Psychologie der
Persönlichkeit
6., vollständig überarbeitete Auflage
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und danken den Lesern für Hinweise.
ISSN 0937-7433
Springer-Lehrbuch
ISBN 978-3-662-54941-4 ISBN 978-3-662-54942-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-54942-1
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bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Persönlichkeitspsychologie ist die empirische Wis- bemüht, diese Arbeit durch viele konkrete Beispie-
senschaft von der individuellen Besonderheit des le, Abbildungen und Tabellen zu erleichtern. Kern-
Verhaltens, Erlebens und der äußeren Erscheinung aussagen und zentrale Inhalte sind besonders her-
von Menschen. Diese individuelle Besonderheit vorgehoben, und am Ende jedes Kapitels wird der
macht die Persönlichkeit von Menschen aus. Auf- Stoff noch einmal durch Verständnisfragen sowie
bauend auf dieser These gibt dieses Lehrbuch, nun mit Hinweisen zu ihrer Beantwortung strukturiert.
schon in seiner 6. Auflage, eine Einführung und Ein englisch-deutsches Glossar für nicht selbstver-
Übersicht über die Grundlagen der Persönlichkeits- ständliche Übersetzungen von Fachbegriffen soll
psychologie und Differenziellen Psychologie für die Lektüre englischsprachiger Originalarbeiten
Haupt- und Nebenfachstudierende in den Bache- erleichtern.
lor- und Masterstudiengängen der Psychologie, aber
auch benachbarter Fächer wie Pädagogik, Soziolo- Trotz Voraussetzungslosigkeit und Breite haben
gie und Betriebs- bzw. Wirtschaftswissenschaft. Im wir versucht, eine gewisse analytische Tiefe in der
Mittelpunkt steht die Frage: Wie stark und warum Darstellung zu erreichen (z. B. Trennung von All-
unterscheiden sich Menschen in ihrem typischen tagspsychologie und Psychologie, Bewertung all-
Verhalten, Erleben und ihrer äußeren Erschei- tagspsychologischer und psychologischer Ansätze
nung? Mit dieser differenziellen Fragestellung ist nach wissenschaftstheoretischen Kriterien, ein
die Persönlichkeitspsychologie komplementär zur eigenes Kapitel über Methodik). Angesichts der
allgemeinen Psychologie, die zu beschreiben und derzeitigen Zersplitterung der Persönlichkeitspsy-
erklären sucht, was Menschen gemeinsam ist. Im chologie in einzelne Teilgebiete erschien es uns auch
Gegensatz zur klinischen Psychologie, die sich mit wichtig, inhaltliche Querverbindungen zwischen
pathologischen Besonderheiten beschäftigt, interes- traditionell getrennten Gebieten herzustellen (z. B.
sieren in der Persönlichkeitspsychologie vor allem zwischen Motiven, Handlungsüberzeugungen und
die Normalvarianten des Erlebens und Verhaltens. Werthaltungen) und zu versuchen, einzelne in sich
heterogene Gebiete zu integrieren (z. B. selbstbe-
Individuelle Besonderheiten in der sozialen Kogni- zogene Eigenschaften und Geschlechtsunterschie-
tion und der Gestaltung der sozialen Beziehungen de). Nicht gelingen konnte es, den gesamten Stoff
sind ebenso Gegenstand der Persönlichkeitspsycho- in einem übergreifenden systematischen Modell zu
logie wie individuelle Besonderheiten im Kindes- vereinen.
und Jugendalter, die Entwicklung von Persönlich-
keitsunterschieden und der Vergleich der Persön- Um den Umfang des Textes trotz Voraussetzungs-
lichkeit in unterschiedlichen Kulturen. Insofern gibt losigkeit, Breite und Tiefe in Grenzen zu halten,
es Überlappungen der Persönlichkeitspsychologie musste jeder Anspruch auf Vollständigkeit aufge-
mit der Sozialpsychologie, der Entwicklungspsycho- geben werden. Die Darstellung der Literatur kann
logie und der kulturvergleichenden Psychologie. im vorliegenden Lehrbuch daher immer nur exem-
Wir haben diese überlappenden Bereiche bewusst plarisch erfolgen: Zentrale Methoden, Ergebnisse
einbezogen, um einen Blick auf die gesamte Breite und Anwendungen werden an wenigen, dafür aber
persönlichkeitspsychologischer Fragestellungen möglichst konkret und detailliert geschilderten Bei-
und ihre Relevanz für andere Bereiche der Psycho- spielen illustriert.
logie zu ermöglichen.
