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Axel Honneth

Philosophie und Pädagogik: Die


verlassene Schule der Demokratie
Erschienen in Die Zeit, Nr. 25/ 2012

Im politisch-philosophischen Diskurs der Moderne haben fast alle Demokratietheo-


retiker von Rang einen systematischen Beitrag zur Erziehungslehre verfasst; die
Pädagogik wurde als Zwillingsschwester der Demokratietheorie begriffen. Deshalb
war die Idee des »guten Bürgers« keine Leerformel bei Festreden. Sie wurde als
praktische Herausforderung verstanden, der man sich durch den Entwurf, ja die
experimentelle Erprobung geeigneter Schulformen gewachsen zeigen musste.
Heute dagegen ist die Verknüpfung von Demokratie- und Erziehungskonzept, von
politischer Philosophie und Pädagogik, zerrissen. Die Demokratietheorie schweigt
sich über die erzieherische Seite ihres Geschäftes weitgehend aus, weder Überlegun-
gen zu schulischen Methoden noch zum Lehrplan sind in ihr noch aufzufinden. Jede
Vorstellung davon, dass eine vitale Demokratie durch Bildungsprozesse ihre eigenen
kulturellen und moralischen Bestandsvoraussetzungen stets wieder erst erzeugen
muss, ist der politischen Philosophie abhandengekommen.
Es lohnt sich, noch einmal an die Geschichte des öffentlichen Erziehungssystems zu
erinnern, denn diese Geschichte war seit seinen Anfängen im 19. Jahrhundert eine
ununterbrochene Kette von Konflikten um Form und Gehalt des Unterrichts. Den
Zündstoff, der in dem staatlichen Versprechen eines Bürgerrechts auf Bildung und
Erziehung steckte, mag Immanuel Kant schon vorausgeahnt haben, als er den
berühmten Satz formulierte: »Zwei Erfindungen der Menschen kann man wohl als
die schweresten ansehen: die der Regierungs- und die der Erziehungskunst nämlich,
und doch ist man selbst in ihrer Idee noch streitig.«
Für Kant ergab sich die Parallele zwischen Regierungs- und Erziehungskunst aus der
Überlegung, dass es sich bei beiden um Einrichtungen handelt, die in den unter-
schiedlichen Dimensionen von Gattungs- und Individualgeschichte dieselbe Aufgabe
zu leisten haben; sie müssen uns durch geschickte Wahl der Mittel und Methoden,
eben durch eine Art von »Kunst«, darin unterrichten, wie das eine Mal ein Volk von
Untertanen, das andere Mal ein seiner Natur noch unterworfenes Kind aus dem
Zustand der Unmündigkeit in den der Freiheit zu versetzen sei.
Was zunächst wie eine bloße Analogiebildung klingt, wird in den Vorlesungen zur
Pädagogik noch viel stärker ausgedeutet. Kant verweist auf die wechselseitige
Bedingung von republikanischer Staatsordnung und Erziehung: Der kleine, naturge-
triebene Mensch muss erst einen Prozess der auf Freiheit zielenden Erziehung
durchlaufen haben, bevor er Mitglied eines sich selbst regierenden Staatsvolks
werden kann — so wie umgekehrt nur autonome Bürger eine Erziehung institutiona-
lisieren können, die ihren Kindern den Weg in die politische Mündigkeit ermöglicht.
Mit einem Wort: Eine gute Erziehung und eine republikanische Staatsordnung sind
komplementär aufeinander angewiesen. Erst der öffentliche Unterricht bringt im
Individuum die kulturellen und moralischen Befähigungen hervor, mit deren Hilfe
das republikanische Staatswesen gedeihen kann — und zwar so, dass die Bürger-
schaft auch an der Emanzipation des niederen Volkes noch Anteil nimmt.

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Doch warum haben sich politische Philosophie und Pädagogik heute nichts mehr zu
sagen? Gewiss, es gibt immer wieder Vorstöße, über Erziehung nachzudenken, aber
diese kommen einseitig von einer alleingelassenen Erziehungswissenschaft und
nicht mehr aus der Mitte der politischen Philosophie selbst.
Man könnte sich nun mit der Feststellung beruhigen, dass sich darin nur das
Ergebnis einer weiteren Differenzierung der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen
spiegelt. Aber dies wäre voreilig. Tatsächlich stößt die politische Philosophie ständig
auf das Problem der Erziehung, ohne dafür auch nur den Ansatz einer Lösung
bereitzuhalten. Das Problem der Erziehung steht viel zu sehr im Zentrum allen
politischen Handelns, es berührt viel zu umfassend die Bestandsvoraussetzungen des
Rechtsstaats, als dass es sich heute aus dem Korpus einer Wissenschaft oder einer
Philosophie der Politik heraustrennen ließe.
Die Gründe dafür, warum sich die Demokratietheorie von der Erziehungslehre abge-
koppelt hat, müssen also auf einem anderen Feld gesucht werden, und zwar dort, wo
es darum geht, in welchem Umfang die Demokratie derzeit überhaupt noch auf sich
selbst einwirken kann.

