden Entspannungsphase von seiner
gefühlsmäßigen Stimmung tragen, die er subtil und zart zum Ausdruck bringt. Dabei
schaut er zuversichtlich auf das gemeinsame Ende des Spiels. Dieses positive Erlebnis
seiner selbst, das sich im Kontext der therapeutischen Beziehung im

321
eigenverantwortlichen, selbständigen musikalischen Handeln äußert, könnte ihm
verhelfen, auch im alltäglichen Leben wieder Vertrauen zu sich selbst aufzubauen, den
eigenen Quellen zu vertrauen und zuversichtlicher in die Zukunft zu blicken. Vielleicht
wird es ihm möglich sein, mutiger an seine Lebenssituation heranzugehen und auf seine
Potentiale zurückzugreifen, wenn es darum geht, zielbewußt, aktiv und verantwortlich zu
handeln.

Wenn wir noch einmal einen Gedanken aus dem Abschnitt ‘Musiktherapie, Kreativität
und Depression’ aufgreifen, der die Möglichkeit einer Umwandlung von Defiziten in
Betracht zieht, so können wir hier feststellen, daß die Initiative des Patienten für
Entscheidungsschritte, in Verbindung mit der in ihm geweckten Fähigkeit der
Entwicklung umfassender melodischer Phrasen, als Anzeichen dafür betrachtet werden
kann, daß er sich gefühlsmäßig und kognitiv mit dem verbinden kann, was er tut. Aus
dieser inneren Übereinstimmung seines Wahrnehmens, Fühlens und Handelns heraus
könnte er wieder das innere Gleichgewicht zurückgewinnen, das er seit längerem so sehr
vermißt hat.

Der Aspekt der Trennung spielt, wie wir gesehen haben, beim depressiven
Krankheitsbild im Hinblick auf eine nicht hinreichend vollzogene Trennung von Selbst
und Objekt eine Rolle (s. Abschnitt ‘Musiktherapie und Depression’). Mit dieser
melodischen Improvisation, die in ihrer Bedeutung als “Abschiedsmelodie” die letzte
Sitzung hervorhebt, werden auch die Aspekte ‘Abgrenzung’ und ‘Trennung’ zu einem
Thema, und zwar innerhalb des emotionalen Wechselspiels zwischen Patient und
Therapeutin und der sich aus dem Wechselspiel herauslösenden, führenden
melodischen Stimme des Patienten. Somit hat die ‘Abschiedsmelodie’ zu einem
geglückten Lösungsprozeß beigetragen, der die Selbständigkeit des Patienten in seiner
konzertanten Abgrenzung gefördert hat.

322
Kapitel 14
Höranalytischer Prozeß

Entsprechend der ersten Studie wurden, um einen ersten Überblick und


Gesamteindruck des Therapieverlaufs gewinnen zu können, auch in dieser zweiten
Studie die vier Musiktherapiesitzungen in ihrem Gesamtverlauf gehört. Von den
Tonbandaufzeichnungen der vier Sitzungen wurde ein Index erstellt (4-Spalten-Index),
auf dessen Struktur bereits im Zusammenhang mit der ersten Studie hingewiesen wurde.

Zur Verdeutlichung der therapeutischen Situation erfolgt hier eine kurze Information zu
den Therapiesitzungen:

In allen vier Sitzungen wurde nur auf einem einzigen Instrument gespielt, auf dem sich
während des weiteren Verlaufs der Therapiesitzungen mehrere Improvisationen ergaben.
Während in der ersten Sitzung der Vorschlag für die Instrumentenwahl von der
Therapeutin ausging, bestimmte in den folgenden Sitzungen der Patient die Instrumente
für seine musikalischen Improvisationen.

Die Musikalität des Patienten und seine musikalischen Vorerfahrungen waren in allen
Sitzungen hörbar. Sie zeigten sich in seiner Spielfreude und Intention, verschiedene
Muster zur Darstellung zu bringen.

Die verschiedenen Improvisationen der einzelnen Therapiesitzungen entstanden in


Abhängigkeit vom Patienten, wenn er seine frei gewählte Spielweise so ausgeschöpft
hatte, daß sich ein natürliches Ende seiner musikalischen Aktionen ergab. Die
“Ausschöpfung” seiner eigenen musikalischen Ideen zeigte nicht nur die dem Patienten
zur Verfügung stehende musikalische Kreativität, sondern auch seine Begrenzungen, die
in der musikalischen Beziehung als Teil der interpersonellen Beziehung deutlich zum
Ausdruck kamen.

Es sei noch einmal daran erinnert, daß nicht die einzelnen Therapiesitzungen im
Mittelpunkt der Betrachtung stehen, sondern die Episoden, die sich aus dem
höranalytischen Kreislauf herausgebildet haben. Aus ihnen setzt sich das Datenmaterial
zusammen, das dieser zweiten Studie zugrunde liegt.

323
D ATENSAMMLUNG : DAS H ERAUSSUCHEN VON E PISODEN

Alle vier Sitzungen wurden im Sinne des Kreislaufs der Naturalistic Inquiry, unter
Benutzung des 4-Spalten-Index mehrmals gehört. Aus diesem ersten Hörkreislauf
entwickelte sich ein zweiter, der signifikante Sitzungen selektierte, die wichtiges
Datenmaterial hinsichtlich musikalisch-melodischer Elemente aufwies. Im Hinblick auf
diesen zweiten Hörkreislauf ergab sich eine Konzentration auf die Sitzungen 1 bis 3. Im
Gegensatz zur ersten Studie, die eine Selektion von zwei Sitzungen vornahm, boten in
dieser zweiten Studie alle drei Therapiesitzungen relevantes Material für die fokussierte
Analyse. In einem erneuten Hörvorgang wurden aus diesen drei Sitzungen Episoden
selektiert, die das Ausgangsmaterial für die Analyse und Interpretation bildeten. Aus der
Sequenz des höranalytischen Kreislaufs haben sich insgesamt 16 Episoden
herausgebildet. Zur übersichtlichen Darstellung erfolgt hier, wie in Studie 1, eine
vereinfachte Abbildung (14.1) dieses ersten höranalytischen Prozesses:

Hören der gesamten Engere Auswahl Selektion von Episoden


Sitzungen. von bestimmten aus den ausgewählten
Erstellen eines Musiktherapie-sitzungen Musiktherapie-sitzungen
“Vier-Spalten-Indexes” Studie 2: Sitzung 1-3 Studie 2: Episoden 1-16
Studie 2: Sitzung 1-3 aus der 1,2, und 3. Sitzung

Abbildung 14.1: Prozeß des höranalytischen Kreislaufs im Sinne der Naturalistic


Inquiry

Tabelle 14.1 bringt eine Übersicht der sich aus diesem Prozeß herausgebildeten 16
Episoden. Mit ihr erhalten wir einen Überblick des gesamten Datenmaterials, das als
Episoden erscheint und den Improvisationen sowie den ausgewählten Sitzungen
zugeordnet ist. Während die Spalte der ‘Improvisation’ die jeweilige Auswahl der
Instrumente aufzeigt wird unter der Spalte der Episoden über den jeweiligen Stellenwert
der einzelnen Episoden innerhalb der Improvisationen informiert.

D IE VALIDIERUNG DER E PISODEN MIT HILFE DER P E R S ö N L I C H E N


K ONSTRUKT -THEORIE

Von der ersten Studie ist uns bekannt, auf welche Weise die Konstrukte und Kategorien
erzeugt werden. Da auf dieses methodische Verfahren nicht mehr eingegangen werden
muß werden als nächstes die beiden Abbildungen (s. Abb. 14.2 und 14. 3) aufgeführt,
die die Erzeugung der Konstrukte sowie die aus ihnen gebildeten Kategorien darstellen.
In der ersten dieser beiden Abbildungen (Abb. 14.2) können wir die Konstrukte
erkennen, die mit Hilfe der Elemente, das heißt den Episoden gebildet wurden.

324
1. SI T Z U N G 1. Improvisation Episoden 1 bis 5
P.: Conga (Hände) (1) Zwei Min. nach Spielbeginn, metrisch-
Th.: Klavier rhythm. Grund
2. Improvisation (2) Anfang: sukzessiver Spielaufbau
P.: Conga (Hände)
Th.: Klavier
(3) weiterer Verlauf: interaktives Spiel
(4) weiterer Verlauf: Ausdruckswechsel
(5) weiterer Verlauf: dichte rhythm. klangl.
Beziehung
2. SI T Z U N G 1. Improvisation Episoden 6 bis 11
P.: Tom Tom (2 Schlegel) (6) Anfang: orientierungslos
Th.: Klavier
(7) weiterer Verlauf: Taktstruktur
2. Improvisation (8) Anfang: Entscheidung, Konsequenz
P.: Tom Tom (2 Schlegel)
Th.: Klavier
3. Improvisation (9) weiterer Verlauf: initiativ, führend
P.: Tom Tom (2 Schlegel)
Th.: Klavier
(10) Ende: kein Mitgehen in der letzten
Konsequenz
5. Improvisation (11) Anfang: Sich-Tragen-Lassen im melodischen
P.: Tom Tom (2 Schlegel) Kontext
Th.: Klavier
3. SI T Z U N G 2. Improvisation Episoden 12 bis 16
P.: Tempelblocks (2 Schlegel) (12) Anfang: innerlich integriert
Th.: Klavier
(13): weiterer Verlauf: neue Elemente
(14) weiterer Verlauf: beständig, stabil
(15) weiterer Verlauf: Wandlung und Ausdruck
4. Improvisation
P.: Tempelblocks (2 Schlegel) (16) kurz nach Spielbeginn: authentisch in
Th.: Klavier Ausdruck und Gestaltung
Tabelle 14.1: Übersicht der Episoden 1-16

Insgesamt haben sich 13 Konstrukte gebildet. Entsprechend der standardisierten Form


der dreiwertigen Erzeugung von Konstrukten (Konstrukt-Triaden-Erzeugung)
kennzeichnen Beispiele wie ‘Metrum bildend - isoliert, ungefestigt, haltlos’ oder
‘Unabhängig - Abhängig’, die entgegengesetzten Pole dieser beiden Konstrukte.

Die Erzeugung der Kategorien aus den Konstrukten

Die Hauptkomponenten - , beziehungsweise Schwerpunktanalyse läßt Muster in


Erscheinung treten, die zu der Bildung von Kategorien führen (Abb.14.3). Mit Hilfe
dieser Analyse wurden von mir fünf Kategorien gebildet, die in Abbildung 14.3
dargestellt sind.

325
1 3 5 4 2 6 8 7 9 10 11 15 16 13 14 12 100 90 80 70 60
Leise, unklar tastend 13 6 10 4 1 2 1 12 15 14 3 9 8 5 7 11 Starke Dynamik im klaren Metrum
Isoliert, ungefestigt, haltlos 4 5 7 6 2 1 8 15 13 15 3 9 9 10 11 12 Metrum bildend
Unklar, unbalanciert, vereinzelt 4 5 11 6 3 1 1 9 10 8 7 12 13 14 14 15 Ruhig, klar, integriert
Beziehung im rhythmisch aktiven Spiel 1 4 11 10 3 6 8 5 2 12 15 15 13 14 9 7 Ausdruck melodischer Muster
Interaktives Spiel im gegenseitigen Austausch musikalischer Elemente 3 1 1 5 4 7 9 6 8 11 10 15 13 14 14 12 Tonhöhengestaltung im flexiblen Ausdruck
Sich äußerlich organisieren 1 3 4 9 10 6 5 1 8 7 15 13 13 12 14 11 Sich innerlich wahrnehmen und beziehen
Bezogen, aber nicht in der letzten Konsequenz 2 9 10 15 11 7 6 3 8 1 4 13 12 14 15 5 Initiativ in Gestaltung und Ausdruckswechsel
Abhängig 1 9 11 10 8 3 6 5 7 1 4 13 13 14 12 15 Unabhängig
Unruhig Boden suchend 11 10 9 8 4 2 3 1 5 7 6 13 15 14 12 15 Beziehung zur Modifizierung und Veränderung musikalischer Elemente
Dynamisch überformt und unkontrolliert 6 8 10 9 8 2 4 3 1 5 11 14 15 13 15 12 Ausgewogen in Artikulation, Tempo und Ausdruck
Die Erzeugung der Konstrukte

Reduzierung auf metrisch dynamische Spielelemente 9 8 10 11 15 1 1 3 4 5 6 13 13 14 12 7 Erweiterung des Ausdrucks durch Einbeziehung der Klangfarbe
Abwartendes, tastendes Sich-Äußern 6 15 15 10 9 2 1 3 8 7 11 12 13 14 4 5 Spielerisches Mitgehen
Musikalische Entschlußkraft 5 6 12 11 10 8 9 7 14 13 15 4 4 1 1 3 Sich tragen lassen vom melodischen Ausdruck
1 3 5 4 2 6 8 7 9 10 11 15 16 13 14 12 100 90 80 70 60

326
Ep12

Abbildung 14.2 Konstrukte der 16 Episoden


Ep14
Ep13
Ep16
Ep15
Ep11
Ep10
Ep9
Ep7
Ep8
Ep6
Ep2
Ep4
Ep5
Ep3
Ep1
Kategorien der Episoden

An Hand der Cluster-Analyse der Grid-Elemente sind weitere Muster erkennbar, die
sich aus den Episoden ergeben (s. Abb. 14.4). In Abbildung 14.4 können wir
Bündelungen von fünf und vier Elementen (Episoden) sowie einzeln herausstehenden
Elementen (Episoden) erkennen. Sie stellen die spezifischen Cluster der Episoden dar,
die sich aus dem Therapieverlauf der ersten , zweiten und dritten Sitzung herausgebildet
haben. Durch diesen Vorgang ist eine Reduktion der Daten erzielt worden, die den
Fokus auf die Zusammenfassung bestimmter Episoden lenkt. Die Formulierung dieser
Kategorien der Episoden erfolgte empirisch aus meiner therapeutischen Erfahrung
heraus.

Die Kategorien der Episoden verdeutlichen den übergeordneten Zeitverlauf der Therapie,
der fünf Perioden aufweist, die für den Aufbau und die Entwicklung von Melodie
wichtig sind. Auch dieses kann aus der Abbildung 14.4 entnommen werden, die den
Therapieverlauf und seine übergeordnete Form von fünf Perioden veranschaulicht.

D IE B EDEUTUNGSINHALTE DER KATEGORIEN

Mit den Kategorien der Konstrukte und der Episoden sind die therapeutischen
Kategorien für die zweite Studie gefunden und formuliert worden. Im folgenden wird
näher auf die Bedeutungsinhalte der Kategorien der Konstrukte eingegangen, um die
Anwendung der Begriffe im Kontext dieser zweiten Studie transparent zu machen.

Orientierung

Das vom Verb abgeleitete Substantiv ‘Orientierung’ ist seit dem 19. Jh. mit der
Bedeutung von “Kenntnis von Weg und Gelände; geistige Einstellung und
Ausrichtung” belegt. Das Verb ‘orientieren’ meint zunächst (2. Hälfte 18. Jh.) “etwas
nach dem Anfang der Sonne, nach den Himmelsrichtungen ausrichten “ (s. Orient =
Osten, Morgenland). Im 19. Jh. ist es aus dem gleichbedeutenden französischen
‘orienter’ entlehnt und wird im Sinne von “die Lage bestimmen, ausrichten, einstellen,
in Kenntnis setzen, sich zurechtfinden, sich einen Überblick verschaffen” benutzt
(Drosdowski, 1989; Pfeifer, 1997).

Im Hinblick auf die zweite Studie wird diese Kategorie im Sinne der Wortbedeutung
verstanden. In seiner therapeutischen Anwendung ist die in ihr enthaltene aktive,
bewegliche Komponente hervorzuheben. Der Patient versucht sich zurechtzufinden, sich
nach etwas (Musik) und auf jemanden (Therapeutin) auszurichten und einzustellen.

327
KONSTRUKTE KATEGORIEN
100 90 80 70 60
2 Starke Dynamik im klaren Metrum

12 Metrum bildend SUCHE

5 Ruhig, klar, integriert

1 Ausdruck melodischer Muster

3 Tonhöhengestaltung ORIENTIERUNG
10 Sich innerlich wahrnehmen

4 Initiativ in Gestaltung
ENTSCHLUßKRAFT
8 Unabhängig

6 Beziehung zur Modifizierung

11 Ausgewogen in Artikulation
TRANSFORMATION
13 Erweiterung des Ausdrucks

9 Spielerisches Mitgehen

7 Sich tragen lassen


SELBSTFINDUNG

ORIENTIERUNG (Konstrukte: > Beziehung im rhythmisch aktiven Spiel/


Ausdruck melodischer Muster; > Interaktives Spiel im
gegenseitigen Austausch musikalischer Elemente/
Tonhöhengestaltung im flexiblen Ausdruck; > Sich
äußerlich organisieren/ Sich innerlich wahrnehmen und
beziehen)
SUCHE (Konstrukte: > Leise, unklar, tastend/ Starke Dynamik im
klaren Metrum; > Isoliert, ungefestigt, haltlos/ Metrum
bildend; > Unklar, unbalanciert, vereinzelt/ ruhig, klar
integriert)
ENTSCHLUSSKRAFT (Konstrukte: > Bezogen, aber nicht in der letzten
Konsequenz/ Initiativ in Gestaltung und
Ausdruckswechsel; > Abhängig/ Unabhängig)
TRANSFORMATION (Konstrukte: > Unruhig Boden suchend/ Beziehung zur
Modifizierung und Veränderung musikalischer Elemente;
> Dynamisch überformt und unkontrolliert/ Ausgewogen
in Artikulation, Tempo und Ausdruck; > Reduzierung auf
metrisch dynamische Spielelemente/ Erweiterung des
Ausdrucks durch Einbeziehung der Klangfarbe; >
Abwartendes, tastendes Sich-Äußern/ Spielerisches
Mitgehen)
SELBSTFINDUNG (Konstrukt: > Musikalische Entschlußkraft/ Sich tragen
lassen vom melodischen Ausdruck)

Abbildung 14.3: Die Erzeugung von Kategorien aus den 13 Konstrukten

328
Zwischen instabilem und stabilem Spiel

Musikalisch gestaltend in einer melodisch


Entwicklung zum interaktiven Spiel

interpersonellen Beziehung

Musikalischer Integrations -
und- Innovationsprozess
getragenen Beziehung
Aufbau der intra-und
I II III IV V

ep1 ep3 ep5 ep4 ep2 ep6 ep8 ep7 ep9 ep10 ep11ep15 ep16 ep13 ep14 ep12

T H E R A P I E V E R L A U F

Abbildung 14.4: Die Darstellung der fünf Perioden des Therapieverlaufs

Dieses kann jedoch nicht ohne die Öffnung der Sinne und ohne ein ‘Gewahrwerden’
von Innen - und Außenwelt geschehen. So kann auch hier die Antizipation auftreten.

Die unter diese Kategorie fallenden Konstrukte sind: > Beziehung im rhythmisch
aktiven Spiel/Ausdruck melodischer Muster > Interaktives Spiel im gegenseitigen
Austausch musikalischer Elemente/Tonhöhengestaltung im flexiblen Ausdruck > Sich
äußerlich organisieren/Sich innerlich wahrnehmen und beziehen.

Suche

Das entsprechende Verb ‘suchen’ hat die Bedeutung von “suchend nachgehen,
nachspüren, intensiv finden wollen, nachforschen, erforschen (Pfeifer, 1997). Es ist
verwandt mit lat. ‘sagire’ in der Bedeutung von “wittern, spüren, ahnen”. Seit der
althochdeutschen Zeit wird ‘suchen’ nicht nur im Sinne von “sich bemühen, etwas
Verstecktes oder Verlorenes zu finden”, sondern auch im Sinne von “(er)streben, nach
etwas trachten” gebraucht.

329
In ähnlicher Weise erschließt sich die Bedeutung dieser Kategorie für diese Studie. Der
Patient ist auf der Suche (nach etwas Neuem oder Verstecktem?) und versucht “etwas”
zu finden, mit dem er spielen kann. In dieser Kategorie ist auch der Ausdruck von
Unsicherheit, Wankelmütigkeit, Unschlüssigkeit und Ziellosigkeit enthalten sowie ein
Abwarten, das signalisiert, daß der Patient innerlich noch nicht bereit ist.

Die unter diese Kategorie fallenden Konstrukte werden noch einmal aufgeführt: < Leise,
unklar tastend > Isoliert, ungefestigt, haltlos > Unklar, unbalanciert, vereinzelt.

Entschlußkraft

Hier treffen wir auf das Verb ‘entschließen’, das im Mittelhochdeutschen mit der
Bedeutung von “aufschließen, öffnen” auftritt. Im Frühneuhochdeutschen gewinnt es
die Bedeutung von “entscheiden, zur Entscheidung gelangen; sich dazu bringen, etwas
Bestimmtes in Angriff zu nehmen” (Drosdowski, 1989; Pfeifer, 1997).

Im Hinblick auf diese Studie meint diese Kategorie, daß der Patient auf seine Tatkraft
zurückgreifen kann, um einen Vorsatz und Entschluß zu fassen. Er hat Zugang zu seiner
Willenskraft. Mit seiner Aktivität und Initiative zeigt er sein Bemühen, zur Entscheidung
zu gelangen, wobei das Ziel der Entscheidung noch nicht klar zu sein scheint und
teilweise von seiner Energie überdeckt ist. Diese Energie bildet auch eine Quelle seines
emotionalen Ausdrucksbedürfnisses, das er noch nicht kontrollieren und in Form
bringen kann.

Die Konstrukte dieser Kategorie sind: > Bezogen, aber nicht in der letzten
Konsequenz/Initiativ in Gestaltung und Ausdruckswechsel > Abhängig/Unabhängig.

Transformation

Das zu diesem Substantiv gehörende Verb hat die Bedeutung von “umwandeln,
umformen, verwandeln, verändern”. Es ist aus dem gleichbedeutenden lateinischen
‘transformare’ entlehnt. Eine entsprechende Bedeutung fällt dem Substantiv zu, als
“Umwandlung, Umformung, Verwandlung, Veränderung”. Wenn wir die Vorsilbe
‘trans..., Trans...’ gesondert betrachten, haben wir die Bedeutung von “hindurch,
hinüber, hinaus” (Drosdowski, 1989; Pfeifer, 1997).

Mit dieser Kategorie wird angedeutet, daß der Patient in der Lage ist, das musikalische
Material zu verwandeln, zu verändern, zu modifizieren, es umzuformen und
umzugestalten. Dieses kann an Hand der musikalischen Parameter und musikalischen
Prinzipien wahrgenommen werden. Die für beide Studien relevanten Prinzipien wurden
bereits auf Seite () im Abschnitt ‘Die Bedeutungsinhalte der Kategorien’ aufgeführt.

330
Der Patient ist nicht nur in der Lage, das musikalische Material zu verändern, indem er
es umformt. Gleichzeitig erweitert er damit seine kreativen, gestalterischen
Möglichkeiten und gibt der Transformation sein persönliches Gepräge. In der Art und
Weise, wie er die Umformung gestaltet, spiegelt sich auch in eigentümlicher Weise seine
innere seelische Verfassung. Die Kategorie verweist somit auch auf die Möglichkeit,
eine Verwandlung in sich selber zu spüren, indem er innerlich durch etwas hindurchgeht
und darauf, daß der Patient es zuläßt, sich transformieren und verwandeln zu lassen.

Die zu dieser Kategorie gehörenden Konstrukte sind: > Unruhig Boden


suchend/Beziehung zur Modifizierung und Veränderung musikalischer Elemente >
Dynamisch überformt und unkontrolliert/Ausgewogen in Artikulation, Tempo und
Ausdruck > Reduzierung auf metrisch dynamische Spielelemente/Erweiterung des
Ausdrucks durch Einbeziehung der Klangfarbe > Abwartendes, tastendes Sich-
Äußern/Spielerisches Mitgehen.

Selbstfindung

In dieser Kategorie steckt das gemeingermanische Pronomen ‘selp’, das etymologisch


nicht sicher erklärt ist. Die gewöhnliche Form des Pronomens ist ‘selbst’ mit der
entsprechenden Substantivierung ‘Selbst’, die die Bedeutung “das seiner selbst
bewußte Ich” vermittelt (Drosdowski, 1989).

In dieser Studie zeigt sich der Bedeutungsinhalt der Kategorie in folgenden Aspekten:
Der Patient ist in der Lage, in sich Vertrauen zu bilden; er kann Selbstvertrauen
aufbauen, Zuversicht entwickeln, den eigenen Gefühlen trauen, sich in der musikalisch-
therapeutischen Situation zunehmend sicherer fühlen und den eigenen Ausdruck finden.
Das bedeutet, daß er sowohl an personeller Integration als auch an innerer
Synchronisation gewonnen hat. Mit seinen ihm zur Verfügung stehenden potentiellen
Möglichkeiten und Fähigkeiten kann er sich zunehmend von ‘festgefahrenen
Spielweisen’ befreien, seinen Ausdruck bestimmen und sich einen Freiraum für seine
eigene Expressivität schaffen. Dieses könnte ihm ermöglichen, sich konkret als Selbst in
der Zeit zu erfahren, das heißt zu hören und zu erleben, wie sein ureigenes Selbst in
dynamischer lebendiger Weise, durch seinen eigenen musikalischen Ausdruck in der
Zeit entsteht.

Eine wichtige Erfahrung in der Selbstfindung ist auch die der Beziehung zu einer
anderen Person. Sich im anderen spiegeln zu können, kann auf einer musikalischen
‘Bewußtseinsebene’ zu Veränderungen führen, die dem Patienten flexiblere
Reaktionsformen und neue Ausdrucksmuster ermöglichen. Interventionen seitens der
Therapeutin könnten die Flexibilität der Reaktionsformen des Patienten im Hinblick auf

331
interaktives, synchron und dialogisch gestaltetes Spiel fördern. Diese aktive
Komponente in der Selbstfindung durch improvisatorisches Spiel weist auf die
Möglichkeit hin, das Selbst als ‘neu’ zu interpretieren, ohne auf eine bestimmte
Sichtweise begrenzt zu sein (Aldridge, 1996b, S. 22).

Das hierzu gehörende Konstrukt lautet: < Musikalische Entschlußkraft/Sich tragen


lassen vom melodischen Ausdruck.

Z USAMMENFASSUNG

Auch in dieser zweiten Studie bilden die durch die Persönliche Konstrukt Theorie
gewonnenen Kategorien der Konstrukte und Episoden (s. Abb. 14.3 und 14.4) den
Fokus meiner Analyse des Datenmaterials. Die Abbildungen der Gridanalyse
verdeutlichen, daß die Episoden nicht isoliert voneinander auftreten, sondern auf
bestimmte Art und Weise miteinander verbunden sind. Das, was sie verbindet, ist durch
den Inhalt der Konstrukte bestimmt. Ein Beispiel für ein ‘Verbindungsmuster’ können
wir in der Viererbündelung der Episoden 2-5 erkennen, das ein Beispiel für die
Kategorie “Entwicklung zum interaktiven Spiel” darstellt. Somit wäre hier zu fragen,
wie die in den Episoden 2-5 entwickelten Interaktionsmuster mit den von mir erzeugten
Kategorien der Konstrukte zusammenhängen, das heißt mit Orientierung, Suche,
Entschlußkraft und Selbstfindung.

Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge führt uns in das folgende Kapitel 15, in dem
die fokussierte Analyse der zweiten Studie durchgeführt wird.

332
Kapitel 15

Analyse und Ergebnisse

In diesem Kapitel geht es um die Analyse der Episoden der zweiten Studie und die
Auswertung ihrer Ergebnisse. Wie in der ersten Studie erfolgt die Gliederung des
deskriptiven Diskurses entlang der Kategorien der Episoden, die, wie wir in Kapitel 14
(s. Abb. 14.4) gesehen haben, ein Verlaufsmuster von fünf Perioden aufweisen.

Auch hier dienen graphische Zeichen wie Richtungspfeile und Klammern dazu, dem
Leser die musikalischen Interaktionen und Bezüge zwischen Patient und Therapeutin
und vice versa deutlicher vor Augen zu führen. Die Legende der graphischen Zeichen
entspricht insgesamt der der ersten Studie und wird in einigen Punkten für die zweite
Studie modifiziert.

Rhythmische Stimme des Patienten auf der Conga; hoher


Klang, Rand des Trommelfells (Episoden 1-5)
Rhythmische Stimme des Patienten auf der Conga; tiefer
Klang, Fellmitte (Episoden 1-5)
Rhythmische Stimme des Patienten auf der TomTom; parallel
geführte Spielweise (Episoden 6- 11)

Rhythmische Stimme des Patientin auf den Tempelblocks;


höhere Töne (Episoden 12-16)
Rhythmische Stimme des Patienten auf den Tempelblocks;
tiefere Töne (Episoden 12-16)
Innermusikalische Bezüge im Spiel der Patientin und
Therapeutin

oder

Musikalische Bezüge zwischen Patientin und Therapeutin: von


einer Seite ausgehend

oder
Musikalische Bezüge zwischen Patientin und Therapeutin: von
beiden Seiten ausgehend
Hervorhebung aussagekräftiger, musikalischer Merkmale

Kennzeichnung bestimmter Töne mit akzenthafter


Hervorhebung oder rhythmischer Besonderheit

oder Kennzeichnung zusammenhängender Teile, wie Motive,


Motivgruppen und melodische Figuren

Legende der graphischen Zeichen:

333
Instabiles Spiel (Ep.1)

EPISODE 1

Die erste Episode ist Bestandteil der ersten Improvisation aus der ersten Sitzung. Der
Patient spielt auf der Conga und wird von der Therapeutin auf dem Klavier begleitet.
Wie zuvor erwähnt, werden beide Improvisationen der ersten Sitzung auf demselben
Instrument durchgeführt.

Kontext: Der ersten Episode ist ein zweiminütiges Spiel auf der Conga (Patient) und
dem Klavier (Therapeutin) vorausgegangen. Mit Beginn dieser Episode zeigt der Patient
zum erstenmal eine Klarheit in seiner musikalischen Aussage, die eine Beziehung zur
Musik hörbar werden läßt.

1 -- > > --
Patient (Conga)
44 ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ‰ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿
P f
. . . .
& 44 ‰ # # œœ ‰ # œœ ‰ œœ ‰ œjœ ‰ # # œjœ ‰ # œjœ ‰ jœ œ œ ‰ # # œjœ ‰ # œjœ ‰ œjœ ‰ œjœ
j j j
œ œ œ œ œ œ œœ
œ œ œ œ œ
P.
œ œ
. . .
Therapeutin (Klavier)

? 44 œ
j ‰ j ‰ j‰ j‰
œ œ
j ‰ j ‰ j‰ Œ
œ
j ‰ j ‰ j‰ j‰
œ
œ #œ #œ #œ #œ œ
sempre stacc.

4 >
P.
¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ‰ ¿¿¿¿¿¿ ¿. ‰ ¿¿¿¿¿¿
p
& ‰ # # œjœ ‰ # œjœ ‰ jœ ‰ # # œjœ œœ œ œœ œ Œ # # œœ œœ œœ œ œœ œ Œ
œ œ œœ œœ
œ œ > >
Th.

? œj #œ . #œ
‰ # œj ‰ j ‰ Œ #œ . j j ‰ Œ #œ œ œ #œ Œ
#œ #œ œ œ œ

334
7
> >
Œ. ‰ Œ ‰ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ‰ ¿ ¿ ¿.
J
P.

p p
>
& œœ .. jœ œjœ ‰ Œ Œ. ≈ j̊ . ‰ Œ. ≈ j̊ . ‰
œ œ
œœ œœœ

Th.

? œ.
j œj j j
œ ‰ Œ Œ. œ Œ. ‰ Œ. œ Œ. ‰
œ. œ œ œ œ

10
> ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
P. ¿ ¿. Œ ¿. ‰ m
p

& Œ. ‰ ‰ Ó ‰ j jŒ j
œœ .. œœ œœ œ œ #œ œ œ œœ œ œœ
m
Th.
j j j
? Œ. Œ Œ Ó œ Œ #œ œ Œ ‰ Œ #œ #œ
œ

In dieser Episode lassen sich die Kategorien Orientierung und Suche nachweisen.

Orientierung

Das von der Therapeutin gleichmäßig durchgezogene Achtel-Metrum in alternierender


Baß/Diskant-Begleitung und Staccato-Artikulation hilft dem Patienten zu einer
deutlicheren Spielweise zu gelangen, die er zur Taktform 4/4 in Beziehung setzt. Die
klangliche Substanz der Begleitakkorde besteht aus dissonierenden Klängen (Sekund
-,Septklänge) des Ganztonraums. In Verbindung mit einer natürlichen
Schwerpunktbildung (auf eins und drei) formen sie sich zu Zweitaktgruppen.

Der Patient gestaltet das letzte Grundschlagviertel als ein rhythmisches Muster, das er
mit einem Crescendo versieht. Auf diese Weise erhält es eine auftaktige Wirkung, die
zum folgenden Taktbeginn hinzielt, der von dem Patienten mit einem Akzent versehen
wird. Auffällig sind die von ihm hervorgehobenen, artikulierten Sechzehntel.

335
Ep. 1, T 1-2

-- >
¿ ¿ ¿¿ ¿
f
.j .
j
œ‰
j
œœœ ‰ œœ ‰ # # œœj
œ œ
.j . j
‰ œ ‰ # œj ‰ œ ‰ #
sempre stacc.

Im weiteren Verlauf zeigt sich sein Bemühen um Orientierung in der dichter werdenden
rhythmischen Bewegung, wobei die erste Zählzeit immer als Grundschlagviertel hörbar
gemacht wird. Auch hier setzt er konsequent seine crescendierende Spielweise fort,
wobei er zur dunkleren Klangfarbe, das heißt zur Mitte des Trommelfells überwechselt.

Ep. 1, T 5-6

≈ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿

œœ œ Œ # # œœ œœ
>
j j ‰ Œ #œ
œ #œ œ

Diese vom Patienten zum erstenmal deutlich geäußerten Spielfiguren stehen im Kontrast
zu den im folgenden dialogischen Abschnitt (T 7 - 10) unklar geäußerten rhythmischen
Mustern.

Suche

Ein Beispiel für die Kategorie Suche bilden die Takte 9 und 10. Der Patient vermittelt
hier den Eindruck, nach einer rhythmischen Form zu suchen, die er aber noch nicht in
einen sinnvollen Zusammenhang bringen kann, so daß seine häufig auftretenden
Akzentsetzungen eine mögliche klare Formung verhindern. Sein Spiel wirkt hier leicht
flüchtig. Interessant ist dabei, daß der Patient den musikalischen Kontakt zur
Therapeutin über das dritte Grundschlagviertel hält, das er zeitlich präzise mit ihr abpaßt.
Klanglich bevorzugt er hier noch die dunklere Fellmitte (s. Notenköpfe unterhalb der
Linie mit nach unten führendem Hals).

336
EP. 1, T 9-10

> >
‰ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. Œ ¿. ‰
p
≈ j̊ œ . ‰ Œ. ‰ ‰
œœ œœ ..
j
œ Œ. ‰ Œ. # œ
Œ Œ
œ œ

Etwas später folgt in den Takten 11 und 12 ein weiteres Beispiel der Kategorie Suche .
Hier verfällt der Patient in ein gleichmäßiges Achtelmetrum, mit dem er quasi das
metrische Spiel der Therapeutin übernimmt und das ihm einen sicheren “Boden”
verschafft . Mit diesem Achtelmetrum wechselt er gleichzeitig zur helleren Klangfarbe
(Trommelrand) über.

EP. 1, T 11-12

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
p
Ó ‰ j œ jŒ j
œœ œœ œ # œ œ œ œœ œ
j j j
Ó œ Œ # œ œ Œ ‰ Œ #œ

Welche Bedeutung hat Episode 1?

Zunächst fällt die Spielfreude des Patienten auf. Mit spieltechnischem Geschick kann er
die unterschiedlichen Klangfarben von dunkel und hell hervorheben. Er ist gern aktiv
und vermittelt eine starke Intention, Rhythmen zur Darstellung zu bringen. Nachdem er
Zugang zur Taktform gefunden hat, die er gemeinsam mit der Therapeutin teilen kann,
versucht er sich im Spiel zu orientieren. Auffällig ist der Kontrast zwischen der klaren
und unklaren Spielweise. In den klar geäußerten Abschnitten zeigt der Patient durch die
Verwendung von Dynamik, Artikulation, Klangfarbe und rhythmischer Muster
musikalische Gestaltungsmöglichkeiten, die jedoch in dem instabil wirkenden Abschnitt
leicht in den Hintergrund treten.

In der klar geäußerten Spielphase zeigt der Patient deutliche Tendenzen, in die Führung
überzugehen. Diese verstärkt er ab Takt 4 mit Hilfe seiner crescendierenden
Sechzehntel-Gruppierungen. Er geht sogar so weit, ein Wechselspiel zu wagen, das er in

337
Takt 7 initiiert. Hier verliert sein Spiel jedoch an Klarheit. Es ließe sich hier spekulieren,
daß die von ihm initiierte Form des Dialogs, die eine Beziehung zwischen Patient und
Therapeutin klanglich besonders deutlich und daher bewußt werden läßt, für ihn zu früh
gewählt ist und er sich deshalb in unklare, flüchtige Spieläußerungen zurückzieht.

Entwicklung zum interaktiven Spiel (Ep. 2, 3, 4, 5)

EPISODE 2:

Kontext: Die zweite Episode zeigt den Beginn der zweiten Improvisation aus der ersten
Sitzung. Der Patient beginnt das Spiel in einem ruhigen Tempo.

- -
(¿ ) ¿¿. ¿ . ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
1
Œ Œ
Patient (Conga)
∏ π ∏

& ∑ ∑ ∑ ∑ ∑

Therapeutin (Klavier)

? ∑ ˙ œ ∑ #w w

P.
6
¿¿ ‰ ¿¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿

& ∑ ∑ ∑ ∑ ∑

Th.

?
w ˙ ˙ #˙
˙ ˙
P
3
- 3
- 3 -
P.
11
¿. ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿¿

& ∑ ˙ œ. ˙ ‰. j̊
œ œ. œ œ œ. œ
Th.

?˙ #œ ˙ Œ #œ
˙ ˙ œ ˙

- 3
- 3 3 - 3

P.
16

¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿

& œ œ ‰. j̊ œ ‰. j̊
œ œ. œ œ œ œ. œ
Th.

? œ˙ Œ Œ
œ

œ œ œ
Œ
œ

œ

338
3 3 3

P.
20
-¿ . ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ -¿ . ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿

& œ œ #œ œ œœ œ. œ
Th.

?Œ #œ ˙ Œ #œ
˙ œ œ
- 3

P.
23

¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ Œ

& #œ œ œ. œ #œ
œœ
Th.

? œ œ #œ œ
œ œ œ œ œ

Auch in dieser Episode finden wir die Kategorien Suche und Orientierung. Sie stehen
hier aber unter dem Bedeutungszusammenhang der ‘Entwicklung zum interaktiven
Spiel’. Damit weisen sie bereits auf einen Prozeß hin, der die Möglichkeit zur
Entfaltung und zum Wachstum in sich birgt.

Suche

Das musikalische Beispiel für diese Kategorie zeigt sich gleich in den ersten drei
Takten. Aus einer vorsichtigen, abwartenden und unklaren Äußerung heraus sucht der
Patient nach einer musikalischen Form. Trotz seines fast unhörbaren Spiels in ppp
beginnt er bereits im ersten Takt zu betonen. Das in diesem Takt hörbare, synkopisch
wirkende Muster erscheint in Takt zwei als Krebs. Im dritten Takt formt sich seine
Suche als synkopisches Muster, das sich hier bereits einer Taktstruktur (2/4) zuordnen
läßt.

Die Therapeutin tritt sehr leise (ppp) mit dem kl. f zum Patienten in klangliche
Beziehung.

339
Ep. 2, T 1-3

-
1
¿ ¿. Œ ¿ . ¿¿ Œ 24 ¿ ¿ ¿ ¿
π
∑ ∑ 24 ∑
&

? ∑ ˙. 24 ∑

In den folgenden Takten bleibt der Patient bei seinem synkopischen Muster mit
Hervorhebung der Viertel-Note. Von Takt sieben bis elf kombiniert er die beiden
rhythmischen Motive aus Takt zwei und drei, die in ihrer konsequent eingehaltenen
Konstellation zweitaktige Einheiten bilden.

Auch die Therapeutin erweitert allmählich in Beziehung zum Patienten ihren Klangraum,
wobei ihre ganzen Notenwerte (ab T 7 halbe Notenwerte) die rhythmischen Figuren des
Patienten klanglich verbinden. Die Oktave H / kl.h mit den Tönen f - gis und d
bestimmen den Klangraum und übernehmen den ruhigen Spielausdruck des Patienten.

Orientierung

Für diese Kategorie lassen sich zwei Beispiele anführen. Das erste betrifft die Takte 11
bis 13, das zweite die Takte 16 bis 18.

Mit Takt 12 beginnt der Patient sich klanglich zu orientieren. Mit dieser Orientierung,
die zur Fellmitte hin und somit zum dunklen Klang gerichtet ist, verdichtet er sein Spiel
mit einem Fingerwirbel als Zweiunddreißigstel-Triole, die auftaktig zum nächst-
folgenden Takt führt. Den Fingerwirbel versieht er mit dynamischem Ausdruck
(crescendo). Dabei wird das synkopische Muster aus Takt 3 aufgegeben. Die metrische
Grundschwingung des 2/4 - Taktes besteht hier aus dem punktierten Motiv von Takt 2,
wobei das zweite Viertel als Triolen-Variante erscheint. Mit Ausnahme von Takt 16 und
17 behält der Patient diese Spielweise bis zum Ende der Episode bei.

Abgesehen von der Oktave H wird von der Therapeutin ab Takt 12 zum erstenmal eine
Zweistimmigkeit impliziert, die den dissonierenden Duodezimenklang als Klangkontext
heranzieht (H / f1). Zum erstenmal wird von ihr auch ein melodisches Sekund-Motiv
eingeführt, das das rhythmische Motiv des Patienten von Takt 11 in ein melodisches

340
umwandelt. Die Tritonus-Spannung und die leise Dynamik tragen zum
charakteristischen Ausdruck dieser Episode bei.