Vor mehr als 20 Jahren veröffentlichte Jens B. Asen-
Auf diese Weise wird eine vergleichsweise große dorpf die 1. Auflage dieses inzwischen zum Klas-
Breite in der Darstellung der Persönlichkeitspsy- siker der Persönlichkeitspsychologie avancierten
chologie erreicht. Gleichzeitig ist diese Darstellung Lehrbuchs. Seit der 5. Auflage ist Franz J. Neyer als
voraussetzungslos. Das sollte aber nicht mit Plausi- Koautor beteiligt. Mit der vorliegenden 6. Auflage
bilität oder Einfachheit verwechselt werden; dieses findet nun ein Wechsel in der Autorenreihenfolge
Buch durchzulesen erfordert Arbeit. Wir haben uns statt. Da wir seit über 20 Jahren zusammenarbeiten,
VI Vorwort zur 6. Auflage
Inhaltsverzeichnis
3 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
3.1 Klassifikation von Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
3.2 Messung von Eigenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3.2.1 Skalen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3.2.2 Verteilung von Eigenschaftswerten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
3.2.3 Korrelation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
3.2.4 Reliabilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
3.2.5 Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
3.2.6 Eigenschaftsbeurteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
VIII Inhaltsverzeichnis
4 Persönlichkeitsbereiche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
4.1 Physische Merkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
4.1.1 Körperbau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
4.1.2 Physische Attraktivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
4.1.3 Exemplarische Anwendung: Halo-Effekte bei der Personalauswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
4.2 Temperament und interpersonelle Stile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
4.2.1 Extraversion und interpersonelle Stile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
4.2.2 Neurotizismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
4.2.3 Kontrolliertheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
4.2.4 Exemplarische Anwendung: Krankheitsverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4.3 Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
4.3.1 Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
4.3.2 Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
4.3.3 Soziale Kompetenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
4.3.4 Emotionale Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
4.3.5 Exemplarische Anwendung: Assessment Center. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
4.4 Handlungseigenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
4.4.1 Bedürfnisse, Motive und Interessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
4.4.2 Handlungsüberzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
4.4.3 Bewältigungsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
4.4.4 Exemplarische Anwendung: Führungspersönlichkeit und Politikvorhersage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
4.5 Bewertungsdispositionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
4.5.1 Werthaltungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
4.5.2 Einstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
4.5.3 Exemplarische Anwendung: Rückfallrisiko für Sexualstraftäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
4.6 Selbstkonzept und Wohlbefinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
4.6.1 Ich, Mich und Selbstkonzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
4.6.2 Selbstwertgefühl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
4.6.3 Dispositionale Aspekte der Selbstwertdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
4.6.4 Die dunkle Triade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
4.6.5 Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
4.6.6 Exemplarische Anwendung: Selbstdarstellung in neuen Medien (Homepages, Facebook,
Online-Dating). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
6 Persönlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
6.1 Stabilität, Veränderung und Vorhersagekraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
6.1.1 Stabilität und differenzielle Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
6.1.2 Mittelwertstabilität und Mittelwertveränderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
6.1.3 Positionsstabilität und Positionsveränderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
6.1.4 Profilstabilität und typologische Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
6.1.5 Homotype und heterotype Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
6.1.6 Langfristige Vorhersagekraft der Persönlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
6.2 Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
6.2.1 Direkte und indirekte Einflussschätzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
6.2.2 Relativer Einfluss von Genom und Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
6.2.3 Geteilte und nichtgeteilte Umwelteinflüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
6.2.4 Interaktion und Korrelation von Genom und Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
6.2.5 Genetische und Umwelteinflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
6.3 Wechselwirkungsprozesse zwischen Persönlichkeit und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