Ein immerwährender Streit


Heute herrscht die Auffassung vor, die Demokratie habe nur noch einen geringen
Spielraum bei der Erneuerung ihrer eigenen moralisch-kulturellen Bedingungen.
Darin scheint die nach ihrem Autor als Böckenförde-These benannte Vorstellung
auf, wonach die Demokratie in ihrer Reproduktion von Traditionsbeständen
abhängig ist, die sie selbst nicht erzeugen kann. Obwohl der Staatsrechtler
Böckenförde seine Einsicht ursprünglich viel enger verstanden hat, nämlich als
Hinweis auf die sittlichen Bestandsvoraussetzungen allein des modernen Rechts,
wird sie inzwischen als Beleg für die kulturelle Unselbstständigkeit aller Demo-
kratien genommen. Derart verallgemeinert, lautet die sogenannte Böckenförde-
These dann sogar, dass Demokratien ihren Erhalt moralischen Einstellungen
verdanken, die nur in Gemeinschaften mit ethischen, ja religiösen Orientierungen
gedeihen können.
Wer von dieser Vorstellung ausgeht, der wird staatlich organisierten Erziehungspro-
zessen vermutlich allen Wert für die Vermittlung von demokratiefördernden Verhal-
tensweisen absprechen. Denn moralische Einstellungen wie Toleranzfähigkeit, das
Sich-in-den-anderen-hineinversetzen-Können oder Gemeinwohlorientierung — all
dies scheint nicht im staatlich organisierten Unterricht erlernbar zu sein, sondern nur
im ethischen Milieu vorpolitischer Gemeinschaften.
Diese Tendenz zur Entkoppelung von Demokratie und Erziehung wird zusätzlich
verstärkt von der Forderung, das staatliche Neutralitätsgebot restriktiv auszulegen,
und zwar so, dass selbst noch die Prinzipien der demokratischen Willensbildung
keinerlei Niederschlag im Schulunterricht finden dürfen. Wie schon die kulturkon-
servative Neudeutung der Demokratie, nach der diese nur unter permanenter Zufuhr
von Traditionsbeständen lebensfähig bleibt, so hat sich auch die Verschärfung des
Gebots staatlicher Neutralität eher im Rücken der politischen Philosophie vollzogen
als zielgerichtet und bei vollem Bewusstsein. Ja, es kann sogar sein, dass dies die
Konsequenz einer gut gemeinten Absicht ist: Der Absicht, dem gesellschaftlichen
Pluralismus, überhaupt der wachsenden Vielfalt der Kulturen, durch die strikte
Unparteilichkeit des Unterrichts Rechnung zu tragen.
Es stimmt, um die unvermeidbare Parteilichkeit staatlichen Handelns gibt es einen