Ep. 2, T 11-13

- 3 3
-
¿. ¿¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿.
11

& ∑ ˙ œ. œ œ. œ ˙

? ˙˙ ˙
Œ
˙
#œ ˙

Das zweite Beispiel zur Kategorie Orientierung bezieht sich stärker auf die Stimme der
Therapeutin, die hier das melodische Motiv dehnt, indem sie es vom kleinen h aufwärts
zum f 1 führt und mit dem auch hier präsenten Tritonus-Klang eine
Erwartungsspannung erzeugt. Die betonte erste Zählzeit des Patienten wird von der
Therapeutin aufgegriffen und als rhythmisches Element in ihre melodische Linie
integriert. Mit dieser melodischen Figur gibt die Therapeutin dem Patienten eine
Orientierung für den Zusammenhang der melodischen Gestalten. Wahrscheinlich hilft
ihm dieses, seine Spielweise im weiteren Verlauf über mehrere Takte beizubehalten.

Ep. 2, T 16-18

- 3
- 3 3

¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿
16

&œ œ ‰. j̊ œ
œ œ. œ œ
? œ˙ Œ Œ #œ
˙ ˙

In dieser Episode werden von beiden, Patient und Therapeutin, viele musikalische
Elemente unbewußt antizipiert. Die Therapeutin antizipiert z. B. mit der Veränderung in
der Stimme des Patienten in Takt 6 (rhythmische Verkürzung, klangliche Verstärkung
der Viertel) eine neue rhythmische Spieleinheit und reagiert darauf mit einer deutlicheren
tonalen Bestimmung: Klangraum H. Ein anderes Beispiel finden wir in Takt 11. Die

341
‘veränderte’ zweimalige Wiederholung des punktierten Motivs faßt die Therapeutin als
Zeichen für etwas Neues auf, das auch tatsächlich in Takt 12 eintritt und reagiert darauf
mit einem melodischen Motiv. Der Patient antizipiert die klanglich hervorgehobenen
Taktschwerpunkte und verläßt sich schließlich darauf. Ebenso ist es möglich, daß er den
Fortgang des melodischen Motivs antizipiert, denn mit Takt 18 zieht es ihn in die gleiche
Spielform zurück.

In der folgenden Abbildung wird anhand des Verlaufs der rhythmischen Muster des
Patienten der Entwicklungsprozeß der beiden Kategorien Suche und Orientierung noch
einmal verdeutlicht.

Takte: 2 3
Rhythmische Motive:
¿ . ¿¿ Œ 24 ¿ ¿ ¿ ¿

7-8 12-13

¿¿ ¿¿ ¿. ¿¿
3
- 3
-
deciso
¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿.

Welche Bedeutung hat Episode zwei?

Episode zwei läßt erkennen, daß der Patient aus den beiden ersten nur vage und
undeutlich dargestellten Mustern sukzessiv seine Musik aufbauen kann. Mit Hilfe
seiner rhythmischen Motive ist er in der Lage, musikalische Zusammenhänge zu bilden
(Zweitakt-Einheiten). Dabei orientiert er sich nicht nur an seiner eigenen rhythmischen
Stimme, sondern auch an der Klangfarbe seines Instruments sowie den taktmäßig
wechselnden Klängen der Therapeutin und an ihren melodischen Motiven. Beide
Kategorien weisen hier schon auf innermusikalische Bezüge hin. Patient und
Therapeutin nähern sich innerhalb eines subtilen Klangraums. In ihrer Index-Spalte
“Persönliche Beobachtungen” hat die Therapeutin hierzu vermerkt: “Ein leises
Erspüren der Beziehung wird möglich”.

Im Vergleich mit Episode eins läßt sich auch hier im Spiel des Patienten eine Tendenz
zur Verdichtung erkennen. Die Therapeutin spürt beim Patienten eine “verdeckte”
Unruhe, die sich in einer rhythmisch dichter werdenden Spielweise äußert. Diese hilft
ihm wahrscheinlich zu der notwendigen Distanz, der er bedarf, um die Beziehung zur
Therapeutin zu erspüren. Im Vordergrund stehen dabei das vorsichtige “rhythmische

342
Antasten” im langsamen Tempo, die Dynamik (ppp), die Klangfarbe und die
Artikulation.

In beiden Episoden zeigen seine rhythmischen Muster eine ähnliche Struktur: auftaktig,
crescendierend und akzenthaft. Damit verbunden ist der vorantreibende, forcierende
Charakter, der ein Element von Unruhe und Unrast erzeugt.

Entwicklung zum interaktiven Spiel (Ep. 2, 3, 4, 5)

EPISODE 3

Kontext: Episode drei ist Bestandteil der zweiten Improvisation der ersten Sitzung und
entwickelt sich im weiteren Spielverlauf nach Episode zwei.

6 Œ. Œ j j > j æ¿
8 ¿ ¿ . ¿¿ ¿ ¿ ¿ ‰ ¿ ¿
p p
Patient (Conga)

j œ œ œ œ. œ.
& 68 Œ . Œ ‰ Œ ‰ œ œ œ œ œ œ. œ.
Therapeutin (Klavier)
œ œ œ J J
? 6 Œ. Œ j j j j j
8 œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ. œ.
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ. œ.
æ æ
4
æ¿ ¿. ¿. æ¿ . æ¿ .
p
P.

>œ . œ . b w ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
& œ. œ . œœ .. œœ .. œœ œœ .. .. b œœ b œœ œœ œœ .. .. # œœ œœ
œ. œ. œ œ..b œ œ œ œ.. œ œ
Th. ƒ
? œ. œ. ∑ ∑ ∑
œ. œ .
f
æ j j
8
æ¿ ¿. 24 æ¿ æ¿ ¿ Œ ¿
> > >j
P.

~~~~~~~~~~~~~~~~~ b w. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ b b œœœ œœœ œœœ


œ .. œ .. 3 . œ œ .. .. œ œ .. .. œ œ .. .. œ œ .. .. œœœ b œœ
œ
& œ. œ
œ. 4 b œœœ .. .. # œœ œœ . . œœ œœ . . œœ 24 b œœ . . # œœ œœ . . œœ œœ ‰
J
Th.

? ∑ 3 ∑ 2 ∑ ∑
4 4

-
12
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿
p . . . . . . . .
P.
leggiero
b œœ b œ n œœ b œ b œœ b œ n œœ b œ b œœ b œ œ œ b œ
∑ œ œ œ œ œ œ
&
Th. p sempre stacc.
? ∑ ∑ ∑ ∑

343
¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿
16
P.

√ √
b œœ œ b œ œ b œœ b œ œ œ b œœ b œ œ œ b œœ b œ œ n œœ œœ
& œ œ œ œ œ œ œ
Th.

? ∑ ∑ ∑ ∑

¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
20
P.
p giocoso > >
bœ bœ nœ √
œœ b œœ b œ œ œ œœ b œœ b œœ œ œœ b œœ
œ œ œ œ œ b œœ œ œ
& œ œ
Th.

? ∑ ∑ ∑ ∑

˚ ˚ ˚
24
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿j Œ ≈ . ¿j̊ j Œ ≈ . ¿j̊ j Œ ≈. ¿

P. ¿ ¿ decresc.
¿
> > √ j >j √j
b œœ œ œœ œ b œ
œ œ n œœ œ b œ
œ œ œ ‰ b œ œœ ‰
bœ bœ bœ œ ‰ œ
& œ œ J J
Th. J
? ∑ ∑ ∑ ∑

˚j̊ ˚j̊
28 j Œ ≈ ¿ j Œ ≈ . ¿ ¿j Œ ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
¿ ¿
p
P.

√ j >j j rit.
. . . . .
. .
j
œ b œœ œ b œœ j
& ‰ b œJ J ‰ ‰ œ J ‰ ‰ b œ n œœ œ
œ
œ
bœ nœ
œ œ œ
J J
Th.
p rit. p
? ∑ ∑ ∑ ∑

344
P.
32
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
. . . . . . . . . . . . . . . .
œ œ
&œ œœ b œ bn œœ œ
œœ bb œœ nn œœ
œ
œœ bb œœ nn œœ
œ
œœ bb œœ nn œœ
Th.

? ∑ ∑
accel.
∑ ∑

P.
36
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ≈ ¿ ¿¿¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿¿
. . . . . . . .
bœ nœ œ œ bœ nœ œ œ b œ œ œ b œ œj ‰ b œ œ œ b œ œj ‰
&
Th. bœ œ nœ bœ nœ œ œ
? ∑ ∑ bœ œ œ bœ œ ‰ bœ œ œ bœ œ ‰
J J

40
P. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿

bœ œ œ bœ œ œ œ nœ bœ œ œ bœ œ œ œ œ
&
Th. ~
? bœ œ œ bœ œ œ œ nœ bœ nœ œ bœ œ œ œ œ

Schwerpunktmäßig kommen in dieser Episode die Kategorien Orientierung und


Entschlußkraft zur Geltung. Die Kategorie Suche erscheint hier nur zu Beginn der
Episode.

Suche

Das musikalische Beispiel für diese Kategorie zeigt sich in den Takten 2-3. Der Patient
sucht nach einer Spielform, die ihn nicht in die dynamische Steigerung der Therapeutin
miteinbezieht. Im Gegensatz zur deutlichen in Oktaven dargestellten Öffnung des
Tonraums der Therapeutin mit gleichbleibendem Metrum und allmählich zunehmender
Dynamik, löst er sein rhythmisches Spiel in leiser Tongebung auf und wendet sich der
‘freieren’ Spielweise des Tremolos zu. Die Suche erscheint hier im Ausdruck der
Zurückhaltung (p). Dabei hilft ihm das Tremolo, in der abwartenden Haltung zu
verweilen, um sich nicht für eine klare Ausdrucksform entscheiden zu müssen.

345
Ep. 3, T 2-3

> j
¿ ‰ ¿ ¿ æ¿
p √
œ œ œ œ. œ.
œ œ œ œ œ. œ.
œ J J
j j
œ œ œ œ œ. œ.
œ œ œ œ œ. œ.

Orientierung

Mehrere musikalische Beispiele weisen auf diese Kategorie hin. Das erste Beispiel ist
der Takt 7. Nachdem der Patient in Takt 6 das Tremolo neu angesetzt und in eine
crescendierende und decrescendierende Wellenbewegung umgeformt hat, orientiert er
sich in Takt 7 an den Klangeffekten des Instruments, indem er allmählich den heller
klingenden Trommelrand miteinbezieht. Durch den klanglichen Kontrast von Fellmitte
und Fellrand entsteht ein räumlich analoger Effekt von fern (Fellrand) und nah
(Fellmitte).

Unterstützt wird die Tremolobewegung des Patienten durch einen Triller auf dem Ton
as 2 (mit der oberen Sekunde b2 ), den die Therapeutin mit scharf punktierten
Dreiklängen (vermindert, Dur) unterlegt und in Sekund-Rückungen nebeneinander setzt.

Ep. 3, T 7

æ¿ . æ¿ .
~~~~~~~~~~~
œœ œœ .. .. # œœ œœ
œ œ.. œœ

Bedingt durch diesen Triller ergibt sich ein flexibles Metrum, das unterschiedliche
Taktlängen hervorruft und ab Takt 10 in einen 2/4 Takt mündet.

Ein weiteres Beispiel für Orientierung finden wir in den Takten 10-13. Der Patient
orientiert sich hier an dem musikalischen Verlauf der Stimme der Therapeutin. Er
antizipiert das Ende des Tremoloabschnitts, das sich bereits in Takt 10 durch den klaren
2/4 Takt angekündigt hat und von der Therapeutin in Takt 11

346
mit der dreimaligen Wiederholung des B-Dur Septakkords deutlich und akzentuiert
hervorgehoben wird. Es fällt auf, daß seine Orientierung hier eine sinnvolle, musikalisch
logische Spielweise hervorbringt. In Takt 10 führt er den helleren Klang (fern) wieder
zurück in die Fellmitte (nah) und beendet in Takt 11 den vorangegangenen Abschnitt mit
einem klaren Achtelabschlag auf der ersten Zählzeit. Diesen paßt er präzise mit der
Therapeutin auf der ersten Zählzeit ab. Daraufhin übernimmt er die metrische Führung
in sehr leichter, fast lockerer Spielweise und leiser Dynamik.

Ep. 3, T 10-13

j -
æ
24 ¿ æ¿ j
¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿. ¿. ¿.
> > >j p leggiero
œœœ ... ... œœ 2 b œœœ ... ... # œœ œœœ ... ... œœ b bb œœœœœ œœœœœ œœœœœ ‰
œœœ~~~~~~~~~~~~~~~~~ ∑
b œœ b œ n œœ b œ
œ œ
œ 4 œ œ J
p
24 ∑ ∑ ∑ ∑

Etwas später (T 19-20) kombiniert der Patient Klang und Rhythmus und geht in eine
fast übermütige spielerische Ausdrucksweise über. Das von ihm zuvor über mehrere
Takte beibehaltene rhytmische Motiv von Achtel und zwei Sechzehnteln variiert er hier
mit stärker punktierten Unterteilungen, was einen ‘galoppartigen’ Effekt erzeugt.

Der spielerische Ausdruck wird von der Therapeutin aufgegriffen, indem sie Zweiklang-
Gruppierungen mit Quart, - Terz, Tritonus und Sextklängen formt, wobei im Verlauf der
obersten Stimme Sekunden und Terzen abwechseln. Dieser leichte, mühelos wirkende
Spielcharakter wird noch durch die Artikulation (sempre staccato), die hohe Tonlage und
leise Dynamik betont. Aus der Wiederholung der Zweiklänge bilden sich
Zweitakteinheiten.

Ep.3, T 19-20

¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿
p giocoso
b œœ b œ œ n œœ œœ œ b œ b œ n œœ œœ
œ œ

∑ ∑

347
Ein letztes Beispiel für Orientierung zeigt sich gegen Ende dieser Episode, nachdem die
Kategorie Entschlußkraft zur Wirkung kam. In den Takten 37 bis 39 orientiert sich der
Patient erneut an der Stimme der Therapeutin, die mit der abwärts führenden
Skalenbewegung ein neues Element ins Spiel bringt. Nach einer unmittelbaren
rhythmischen Reaktion auf diese Intervention übernimmt er die Skalenbewegung der
Therapeutin und setzt sie in gleichmäßigen Sechzehntelabfolgen im synchronen
Spielverlauf fort.

Ep. 3, T 37-39

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ≈ ¿ ¿¿¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿
. . . .
bœ nœ œ œ b œ œ œ b œ œj ‰ bœ œ œ bœ
bœ nœ œ œ
bœ œ œ bœ œ bœ œ œ bœ
∑ J ‰

Entschlußkraft

Das erste Beispiel für Entschlußkraft zeigt sich in den Takten 25-27. Hier ergreift der
Patient Initiative für einen Dialog, indem er Raum läßt und sein Spiel auf ein Vorschlag-
Motiv reduziert, das er im klanglichen Wechsel von hell / dunkel gestaltet, wobei der
Akzent auf den dunklen Klang fällt. In Takt 27 geht die Therapeutin auf die dialogische
Spielform mit kontrastreicher Schwerpunktbildung ein. Die konträre Wirkung zeigt sich
nicht nur in der Akzentbildung, sondern durch die einzeln hervorstechenden, oktavierten
Klänge, auch im klanglichen Bereich.

Ep. 3, T 25-27

˚j̊ ˚j̊ ˚j̊


j ≈ . ¿ ¿j Œ ≈ . ¿ ¿j Œ ≈. ¿
¿ ¿ ¿ Œ decresc.
> √ j >j √j
œ b œœ œ n œœ œ b œœ œ œœ ‰ bœ œœ ‰
œ bœ œ bœ J ‰ œ J
J
∑ ∑ ∑

348
Das zweite Beispiel für Entschlußkraft verdeutlicht das Ende dieses Abschnitts. Auch
dieses geht von dem Patienten aus. Musikalisch kündigt es sich mit dem bereits in Takt
26 einsetzenden Decrescendo an, das er bis Takt 30 fortführt und mit einem Ritardando
verbindet.

Ep. 3, T 30-31

˚j̊
≈ . ¿ ¿j Œ ‰ ¿ ¿
p
rit.
. . . . .
‰ ‰ b œj n œœ œ
œœ œ
J
p

Welche Bedeutung hat Episode 3?

Aus der Intervention einer starken musikalischen Steigerung heraus, die den Anfang
dieser Episode kennzeichnet, ergibt sich ein interaktives Spiel. Von der Therapeutin
abweichend gestaltet der Patient seine eigene dynamische Steigerung, die er ‘ausspielen’
muß. Klang und Dynamik stehen dabei im Vordergrund. Wendepunkt bilden die Takte
10 und 11. Hier antizipiert der Patient, indem er sich am Spiel der Therapeutin orientiert,
die abschließenden Akkorde des vorangegangenen Abschnitts und bestimmt führend
den Fortgang des musikalischen Geschehens. Er entwickelt seine eigenen musikalischen
Formen, wobei er seine dynamische Ausdruckskraft zunehmend bewußter kontrolliert.
Während die intermusikalische Beziehung im dialogischen Teil aus kontrastierenden
und komplementären Elementen besteht, nähert sie sich ab Takt 31 stufenweise einem
einheitlichen Klangbild an, das in den Takten 38 bis 41 in Rhythmus und Klangfarbe
identisch erscheint.

Wir können also feststellen: nachdem der Patient die Rhythmen erst für sich
synchronisiert hat, kann er auf die rhythmische Struktur der Therapeutin eingehen, sich
an ihr orientieren und in die Entwicklung eines synchron verlaufenden, interaktiven
Spiels mit ihr eintreten. Seine spürbar werdende Entschlußkraft setzt das interaktive
Spiel in Gang und bestimmt den leichten spielerischen Klangcharakter dieser Episode.

Ihren persönlichen Eindruck zu dieser Episode hat die Therapeutin im Hinblick auf den
Patienten folgendermaßen notiert: “Wir spielen miteinander, ganz unverbindlich. Ich
kann dem trauen; laß es uns locker angehen”.

349
Entwicklung zum interaktiven Spiel (Ep. 2. 3. 4. 5)

EPISODE 4:

Kontext: Zwischen den Episoden drei und vier liegt ein kräftig gespielter Abschnitt mit
‘galoppähnlichen’ Rhythmen, die in Episode drei (T 19-20) als ein typisches Merkmal
der Spielweise des Patienten hervorgetreten sind. Der Beginn von Episode vier zeigt das
Ende dieses Abschnitts an.

q »¡™º
j̊ j̊ j̊
C ‰. ¿ ¿ ‰. ‰. ¿ ¿
1

Patient (Conga) ¿ ¿ Œ ¿ ¿. ¿¿ Œ ¿
-F - . . . .. . . . - . .j
œ. œ œ. œ œœ œ .
& C b œœ œœœ œœ .. œœœ œœœ ... œœ b œœœ œœœ . œœ œœœ ... œœ b œœœ œœ .
œ.
œœ
œ
œœ
œ
J
œ œ œ œ œ. œ. œ. œ. œ œ œ .. œ
Therapeutin (Klavier)

?C œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
J
ƒ
4

‰. j̊ Ó Œ ‰. j̊ Œ ∑
¿ ¿ ¿ ¿
P.
. . . .
. j̊ j̊
œ ‰. œœ œœ Œ Ó ‰. œœ b œœ ∑
& œœ œ œ œ œ
J J
œ œ œ œ. œ.
Th.

?œ ‰. œ œ Œ Ó ‰. œ œ ∑
J J
h»∞º (variable) -
3
2¿ Ó ¿ ¿ ÓÓ Œ æ¿ ¿ ¿ ¿ Œ Ó Ó
7


P.
F p
U œ
&
Ó 3
2Ó b ˙˙˙ Ó ‰ bœ bœ œ ˙ Ó ‰ bœ bœ œ œ . œ œ Œ
Th.
U ˙
? Ó 3 Ó ˙ Ó ∑ ∑
2
P
11
æ¿ Ó Ó æ¿ æ¿ æ¿ C
π ∏
P.

œ œ œ. œ œ œ
& ∑ ‰ bœ Œ ∑ bœbœ . œ . œ œ œ Ó C
π
b ˙˙˙ ˙˙ ˙˙
Th.

? ∑ ˙ ˙ ∑ ∑ C
p

350
>
æ¿ æ¿j . ≈ Œ æ¿j . ≈
C æ¿ æ¿ ¿æ
15

P.
P
. œœ b -œ œ. œ œ œ œ. œœ
& C bœ bœ œ œ œ œ œ œ.
Th.
w b ˙˙˙ ˙˙
? C b ww

æj æj æj æj j̊ -
ŠΠŠ. 17

Œ ¿ . ¿ . Œ ¿ .≈ Œ ¿ .≈ ‰ ¿ Œ ¿
F p
P.

b -œ œ . œ . j̊ .
.
œ œ œ œ œ œ œ œ . œ .
œ œ œ œœ œ ‰ . œ œj‰ Œ
3

&
Th.
b
˙
˙
˙
˙ b
˙
˙
˙
˙ œ. b œ.
? ˙ ˙ œ Œ œJœ ‰ Œ
q = 40 - - j jj
‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ 45 ‰ ¿ ‰ ¿ ¿ ‰ ‰ ¿ ¿ Œ
20

P. C
rit.

œ œ œ œ 5 œ œ b œ œ œ Uœ œ C
& œ œ bœ œ œ œ œ œ bœ œ œ œ 4
Th.
p
? ∑ ∑ 45 ∑ C

q»ªº
C ¿¿¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿¿¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿¿¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿
23

P.

œ bœ œ œ œ œ œ œ ˙ ˙
&C ˙ ˙ b˙ ˙ ˙
œ œ. . œ. œ.
œ œ. œ œ. œ. œ œ.
œœ
Th.

?C ∑ Œ Œ œ œ œ œ

351
j
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿
28

P. ¿
˙ œ bœ ˙ ˙
& b˙ ˙
œ. œ œ. œ. œ. œ œ œ œ
œ.
Th.

? œ œ œ œ

- -
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿
31

P. ¿
œ bœ œ œ ˙
& w ˙
T
œ œ œ œ œ bœ
œ œ œ
Th.

?œ œ œ
œ

Auch diese Episode beginnt mit der Kategorie Suche. Im weiteren Verlauf setzt sich die
Kategorie Entschlußkraft durch, die an Hand von drei musikalischen Beispielen belegt
werden kann. Die Kategorie Orientierung ist nur mit einem Beispiel vertreten und spielt
daher eine untergeordnete Rolle.

Suche

Das Ende des vorangegangenen Abschnitts zeigt sich in der Stimme des Patienten in
Form einer allmählichen Spielauflösung, bis hin zu vereinzelten Spielelementen, die in
ein singuläres Vorschlagmotiv (vgl. Ep. 3) übergehen. Diese vom Patienten ausgehende
Reduzierung auf ein singuläres Element kennzeichnet den Prozeß der Suche nach einer
neuen, anderen Ausdrucksweise und - form. Der Prozeß mündet in den Takten 6-7 in
einen ‘Stillstand’. Was sich zuvor in einem klaren, kräftigen Spiel in Fortissimo und
schnellem Allegro-Tempo präsentiert hat, wird nun offen und unbestimmt.

352
Ep. 4, T 5-7

Œ ‰ . ¿j̊ ¿ Œ ∑ ∑
. .
j̊ U
Ó ‰ œœ b œœœ
. œ ∑ Ó
J
œœ. œœ. U
Ó ‰. J ∑ Ó

In Takt 8 beginnt der Patient, sich im langsamen Tempo, noch unentschieden und
unverbindlich in der Gestaltung, zu äußern. Die Therapeutin rahmt seinen “ersten” Ton
mit einem verminderten Akkord ein und löst diesen in eine aufwärtsgerichtete Tonfolge
auf, sobald der Patient den Fortgang seines Spiels mit zwei weiteren Tönen signalisiert
hat. Die aufwärts gerichtete Tonfolge der Therapeutin bringt ein fließendes Element ins
musikalische Spiel zurück, auf das der Patient reagiert. Hier äußert sich seine Suche
wieder in dem charakteristischen, crescendierenden Tremolo, das er in drei klare Töne
übergehen läßt. Das Metrum ist variabel und offen.

Ep. 4, T 8-9

h»∞º (variable)
æ -
23 ¿ Ó ¿ ¿ ÓÓ Œ ¿ ¿ ¿ ¿
F p
23 Ó b ˙˙˙ Ó ‰bœ bœ œ ˙ Ó ‰bœ b
˙
32 Ó ˙ Ó ∑
P
Orientierung

Das musikalische Beispiel für die Kategorie Orientierung wird von zwei Beispielen der
Kategorie Entschlußkraft eingerahmt. Mit Takt 20 entsteht also eine neue Konstellation.
Der Patient orientiert sich an der Stimme der Therapeutin. Diese erscheint in Form einer
einstimmigen melodischen Phrase, die sich mit dem Patienten in enger Ton-für-Ton-
Beziehung entfaltet. Im Nachspielen der einzelnen Melodietöne mit teilweise kräftigen
Akzenten verzögert und beschleunigt der Patient sein Spiel in der Weise, daß keine

353
flüssige melodische Bewegung entstehen kann. Aufgrunddessen erscheinen auch
Metrum und Taktform variabel, wohingegen die übergeordnete, antizipierbare
melodische Form (Halbphrase) das Spiel von beiden stützt. In Takt 22 wird die
ansteigende Melodielinie infolge der ritardierenden Spielweise des Patienten noch
stärker gedehnt. Über die Fermate (f2) erreicht sie ihren Höhepunkt auf dem Ton g2.

Ep. 4, T 20-22

q = 40 - - j j j
¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ ‰ ¿ 5
4 rit. ‰ ¿ ¿ ‰ ‰ ¿ ¿ Œ
‰ ¿
20

œ œ œ œ 5 œ œ b œ œ œ Uœ œ
& œ œbœ œ œ œ œ œbœ œ œ œ 4
p
? ∑ ∑ 45 ∑

Entschlußkraft

Das vorangegangene Beispiel der Kategorie Orientierung verdeutlicht auch, daß der
Patient die melodische Kontur antizipiert. Dieses ermöglicht ihm, sich in dem folgenden
Takt 23 neu zu entscheiden und die von der Therapeutin begonnene melodische Phrase
zum Halbschluß weiterzuführen. Mit dem abwärts führenden melodischen Lauf
entscheidet sich der Patient für ein eindeutiges Tempo in einer klar definierten Taktform.
Er bezieht sich konkret auf die Melodielinie, die er in einer flüssigen Viertel-Achtel -
Bewegung dicht begleitet.

Ep. 4, T 23-24

q»ªº
C ¿¿¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿¿¿ ¿¿
23

œ bœ œ œ œ œ œ œ
&C ˙
œœ œ.
?C ∑ œ Œ Œ

Das folgende Beispiel für die Kategorie Entschlußkraft schließt sich unmittelbar an den
Takt 24 an. Es verdeutlicht das konstant gespielte Begleitmotiv des Patienten, das er in

354
Beziehung zu den melodischen Motiven und der viertaktigen Phrase unterschiedlich
gestaltet.

Ep. 4, T 25-28

¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿¿¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿

˙ b˙ ˙ b˙
˙ ˙ ˙ ˙
. œ. œ.
œ œ. œ œ. œ. œ œ. œ. œ œ.
œ œ œ œ œ

Im Zusammenhang mit der Kategorie Entschlußkraft kann auch beobachtet werden, auf
welche Weise der Patient seine rhythmischen Begleitmotive in Beziehung zur
ansteigenden Melodielinie variiert. Sichtbar wird dieses in Takt 30, in dem er den
Höhepunkt des melodischen Verlaufs (g2) analog mit einer rhythmischen Verlängerung
(Punktierung der Viertelnote) hervorhebt.

Ep. 4, T 29-30

j
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿

˙ œ bœ ˙ ˙

œ. œ. œ œ œ œ
œ œ. œ œ

Das letzte Beispiel für Entschlußkraft bezieht sich auf den Anfang der Episode. Im
Zusammenhang mit der Kategorie Orientierung wurde bereits auf dieses Beispiel
hingewiesen, das kurz vor ihm erscheint. Die Takte 18-19 verdeutlichen, daß sich der
Patient von seiner flüchtigen Ausdrucksweise (Tremoloeffekte) lösen kann, zum
deutlicheren Vorschlagmotiv überwechselt und mit einem leisen Viertelschlag dem
vorausgegangenen komplementären Spiel einen Abschluß verleiht. Diese
Schlußwendung hat sich bereits in der abwärtsführenden Tonfigur (T 18) der
Therapeutin angekündigt, die wahrscheinlich den Anstoß für sein Vorschlag-Motiv gab.

355
Ep. 4, T 18-19

-
æj ≈ ‰ . ¿j̊ Œ ¿
¿ . ¿
. F
j̊ . p
.
œ œœ œ ‰ . œ œj‰ Œ
œ. b œ.
œ Œ œJœ ‰ Œ

Welche Bedeutung hat Episode 4 ?

In dieser Episode ist die Ambivalenz des Patienten zwischen flüchtigen, unverbindlichen,
sich auf die Oberflächenstruktur des musikalischen Materials konzentrierenden Phasen
und klaren, deutlich artikulierten Phasen mit rhythmisch-melodischer Aussage noch
stärker ausgeprägt. Diese Phasen spiegeln die Beziehung des Patienten zur Therapeutin
und vice versa. Klare Spielstrukturen, die von der Therapeutin dominiert werden (sie
definiert die Beziehung durch die Klarheit und Stringenz der musikalischen Aussage),
rufen beim Patienten durch seine Spielreduzierung einen Wechsel in der Beziehung
hervor, die sich variabel, locker, offen und unverbindlich ausdrückt. Die Therapeutin
erlebt in ihr ein Element von Distanz und betrachtet die Reaktion des Patienten auch als
Rückzug aus dem gemeinsam vollzogenen, aktiven, ausdrucksstarken Spiel. Die
Ausdrucksweise des Patienten ist hier flüchtig und wirkt wie “hingeworfen”.
Keineswegs ist diese negativ zu werten; sie verdeutlicht nur den Prozeß der sich im
Aufbau befindenden therapeutischen Beziehung.

Eine Entwicklung in der therapeutischen Beziehung verdeutlicht der Prozeß von der
variablen zur verbindlicheren Aussage, die in einem “Schritt” vom Patienten vollzogen
wird (T 22-23). Hierin zeigt sich auch die Bedeutung dieser Episode im Hinblick auf die
melodische Entwicklung. Mit dieser Episode wissen wir, daß der Patient melodische
Tonfolgen wahrnimmt, ihre Tendenzen in der Tonhöhenrichtung antizipiert, sich zu ihr
in Beziehung setzt und mit ihr gestaltet. Die Tatsache, daß sich der Patient im
Zusammenspiel mit der Therapeutin über die Melodie klar ausdrücken kann und die
Beziehung aufrechterhält, zeigt ihr, daß Melodie für ihn eine Bedeutung hat. Durch die
Beziehung zur Melodie ist er in der Lage, Formmomente gestalterisch hervorzuheben,
indem er auf Halbphrasen und Phrasen reagiert und diese mit der dunklen Fellmitte
klanglich hervorhebt (T 29-32).

In diesen Phasen zeigt sich auch die Wandelbarkeit und der prozeßhafte Charakter der
beiden Kategorien Orientierung und Entschlußkraft.

356
Die persönliche Bemerkung der Therapeutin (die sie auch hier in Beziehung zu dem
Patienten und sich selbst in die Form eines persönlichen Dialogs gebracht hat) lautet zu
dieser Episode: “Wir nähern uns im melodischen Spiel und teilen uns den melodischen
Fluß”.

Entwicklung zum interaktiven Spiel (Ep. 2, 3, 4, 5)

EPISODE 5:

Kontext: Episode fünf ist die Fortsetzung von Episode vier und bildet das Ende der
zweiten Improvisation der ersten Sitzung.

q»100 Moderato
- - - j-
C ¿ . ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿¿¿ Œ ¿ ‰¿ ¿ ¿
1

Patient (Conga)
F . . .
b œ. .œ œ œ
œœ Œ n œ Œ œœ
&b b C ˙ ˙ ˙ nœ œ Œ n œœ Œ œ œ œ
Therapeutin (Klavier) T œœœœœ œ œœœœœ œ œ. œ. œ. œ
? b C˙ ˙ ˙ ˙ Œ Œ Œ Œ
b b
F
.j - .j - .
¿ ‰ ¿j‰ ¿jŒ ¿ Œ j
5

P. Œ ≈¿ . ¿ Œ Œ ≈¿ . ¿ Œ Œ ≈¿ .
P œ ˙ œ
b ˙ ˙
˙.
˙
˙.
&b b
Th.
œ œ œ œ œ
œ œ œ
œ œ
œ œ œ
œ œ
œ œ œ
? b œœ œ œ œ
b b
P
9
- j
P. ¿ Œ ‰ ¿ ¿ ¿
∏ U̇
b ˙ ˙
&b b ˙

œ œ œ œ œ U̇
œ œ
Th. rit.

? b œ œ œ
bb

Episode fünf gehört als letztes Beispiel zu der Viererbündelung der Grid-Analyse mit
der Bedeutung ‘Entwicklung zum interaktiven Spiel’. Innerhalb dieses
Bedeutungszusammenhangs kommen mit der Episode fünf zwei neue Kategorien hinzu:
Transformation und Selbstfindung. Beide Kategorien sind miteinander verbunden und
bedingen einander.

357
Transformation und Selbstfindung

Der Patient führt in dieser Episode seine, bereits in Episode vier etablierte, eigenständige
rhythmische Begleitung der Melodie im hellen Trommelklang fort. Sie wird teilweise
durch die Einbeziehung von Achtelpunktierungen variiert (T 1).

Ein musikalisches Beispiel für Transformation und Selbstfindung finden wir in den
Takten 2-4. Der Patient unterbricht sein rhythmisches Begleitmotiv, indem er in Takt 2
auf der letzten Zählzeit eine Pause einfügt. Diese kann eventuell als Reaktion auf die in
der Stimme der Therapeutin erscheinenden, kurz artikulierten Terzen betrachtet werden.
Die Therapeutin übernimmt die Viertelpause, integriert sie in die beiden folgenden Takte
und lockert somit die Melodielinie auf. Auf diese Weise erscheinen die mit Akkorden
versehenen Melodietöne es2 und d2 auf der zweiten und vierten Zählzeit, was eine
rhythmisch-synkopisierende Wirkung erzeugt.

Der Patient erfaßt sofort die durch die Pausen aufgelockerte Gestaltung der Melodielinie
und ergänzt komplementär auf den Taktzeiten eins und drei. Während er in Takt 3 noch
auf sein rhythmisches Begleitmotiv zurückgreift, konzentriert er sich in den folgenden
Takten ganz auf das interaktive Spiel mit der Therapeutin und transformiert seine
Spielweise, so daß ein interaktives Spiel möglich wird. Beide, Patient und Therapeutin,
tragen mit ihrer spezifischen Artikulationsweise zum lebendigen Charakter dieses
Abschnitts bei.

Ep. 5, T 2-4

ato
- - - j-
¿ ¿¿¿ Œ ¿ ¿¿¿ Œ ¿ ‰¿ ¿ ¿
. . .
. .œ
˙ n œœ œ Œ n œœœ Œ œœœ Œ n œœœ Œ œœœ
œœœœœ œ œ. œ. œ. œ
˙ ˙ Œ Œ Œ Œ

Das zweite Beispiel für diese Kategorien zeigt sich in den Takten 5-6, in denen die
melodische Schlußbildung mit dem Quintmotiv g2 - c2 und seiner Umkehrung g2 - c3
das Ende der Improvisation ankündigt. Zur melodischen Oberstimme erklingt eine
aufsteigende fließende Begleitfigur im Baß. Klanglich hervorgehoben ist hier der Ton
g2, der in Takt 6 rhythmisch vergrößert wird.

358
In diesem Beispiel bezieht sich der Patient nicht nur auf das melodische Motiv
(dargestellt durch die Quint), sondern auch auf den Ton g2. Die fallende Quint gestaltet
er durch einen Ausdruckswechsel vom hellen zum dunkleren Klang; den Ton g2 hebt er
ähnlich hervor wie in Episode vier. In entsprechend zeitlicher Ausdehnung gibt er ihm
Raum und führt lediglich über ein leicht artikuliertes Achtel den musikalischen Fluß
weiter.

Ep. 5, T 5-6

.j -
¿ ‰ ¿j‰ ¿jŒ ¿ Œ
5
Œ ≈¿ . ¿
P œ ˙
˙ ˙.
bbb ˙
œ œ œ œ
b œ œ œ œ œ œ œ
b b œ œ
P
Transformation zeigt sich auch innerhalb des musikalisch-melodischen Materials der
Therapeutin. Schon mit dem Auftreten der Melodie in Episode vier (T 20 ff) etabliert
sich zum ersten Mal eine Tonart (c-moll harmonisch), die bis zum Ende der
Improvisation beibehalten wird. Diese bestimmt, zusammen mit der melodisch-
motivischen Substanz, die Bildung der zweitaktigen, vier - und achttaktigen Phrasen.
Die folgenden Ausschnitte zeigen die Modifizierungen und Umformungen innerhalb
der melodischen Motive:

Ep. 4, T 20-21 Ep. 4, T 25-26


Rhythmische Vergrösserung

œ œ œ œbœ œ œ œ œ œ œ œbœ œ œ œ ˙ b˙
˙ ˙
p
Melodische Verkürzung
. .
Ep.5, T 1-2 ˙ ˙ ˙ n œœ œœ

Die Takte 25-26 bilden eine rhythmische Vergrößerung des melodischen Motivs aus
den Takten 20-21 und heben dadurch das melodische Intervall der Quint noch stärker in
den Vordergrund. Die Takte 1-2 der Episode fünf stellen eine melodische Verkürzung

359
des melodischen Motivs dar (T 20-21), das in ähnlicher rhythmischer Vergrößerung
erscheint wie in den Takten 25-26.

Selbstfindung

Das musikalische Beispiel für die Kategorie Selbstfindung entwickelt sich aus den
vorangegangenen Beispielen. Hier bedeutet Selbstfindung die Annäherung an das
bewußtere “Ich”. Hörbar wird dieses durch die bewußte Beziehung und Konzentration
des Patienten auf einen Melodieton, dem er durch zeitliche Ausdehnung in Verbindung
mit der dunkleren Klangfarbe (längeres Nachschwingen) Raum gibt. Auf diese Weise
gibt er sich selber Raum für die Wahrnehmung der eigenen, inneren Resonanz und die
Möglichkeit differenzierter Ausdrucksfindung.

Ep. 5, T 9-10

-
‰ ¿j ¿
9

¿ Œ ¿
∏ U̇
b bb ˙ ˙ ˙
&
œ œ œ œ U̇
? b œ œ œ
rit.
œ
b b œ œ

Welche Bedeutung hat Episode 5?

Diese Episode zeigt, daß der Patient mit der Möglichkeit zur Umformung seiner
musikalischen Stimme nicht nur seine kreativen, gestalterischen Spielmodalitäten
erweitert, sondern auch zu seinem persönlichen Ausdruck finden kann. Gleichzeitig
intensiviert sich durch die melodisch-klangliche Komponente die musikalische
Beziehung. Im Kontext der melodischen Quinte, die diese Improvisation zum Schluß
führt, indem sie ähnlich einer bestätigenden Aussage beide Stimmen verbindet und das
gemeinsame Spiel allmählich ausklingen läßt, behält der Patient seine Spielweise
kontinuierlich bis zum Schluß. In dieser ruhigen Schlußgestaltung findet er zu sich
selbst in einer sehr subtilen, zarten Ausdrucksweise, die im ppp verklingt.

360
Aufbau der intra - und intermusikalischen Beziehung (Ep. 6, 7, 8, 9, 10)

EPISODE 6:

Kontext: Episode sechs stellt den Anfang der ersten Improvisation der zweiten Sitzung
dar. Die zweite Sitzung wird von der Tom Tom bestimmt, mit der zwei unterschiedliche
Tonhöhen zur Verfügung stehen. Der Patient spielt mit zwei Schlegeln und wird von der
Therapeutin auf dem Klavier begleitet.

- - j j- j
(senza misura)

44 …¿ Œ Ó 34 … ¿ Ó 58 ¿ ¿ ¿ 68 ¿ ¿ ¿ ¿
1

Patient (Tom Tom)


f P π f P
j j
& 44 Ó # œœœ œœœ 34 Œ œ # œœ 58 ∑ 68 œ œ # œœ œœ
œ œ J
Therapeutin (Klavier)
π π
?4 ∑ 34 ∑ 58 ∑ 68 ∑
4

j j
Œ. ¿ ¿ ¿ ‰ ¿ ‰ Œ ‰ ¿j ‰ ¿ ¿ . ¿ ¿
5

¿ ∑
f
P.
∏ F P -
j j j j
& œœ œœ œœ # œœj œœ . œ œ # œœ œœ œœ œœ # œœ .. œ œ œ # œœ .
œ. œ
J J œ.
Th.

? ∑ ∑ ∑ ∑

-
Œ ‰ ‰ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰ ¿ Œ.
9

¿
P.
- π
j œ œ. j
& œœ . œ œœ .. # œœ . œ œ œ œ. œ.
œ. œ.
Th. F
? ∑ ∑ ∑

Diese Episode wird von der Kategorie Suche bestimmt. Sie läßt sich an Hand
verschiedener musikalischer Merkmale nachweisen. Als Beispiel dienen zunächst die
ersten vier Takte dieser Episode.

361
Ep. 6, T 1-4

- - j-
58 ¿ ¿j ¿ j
(senza misura)

44 …¿ Œ Ó 34 … ¿ Ó 68 ¿ ¿ ¿ ¿
1

f P π f P
44 Ó œ 34 Œ œ # œœ 58 j
68 œ œ # œœ j
# œœœ œœ ∑ œœ
œ œ J
π π
44 ∑ 34 ∑ 58 ∑ 68 ∑

Der Patient beginnt mit einem in forte gespielten Vorschlagmotiv, das uns aus den
vorangegangenen Episoden bekannt ist. Er wiederholt es in abgestufter, leiserer
Dynamik. Die Therapeutin greift es in rhythmischer Vergrößerung und dissonanter
Klangfärbung (Tritonus, Septimspannung) auf und versucht es in eine 4/4 Taktstruktur
einzubinden (T1-2). Dabei hält sie den tonalen Raum offen. Im dritten Takt wendet er
sich von diesem Motiv ab und sucht in sehr leiser Tongebung (pp) nach einem
metrischen Grund, indem er das Versfmaß schwer/leicht andeutet. Bevor es sich jedoch
als solches etablieren kann, unterbricht er es mit starker Dynamik und Akzentbildung. In
Takt 4 übernimmt die Therapeutin das vom Patienten begonnene Versmaß als metrische
Grundlage (6/8) ihrer viertaktigen Phrase.