6.3.1 Intellektuelle Leistungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
6.3.2 Antisoziale Persönlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
6.3.3 Schüchternheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
6.3.4 Exemplarische Anwendung: Umgang mit schüchternen Kindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
6.3.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
6.4 Zufall und Notwendigkeit in der Persönlichkeitsentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
7 Geschlechtsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
7.1 Geschlecht und Geschlechtsstereotyp. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
7.2 Geschlechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
7.2.1 Genetisches Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
7.2.2 Hormonelles und neuronales Geschlecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
7.2.3 Entwicklung des Geschlechtsverständnisses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
7.2.4 Entwicklung geschlechtsbezogener Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
7.2.5 Entwicklung geschlechtstypischen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
7.2.6 Entwicklung der sexuellen Orientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
7.3 Die Größe psychologischer Geschlechtsunterschiede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
7.3.1 Geschlechtsunterschiede in kognitiven Fähigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
7.3.2 Soziale Geschlechtsunterschiede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
7.4 Geschlechtsunterschiede im Kulturvergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
7.4.1 Geschlechtsstereotype und Geschlechteregalität im Kulturvergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
7.4.2 Kognitive Geschlechtsunterschiede im Kulturvergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
7.4.3 Soziale Geschlechtsunterschiede im Kulturvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
7.5 Erklärungsansätze für psychologische Geschlechtsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
7.5.1 Psychoanalytische Erklärungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
7.5.2 Lerntheoretische Erklärungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
7.5.3 Kognitive Erklärungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
7.5.4 Kulturpsychologische Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
X Inhaltsverzeichnis
Serviceteil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
A1 Weitere Informationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
A1.1 Fachliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
A1.2 WWW-Adressen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
XII Didaktikseite
114 Tabellen:
Anschaulich und
übersichtlich
Leitsystem:
Dispositionshierarchie ist nicht die einzig mögliche. . Tab. 4.8 Typische Aufgaben für zwei Altersstufen.
Zur schnellen Ryff und Keyes (1995) zeigten, dass sich 6 verwandte, (Nach Binet & Simon, 1905)
Orientierung
aber nicht identische Unterfaktoren von Wohlbefin-
den voneinander unterscheiden lassen: Altersstufe 6 Altersstufe 10
55 Selbstakzeptanz,
4 55 Kontrolle über die Umwelt,
Erkennt das
hübschere Gesicht aus
Konstruiert einen sinnvollen
Satz aus den Worten Paris,
55 sinnerfülltes Leben, jedem von 3 Paaren Glück, Rinnstein
55 persönliches Wachstum, Kennt rechts und links Kennt die Monate des
55 positive soziale Beziehungen und (zeigt auf das richtige Jahres in der richtigen
55 Autonomie. Ohr) Reihenfolge
Wiederholt einen Satz Erinnert sich an
Lernziele aus 16 Silben 9 Geldstücke
44 Halo-Effekte bei der Wahrnehmung physi-
Lernziele: scher Merkmale verstehen und die eigene
Worauf es
ankommt
Wahrnehmung entsprechend korrigieren können, zwischen Selbstwertgefühl und selbstwertrelevanten
44 die Bedeutung der physischen Attraktivität besser Situationen? Hierzu liegen zahlreiche sozialpsycho-
verstehen. logische Studien vor, die für die Persönlichkeitspsy-
chologie höchst bedeutsam sind. Da es sich um eine
Vermutlich weil so hohe Zahlen für unrealistisch ausgesprochen komplexe Wechselwirkung handelt,
Methodik :
gehalten wurden. Weisbuch, Ivevic und Ambady Praktisches
(2009) verglichen Attraktivitätsurteile über Studie- Handwerkszeug
rende nach einer realen sozialen Interaktion mit den Methodik
Urteilen über ihre Facebook-Selbstdarstellung und Das Konzept des Intelligenzalters
fanden eine klare Konsistenz der Urteile. Binet und Simon entwickelten für jede
Altersstufe zwischen 3 und 15 Jahren fünf oder
> Facebook-Selbstdarstellungen sind mehr mittelschwere Aufgaben (sie konnten
mindestens so valide wie Homepage- von 50%–75% der Kinder des entsprechenden
Selbstdarstellungen was Persönlichkeits- Alters gelöst werden; . Tab. 4.8).
unterschiede angeht. Ein Grund ist die
Merksätze:
Besonders
größere Interaktivität von Facebook.
wichtig ist es sinnvoll, zunächst einzelne Prozesse isoliert
vzu betrachten und sie erst anschließend zu einem
4.6.3 Dispositionale Aspekte der Gesamtbild der Selbstwertdynamik zusammenzufü-
Selbstwertdynamik gen. Die Darstellung ist dabei an allgemeinpsycholo-
gisch definierten Prozessen orientiert, aber die Dis-
Um individuelle Besonderheiten im Selbstwertgefühl kussion dieser Prozesse erfolgt aus persönlichkeits-
zu verstehen, ist es sinnvoll, das Selbstwertgefühl aus psychologischer Perspektive: Welche individuellen
dynamisch-interaktionistischer Sicht zu betrachten Besonderheiten gibt es in den Prozessen?