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immerwährenden Streit. Und doch stand es in der Tradition von Kant bis Durkheim
und Dewey stets außer Frage, dass der Unterricht Werte zu verkörpern habe, die für
alle künftigen Staatsbürger verpflichtend sind. So waren diese Denker von einem
überzeugt: Das Recht der Eltern, ihren Kindern die je eigenen, partikularen Wert-
überzeugungen zu vermitteln, müsse an der Schulpforte gebrochen werden. Nur so
könne den Zöglingen durch Einübung von reflexiven Verhaltensweisen der Weg zur
Teilnahme an der Demokratie geebnet werden.
Die Ausrichtung des Schulunterrichts auf dieselben demokratischen Prozeduren wird
heute in Zweifel gezogen. Entweder argumentiert man dabei mit dem Neutralitäts-
gebot und warnt vor einer Überfrachtung der Erziehung mit ihr fremden politischen
Werten. Oder man beklagt von interessierter Elternseite, dass bei zu starker Orientie-
rung an demokratischen Zielen die Vermittlung von karrierefördernden Leistungen
zu kurz komme. Finden solche Vorbehalte dann noch ungewollt Unterstützung
dadurch, dass angesichts unserer multikulturellen Realität tatsächlich vieles für eine
Befreiung unserer Schulen von weltanschaulichen Relikten spricht, so entsteht jene
Gemengelage von Falschem und Richtigem, aus der heraus plötzlich jede Art von
Parteilichkeit des Unterrichts als verwerflich gelten muss.
Auf dieser Linie liegen Erwägungen, die Schule nur noch mit der Aufgabe der
Anerziehung eines »zivilen Minimums« zu beauftragen und Eltern durch Ausbil-
dungsgutscheine die Wahl beim weltanschaulichen Charakter des Unterrichts zu
überlassen. Hierbei werden Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr als Beauftragte des
Rechtsstaats, sondern nur noch als die der Elternschaft verstanden.
Diese Entwicklung kann man nicht begrüßen. Denn je entschiedener die Schule als
ethisch neutral gedacht würde, um an ihre Stelle eine Vielzahl von weltanschaulich
gebundenen Privatschulen treten zu lassen, desto stärker ginge die Gesellschaft des
beinah einzigen Instruments verlustig, um ihre eigenen moralischen Grundlagen zu
regenerieren.
Dass der Konflikt um das Schulsystem immer auch ein Kampf um die Zukunftsfä-
higkeit von Demokratien ist — dies war keiner Tradition deutlicher bewusst präsent
als in derjenigen, die durch Kant angestoßen wurde und schließlich in Durkheim und
Dewey ihren Höhepunkt fand. Obwohl die Grundannahmen der beiden letzten
Denker einander nahezu auszuschließen scheinen —hier der szientistisch gesinnte
Soziologe, dort der pragmatisch verfahrende Philosoph—, weisen ihre Überle-
gungen zur demokratischen Erziehung doch eine Reihe von überraschenden
Gemeinsamkeiten auf. Unter den drei Funktionen, die die Schule aus heutiger Sicht
zu bündeln hat (Berufsqualifikation, Ausgleich von Bildungsdefiziten sowie die
Vorbereitung auf die Staatsbürgerrolle) heben Durkheim und Dewey einzig und
allein auf zuletzt genannte ab. Wie schon Kant verstehen sie das Erlernen von
beruflich verwertbarem Wissen eher als ein beiläufiges Resultat der Einübung von
demokratischen Gewohnheiten, und alles, was an kompensatorischer Erziehung zu
leisten ist, wird als selbstverständliche Aufgabe der Schulgemeinschaft begriffen.
Für Dewey und Durkheim ist die Vorbereitung auf die zukünftige Staatsbürgerrolle
weniger eine Sache der angemessenen Wissensvermittlung als vielmehr der prak-
tischen Gewohnheitsbildung. Was die Schüler erlernen sollen, um später an der
demokratischen Willensbildung teilnehmen zu können, sind nicht in erster Linie
überprüfbare Kenntnisse über politische oder geschichtliche Zusammenhänge,
sondern Verhaltensweisen, welche das moralisch selbstbewusste Auftreten in einer
Gemeinschaft erlauben.