In den folgenden Takten setzt sich die unbestimmte, ziellose Spielweise des Patienten
fort.

Ep 6, T 5-8

j j
Œ. ¿ ¿ ¿ ‰ ¿ ‰ Œ ¿ ∑ ‰ ¿j ‰ ¿ ¿ . ¿ ¿
∏ F P - f
j j j j
œœ œœ œœ # œœj œœ . œ œ # œœ œœ œœ œœ # œœ .. œœ œ œ # œœ . œ
J J œ ..
∑ ∑ ∑ ∑

An Hand des Ausschnitts der Takte 5-8 läßt sich in der Stimme des Patienten erkennen,
daß er vereinzelte rhythmische Muster aneinanderreiht, die teilweise keinen
musikalischen Sinn ergeben und sich nicht aufeinander beziehen. Seine dynamische
Gestaltung wirkt ungeregelt und durch die unmittelbar aufeinanderfolgenden

362
kontrastreichen Ausdrucksstärken: ppp - mf, oder pp - f unwillkürlich
aneinandergereiht.

Die Therapeutin setzt die in Takt 4 im flüssigen Tempo begonnene Phrase in sehr leiser
Tongebung (pp) fort, indem sie die Melodielinie in sehr enger Linienführung (kl.
Sekunde, kl. Terz) von c2 nach gis1 führt. In Takt 8 modifiziert sie den Beginn der
Melodielinie durch motivische Umkehrung. Die Melodiebildung geht aus dem Klang
der kl. Septime hervor und läßt sich nicht harmonisch funktional binden. Durch die
Dominanz der Tritonusklänge (gis1 - c2 ; f1 - h1) entsteht eine irisierende Wirkung mit
teilweise starker Tonspannung, die nicht aufgelöst wird.

Welche Bedeutung hat Episode 6?

Diese Episode bildet einen Kontrast zu den vorangegangenen Episoden. Der Patient hat
hier Schwierigkeiten, sich zu finden, wahrzunehmen und zu definieren. Sein Spiel ist in
der Vereinzelung gefangen und findet keinen Zugang zum musikalischen,
kontinuierlichen Fluß. In dieser Episode wird der Kontrast zwischen der ungebundenen,
nicht aufeinander bezogenen Spielweise des Patienten und der geformten
Ausdrucksweise der Therapeutin besonders deutlich. Es läßt sich sogar feststellen, daß
die wiederholende Spielweise der Therapeutin, die den Klangcharakter klar definiert und
ihn mittels der Taktbetonung auf der ersten Zählzeit noch hervorhebt, eine konträre
Reaktion des Patienten hervorruft (T 8 und 10). Je deutlicher sich die eine Stimme
verhält (Therapeutin) desto undeutlicher entwickelt sich die andere (Patient). Somit
entsteht hier der Eindruck, daß beide Stimmen “beziehungslos” nebeneinander oder
auch gegeneinander herlaufen.

Aufbau der intra - und intermusikalischen Beziehung (Ep. 6, 7, 8, 9, 10)

EPISODE 7:

Kontext: Zwischen Episode 6 und dem Beginn von Episode 7 erstreckt sich ein
zweiminütiges Spiel der Suche, das von den Merkmalen der Episode sechs bestimmt
wird. Kurz vor dem Beginn der Episode sieben führt die Therapeutin eine kurze,
musikalische Steigerung im gleichmäßigen 6/8 Metrum ein, die sie mit einer unmittelbar
anschließenden Pause abschließt. Dadurch setzt sie innerhalb des musikalischen
Verlaufs eine deutliche Zäsur. Der Anfang der siebten Episode stellt den Spielbeginn
des Patienten nach dieser Zäsur dar.

363
qk»¶º - - -
1
6¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
Patient (Tom Tom) 8
π œ œ. œ œ.
6 # œœ œœ .. # œœœ œœœ ... # œœ œœ ..
&8 ∑ ‰ ‰ ‰
Therapeutin (Klavier) π
? 68 ∑ ∑ ∑ ∑

- - -
¿¿¿¿¿¿ ¿ ¿¿¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
5

P.

œ œ. #œ œ . œ œ.
œœ œœ .. # œœ œœ .. # œœ œœ .. #nœœ œœ .. # œœœ œœœ ...
& ‰ œ œ. ‰ ‰ ‰ ‰
Th.

? ∑ ∑ ∑ ∑ ∑
- > >
¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
10

P.
Ç Ç- -
# # œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ # # œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ # œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ
& ‰
Th. stretto

? ∑ ∑ ∑

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
13

- -
P.

# # œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ # # œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ # # œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ
&
Th.

? ∑ ∑ ∑

Schwerpunktmäßig wird diese Episode von der Kategorie Orientierung gebildet. Die
Kategorie Entschlußkraft ist mit einem Beispiel vertreten.

Orientierung

Der Patient beginnt nach der Zäsur erneut mit dem Spiel, indem er sehr leise (pp) das
zuvor erklungene 6/8 Metrum aufgreift.

364
Ep. 7, T 1-3

qk»¶º
- -
68 ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
π œœ œœ ..
68 # œ œ . # œœœ œœœ ...
∑ ‰ ‰
π
68 ∑ ∑ ∑

Er orientiert sich also an dem Vorausgegangenen und übernimmt im mittleren


Tempobereich das 6/8 Metrum als Ausgangspunkt für sein musikalisches Spiel. Bereits
in Takt 2 fügt er Betonungen auf der ersten Zählzeit hinzu und hebt damit die
Taktstruktur hervor.

Die Therapeutin begleitet ihn in hoher Lage mit Tritonusakkorden, die sie, auf dem
zweiten Achtel beginnend, deutlich zum Taktschwerpunkt des Patienten versetzt,
erklingen läßt. Der sukzessive Verlauf der obersten Akkordtöne hebt das melodische
Intervall der kleinen Terz hervor.

Das zweite Beispiel für die Kategorie Orientieung zeigt sich in den Takten 8 und 9.

Ep. 7, T 8-9

- -
¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
#nœœœ œœœ ... # œœœ œœœ ...
‰ ‰

∑ ∑

Bei Beibehaltung des 6/8 Metrums verstärkt der Patient die Taktbetonung (1.Achtel),
indem er mit parallel geführter Spielweise die zweite, dunklere Trommel hinzuzieht
(“zweite Stimme”). Die Begleitstimme der Therapeutin ist unverändert.

Das letzte Beispiel für Orientierung finden wir in den Takten 12 und 13, nach dem
Auftreten des Beispiels für die Kategorie Entschlußkraft. In beiden Takten bildet das 6/8

365
Metrum noch die Basis des Spielverlaufs des Patienten. Bedingt durch den
vorangegangenen Wechsel in der Stimme der Therapeutin, die nun nicht mehr
begleitend, sondern durch den Übergang in das pochende Achtelmetrum verstärkend
und intensivierend hervortritt, sucht der Patient nach anderen Möglichkeiten. Diese
zeigen sich als Sechzehnteleinschiebungen auf dem zweiten (T 12) und letzten Achtel (T
13).

Ep. 7, T 12 Ep. 7, T 13
>
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
13

-
œ
# œœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ # # œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ
&

∑ ? ∑

Entschlußkraft

Das Beispiel für Entschlußkraft finden wir in den Takten 10 und 11. Es entwickelt sich
aus dem vorangegangenen Beispiel der Kategorie Orientierung (T 8-9) und erscheint in
den Takten 10 und 11 als Vorsatz und Entschluß für eine besondere dynamische
Gestaltung: sfp, die in Takt 11 mit einem Akzent noch stärker hervorgehoben wird.
Somit läßt der Patient Kontraste verstärkt in den Vordergrund treten. Diese
Entschlußkraft im Spiel des Patienten veranlaßt die Therapeutin, ihr Spiel auf ihn
auszurichten, indem sie in das pochende Achtelmetrum übergeht und die
Taktbetonungen übernimmt. Dabei verändert sie den Verlauf der Spitzentöne ihrer
Tritonus/Terz-Klänge, die jetzt in chromatischer Führung erscheinen. Das durchgehende
Spiel im hohen Klangregister, die leichte Tempo - und Tonstärkezunahme (stretto und
crescendo) tragen dazu bei, daß das Spiel an klanglicher Intensität zunimmt.

366
Ep. 7, T 10-11

- >
¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
10

Ç Ç-
# # œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ # # œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ
& ‰
stretto

? ∑ ∑

Welche Bedeutung hat Episode 7?

Diese Episode wird schwerpunktmäßig von der Kategorie Orientierung bestimmt. Im


Vergleich mit der Episode 6 sucht der Patient nicht mehr nach einer möglichen
Spielform sondern orientiert sich unmittelbar zu Beginn seines Spiels am zuvor erlebten
regelmäßigen Achtelmetrum, das er hier in eine Taktform übertragen kann. Diese wird
insbesondere durch seine gewählte parallele Spielweise auf dem jeweiligen ersten Achtel
bestätigt. Der Patient ist in der Lage, mit seiner gleichbleibenden Spielweise, die sich
über elf Takte ausdehnt, den Kontakt zum Metrum relativ lange aufrechtzuerhalten. Es
hat den Anschein, daß er es zu ‘seinem’ Metrum macht. Vielleicht ist ihm dieses
deshalb möglich, weil sich zu Beginn der Episode die Therapeutin kontrastierend von
ihm abhebt. Damit hat sie eine Umkehrsituation zur vorangegangenen Episode
geschaffen: hier ist es die Therapeutin, die die Klarheit des Taktmetrums aufhebt,
während der Patient diese kontinuierlich durchträgt und hörbar werden läßt.

Eine Unsicherheit taucht im Spiel des Patienten auf, als die Therapeutin ihr Spiel dem
Patienten angleicht und dadurch ein fast identisches Klangbild erzeugt. Als Folge davon
können die von ihm hervorgerufenen ‘Sechzehntel-Einschiebungen’ betrachtet werden,
die nicht nur den Spielfluß sondern auch die sich allmählich abzeichnende Steigerung
unterbrechen. Es kann gut möglich sein, daß durch diese Intensität des Ausdrucks und
die fast identische musikalischen Struktur der Patient die Nähe zur Therapeutin zu dicht
erlebt und er sich neu orientieren muß, um eine psychische Distanz zu schaffen.

Insgesamt zeichnet sich die Bedeutung dieser Episode unter dem Blickwinkel von
‘Aufbau der intra - und intermusikalischen Beziehung’ in der Tatsache ab, daß sich der
Patient in seiner Orientierung am Metrum innerhalb des gleichen kräftigen
Klangausdrucks erleben kann. Es besteht die Möglichkeit, daß er nicht nur seine innere
Unruhe, Unrast und Anspannung erlebt, sondern auch seine eigenen kreativen
Ressourcen.

367
Aufbau der intra - und intermusikalischen Beziehung (Ep. 6, 7, 8, 9, 10)

EPISODE 8:

Kontext: Episode 8 stellt den Beginn der zweiten Improvisation aus der zweiten Sitzung
dar.

C ¿ Œ æ¿ æ¿ æ¿ æ¿ ¿ Œ
1

p
Patient (TomTom)
F
##
& C ∑ ˙ ˙
Therapeutin (Klavier)
˙˙ ˙˙ # ˙˙ ˙˙ ˙ ˙
? ## C ∑ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙
˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙
q»¡ºº
-
j j j -j j -j j -j j -j j -j j
Ó Œ ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
5

Í Í Í
P.
p
# j j
& # ˙˙ ˙˙ ∑ ˙˙ œœ .. œ ˙ œ. œ
Th.
j
? # # ˙˙ ˙˙ ∑ ˙
˙ ˙
˙
˙
˙ œ
˙ . œ

-j j j -j j j -j j j j -j jj j
¿¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿¿ ¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿ ¿¿
9

JÍ pJ Œ ‰
P.

## j j j
& ˙ œ. œ ˙ œ . œ œ ˙ œœ .. ‰
˙ ˙ ˙ ˙ ˙ œ. ˙ T
Th.

? ## ˙ ˙ ˙˙ ˙˙ ˙ ˙ ˙˙ ˙˙
˙ ˙ ˙ ˙

In dieser Episode spielen die Kategorien Suche, Orientierung und Entschlußkraft eine
Rolle. Sie bilden sich im Verlauf dieser Episode und gehen teilweise auseinander hervor.

Suche

Die Kategorie Suche bildet den Anfang dieser Episode. Nach einem leisen Viertelschlag
auf der höheren Trommel geht der Patient in ein Tremolo über, das im Verlauf der Takte
3 und 4 decrescendiert. Somit stellt sich diese Kategorie in einem noch
unentschlossenen und unklaren Spielbeginn dar. In Takt 4 schließt der Patient, in
Umkehrung zu Takt 1, das schwächer werdende Tremolo mit einem Viertelschlag ab, so
daß nicht nur die erste Spielphase mit ihrer unklaren Aussage ein Begrenzung erfährt,

368
sondern mit dem Viertelschlag auch eine Zäsur gesetzt wird, die gleichzeitig den
Übergang zur Kategorie Orientierung bildet.

Die Therapeutin unterlegt das Tremolo des Patienten mit harmonischen Akkord-
sequenzen (h-moll, cis-verm., h-moll) und einer Taktstruktur (alla breve).

Ep. 8. T 1-4

¿ Œ æ¿ æ¿ æ¿ æ¿ ¿ Œ
p F
∑ ˙˙ ˙˙
# ˙˙
˙˙ ˙˙ ˙˙

∑ ˙˙ ˙˙ ˙˙ ˙˙ ˙˙ ˙˙

Orientierung

Die Hinwendung des Patienten zur Kategorie Orientierung wird in Takt 5 deutlich. Hier
pausiert er, um sich auf eine neue Spielform einzustellen, die er auftaktig mit dem
folgenden Takt 6 ergreift. Er bildet in Bezug zum alla breve Takt einen metrischen
Boden, den er im Sinne der Taktschwerpunkte akzentuiert, jedoch synkopisch unterteilt.
Gleichzeitig hat er zu einem klaren, flüssigen Andante-Tempo gefunden.

In Takt 7 stellt sich die Therapeutin auf das neue Versmaß ein und beginnt, die
Oberstimme der Akkordsequenzen in Anlehnung an die Stimme des Patienten
rhythmisch stärker herauszulösen.

Ep. 8, T 5-7

q»¡ºº
j -j j -j j -j j -j j
Ó Œ ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
p Í Í
. j
˙˙ ˙˙ ∑ ˙
˙ œ
œ. œ

˙˙ ˙˙ ∑ ˙˙ ˙˙

369
Entschlußkraft

Diese Kategorie schließt sich unmittelbar an die der Orientierung an oder anders
ausgedrückt, seine Orientierung hilft ihm, einen Entschluß zu fassen, das Spiel nun mit
beiden Händen zu ergreifen und es klanglich und dynamisch zu artikulieren
(Einbeziehung der tiefen Trommel auf der ersten Zählzeit). Gleichzeitig variiert er seinen
rhythmischen Verlauf, indem er die Punktierung der Therapeutin aufgreift. Ab Takt 11
geht er in eine zweistimmige Stimmführung über; der dunkle Trommelklang dient ihm
nun als Gegen -, beziehungsweise Begleitstimme zu seiner gleichmäßig durchgeführten
rhythmischen oberen Stimme.

Die bereits in Takt sieben eingesetzte Melodiestimme der Therapeutin, die sich aus den
harmonischen Sequenzen herausgebildet hat, unterstützt die rhythmische Stimme des
Patienten, indem sie kontinuierlich von h1(T 7) zum kl. h (T 11) abwärts geführt wird.
Der harmonische Wechsel zwischen h-moll und cis-verm. wird dabei vorwiegend
beibehalten.

Ep. 8. T 9-11

-j j j -j j j -j j j j
¿¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿¿ ¿ ¿¿
JÍ JÍ pJ Œ ‰
j j j
˙˙ œ˙ . œ ˙˙ œ˙ . œ ˙ œ
œ.
˙˙ ˙˙ ˙˙ ˙˙ ˙˙ ˙˙

Welche Bedeutung hat Episode 8?

In dieser Episode zeichnet sich eine rasche Entwicklung ab, die die Kategorien Suche,
Orientierung und Enschlußkraft durchläuft. Nach dem unentschlossenen, unklar
gestalteten Beginn orientiert sich der Patient an seiner eigenen Stimme (die Therapeutin
bietet lediglich den Taktrahmen an), nimmt diese als metrischen Boden und entscheidet
sich für diesen indem er ihn durch klangliche, dynamische und synkopische Effekte
lebendig gestaltet. Von Bedeutung ist hier, daß er sich von seinem Spiel nicht abwendet,
sondern konsequent dabeibleibt. Dieses hilft ihm, seine intramusikalische Beziehung zu
intensivieren.

Trotz der Klarheit und Bestimmtheit seiner musikalischen Aussage ist die Art und
Weise seiner Darstellung und Ausdrucksweise von Zurückhaltung bestimmt (p). Die

370
Therapeutin hat den Eindruck, daß ihn etwas davon abhält, sich deutlich und klar zum
Ausdruck zu bringen. Ihre persönliche Bemerkung, die sie zu dieser Episode notierte
lautet: “Tastendes Erlebnis des Wiederholens, des ‘Am-Ball-Bleibens’”.

Aufbau der intra - und intermusikalischen Beziehung (Ep. 6, 7, 8, 9, 10)

EPISODE 9:

Kontext: Episode 9 ist im Verlauf der dritten Improvisation der zweiten Sitzung
entstanden. Die dritte Improvisation wird vom Patienten zunächst forsch, in kräftiger
Tongebung und klarer rhythmischer Ausdrucksweise begonnen. Der deutliche
Ausdruck verliert sich jedoch sehr bald durch die Einschiebung von Vorschlagmotiven,
Wirbeln und häufig wechselneden, unklaren Akzentbildungen. Mit Beginn der Episode
9 hat der Patient wieder Kontakt zu seinem Spiel gefunden.

q»¡¡º j̊ j
4 ¿ ¿ Œ ‰. ¿ ¿ ‰ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ Œ Ó ¿ ¿ ¿ Œ Œ ¿Œ
1

Patient (Tom Tom) 4π ¿



œ œ √œ. . œ œ œ. . œ œ ˙
b 4 œ œœ œ œ œ œœ ˙˙ œ œ ˙
& b b 4 œ œ œ œ˙ œ ˙˙˙ ˙ ˙ œ œ ˙
P œ
Therapeutin (Klavier)
œ
? b 4 œœ Œ ∑ ∑ ∑ ∑
b b 4
-
¿ ¿ Œ Œ ¿ ¿ Œ
6

Œ ¿ ¿ Œ Œ ¿ ¿ Œ Œ ¿ ¿ Œ Œ
p
P.
F
œ œ œ œ ˙ œ œ . . ˙ . .
b ˙ œ œ ˙ ˙ œœ œœ ˙ œ œœ ˙˙
& b b œœ œœ ˙
˙ œ œ ˙ œ œ ˙
œ œ ˙ œ œ ˙ œ
œ œ ˙
Th.

? b ∑ ∑ ∑ ∑ ∑
b b
¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
11

¿ ¿ ¿ Œ
F
P.

. . - .
˙ . . .
b œœ œœ ˙ …œ œœ œ œ
&b b œ œ ˙ œ ˙˙ œœ Œ œœ Œ
œ œ ˙ p
Th.

? b ∑ ∑ ∑
bb

371
> > - > - -
¿ ¿¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿¿¿ ¿¿ ¿ ¿¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ …¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
14

¿ ¿¿
ß
P.
ß . .
. . . . . . . .
œ œœœ
b
&b b œœ Œ œ œ œ
œ Œ œœ Œ œœ Œ œœ Œ œœ Œ … œœœ Œ … œœœ Œ œœœ Œ œ Œ
œ œ œ œ œ œ T
Th. F
? b ∑ ∑ ∑ ∑ ∑
b b

In dieser Episode finden wir Beispiele für die Kategorien Orientierung, Transformation
und Entschlußkraft.

Orientierung

Im ersten Beispiel (T 1-4), das die Kategorie Orientierung darstellt, ist die Musik in
klare zweitaktige Phrasen gegliedert, in denen die Tonhöhenstruktur hervorgehoben ist.
Der in einer gleichmäßigen Vierelbewegung vollzogene Anstieg wird von den
melodischen Intervallen Quart und Quint gebildet während die abfallende Bewegung
den c-moll Dreiklang hervorhebt, der auch den tonalen Schwerpunkt dieser
Improvisation bildet. Der Richtungswechsel in der Tonhöhe wird durch den Kontrast
von legato und staccato noch deutlicher hervorgehoben.

Dieses Beispiel verdeutlicht, daß sich der Patient in seiner rhythmischen Spielweise am
durchgehenden Puls der geraden Tartform (4/4 Takt) und an der Tonhöhenstruktur
orientiert. Bereits das ‘Mitgehen’ des Patienten auf den ersten beiden Vierteln in Takt 1
verdeutlicht die starke Wirkung der aufsteigenden c-moll Figur. Während der ersten
zweitaktigen Phrase setzt er sein charakteristisches Vorschlagmotiv zum höchsten Ton
(g3) des melodischen Anstiegs. Bei der Wiederholung des melodischen Anstiegs in
Takt 3 gibt er sich Raum (pausieren), um die in staccato erklingende abfallende
Bewegung mitzugestalten.

Ep. 9, T 1-4

q»¡¡º
j̊ j
¿ ¿ Œ ‰. ¿ ¿ ‰ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ Œ Ó ¿ ¿ ¿ Œ
π √
√. . . .
œ œ œœ œ
œ œ œ
œ œ œ œ˙ œ ˙˙˙ œœ œ œ œ œ ˙˙
˙ ˙
P œ
œ
œ Œ ∑ ∑ ∑
œ

372
Auch das sich unmittelbar anschließende zweite Beispiel (T 5-6) läßt erkennen, daß sich
der Patient entsprechend der zweitaktigen Phrasen organisiert. Seine rhythmische Form
trägt eigene Züge, die durch die Pausen auf dem ersten und vierten Taktschlag einen
lebendigen Ausdruck annimmt. Der von ihm gewählte dunklere Trommelklang erscheint
analog zur abwärts geführten Motivik.

Es ist anzunehmen, daß die sich ab Takt 5 abzeichnende variierte Spielweise der
Therapeutin als Reaktion auf den deutlichen, gestalteten Bezug des Patienten in Takt 4
anzusehen ist, denn sie konzentriert sich ab Takt 5 auf die kurz artikulierte, abfallende
Motivik (T 4), die sie über die folgenden Takte im harmonischen Wechsel von f-moll7
und c-moll7 in Form von Sequenzierungen und Umkehrungen variiert.

Ep. 9, T 5-6

Œ ¿ ¿ Œ Œ ¿ ¿ Œ
œ œ ˙ œ œ ˙
œ œ ˙ œ œ ˙
œ œ ˙ œ œ ˙

∑ ∑

Transformation

In Takt 9 modifiziert der Patient seinen klanglichen Ausdruck in dichter Beziehung zur
Tonhöhenrichtung, die er antizipiert und auf die höhere Trommel überträgt. Dabei setzt
er seine Betonung simultan zum höchsten Ton (c3).

Ep. 9, T 9

-
Œ ¿ ¿ Œ
. . ˙
œœ œœ ˙
œ œ ˙

373
Auch in dem nächsten Beispile gestaltet der Patient entsprechend der Tonhöhenrichtung
und greift dabei noch einmal auf sein rhythmisches Motiv von Takt 4 zurück.

Ep. 9, T 11-12
s. T4

¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ Œ
. . - . F
˙ .
œœ œœ ˙ …œ œœ
œ œ ˙ œ ˙˙
œ œ ˙

∑ ∑

Entschlußkraft

Die Kategorie Entschlußkraft (T 13-14) tritt hier in Form der stärkeren dynamischen
(mf, sfz) und rhythmischen Gestaltung hervor. In Verbindung mit der dynamischen
Gestaltung entschließt sich der Patient für einen neuen rhythmischen Ausdruck, den er
über die folgenden Takte beibehält. Seine in den folgenden Takten (T 14-15) stark
hervortretende Akezentzunahme zeigt nicht nur seine Vorliebe für Kontraste und
Klangeffekte, sondern auch seine Schwierigkeiten, die eigenen Spielimpulse zu
kontrollieren.

Mit der neuen rhythmisch-dynamischen Gestaltung des Patienten variiert die


Therapeutin ihre Spielmuster, indem sie Pausen einfügt und dynamisch mehr in den
Hintergrund tritt. Während Artikulation und harmonischer Wechsel gleich bleiben wird
die Tonhöhenstruktur durch kleinere Abstände angeglichen.

Ep. 9, T 13-14

> >
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿¿ ¿¿ ¿ ¿
F ß ß
. . . . .
œœ Œ œœ Œ œœ Œ œœ Œ œœ Œ
œ œ œ œ œ
p F
∑ ∑

374
Das letzte Beispiel für diese Kategorie stellt sich in der Übernahme eines Vorschlags
dar, der in der Stimme der Therapeutin bereits in Takt 12 als neues Ausdruckselement
in Erscheinung getreten ist. Mit diesem unmittelbaren Aufgreifen und Einbeziehen neuer
Ausdruckselemente zeigt der Patient seinen Bezug zum interaktiven Spiel.

Ep. 9, T 17

¿ ¿ ¿ …¿ ¿ ¿
. .
… œœœ Œ … œœœ Œ

Welche Bedeutung hat Episode 9?

Diese Episode verdeutlicht die Zunahme der intra - und intermusikalischen Beziehung
im Spiel des Patienten. Seine Fähigkeit zur Perzeption und Antizipation hilft ihm, sein
Spiel im Sinne der interaktiven Gestaltung auszurichten. Einen deutlichen Hinweis
bieten uns die Takte 3 und 4. Das Pausieren in der Stimme des Patienten verdeutlicht,
daß er sich auf das musikalische Material konzentriert und sich innerlich auf ein
gemeinsames, interaktives Spiel einstellt. Seine anschließend parallel zum
abwärtsgeführten c-moll Dreiklang ausgeführten drei Viertelschläge lassen eine bewußt
gewählte Spielweise erkennen, die die zweitaktige Anlage dieser Musik hervorhebt. Die
von ihm entwickelten rhythmischen Formen :

¿ ¿ ¿Œ Œ Œ ¿ ¿ Œ

bilden die Basis seiner Interaktionsmuster, die er im gemeinsamen Spiel mit Wachheit
und Konzentraktion ausführt.

Von Bedeutung ist auch der Takt 13, denn hier zeigt sich die Entschlußkraft des
Patienten, das musikalische Spiel im weiteren Verlauf rhythmisch und dynamisch zu
führen. Während er in der Lage ist, seine rhythmische Spielweise beizubehalten und zu
kontrollieren, entgleitet ihm die dynamische Gestaltung, die unausgewogene und
mitunter ‘überschießende’ Züge trägt. Hier ist besonders die Therapeutin gefordert, die
Energie der klinischen Improvisation zu reduzieren, um den Zusammenhalt des Spiels

375
zu gewähren und zu verhindern, daß sich die Spielweise des Patienten desorganisiert, ihn
durcheinanderbringt und womöglich verwirrt.

In dieser und auch in einigen der vorangegangenen Episoden zeichnet sich eine
besondere Schwierigkeit des Patienten ab, was seinen Umgang mit Emotionen betrifft.
In der geschilderten Qualität seines musikalischen Engangements reflektiert sich auch
sein klinisches Spiel. Dieses zeigt sich insbesondere in seiner häufig durchdringenden
lauten Dynamik mit überschießenden Tendenzen in der Akzentbildung. Es scheint
darauf hinzudeuten, daß diese Spielweise, die der Patient noch nicht kontrollieren kann,
unter der Bedeutung der natürlichen emotionalen Entlastung oder Katharsis zu sehen ist.
Seine Entschlußkraft wird hier von seiner Energie gespeist, die die emotionalen
Ausdrucksbedürfnisse ungeformt und “roh” nach außen trägt.

Aufbau der intra - und intermusikalischen Beziehung (Ep, 6, 7, 8, 9, 10)


EPISODE 10:

Kontext: Episode 10 stellt das Ende der dritten Improvisation aus der zweiten Sitzung
dar. Vorangegangen ist ein Spielabschnitt, in der eine lebendige Achtelbewegung
dominiert. Die Therapeutin greift in ihrer Schlußgestaltung auf diese gleichmäßige
Achtelbewegung zurück und bringt sie zum Abschluß.

4 Ó j
4 Œ ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
Fj
Patient (Tom Tom)

j j j
j œœ ‰ œ
b 4
&b b 4 Ó Œ ‰ œœ ‰ œœœ ‰ œ ‰
œ œ œ
f
Therapeutin (Klavier)
œ # œœ œœ
? b b 44 Ó Œ œ œ
b

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿
2

P.

œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
b b ‰ nn œœ ‰ œ ‰ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
& b J J J
# œœ œœ œœ # œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ œœ
Th.

? bb œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
b

4
¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ Ó æ¿ æ¿
P.

rit. œ œ œ œ
bb œ n ˙˙˙ œœœ
& b œ œ œ ˙ œ
rit.
ƒ
œ œœœ œœœ œœœ
? b # œœ
Th.

˙ œ
b b ˙ œ ˙.

376
Episode 10 gehört als letztes Beispiel zu der Gruppe von Episoden mit der Bedeutung
von ‘Aufbau der intra - und intermusikalischen Beziehung’. Sie wird allein von der
Kategorie Entschlußkraft bestimmt. Anhand von zwei Beispielen wird diese näher
erläutert.

Entschlußkraft

Bedingt durch die alternierende Spielbewegung des Patienten und seine Einbeziehung
beider Trommeln ergibt sich ein entsprechender Klangeffekt von tief - hoch. Die
Therapeutin unterstützt diese Spielbewegung mit nachschlagenden Begleitfiguren. Mit
der allmählich ansteigenden Oberstimme (f2 bis d3 ), dem Wechsel zu parallel
angeschlagenen Akkorden und der modulatorischen Auflösung und Verschärfung des
tonalen Rahmens durch die Einbeziehung scharfer Dissonanzen (Baß: cis/d; Diskant:
as/f/g) leitet die Therapeutin in die Schlußgestaltung ein. Durch die sich nun dynamisch
entfaltende Spielweise, die ein allmählich aufbauendes Crescendo entstehen läßt, wird
das Taktschema aufgehoben (getrichelte Taktlinien).

In den Takten 2 und 3 wird deutlich, daß sich der Patient in die Schlußsteigerung mit
einreiht. Dafür gibt er sein alternierendes Spiel auf und konzentriert sich, simultan zur
Therapeutin, zunächst auf den höheren Trommelklang, um dann in paralleler Spielweise
beide Trommelklänge einzubeziehen. Damit entscheidet er sich für ein gemeinsames,
gleichzeitiges und konsequentes Durchziehen dieser Schlußsteigerung.

Ep. 10, T 2-3

¿ ¿ ¿ ¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿
œ œ œ œ œ œ œ
‰ œJ œ œ œ œ œ œ

œœ œœ # œœ œœ œœ œœ
œ œ œ œ œ

Die letzten beiden Takte dieser Episode lassen erkennen, daß der Patient nicht nur die
Klangintensität durch die gleichmäßig betonte Spielweise verstärkt, sondern auch in das
Schlußritardando übergehen kann, das den unmittelbar bevorstehenden Höhepunkt mit
der musikalische Auflösung ankündigt.

377
Es zeigt sich hier jedoch auch, daß der Patient es bewußt vermeidet, die musikalische
Auflösung nach G-Dur aus dem vorherigen, gemeinsam durchgeführten
Steigerungsprozeß heraus konsequent zu Ende zu führen. Diese Möglichkeit verwirft er
und entscheidet sich statt dessen für einen angehängten, dynamisch gestalteten
Schlußwirbel .

Ep. 10, T 4-5

¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ Ó æ¿ æ¿
rit. œ œ œ œ n ˙˙˙ œœœ
œ œ œ œ ˙ œ
rit.
ƒ
# œœœ œœœ œœœ œœœ ˙ œ
˙ œ ˙.

Welche Bedeutung hat Episode 10?

Die Entschlußkraft des Patienten zeigt sich hier in seiner Hinwendung zu einer
verstärkten intermusikalischen Beziehung. Dieser dichte Bezug bleibt in seiner engen
musikalischen Verknüpfung während der sich allmählich aufbauenden
Schlußsteigerung, bis kurz vor dem Höhepunkt erhalten. Die eigentliche Auflösung des
musikalischen Prozesses, die sich im G-Dur Akkord realisiert, überläßt der Patient der
Therapeutin. Anstatt seine Schlußgestaltung mit dem Auflösungsakkord beginnen zu
lassen pausiert er, um nach dem Schlußklang einen an - und abschwellenden
Tremoloklang hinzuzufügen. Diese Episode spiegelt somit einerseits das klinische Bild
des Patienten, etwas nicht in letzter Konsequenz zu Ende führen zu können; anderseits
läßt sie durchblicken, daß der Patient nach alternativen Formen sucht, die ihm in der
momentanen Situation besser entgegenkommen und eine andere Ausdrucksform
ermöglichen.

Musikalisch gestaltend in einer melodisch getragenen Beziehung (Ep. 11)

EPISODE 11:

Kontext: Episode 5 bildet den Anfang der fünften Improvisation aus der zweiten
Sitzung. Obwohl diese Episode noch der zweiten Sitzung angehört deutet sie auf eine
neue Entwicklungsphase mit der inhaltlichen Bedeutung von ‘Musikalisch gestaltend in
einer melodisch getragenen Beziehung’ hin. Diese Phase, die sich am Ende der zweiten

378
Sitzung herausgebildet hat, wird ausschließlich von der Episode 11 bestimmt, die mit
ihren 37 Takten zu einer der umfangreichsten Episoden zählt.

q»§º £ £ £ -£
-
Ó ¿ ¿ ¿ Œ …¿ Œ ¿ ¿ Ó Ó 44 ¿ ¿ . ¿ ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿. ¿¿. ¿¿
π π
Patient (Tom Tom)

U
3

& ∑ œ œ œ œ œ ˙ 44 Ó œ œœœœ
œ œ œ ˙
Therapeutin (Klavier) p
? ∑ ∑ ∑ 44 ∑ ∑

-
3 3 3 3
- 3
j
¿ ¿ ‰ ¿ ¿ ‰ ¿ ¿ 64 ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ 44 ¿ ¿ ¿¿¿¿ Ó Œ ¿. ¿ ¿ ‰‰¿
5

P.

£ ∏
3
£ 3 3 j̊ 3 j̊ 3
œ œ . 6
3
œ 44 ‰ . œ œœ œ œ ˙ ‰ . œ œœ œ œ
& œœ œ˙ 4 œœ œœ. ˙ ‰ œœœ œ ˙
˙ ˙ œ ˙
Th.

? ∑ 64 ∑ 44 ∑ ∑

> >
P.
9
128 ¿ . ¿ ¿ . ¿>¿ Œ Œ . 5
¿¿ . π¿¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ 4 ¿ ¿¿ ¿¿ ¿ Œ¿ ¿¿ .. ‰ 68 ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
JJ
£ £j
12
& 8 œ .. œ Œ
œ œ .
∑ 45 ∑ 68 ∑
Th. J .. œ - œ œ œ
? 12 Œ . Œ . ‰ œ œ œ œ œ. œ.
œ . œ . ‰ œ œ œ œ œ 45 œœ .. œœ œœ œœ .. ‰ 6 œ œ œ
8 8
p J

j j j
13
9 ¿¿ .. 12 ¿ ¿ ¿ . ¿ . Œ ¿ ¿¿ . ¿ ¿
¿ ‰ ¿¿ .. ¿ ¿ ¿‰ ¿ . ¿ . ¿¿ ¿ . ¿ . ¿ .
P. 8 8 p J J
9 ∑ 12 Œ . Œ . Œ ‰ œ . j
&8 8 œ œ. .
œœ . œ œ œ . œ .œ œ œœ .. œœ .. œœ . œ œœ .œ œ
œ
- œ œ œ œ 12 œ . œ . œ œJ œ . œœ .. œ .
Th.

? 9 œ. J œ 8 œ.
œ.
œœ ..
œ. œ. œ. œ.
œ. œ. œ. œ.
8

379
j j
¿ . ¿¿ ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ ¿ ¿ . ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿. ¿. ¿. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿. ¿ . ¿¿
17

P.

Th. voc. & ∑ ∑ ∑ ∑


j j œ œ .. œœœ ... œœœ œj œ œ œœ .. œ . ‰ œ œ œ œ œ
& œ. œ. œ œ œ .œ œ œœ .. œœ .. œœ . œ œ œ œœ .
œ. œ ‰ œœ . œ .
œ. œ. œ . œ .. œ. œ. œ. œ
.
Th.

? œœ .. œœ .. œœ .. œ. œ. œ . œœ .. œ
œœ .. œ. œ. œ.

- j j
¿ ¿ ¿. ¿ . ¿¿ ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ . ¿¿
21

P. ¿. ¿.
& ∑ ∑ Œ. Œ. Œ.
œ.
Th. voc.


& œœ .. œœ .. œœ .. œœ . œ œ œ . œ . œœ .. œœ . œ œ œ
. œ. œ. œ œ œ
œ. œ.
œ. œ. œ. œœ ..
Th.

? œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œ. œ. œ. œœ ..
œ. œ. œ.

-
¿ . ¿¿ ¿ . ¿ . ¿¿ ¿ . ¿¿ ¿ . ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿ . ¿¿ ¿ ¿ ¿ . ¿. ¿. ¿¿¿ ¿ . Œ.
24

¿.
J
P.

& ˙. œ
‰ œ.œ . œ . œ œj œ . œ œ ˙. œ. œ. ˙. œ. œ.
Th. voc.

j j j
& œ. œ. œ œ œœ .œ œ œœ .. œ . œ œ œ œ œ œ. œ. œ. œ œ. œœ ... œœ œ œœœ
Th.
œ .œ œœ .. œ œ
? œœ .. œœ .. œ . œ . œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œ. œ. œ. œ. œœ ..

380
Œ. Œ ¿ -¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ . Œ . ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ . ¿ . ¿ . ¿¿
28

J J
P.

& ˙. Œ. ∑ Ó. Œ œj
œ. œ. œ. ˙. jœ. œœ
Th. voc.

j j œ œ . œ . œ
œ. œ. œ. œ .
& œœ .. œœ .. œœ œjœ œ œ œœ .. œœ .. œœ . œ œœ . œ œ œœ .. œœ .. œœ . œ œœ .. œ œ œ . œ . œ . œœœœ ... œœ
œ. œ. J œ. œ. œ.
Th.

? œœ .. œ œ. œ. œœ .. œ .
œ. œ J œ. œ. Œ. ∑

j j j
¿. ¿. ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿
32

P. ¿. ¿.
Th. voc. & ˙. œ. Œ Ó. Œ j
œ œ. œ œ ˙. œ. œ.
j j
œœ ... œœ .. œ œ œ œ œœ ... œ.
œœ ..
œ œœ œ . œ œ œ . œ. Œ. œ j
& œ. . œ. œ œ. œ J œœ .. Œ. Œ . œ œ œœ œœ
œ Œ Œ. œ œ. œ
œ œJ . J
Th.

? ∑ ∑ œ œJ Œ œ.
œ.

j j j j- j j j
¿. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿
35

P. ¿.
Th. voc. & ˙. ˙. œ. œ. œ. œ. ˙. œ.

& œ . œ œ . œ œ . œ œ . œ œ .. œ . œ œj œ j
œ Œœ . œœ Œœ . œœ Œœ . œœ
Œ œ Œ œ Œ œ Œ œ Œ œ. œ œ. T
J J J J J J J J
Th.

? œœ .. œœ .. œœ .. œ . j œ œ œ œJ œ œ
J œ. œ.
œ œ J œ.

In dieser Episode finden wir die Kategorien Orientierung, Suche, Entschlußkraft,


Transformation und Selbstfindung. Teilweise gehen sie auseinander hervor; teilweise
treten sie in unterschiedlichen Konstellationen auf, wie z.B. in Form von Suche-
Orientierung-Suche, oder Entschlußkraft-Transformation und Transformation-
Selbstfindung. Die im folgenden aufgeführten musikalischen Beispiele belegen die
Kategorien und zeigen ihre charakteristischen Eigenschaften auf.

Orientierung

Das erste Beispiel für diese Kategorie zeigt sich gleich zu Anfang dieser Episode in den
Takten eins bis vier. Der Patient beginnt die Improvisation (T 1-2) in einem sehr leise
und gleichmäßig geführten Spiel. Als typische Merkmale treten sehr bald Betonung und
Vorschlagbildung in Erscheinung. Nach dieser ersten, etwas unschlüssig wirkenden
Orientierung pausiert der Patient.

381
Die Therapeutin führt eine melodische Figur in entsprechend gleichmäßiger Bewegung
ein. Charakteristisch für ihren Beginn ist das Motiv der aufsteigenden gr. Septime, das
sie zweimal wiederholt. Die melodische Figur läßt sie gemäß der Pause des Patienten
mit einer Fermate ausklingen.

Nach der Pause beginnt der Patient erneut (T 3-4), diesesmal mit einer deutlich hörbaren
zweitaktigen Gestalt. Sie wird zwar sehr leise, mit diminuierender Tendenz gespielt, aber
nimmt das Muster der punktierten Triole und das langsame Zeitmaß als Grundlage der
neuen Spielform.

In den Takten 3 bis 4 variiert die Therapeutin die melodische Figur durch die
Erweiterung des Ambitus von c1 auf e2 (Dezime). Mit der Achteltriole in Takt 4 bezieht
sie sich auf das punktierte Triolenmotiv des Patienten und läßt durch die fallende,
decrescendierende gr. Septime die Geschlossenheit dieser melodischen Figur hörbar
werden.