(7 Abschn. 2.3.3): Welche Wechselwirkung besteht
4.6.3.1 Selbstwahrnehmung
Die klassische Studie Eine Quelle selbstwertrelevanter Informationen ist
Deutsch et al. (1988) baten 62 Studentinnen, die Wahrnehmung des eigenen Körpers, physiolo-
Die klassische sieben Eigenschaften zu nennen, die sie gischer Prozesse und eigenen Verhaltens. Eine Viel-
Studie: Spannende
Wissenschaft
besonders gut charakterisierten; anschließend zahl von Sinnesmodalitäten (z. B. kinästhetische,
beurteilten die Studentinnen auf einer visuelle, akustische) liefern ständig Information
Ratingskala. darüber, wie wir aussehen und uns verhalten; durch
Hilfsmittel wie einen Spiegel, Videofeedback oder
XIII
. Abb. 4.13 Stärke der Leistungsmotivation (und – gestrichelt – der Erfolgs- und Misserfolgstendenz) in Abhängigkeit von
der subjektiven Erfolgswahrscheinlichkeit. (a) Erfolgsmotiv ist stärker als Misserfolgsmotiv. (b) Misserfolgsmotiv ist stärker als
Erfolgsmotiv. (Mod. nach Heckhausen & Heckhausen, 2006)
Biofeedback können wir den Erfahrungsraum für Vorgänge – zu den meisten haben wir überhaupt
die Selbstwahrnehmung noch erweitern. Dennoch keinen direkten sensorischen Zugang. Deshalb ist
ist unsere Selbstwahrnehmung keineswegs sehr das auf Selbstwahrnehmung gegründete Selbstkon-
akkurat; selbst im visuellen. zept abhängig von der Genauigkeit der Selbstwahr-
nehmung und diese kann von Person zu Person
Unter der Lupe: Unter der Lupe variieren.
Expertenwissen
Übungsfragen:
Spearmans Zwei-Faktoren-Theorie der ? Fragen Fit für die
Intelligenz 4.44 In welcher Hinsicht unterscheiden
Prüfung!
ŝŶĨĂĐŚůĞƐĞŶ͕ŚƂƌĞŶ͕ůĞƌŶĞŶŝŵtĞďʹŐĂŶnjŽŚŶĞZĞŐŝƐƚƌŝĞƌƵŶŐ͊ &ƌĂŐĞŶ͍
ƌĞĚĂŬƟŽŶΛůĞŚƌďƵĐŚͲ
ƉƐLJĐŚŽůŽŐŝĞ͘ĚĞ
1 1
Persönlichkeit in Alltag,
Wissenschaft und Praxis
Wer sich mit der Psychologie als Wissenschaft beschäftigt, wir, uns auch ein Bild von weniger offensichtlichen Eigen-
1 tut dies immer vor dem Hintergrund der Alltagspsychologie schaften zu machen: von Überzeugungen und Vorurteilen,
– der von den meisten Mitgliedern einer Kultur geteilten wunden Punkten, geheimen Wünschen und Ängsten. Wir
Annahmen über das Erleben und Verhalten von Menschen. schließen dabei von beobachtbaren Verhaltenstendenzen
Wir alle nehmen das Verhalten anderer Menschen und unserer Mitmenschen auf Tendenzen in ihrem Erleben. So
unser eigenes Erleben und Verhalten durch die Brille der versuchen wir, hinter die Maske der Selbstdarstellung auf der
Alltagspsychologie wahr. Dazu gehören auch Vorstellungen Bühne des sozialen Lebens zu blicken. Es entsteht ein Bild der
darüber, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht Persönlichkeit eines Menschen, das seine Individualität in
und wie sie zu erklären ist. Wissenschaftliche Persönlich- körperlicher Erscheinung, Verhalten und Erleben beschreibt.
keitskonzepte gehen über diese naiven Vorstellungen hin-
aus. Sie lassen sich in Paradigmen gliedern, die bestimmten > Unter der Persönlichkeit eines Menschen wird die
wissenschaftlichen Kriterien genügen sollen. Besonders Gesamtheit seiner Persönlichkeitseigenschaften
streng sind diese Anforderungen bei empirischen Wissen- verstanden: die individuellen Besonderheiten in der
schaften, deren Aussagen sich anhand von Beobachtungs- körperlichen Erscheinung und in Regelmäßigkeiten
daten überprüfen lassen müssen. Das psychoanalytische des Verhaltens und Erlebens.