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Gegen alle empirischen Befunde
Im Unterricht müssen die Heranwachsenden durch kooperative Lernmethoden,
durch Mitbestimmung und schließlich durch eher gemeinschaftsbezogene als
individuelle Formen des Tadels und der Ermutigung daran gewöhnt werden, sich
jenen Geist des demokratischen Zusammenwirkens anzueignen, der ihnen im Er-
wachsenenalter zu einem selbstbewussten Auftreten in der politischen Öffentlichkeit
verhelfen kann. Insofern sind weder Dewey noch Durkheim der —heute häufig
vertretenen— Meinung, dass die Schule primär der Ausbildung von individueller
Autonomie zu dienen hat; ihr Erziehungsbild ist vielmehr von der Idee geprägt, den
Schülern ein sicheres Gespür dafür beizubringen, was es heißt, den Mitschüler als
einen gleichberechtigten Partner in einem gemeinsamen Lern- und Untersuchungs-
prozess zu verstehen.
Mit anderen Worten: Soll die Schule erneut diejenigen Verhaltensweisen erzeugen,
die für die Demokratie lebensnotwendig sind, so muss sie statt auf einseitige
Vermittlung von moralischen Prinzipien viel stärker auf die Eingewöhnung in eine
Kultur der Assoziation setzen. Nicht das Erlernen von individuellen Grundsätzen
richtigen Handelns, sondern das Einüben von Perspektivübernahme und moralischer
Initiative bilden für Durkheim und Dewey den Königsweg, auf dem der Unterricht
zur Erneuerung der Demokratie beitragen kann.
Angesichts des großen Abstands, der uns von diesen Denkern trennt, mag mancher
den Kopf schütteln und darauf verweisen, dass sich die Anforderungen an die Schule
radikal verändert haben: Die enorm gewachsenen Schülerzahlen, der wirtschaftliche
Ruf nach Flexibilität und Leistungsbereitschaft, die Bildungsdefizite der unteren
Schichten — all das scheint in den kapitalistisch hoch entwickelten Ländern keine
andere Wahl zu lassen, als verstärkt auf Selektionsdruck, Leistungskontrolle und
Konkurrenzverhalten zu setzen. Schon gehen in den USA Politiker, Wirtschaftsfach-
leute und Manager daran, eine Schulreform vorzuschlagen, die auf nichts anderes
hinausliefe als eine Aktivierung des Unterrichts zugunsten des Erwerbs von rein
ökonomisch verwertbaren Fähigkeiten.
Diesen Tendenzen zu einer Abkehr von der Idee der demokratischen Erziehung
widersprechen freilich alle empirischen Befunde, die die Bildungsforschung und die
verschiedenen Pisa-Studien zutage gefördert haben. In ihnen findet auf eine wunder-
same Weise Bestätigung, was Durkheim und Dewey vorausgedacht hatten, als sie
zwischen kooperativen, demokratiefördernden Lehrmethoden und schulischen Leis-
tungen eine enge Beziehung herstellen wollten. Das Schulsystem, das bei allen
Leistungsvergleichen stets die besten Ergebnisse erzielt, ist nämlich zugleich
dasjenige, in welchem die Ideale der beiden Denker noch am ehesten zur Verwirkli-
chung gelangen: In den finnischen Schulen bleiben die Schüler so lange wie nur
möglich in einer einzigen Schulgemeinschaft zusammen, werden Test- und
Prüfungsverfahren auf das erforderliche Minimum reduziert, wird Verantwortung
und Vertrauen weit mehr Gewicht beigemessen als individueller Zurechenbarkeit
und gehört schließlich die Hoheit über die Unterrichtsgestaltung allein einer mit den
Schülervertretern eng kooperierenden Lehrerschaft.
Nun könnte leicht der Eindruck entstehen, als seien zugleich mit den angemessenen
Methoden eines demokratischen Unterrichts auch dessen Stoffe ein für alle Mal
gegeben und damit jedem historischen Wandel entzogen. Das ist nicht der Fall.
Schon Dewey hebt hervor, dass sich mit den jeweiligen Herausforderungen der
öffentlichen Problemlösung auch die stofflichen Gehalte des Unterrichts wandeln

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müssen; was jeweils erlernt werden muss, bemisst sich für ihn einzig und allein an
den sich historisch verändernden Aufgaben der demokratischen Willensbildung.
Ich will wenigstens zwei Themen nennen, die heutzutage im Unterricht besondere
Aufmerksamkeit und Pflege genießen müssten. Für jeden aufmerksamen Zeitgenos-
sen dürfte außer Frage stehen, dass die digitale Revolution der Kommunikationsver-
hältnisse nicht nur private Beziehungen, sondern auch die politische Meinungsbil-
dung nachhaltig verändern wird. Mit dem Internet, das Interaktionen enträumlicht
und beschleunigt, entstehen eine Vielzahl von Netzöffentlichkeiten, deren Außen-
grenzen und Themen ständig im Fluss sind. Es ist gewiss die Aufgabe des
Unterrichts, die Schüler auf den Gebrauch dieses neuen Mediums technisch und
sozial vorzubereiten. Und doch sollte sich der Unterricht darin nicht erschöpfen. Mir
schiene es vonnöten, das Zustandekommen digital verbreiteter Themen und Wis-
sensbestände experimentell zu überprüfen und gemeinsam zu erkunden, wo —neben
den Potenzialen— die Grenzen und Gefährdungen des neuen Mediums liegen.
Die zweite Herausforderung der demokratischen Öffentlichkeit ist die wachsende
Heterogenität der Bevölkerung. Auch mit Blick auf den Multikulturalismus dürfte
Konsens darüber bestehen, dass alles unternommen werden muss, um die
Schülerinnen und Schüler auf die veränderten Bedingungen der öffentlichen
Meinungsbildung vorzubereiten. Die Idee der demokratischen Erziehung hält für
dieses Problem eine Lösung bereit: Je weniger der Schüler oder die Schülerin im
Unterricht als ein isoliertes, leistungserbringendes Subjekt angesprochen und je
stärker er oder sie mithin als Mitglied einer lernenden Kooperationsgemeinschaft be-
handelt wird, desto eher dürften sich unter ihnen Kommunikationsformen einstellen,
in denen kulturelle Differenzen nicht nur spielerisch akzeptiert, sondern als Chancen
der wechselseitigen Bereicherung begriffen werden.

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