Ep. 11, T 1-2 Ep. 11, T 3-4


q»§º
- £ £ £ -£
¿ ¿ ¿ Œ …¿ Œ ¿ ¿ Ó Ó 44 ¿ ¿ . ¿ ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ ¿ . ¿ ¿
π π
U 3

∑ œ œ œ œ œ ˙ 44 Ó œœœœ
œ œ œ
p œ ˙
∑ ∑ ∑ 44 ∑ ∑

Das zweite Beispiel für die Kategorie Orientierung zeigt sich gleich im Anschluß an die
Takte 3 und 4. Der Patient entwickelt, ausgehend von seiner punktierten Triole,
verschiedene rhythmische Muster. Wir können hier aber noch keine deutliche
Beziehung zu einer Taktform erkennen. Klanglich konzentriert er sich nur auf die hohe
Trommel.

Auch die Therapeutin entwickelt aus dem charakteristischen melodischen Intervall der
großen Septime weitere kurze melodische Figuren, die sie entweder nur ansteigen oder
auch abfallen läßt und in rhythmische Beziehung zum Triolenmotiv des Patienten setzt.
Ihre melodisch variierten Figuren läßt sie mit einer halben Note ausklingen, wodurch die
Klarheit und Geschlossenheit der zusammenhängenden Tonfiguren deutlich in
Erscheinung tritt.

382
Ep. 11, T 5-6

3
-
3 33

¿ ¿ ‰ ¿ ¿ ‰ ¿ ¿ 64 ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ 44 ¿
3
£ £ 3 3
œ .
œ œ 64 œ œ . ˙ ‰œ 44 ˙
3

œœ ˙ œ˙ œ ˙ œ œ œ œ œ
s.T3
s. T9 Bassstimme
∑ 64 ∑ 44

Suche, Orientierung

Das Beispiel für die Kategorie Suche stellt sich in der Stimme des Patienten durch den
Kontaktverlust zum Triolenmotiv dar. Grund für den Verlust seines innermusikalischen
Bezugs ist sein Impuls für Unterteilungen (Zweiunddreißigstel). Auch hier nutzt er die
Pause zum Zweck einer Neuorientierung, die ihn in Takt 8 auf sein bekanntes
Triolenmotiv zurückgreifen läßt. Dabei orientiert er sich an der melodischen Stimme der
Therapeutin, zu der er sich komplementär in Beziehung setzt.

Das von ihm akzentuierte Achtel in Takt neun wird von der Therapeutin in einer
‘staccato-legato’- Artikulation aufgegriffen und in eine aufwärts führende Baßfigur (kl.
c bis e1) übertragen. Es ist offensichtlich, daß die Therapeutin mit der Einführung des
Baßregisters auf den Klangfarbenwechsel in der Stimme des Patienten reagiert.

Ep. 11, T 7-8 Ep. 11, T 9


s.T5
>
-
s.T3 3
j 128 ¿ . ¿ ¿ . ¿>¿ Œ Œ . ¿¿ .
¿ ¿ ¿¿¿¿ Ó Œ ¿. ¿ ¿

‰‰¿ π
j̊ 3 j̊ 3 £ £
128 œ . œj Œ
˙ ‰ . œ œœ œ œ ˙ ‰. œ œ œ œ
˙ œ œ. œ .
J .. œœ -
∑ ∑ 128 Œ . Œ . ‰ œ œ œ œ.
œ.
s. T6 Oberstimme

Auch die beiden nächsten Beispiele weisen auf die enge Konstellation der beiden
Kategorien Suche und Orientierung hin. In den Takten 10 bis 14 haben wir einen
ähnlichen Fall wie in den Takten sieben bis neun. Hier führen Akzentbildung und

383
Synkopisierung (T 10-11) im Spiel des Patienten zu seinem Verlust des metrischen
Grundes. Die Dreiachtelgruppen in Takt zehn können als Suche nach dem metrischen
Grund gedeutet werden.

Von der Therapeutin werden die Dreiachtelgruppen des Patienten aufgegriffen. Sie
dienen ihr als schlußbildende Figuren der in Takt 9 aufstrebenden Baßfigur. Der
abschließende Quintklang gibt Raum für Zäsuren und Neuorientierung. Damit bildet sie
eine zusammenhängende Form von Motivgruppen, die der instabilen Spielweise des
Patienten entgegenwirkt.

Ep. 11, T 10-11

> >
¿¿ . ¿ ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ 45 ¿ ¿¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿¿ .. ‰ 68
π JJ Œ
45
∑ ∑ 68
-
œ. œ.
œ . œ . ‰ œ œ œ œ œ 45 œœ .. œœ œœ œœ .. ‰ 6
8
p J

Eine nochmalige Neuorientierung erfolgt in der Stimme des Patienten in den Takten 12
und 13. Der Patient ‘wartet’ auf die schon einmal in Takt neun wahrgenommene
Baßfigur in der Stimme der Therapeutin und setzt nach der Achtelpause sein Spiel
analog zur Baßfigur fort. Dabei nimmt er erneut das Dreiachtelmetrum innerlich auf und
gestaltet es in Takt 13 in Form punktierter Viertel, die er im Zusammenklang beider
Trommeln zum Ausdruck bringt.

Neben der großen Septime heben sich in der Stimme der Therapeutin die Quint, Quart
und Terz als Tonhöhenintervalle hervor. Die Baßfiguren der Takte 9 und 12 erscheinen
als Reminiszenz der aufsteigenden melodischen Tonfigur aus den Takten 2 bis d3.

384
Ep. 11, T12-13

‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ 98 ¿¿ .. ¿ ‰ ¿¿ .. 128 ¿

∑ 98 ∑ 128 Œ .

œ œ œ -œ . œ œ œ.
œ œ œ J œ œ 128
98 œ

Entschlußkraft

In den Takten 15 bis 18 ist der Patient zu einer Entscheidung gelangt. Er beginnt sein
Spiel mit Hlfe des Dreiachtelmetrums rhythmisch zu formen. Dabei greift er auf das
punktierte Triolenmotiv aus Takt 3 zurück und erweitert es um eine Achtel. Der dunklere
Trommelklang wird jetzt bewußt für die punktierte Viertel als Grundmaß des sich
herausbildenden 12/8 Taktes herangezogen. Dadurch verleiht er seinem Spiel einen
schwingenden, beweglichen Charakter. Zum erstenmal beginnt seine Musik zu fließen.
In seiner rhythmischen Gestaltung bezieht er sich zum thematischen Material der
Therapeutin indem er sein punktiertes Dreitonmotiv jeweils zum Taktbeginn und in
Ergänzung zum auftaktigen Dreiachtelmotiv erklingen läßt.

Die sich ab Takt 12 abzeichnende deutlichere Ausdrucksweise in der rhythmischen


Stimme des Patienten veranlaßt die Therapeutin zu einer viertaktigen Themenbildung mit
zwei sich wiederholenden Abschnitten, wobei die am Ende der Dreitonmotivik
erscheinenden Überbindungen den klanglichen Raum betonen. Ein charakteristisches
Element dieser Themenbildung ist die bereits erwähnte Dreiachteltonfigur, die auf dem
letzten punktierten Grundschlagviertel auftaktig zum nächsten Takt überleitet und die
Bewegung antreibt. Diese Themenbildung ist auf die melodischen Figuren der
Anfangstakte zurückzuführen. Sie konzentriert sich im wesenlichen auf zwei
harmonische Akkorde, die die große Septime einbeziehen: C-Dur - und F-Dur
Septimenakkord.

385
Ep. 11, T 15-16

j j
Œ ¿ ¿. ¿
¿ ¿ ¿ ¿ ‰¿ ¿ . ¿ . ¿¿ ¿ . ¿ . ¿ .
J J
‰ œ œ œ. j œ
œœ . œ . œ . œ . œœ .œ œ œœ .. œœ .. œœ . œ œœ .œ
œ
J œœ .. œœ .. œ . œ.
œ.
œ. œ. œ. œ.
œ. œ. œ. œ.
œ.

Ep. 11, T 17-18

j
¿ . ¿¿ ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ ¿ ¿ . ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿. ¿.

∑ ∑ ∑
j j œœ œ .. œœœ ... œœœ œj
œ. œ. œ œ œ .œ œ œœ .. œœ .. œœ . œœ œœ .
œ. œ ‰
œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œ. œ. œ.
œœ ..

Entschlußkraft, Transformation

Der Übergang von der Kategorie Entschlußkraft zur Transformation wird an Hand der
Takte neunzehn bis einundzwanzig deutlich. Der Patient läßt nun sein punktiertes
Dreitonmotiv am Ende der Takte parallel zur auftaktigen Dreitonfigur der Therapeutin
erscheinen, während die punktierten Grundschlagviertel konstant auf der zweiten und
dritten Zählzeit erklingen. Den Taktbeginn hebt der Patient durch das betonte Viertel-
Achtel-Motiv stärker hervor, das er zum ersten mal in Takt zwölf eingeführt hat.

Die Therapeutin unterstützt den Patienten mit einer variierten Wiederholung und
gleichzeitigen Erweiterung des Themas auf 8 Takte.

386
Ep. 11, T 19-21

- j
s.T12
j
¿. ¿. ¿ ¿ ¿ . ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿ . ¿ . ¿ . ¿ . ¿¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ .

j œœ œœ .. œœœ ... œœœ œj œ œ œœ .. œ . ‰ œ œ œ œ œ œœ .. œœ .. œœ ..


œœ . œœ œ. ‰ œœ . œ.
œœ .. œœ .. œ. œ. .
œ œœ .. œ. œ. œ. œ. œ. œ. œ.
s.T9

Entschlußkraft

Mit dem Einsetzen der Vokalstimme der Therapeutin ab Takt 24, die die melodische
Führung des Themas mit einem weichen Timbre klanglich unterstreicht, vermehren sich
die punktierten Achtelfiguren in der Stimme des Patienten, die nun auf der ersten und
vierten Zählzeit erscheinen. Sein Spiel wird dichter und unruhiger.

Ep. 11, T 24-26

¿ . ¿¿ ¿ . ¿ . ¿¿ ¿ . ¿¿ ¿ . ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿ . ¿¿ ¿
24

P. ¿.
Th. voc. & ˙. œ ‰ œ. œ . œ . œ œj œ . œ œ ˙.
j j
Th.
& œ. œ. œ œ œœ .œ œ œœ .. œ . œ œ œ œ œ œ. œ.
? œœ .. œœ .. œ . œ . œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œœ .. œœ ..

Transformation

Der Übergang zur Transformation stellt sich mit der Wiederholung des Themas ein (T
26-27), das die Therapeutin diesesmal auf c1 beginnen läßt. In der Melodiestimme tritt
wieder die große Septime als charakteristisches melodisches Intervall auf, das
anschließend zum g1 geführt wird. Die Vokalstimme der Therapeutin erscheint als ein
harmonisches Ostinato (c1).

Hier wird deutlich, daß der Patient seine dichte Spielweise loslassen und sich stärker auf
das punktierte Grundschlagviertel und die Einbeziehung von Pausen konzentrieren

387
kann. Dadurch gibt er sich selber mehr Raum und findet in das schwingende, ruhige
Grundmaß zurück.

Ep. 11, T 26-27

-
¿ ¿. ¿. ¿. ¿¿¿ ¿ . Œ.
J
œ. œ. ˙. œ. œ.
œœ .. j
œ. .œ œ œœœ ... œœœ œ œœœ
œ œ.
œœ .. œ. œ. œ. œ. œœ ..

Transformation, Selbstfindung

Der Bezug des Patienten zu den langgezogenen Melodietönen vertieft sich in den
folgenden Takten (T 31-33). Dabei spielt er seine punktierten Dreitonmotive analog zur
auftaktigen melodischen Achtelfigur des Themas. Die Qualität seines Ausdrucks und
die klangliche Ausgewogenheit der spielerischen Elemente vermittelt eine innerliche
Synchronisation, die er mit Hilfe der melodischen Beziehung erreicht.

Das melodische Material, das die Therapeutin immer wieder in Abhängigkeit von der
Reaktionsweise des Patienten modifiziert und umformt, bildet die Grundlage der
musikalischen Beziehung. In den Takten 31 bis 33 läßt sie das Thema in der
zweigestrichenen Oktave (h1/h2) erklingen und übernimmt mit ihrer Vokalstimme
teilweise die melodischen Achtelfiguren.

Ep. 11, T 31-33

j
¿. ¿. ¿. ¿. ¿ ¿ ¿. ¿. ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿. ¿. ¿

Ó. Œ j Ó.
œ. Œ
Œ
œ œ. œ œ ˙.
œœ .. œœ .. œœ . œj œ . œ œ œ .. œ .. j .
œ œ œ œ œœ .. œœ ... œ
œ. œ. œ . œœœ ... œœ . œ
œ. Œ. œ . Œœ . œœ . œœ . œœ

∑ ∑ ∑

388
Die erneut erscheinenden, aufsteigenden Baßfiguren (T 34-36) in der Stimme der
Therapeutin greifen auf ein rhythmisches Motiv des Patienten aus Takt 12 zurück. Sie
durchlaufen den Tonraum von zwei Oktaven (kl. c/h1) und führen zum Melodieton g1,
der einen ganzen Takt ausfüllt (T 35). Die Mittelstimme lockert mit ihren
nachschlagenden Begleitfiguren die musikalische Struktur und das Klangbild auf.

Der Patient setzt seine Spielweise leicht variiert fort. Als konstante Spielfaktoren
erweisen sich die punktierten Grundschlagviertel, die auftaktige Dreiachtelgruppe und
die punktierte Dreitongruppe. Deutlich wird sein Bezug zur melodisch aufsteigenden
Baßfigur in Takt vierunddreißig, die er quasi auf der letzten Zählzeit fortführt. In Takt 36
übernimmt er die rhythmische Form der Baßfigur und hebt sie dadurch stärker hervor.

Ep. 11, T 34-36

j j j j j j- j
¿ ¿ . ¿ ¿ ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ . ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿¿ ¿ .
j ˙. ˙. œ. œ. œ. œ. ˙.
œ œ.œœ ˙. œ. œ.
j
œœ œ . œ œ œ. œ. Œ. œ j œ . œ . œ œj œ j
J œœ .. Œ . Œ . œ œ œœ œœ œ .œ œ .œ œ .œ œ .œ œ œŒ .
ŒœŒœŒœ Œœ Œ. œ. œ œ.
œ œ Jœ . J J J J J Jœ œ œ
∑ œ J Œ œ. . œ œœ .. œœ .. œœ .. œ . jœœ œ J J
œœ J œ.

Welche Bedeutung hat Episode 11?

In Episode 11 geht der Patient zunächst durch verschiedene Stadien der Orientierung,
Suche, Entschlußkraft und Transformation, wobei er zuweilen zwischen diesen
Kategorien hin und herschwankt. Damit verbunden ist ein Entdecken und Teilen
melodischer Aspekte (Motivform, Tonhöhenrichtung, melodische Intervallformen,
Zweitaktformen) auf die er sich beziehen kann und die ihm zu einer integrierenden
Spielweise verhelfen, die schließlich zur Selbstfindung und zum Selbstausdruck führt.

Der Anfang der Episode verdeutlicht, daß der Patient Zeit benötigt, um zu einer inneren
Sicherheit zu finden (T 12-13). Hier wird er von der Therapeutin mit kurzen, ein - bis
zweitaktigen melodischen Figuren unterstützt, die ihren offenen Charakter während der
sich virtuell ergebenden Entscheidungen des Patienten beibehalten (variable
Taktstruktur, offene Harmonik). Eine umfassendere melodische Gestalt führt die
Therapeutin ab Takt 14 ein, nachdem der Patient seinen innermusikalischen Bezug
durch den Ausdruck des innerlich aufgenommenen Metrums gekräftigt hat. Im weiteren

389
Verlauf der Episode wird die melodische Gestalt von der Therapeutin erweitert.
Integrativer Bestandteil dieser umfassenden Gestalt ist das melodisch-rhythmische
Motiv der Dreiachteltongruppe, das sich aus dem Anfangskeim der punktierten
Achteltriole in der Stimme des Patienten entwickelt hat und sich mit der variierten
punktierten Version abwechselt.

Ep. 11, T 2 (P.) Ep. 11, T 16 (P.) Ep. 11, T 22 (P.)


-£ j
¿¿. ¿ ¿ . ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿

Diese melodischen Elemente tragen dazu bei, daß sich zwischen Patient und Therapeutin
eine enge musikalische Beziehung entwickelt. Neben dem Fundament des punktierten
Grundschlagviertels bilden sie die ‘Sicherheitselemente’ im Spiel des Patienten, die er
im Verlauf der Episode auf vielfältige Weise kombiniert und in seine individuelle
Gestaltung sinnvoll integriert.

Somit kann der Patient auf Grundlage der melodisch getragenen Improvisation zu einer
ruhigen und klaren Form seines Ausdrucks finden, die nicht durch impulshaftes,
rhythmisches Herausbrechen unterbrochen wird. Er ist Teil des dichten Netzes der
melodisch-rhythmischen Beziehungen und trägt mit seiner Identitätsfindung zur Einheit
der melodisch getragenen Improvisation bei. Vielleicht ist der offene melodische
Charakter mit seiner, nicht zur Auflösung drängenden großen Septime ausschlaggebend
für die Aufrechterhaltung der melodisch getragenen Beziehung.

Die persönliche Bemerkung der Therapeutin zu dieser Episode lautet: “Entwicklung


von Zuversicht und Vertrauen. Erfahrung der eigenen Gefühlswelt. Gemeinsames Sich-
Tragen-Lassen”.

Musikalischer Integrations - und Innovationsprozeß (Ep. 12, 13, 14, 15,


16)

EPISODE 12:

Kontext: Episode 12 stellt den Anfang der zweiten Improvisation aus der dritten Sitzung
dar. Unmittelbar vorausgegangen ist ein mit der Therapeutin gemeinsam gestaltetes
Ende der ersten Improvisation.

Die dritte Sitzung wird klanglich von den Tempelblocks bestimmt, auf denen der Patient
nach eigener Wahl mit einem Schlegel spielt. Die fünf waagerecht an einem Ständer
befestigten Klangkörper bestehen aus hohlen, länglich geschlitzten Holzkugeln, deren
Tonhöhe zwar deutlich zu unterscheiden, aber nicht exakt bestimmbar ist. Um die

390
unterschiedlich gestalteten Tonhöhen in der Stimme des Patienten annähernd
wiedergeben zu können werden zur besseren Kennzeichnung der tieferen und höheren
Töne zwei Notenlinien herangezogen.

qk»∞º
j1
j j - j
6 ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿ ¿
8
Patient (Tempelblocks)
P
6 ∑ ∑ ∑
&8
. . . .
Therapeutin (Klavier) j j
?6 ∑ ∑ œœœ œœœ œœœ œœœ
8 œ œ œ œ
J J
p
3
j j ¿ ¿ ¿
5

P. ¿ ¿ ¿ ¿ ¿.. ¿ ¿ ¿ m

& œ ∑ œ
Th.
j j j m
? œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœ
œ œ œ œ œ œ œ œ œ
J J J J
sempre stacc.

Episode 12 bildet den Anfang einer neuen Entwicklungsphase mit der inhaltlichen
Bedeutung von ‘Musikalischer Integrations - und Innovationsprozess’. Sie wird von
den Kategorien Entschlußkraft und Transformation bestimmt.

Entschlußkraft

Aus einem ruhigen, langsamen Tempo heraus beginnt der Patient das Spiel zu gestalten.
Als Grundlage wählt er ein aufwärts gerichtetes rhythmisch-klangliches Motiv, das er
auf dem tieferen Ausgangston wiederholt. Aus diesem Motiv heraus entwickelt er eine
erweiterte, punktierte Variante, die er dynamisch steigert und mit einem betonten Viertel
abrundet. Die Klarheit seiner musikalischen Aussage zeigt sich in seinem Bezug zu
einem inneren Tempo, einer gewählten Taktform (6/8) und seiner individuellen
rhythmischen und dynamischen Gestaltung. Die Gestaltqualität und zweitaktige Anlage
der Spielform wird vom Patienten zusätzlich durch seinen bewußten Einsatz der
unterschiedlichen Klangeffekte von dunkel und hell hervorgerufen.

Entsprechend der metrischen Gestaltung des Patienten unterstützt die Therapeutin (T 2)


das Spiel des Patienten mit Akkorden im Baßbereich. Sie erscheinen ohne Terz als

391
‘neutrale’ Septakkorde über dem gr. A und werden in zurückhaltendem Staccato
imitatorisch zur Stimme des Patienten eingesetzt.

Ep. 12, T 1-2

qk»∞º
j1
j j -
68 ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ¿
P

& 68 ∑ ∑ ∑
. . .
j
? 68 ∑ ∑ œœœ œœœ œœœ
œ œ œ
J
p
Transformation

Mit der Wiederholung seiner zweitaktigen Gestalt (T 3-4) beginnt der Patient, sein
musikalisches Material umzuformen. Dabei behält er zunächst sein rhythmisch-
klangliches Grundmotiv, das er jedoch in Umkehrung erklingen läßt, sodaß der Beginn
seiner zweitaktigen Form diesesmal im Hell-Dunkel-Effekt erscheint. Bedingt durch
eine doppelte Punktierung verkürzt er nun seine erweiterte, einfach punktierte Variante
von Takt 2, rundet sie aber wie in Takt 2 mit einer Viertel ab. Insgesamt konzentriert er
sich auf die klangliche Gestaltung, indem er häufiger zwischen zwei Klanghöhen
wechselt. Somit erklingt z.B. das Grundmotiv bei seiner Wiederholung (T 3) als
Umkehrung und in seiner variierten Weiterführung (T 5) mit hervorgehobenem hohen
Ton.

Die Therapeutin erweitert ihre metrische Gestaltung mit einer melodischen Floskel in
Form einer Drei-Achtel-Tongruppe, die bis in die eingestrichene Oktave hinausreicht (T
3). Diese Einfügung kann als Spielgelung der rhythmisch erweiterten Variante des
Grundmotivs (T 2) in der Stimme des Patienten angesehen werden. Sie wird von ihr in
Takt 5 noch einmal aufgegriffen.

392
Ep. 12, T 3-4

j 3
j j ¿ ¿ ¿
5

¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿.. ¿ ¿ ¿

œ ∑ œ
.
j j œ j j
œœœ œœœ œœœ œœœ œœ œœ
œ œœœ œœœ œœœ œœœ œœ
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
J J J J J
sempre stacc.

Das von dem Patienten initiierte Grundmotiv sorgt einerseits für den inneren
Zusammenhalt seines Spiels, andererseits zeigt es auch seine formbildende Funktion
indem der Patient es stets zu Beginn seiner zweitaktigen Gestalten erklingen läßt.

Ep. 12, T 1 Ep. 12, T 3 Ep. 12, T 5

j 1
j
¿ ¿
3 5

¿ ¿ ¿ ¿ ¿
P
Der folgende Ausschnitt verdeutlicht den zuvor erwähnten Bezug der Therapeutin zur
erweiterten punktierten Variante des Patienten.

Ep. 12, T 2-4

- j 3
j j
.
¿ ¿ ¿¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿.. ¿ ¿ ¿

∑ œ ∑
. . . .
j j j œ j
œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œœœ œ
œœ œœ œœœ œœœ
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
J J J J J
p sempre stacc.

393
Welche Bedeutung hat Episode 12?

Mit dieser Episode beweist der Patient, daß er zu einer klaren Ausdrucksform gefunden
hat, die er durch eigene Initiative und unabhängig von der Therapeutin zum Ausdruck
bringen kann. Seinen innermusikalischen Bezug verdeutlicht er mit der Darstellung des
durchgehenden Taktmetrums, das er zur Taktform (6/8) in Beziehung setzt, der
sinnvollen Integration der ihm zur Verfügung stehenden unterschiedlichen Tonhöhen in
seine rhythmischen Motive und Formen und der ruhigen Ausführung seiner sich
klanglich formenden Spielweise, die die Dynamik in ausgewogener Weise mit
einbezieht. Die von ihm leicht variierten, zweitaktigen Gestalten lassen eine
übergeordnete Form von vier Takten entstehen, deren innerer Zusammenhang durch das
initiierte rhythmisch-klangliche Grundmotiv gewährleistet wird.

Mit dieser Episode hören wir, daß der Patient im Moment seines musikalischen
Gestaltens innerlich integriert ist. Seine sich bisher durchsetzende zwingende Aktivität
gibt hier einem neuen Ausdruck mehr Raum, einem Ausdruck von Ruhe, Besonnenheit,
Flexibilität und Ausgeglichenheit.

Musikalischer Integrations - und Innovationsprozess (Ep. 12, 13, 14, 15,


16)

EPISODE 13:

Kontext: Episode 13 gehört zum Kontext der zweiten Improvisation der dritten Sitzung.
Sie bildet sich aus dem weiteren Verlauf dieser Improvisation, nachdem der Patient einen
Dialog initiiert hat.

394
1

34 ¿ ¿ ¿ ¿ Œ 58 ∑ 44 ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ 64
P
Patient (Tempelblocks)
F
œ
œ œ
3 ∑ 2ˆ2ˆ1 œœ œ œj 4 œ Œ Ó 3
&4 8 # œœ œœ œœ 4 # œœ 2
J
Therapeutin (Klavier)
P
?3 ∑ 2ˆ2ˆ1 ∑ 4 ∑ 3
4 8 4 2
4 - -
¿¿¿
P. 6 Ó
4 ¿ ¿ ¿ Ó Ó Œ ¿ 5 ¿ ¿ ¿ Œ Œ 4
4 4
rit.

œ œ œ œ . .
3 ˙˙ ˙˙ ˙˙ œ œ œœ ˙˙ œœ 5 4
&2 ˙ ˙ # ˙˙ œ ˙ œ 4 ∑ 4
Th.

? 23 ∑ ∑ 45 ∑ 44

7 - -
4 5 ¿ ¿ ¿ ¿ Œ 6
P.
4 ∑ 4 4 ∑
- .
4œ œ ˙ 5 ˙˙˙ 6 œ˙ œ œœ ˙˙ œœ
& 4 ˙˙ ˙˙ 4 Ó Œ 4 #˙ œ ˙ œ
Th.

?4 ∑ 5 ∑ 6 ∑
4 4 4

10 - -
P. ¿ ¿ ¿ ¿ Œ Œ Ó Œ Ó ¿ 44 ¿ ¿ ¿ Œ 64
π
-
œ˙˙ œ œ ˙ œ ˙ ˙
& ∑ œœ ˙˙ œœ 44 ˙˙ ˙˙ 64
Th.

? ∑ ∑ 44 ∑ 64

395
‰ …¿j
13

6 Œ ¿…¿ ¿ …¿ 4 Œ …¿ Œ …¿ Œ …¿ Œ …¿ 9 Œ … ¿ Œ …¿ Œ …¿ Œ … ¿ 6
P.
4 - 2 p 4 4
œ œ ˙ œ √ - - - - -
6 œ
& 4 # ˙˙ œœ ˙˙ œœ 24 œ Œ œ Œ œ Œ œ Œ 9 œ Œ
4 œ
œ Œ œ Œ œ Œ œ
45
œ œ œ œ œ œ œ œ
Th. rit. pœ œ œ cresc.œ -œ
accel. -œ -œ f-œ -œ
? 64 ∑ 24 œ Œ œ Œ œ Œ œ Œ 94 œ Œ œ Œ œ Œ œ Œ œ 45

16

64 …¿ … ¿ … ¿ …¿ …¿ …¿ … … … … … … Œ C¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ
P.
24 ¿ritard.¿ ¿ ¿ ¿ π¿ f √. .
- - - -
stretto

5 œ œ œ œ œ 4 œ œ œ œ œ ˙ Œ 4 Œ œœ Œ œ
œ
&4 œ œ œ œ œ 2 œ œ œ œ œ ˙ 4
Th. -œ -œ -œ -œ œ œritard.œ œ œ œ π
˙ f
.
? 45 œ œ œ œ œ 42 œ œ œ œ œ ˙ Œ 44 ≈ œ Œ œ Œ
œ œ
J
19

P.
¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ
. .
œ. œ. œ. œ. # œœ œœœ
&Œ œ Œ œ Œ œ Œ œ Œ œ Œ
Th. T
. œ. œ. œ. œ. œ.
?œ Œ Œ Œ Œ Œ Œ
œ œ œ œ œ œ

Die Kategorien dieser Episode sind Entschlußkraft, Transformation und Selbstfindung.

Entschlußkraft

Die Kategorie Entschlußkraft zeigt sich im Spiel des Patienten in seiner Initiative für ein
bewußtes Ergreifen der dialogischen Form. Musikalischer Inhalt seiner dialogischen
Form ist eine Klangfigur, die an einen Dreiklang erinnert (T 1). Auf diese geht die
Therapeutin mit vergrößerten Tonabständen (gr. Sexte, Quart) unmittelbar ein, die sie
über dem E-Dur Septakkord erklingen läßt. Der Patient beantwortet die Figur der
Therapeutin mit gleicher rhythmischer Modalität, aber unterschiedlichem ‘Tonfall’; mit
seiner sich wiederholenden ‘Terzfigur’ gleicht er die im Tonumfang heraustretende
Figur der Therapeutin in dynamischer Abstufung wieder aus.

396
Ep. 13, T 1-3

34 ¿ ¿ ¿ ¿ Œ 58 ∑ 44 ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ
P.
F P
œ œ œ j
& 34
2ˆ2ˆ1
∑ 8 # œœœœ œœœ œœœ 44 # œœœ Œ Ó
J
Th. P
? 34 ∑ 2ˆ2ˆ1
8 ∑ 44 ∑

Entschlußkraft, Transformation

Mit Takt 4 signalisiert die Therapeutin, daß sie mit ihrer Wechseltonfigur (h2-a2), die in
melodischer Umkehrung zur Terzfigur (T 3) erscheint, imitatorisch auf den Patienten
eingeht. Die fallende melodische Bewegung löst sich in einen a-moll Dreiklang auf und
gibt Raum für den Fortgang des Dialogs. In demselben Takt bringt der Patient eine
kontrastreiche Ergänzung zur Wechseltonfigur der Therapeutin. Die fallende Tendenz in
der Figur der Therapeutin wird von ihm verstärkt und durch die Einbeziehung der
höchsten und tiefsten Töne besonders hervorgehoben. Diese klangliche ‘Exposition’
der Tonhöhenrichtung mit der ritardierenden, auslaufenden Viertelbewegung und das
vorzeitige Eingreifen des Patienten in den Dialog legt die Vermutung nahe, daß er einen
grundsätzlichen Ausdruckswechsel anstrebt. Dieser zeigt sich jedoch nicht vor Takt 13.

Die Reaktion der Therapeutin auf diesen Einwurf des Patienten kann als rezitativisch
bezeichnet werden. Sie führt die auslaufende Viertelbewegung auf dem Ton e2 (über E-
Dur), in der Art eines Sprechtons artikulierend, langsam weiter. Der Patient bezieht sich
auf diesen ‘Tonfall’ (T6), indem er das Rezitativische (Reduzierung auf eine Tonhöhe)
mit der entsprechenden Artikulationsweise übernimmt. Mit seiner imitatorischen
Reaktionsweise wird nicht nur seine innermusikalische Beziehung zu formgestaltenden
Prinzipien deutlich, sondern auch seine Beziehung zur Therapeutin. Anstatt dem eigenen
Impuls zu folgen, der eventuell einen grundsätzlichen Wechsel hervorgerufen hätte,
wählt er die Fortsetzung des Dialogs in der Form des sich angleichenden ruhigen
Austauschs der musikalischen Figuren.

397
Ep. 13, T 4-6

4 - -
64 Ó ¿¿¿ ¿ ¿ ¿ Ó Ó Œ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ Œ
rit. 45
œ œ œ œ ˙ . .
3 ˙˙˙ œ œœ ˙˙ œœ
& 2 ˙˙ ˙˙ # œ˙˙ œ ˙ œ 45 ∑

? 23 ∑ ∑ 45 ∑

Transformation

Dieser dargestellte dialogische Prozess setzt sich in den folgenden Takten innerhalb der
Kategorie Transformation fort. In Takt 9 wiederholt die Therapeutin ihre rezitativische
Figur aus Takt 5, die anschließend vom Patienten imitiert wird (s. T 6).

Ep. 13, T 9-10

- s. T6

P. 64 ∑ ¿ ¿ ¿ ¿ Œ Œ
s. T5
.
œ œœ ˙˙ œœ
& 64 # œ˙˙ œ ˙ œ ∑
Th.

? 64 ∑ ∑

Die Erweiterung der Tonfigur (Quart, Quint) im harmonischen Kontext von a-moll (T
11) wird vom Patienten auf entsprechende Weise mit drei verschiedenen Tonhöhen
imitiert. Auch hier greift er frühzeitig in die Stimme der Therapeutin ein und läßt seine
dialogische Antwort mit einem Decrescendo (zum pp) auslaufen. Sein frühzeitiges
Eingreifen hat komplementäre Züge und betont teilweise die zweitaktige Anlage dieser
musikalischen Form.

398
Ep. 13, T 11-12
-
Ó Œ Ó ¿ 44 ¿ ¿ ¿ Œ
π
-
œ œ ˙ œ
œ˙
˙ œœ ˙˙ œœ 4 ˙˙˙ ˙
˙˙
4

∑ 4 ∑
4

Takt 13 bildet eine Wende innerhalb dieser Episode, die zu etwas Neuem führt, das in
die Kategorie Selbstfindung mündet. Angekündigt hat sich diese bereits in Takt 11 mit
dem vorzeitigen Eingreifen des Patienten in die Stimme der Therapeutin, was nicht nur
zum Ende der dialogischen Form geführt sondern auch die Dominanz der eingreifenden
Stimme hervorgehoben hat. In Takt 13 macht der Patient es deutlich, daß er einen
Wechsel anstrebt. Vielleicht hat die aufstrebende Oktave (d2/d3) in Verbindung mit der
von ihm antizipierten fallenden Tonhöhenrichtung seinen Wechsel zum simultanen Spiel
mit unterstützt. Es ist offensichtlich, daß der oberste Ton d2 dem Patienten als ‘Auftakt’
für seine abwärts geführte und mit Vorschlägen versehene Tonfolge dient.
Interessanterweise setzt er die Vorschläge von unten an, so daß sie einen Kontrast zur
fallenden Tonhöhenrichtung bilden.

Beide, Patient und Therapeutin verdeutlichen diese ‘Übergangssituation’ durch das


gemeinsam ausgeführte Decrescendo und Ritardando. Die Unbestimmtheit dieses
Abschnitts wird auch in harmonischer Hinsicht (verm. Dreiklang auf gis1) durch eine
Spannungserzeugung, die zur Auflösung drängt, verstärkt. In Takt 14 setzt die
Therapeutin mit dem Oktavklang ‘e’, den sie im Ambitus von drei Oktaven erklingen
läßt, noch einmal leise beginnend (p) zu einer ‘Übergangssituation’ an. Der Oktavklang
‘e’ hat hier deutlich dominantische Funktion.

In alternierendem Wechsel mit der Therapeutin läßt der Patient seine Vorschlagtöne
(diesesmal von oben ansetzend) erklingen und tritt in die sich allmählich entwickelnde
Steigerung (Tempo, Lautstärke) mit ein.

399
Ep.13, T 13-14

13

64 Œ …¿ ¿ … ¿ …¿ … ¿
Nacheinander
Œ… Œ …¿ Œ …¿ Œ …¿ 9
P.
- 24 p ¿ 4
œœ ˙ œ √
6 œ 4 œ œ Œœ Œœ Œ 9
& 4 # ˙˙ œœ ˙˙ œœ 2 œ Œ œ œ œ 4
Th. rit. pœ œ œ cresc.
œ
?6 4 9
4 ∑ 2 œ Œ œ Œœ Œœ Œ 4

Die Takte 16 und 17 verdeutlichen, daß der Patient beim Höhepunkt der Steigerung
zunächst stärker beschleunigt (stretto) und sich dadurch von der Therapeutin löst, aber
im anschließenden ritardierenden Spiel (T 17) die vorherige Steigerung bewußt simultan
zur Therapeutin im Decrescendo auslaufen läßt und zur Pause führt. Diese bildet eine
Zäsur. Ihre Bedeutung liegt in der inneren Klärung, die für den Patienten die Einstellung
auf sich selbst in einer neuen Form der Ausdrucksweise ermöglicht.

Ep. 13, T 16-17

16 Auseinander Miteinander
64 …¿ … ¿ … ¿ …¿ …¿ …¿ 4 …¿ … ¿ … ¿ …¿ …¿ … ¿ Œ
2 ritard.
P.
π
- - - -
stretto

œ œ œ œ œ 4 œ œ œ œ œ ˙ Œ
& 45 œ œ œ œ œ 2 œ œ œ œ œ ˙
Th. -œ -œ -œ -œ œ œ œ œ œ œπ
ritard.
˙
? 45 œ œ œ œ œ 24 œ œ œ œ œ ˙ Œ

Entschlußkraft, Selbstfindung

Der innere Klärungsprozeß ruft die Kategorie Entschlußkraft hervor. In diesem Fall
führt ihn diese zur Selbstfindung, denn für ihn ist es klar, wie es weitergeht, das heißt mit
welcher Ausdrucksweise er sich definieren möchte. Diese besteht aus einer melodischen
Figur mit Wechseltonmotivik (Terzklang), die er abwärts führt. Dabei definiert er
ebenso die Taktform (4/4), die zum erstenmal klar hervortritt wie auch das forsche
Tempo und die kräftige Tongebung; jeder Ton wird von ihm präzise artikuliert. Die
Tatsache, daß er seine melodische Figur mehrmals wiederholt zeigt der Therapeutin, daß

400
er die neue Ausdrucksweise nicht nur für sich selber bestimmt, sondern auch der
Therapeutin verständlich machen will. Mit seiner neuen melodischen Figur führt er das
Spiel an und bestimmt den Ausdruck des weiteren Verlaufs der Improvisation

Die klare melodische Figur wird von der Therapeutin mit nachschlagenden Oktaven auf
dem Grundton ‘a’ im Ambitus von vier Oktaven mit kurz angeschlagener Artikulation
(staccato) begleitet.

Ep. 13, T 18-19

18
¿ ¿ ¿¿¿¿¿ Œ ¿
P.
C f ¿ √¿ ¿ Œ
. .
œ œ œ. œ.
4 Œ œ Œ œ Œ œ Œ œ Œ
&4
f
œ. Œ œ. .
Th.

? 44 ≈ œ Œ Œ œœ Œ œœ
œ œ œ
J

Welche Bedeutung hat Episode 13?

Diese Episode macht den Prozess einer Beziehung deutlich, die den Patienten
schließlich zur Selbstfindung führt. Die Initiative für diesen Prozeß der
Beziehungsfindung geht von dem Patienten selbst aus indem er die dialogische und
simultane Spielweise hervorruft und für sich nutzt. Die in dem dialogischen Abschnitt
auftretenden Asymmetrien sind durch die häufigen Taktwechsel und Wechsel im
Metrum bedingt. Beide sind ambivalent und spielen in der intermusikalischen
Beziehung keine Rolle. Im Mittelpunkt dieser steht der ‘Tonfall’ (klanglich-melodische
Figuren ), der von beiden, Patient und Therapeutin in freier Manier ausgetauscht und
imitiert wird. Hier drängt sich der Vergleich mit der freien Imitation auf, die eine Phrase,
Figur oder ein Motiv auf die unterschiedlichste Weise, z.B. in Gegenbewegung,
Umkehrug Vergrößerung oder Verkleinerung nachahmen kann. Tatsächlich sind auch
einige dieser musikalischen Prinzipien in dieser und der vorangegangenen Episode
erkennbar (Ep. 12 Umkehrung, Ep. 13 Gegenbewegung). Die Bedeutung der Imitaton
erschließt sich hier aber im wesentlichen im Kontext der intra - und intermusikalischen
Beziehung. Im Prozess der Nachahmung sind Patient und Therapeutin ganz auf die
gegenüberstehende Person eingestellt; sie wandeln quasi in den Spuren des anderen und
nehmen seine charakteristische Merkmale in ihr Spiel auf. In diesem Prozess des
Nachahmens, Angleichens und des Sich-Spiegelns liegt das Potential für die

401
Entwicklung neuer, individueller Ausdrucksmuster. An dieser Stelle sei noch einmal an
den entwicklungsmäßigen Wandel von Imitation zur Assimilation bis hin zur Innovation
erinnert, der besonders im Bereich des Jazz von vielen Musikern in ihrer eigenen
Entwicklung als bedeutsam erlebt wird (vgl. Kapitel 3, Abschnitt ‘Improvisation als
Kernpunkt therapeutischen Handelns’).

Das frühzeitige Eingreifen des Patienten in Verbindung mit seiner dynamischen


Gestaltung (decrescendo) (T 12) deutet darauf hin, daß bei ihm eine innere Vorbereitung
zu einem Wechsel stattfgefunden hat. Diese innere Einstellung führt ihn in Takt 13 zu
einer gemeinsam mit der Therapeutin gestalteten Überleitungsphase (Assimilation).
Innerhalb dieser offenen Phase (T 13-17) entsteht eine dichte Ton-für-Ton-Beziehung,
die der Patient über das Stretto (T 16) in eine simultane Beziehung umwandelt und
schließlich zur Pause führt. Aus dem ‘Nacheinander’ wird über das kurze
‘Auseinander’ ein gemeinsames ‘Miteinander’. Die gemeinsam getragene Pause bildet
das Ende dieser offenen Überleitungsphase und gleichzeitig den Beginn für die
Entstehung von etwas ‘Neuem’. Dieses ‘Neue’ nimmt der Patient buchstäblich in die
eigene Hand. Hier zeigt sich seine Entscheidung für Klarheit, Unmißverständlichkeit,
Eindeutigkeit, Offenheit und Bestimmtheit, die er in Form einer melodischen Figur zum
Ausdruck bringt (Innovation). Die Klarheit erscheint nicht nur in seinem
innermusikalischen Bezug sondern auch in der Beziehung zur Therapeutin, die sich nun
durch seine Führungsübernahme und Gestaltung des weiteren Verlaufs der
Improvisation definiert.

In der Spalte ‘Persönliche Bemerkungen’ hat die Therapeutin hierzu vermerkt: “Ich
habe das Gefühl, daß er in Takt 14 noch nicht bereit ist, seiner inneren Stimme zu folgen
- vielleicht hat er sie noch nicht wahrgenommen, sein Thema noch nicht gespürt. Er muß
sich erst in einer Steigerung erleben, voll und ganz und die Beziehung erspüren ehe er
selbstbewußt und unabhängig den weiteren Weg gestaltet.”

Musikalischer Integrations - und Innovationsprozess (Ep. 12, 13, 14, 15,


16)

EPISODE 14

Kontext: Episode vierzehn ist im weiteren Verlauf der zweiten Improvisation der dritten
Sitzung entstanden. Sie beginnt nachdem der Patient eine neue rhythmische Bewegung
eingeführt hat.

402
q»¡™º Moderato

Patient (Tempelblocks) C ‰. ¿ Œ ¿.¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿
f
. . . . .
.
& C ‰ j̊ œ Œ Œ Œ Œ
œ œœ œœ . œ œœ . œ œœ . œ œœ . œ
p œ œ œ œ
Therapeutin (Klavier)

?C ∑ œ œ œ œ
œ œ œ œ
3

P. ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿

. . . . .
&Œ Œ
œœ . œ
Œ Œ Œ Œ Œ
œœ . œ #œ œœ . œ œœ . œ œœ . œ
œ œ œ œ
Th.

? œ Œ œ œ œ
œ œ œ œ œ
œ œ
6 j j̊
¿ ‰ Œ ¿ ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ‰. ¿ ¿
P. ¿. ¿ ¿ ‰. ¿
. . . . .
&Œ Œ Œ Œ ‰. j̊ Œ
œœ . œ œœ . œ œœ . œ œ œ œ œœ
œ œ œ # œœ # œœ œ œ
Th. J J
? œ œ œ œ œ Œ
œ œ œ œ. œ
œ œ

j
¿ ‰ . ¿j̊ ¿ ‰ ‰ . ¿ ¿ ‰ ‰ . ¿ ¿ ‰ ‰ . ¿ ¿ ‰ ‰ . ¿ ¿ ‰ ¿ Ó T
9

P.

& Œ œ. œ Œ Œ Œ Œ
œœ œ
# œœ # ˙˙˙ œœ œœœ . œ # œœœ ˙˙
˙ T
Th.
œ
? œ Œ ˙
œ œ œ œ. œ œ œ. œ œ œ
œ œ

Die Kategorien dieser Episode sind Enschlußkraft, Transformation und Selbstfindung.

Entschlußkraft

Die Kategorie Entschlußkraft kann an Hand von zwei Beispielen nachgewiesen werden.
Gleich zu Anfang der Episode greift der Patient auf sein uns bekanntes typisches

403
Vorschlagmotiv zurück und hebt es, indem er es klanglich differenzierend auf dem
ersten und dritten Taktteil erscheinen läßt, in effektvoller Weise hervor. Mit der
aufwärtsgerichteten Tonhöhenrichtung verbindet sich seine Klarheit in der Markierung
des Metrums, der Artikulation und des kräftig gewählten Ausdrucks.

Die Therapeutin unterstützt den Patienten mit einer, in gleichmäßigen Vierteln


ablaufenden Baßbegleitung, die zwischen Grundton und Quinte wechselt (F-Dur). Das
Vorschlagmotiv erscheint in ihrer Oberstimme in Anbindung an den F-Dur-Dreiklang.
Indem es jedoch abwärts zur Baßstimme geführt wird zeigt es sich bei Übernahme der
gleichen Artikulationsweise in seiner Umkehrung zur Stimme des Patienten.

Ep. 14, T 1

q»¡™º Moderato


C ‰. ¿ Œ ¿.¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰
f
P.

. . .
.
& C ‰ œj̊ œ œ Œ Œ Œ
œ œœœ . œ œœœ . œ
Th. p
?C ∑ œ œ
œ œ œ

Die nächsten beiden Takte verdeutlichen, daß sich die Initiative des Patienten für die
Gestaltungsideen seines Vorschlagmotivs auch auf die Beziehung zur Therapeutin
richtet. Die sich in der Stimme der Therapeutin abspielende harmonische Rückung nach
E-Dur veranlaßt ihn, sein Spiel klanglich zu modifizieren (Wechsel zu höheren
Klangkörpern) und die sich aus dieser harmonischen Konstellation ergebene
Phrasierung (Viertelpause) mitzugestalten, indem er die Zäsur ‘hörbar’ werden läßt. Die
musikalische Einheit umfaßt drei Takte.

404
Ep. 14, T 3-4

P. ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿ ¿ ‰ ‰. ¿

. . .
&Œ Œ œœ . œ Œ Œ Œ
œœœ . œ #œ œœœ . œ
Th.

? œ œ Œ œ
œ œ œ œ
Transformation

Die Kategorie Transformation zeigt in dem folgenden Beispiel (T 6-8) die Fähigkeit
des Patienten, sein Vorschlagmotiv so zu verwandeln, daß es einen neuen
Zusammenhang bildet. Dieses ruft er durch einen Metrumwechsel und durch die
Modifizierung seiner rhythmischen Gestalt hervor. In Takt 6 betont er die dritte Zählzeit
als Grundschlagviertel und zieht somit sein Vorschlagmotiv auf die vierte Zählzeit vor.
In Verbindung damit variiert und erweitert er seinen Rhythmus, so daß sich eine neue
rhythmisch-klangliche Gestalt herausbildet. Die musikalische Einheit besteht hier aus
vier Takten.

Ep. 14, T 6-8

6 j
¿ ‰ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰. ¿ ¿
P. ¿. ¿ ¿ ¿ ¿ Œ ‰.

. . . . .
&Œ Œ Œ Œ œ œ ‰ . œj̊ Œ œœ
œœœ . œ œœœ . œ .
œœœ œ # œœ # œœ œ œ
Th. J J
? œ œ œ œ œ Œ œ.
œ œ œ œ œ

Selbstfindung

Der Patient greift auf seinen Ausdruck der Anfangstakte zurück und erlebt sich wieder
in seiner Ausgangsbewegung. Dabei markiert er die erste und dritte Zählzeit und formt

405
mit seinen Klangwechseln die Musik entsprechend der dreitaktigen Anlage (T 11). Die
Art seiner Gestaltung führt er mit einer Selbstverständlichkeit durch, die deutlich macht,
daß er zunehmend sicherer geworden ist, in der Beziehung zur Therapeutin seinen
eigenen Ausdruck zu finden.

Ep. 14, T 9-11

¿ . j̊ ¿ ‰ . j̊ ¿ ‰ ‰ . ¿ ‰ ‰ . ¿ ‰ ‰ . ¿ ‰ ‰ . ¿j ‰ ¿ Ó
¿ ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿


œ Œ Œ œ. œ Œ œ Œ Œ œ. œŒ œ ˙
œœ œœ œœ
œ œ # œœ # ˙˙˙ œœœ # œœ ˙˙
J J
. œ Œ œ. œ œ. œ œ ˙
œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ

Welche Bedeutung hat Episode 14?

Diese Episode verdeutlicht auf konzentrierte Weise, wie der Patient seine Entschlußkraft
positiv für die Transformation des musikalischen Materials umsetzt und seine
Selbstfindung in der Bestätigung seiner ursprünglichen Ausdrucksgestalt etablieren
kann. Als zugrundeliegendes Gestaltungselement dient hier das Vorschlagmotiv, das
sich im Verlauf der theapeutischen Behandlungsphase als charakteristisches Spielelment
des Patienten herausgebildet hat. In Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext ist es in den
einzelnen Episoden unterschiedlich in Erscheinung getreten. Das läßt sich an Hand
seiner Notationsformen ablesen, von denen hier einige Beispiele aufgeführt werden:

Ep. 3, T 25 Ep. 4, T 5 Ep. 6, T 2

˚ j̊ -
≈ ¿j̊ ¿j
. ‰. ¿ ¿ …¿ Ó
P

Ep. 9, T 1-2 Ep. 13, T 13 Ep. 14, T 1-2

j̊ Œ …¿
‰. ¿ ¿ ‰. ¿ ¿ ‰

406
Während sein frühzeitiges Erscheinen teilweise isoliert auftritt und eine heftige,
übertriebene und überformte Wirkung des ‘Kurz-lang-Effekts’ zeigt ist sein späteres
Erscheinungsbild stärker an den eigenen Ausdruck gebunden, der sich mit dem Sinn der
jeweiligen improvisierten Musik verbindet. Hier wirken seine Vorschlagmotive klarer,
deutlich artikulierter und zeigen ihre Bedeutung durch ihre Integration in den
musikalisch-thematischen Zusammenhang.

In Episode 14 bringt der Patient sein Vorschlagmotiv in einen neuen musikalischen


Zusammenhang. Mit dieser Möglichkeit der musikalischen Transformation hat er auch
Einfluß auf sein Innenleben ausgeübt. Er steht nicht mehr unter ‘Druck’ aktiv sein zu
müssen, sondern führt sein Spiel in ruhiger, besonnerner, ausgewogener Weise durch
wobei Artikulation und Form bewußt gestaltet werden.

Die Therapeutin hat sich in der Indexspalte ‘Persönliche Bemerkungen’ hierzu notiert:
“Der Patient wirkt innerlich balanciert. Er kann auf etwas zurückgreifen, das ihn
innerlich gefestigter erscheinen läßt. Mir drängt sich der Eindruck von Beständigkeit
und Stabilität auf.”

Musikalischer Integrations - und Innovationsprozess ( Ep. 12, 13, 14, 15,


16)

EPISODE 15:

Kontext: Episode 15 ist Bestandteil der zweiten Improvisation der dritten Sitzung.
Zwischen ihrem Beginn und dem Ende der vorangegangenen Episode 14 erstreckt sich
ein kurzer Abscnitt im kräftigen Forte-Ausdruck, der das charakteristische
Vorschlagmotiv aus Episode 14 weiter verwendet.

407
q»¡¡º
˚
Moderato
˚ j̊
‰ . . ¿
j̊ ¿ ¿ . . ¿ ¿ ¿ ¿ ‰ . . ¿ ¿ ¿ ¿ ‰ . ¿j̊ ¿ ¿ ¿ Œ
Patient (Tempelblocks)
C ƒ
ritard.
˚

& C ‰ . .œ œ œ . .œ # œ œ . . ˙ ∑ ∑
ƒ œ . . ritard.
. p
œ œ . . # œ œ œ œ . œ œ œ œ . œj
Therapeutin (Klavier)

? C ‰ . .œ œ #œ œ . . ˙
J œ œ œ œ œ. œ œ œ œ. œ

J
4
q»§º Larghetto

P. ‰. ¿ ¿. ≈ ‰. ¿ ¿. ≈ ‰. ¿ ¿. ≈ ‰. ¿ ¿. ≈ ‰. ¿ ¿. ≈ ‰. ¿ ¿. ≈

& ∑ ∑ ∑
- j
œ œ . œ œœ .. œ
Th.

?œ œ. œ œ œ. œ œ œ. œ œ
œ œ. œ œ œ . œ œœ œ. œ œ
œ. œ œ. œ œ œ. œ J

q»¶º
j j
‰ . ¿j̊ ¿ ¿ Œ
7

‰. ¿ ¿. ≈ Ó 3 ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿ ‰ Œ
P.
p 4
∑ 3 ∑
& 4 ˙˙ œœ . œ ˙˙ œœ
ritard.
Th.
˙ œ œ ˙ œ ˙˙ œœ ˙˙
?˙ œ œ 34 ˙ œ # œœ
π
11 -
¿¿¿¿¿¿ C¿ Œ ‰¿¿¿ 3¿ ¿ ¿ ¿ Œ ∑
P.
ritard. 4 ritard.
C 3
&˙ œœ 4
˙ œœœœ˙ ˙ œ œ œ œ œ œ
Th.
T
? ˙˙ œœ ˙˙ œœ
C ˙˙ Ó 3
4 ∑ J

Auch in dieser Episode folgen die Kategorien Entschlußkraft, Transformation und


Selbstfindung aufeinander. Gegen Ende der Episode überdecken sich Transformation
und Selbstfindung.

408
Entschlußkraft

In dem ersten Beispiel (T 1-2) äußert sich die Entschlußkraft des Patienten in Form
seiner scharf punktierten Vorschlagmotive, die er in fortissimo simultan zur Therapeutin
zum Ausdruck bringt. Es ist zu vermuten, daß die in Oktaven abwärts geführten
Dreiklangsbrechungen (E-Dur) im Spiel der Therapeutin, die das Ende des vorherigen
kräftigen Abschnitts ankündigen, den Patienten veranlaßt haben, in eine Viertelbewegung
überzugehen.

Ep. 15, T 1-2

q»¡¡º Moderato

˚j̊
¿..
P. C ‰ . .¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰ . .
ƒ
˚j̊
& C ‰ . .œ œ œ . .œ # œ œ . . ˙
ƒ œ
? C ‰ . . œJ œ œ . . œ # œ œ . . œ ˙
Th.



Das zweite Beispiel (T 2-3) für diese Kategorie schließt sich direkt an. Die abwärts
geführten Dreiklangsbrechungen in der Stimme der Therapeutin laufen nun im
Baßregister auf den Tönen ‘Gis’ und ‘E’ ritardierend aus. Das wiederholende Element ,
bestehend aus den kurz angestoßenen Oktavklängen und die schwächer werdende
Dynamik lassen den Übergang in einen neuen Abschnitt mit unterschiedlicher
Expressivität besonders hörbar werden.

Der Patient entscheidet sich für den Wechsel in eine neue Ausdrucksform, denn er
konzentriert sein Spiel auf eine Viertelbewegung, die er analog zum Klangregister und
zur Tonhöhenrichtung der Therapeutin auf die tieferen Klangkörper verlegt. Dabei
ritardiert und decrescendiert er.

409
Ep. 15, T 2-3

˚j̊

‰.. ¿ ¿ ¿ ¿ ‰. ¿ ¿ ¿ ¿ Œ
ritard.

∑ ∑
. . ritard.
. p
# œ œ œ œ . œ œ œ œ . œj
œ œ œ œ. œ œ œ œ. œ
J
In dem letzten Beispiel zur Kategorie Entschlußkraft (T 4-5) geht der Patient auf das
dialogische Angebot der Therapeutin ein und reduziert sich dabei ganz auf ein einzelnes
Element, die Gestaltung der Tonhöhenstruktur. In einem langsamen Larghetto-Tempo
imitiert er die Auf - und Abwärtsbewegung der Therapeutin mit einem zarten, ruhigen
und subtilen Ausdruck. Er zeichnet quasi die Linienführung ihrer Diastematik nach.

Als Grundlage für die Gestaltung des musikalischen Dialogs wählt die Therapeutin das
Vorschlagmotiv des Patienten. Durch die Wahl des langsamen Tempos erscheint es
rhythmisch vergrößert. Mit ihm gestaltet sie im Baßregister die Tonhöhenstruktur. Es
werden Sekund -, Quart -, und Quintintervalle melodisch geformt: von E nach H
ansteigend, über den Tritonus (F) wieder nach E abfallend, um wieder zum H
anzusteigen. Die Klangreduzierung auf Oktaven hebt das Element der
Tonhöhenrichtung noch stärker in den Vordergrund.

Ep. 15, T 4-5

q»§º Larghetto
4

P. ‰. ¿ ¿. ≈ ‰. ¿ ¿. ≈ ‰. ¿ ¿. ≈ ‰. ¿ ¿.

& ∑ ∑
Th.

?œ œ. œ œ œ. œ œ œ . œ œœ œ.
œ œ. œ œ œ. œ œ.
œ œ. œ

410
Transformation

Dieser, sich in feiner Abfolge über ungefähr vier Takte erstreckende imitatorische
Austausch der Tonhöhenelemente erhält eine Wendung in Takt sieben. Hier läßt die
Therapeutin den melodisch geformten Abschnitt auf dem Oktavklang E ausklingen.
Gleichzeitig bildet sie mit demselben Oktavklang in sehr leiser Dynamik ein auftaktiges
Ostinato, das dem Patienten Raum für andere musikalische Äußerungen gibt.

Der Patient führt ein neues Ausdruckselement ein, das sich in Form einer melodischen
Figur mit “sprechendem” Charakter darstellt. Die Hervorhebung der
Tonwiederholungen mit dem angehängten Vorschlagmotiv, das jetzt eine melodische
Wandlung erfahren hat sowie die taktungebundene Spielweise, die die Länge der
Phrasen variabel hält, heben das rhetorische Element dieser Spielform hervor.

Auf dieses neue Ausdruckselement in der Stimme des Patienten geht die Therapeutin
ein. Sie übernimmt in ihrer Oberstimme mit dem Wechsel zum terzgeschichteten
Septimenakkord das melodische Motiv.

Ep. 15, T 7-9

q»¶º
7
j j
P. ‰. ¿ ¿. ≈ Ó 34 ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ . ¿ ¿ ‰ Œ ‰.
p

& ∑ 34 ∑ ˙˙ œœ . œ ˙˙
ritard.
Th.
˙ œ œ ˙ œ
?˙ œ œ 34 ˙ œ ˙˙ œœ ˙˙
π
Transformation, Selbstfindung

In dem letzten Beispiel ist wieder der dichte Übergang von der einen in die andere
Kategorie zu beobachten. Im Prozeß der inneren Transformation erlebt sich der Patient
in einer noch ungewohnten Ausdrucksweise, die ihn sein ‘Selbst’ bewußter als ‘neu’
erfahren läßt. In Takt 10 greift der Patient auf seine melodische Figur von Takt neun
zurück und läßt sie diesesmal in Aufwärtsrichtung erklingen. Damit steht es am Anfang
einer sich weiter bildenden melodischen Figur, die bis Takt 12 reicht. In diesen Takten
zeigt sich nicht nur deutlich sein innermusikalischer Bezug, sondern auch der zur
Therapeutin.

411
Die Therapeutin bleibt bei ihrer ostinaten Form der harmonischen Begleitung. Auf das
aufwärts geführte melodische Motiv des Patienten (T 10) reagiert sie mit wechselnder
harmonischer Klangfarbe (üb. Dreiklang auf E). Über dieser ostinaten Harmonie läßt
der Patient seine melodische Figur in einem gleichmäßigen von oben nach unten
führenden, ritardierenden Wechseltonmotiv, das in Takt zwölf mit einer Viertelnote
endet, ausklingen.

Mit der Viertelnote des Patienten führt die Therapeutin das Spiel in entsprechender
Weise fort, indem sie ihre Tonfigur (T 12) mit einer großen Terz aufwärts (c1/e1) und
über das repetierende e1 wieder zum c1 zurückführen läßt. Auch hier wird der letzte Ton
(c1), der als klanglich verbindendes Element den nächsten Einwurf des Patienten stützt,
gehalten.

Der Patient führt die Tonfigur der Therapeutin in freier Imitation weiter indem auch er
durch seine ritardierenden Tonrepetitionen das rhetorische Element dieser
komplementär-dialogischen Spielweise hervorhebt.

Ep. 15, T 10-14

-

10

¿
‰. ¿ ¿ Œ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ C ¿ Œ ‰ ¿ ¿ ¿ 3 ¿ ¿ ¿ ¿ Œ
P.
4 ∑
ritard. ritard.

&˙ C œœœ 34
˙ œœ ˙˙ œœ œ ˙ ˙ œ œ œ œ œ œ
Th. T
? ˙˙ # œœ ˙˙ œœ C ˙˙ Ó 3 ∑ ˙˙ œœ
4 J

Welche Bedeutung hat Episode 15?

In dieser Episode verstärkt sich der bereits in der vorangegangenen Episode eingetretene
Prozeß der Transformation und sein Übergang, beziehungsweise seine Wende zur
Kategorie Selbstfindung. Dieses vollzieht sich innerhalb zweier Abschnitte wobei der
Impuls für die Gestaltung des ersten Abschnitts (T 4-7) zunächst von der Therapeutin
ausgeht während der zweite Abschnitt (T 8-14) von dem Patienten angeführt wird.

Im ersten Abschnitt zeigt sich das Vorschlagmotiv des Patienten in einem völlig anderen
Ausdruck. Im langsamen Larghetto dient es ihm als Substanz seines inneren
expressiven Ausdrucks über den er mit der Therapeutin dialogisch kommunizieren
kann. Somit erhält das auf diese Weise exponierte Motiv Bedeutung: mit seiner im
Vordergrund stehenden Tonhöhengestaltung erhält es ‘melodische’ Qualiät und kommt

412
damit dem Patienten entgegen, sich selbst in einer zarten, subtilen, freien und
expressiven Ausdrucksweise zu erleben.

Auf Grundlage dieses Ausdruckserlebnisses erweitert der Patient den Gehalt seiner
bisherigen Ausdrucksmuster indem er umfassendere melodische Figuren formt, die das
Vorschlagmotiv integrieren (T 8-14). Auch hier geht es dem Patienten darum, seinen
inneren Empfindungen zu lauschen und sie zu artikulieren. Es scheint, daß ihm seine
momentane besondere Ausdrucksweise, die er in freier Imitation (Umkehrung,
Vergrößerung, Erweiterung) zum musikalischen Kontext, also zur Therapeutin in
Beziehung setzt, wichtig ist. Das offenbart sich an der Tatsache, wie sorgfältig behutsam
und nuanciert er bei der Ausführung seines Spiels vorgeht. Dabei ist sein Spiel durch
seinen innermusikalischen Kontakt gehalten. Ohne an ein bestimmtes Maß gebunden zu
sein ist es ihm möglich, frei aus dem Moment heraus zu gestalten und sich von seinem
inneren Ausdrucksbedürfnis leiten zu lassen. Auch hier können wir beobachten, daß ein
bewußteres ‘Ich’ zum Ausdruck gebracht wird, das zunehmend Vertrauen in die eigenen
Gefühlen und die therapeutische Situation setzt.

Musikalischer Integrations - und Innovationsprozess (Ep. 12, 13, 14, 15,


16)

EPISODE 16:

Kontext: Episode 16 gehört als letztes Beispiel zu der Bündelung von fünf Episoden
(Ep. 12-16), das aus der Cluster-Analyse der Grid-Elemente hervorgegangen ist. Somit
gehört auch sie zu der letzten Phase des Therapieverlaufs, in der der Patient in einen
musikalischen Integrations - und Innovationsprozess übergegangen ist.

Episode 16 stammt aus der dritten Sitzung und beginnt kurz nach Beginn der vierten
Improvisation. Der von dem Patienten gestaltete Anfang der vierten Improvisation ist
sehr offen gehalten mit einer Konzentration auf das klangliche Element (Tremolo,
Dynamik, Rubato).

413
1

¿
Patient (Tempelblocks)
C ∏ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ‰ ¿¿Œ
#œ œ œ œ #œ #œ œ œ œ
& C ## œ˙˙ œ œ˙˙ œ # ˙˙ œ œ˙˙ œ
Therapeutin (Klavier) π
?C ˙ ˙ ˙ ˙
°
3 - j j - j-
¿ ¿ ¿ ¿ ‰ ¿¿ Œ ‰ ¿ ¿ ¿
‰ ¿ Œ ‰ ¿ ‰ ¿¿
p P
P.

- F
œ #œ ˙ œ œ #œ
# œ œ œ # œ œ œ œ œ # œ
& # ˙˙ œ œœœ .. œ œœ # ˙˙ œ œ œœ .. œ œ ‰ œ œ œ œ œ
J J
œ ˙ Ḟ ˙
n
Th.

? ˙ œ . ˙
J

- - -
6
- j j¿ j¿
P. ‰¿‰¿¿ Œ Œ ‰¿ ¿ Œ Œ ‰¿ ¿Œ
Œ ‰¿ ¿Œ
√ -
- #œ ˙
# ˙ œ œ ˙ œœ˙ œ
& # ˙‰ œ œ œ œœ œ œœ œ ‰ œJ œ œ œ œ œ ‰œœœœœœœ œœœ œœœ
nœ œ
Th.
˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙
? ∑

- j
10
j j
Œ Œ ‰ ¿ ¿ ¿ Œ
‰ ¿ ¿ ¿ Œ Œ ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰
-
P.
- -œ
œ #œ ˙ œ œ ˙ œ # #œ ˙ œ
œ
&œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ
n
Th.

? ∑ ∑ ∑

414
13
j j- j j
P. Œ ‰ ¿ ¿ ¿ Œ Œ ‰ ¿ ¿ ¿ Œ Œ ‰¿ ¿ ¿¿ Œ ‰ ¿ ¿ Œ
- - j
#œ #œ ˙ œ # œ #œ ˙ œ œ # œ ˙ œ
œ˙ œ ‰
& Œ ‰ œJ ˙
-
œ ˙-
Th.

? œ ˙ œ ˙ œ œ œ œ œ

- -
‰ ¿j ¿ Ó
17

¿ ¿ ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰ ¿ ¿ ¿ ‰ ¿ ¿ ¿ Ó Œ
P
P.
- -
#œ #œ ˙ √ #-œ œ
œ #œ ˙ œ œ ˙ œ #˙ ˙
&
Th. T
? ˙ œ œ ˙ œ œ œ œ ˙ ˙

Im Verlauf dieser Episode bilden sich die Kategorien Entschlußkraft, Transformation


und Selbstfindung heraus. Diesen geht ein kurzes Beispiel der Kategorie Orientierung
voraus.

Orientierung

Das erste Beispiel (T 1-2) zeigt die rhythmisch-klangliche Orientierung des Patienten
durch seine Einbeziehung der verschiedenen Klangkörper. Auffällig ist dabei seine
Vorgehensweise, die sich in zurückhaltender Dynamik und in der Verwendung der
musikalischen Umkehrung des Vorschlagmotivs äußert.

Die Therapeutin unterstützt den Patienten mit einem metrisch-klanglichen Boden im alla
breve Takt. Die Harmonien sind mit der Einbeziehung des großen Septimenakkords auf
dem Ton ‘D’, mit Quint im Baß, sehr offen gehalten. Ein durchgehendes Achtelmetrum
breitet sich in der Oberstimme aus, die gleichzeitig die melodischen Intervalle der Quart
und der großen Sexte hervorhebt. Der irisierende Wirkung des Klanggrunds wird durch
die Verwendung des Legatos und Pedals verstärkt.

415
Ep. 16, T 1-2

P.
C ∏ ¿ ¿ ¿ ¿ ¿. ¿ ¿. ¿ ¿ ‰ ¿¿Œ

# œ #œ œ œ œ #œ #œ œ œ œ
C
& # ˙˙ œ œ
˙˙ œ # ˙˙ œ œ
˙˙ œ
Th. π
?C ˙ ˙ ˙ ˙
°
Entschlußkraft

Die Takte 4 und 5 verdeutlichen, daß sich der Patient für eine bestimmte Spielweise
entschieden hat, die ihn bewußt auf sein Vorschlagmotiv zurückgreifen läßt und sich
durch die Hervorhebung der dritten Zählzeit von der konstanten Achtelbewegung der
Therapeutin abhebt. Auch hier modifiziert er sein Spiel mit Hilfe der Umkehrung.

In der Stimme der Therapeutin setzt sich das charakteristische Element der
Achtelbegleitfiguren weiter fort und wird in Takt 5 mit der Hinzufügung einer
Oberstimme, die den Ton a2 hervorhebt, ergänzt.

Ep. 16, T 4-5

4
j - j j-
P. Œ ‰ ¿ ¿ ‰ ¿ Œ ‰ ¿ ¿ ‰ ¿¿
P - F
˙ œ œ #œ
# œ œ œ œ œ # œ
& # ˙˙ œ œ œœ .. œ œ ‰ œ œ œ œ œ #
J
Th.
Ḟ ˙
? ˙ ˙

Transformation

Die Einbeziehung der melodischen Oberstimme bildet zusammen mit dem


harmonischen Verlauf größere musikalische Zusammenhänge. Diese weisen nicht nur
innerhalb der Stimme der Therapeutin auf die Verknüpfung musikalischer Elemente hin,
sondern sind auch für die Prozesse, die sich in der Stimme des Patienten innerhalb der
Kategorie Transformation ergeben, ausschlaggebend. An Hand der Takte fünf bis

416
zwölf wird ein Beispiel für die sich in der Stimme der Therapeutin abzeichnenden
umfassenderen Zusammenhänge gegeben:

Takte 5 6 7 8 9 10 11 12
Spitzen a2, fis2 cis2 fis3cis3 a2 e2, h2 h2,fis2 e2, h2 cis3fis2
-töne
der
Melodi
e-linie
Harmo- D-D7< _ _ _ C-D7< D-D6-5 C-D7< D-D7<
niefolge
Phrasen 2 + 2 + 2 + 2
-aufbau
4 + 4
Musika
-lische 8
Einheit

Der Patient bezieht sich in den Takten sieben und acht auf die im hohen Register
exponierten Melodietöne der Therapeutin, die er mit seinem Vorschlagmotiv melodisch
ergänzt. Dabei erweitert er sein Motiv um ein Achtel.

In der Stimme der Therapeutin werden die ursprünglichen Achtelbegleitfiguren in


nachschlagende Tonwiederholungen verwandelt, die über dem ostinaten Baßton ‘d1’
erklingen.

Ep. 16, T 7-8

-
7
j ¿- j
P. Œ ‰ ¿ Œ Œ ‰ ¿ ¿ ¿ Œ

#˙ œ œ #œ ˙ ˙
& ‰ œJ œ œ œ œ œ ‰ œ œ œ œ œ œ œ
n
Th.
˙ ˙ ˙ ˙
?

In den folgenden Takten behält der Patient, entsprechend der wiederholenden Struktur
der Improvisation, seine Spielweise bei und variiert lediglich die klangliche
Komponente. In Takt 12 wird deutlich, daß er die Form antizipiert und daraufhin sein
melodisches Motiv erneut variiert, um mit ihm den vorangegangenen Abschnitt (T 5-12)
abzurunden. Diese Schlußwendung ist abwärts gerichtet und endet auf dem tiefsten Ton.

417
Einen anderen Bezug können wir zur Tonhöhenrichtung entdecken, denn mit seiner
zunächst aufwärts strebenden melodischen Schlußwendung reagiert er in Umkehrung
zur deutlich abwärts führenden melodischen Quint der Therapeutin.

Ep. 16, T 12

j
Œ ‰ ¿ ¿ ¿ ¿ ‰
#-œ # ˙
œ œ
œ œ œ œ œ œ œ
œ

Transformation, Selbstfindung

Bis zum Ende dieser Episode wiederholt sich auf ähnliche Weise die formale Anlage der
Improvisation, die für die Ausprägung beider Kategorien mit ausschlaggebend ist. In
dem folgenden Beispiel (T 23-16) dominiert in der Stimme der Therapeutin die
‘fallende’ melodische Quint (cis3-fis2), stets hervorgehoben und immer auf der ersten
Zählzeit erscheinend. In Gegenbewegung dazu erscheint die ebenso in Quinten
gehaltene Baßbegleitung.

Im Gegensatz zur Therapeutin erweist sich das melodische Motiv des Patienten als
auftaktig. Imitierend tritt er zur melodischen Stimme der Therapeutin in Beziehung; er
wiederholt mit entsprechender Tonhöhenrichtung, sequenziert, artikuliert und schließt
die viertaktige Einheit in Takt sechzehn ab.

Ep, 16, T 13-16

j-
s. T12
13
j j j
P. Œ ‰ ¿¿Œ
¿ Œ ‰ ¿ ¿ ¿Œ Œ ‰¿¿¿¿ Œ ‰ ¿ Œ ¿
- - j
#œ #œ ˙ # œ œ # œ ˙ œ
œ # œ ˙ œ œ ˙ œ ‰
& Œ ‰ œJ ˙
œ œ - -
Th.

? œ ˙ œ ˙
n˙ œ œ ˙ œ œ

418
In Takt 17 tritt der Patient führend hervor. Simultan zur Therapeutin hebt er erstmals die
erste Zählzeit (Taktbetonung) hervor. Insgesamt wandelt er sein melodisches Motiv zu
einer viertaktigen Einheit um, dabei lassen die Achtelpausen auch das ‘eingebettete’
Vorschlagmotiv erkennen. Mit seiner kontinuierlich fließenden Achtelbewegung (die an
die Achtelbegleitfigur der Anfangstakte erinnert) ruft er einen wellenförmigen Effekt
hervor, der ausgewogen in das Ende dieser Episode führt. Dieses wird vom Patienten
noch bewußter gestaltet indem er, durch die Pause abgehoben, sorgfältig die
Schlußwendung dynamisch-agogisch ausspielt. In der Schlußwendung erkennen wir
sein Vorschlagmotiv, dem hier die Bedeutung einer schlußbildenden Funktion verliehen
wird.

Ep. 16, T 17-20

- -
‰ ¿j ¿ Ó
17

¿ ¿ ‰¿¿¿¿¿ ¿ ¿ ‰¿¿¿‰¿ ¿¿Ó Œ


P
P.
- -
#œ #œ ˙ √ #-œ
œ #œ ˙ œ œœ˙ œ #˙ ˙
&
Th.
T
? ˙ œ œ œ œ œ œ ˙
˙ n˙ ˙

Welche Bedeutung hat Episode 16?

Diese Episode offenbart, daß es dem Patienten möglich ist, in kurzer Zeit eine intra - und
intermusikalische Beziehung herzustellen. Bereits innerhalb weniger Takte orientiert und
organisiert er sich am offenen Klangteppich der Therapeutin. Die leise Spielweise kann
hier als Indiz höchster Aufmerksamkeit betrachtet werden. In seiner eigenen
Gestaltungsweise verhält er sich konsequent und musikalisch sinnvoll. Im Vordergrund
stehen auch hier die Elemente Klang, Tonhöhe und musikalisch-melodisches Motiv, die
er auf vielfältige und spielerische Weise unter Einbeziehung aller Klangkörper variieren,
transformieren und umwandeln kann, so daß ihnen im Verlauf der Improvisation eine
neue Bedeutung zuteil wird. Besonders sichtbar wird dieser Bedeutungswandel an
seinem Vorschlagmotiv, das sich von einem primär rhythmisch effektvoll gehaltenen
Motiv zu einem melodischen Motiv verwandelt hat und schließlich zu einer umfassenden
melodischen Figur wird. Die Art und Weise wie der Patient seine melodischen Motive
im interaktiven Spiel mit der Therapeutin einsetzt zeigt, daß er sie auch als formbildende
Elemente einsetzt. Damit erfährt er sie selbst im momentanen Spielausdruck nicht nur
als Teil des dichten Netzes von Beziehungen und Abhängigkeiten (von sich selbst und

419
der Therapeutin), sondern als Enheit - und Zusammenhang stiftende Elemente höherer
Ordnung, die einen Einfluß auf die Form des Zusammenspiels ausüben. Auf diese
Weise ist es dem Patienten gelungen, sich einen Freiraum für seine eigene Expressivität
zu schaffen.

Das Bemühen um Klarheit ist ein zentraler Aspekt der sich im Spiel des Patienten in den
letzten Episoden (Ep. 12-16) verstärkt durchgesetzt hat. Um dieses erreichen zu können
war es für ihn notwendig, sich reduzieren zu können. Damit hat sich der Patient
ermöglicht, sich bewußter als Selbst in der Zeit zu erfahren, das heißt sich selbst im
Moment des Seins zu hören. Die Erfahrung und allmähliche Formung seiner kreativen
Fähigkeiten in Beziehung zur Therapeutin hat sein Selbstgefühl, Selbstvertrauen, seine
persönliche Integrität und seine Autonomie gefördert.

In ihrer Indexspalte der ‘Persönlichen Bemerkungen’ hat die Therapeutin hierzu


vermerkt:” Der Patient steht sicherer hinter sich, hinter dem, was er und wie er spielt.
Ich habe bei ihm den Eindruck von größerer innerer Balance und Ausgewogenheit.
Auch ein Gespür von Identität.”

Wenn wir insgesamt die Aspekte Form und Expressivität näher in Augenschein nehmen
können wir auch in dieser Studie feststellen, daß die dynamische Form, die im Kontext
der klinischen Improvisation entsteht, mit dem emotionalen Gehalt sehr eng verbunden
ist. Die Qualität dieser Form ergibt sich im wesentlichen aus seiner psychologischen
Funktion: zu kommunizieren, seine Grenzen auszuspüren, sich selbst und in Beziehung
zu einer anderen Person (Therapeutin) zu erforschen, sich auszudrücken, etwas
annehmen oder abweisen, sich behaupten, sich verweigern, sich verstecken, sich dem
anderen überlassen oder etwas Neues wagen und sich selber vertrauen. Dieser Prozess
der inneren und äußeren Formung läßt sich auch an Hand der zweiten Studie aufdecken
und wird im folgenden Kapitel, das die Zusammenhänge zwischen den Episoden und
der Melodie der letzten Sitzung aufzudecken versucht, detaillierter ausgeführt.

420
Kapitel 16
Die Beziehung zwischen den Episoden und der “Abschiedsmelodie”

In diesem Kapitel geht es um die Aufdeckung der Zusammenhänge, die zwischen den
Episoden und der Melodie der letzten Sitzung bestehen. Es wird auch hier versucht, das
Prozeßhafte innerhalb des Verlaufs der Episoden, die als strukturierte Interaktionen in
der Zeit erscheinen, herauszuheben.

In Kapitel 15 konnten die für die Kategorien der Konstrukte relevanten musikalischen
Elemente aufgedeckt und zu den Kategorien der Episoden in Beziehung gesetzt werden.
Damit wurden musikalische Muster hinsichtlich ihrer Bedeutung präzisiert. Zahlreiche
musikalische Beispiele haben die Kategorien Suche, Orientierung, Entschlußkraft,
Transformation und Selbstfindung belegen können. Die Kategorie Suche charakterisiert
sich z. B. unter anderem durch unterschiedliche, aneinandergereihte Motivelemente mit
unklarem, klanglich-metrischen Bezug.

D ER E NTWICKLUNGSVERLAUF DER K ATEGORIEN DER E PISODEN

Zunächst betrachten wir die übergeordnete Form des Therapieverlaufs, die sich aus den
Kategorien der Elemente (Episoden) ergibt. Entsprechend zur Studie 1 wird auch hier
zur Veranschaulichung des Gesamtverlaufs eine graphische Übersicht in der Art einer
“Landkarte” des Therapieverlaufs entworfen (s. Abb.16.1).

Diese “Landkarte” zeigt zunächst den Verlauf von fünf Perioden, die uns aus der
Abbildung 14.4 (Kapitel 14, Abschnitt ‘Kategorien der Episoden’ bekannt sind. Aus
der Grid-Analyse läßt sich zusätzlich erkennen, daß Episode 1 und die Cluster der
Episoden 2-5 und 6-10 auf einer höheren Abstraktionsebene zusammengefaßt sind und
damit auf Gemeinsamkeiten hinweisen. Davon unterscheiden sich die Cluster der
Episoden 15-16. Beide Gruppierungen (1. Gruppierung: Ep. 1; Ep. 2-5; Ep. 2-4, 2.
Gruppierung: Ep. 11) werden von einem Element getrennt, das gleichzeitig als Übergang
fungiert. Es ist die Episode 11, die sich aus dem gesamten Therapieverlauf hervorhebt.
Auf dieser übergeordneten Ebene können wir also drei Phasen feststellen, die auf der
“Landkarte” die Bezeichnung ENTWICKLUNG, VERTIEFUNG und
EIGENSTÄNDIGKEIT erhalten. Nach der längeren Phase der Entwicklung folgt eine
kurze der Vertiefung, die mit einer längeren Phase der Eigenständigkeit abgeschlossen
wird.

422
MELODIE

“Abschiedsmelodie”
2 VERTIEFUNG 1 Entwicklung
Musikalisch gestaltend 2 Vertiefung
in einer melodisch 3 Eigenständigkeit
getragenen Beziehung

423
1 ENTWICKLUNG
3 EIGENSTÄNDIGKEIT

der 3 Phasen wird mit der Melodie abgeschlossen.


Aufbau der intra - Musikalischer
Zwischen instabilem Entwicklung zum Integrations - und
und stabilem Spiel interaktiven Spiel und interpersonellen
Beziehung Innovationsprozess

Kategorien der Elemente (Episoden), die 3 Phasen aufweist. Der Entwicklungsprozess


Abbildung16.1 Darstellung der übergeordneten Form des Therapieverlaufs an Hand der
Inhaltliche Bedeutung

Als nächstes konzentrieren wir uns auf die Elemente (Episoden) selbst, das heißt auf
ihre inhaltliche Bedeutung. Die “Landkarte” des Therapieverlaufs zeigt hier eine sich
deutlich abzeichnende Entwicklung innerhalb der übergeordneten Form der drei Phasen:

Entwicklung

Der Patient schwankt zunächst zwischen einer instabilen und stabilen Spielweise, indem
er sich zu ordnen und zu behaupten versucht. Aus dieser ersten Phase, die nur von einer
Episode, der Episode 1,gebildet wird, geht er in eine zweite (Ep. 2-5) über, die von einem
anfänglichen Erspüren des Zusammenspiels und seiner Ambivalenz im Hinblick auf
variable und invariable, beziehungsweise konstante musikalische Faktoren geprägt ist.
Über die Zunahme der musikalischen Beziehung durch die Elemente Artikulation, Klang
und Melodie geht er in die dritte Phase (Ep. 6-10) über, in der er konkret die intra - und
interpersonelle Beziehung aufbaut. Diese definiert sich in beiden
Beziehungskonstellationen vor allem in Form einer Klarheitsfindung, die im Spiel des
Patienten durch kontrastreiche Polaritäten wie geformt-ungeformt, unentschlossen-
entschlossen, unausgewogen-ausgewogen und durch seinen Versuch, die Taktstruktur
aufrechtzuerhalten zum Ausdruck kommt. Diese ersten drei Perioden sind durch die
sich kontinuierlich erweiternde musikalische Ausdrucksfindung miteinander verbunden
und gehören somit zur übergeordneten ersten Phase, die mit ENTWICKLUNG
gekennzeichnet ist.

Vertiefung

Die vierte Periode (Ep. 11) hebt sich durch die melodisch getragene Beziehung hervor.
Ihre Bedeutung erhält sie durch die Vertiefung der Beziehung auf einer neuen
Ausdrucksebene, die von einer ruhigen, expressiven Melodie getragen ist. Mit dieser
‘Beziehungssicherung’ entsteht im Spiel des Patienten gleichzeitig eine gestalterische
Aktivität, die sich in zahlreichen Reminiszenzen, Spiegelungen und dem Beginn
umfassenderer Formen darstellt. Erst auf Grund dieser Periode, die die zweite
übergeordnete Phase der VERTIEFUNG bildet, ist der Patient in der Lage, in seine
letzte Entwicklungsperiode überzugehen (Ep. 12-16), in der der Integrations - und
Innovationsprozeß stattfindet. Die Integration musikalischer Elemente (Vorschlagmotiv)
führen im Spiel des Patienten zu einer stärkeren inneren Balance und Ausgewogenheit.
Verwandlung und Veränderung stehen in engem Bezug zum musikalischen Kontext.
Ausdruck und Form verbinden sich durch musikalisch konsequente Gestaltung, die sich
auf klangliche, motivisch-melodische und dynamische Faktoren konzentriert.

Eigenständigkeit

424
Der Patient hat nicht nur an Selbstsicherheit gewonnen, sondern ist auch in der Lage,
eigenständig hinter sich und seiner Gestaltungsweise zu stehen, die er innovatorisch (Ep.
12, 13, 16) ergreift und durchführt. Dabei zeigt er sich identisch mit seiner Musik und
seinen verschiedenen Ausdrucksweisen. Diese fünfte Periode ist mit der letzten
übergeordneten Phase der EIGENSTÄNDIGKEIT identisch.

D ER E NTWICKLUNGSVERLAUF DER K ATEGORIEN DER K ONSTRUKTE

Als nächstes wäre zu untersuchen, wie der Patient von einer Episode zur anderen gelangt
ist, beziehungsweise wie er von der einen Entwicklungsphase in die nächste
überwechseln konnte. Hierfür ist es opportun, die Kategorien der Konstrukte
heranzuziehen, die die relevanten Kategorien der musikalischen Analyse bildeten. Als
Übersicht dient auch hier eine Graphik (Abb.16.2), die die Kategorien der Konstrukte in
ihrer Zuordnung zum Therapieverlauf (Kategorien der Episoden) veranschaulicht.

Die Kategorien Orientierung und Suche sind in fast allen Entwicklungsstufen


anzutreffen. Damit wird deutlich, daß sich der Patient, bevor er in eine neue Phase
übergeht, immer wieder neu orientieren und nach der ihm möglichen Ausdrucksweise
suchen muß. Wie wir wissen, erscheinen beide Kategorien in unterschiedlichen
Konstellationen wie z.B. Orientierung/Suche oder Suche/Orientierung. Im weiteren
Therapieverlauf ändert sich jedoch ihr Stellenwert, indem sie sich voneinander lösen und
mit anderen Kategorien verbinden. Erkennbar wird dieses in der zweiten und dritten
Periode, in der sich Suche an Entschlußkraft, Orientierung an Entschlußkraft und
Orientierung an Transformation binden.

In der zweiten Entwicklungsperiode führen ihn Suche und Orientierung zur


Entschlußkraft. Diese Kategorie ist für den gesamten Therapieverlauf von Bedeutung,
denn sie ermöglicht dem Patienten den Zugang zur Transformation, die ihn schließlich
zur Selbstfindung gelangen läßt. Die Kategorie Entschlußkraft kann als ‘Übungsfeld’
des Patienten betrachtet werden. Hier entwickelt er seine Aktivität und Initiative, die er im
Bemühen um eine Entscheidungsfindung einsetzt.

Wenn wir insgesamt die Kategorien der zweiten, dritten, vierten und fünften
Entwicklungsstufe miteinander vergleichen, können wir feststellen, daß der Patient fast
jedesmal durch den gleichen Kreislauf von Kategorien geht. Ins Auge fällt dabei das
Fehlen der Kategorie Selbstfindung in der dritten Periode und das Überspringen der
Kategorie Suche in der fünften Entwicklungsstufe. Dieser sich wiederholende Prozeß
des Durchlaufens und Durcharbeitens aller Kategorien bringt ihn über die Phase der
VERTIEFUNG und EIGENSTÄNDIGKEIT zu seiner eigenen Melodie, die als
“Abschiedsmelodie” alle Kategorien in sich vereint.

425
MELODIE

Therapieverlauf.
“Abschiedsmelodie”
2 VERTIEFUNG 1 Entwicklung
Musikalisch gestaltend 2 Vertiefung
in einer melodisch 3 Eigenständigkeit
getragenen Beziehung
1 ENTWICKLUNG
3 EIGENSTÄNDIGKEIT
Aufbau der intra - Musikalischer
Zwischen instabilem Entwicklung zum Integrations - und
und stabilem Spiel interaktiven Spiel und interpersonellen
Beziehung Innovationsprozess

426
Orientierung Orientierung Orientierung Orientierung Orientierung Orientierung
Suche Suche Suche Suche Suche
Entschlusskraft Entschlusskraft Entschlusskraft Entschlusskraft Entschlusskraft
Transformation Transformation Transformation Transformation Transformation

Selbstfindung Selbstfindung Selbstfindung

KATEGORIEN KATEGORIEN
der KONSTRUKTE der EPISODEN

Abbildung16.2: Darstellung der Kategorien der Konstrukte in ihrer Zuordnung zum


Bedeutung der Kategorie Selbstfindung

Es stellt sich nun die Frage, warum der Patient in seiner dritten Entwicklungsstufe nicht
zu seinem Selbst gefunden hat. Dazu ist es wichtig, einen näheren Blick auf die Art
seiner Selbstfindung in der zweiten Entwicklungsstufe zu werfen. Diese tritt am Ende
der fünften Episode mit der Bedeutung von Annäherung an das bewußte “Ich” in
Erscheinung. Hörbar wird dieses durch die bewußt vollzogene Beziehung und
Konzentration auf einen Melodieton, der von dem Patienten in Verbindung mit dem
dunkleren Trommelklang (längeres Nachschwingen) zeitlich ausgedehnt wird. Mit
diesem Vorgang gibt er dem melodischen Element mehr Raum. Zugleich schafft er sich
selber damit mehr Raum für die Wahrnehmung der eigenen, inneren Resonanz und eine
differenziertere Ausdrucksweise, die sich in Form einer ruhigen Schlußgestaltung in
sehr subtiler, zarter und verklingender Weise darstellt.

Die Ursache für das Fehlen der Kategorie Selbstfindung in der dritten
Entwicklungsperiode ist vermutlich darin zu sehen, daß sich die Dynamik der Therapie,
die die Interaktionen von Patient und Therapeutin umfaßt, in kurzer, rasanter Weise
abgespielt hat. Der Patient ist in relativ kurzer Zeit zur Selbstfindung gelangt, ohne sie
jedoch zu dem Zeitpunkt voll ausschöpfen zu können. Nach dieser zügig durchlaufenen
Entwicklung erfolgt mit dem Beginn der dritten Entwicklungsstufe eine kurze Phase der
Regression, in der der Patient einen erneuten Zugang zu sich selbst finden muß (Ep. 6,
7). Die gesamte dritte Periode (Ep. 6-10) kann somit als Erarbeitungsphase der intra -
und interpersonellen Beziehung betrachtet werden, die schwerpunktmäßig mit den
musikalischen Elementen Metrum, Rhythmus, Klang, Dynamik und Artikulation arbeitet
und sich auf den Austausch gemeinsamer Interaktionsmuster konzentriert. Hier bleibt
also kein Raum für die Selbstfindung.

In den beiden sich anschließenden Entwicklungsperioden, die in ihrer übergeordneten


Funktion die Phasen der Vertiefung und Eigenständigkeit kennzeichnen, durchläuft der
Patient erneut den Kreislauf der Kategorien und gelangt in beiden Fällen zur
Selbstfindung. Hier dient die Selbstfindung zur Identitätsfindung und erhält damit
größere therapeutische Bedeutung. In der Phase der Vertiefung (Ep. 11) zeigt sich diese
Kategorie in der Qualität seines Ausdrucks und in der gestalterischen Ausgewogenheit
seiner spielerischen Elemente, die eine innerliche Synchronisation vermittelt, die er mit
Hilfe der melodischen Beziehung erreicht. In der letzten Phase der Eigenständigkeit
kann der Patient seine Selbstfindung durch ein Wiederaufgreifen und Bestätigen seiner
ursprünglichen Ausdrucksgestalten (z. B. Vorschlagmotiv) etablieren (Ep. 13-16). Die
erneut vollzogene Identitätsfindung ist von zunehmendem Selbstvertrauen und einer
gestalterischen Selbstverständlichkeit geprägt, die ihn dazu gebracht hat, mit sich selbst
in Übereinstimmung zu kommen und diese in Beziehung zur Therapeutin aufrecht

427
erhalten zu können. Es ist ihm möglich, sich im Kontext der therapeutischen Beziehung
klarer zu definieren. Auf dieser Grundlage hat er seine eigene Melodie gestalten können,
in der er über die Kategorien Suche, Orientierung, Entschlußkraft und Transformation
wieder zu seiner Identität finden konnte.

Faktoren der Melodieentwicklung in Studie 2

Somit kommen wir auf die Ausgangsfrage dieser Forschungsstudie zurück, die nach
den Quellen der Melodieentwicklung sucht und können für den Patienten der zweiten
Studie folgendes feststellen:

• Die drei Phasen ENTWICKLUNG, VERTIEFUNG und EIGENSTÄNDIGKEIT


verdeutlichen im Therapieverlauf des Patienten die ‘Stationen’, die er durchlaufen
mußte, um zu seiner Melodie zu gelangen. In jeder dieser Phasen findet er mit
zunehmender Bedeutung zu seiner persönlichen Identität, die es ihm schließlich
ermöglicht, sich durch die “Abschiedsmelodie” in umfassender Weise
auszudrücken. Diese drei Phasen bilden also die Voraussetzung für die Entstehung
der “Abschiedsmelodie”.

• Die Art und Weise, wie der Patient seine Erfahrungen gesammelt hat,wird durch die
Kategorien der Konstrukte verdeutlicht. Im Hinblick auf die zweite Studie können
wir somit feststellen, daß der Patient über die Kategorien Orientierung und Suche
Zugang zu seiner Willenskraft erhalten hat, mit der er seine Entscheidungen
(Entschlußkraft) durchführen konnte. Seine hierfür aufgebrachte Energie bildet
gleichzeitig eine Quelle seines emotionalen Ausdrucksbedürfnisses, das im
Bemühen um eine Klarheitsfindung die Kategorie Transformation hervorgerufen
hat. Mit dieser Kategorie, die ihn gleichzeitig in die Lage versetzt, seine kreativen,
gestalterischen Potentiale zu erweitern, erfährt er die Möglichkeit seiner eigenen,
inneren Verwandlung. Diese vollzieht sich nicht nur auf der äußeren, aktiven Ebene,
sondern auch intern, indem der Patient eine Umwandlung in sich selber zulassen
kann. Damit gelangt er zur Selbstfindung, mit der er sein Selbstvertrauen, seine
innere Balance, seine persönliche Integrität, seine Autonomie und persönliche
Identität zum Ausdruck bringt. Diese in den Kategorien zum Ausdruck kommenden
prozeßhaft ablaufenden Erfahrungen kulminieren in der “Abschiedsmelodie” der
letzten Sitzung.

Auswahl der Instrumente

Hinsichtlich der Auswahl der Instrumente, die mit Ausnahme der ersten Sitzung von
dem Patienten selbst getroffen worden ist, läßt sich auch eine interessante Entwicklung
ablesen. Im Verlauf der vier Therapiesitzungen wird der Patient in seiner musikalischen

428
Auswahl immer differenzierter, was die Klangmöglichkeiten betrifft. An der Conga
(erste Sitzung) probierte er bereits auf einem Fell den Klangkontrast von dunkel und
hell aus. Diesen erweiterte er durch seine Wahl der TomTom, die ihm mit zwei
unterschiedlichen Resonanzkörpern zwei konkrete Klänge unbestimmter Tonhöhe zur
Verfügung stellte. Mit seiner Entscheidung für die Tempelblocks hatte er seine
Möglichkeiten der Klanggestaltung auf fünf verschiedene Klänge erweitert. Hiermit
zeichnet sich schon eine Tendenz zur Differenzierung ab, die ihren Höhepunkt mit
seiner Wahl für das Vibraphon erhält. Die spezifisch getroffene Auswahl der
Instrumente läßt durchblicken, daß für den Patienten das melodische Element im Verlauf
der Therapie zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.

Stationen der Entwicklung am Beispiel der prinzipiellen Komponentenanalyse

Wie sich der Verlauf der Melodieentwicklung im Kontext der therapeutischen


Beziehung darstellt, läßt sich in Abbildung 16.3 feststellen, die auf Grundlage der
prinzipiellen Komponentenanalyse entworfen ist.
Klares Metrum

Abhängig Unabhängig
klares Metrum klares Metrum
Ep7 Ep10
Ep12
Ep9

Ep14

Ep1
Ep15
Rythmische Ep16
Melodische
Beziehung Ep13
Beziehung

Ep8 Ep5

Ep11
Ep3
Ep6
Ep4

Abhängig Ep2 Unabhängig


unklares Metrum unklares Metrum

Unklares Metrum
Abbildung16.3 Landkarte der therapeutischen Beziehung

Die vertikal (klares Metrum/unklares Metrum) und horizontal (rhythmische


Beziehung/melodische Beziehung) verlaufenden, gepunkteten Linien repräsentieren die

429
beiden prinzipiellen Achsen, die die Veränderlichkeit der Daten (Episoden) angeben.
Diese werden mit ‘x’ gekennzeichnet und erscheinen mit den entsprechenden
Abkürzungen in ihrer räumlichen Anordnung. Den Weg des Patienten zur eigenen
Melodie ist durch eine Linie, die die Episoden miteinander verbindet, nachgezeichnet.
Aus ihm läßt sich folgendes ablesen:

Zu Beginn der Therapie ist der Patient in der rhythmischen Beziehung von der
Therapeutin abhängig und kann sich nur im unklaren Metrum äußern (Weg von Ep.1 zu
Ep. 3). Im weiteren Verlauf wird deutlich, daß er sich von der Therapeutin unabhängig
zu machen versucht, dabei aber seine unklaren Spieläußerungen behält (Weg von Ep. 3
zu Ep. 4 und 5). Bei unklarer metrischer Spielweise zieht es ihn wieder zur
Abhängigkeit zurück (Weg von Ep. 5 zu Ep. 6). Daraufhin führt ihn der Weg, noch in
Abhängigkeit von der Therapeutin, zu einer klaren metrischen Spielweise (Weg von Ep.
6 zu Ep. 7), in der er jedoch nicht lange verweilen kann; es führt ihn noch einmal in ein
unklares Spiel zurück (Weg von Ep. 7 zu Ep. 8). Der weitere Weg führt ihn bei
therapeutischer Abhängigkeit zur Klarheit im Spiel (Weg von Ep.8 zu Ep. 9 und 10),
von der er noch einmal in die Unklarheit zurückfällt (Weg von Ep. 10 zu 11), die ihn
diesesmal in die Unabhängigkeit führt. Aus dieser geht er mit klarer Spielweise hervor
(Weg von Ep. 11 zu 12, 13, 14, 15, 16).

Wir können also feststellen, daß der Patient in der therapeutischen Beziehung zwischen
Abhängigkeit und Unabhängigkeit schwankt, wobei er seine unklare Spielqualität nicht
verändern kann. In Abhängigkeit von der Therapeutin pendelt er gewissermaßen
zwischen unklarem und klarem Spielausdruck, bis er in Unabhängigkeit von der
Therapeutin zu seiner eigenen, klaren Ausdrucksform gefunden hat, die ihn auf
Grundlage eines klaren Metrums zu seiner Melodie führt. Hiermit wird deutlich, daß der
Weg des Patienten zur Unabhängigkeit an seine Klarheitsfindung gebunden ist, ohne
die sie für ihn keine Bedeutung hätte, beziehungsweise nicht erreicht worden wäre.

D ER N ACHWEIS DER E NTWICKLUNG AN HAND EINIGER MUSIKALISCHER


B EISPIELE

Kreislauf der Kategorien innerhalb der ersten Phase der Entwicklung

In diesem Abschnitt werden einige musikalische Beispiele herangezogen, die die


Melodieentwicklung dieser zweiten Studie belegen können.

Innerhalb der ersten Phase (Abb.16.4) der ENTWICKLUNG konnte festgestellt


werden, daß der Patient über die Kategorien Orientierung/Suche, beziehungsweise
Suche/Orientierung zur Entschlußkraft kommen konnte, die ihm den Zugang zur

430
Transformation verschaffte und ihn schließlich zu seiner Selbstfindung gelangen ließ.
Die folgenden Beispiele zeichnen diesen Weg nach:

Orientierung Suche
>
7

Œ. ‰ Œ ‰ ¿ ¿ ¿. h»∞º (variable) -
32 ¿ Ó ¿ ¿ ÓÓ Œ æ¿ ¿ ¿ ¿
P. 7


> p
P.
F
& œœ .. œœj œœj ‰ Œ Œ. U
Ó 32 Ó b ˙˙˙ Ó ‰ b œ b œ œ ˙
Œ. & Ó ‰b
j
? œ . œj œ ‰ Œ
Th.

Œ. ˙
Th.
U
œ. œ œ ? Ó 23 Ó ˙ Ó ∑
P
Ep8,T6-7 Ep4,T7-9

Entschlusskraft
q»ªº
j jj
45 rit.‰ ¿ ‰ ¿ ¿ ‰ ‰ ¿¿ Œ C ¿¿¿ ¿ ¿¿
22

P.

b œ œ œ Uœ œ œ
C bœ œ œ
& 45 œ œ
Th.

? 45 ∑ C ∑

Ep4,T22-23

Transformation
- - - j-
Œ ¿ ¿¿¿ Œ ¿ ‰¿ ¿ ¿
. . .
œœ. Œ n œœœ Œ œœœ Œ n œœœ Œ œœœ
œ œ. œ. œ. œ
Œ Œ Œ Œ

Ep5,T3-4

Selbstfindung
-
‰ ¿j ¿
9

P. ¿ Œ ¿
∏ U̇
b ˙ ˙ ˙
&b b
œ œ œ œ œ œ U̇
Th. rit.

? bb œ œ œ œ
b
Ep5,T9-10

Abbildung16.4 Beispiele der Kategorien und ihre Entwicklung innerhalb der ersten
Phase des übergeordneten Therapieverlaufs

Das musikalische Beispiel Ep. 1, T 7/8 zeigt ein für den Patienten charakteristisches
Orientierungsmuster. Auf Grund des vorangegangenen, stützenden Achtelmetrums und
den sich formenden Zwei-Taktgruppen im Spiel der Therapeutin antizipiert der Patient

431
die Taktschwerpunkte, die er auftaktig, crescendierend ‘anspielt’ und akzenthaft
hervorhebt. Damit wird deutlich, daß er sich auf etwas (Musik: Metrum, Takt, Form)
und jemanden (Therapeutin: Veränderung der Spielform) ausrichten, beziehungsweise
einstellen kann. Seine Einstellung läßt sich auch an Hand der Spielunterbrechung
(Pausen auf der zweiten und dritten Zählzeit), die einen gleichzeitigen Impuls für eine
dialogische Beziehung impliziert, erkennen.

In Verbindung mit seiner Orientierung ist die Suche nach einem Ausdruck zu sehen.
Das Beispiel Ep. 4, T 7-9 verdeutlicht, daß der Patient aus dem ‘Stillstand’ heraus in
etwas Offenes und Unbestimmtes übergeht; suchend spürt er im leisen, verhaltenen
Spiel nach einer Ausdrucksmöglichkeit. Die fließende, aufwärtsgerichtete Tonfolge der
Therapeutin bringt ihn zunächst in eine zusammenhängendere Spielweise, die auch hier,
in Verbindung mit einem beginnenden Tremolo, das charakteristische ‘Hinspielen’ auf
einen Schwerpunkt aufweist.

Diese Formen des ‘Sich Erlebens’ innerhalb beider Kategorien führt den Patienten zur
Entschlußkraft, die im Beispiel Ep. 4, T 22-23 erkennbar wird. Die antizipierte
melodische Kontur hilft ihm, am Ende der aufwärtsführenden Melodienie, quasi über
dem ‘Wendeton’ g2 (Viertelpause) einen Entschluß zu fassen und sich mit der abwärts
führenden Melodielinie für ein eindeutiges Tempo in einer klar definierten Taktform zu
entscheiden. Mit diesem Schritt hat er sich gleichsam für eine klare Form der Beziehung
zu sich selbst und zur Therapeutin entschieden.

Die aktive Komponente, die der Patient im Kontakt mit seiner Entschlußkraft spüren
konnte, bringt ihn zur Transformation, in der es ihm möglich ist, das musikalische
Material zu verändern, verwandeln und zu modifizieren. Im Beispiel Ep. 5, T 3-4 reagiert
der Patient spontan auf die aufgelockerte Melodiestimme der Therapeutin und beginnt,
in engem musikalischen Kontakt komplementär zu ergänzen. Dabei löst er sich von
seinem bisherigen rhythmischen Begleitmotiv und variiert seine Stimme im Hinblick auf
das gemeinsame interaktive Spiel.

Diese Erfahrung, etwas in Verwandlung bringen zu können und eine Verwandlung auch
in sich selber spüren zu können, führt den Patienten zur Kategorie Selbstfindung. Wie
bereits an anderer Stelle erwähnt (Kapitel 15, Episode 5), hat Selbstfindung hier die
Bedeutung der Annäherung an das bewußtere ‘Ich’. Im Beispiel Ep. 5, T 9-10 wird
dieses hörbar durch die bewußte Beziehung und Fokussierung des Patienten auf einen
Melodieton, dem er durch zeitliche Ausdehnung und klangliche Hervorhebung
(dunklerer Klang) mehr Raum gibt. Mit dieser differenzierteren Ausdrucksweise, in der
sich die äußere Aktivität in eine innere verwandelt (Vertiefung des melodischen

432
Tonerlebnisses), gibt sich der Patient selber Raum, seine Identität zu spüren, sie zu
erleben und neu zu finden.

Kategorien der Konstrukte im Verlauf der Melodie

Die folgenden Beispiele aus der “Abschiedsmelodie” vereinen in ihren melodischen


Gestalten die Merkmale, die zuvor in den Beispielen zu den Kategorien der Konstrukte
in Erscheinung traten und in Kapitel 15 analysiert wurden. Da, wie wir sehen konnten,
der Patient im Verlauf seiner Therapie in der therapeutischen Beziehung zwischen
Abhängigkeit und Unabhängigkeit schwankte, kommen in dieser zweiten Studie zwei
Darstellungsformen zur Anwendung. Die erste (Taktausschnitte aus den Beispielen 1
und 2) bezieht, infolge der Bedeutung der interpersonellen Beziehung, die Stimme der
Therapeutin mit ein; die zweite Darstellung (Taktausschnitte aus den Beispielen 1 und 2)
konzentriert sich nur auf die Stimme des Patienten, um die Entwicklung innerhalb seiner
melodischen Ausdrucksfindung klarer hervorheben zu können.

Darstellungsform 1: Der Verlauf der Kategorien der Konstrukte im Kontext der


interpersonellen Beziehung, dargestellt an der “Abschiedsmelodie”:

Bsp. 1, T 2-5 Orientierung, Suche (intramusikalisch)


3

œ œ Œ Œ œœœœ Œ œ œ Œ Œ œœœ
œ œ œ œ
P
∑ ∑ ∑ w
π
∑ ∑ ∑ ∑

Mit der viertaktigen Gestalt baut der Patient eine Beziehung zu sich selber auf. Er
orientiert sich innerhalb des melodischen Rahmens einer Quinte und sucht durch die
Wiederholung von Motiven nach einer für ihn möglichen Ausdrucksform.

Bsp. 1, T 6-9 Orientierung, Suche (intermusikalisch)


3

Ó œœœœ ∑ 34 3
Ó
œœœœ œ œ œ
3
F
œ œœ ˙ rit.
œ 34
∑ ∑ ∑
F œ
. . .
3
œœœ ˙ w
∑ 34 œ œ œ
sostenuto

433
In den Takten 6-9 orientiert sich der Patient an der Stimme der Therapeutin, die ihm mit
ähnlichen Klangfiguren begegnet. So bezieht sich der Patient tonlich (h2) und klanglich-
motivisch (Tritonus h-f) auf die Therapeutin und läßt Raum für ein kurzes
Wechselspiel. Orientierung und Suche zeigen hier deutlich eine intersubjektive
Komponente.

Bsp. 2, T 14-18 Entschlußkraft

- - -
lento

∑ 45 œ œ œ œ œ œœœœ c œ œ ˙ œ œ ˙
œ œ œ
gliss.°rit. *F °
45
œ
œœœœ˙ ˙ œ œ œ c ∑ ‰ œ ˙
œ œ œœ œ
˙
cal. ˙˙ ˙˙ œœ ˙˙ π
gg ˙˙ ˙ ˙
gg 45
˙ ˙ œ ˙
c ‰œœ œœ ˙ Œ œœ ∑
p J
p

Der Patient greift die über dem Dominantseptakkord erklingende melodische Figur der
Therapeutin (T 14) mit dem gleichen Anfangston (h2) auf und erweitert sie, indem er
ritardierend und crescendierend auf einen neuen Ausdruck zustrebt. Somit hebt er nicht
nur die Überleitungsfigur hervor, sondern kündigt mit ihr gleichzeitig eine
bevorstehende Wende und Entscheidungsfindung an. Diese richtet sich auf die Bildung
einer Melodie, die auf der Grundlage einer tonalen Basis (C-Dur), eines zugrunde
liegenden Pulses und einer definierbaren Taktstruktur in einem langsamen,
durchgetragenen Tempo erfolgt. In diesen Takten wird deutlich, daß sich die
Klarheitsfindung im Spiel des Patienten auf Grund der Voraussetzung des intra - und
interpersonellen Bezugs herausbilden konnte (Warten auf den von der Therapeutin
angespielten, harmonischen Grundton).

Bsp. 2, T 19-22 Entschlußkraft (Transformation)


- -
œ œ œ œ Œ Œ œœ . œœ . œœ . œœ . œ Œ œ œ œ
p F
œœ Ó Œ ‰ œj ˙ œ˙

œ
œ ˙
œœ
Ó ‰ œj œœ ˙ Ó ˙
œ œ ˙ œ œ ˙˙
œ ˙ œ ˙
œ ˙
p

434
Entschlußkraft und Transformation bilden sich hier auf der Grundlage des engen
intrapersonellen Bezuges und zeigen sich musikalisch im gemeinsamen Teilen der
melodischen Linie und dem gegenseitigen Aufeinander-Warten. Seine uns aus den
Episoden bekannten Vorschlagmotive wandelt er hier in melodische ‘Seufzermotive`
um, die er in Erwartung der von der Therapeutin eingeführten Harmonien leicht
verzögert, um die Auflösung der Vorhalte zur Wirkung kommen zu lassen (s. Kapitel
13, Abschnitt: Die ‘Abschiedsmelodie`).

Bsp. 2, T 22-24 Transformation


qk»∞º
- j- œ œ. jj
Œ œ œ œ œ œ. œ œ. J œ œ œ
œ
F
˙ ˙ -
∑ Ó Œ œ

Ó ˙˙ ˙˙ ˙
œ ˙˙ Ó œ
œ œ ˙˙ ˙ œ
œ ˙ ˙

Mit der Viertelpause verdeutlicht der Patient sein Warten auf die Grundharmonie.
Gleichzeitig modifiziert und erweitert er das melodische Grundmotiv von Takt 16 und
läßt es anschließend durch die klangliche Oktavierung in melodischer Umkehrung
erscheinen. Auch hier zeigt sich sowohl im Harmonischen als auch im Melodischen der
enge interpersonelle Bezug (Aufgreifen des Melodietons e2).

Bsp. 2, T 26-30 Entschlußkraft

qk»§º
- -
œ œœœœ œ 6 œ. œ.
3

‰ . œœ œ œ œ œ œ œ œ.
3

R œ 8
P
√ œ.
Ó œœ 6 œ. Œ ‰ .
˙ œœ œ œ 8 œœ .

˙ Œ œœ œ 3
œœ 6 œ.
Œ œ œ œœ 8 ∑ œ
˙ œ œ œ J

Die neue Entscheidung für eine andere Expressivität des melodischen Ausdrucks, die
sich in Takt 28 unmißverständlich mitteilt, wird auch hier auf der Grundlage der

435
interpersonellen Beziehung getroffen. Musikalisch äußert sich dieses an Hand zweier
Faktoren: 1. Der Patient verändert mit der Einführung der Achteltriole (s. auch T 1), die
von der Therapeutin in der Baßbegleitung gespiegelt wird, die rhythmisch-metrische
Anlage, die schließlich zur neuen Taktform 6/8 führt. 2. Auf Grundlage der
harmonischen Beziehung entfaltet sich die melodische Kontur, die gemeinsam von
Patient und Therapeutin durch Übernahme und Weiterführung einzelner Töne (a2, h2,
d2) innerlich mitgetragen wird.

Bsp. 2, T 34-36 Selbstfindung


. . . -
œ. œ.
œ. œ œ œ œ.
rit.

Œ ‰ Œ j
œ. œ. œ œ.

œ .. œ. œ œ ‰
œ Œ ‰ œ J

Die Selbstfindung entwickelt sich im Spiel des Patienten mit der neuen, subtilen
melodischen Ausdrucksform (ab T 28) und findet seine Sicherheit im klaren
Spielausdruck der eigenständigen melodischen Führung und Schlußgestaltung. Letztere
verdeutlicht der Patient auf seine Weise: klar abgehobenes, abwärts geführtes und
ritardierendes Dreitonmotiv zum akzentuierten Grundton c1 , der als Tonikaklang
rhythmisch verlängert wird und durch die Tonraumöffnung zum h1 mit Vorhaltwirkung
zur Sexte die harmonische Deutung der Tonikaparallele impliziert.

Bsp. 2, T 39-43 Selbstfindung

39
j œ j j
œ. œ œ œ œ œ œ œ œ. œ œ œ œ œ œ
œ œ.
f
œ œ œ œ.
œ.
Œ ‰‰ ∑ œ œ œ œ.
œ. œ
˙. œ f
œ œ œ
˙. œ œ. œ.
‰ ‰œ œ œ œ
œ
∑ œ
Œ J œ
œ
œ

f
Hier zeigt sich die Selbstfindung des Patienten in der führenden und dynamischen
Qualität seines melodischen Spiels. Sein gesteigertes inneres Gefühlsleben offenbart
sich expressiv durch die Intensivierung seines Ausdrucks, der sich zur Tonika hin

436
steigert. Kurz vor der Selbstfindung im gesteigerten Ausdruck zeigt sich im Spiel von
Patient und Therapeutin (T 39) ein Verbindungselement, das sich als simultane und
gespiegelte Vorhaltsbildung zu erkennen gibt.

Bsp. 2, T 48-50 Selbstfindung

-- - > --- >


œ œ œ œ. œ œ œ œ.
f
∑ œœ .. œ ..
Œ.
Œ
jœ œ œ
œ œ œ œ
œ. œ J J œ J
p

Wie in der Schlußbildung von T 34-36 zeigt sich hier der klare Selbstbezug des
Patienten, den er mit Hilfe der Schlußformel für sich erfahrbar macht. Hier vermittelt
sich die zunehmende Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Patienten.

Bsp. 2, T 57-59 Selbstfindung

- - - - >
œ. œœ œ. œœœœœœœœœœœœ œ œ œ.
57

œœ J
f
œ. œœ œ. œœ œœœœœœ Œ. œ
œ.
j j j œ.
œ œ œ œ œ œ œ œ œ
œ. œ. œ. œ. œ œ
œ

In den Takten 57-59 findet der Patient zu einer neuen, tieferen Identität. Sie zeigt sich in
seiner melodisch ausgeformten, fast komponiert wirkenden Spannungssteigerung bis
zum deutlich hervorgehobenen Höhepunkt, der durch die Vorhaltswirkung zur Tonika
(Quartvorhalt) besondere Ausdruckskraft erfährt. Rhythmische Gestaltung, Diastematik
und Dynamik sind eng integriert und miteinander verwoben. Hier wird etwas
augenfällig, das sich beim Patienten in Form eines Evidenzgefühls äußert. Gemeint ist
damit das Gefühl von Stimmigkeit seines inneren Erlebens und seiner Wahrnehmung
der äußeren therapeutischen Situation, die auf Vertrauen gegründet ist und dem
Patienten, trotz seiner alleinigen Führungsposition, den Eindruck vermittelt, mit der
Therapeutin in Kontakt zu sein. Die im Patienten gewachsene Selbstsicherheit und der
Aufbau seines Selbstvertrauens dienen als Basis für die Entwicklung seiner

437
Selbstfindungs - und Identitätsprozesse, die sich im autonomen Handeln
niederschlagen.

Bsp. 2, T 64-68 Selbstfindung


qk»¢º
- -- - - j j
œ. œ j Œ. œ œ œ.
œ œ œ œ œ. œ œ œ
œ œ
>œ . rit. ∏ dolce
j œœ .. œœ .. Œ. œ. Œ.
œœ . œ œ œ. œ. œ.
œ
pπ œ œ œ
Œ. J Œ. ∑ Œ J œ œ œ œ œ œ œ
œ J J J
π
Ein neuer Selbstfindungs -, beziehungsweise Identitätsprozeß zeigt sich in der
allmählichen Auflösung der melodischen Steigerung, die stufenweise in die
Entspannung, das heißt wieder zu einem Ruhepol zurückgeführt wird. Die Identität des
Patienten zeigt sich hier im reinen, zarten, differenzierten und subtilen Ausdruck.

Bsp. 2, T 82-85 Selbstfindung


82 - -- - j j
&œ jœ j . œ œ œ œ. œ. œ.
œ œ œ œ
P ∏
j j
& Œ. Œ. œ œ
œ
œ
œ œœ œœ .. œ.
gg œ ..
gg œ
œ. Jj J
j œ ∏
? œ Œ œ œ œ
œ œ œ. œ œ ∑ ∑
œ J J J

Die Identitätsfindung äußert sich auch in den letzten Takten der melodischen
Improvisation. Er findet zu sich selbst in den ausklingenden und zu Ende führenden
Takten, die unmißverständlich das Ende der zuvor gemeinsam erlebten,
spannungsreichen, melodischen Ausdruckssteigerung anzeigen. Er ist in der Lage, sich
zu verabschieden.

Die folgende zweite Darstellungsform (Abb.16.5) konzentriert sich nur auf die
melodische Stimme des Patienten, um die Entwicklung innerhalb seiner melodischen
Ausdrucksfindung deutlicher hervorzuheben.

Aus der zunächst abwärts geführten, viertaktigen thematischen Gestalt, die dem Patienten
als intramusikalische Orientierung dient, entwickelt er mit den Kategorien
Entschlußkraft und Transformation eine umfassende melodische Form (Bsp. 2, T 16-

438
36). Diese entfaltet sich prozeßhaft aus seinem, in Takt 16 eingeführten melodischen
Motiv. In variierter Form bildet es auch die Grundlage für die Kategorie Selbstfindung,
mit der der melodische Höhepunkt (Bsp. 2, T 50-67) und der Schluß (Bsp. 2, T 74-85)
der Abschiedsmelodie gebildet werden.

Somit wiederholt sich auch in der letzten Sitzung der Kreislauf der Kategorien, wobei
der Schwerpunkt auf der Selbstfindung liegt.

Die musikalisch-melodischen Merkmale der Abschiedsmelodie weisen auf ihre hohe


Gestaltqualität hin und verdeutlichen damit ihren individuellen und eigenständigen
Ausdruckscharakter. Indem der Patient ganz in die melodische Führung übergeht, macht
er sich von der Therapeutin unabhängig. Dabei stützt er sich auf seine in den Episoden
zyklisch “durchlebten” Kategorien. Wir erleben ihn also auch hier im Hinblick auf
seine intrapsychischen Regulationsprozesse, die in den Interaktionsmustern (s.
Erläuterungen zur Darstellungsform 1) zum Ausdruck gekommen sind.

439
Bsp.1, T2-5 Orientierung (intramusikalisch)
3

œ œ Œ Œ œœœœ Œ œ œ Œ Œ œœœ
œ œ œ œ

Bsp.2, T16-23 Entschlusskraft, Transformation Bsp.2, T23-27 Transformation


lento
qk»∞º
- - - .. - - - œ . jj 3
- 3

Œ Œ ‰ . œœ œ œ œ œ œœœœ œ 6 œ.
œ œ œ œœ œ ˙ œœ œœŒ œœ . œœ . œœ . œ . œ œ œ 8
œ œ œœœ
œ œ ˙ œ œ ˙ .œ œjœ . J œ œ œ œ œj œ . œœ œ œ R
F ° p F F
°

Bsp.2, T28-36 Entschlusskraft


qk»§º
- j - - . . . -
œ.

Hand der Melodiestimme des Patienten.


. œ œ œ œ. œ œ œ œ œ œ. œ œ œ œ. œ œ œ œ. j œ. œ.
œ œ œ. œ œ œ œ.

440
P rit.

Melodiestimme des Patienten


Bsp.2, T50-67 Selbstfindung
- - - - > >œ
- j
j j j œ œ œ.
œ œœ
œ. œ œ œ œ. œ. œ œ .
œ œ œ. œœ œ. œœ œ œœ œ œœ œ œœ œ œ œ œ œ œ
œ œ œ. œ œ œ. œœœ œ J
œœœ
f
5
œ. œ j - -- - -
œ. œ. œ œœ‰ ‰ œ œ
œ œ. œ. œ j Œ.
œ œ œ œ œ. œ œ œ
rit.

Bsp.2, T74-85 Selbstfindung

Darstellungsform 2: Der Verlauf der Kategorien der Konstrukte an Hand der


--- - j - -- - - - -- -
j œ œ
- œ j j j
œ œ œ œ œ. œ œ œ œ œ œ œ. j jj œ œ
œœ . œ œ œ œ œ j œ œ. œ. œ.

Abbildung 16.5: Darstellungsform 2: Der Verlauf der Kategorien der Konstrukte an


J œ œ. œ œ œ œ œ œ œ. œ

œ
j œ.
œ œ
allarg. P ∏
Wenn, wie in der Literatur dargestellt (Levold, 1997), Muster bei fehlender Flexibilität
und Reichhaltigkeit eine Sackgasse darstellen können, die mit Konflikten, Symptomen
und individuellem Leid einhergehen, so können wir mit Blick auf diese zweite Studie
feststellen, daß es dem Patienten infolge seines inneren Synchronisationsprozesses
möglich geworden ist, seine anfänglich isoliert und unbeweglich wirkenden
Ausdrucksmuster (s. Vorhaltsmuster) umzuwandeln und sie in einen größeren,
melodischen Zusammenhang zu integrieren. Damit zeigt sich auch ein Evidenzgefühl
von Stimmigkeit des inneren Erlebens und der Wahrnehmung der äußeren
therapeutischen Situation, die auf Vertrauen gegründet ist und dem Patienten den
Eindruck vermittelt, trotz eigenständiger, autonomer melodischer Führung mit der
Therapeutin in Kontakt zu stehen.

441
Kapitel 17
Diskussion

In diesem Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse dieser Forschungsstudie im


Hinblick auf ihren übergeordneten therapeutischen Stellenwert und ihre therapeutische
Relevanz diskutiert.

A NLIEGEN DER F ORSCHUNGSSTUDIE

Das Anliegen dieser Forschungsstudie hat sich aus meiner Hypothese entwickelt. Diese
konstatiert, daß mit der melodischen Improvisation PatientInnen die Möglichkeit
geboten werden kann, ihre, durch die Krankheitssituation bedingten heftigen und zum
Teil konträren Gefühle, das heißt ihre inneren Realitäten in eine für sie expressive Form
zu bringen, die dynamisch und wandelbar ist. Damit sind auch die Gefühle
angesprochen, für die ein passender verbaler Ausdruck nicht unmittelbar zur Verfügung
steht und die infolge ihres sprachlosen Charakters, mit Hilfe der verbalen Expressivität,
nicht die geeignete, stimmige Form finden. Von dieser Hypothese ausgehend hat sich
die Forschungsfrage geformt, die nach der Ontogenese der melodischen Gestalt sucht
und nach der Bedeutung, die dieser Entwicklungsprozeß, der sich in einer umfassenden
melodischen Gestalt realisiert, für beide Patienten hat. Darin enthalten ist die Frage, wie
beide, Patient/in und Therapeutin die Momente erreicht haben, aus denen heraus sich die
Melodie der letzten Sitzung formen konnte. In beiden Studien wurde also nach den
musikalischen Elementen und den ‘Transitionsformen’ geforscht, die für die
Entwicklung der Melodien in der letzten Sitzung beider Studien ausschlaggebend waren.

E RGEBNISSE

Was konnte durch diese Forschungsstudie in Erfahrung gebracht werden?

Zunächst kann assertorisch festgestellt werden, daß sich die Hypothese mit den in
Kapitel 3 (Abschnitt ‘Zusammenfassung und signifikante Gesichtspunkte für die
Therapie’) hypothetisch aufgeführten Bedeutungsfaktoren der Melodie für die Therapie
bestätigt hat. Wie wir jedoch sehen konnten weist sie darüberhinaus auf viel
differenziertere und nuanciertere Ergebnisse hin, die durch die allgemeine und
spezifische methodische Aufbereitung mittels der Analyse beider Studien zu Tage
getreten sind (s. Kapitel 12 und 16).

Für beide Studien sind prinzipielle Tatsachen zu nennen, auf die im folgenden
eingegangen wird.

442
‘Urform’

In beiden Studien können wir eine Art ‘Urform’ entdecken, aus der sich die Melodie
der letzten Sitzung entwickelt hat. In der ersten Studie handelt es sich um den
jambischen Fuß, der das erstemal in Episode drei in Erscheinung trat, in der zweiten um
die prosodische Form des Anapäst, die sich im Verlauf der therapeutischen
Behandlungsphase von unpräzisen musikalischen Äußerungen zu einer klaren
melodischen Erscheinung formte. Diese von beiden Patienten individuell gewählten
melodischen Formen dienten ihnen als Bausteine für die Kommunikation mit ihrem
inneren Selbst und der Therapeutin. Beide Bausteine fungierten als Interaktionsmuster,
die von der Therapeutin in ihre klinische Improvisation integriert wurden. Aufgrund
dieser Tatsache haben sie zur Entwicklung und Entfaltung der melodischen Gestalt
beigetragen.

Somit kann hier bestätigt werden, daß, wie in Kapitel drei vermutet, die Etablierung einer
rhythmischen Gestalt, die eine stabilitätsfördernde Wirkung ausstrahlt, eine wichtige
Voraussetzung für die Entfaltung einer melodischen Form ist. Im Sinne Benzons (s.
Kapitel 1 ‘Kulturelle Voraussetzungen’) wird auch hier argumentiert, daß die
rhythmische Vorerfahrungen einen der Schwerpunkte in der Melodieentwicklung bildet.
In beiden Melodien wurde infolge dieser Vorerfahrungen der Rhythmus zur Substanz
der Melodie, das heiß Rhythmus und Melodie verschmolzen miteinander.

Harmonische Form

Zur melodischen Entfaltung der ‘Urform’ war in beiden Studien nicht nur die
rhythmische Vorerfahrung von Bedeutung. Damit sich beide Aspekte in ihrer jeweiligen
Ausdrucksform und individuellen Ausdrucksweise entwickeln konnten mußte eine
entsprechende ‘Umgebung’, ein stimmiges, harmonisches ‘Milieu’ geschaffen werden,
in dem sie zur Entfaltung gelangen konnten. Neben der rhythmischen Form mußte die
harmonische integriert werden, die für die Patienten beider Studien ein Fundament
bildete, über dem sich ihre melodischen Phrasen entwickeln konnten. Es ist
offensichtlich geworden, daß beide Patienten die Harmonie als fundamentales Mittel für
ihre individuelle Melodiegestaltung benötigen.

Wie wir in Kapitel 1 (Abschnitte ‘Historische Wurzeln’, ‘Ästhetische


Voraussetzungen’) erfahren haben wurde der funktionelle Stellenwert der Harmonik
sowohl aus historischer wie auch ästhetischer Perspektive als stützender Hintergrund
betrachtet, von dem sich die diastematisch-rhythmischen Ereignisse frei abheben
konnten. Rousseau, wie auch Herder, räumten der Melodie als dem Neuen,
Charakteristischen die Priorität vor der Harmonie ein und wandten sich damit gegen die

443
Auffassung von Rameau, der in dem Generellen, im System der Harmonik, die Substanz
der Melodie erblickte. Auf ähnliche Weise, nur viel differenzierter, wird der harmonische
Stellenwert im gegenwärtigen musiktheoretischen System diskutiert (Bozzetti, 1988;
Cook, 1995; Cooke, 1982; Moraitis, 1994; Schoenberg, 1967; Varese, 1987). Die
therapeutische Bedeutung der Harmonie ist nicht nur in der Vereinheitlichung und
Stütze der melodischen Stimme des Patienten zu sehen, sondern auch in der Förderung
und Formung seiner individuellen Entwicklung sowie Ausdrucksfindung. Ihr
psychologisch-therapeutischer Wert tritt dabei durch die von ihr ausgehende
anstoßende, stimulierende und ausgleichende Wirkung deutlich zu Tage.

Unter Berücksichtigung des gesellschaftlich-kulturellen Kontextes läßt sich im Hinblick


auf beide Studien argumentieren, daß die Harmonie keinen Gegenpol zur Melodie
bildet. Sie erscheint hier in ihren uns vertrauten und allgemein verständlichen
Strukturierungsformen des Dur/Moll-tonalen Systems, die zu den übergreifenden
Merkmalen unserer westlichen Kultur gehören, auf die beide Patienten bezogen sind. Im
Hinblick auf diesen gesellschaftlich-kulturellen Kontext sind die Gedanken Rousseaus
erwähnenswert, die meiner Ansicht nach auch heute noch Aktualität besitzen und sich
auf die Ergebnisse dieser Forschungsstudie beziehen lassen.

Harmonische Form als allgemein übergreifende kulturelle Tatsache

Rousseau war nicht nur als politischer Denker sondern auch als Musiker und
Musiktheoretiker bekannt (Scott, 1997). In seinen Schriften über Musik und Sprache
entwickelte er eine Theorie über die natürlichen Grundlagen der Kultur und ihrer
vielfältigen Darstellungsformen. Seine Theorie zentriert sich dabei auf die menschliche
Fähigkeit, Gefühle in ihren unterschiedlichsten Ausdrucksformen zu erkennen und zu
kommunizieren. Sie erklärt die Variabilität der menschlichen Gefühle und ihre
vielfältigen Ausdrucksformen in den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Was
beiden zugrundeliegt ist die affektive kulturelle Basis von miteinander geteilten
Gefühlen, Leidenschaften, Passionen, Bräuchen und moralischen Regeln. Für jedes
Individuum sind somit infolge der gemeinsam geteilten Kultur die unterschiedlichen
emotionalen Formen des Leidens, der Freude oder der Erregung im Ausdruck einer
Melodie verstehbar.

Vor diesem Hintergrund läßt sich das Verhältnis der Melodien beider Studien zum
harmonischen Kontext, der von der Therapeutin geschaffen wurde, diskutieren. Beide
Patienten kommunizierten ihre Gefühle über den subjektiven Ausdruck ihrer Melodien.
Nach Rousseau sind die verschiedenen Gefühle im Ausdruck der Sprache und Melodie
für die Menschen, die der gleichen Kultur angehören, verstehbar. Das Individuum muß
sich in seiner affektiven, idiomatischen Ausdrucksweise in der ihn umgebenden Kultur

444
zurechtfinden, um seinen Bezug zur Gesellschaft nicht zu verlieren. Als das
Gemeinschaftsstiftende kann die Harmonik angesehen werden, auf die sich das
Individuum in seiner ungezwungenen, subjektiven und autonomen Ausdrucksweise
beziehen kann. Dadurch findet es zu seinem kulturellen Milieu. Wenn jedoch die
Gesetze des kulturellen Milieus aufgebrochen sind kann es sich zu diesem nicht mehr
beziehen, da es seine ‘Sprache’ nicht mehr versteht (s. Kapitel 1, Ästhetik). Therapie
kann also nur wirksam durchgeführt werden, wenn der kulturelle Kontext des Patienten
Berücksichtigung findet und er mit Hilfe bekannter Ausdrucksformen wieder erneuten
Kontakt zum kulturellen Umfeld erlangen kann.

Eigenständigkeit

In jeder Therapieform gehört Eigenständigkeit im Sinne von eigene Verantwortung für


die eigenen Handlungen übernehmen mit zu den allgemeinen Zielen jeder Therapieform.

In beiden Studien ist an Hand der übergeordneten Form des Entwicklungsverlaufs der
therapeutischen Behandlungsphase erkennbar, daß Eigenständigkeit als zentraler Punkt
hervorgehoben ist. Diese steht am Ende der therapeutischen Behandlungsphase und ist
eng mit der von beiden erlangten Fähigkeit zur eigenständigen Melodiebildung
verbunden (vgl. die Ähnlichkeit der Kategorien der Konstrukte Entscheidung, Aktion
(Studie 1) und Entschlußkraft (Studie 2). Voraussetzung hierfür war die Etablierung der
intra - und interpersonellen Beziehung.

Generell wird der Beziehungsprozeß in jeder Art von Therapie als ein wichtiger und
kritischer Aspekt in der therapeutischen Behandlung betrachtet. In dem hier gewählten
Ansatz der improvisatorischen Musiktherapie besteht die Attraktivität des
Beziehungsaspektes darin, daß er sich in seiner nonverbalen Ausdrucksform in der
Performance entwickeln kann (in der Verständigungsschwierigkeiten sprachlicher Art
ausgeschlossen sind), die ein gegenseitiges Abstimmen in unbegrenzten, nuancenreichen
Facetten erlaubt und ein gemeinsames (Patient/in und Therapeut/in), simultanes Erleben
in spezifischen Zeitdimensionen ermöglicht. An Hand der dargestellten Phasen des
Therapieverlaufs konnte in beiden Studien der Beziehungsprozeß genau verfolgt und
charakterisiert werden. Er deckte Phasen der Unsicherheit, Ungewißheit, Suche,
Orientierung und Entscheidungsfindung auf und führte mit der Melodie der letzten
Sitzung zum Erlebnis der eigenen Identität und Ausdrucksfindung. Dieses Erlebnis
konnte in den interaktiven Momenten mit dem der therapeutischen Beziehung
koordiniert werden.

Diese Form der Identitätsfindung läßt sich auch vor dem Hintergrund eines
Identitätsbegriffes betrachten, der sich in unserer postmodernen Gesellschaft als äußerst

445
vielfältig und nicht objektivierbar erweist (McNamee, 1996). Sie erhält ihre Bedeutung
jedoch erst im Zusammenhang mit der therapeutischen Beziehung. Für Jung ist der
Individuationsprozeß in entscheidender Weise von Beziehungsphänomenen geprägt. Er
definiert ihn geradezu als Beziehungsprozeß sowohl nach innen, als auch nach außen,
wobei der Verstehensprozeß und der Beziehungsprozeß eine untrennbare Einheit bilden:
”Der Individuationsprozeß hat zwei prinzipielle Aspekte: einerseits ist er ein interner,
subjektiver Integrationsvorgang, andererseits aber ein ebenso unerläßlicher, objektiver
Beziehungsvorgang. Das eine kann ohne das andere nicht sein, wenn schon bald das
eine, bald das andere im Vordergrund steht (Schulz-Klein, 1997, S. 50). Dies gilt nicht
nur für die Individuation allgemein, sondern auch für die Therapie.

Der Individuationsprozeß bildete sich in beiden Studien innerhalb der Phasen der intra-
und interpersonellen Beziehungen heraus.Wie wir gesehen haben spielte in beiden
Studien das sich im therapeutischen Prozeß abspielende musikalische Aushandeln der
intra - und interpersonellen Beziehungen eine wichtige Rolle, aus dem heraus sich für
beide Patienten die Phase der Eigenständigkeit formen konnte, die zur
Selbstbestimmung führte. Diese Erfahrung ist wichtig, wenn wir an die
Herausforderungen unserer sich schnell verändernden, pluralistischen Gesellschaft
denken. Die ‘Verankerung’ des Selbst im musikalischen Ausdruck der eigenen Melodie
hat beiden Patienten zur Stärkung ihrer inneren Stabilität verholfen. Somit haben sie ein
‘Selbst’ erfahren, dem sie im Ausdruck ihrer eigenen Melodien vielleicht näher waren
als es ihnen im Ausdruck mit Worten möglich geworden wäre.

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Rolle der therapeutischen Beziehung.


Diese hat den Selbstfindungs - und Individuationsprozeß beider Patienten äußerlich
begrenzt und teilweise gelenkt. Durch die musikalischen Interventionen, die von außen
an die Patienten herangetragen wurden, waren sie aufgefordert, sich mit ungewohnten
und andersartigen Ausdrucksmustern auseinanderzusetzen. So muß eine Musiktheapie,
deren Vorteil darin besteht, Individualität zu fördern und damit den Ausdruck einer
einzigartigen klinischen Expertise ermöglicht, der Gefahr eines Solipsismus, der die
eigenen inneren Werte als Standardwerte erhebt, stand halten. Auf diese Gefahr weist
Aldridge hin (Aldridge, 1996, S.279)“the danger is that groups ... are so convinced of
their own unique value that they believe that all others should work in their superior way
and that they have the right to dictate the standards of individuals. This is tribalism and
is the ultimate danger in a post-modern society”.

Expressivität

Expressivität trat hier, in der therapeutischen Improvisation, in Form einer konkreten


Handlung in Erscheinung. Sie zeigte sich nicht in ihrer begrifflich abstrakten Art,

446
sondern als etwas, das, wie wir gesehen haben, in konkrete Form gebracht werden
konnte.

Für beide Patienten bestand eines ihrer Probleme darin, wie sie mit ihren inneren
Gefühlen und starken Emotionen umgehen konnten und das zu einem Zeitpunkt, in dem
sie besonders empfindlich und belastet waren (s. Kapitel 9 und 13 ‘Die Krankheit im
Kontext’). Gefühle wie Angst und Unsicherheit, die nicht verarbeitet werden können
und sich vom Kontext des Individuums und der sozialen Beziehung lösen, werden, wie
wir wissen, pathologisch. Im Hinblick auf diese Schwierigkeiten läßt sich feststellen, daß
die melodische Improvisation beiden Patienten geholfen hat, mit ihren inneren Gefühlen
und Emotionen zu einer Ökologie der Form mit sich selbst und der ‘Welt’
(Therapeutin) zu gelangen. Auch in diesem Zusammenhang (vgl. Unterabschnitt
‘Eigenständigkeit’) kann noch einmal auf die Möglichkeiten einer kreativen,
nonverbalen Therapieform hingewiesen werden, in der die Gefühle (die Teil unserer
Kultur sind) nicht als fixierte moralische Begriffe ausgedrückt werden. In der
musikalischen Improvisation zeigen sie sich in ihrer Dynamik und prozesshaften
Veränderung. Sie erscheinen in einem ständig neuen Gewand und können im Prozeß
des Erlebens wiederholt und vertieft, aber auch hinter sich gelassen, umgewandelt und
neu ausgedrückt werden. Beide Patienten konnten mit Hilfe ihrer Melodien zu einer
musikalischen Ökologie ihrer Gefühle gelangen, die sie mit sich und der Therapeutin in
Beziehung brachten.

W ELCHE B EDEUTUNG HAT DIE E NTWICKLUNG EINER M ELODIE IM


THERAPEUTISCHEN K ONTEXT ?

Tatsache ist, daß die Melodie innerhalb unserer westlichen Kultur einer der stärksten
Ausdrucksträger ist (vgl. Lieder zu verschiedenen Anlässen). Melodische Formen
dienen in besonderer Weise der Kommunikation menschlicher Gefühle und zeigen
allein schon auf Grund dieser Gegebenheit ihre therapeutische Signifikanz (s. Teil I).
Tatsache ist auch, daß die Melodie als wichtiger Teilbereich unserer Kultur in
mannigfaltigster Weise in unsere politisch-gesellschaftliche Lebensorganisation
einbezogen ist. Entsprechendes gilt für die musiktherapeutische Arbeit, die sich
innerhalb des Bedingungsgefüges der unterschiedlichen Einflußbereiche der
Gesundheitskultur abspielt (s. Kapitel 3 ‘Musiktherapeutische Aspekte in ihrem
Kontext’). Aufgrund der sich aus dieser Konstellation ergebenden, verschiedenartigen
Interaktionen erweist es sich als notwendig, den Gesamtkontext zu berücksichtigen.

Neben dem kulturellen Hintergrund spielen auch angeborene psychologische Prinzipien


der Perzeption und Kognition sowie erlernte Faktoren bei der Wahrnehmung von
melodischen Verläufen eine Rolle (s. Kapitel 2 ‘Zur Perzeption von Melodie’). Jedoch

447
wird das explizite Erlernen von Musik nicht als notwendige Voraussetzung für die
Wahrnehmung subtiler Strukturen in tonalen, musikalischen Sequenzen betrachtet.
Bigand (Bigand, 1997) stellt fest, daß im allgemeinen beide, Musiker und Nicht-
Musiker, in gleicher Weise auf dieselben musikalischen Charakteristika sensibel
reagieren, wobei Musiker eher dazu tendieren, ihr Wissen auf die tonale Hierarchie zu
konzentrieren.

Das Spielen und Ausführen der eigenen melodischen Gestalten lenkt die
Aufmerksamkeit auch auf die Phrasenstruktur. Diese spielt eine signifiante Rolle in der
kognitiven Verarbeitung musikalischer Sequenzen (Chiappe & Schmuckler, 1997). Sie
dient als funktionelle Einheit, die die musikalische Verarbeitung von musikalischen
Sequenzen während der Perzeption lenkt. Die Analyse der beiden Studien hat gezeigt,
daß die melodische Phrase und die Richtung der melodischen Kontur nicht nur die
Antizipation und das Erinnerungsvermögen der Patienten beeinflußten, sondern ihnen
auch zur Strukturierung ihrer musikalischen Passagen verholfen hat.

Aufdeckung melodischer Bedeutungsfaktoren mit Hilfe der Persönlichen


Konstrukt - Methode

Um die Bedeutsamkeit der Melodieentwicklung für die Therapie feststellen zu können


wurde in dieser Forschungsstudie versucht, über den Weg der Naturalistic Inquiry und
der ‘Personal Construct’ Methode eine Brücke zwischen den musikwissenschaftlichen
Fakten, beziehungsweise Voraussetzungen und den musiktherapeutischen
Erfordernissen zu schlagen. Damit wurde versucht, die musikwissenschaftlich
theoretische Seite in die therapeutische einzugliedern.

Da ich in der Rolle als Therapeutin selber in den, mit den Patienten gemeinsam
entwickelten, musikalischen Prozeß subjektiv erlebend einbezogen bin war es
erforderlich, meine persönlichen Perspektiven einzubeziehen. Infolgedessen bestand das
Hauptkriterium meines methodischen Ansatzes darin, für mich selber festzustellen, wie
ich interpretiere, das heißt, meine eigenen subjektiven Prämissen offen zu legen und
herauszufinden, von welchen Paradigmen und Denkmustern aus ich meine Ergebnisse
werte und interpretiere. Dieser Vorgang ist integrierender Teil eines pragmatisch-
analytisches Denkansatzes der qualitativen Forschungsmethode, der den Aspekt der
Subjektivität nachvollziebar macht. Es war also notwendig, mein Tazitwissen
offenzulegen (s. Kapitel 6) und es in meine spezifische Methode einzugliedern. Dieses
erfolgte in den Kapiteln 10 und 14.

Wie in Tei II der allgemeinen Methode erwähnt beginnt die Deutungsarbeit bereits auf
der Wahrnehmungsebene. Es galt also das empirisch Erscheinende mit Hilfe der

448
spezifischen Methode zu strukturieren (Erzeugung der empirischen Daten). Da bei
jedem Verstehensvollzug Beziehungsvorgänge beteiligt sind (s. Abschnitt
‘Eigenständigkeit’) war es wichtig, meine persönlichen Bemerkungen als Forscherin
und Therapeutin in die spezifische Methode zu integrieren (Tagebuchaufzeichnungen;
Spalte ‘Persönliche Memerkungen’ im Analysemuster des 4 Spalten-Index im
Appendix-Teil).

Tagebuch

Rückblickend bildeten sowohl die spontan notierten Tagebuchaufzeichnungen als auch


die Notizen in der Spalte der persönlichen Bemerkungen aus dem Analysemuster des 4
Spalten-Index eine Erweiterung der musikologischen Beschreibungen, indem meine
persönliche Sichtweise (Tazit Wissen) in die aufgedeckten Zusammenhänge integriert
wurde. Die wichtigste Funktion des Tagebuchs bestand jedoch darin, den
Forschungsprozeß zu dokumentieren, in dem meine persönlichen Gefühle festgehalten
und reflektiert wurden. Somit diente das Tagebuch auch als eine Art
‘Experementierfeld’ der spontan ausgedrückten Gefühle und Gedanken, auf dem die
eigenen Wahrnehmungs- und Beschreibungsweisen zurechtgerückt und justiert wurden.
Gedanken konnten auf diese Weise ‘gesäubert’ und deutlicher formuliert werden.

Desweiteren konnte an Hand der Tagebuchaufzeichnungen festgestellt werden, wie sich


im Verlauf des Forschungsprozesses die Art meines Hörens verändert hat. Sie ist durch
die Methode des spezifischen Hörkreislaufs vielschichtiger geworden und erstreckt sich
auf mehreren Ebenen, auf denen Ton- und Klangbezüge nicht nur in ihrer
Differenziertheit als unterschiedliche Klang-Distanzen, sondern als Klang-Qualitäten
notiert wurden. Damit wurde gleichzeitig das intermusikalische - sowie
intramusikalische Verhältnis einbezogen, also musikalische Qualitäten, deren
Hintergründe nicht-akustischer Art waren. Die Einbeziehung eines offenen Hörens hat
geholfen, einer eventuell aufkommenden Erwartungshaltung, die einschränkt und
einengt, entgegenzuwirken. Von der eigenen musikalischen Erfahrung und dem
subjektiven Empfinden hängt es ab, auf welche musikalischen Parameter man zuerst
reagiert und auf welche musikalischen Tatsachen die klinische Wertung aufgebaut wird.
Auch hier gilt es, blinde Flecken zu erfassen. Die Vielschichtigkeit dieses komplexen
Vorgangs des gezielten Hörens konnte mit Hilfe der Tagebuchaufzeichnungen und der
Analysemuster ins Bewußtsein gerückt werden.

Insgesamt hat mir der kontinuierliche Austausch mit meinen methodischen und
musikologischen Supervisoren in Verbindung mit den Tagebuchaufzeichnungen dazu
verholfen, meine Bewußtseinsebene während des Forschungsprozesses kontinuierlich
zu erweitern. Auf diese Weise ist mir z.B. bewußt geworden, warum mich die starken

449
Gefühle der Abwehr und Distanz, die mir nicht nur in den Krankheitsbildern der beiden
Studien begegneten, berührten. Sie stießen auf meine eigenen Erfahrungen der Abwehr,
die in Verbindung mit eigenen Erlebnissen von Krankheit und Operation auftraten und
in mir zur Auseinandersetzung mit dem Thema Tod führten.

Vergleich der Kategorien

In den Tabellen 17.1 und 17.2 werden noch einmal die mit Hilfe der spezifischen
Methode generierten Kategorien übersichtlich aufgeführt. Tabelle 17.1 zeigt die
Kategorien der Konstrukte und die Kategorien der Episoden als Phasen des
Therapieverlaufs von Studie 1 und 2. In Tabelle 17.2 sind meine eigenen Kategorien
über Melodie und Therapie gegenübergestellt.

Kategorien der Kategorien der Kategorien der Kategorien der


Konstrukte: Konstrukte: Episoden: Studie I Episoden: Studie II
Studie I Studie II 5 Phasen des 3 Phasen des
Therapieverlaufs Therapieverlaufs
Intuition Orientierung Kommunikation Entwicklung
Entscheidung Suche Integration Vertiefung
Aktion Entschlußkraft Führung Eigenständigkeit
Beziehung Transformation Formbildung
Expressivität Selbstfindung Eigenständigkeit
Kontemplation

Abbildung 17.1: Gegenüberstellung der Kategorien beider Studien (s. Kapitel 10


und14).

Kategorien der melodischen Konstrukte Kategorien der therapeutischen


der Therapeutin Konstrukte
Orientierung Beziehung zur Musik
Musikalische Formung Musikalisch elementar
Gefühl Musiktherapeutisch
Musikalisch elementar Beziehung zur Therapeutin
Bewegung
Spannung

Abbildung 17.2: Gegenüberstellung der Kategorien der melodischen und


therapeutischen Konstrukte (s. Kapitel 6).

Im Vergleich meiner eigenen Kategorien über Melodie mit den Kategorien der
Konstrukte von Studie 1 und 2 fällt die Ähnlichkeit der Begriffe ‘Expressivität’,
‘Kontemplation’, ‘Selbstfindung’ (s. Abb. 17.1) und ‘Gefühl’ (s. Abb. 17.2) ins Auge.

450
Ebenso lassen sich die dynamischen Kategorien ‘Orientierung’, ‘Bewegung’,
‘Spannung’ (s. Abb. 17.2), ‘Aktion’, ‘Orientierung’ und ‘Entschlußkraft’ (s. Abb.
17.1) auf Grund ihrer gleichartigen Aussage zu einer Gruppe zusammenfassen.

Wenn wir die Kategorien der Episoden zum Vergleich heranziehen, finden wir eine
Übereinstimmung in den Begriffen ‘Formbildung’ (s. Abb. 17.1) und ‘Musikalische
Formung’ (s. Abb. 17.2).

Beim Vergleich der auf die Melodie und Therapie bezogenen Kategorien der
Therapeutin fällt auf, daß die Kategorie ‘Gefühl’ innerhalb des therapeutischen
Kontextes nicht erscheint. Damit wird für mich deutlich, daß diese Kategorie zwar eine
Rolle in meinem Bezug zur Melodie spielt, jedoch im therapeutischen Kontext von mir
getrennt gehandhabt wird. Allerdings spielt diese Kategorie, wie bereits in Kapitel 6
(Abschnitt ‘Ergebnisse’) vermutet, in ihrer Bezogenheit auf die Konstrukte ‘Innig-nah’
und ‘Distanziert’, im Prozeß meines therapeutischen Assessments eine Rolle. Dieses
hat die Analyse des Datenmaterials der Kapitel 11 und 15 ergeben (s. ST. 1, EP. 9, 10,
11 und ST. 2, EP. 5, 11, 13, 15, 16).

An Hand der Übersicht der Kategorien wird deutlich, daß zur Kennzeichnung ähnlicher
Erfahrungsbereiche ähnliche Begriffe gewählt wurden. Sie deutet auf eine
Übereinstimmung und Konsistenz in der Offenlegung der eigenen persönlichen
Bedeutungsfaktoren im Hinblick auf die Beziehung zur Melodie und Therapie hin.

Hier wird noch einmal das transpersonale Ereignis dieser Therapieform deutlich, das
sich nicht von der Person der Therapeutin trennen läßt. Mit ihrer Methode hat die
Therapeutin die Konstellation von aufeinander bezogenen und spezifizierten Konzepten
offen gelegt, die eine homogene Struktur aufweisen. Die Interpretationsweise ist im
Sinne des Systems der Naturalistic Inquiry offen gehalten und auf eine übergeordnete,
abstrakte Ebene bezogen. Diese Ebene zeigt sich in ihrer übergeordneten Konsistenz, im
Hinblick auf die auf das Individuum bezogene spezifische Interpretation, homogen.

Zu Beginn dieses Abschnitts wurde auf die Notwendigkeit der Einbeziehung des
Kontextes hingewiesen. Wenn wir davon ausgehen, daß die uns allen gemeinsame
westliche Kultur von allen verstanden wird kann asseriert werden, daß die Erfahrung der
melodischen Gestalt mit ihrer starken Kohärenz und Möglichkeit der individuellen,
subjektiven Ausdrucksfindung therapeutische Signifikanz besitzt, die auch für andere
Patienten Bedeutung haben könnte.

In beiden Studien konnte an den sich allmählich entwickelnden melodischen Formen die
augenblickliche ‘Seins-Lage’ der Patienten und der von ihnen gewählte Weg des
Handelns abgelesen werden. Dieser Entwicklungsprozeß, der zur eigenen

451
Melodiestimme und Ausdrucksform geführt hat, brachte, wie bereits erwähnt, für beide
Patienten die positive Erfahrung eines anderen oder erweiterten Selbst, das sie auf ihre
individuell unterschiedliche Weise erreicht haben (s. Kapitel 11 und 15).

Konzept eines erweiterten Selbst

“Awareness facilitates a greater sense of responsibility as well as freedom and choice”

Muran (Blatt & Segal, 1997, S. 83)

In der psychotherapeutischen Literatur bilden die Konzepte eines expandierten Selbst,


unabhängig von den Modalitäten durch die es erreicht wird, häufig den Gegenstand von
Diskussionen (Blatt & Segal, 1997; Segal & Blatt, 1993; Wolfe, 1995). Mit Blick auf
Personen, die an Depression leiden wird dieser erweiterten Sichtweise des Selbst
Bedeutung zugemessen, da diese es Patienten ermöglicht, einen stärkeren funktionellen
Sinn von Selbst zu entwickeln.

Blatt und Segal (Blatt & Segal, 1997) stellen fest, daß in der Literatur eine gemeinsame
Position vertreten ist, die die Notwendigkeit, das Selbst in Beziehung zu seinem Kontext
zu betrachten, hervorhebt. Somit bildet die Beziehung zwischen Klient/in und
Therapeut/in das primäre Vehikel für die effektive Beobachtung der verschiedenen
Aspekte des Selbst. Nach Muran (Blatt & Segal, 1997, S. 82) stellt die therapeutische
Beziehung ein Laboratorium verschiedenster Arten von Ich-Du-Mustern dar, die es im
Kontext der therapeutischen Beziehung zu erfassen gilt. Die therapeutische Beziehung
wird somit zu einer Art Leinwand auf der sich die Ich-Du-Muster, die das Selbst
repräsentieren, abbilden.

Hervorgehoben wird auch die Bedeutung der Einbeziehung von Intuition und der
eigenen Gefühle des Therapeuten, denn diese bilden die Hauptquelle der Entdeckung
der affektiven Töne der Beziehungsmuster, die im Behandlungsprozeß ausgedrückt
werden. Die Art und Weise wie Therapeuten mit den Mustern der Ich-Du Beziehungen
umgehen konstituiert den therapeutischen Effekt ihrer Behandlungskonzepte.

Vor diesem Hintergrund kann im Hinblick auf die Ergebnisse dieser Forschungsstudie
vorsichtig vorgeschlagen werden, daß mit der Fokussierung auf die individuellen
Entwicklungsmöglichkeiten einer Melodie auch anderen Patienten die Gelegenheit
eröffnet werden könnte, zu einem erweiterten Selbst zu gelangen und dieses im Prozeß
der therapeutischen Beziehung (Ich-Du-Beziehung) zu einer Klarheit im Ausdruck zu
führen, die ein Erkennen und Bewußtwerden der erweiterten Aspekte des eigenen Selbst
ermöglicht.

452
W IE Lä ßT SICH EINE M ELODIE INNERHALB EINER THERAPEUTISCHEN
B EHANDLUNGSPHASE ENTWICKELN ?

Diese Forschungsstudie hat ihre Bedeutungsinhalte auf der Ebene der Musik getroffen,
die notiert und interpretiert wurde. Das aus der Therapie selektierte, klinische
Datenmaterial wurde als Textmaterial behandelt, das mir, ähnlich
musikwissenschaftlicher Diskurse, für meine spezifische Analyse zur Verfügung stand.
Mit Hilfe der ‘Personal Construct’ Methode, die für die Belange dieser Studie noch
einmal spezifiziert wurde, konnten die therapeutischen Bedeutungsfaktoren (Kategorien
der Konstrukte, Kategorien der Episoden) herausgefiltert werden (s. Abschnitt
‘Vergleich der Kategorien’).

Aus den Ergebnissen beider Studien lassen sich einige Schritte der therapeutischen
Handhabung abstrahieren, die die Entwicklung einer Melodie gefördert haben. Diese
beziehen sich nur auf die beiden vorliegenden Studien und versuchen, die teilweise
voneinander abweichenden, unterschiedlichen musiktherapeutischen ‘Operationen’
konkreter zu fassen. Folgende Gesichtspunkte können von der Position einer kreativen
Form improvisierter Musiktherapie (Nordoff/Robbins) im Hinblick auf beide Studien
vorsichtig formuliert werden:

Singuläre Elemente

Die Aufmerksamkeit muß im Hinblick auf die musikalische Stimme der Patienten auf
alles gerichtet sein was sie ins Spiel bringen, auch auf undeutliche, singuläre Elemente
mit unklarer, schwer verständlicher musikalischer Aussage, die sich nicht eindeutig
definieren lassen. Es ist möglich, daß sich in ihnen die musikalischen Eigenarten und
charakteristischen Merkmale der Patienten verbergen. Diese Elemente können als
Anknüpfungspunkte für spätere Muster dienen, die zu zusammenhängenden Phrasen
führen (z.B. Studie 2, Vorschlagmuster).

Phasen des Experimentierens

In den Phasen des Experimentierens kann mit singulären Elementen, ob präziser oder
unpräziser Art, spielerisch umgegangen werden. Dabei wird der Unbestimmtheitsfaktor
zur Grundlage der Aktivität des spontanen, unmittelbaren Handelns, das mit und ohne
Intention verbunden sein kann (z.B. ST. 1 EP. 1, 2; ST. 2 EP. 2, 3, 11).

Phasen der Erweiterung und Intention

453
Tendenzen zeichnen sich im Spiel der Patienten ab, die deutlich in eine Richtung weisen
und Intentionen signalisieren. Diesen muß Raum gegeben werden, daß sie ungehindert
zum Ausdruck gebracht werden können (z.B. ST. 1 EP 4, 6, 8; ST. 2 EP. 4, 5, 8, 13).

Wiederholung und Imitation

Wiederholung und Imitation sind wichtig für die Orientierung der Patienten innerhalb
ihrer eigenen, individuell gestalteten Klangräume. Sie sind auch notwendig für die
Bestätigung ihres eigenen Selbst, das sie in leicht veränderter Weise wiederholend
erleben. In allen Episoden werden die variierte Wiederholung und Imitation als konstant
durchlaufende klinische Techniken herangezogen.

Den passenden Kontext anbieten

Mit dem jeweiligen, passenden Kontext wird versucht, die momentanen


Ausdrucksmöglichkeiten der Patienten zu fördern und den Boden für Möglichkeiten des
Wandels, der Entwiclung und des Wachstums zu bereiten. Mit der Etablierung dieses
passenden Gefühlsraums kann Sicherheit und Vertrauen entstehen, aus dem heraus ein
neuer Gestaltungsraum aufgebaut werden kann, der Neues ermöglicht. Die Entwicklung
und Etablierung des passenden Kontextes war in allen Episoden ein aktuelles Anliegen.

Imitation, Assimilation, Innovation

Hier handelt es sich um die Art eines Kreislaufs des Imitierens, Anpassens, Eingliederns
und Neu-Schaffens. Er hat fundamentale Bedeutung für den Entwicklungsprozeß der
Patienten (z.B. ST 2 EP 13).

Erweiterung des Kontextes

Ein stimmiger Kontext kann erweitert und vergrößert werden, wobei die Therapeutin für
den Zusammenhang des gesamten musikalischen Geschehens sorgen muß (z.B. ST. 1
EP 16; ST. 2 EP 15).

Anbieten eines Kontextes durch den Patienten

Von den Patienten kann mit der Entwicklung und Gestaltung der eigenen Melodie der
Kontext selber geschaffen werden. Die Melodie erklingt und entfaltet sich nicht nur
über dem stützenden Klanggrund der Therapeutin, sondern wird jetzt selbst zum
Klangraum, der von den Patienten in eigentändiger Weise gestaltet wird.

454
Diese therapeutischen Operationen haben sich in Abhängigkeit von der jeweiligen
Situation der Patienten mehrmals wiederholt und führten zu Phasen der Selbstfindung,
Kontemplation und Integration.

Die Entwicklung der Melodien: “Ein Spaziergang durch Paris” und “Die
Abschiedsmelodie” war für beide Patienten nur innerhalb der Förderung und
Erweiterung des gesamten musikalischen Kontextes möglich. Dieser führte sie durch
die verschiedenen musikalischen Erfahrungsbereiche des rhythmischen, metrischen,
dynamischen, agogischen, temporalen und klanglichen Ausdrucks. Dieser Weg des
‘Durchlebens’ der verschiedenen musikalischen Ausdrucksbereiche war notwendig, um
mit den inneren Aspekten ihres Selbst in Kontakt zu treten. Er führte sie schließlich zur
eigenen inneren Stimme, die sie in den besonderen Klangfarben der Instrumente
Metallophon und Vibraphon entdeckten. Beiden Patienten ist es gelungen, ihre inneren
Qualitäten in einer umfassenden melodischen Form zum Ausdruck zu bringen. Damit
haben sie einen positiven Weg gefunden, das Thema ihrer Identität auf aktive,
gestalterische Weise in ‘die Welt’ zu bringen. Beide Themen zeigen sich in ihren
zusammenhängenden Gestaltqualitäten, die alle musikalischen Attribute vereinen. Sie
weisen auf ein ganzheitliches Erleben hin, das im wahrnehmenden Erleben Gefühle von
Vollständigkeit, Ganzheit und Absolutheit hervorrufen kann. Dieses könnte beiden
Patienten als Fundament für ihre Bewältigung der zukünftigen Belastungen und
Beanspruchungen des täglichen Lebens dienen.

Die Art und Weise, wie sich die Patienten mit ihrem ureigenen Thema im Leben
darstellen läßt sich mit Stil bezeichnen. Musiktherapie könnte Individuen helfen, ihren
eigenen Stil zu finden. Im Jazz-Bereich ist dieses ein zentrales Anliegen:

“You move from the imitation stage to the assimilation stage when you
take little bits of things from different people and weld them into an
identifiable style - creating your own style”.

Walter Bishop (Berliner, 1994, S. 120)

455
Abraham, L., & Dahlhaus, C. (1982). Melodielehre. Wiesbaden: Laaber-Verlag.

Adorno, T. W. (1995). Philosophie der neuen Musik. Frankfurt am Main: Suhrkamp


Verlag.

Aiello, R., & Sloboda, J. (1994). Musical Perceptions. Oxford: Oxford University
Press.

Aigen, K. (1995). Principles of Qualitative Research. In B. L. Wheeler (Ed.), Music


Therapy Research. Quantitative and Qualitative Perspectives, . Phoenixville: Barcelona
Publishers.

Aigen, K. (1996). Ein Überblick zur “Qualitativen Forschung” in den USA.


Musiktherapeutische Umschau, 17, 51-61.

Aldridge, D. (1989a). Music, communication and medicine. Journal of the Royal


Society of Medicine, 82, 743-746.

Aldridge, D. (1989b). A phenomenological comparison of the organization of music


and the self. Arts in Psychotherapy, 16(2), 91-97.

Aldridge, D. (1990). Meaning and expression: the pursuit of aesthetics in research.


Holistic Medicine, 5, 177-186.

Aldridge, D. (1993a). Music therapy research: I. A review of the medical research


literature within a general context of music therapy research. Special Issue: Research
in the creative arts therapies. Arts in Psychotherapy, 20(1), 11-35.

Aldridge, D. (1993b). Music therapy research: II. Research methods suitable for
music therapy. Arts in Psychotherapy, 20(2), 117-131.

Aldridge, D. (1994). Single-case research designs for the creative art therapist. The
Arts in Psychotherapy, 21(5), 333-342.

Aldridge, D. (1995). Spirituality, hope and music therapy in palliative care. The Arts
in Psychotherapy, 22(2), 103-109.

Aldridge, D. (1996a). Auf dem Weg zur Entwicklung einer europäischen


Wissenschafts- und Forschungskultur für Musiktherapie. Musiktherapeutische
Umschau, 17, 6-16.

456
Aldridge, D. (1996b). The body, its politics, posture and poetics. The Arts in
Psychotherapy, 23(2), 105-112.

Aldridge, D. (1996c). Music Therapy Research and Practice in Medicine. From Out
of the Silence. London: Jessica Kingsley Publishers Ltd.

Aldridge, D. (1997a). Kairos I - Beiträge zur Musiktherapie in der Medizin. Bern:


Hans Huber.

Aldridge, D. (1997b). Lifestyle, charismatic ideology and a praxis aesthetic. In S. G.


Olesen, B. Eikard, P. Gad, & E. Hog (Eds.), Studies in Alternative Therapy 4.
Lifestyle and Medical Paradigms, (Vol. 4, ). Odense, Denmark: INRAT University
Press.

Aldridge, D., & Aldridge, G. (1992). Two epistemologies: Music therapy and
medicine in the treatment of dementia. Arts in Psychotherapy, 19(4), 243-255.

Aldridge, D., Brandt, G., & Wohler, D. (1990). Toward a common language among
the creative art therapies. The Arts in Psychotherapy, 17(3), 189-195.

Aldridge, D., Brandt, G., & Wohler, D. (1991). Working together: a comparative
study of creative music therapy and art therapy. Journal of British Music Therapy,
5(1), 14-21.

Aldridge, G. (1993c). Morbus Crohn - und Colitis ulcerosa Patienten in der


Musiktherapie. Der Merkurstab, 46(1), 30-34.

Aldridge, G. (1996d). “A walk through Paris”: The development of melodic


expression in music therapy with a breast-cancer patient. The Arts in Psychotherapy,
23(3), 207-223.

Andersen, B. L. (1992). Psychological interventions for cancer patients to enhance the


quality oflLife. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 60(4), 552-568.

Annells, M. (1996). Hermeneutic phenomenology: philosophical perspectives and


current use in nursing research. Journal of Advanced Nursing, 23, 705-713.

Ansdell, G. (1995). Music for life.Aspects of Creative Music Therapy with Adult
Clients. London: Jessica Kingsley Publishers Ltd.

Arnheim, R. (1986). New Essays on the Psychology of Art. London, Berkeley:


University of California Press, Ltd.

457
Bailey, L. (1983). The effects of live music versus tape-recorded music on
hospitalized cancer patients. Music Therapy, 3(1), 17-28.

Bailey, L. (1985). Music`s soothing charms. American Journal of Nursing, 85(11),


12-80.

Bailey, L. (1986). Music therapy in pain management. J-Pain-Symptom-Manage,


1(1), 25-28.

Balzano, G. J., & Liesch, B. W. (1982). The role of chroma and scalestep in the
recognition of musical intervals in and out of context. Psychomusicology, 2, 3-31.

Barlett, J., & Dowling, W. J. (1980). Recognition of transposed Melodies: A key-


distance effect in developmental perspective. Journal of Experimental Psychology:
Human Perception and Performance, 6, 501-15.

Beck, C. T. (1994a). Phenomenology: its use in nursing research. International


Nursing Studies, 31(6), 499-510.

Beck, C. T. (1994b). Reliability and Validity Issues in Phenomenological Research.


Western Journal of Nursing Research, 16(3), 254-267.

Beck, H. (1974). Methoden der Werkanalyse in Musikgeschichte und Gegenwart.


Wilhelmshaven: Heinrichshofen Verlag.

Benary, P. (1978). Tonsatz. Elemente, Strukturen, Tendenzen. Wolfenbüttel: Möseler


Verlag.

Benesch, H. (1981). Wörterbuch zur Klinischen Psychologie. München: Deutscher


Taschenbuch Verlag.

Benzon, W. L. (1993). Stages in the evolution of music. Journal of Social and


Evolutionary Systems, 16(3), 273-296.

Berliner, P. F. (1994). Thinking in Jazz. The Infinite Art of Improvisation. Chicago:


The University of Chicago Press.

Berti, L. A., Hoffmann, S. O., & Möbus, V. (1993). “Traditioneller” vs.


“modifizierter” Forschungsansatz im Rahmen psychoonkologischer Studien. PPmP,
Psychother. Psychosom. med. Psychol., 43, 151-158.

Bharucha, J. J. (1996). Melodic anchoring. Music Perception, 13(3), 383-400.

458
Bigand, E. (1997). Perceiving musical stability: the effect of tonal structure, rhythm
and musical expertise. Journal of Experimental Psychology, 23(3), 808-822.

Blatt, S. J., & Segal, Z. V. (1997). The self in depression: commentary. In Session:
Psychotherapy in Practice, 3(3), 81-89.

Blessinger, K. (1930). Melodielehre als Einführung in die Musiktheorie. Stuttgart:


Ernst Klett Verlag.

Blume, F. (1989a). Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine


Enzyklopädie der Musik. (Vol. Band 13). Kassel: Bärenreiter-Verlag.

Blume, F. (1989b). Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie


der Musik. (Vol. Band 6). Kassel: Bärenreiter-Verlag.

Bonny, H., & McCarron, N. (1984). Music as an adjunct to anesthesia in opperative


procedures. Journal of the American Association of Nurse Anesthetists, Feb., 55-57.

Bovensiepen, G. (1995). Symposion: Über die Funktion der Deutung in der Analyse.
Analytische Psychologie, 26, 73-74.

Bozzetti, E. (1988). Einführung in musikalisches Verstehen und Gestalten. Frankfort


am Main: Verlag Moritz Diesterweg.

Brailoiu, C. (1984). Problems of Ethnomusicology. Cambridge: Cambridge


University Press.

Bräutigam, W., Christian, P., & von Rad, M. (1992). Psychosomatische Medizin.
Stuttgart: Georg Thieme Verlag.

Brockhaus, F. A. (1984). Brockhaus Lexikon. (Vol. Band 8). München: Deutscher


Taschenbuch Verlag.

Bruscia, K. E. (1987). Improvisational Models of Music Therapy. Springfield, USA:


Charles C Thomas Publisher.

Bruscia, K. E. (1991). Case Studies in Music Therapy. (Vol. Barcelona Publishers).


Phoenixville.

Bruscia, K. E. (1994, ). An introduction to qualitative research methods. Paper


presented at the Aalborg University, NORFA group research seminar, Aalborg,
Dänemark.

459
Bruscia, K. E. (1995a). The boundries of music therapy research. In B. L. Wheeler
(Ed.), Music Therapy Research, . Phoenixville: Barcelona Publishers.

Bruscia, K. E. (1995b). The process of doing qualitative research: Part I: Introduction.


In B. L. Wheeler (Ed.), Music Therapy Research, (pp. 389-399). Phoenixville:
Barcelona Publishers.

Bruscia, K. E. (1995c). The process of doing qualitative research: Part Three: The
human side. In B. L. Wheeler (Ed.), Music Therapy Research, . Phoenixville:
Barcelona Publishers.

Bruscia, K. E. (1995d). The process of doing qualitative research: Part two:


Procedural steps. In B. L. Wheeler (Ed.), Music Therapy Research, . Phoenixville:
Barcelona Publishers.

Bruscia, K. E. (1995e). Topics Phenomena and Purposes in Qualitative Research. In


B. L. Wheeler (Ed.), Music Therapy Research, . Phoenixville: Barcelona Publishers.

Bruscia, K. E. (1996). Authenticity Issues in Qualitative Research. In M. Langenberg,


J. Frommer, & K. Aigen (Eds.), Qualitative Approaches to Music Therapy Research:
Understanding Processes and Dialogues from the first International Symposium, .
Phoenixville: Barcelona Publishers.

Budd, M. (1985). Music and the Emotions. The Philosophical Theories. London,
Boston: Routledge & Kegan Paul.

Budde, E. (1977). Das musikalische Thema als Gegenstand der Analyse. In C.


Dahlhaus (Ed.), Funkkolleg Musik, (Vol. Studienbegleitbrief 1, pp. 75-101).
Weinheim: Beltz Verlag.

Budde, E. (1979). Über Analyse. Musik und Bildung, 3(11), 155-159.

Burde, W. (1982). Strawinsky. Mainz: Schott`s Söhne.

Butler, D., & Brown, H. (1994). Describing the mental representation of tonality in
music. In R. Aiello & J. A. Sloboda (Eds.), Musical Perceptions, . New York: Oxford
University Press.

Carter, B. (1993). Long-term survivors of breast cancer. A qualitative descriptive


study. Cancer Nursing, 16(5), 354-361.

Carter, B. J. (1994). Surviving breast cancer. A problematic work re-entry. Cancer


Practice, 2(2), 135-140.

460
Carter, R. E., & Carter, C. A. (1993). Individual and marital adjustment in spouse
pairs subsequent to mastectomy. American Journal of Family Therapy, 21(4), 291-
300.

Carter, R. E., Carter, C. A., & Prosen, H. A. (1992). Emotional and personality types
of breast cancer patients and spouses. The American Journal of Family Therapy,
20(4), 300 - 308.

Chiappe, P., & Schmuckler, M. (1997). Phrasing influences the recognition of


melodies. Psychonomic Bulletin & Review, 4(2), 254-259.

Christensen, E. (1996). The musical timespace. A Theory of Music Listening.


Aalborg: Aalborg University Press.

Clair, A. A., & Bernstein, B. (1990). A preliminary study of music therapy


programming for severely regressed persons with Alzheimer’s-type dementia. Journal
of Applied Gerontology, 9(3), 299-311.

Cook, N. (1994). Perception: A Perspective from Music Theory. In R. Aiello (Ed.),


Music Perceptions, (pp. 64-95). Oxford: Oxford University Press.

Cook, N. (1995). A Guide To Musical Ananlysis. Oxford: Oxford University Press.

Cooke, D. (1982). The Language of Music. Oxford: Oxford University Press.

Coyle, N. (1987). A model of continuity of care for cancer patients with chronic pain.
Medical Clinics of North America, 71(2), 259-70.

Cunningham, A. J. (1993). Does cancer have “meaning”? ADVANCES,The Journal


of Mind-Body Health, 9(1), 63-69.

Dahlhaus, C. (1967). Musikästhetik. Köln: Hans Gerig.

Dahlhaus, C. (1980). Die Musik des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: Laaber-Verlag.

Dahlhaus, C., & Eggebrecht, H. (1978). Brockhaus Riemann Musiklexikon. (Vol.


Erster Band). Wiesbaden: Brockhaus.

Dahlhaus, C., & Eggebrecht, H. (1979). Brockhaus Riemann Musiklexikon. (Vol.


Zweiter Band). Wiesbaden: Brockhaus.

Davies, S. (1994). Musical Meaning and Expression. Ithaca and London: Cornell
Universitiy Press.

461
de la Motte, D. (1968). Musikalische Analyse. Kassel: Bärenreiter Verlag.

Denzin, N. K., & Lincoln, Y. S. (1994). Handbook of Qualitative Research. Thousand


Oaks, London, New Delhi: Sage Publications.

Dörner, K., & Plog, U. (1984). Irren ist menschlich. Lehrbuch der
Psychiatrie/Psychotherapie. Bonn: Psychiatrie Verlag.

Dowling, W. J. (1991). Pitch structure. In P. Howell, R. West, & I. Cross (Eds.),


Representing Musical Structure, (pp. 33-57). London: Academic Press.

Dowling, W. J. (1994). Melodic Contour in Hearing and Remembering Melodies. In


R. Aiello (Ed.), Musical Perceptions, . Oxford: Oxford University Press.

Drake, C., Dowling, W. J., & Palmer, C. (1991). Accent structures in the reproduction
of simple tunes by children and adult pianists. Music Perception, 8, 315-34.

Drake, C., & Palmer, C. (1993). Accent Structures in Music Performance. Music
Perception, 10(3), 343-378.

Drosdowski, G. (1989). Etymologie. (2.völlig neu bearb.u.erw.Auflage ed.). (Vol. Bd.


7). Mannheim: Meyers Lexikonverlag.

Duncan, H. (1968). Symbols and society. Oxford: Oxford University Press.

Dzurec, L. (1989). The necessity for and evolution of multiple paradigms for nursing
research: A poststructuralist perspective. Advanced Nursing Science, 11(4), 69-77.

Eberhard, K., & Eberhard, G. (1997). Typologie und Therapie der depressiven
Verstimmung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Edwards, A. C. (1956). The Art of Melody. New York: Philosophical Library.

Eggebrecht, H. H. (1977). Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik


der Musik. Wilhelmshaven: Verlag Heinrichshofen.

Eggebrecht, H. H. (1995). Musik verstehen. München: Piper Verlag.

Erickson, R. J. (1995). The importance of authenticity for self and society. Symbolic
Interaction, 18(2), 121-144.

Eysenck, H. J. (1994). Cancer, personality and stress: prediction and prevention.


Behaviour Research & Therapy, 16, 167-215.

462
Fanselau, R. (1984). Musik und Bedeutung. Frankfurt a. Main: Moritz Diesterweg.

Foley, K. M. (1986). The treatment of pain in the patient with cancer. CA, 36(4), 194-
215.

Forinash, M. (1995). Phenomenological research. In B. L. Wheeler (Ed.), Music


Therapy Research. Quantitative and Qualitative Perspectives, (pp. 367-387).
Phoenixville: Barcelona Publishers.

Frank, J. M. (1985). The effects of music therapy and guided visual imagery on
chemotherapy induced nausea and vomiting. Oncol-Nurs-Forum, 12(5), 47-52.

Geyer, S. (1993). Life events, chronic difficulties and vulnerability factors preceding
breast cancer. Soc. Sci. Med., 37(12), 1545-1555.

Gier, A. (1997). Musik in der Literatur: vorläufige Bemerkungen zu einem


unendlichen Thema. In A. Gier & G. W. Gruber (Eds.), Musik und Literatur, (Vol.
Europäische Hochschulschriften Bd. 127, pp. 9-17). Frankfurt/M: Peter Lang.

Giorgio, A. (1994). A phenomenological perspective on certain qualitative research


methods. Journal of Phenomenological Psychology, 25(2), 190-220.

Gliner, J. A. (1994). Reviewing qualitative research: proposed criteria for fairness and
rigor. The Occupational Therapy Journal of Research, 14(2), 78-89.

Grawe, K., Donati, R., & Bernauer, F. (1994). Psychotherapie im Wandel. Von der
Konfession zur Profesion. Göttingen: Hogreve.

Guba, E., & Lincoln, Y. (1989). Fourth Generation Evaluation. London: Sage.

Gumperz, J. J. (1982). Discourse Strategies. New York: Cambridge University Press.

Gustorff, D. (1990). Lieder ohne Worte. Musiktherapeutische Umschau, 11, 120-


126.

Gustorff, D. (1997a). Den Patienten jenseits der Krankheit erreichen. Schöpferische


Musiktherapie in der Neurologie. TW Neurologie Psychiatrie, 11, 448-453.

Gustorff, D. (1997b). “Hier bin ich Mensch”. Musiktherapie mit PatientInnen der
Neurologie. I.O.G.O.S. Interdisziplinär, 5(2), 112-117.

Guzetta, C. (1989). Effects of relaxation and music therapy on patients in a coronary


care unit with presumptive acute myocardial infarction. Heart-Lung, 18(6), 609-616.

463
Haenel, T. (1986). Zur Geschichte der Depressionsbehandlung. Schweiz. med.
Wschr., 116(47), 1652-1659.

Hargreaves, D. (1994). The Developmental Psychology of Music. Cambridge:


Cambridge University Press.

Harre, R., & Secord, P. (1973). The explanation of social behaviour. Totowa, N. J.:
Littlefield Adams und Co.

Harrison, C., & Wood, P. (1992). Art in Theory 1900 - 1990. An Anthology of
Changing Ideas. Oxford: Blackwell Publishers.

Harvey, S., & Kelly, E. (1993). Evaluation of the quality of parent-child relationships:
a longitudinal case study. The Arts in Psychotherapy, 20, 387-395.

Heal, M., & Wigram, T. (1993). Music Therapy in Health and Education. London
and Philadelphia: Jessica Kingsley Publishers Ltd.

Heim, E., Augustiny, K., Schaffner, L., & Valach, L. (1993). Coping with breast
cancer over time and situation. Journal of Psychosomatic Research, 37(5), 523-542.

Heyde, P., & v. Langsdorff, P. (1983). Rehabilitation Krebskranker unter Einschluß


schöpferischer Therapien. Rehabilitation, 22, 25-27.

Hildebrand, B. (1994). Vorwort. In A. L. Strauss (Ed.), Grundlagen qualitativer


Sozialforschung, (pp. 11-17). München: Wilhelm Fink Verlag.

Hoffmann, P. (1997a). Musiktherapie mit lebensbedrohlich erkrankten Menschen. In


P. Petersen (Ed.), Majestät des Todes - Bewegung des Lebens. Abstraktband zum 3.
Symposium für künstlerische Therapien, . Hannover: Medizinische Hochschule.

Hoffmann, P. (1997b). Schöpferische Musiktherapie bei Menschen mit chronischem


Schmerz. Musiktherapeutische Umschau, 18(1), 3-14.

Hubbard, T. L. (1996). Synesthesia-like mappings of lightness, pitch, and melodic


interval. American Journal of Psychology, 109(2), 219-238.

Hürny, C., Bernhard, J., Bacchi, M., van Wegberg, B., Tomamichel, M., Spek, U.,
Coates, A., Castiglione, M., Goldhirsch, A., & Senn, J. (1993). The perceived
adjustment to chronic illness scale (PACIS): a global indicator of coping for operable
breast cancer patients in clinical trials. Support Care Cancer, 1, 200-208.

464
Husserl, E. (1968). Phänomenologische Psychologie. (Vol. Husserlina Bd.9). Den
Haag: M. Mühoff.

Ingarden, R. (1962). Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Tübingen: Max


Niemeyer Verlag.

Ingarden, R. (1968). Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen: Max


Niemeyer Verlag.

Jones, E. E. (1993). Introduction to special section. Single-Case research in


psychotherapy. J. Consult Clin. Psychol., Journal of Consulting and Clinical
Psychology, 61(3), 371-372.

Jones, M. R. (1987). Dynamic pattern structure in music: Recent theory and research.
Perception and Psychophysics, 41, 621-34.

Jörgensmann, T., & Weyer, R.-D. (1991). Kleine Ethik der Improvisation. Essen:
Neue Organisation Musik.

Kammrath, I. (1989). Musiktherapie während der Chemotherapie. Krankenpflege, 6,


282-283.

Kelterborn, R. (1981). Zum Beispiel Mozart. Ein Beitrag zur Musikalischen Analyse.
Kassel: Bärenreiter Verlag.

Kerkvliet, G. J. (1990). Music therapy may help control cancer pain [news]. J-Natl-
Cancer-Inst., 82(5), 350-2.

Khan, I. (1988). Music. Claremont, USA: Hunter House Inc.

Klusmann, D. (1995). Computerprogramme zur Unterstützung qualitativer


Forschung. Psychiatrische Praxis, 22, 107-111.

Koch, T. (1994). Establishing rigour in qualitative research: the decision trail. Journal
of Advanced Nursing, 19, 976-986.

Kraus, A. (1983). Psychopathologie und Klinik der manisch-depressiven Psychosen.


In U. H. Peters (Ed.), Kindlers “Psychologie des 20. Jahrhunderts”. Psychiatrie
Band 1, (pp. 427-454). Weinheim: Beltz Verlag.

Krumhansl, C., & Shepard, R. N. (1979). Quantification of the hierarchy of tonal


functions within a diatonic context. Perception and Performance, 5, 579-94.

465
Krumhansl, C. L. (1990). Cognitive foundations of musical pitch. New York: Oxford
University Press.

Krumhansl, C. L. (1996). A Perceptual Analysis Of Mozart`s Piano Sonata K.282:


Segmentation, Tension and Musical Ideas. Music Perception, 13(3), 401-432.

Krummacher, F. (1978). Historisches Bewußtsein und musikalische Praxis. Zur


Funktion der Musikwissenschaft in der Musikhochschule. Über Schwierigkeiten der
Verständigung und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit. Melos NZ Neue
Zeitschrift für Musik, 4(5), 375-380.

Kühn, C. (1992). Formenlehre der Musik. Kassel: Bärenreiter Verlag.

Kühn, C. (1993). Analyse lernen. Kassel: Bärenreiter-Verlag.

Kurth, E. (1947). Musikpsychologie. Bern: Verlag Krompholz.

Laden, B. (1994). Melodic Anchoring and Tone Duration. Music Perception, 12(2),
199-212.

Langenberg, M., Frommer, J., & Tress, W. (1992). Qualitative Methodik zur
Beschreibung und Interpretation musiktherapeutischer Behandlungswerke.
Musiktherapeutische Umschau, 13, 258-278.

Langer, S. (1953). Feeling and Form: A Theory of Art. London: Routledge and
Kegan Paul.

Langer, S. (1992). Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus
und in der Kunst. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Lecourt, E. (1991). Off-beat music therapy: A psychoanalytic approach to autism. In


K. E. Bruscia (Ed.), Case Studies in Music Therapy, (pp. 73-98). Phoenixville:
Barcelona Publishers.

Lee, C. (1995). The analysis of therapeutic improvisatory music. In A. Gilroy & C.


Lee (Eds.), Art and Music: Therapy and Research, (pp. 35-49). London: Routledge.

Lee, C. (1996). Music at the Edge. The Music Therapy Experiences of a Musician
with Aids. London: Routledge.

Lett, W. (1993). Therapist creativity: the art of supervision. The Arts in


Psychotherapy, 20, 371-386.

466
Levinson, J. (1982). Music and Negative Emotions. Pacific Philosophical Quaterly,
63, 327-46.

Levold, T. (1997). Affekt und System. System Familie, 10, 120-127.

Levy, S. M., Haynes, L. T., Heberman, R. B., Lee, J., McFeeley, S., & Kirkwood, J.
(1992). Mastectomy versus breast conservation surgery: mental health effects at long-
term follow-up. Health Psychology, 11(6), 349-354.

Lincoln, Y. S., & Guba, E. G. (1985). Naturalistic Inquiry. Newbury Park: Sage
Publications.

Mahler, T. (1980). A rigorous test of the proposition that musical intervals have
different psychological effects. American Journal of Psychology, 93(2), 309-327.

Maier, R., & Mies, K. (1997). Musikalität - Zustand oder kognitiver Prozeß?
Fundamenta Psychiatrica, 1(11), 21-27.

Makins, M. (1991). Collins English Dictionary - Third Edition. Glasgow: Harper


Collins Publishers.

Mattheson, J. (1739). Der vollkommene Capellmeister. Kassel: Facsimile-Nachdruck


1954.

McCaffery, M. (1990). Nursing approaches to nonpharmacological pain control.


International Journal of Nursing Studies, 27(1), 1-5.

McNamee, S. (1996). Therapy and identity construction in a postmodern world. In D.


Grodin & T. Lindlof (Eds.), Constructing the Self in a Mediated World, (pp. 141-
155). Newbury Park, CA: Sage.

Mead, G. (1934). Mind, self and society. Chicago: Chicago University Press.

Meierott, L., & Schmitz, H. B. (1980). Materialien zur Musikgeschichte. (Vol. Band
1). München: Bayrischer Schulbuchverlag.

Meyer, L. (1956). Emotion and Meaning in Music. Chicago: University of Chicago


Press.

Meyer, L. B. (1967). Music, the Arts, and Ideas. Chicago: University of Chicago
Press.

467
Meyer, L. B. (1973). Explaining Music: Essays and Explorations. Chicago:
University of Chicago Press.

Meyer, L. B. (1996). Commentary. Music Perception, 13(3), 455-483.

Möllers, C. (1979). Analyse im Schulmusikstudium. Musik und Bildung, 3(11), 164-


170.

Moraitis, A. (1994). Zur Theorie der musikalischen Analyse. Frankfurt am Main:


Peter Lang Verlag.

Moras, K., Telfer, L., & Barlow, D. (1993). Efficacy and specific effects data on new
treatments: A case study strategy with mixed anxiety-depression. Journal of
Consulting and Clinical Psychology, 61, 412-420.

Moustakas, C. (1990). Heuristic Research. Newbury Park: Sage Publications.

Narmour, E. (1990). The Analysis and Cognition of basic Melodic Structures: the
Implication-Realization Model. Chicago: University of Chicago Press.

Narmour, E. (1992). The Analysis and Cognition of Melodic Complexity: the


Implication-Realization Model. Chicago: University of Chicago Press.

Nattiez, J.-J. (1975). “Densite 21.5” de Varese: Essai d’Analyse Semiologique.


Montreal: Universite de Montreal, Groupe de Recherches en Semiologie musicale,
Monographies de Semiologie et d’Analyse musicales, no. 2.

Nattiez, J.-J. (1990). Music and Discourse: Toward a Semiology of Music. Princeton,
New Jersey: Princeton Univesity Press.

Nelson, D. V., Friedman, L. C., Baer, P. E., Lane, M., & Smith, F. E. (1994).
Subtypes of psychosocial adjustment to breast cancer. Journal of Behavioral
Medicine, 17(2), 127-141.

Neugebauer, L. (1996). Music Therapy in a general hospital setting. Music Therapy


International Report, 10, 36-40.

Neugebauer, L., Gustorff, D., Matthiessen, P., & Aldridge, D. (1989). Künstlerin an
der eigenen Biographie. Musiktherapie mit Silvia. Musiktherapeutische Umschau,
10(3234-242).

Nordoff, P., & Robbins, C. (1977). Creative Music Therapy. New York: The John
Day Company.

468
Nordoff, P., & Robbins, C. (1986). Schöpferische Musiktherapie. Stuttgart: Gustav
Fischer Verlag.

Nowak, A. (1971). Hegels Musikästhetik. Regensburg: Gustav-Bosse-Verlag.

Palmer, C. (1996a). Anatomy of a performance: sources of musical expression.


Music Perception, 13(3), 433-453.

Palmer, C. (1996b). On the assignment of structure in music performance. Music


Perception, 14(1), 23-56.

Palsson, M.-B., & Norberg, A. (1995). Breast cancer patients` experiences of nursing
care with the focus on emotional support: the implementation of a nursing
intervention. Journal of Advanced Nursing, 21, 277-285.

Partridge, E. (1966). Origins. London: Routledge & Kegan Paul Ltd.

Pavlicevic, M. (1997). Music Therapy in Context. Music, Meaning and Relationship.


London: Jessica Kingsley.

Pavlicevic, M., & Trevarthen, C. (1989). A musical assessment of psychiatric states in


adults. Psychopathology, 22(6), 325-334.

Pavlicevic, M., & Trevarthen, C. (1991). “A musical assessment of psychiatric states


in adults”: Erratum. Psychopathology, 24(2), 120.

Pearce, W., & Cronen, V. (1980). Communication, action and meaning. New York:
Praeger Scientific.

Pfeifer, W. (1997). Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München:


Deutscher Taschenbuch Verlag.

Philipp, M. (1983). Klassifikation manischer und depressiver Psychosen. In U. H.


Peters (Ed.), Kindlers “Psychologie des 20. Jahrhunderts”. Psychiatrie, Band 1, (pp.
461-468). Weinheim: Beltz Verlag.

Povel, D. J. (1996). Exploring the elementary harmonic forces in the tonal system.
Psychology Research, 58, 274-283.

Procter, H. (1981). Family construct psychology. In S. Walrond-Skinner (Ed.),


Family Therapy and Approaches, . London: Routledge and Kegan Paul.

469
Quail, J. M., & Peavy, V. (1994). A phenomenologic research study of a client`s
experience in art therapy. The Arts in Psychotherapy, 21(1), 45-57.

Radvansky, G. A., Kevin, J., Simmons, F., & Simmons, J. A. (1995). Timbre reliance
in nonmusicians` and musicians` memory for melodies. Music Perception, 13(2),
127-140.

Rawnsley, M. M. (1994). Recurrence of cancer: a crisis of courage. Cancer Nursing,


17(4), 342-347.

Rehm, C. (1989). Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke - Klinikum der Universität


Witten/Herdecke. Düsseldorf: Informations-Presse-Verlag.

Reinhardt, A., & Ficker, F. (1983). Erste Erfahrungen mit Regulativer Musiktherapie
bei psychiatrischen Patienten. Psychiatr. Neurol. med. Psychol., 35, 604-610.

Rose, H. K. (1991). Depressive Syndrome. Entstehung von Depressionen. In K. P.


Kisker, H. Freyberger, H. K. Rose, & E. Wulff (Eds.), Psychiatrie, Psychosomatik,
Psychotherapie, (pp. 338-340). Stuttgart: Georg Thieme Verlag.

Rothfarb, L. A. (1991). Ernst Kurth: Selected Writings. Cambridge: Cambridge


University Press.

Ruud, E. (1988). Der improvisierende Mensch. In H. Decker-Voigt, J. T. Eschen, W.


Mahns, & H. V. Bolay (Eds.), Musik und Kommunikation. Hamburger Jahrbuch zur
Musiktherapie und intermodalen Medientherapie, (Vol. Band 2, pp. 202-210).
Bremen: Eres.

Ruud, E. (1990a, July 15-20). Music, Communication and Improvisation. The Role of
Music in the Modification of Psychotherapy Paradigms: A Sketch for a Theory of
Music Therapy. Paper presented at the 6 th. World Congress of Music Therapy, Rio
de Janeiro.

Ruud, E. (1990b, July 15-20). A phenomenological approach to improvisation in


music therapy. A research method. Paper presented at the 6th. World Congress of
Music Therapy, Rio de Janeiro.

Ruud, E., & Mahns, W. (1992). Meta-Musiktherapie. Wege zu einer Theorie der
Musiktherapie. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag.

Sacks, O. (1995). Eine Anthropologin auf dem Mars. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Verlag.

470
Sawyer, K. (1992). Improvisational creativity: An analysis of jazz performance.
Creativity Research Journal, 5(3), 253-263.

Sawyer, K. (1996). The semiotics of improvisation: The pragmatics of musical and


verbal performance. Semiotica, 108(3/4), 269-306.

Schellenberg, E. G. (1996). Expectancy in Melody: tests of the Implication-


Realization Model. Cognition, 58, 75-125.

Schellenberg, E. G., & Trehub, S. E. (1994). Frequency ratios and the discrimination
of pure tone sequences. Perception & Psychophysics, 56(4), 472-478.

Schellenberg, E. G., & Trehub, S. E. (1996). Natural musical intervals: Evidence from
infant listerners. Psychological Science, 7(5), 272-277.

Schneider, R. (1980). Semiotik der Musik. Kritische Information. München: Wilhelm


Fink Verlag.

Schoenberg, A. (1967). Grundlagen der musikalischen Komposition. Wien:


Universal Edition.

Schulz-Klein, H. (1997). Eros, Hermes, die Hermeneutik und die


tiefenhermeneutische Deutungsarbeit. Analytische Psychologie, 28, 40-57.

Schutz, S. E. (1993). Exploring the benefits of a subjective approach in qualitative


nursing research. Journal of Advanced Nursing, 20, 412-417.

Schwabe, C. (1987). Regulative Musiktherapie. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag.

Scott, J. T. (1997). Rousseau and the melodious language of freedom. The Journal of
Politics, 59(3), 803-29.

Seashore, C. E. (1938). Psychology of Music. New York: McGraw-Hill.

Seed, A. (1995). Conducting a longitudinal study: an unsantized account. Journal of


Advanced Nursing, 21, 845-852.

Segal, Z. V., & Blatt, S. J. (1993). The Self in Emotional Distress: Cognitive and
Psychodynamic Perspectives. New York: Guildford Press.

Shapiro, D. E., Rodrigue, J. R., Boggs, S. R., & Robinson, M. E. (1994). Cluster
analysis of the medical coping modes questionnaire - evidence for coping with cancer
styles. Journal of Psychosomatic Research, 38(2), 151-159.

471
Shiblis, W. (1994). Humanistic Art. Critical Review, 8(3), 371-392.

Shotter, J. (1996). Living in a Wittgensteinian world: beyond theory to a poetics of


practices. Journal for the Theory of Social Behaviour, 26(3), 293-311.

Sloboda, J. A. (1985). Expressive skill in two pianists: Style and effectiveness in


music performance. Canadian Journal of Psychology, 39, 273-93.

Smeijsters, H. (1996). Entweder - oder? Musiktherapeutische Umschau, 17, 23 - 38.

Smith, F. J. (1979). The Experience of Musical Sound. New York: Gordon and
Breach Science Publishers, Inc.

Sontag, S. (1993). Krankheit als Metapher. New York: Fischer.

Spiegel, D. (1991). A psychosocial intervention and survival time of patients with


metastatic breast cancer. Advances, The Journal of Mind-Body Health, 7(3), 10-19.

Spiegelberg, H. (1936). Der Begriff der Intentionalität in der Scholastik, bei Brentano
und bei Husserl. Philosophische Hefte, 5, 75-91.

Stanton, A. L., & Snider, P. R. (1993). Coping with a breast cancer diagnosis: a
prospective study. Health Psychology, 12(1), 16-23.

Storr, A. (1992). Music and the Mind. New York: The Free Press.

Strauss, A. L. (1994). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. München: Wilhelm


Fink.

Szabolcsi, B. (1959). Bausteine zu einer Geschichte der Melodie. Budapest: Verlag


Corvina.

Thomas, L., & Harri-Augstein, E. (1985). Self-Organised Learning: Foundations of a


Conversational Science for Psychology. London: Routledge & Kegan Paul.

Thompson, W. F. (1993). Modeling perceived relationships between melody,


harmony, and key. Perception & Psychophysics, 53(1), 13-24.

Thompson, W. F. (1994). Sensivity to combinations of musical parameters: Pitch


with duration, and pitch pattern with durational pattern. Perception & Psychophysics,
56(3), 363-374.

Trilling, L. (1972). Sincerity and Authenticity. New York: Harcourt Brace Jovanovich.

472
Tüpker, R. (1988). Ich singe, was ich nicht sagen kann. Zu einer morphologischen
Grundlegung der Musiktherapie. Regensburg: Gustav Bosse Verlag.

Tüpker, R. (1990). Auf der Suche nach angemessenen Formen wissenschaftlichen


Vorgehens in kunsttherapeutischer Forschung. In P. Petersen (Ed.), Ansätze
kunsttherapeutischer Forschung, (pp. 71-86). Berlin: Springer Verlag.

Varese, E. (1987). Die Befreiung des Klangs. In H. Danuser, D. Kämper, & P. Terse
(Eds.), Amerikanische Musik seit Charles Ives, (pp. 223-235). Regensburg: Laaber-
Verlag.

Vedeler, D. (1994). Infant intentionality as object directedness: A method for


observation. Scandinavian Journal of Psychology, 35, 343-366.

Waller, B. N. (1995). Authenticity naturalized. Behavior and Philosophy, 23(1), 21-


28.

Watkins, A. J. (1985). Scale, key, and contour in the discrimination of tuned and
mistuned approximations to melody. Perception and Psychophysics, 37, 275-85.

Watzlawick, P., Beavin, J. H., & Jackson, D. D. (1990). Menschliche


Kommunikation. Formen,Störungen, Paradoxien. Bern, Stuttgart, Toronto: Verlag
Hans Huber.

Wear, D. (1993). “Your breasts/sliced off”: Literary Images of Breast Cancer.


Woman & Health, 20(4), 81-100.

Welsch, W. (1994). Ästhet/hik. Ethische Implikationen und Konsequenzen der


Ästhetik. In C. Wulf, D. Kamper, & H. Gumbrecht (Eds.), Ethik der Ästhetik, (pp. 3-
41). Berlin: Akademie Verlag GmbH.

Weymann, E. (1990). Anzeichen des Neuen. Improvisieren als Erkenntnismittel und


als Gegenstand der Forschung. In I. Frohne-Hagemann (Ed.), Musik & Gestalt, .
Paderborn: Junfermann.

Wheeler, B. L. (1995). Introduction: Overview of music therapy research. In B. L.


Wheeler (Ed.), Music Therapy Research. Quantitative and Qualitative Perspectives, .
Phoenixville: Barcelona Publishers.

Wiesand, A. (1978). Institutionen der Musikkultur. In C. Dahlhaus (Ed.), Funkkolleg


Musik, (Vol. Studienbegleitbrief 9, pp. 11-36). Weinheim: Beltz Verlag.

473
Wilkinson, S., & Kitzinger, C. (1993). Whose breast is it anyway? A Feminist
Consideration of Advice and `Treatment`for Breast Cancer. Women`s Studies intern.
Forum, 16(3), 229-238.

Wilson, T. P. (1982). Qualitative “oder” quantitative Methoden in der


Sozialforschung. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34, 469-
486.

Wolfe, B. E. (1995). Self pathology and psychotherapy integration. Journal of


Psychotherapy Integration, 5, 293-312.

Wong, C. A., & Bramwell, L. (1992). Uncertainty and anxiety after mastectomy for
breast cancer. Cancer Nursing, 15(5), 363-371.

Wörner, K. (1965). Geschichte der Musik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Zimmermann, L., Pozehl, B., Duncan, K., & Schmitz, L. (1989). Effects of music in
patients who had chronic cancer pain. Western Journal of Nursing Research, 11(3),
298-309.

Zimmermann, M. (1978). Gegenwärtige Tendenzen der Musikästhetik. In C.


Dahlhaus (Ed.), Funkkolleg Musik, (Vol. Studienbegleitbrief 6, pp. 44-79).
Weinheim: Beltz Verlag.

Zimmerschied, D. (1974). Perspektiven Neuer Musik. Material und didaktische


Information. Mainz: B. Schott`s Söhne.

Zuckerkandl, V. (1956). Sound and Symbol. Princeton: Princeton University Press.

Zuckerkandl, V. (1963). Die Wirklichkeit der Musik. Zürich: Rhein-Verlag.

474
Appendix: Die Erläuterung der beiden Analysemuster

4 Spalten-Index

Der 4 Spalten-Index, der eine Art Hörprofil darstellt, legt die in Abschnitt “Elemente
phänomenologischer Forschung”, Kapitel 4 geäußerten Gedanken zugrunde.
Berücksichtigt wird die Tatsache, daß durch die Beschreibung musiktherapeutischer
Vorgänge eine Distanz zum eigentlichen Phänomen: der Erfahrung von Musik, die im
Moment des Entstehens erlebt wird, entsteht. Diese ist sicherlich eine notwendige
Voraussetzung, wenn es darum geht, auf empirische Weise Bedeutungsfaktoren zu
gewinnen. Um diese unmittelbar erlebte Erfahrung der individuellen, expressiven
musikalischen Aktion von ihrer Beschreibung und Interpretation abzuheben, wurde zur
deutlicheren Bewußtmachung ihrer Unterschiedlichkeit der Terminus der drei Ebenen
herangezogen. Obwohl die zweite Ebene (usage) als Beschreibungsebene relativ
sachlich und überprüfbar erscheint wird durch die Heranziehung und Wahl eines
bestimmten musikalischen Fachausdrucks bereits eine Vorentscheidung getroffen, die
die Interpretation beeinflußen kann. Somit erscheint diese Ebene als Vorstufe zur dritten
Interpretationsebene (langue). Da die erste Ebene mit den zu hörenden
Tonbandaufzeichnungen identisch ist (und im Sinne Nattiez’ als notierter ‘Körper’ der
Musik=Improvisationsausschnitte erscheint), werden in diesem ersten höranalytischen
Profil die Ebenen zwei und drei als übergeordnete Aspekte zugrundegelegt (s. Abb. A1).

Die ersten beiden Spalten konzentrieren sich auf eine genaue Beschreibung des von der
Patientin und Therapeutin gespielten musikalischen Materials, das in Notenschrift
übertragen wurde. Beide Spalten bilden die Basis der musikalischen Daten. In der
dritten Spalte wird der Versuch unternommen, kritischen Momente des musikalischen
Spielverlaufs von Patientin und Therapeutin zu notieren und ihre Bedeutung und
Wichtigkeit für die Therapie festzustellen. Das therapeutische Hören auf dieser Ebene
soll möglichst offen gehalten werden, um auch die musikalischen Kriterien und
Prinzipien zu erfassen, die einen verdeckten Einfluß auf die melodische Entwicklung im
therapeutischen Prozeß der Patientin ausüben. Die vierte Spalte beleuchtet die
persönlichen, emotionalen und metaphorischen Reaktionsweisen der Therapeutin auf die
therapeutische Situation und ihr eigenes Spiel sowie das der Patienten. Hier werden
sponatane, persönliche Reaktionen festgehalten, wie z.B. “die Patientin sucht nach
einem Anker”, oder “warum wende ich mich freien Klangsequenzen zu?” oder “die
häufigen Dreiergruppierungen im rhythmischen Spiel der Patientin haben eine starke
symbolische Wirkung auf mich”.

APPENDIX 1
Persönliche Bemerkungen
REAKTIONSWEISEN
DER THERAPEUTIN
UND EMOTIONALE
BEOBACHTUNGEN
MUSIKTHERAPEUTISCHER PERSÖNLICHE
EBENE 3

KOMMENTAR

Kritische Momente
MUSIKALISCHER INDEX

Therapeutin
EBENE 2

Patientin

29.00

29.05
Zeit

Abbildung A1: Die Zusammenstellung der einzelnen Komponenten.

Am Beispiel der Episode 8 aus Studie 1 wird gezeigt wie mit Hilfe des 4-Spalten-Index
eine Analyse des Datenmaterials durchgeführt wurde (s. Abb. A2)
EBENE ZWEI EBENE DREI

APPENDIX 2
MUSIKALISCHER INDEX MUSIKTHERA- PERSÖNLICHE
PEUTISCHER BEOBACH-
KOMMENTAR TUNGEN UND
EMOTIONALE
REAKTIONS-
WEISEN DER
THERAPEUTIN
PATIENTIN THERAPEUTIN KRITISCHE PERSÖNLICHE
MOMENTE BEMERKUNGEN
Kontext: Ep. 8 ist ein Ausschnitt aus der 2. Improvisation der 2. Sitzung. Die Patientin spielt mit 2
Schlegeln auf dem Metallophon, Ambitus: c1-a2; Die Therapeutin begleitet sie auf Klangstäben: c2-c4
T 1-2: Spielweise wie T 1-2: Begleitende Die P. hat die führende
in Ep. 7: konstruierte, zweite Stimme: abwärts Melodiestimme Die P. entwickelt hier
gebaute Motive, deutlich geführtes Quartmotiv, übernommen und spielt ihre innere
durch das wiederholt wird. diese mit Nachdruck. Ausdrucksstärke und
Tonwiederholungen und Ergänzung mit Terzmotiv Ihre Motivbildungen Führungskraft.
rhythmische Struktur. in T2, in haben ein offenes Ende, Sie weiß, was sie will.
Übereinstimmung von Gegenbewegung zur (T 2, Sexte) dadurch Etwas macht sie sicher.
klarer Struktur und forte- führenden ermöglicht sie sich, neue
Dynamik. Offenes Melodiestimme nach musikalische Ideen zu
Taktende von T 2, unten geführt. Ähnliche entwickeln.
dadurch Möglichkeit für rhythmische Gestaltung, Die P. orientiert und
neue Motivbildungen. teilweise kontrastierend. bezieht sich zu Beginn
Die Begleitstimme liegt der Episode klanglich auf
klanglich über der den Ton C, die Th.
Melodiestimme. betont klanglich das F.
Am Ende der Episode
treffen sich beide auf dem
Ton F.
T 3: Subito piano auf T 3:: Imitatorischer Eigenständigkeit in der “Ich entscheide mich”
dem Ton c2. Einsatz in der 2. dynamischen
Tonwiederholungen in T Takthälfte auf der unteren Gestaltung: subito piano
3 dienen ausschließlich Quint f1 beginnend. und allmähliches
dem Zweck der Achtelrhythmus Crescendo.
dynamischen übernehmend. Dynamik als
Gestaltung. Begleitstimme liegt bis Gestaltungsmittel und
zum Ende der Episode Wendepunkt für eine
klanglich unter der neue musikalische
führenden Stimme der P. Aussage.
T 4-5: Rhythmisch T 4-5: Unterbrechung Dichtes Klanggewebe
aktives Interplay in der Achtelkette durch und komplementäres
durchgehenden Achteln Achtelpause. Spiel zwischen P. und
auf dem Ton c2 mit dem Rhythmisch aktives Th., das die P.
1
Ton f der Th. Interplay mit P. in 2 kontrolliert und anführt.
1
Einführung von leichten Achtelgruppen auf f .
Akzenten und
Entwicklung eines
Crescendos.
T 5-8: Aus dem T 6-7: Mit der Dichter Bezug im
rhythmischen Interplay Themenbildung der P. komplementären Spiel.
heraus ein neues Thema wird eine aufsteigende, Gegenseitiger
entwickelnd: zweimalig zusammenhängende Stimmaustausch
aufwärts geführtes Achtelfigur gespielt, die innerhalb der
Quartmotiv, das mit 2 beide Quartmotive der P. Oktavlagen.
sequenzierten Quarten verbindet, ausgehend Aus der Tonwiederholung
(c/f; d/g) erweitert und in von f1 und zu f1 und dem rhythmischen
einen tonalen zurückkehrend (T 7). Interplay heraus
Zusammenhang gebracht entwickelt die P.
wird. sukzessiv ihr
thematisches Material,
von der Sekunde
allmählich zur Quarte
öffnend.

Abbildung A2: Die Analyse von Episode 8 aus Studie 1 mit Hilfe des 4 Spalten-Index.

APPENDIX 3
4 Ebenen-Index

Das Analysemuster des 4 Ebenen-Index (s. Abb. A3) legt die Kategorien der
Konstrukte und Episoden als relevante Kategorien der musikalischen Analyse zugrunde.
An Hand der 4 Ebenen kann der Zusammenhang zwischen dem aktuellen musikalischen
Beispiel (Ebene1: Musikalisches Beispiel), der exakten Beschreibung (Ebene 2:
Fokussierte musikalische Beschreibung) und den Bedeutungsfaktoren (Ebene 3 und 4)
verdeutlicht und transparent gemacht werden.

EPISODE(N)

EBENE 4:
KATEGORIEN DER
EPISODE(N)

EBENE 3:
KATEGORIEN DER
KONSTRUKTE

EBENE 2:
FOKUSSIERTE
MUSIKAL.
BESCHRIEBUNG
Pat.

Th.

EBENE 1:
MUSIKALISCHES
BEISPIEL Pat.

Th.

Abbildung A3: 4 Ebenen-Index

Am Beispiel der Episode 8 aus Studie 1 wird dieser Vorgang verdeutlicht (s. Abb. A4).

APPENDIX 4
Abbildung A4: 4 Ebenen-Index mit Beispiel der Episode 8.

APPENDIX 5

Das könnte Ihnen auch gefallen