Persönlichkeitskonzept beispielsweise ist zwar ein wissen-
schaftliches Paradigma, genügt aber nicht den strengen Das ist für die Orientierung im Alltag ebenso wichtig wie
Anforderungen an eine empirische Persönlichkeitspsycho- für den Umgang mit Mitarbeitern in der beruflichen Praxis:
logie, deren Methoden, Ergebnisse und Anwendungen in „Würde die Aufnahme dieses hochattraktiven Mannes in
der Praxis in diesem Lehrbuch dargestellt werden. das ansonsten rein weibliche Team zu Konflikten führen?“
„Kann ich ihr vertrauen?“ „Wird er das verstehen oder muss
ich ihm das ausführlicher erklären?“ „Ich weiß, dass sie da
Lernziele besonders empfindlich reagiert, und werde es ihr deshalb
44 Verwendung von Persönlichkeitseigenschaften im Alltag möglichst schonend beibringen.“ „So wie dieser Kunde da
besser verstehen, ankommt, biete ich ihm lieber unser Öko-Modell an, der
44 Unterschiede zwischen dem Alltagsbegriff der Persön- Preis alleine zieht bei dem sicher nicht.“
lichkeit und wissenschaftlichen Konzepten der Persön-
lichkeit benennen können, > Ein gutes Verständnis der Persönlichkeit anderer
44 psychoanalytische Persönlichkeitskonzepte aus Sicht der ist wichtig für die Orientierung im Alltag und die
empirischen Psychologie beurteilen können sowie berufliche Praxis.
44 einen ersten Überblick über Anwendungsmöglichkeiten
der Persönlichkeitspsychologie in der beruflichen Praxis Hierbei nutzen wir – Nichtpsychologen und Psychologen –
gewinnen. unsere Alltagspsychologie, die auf kulturell tradierten Über-
zeugungen beruht und die wir tagtäglich zur Beschreibung,
Erklärung und Vorhersage des Erlebens und Verhaltens von
Mitmenschen und von uns selbst anwenden.
1.1 Alltagsverständnis der Persönlichkeit Im Vergleich zu unserem Alltagswissen über Physik –
unsere Alltagsphysik – erscheint die Alltagspsychologie
Menschen unterscheiden sich in ihrer körperlichen Erschei- sowohl besonders differenziert als auch emotional besetzt; sie
nung. Schon in den ersten Sekunden der Begegnung mit enthält nicht nur Meinungen, die wir schnell ändern könnten,
Fremden bilden wir uns ganz automatisch einen ersten Ein- sondern viele tiefsitzende Überzeugungen, die aufzugeben
druck von ihnen – groß oder klein, schön oder hässlich. uns äußerst schwerfällt. Das liegt wohl vor allem daran, dass
Ganz entsprechend bilden wir uns auch schon einen ersten wir uns selbst kompetenter für psychologische Fragen fühlen
Eindruck über ihre charakteristischen Regelmäßigkeiten im als für physikalische Probleme. Wir sind gewohnt, die Lösung
Verhalten: regelmäßig mehr oder weniger freundlich, ver- alltagsrelevanter physikalischer Probleme an Experten – Phy-
trauenswürdig, intelligent, gesellig, ängstlich. So machen siker und Ingenieure – zu delegieren, denen wir aufgrund
wir uns sehr schnell ein erstes Bild von ihrer Persönlichkeit: der unbestreitbaren praktischen Erfolge der Physik nahezu
von ihren individuellen Besonderheiten im körperlichen unbegrenztes Vertrauen schenken. Von der Psychologie, die
Erscheinungsbild und im Verhalten. bisher keine so durchschlagenden praktischen Erfolge wie
Im weiteren Verlauf des Kennenlernens verfeinern wir die Physik aufweisen kann, erwarten wir vergleichsweise
diesen ersten Eindruck immer mehr, korrigieren ihn, ergän- weniger. Entsprechend skeptisch stehen wir psychologischen
zen ihn. So merken wir beispielsweise, dass jemand in ganz Erkenntnissen und psychologischen Experten gegenüber.
bestimmten Situationen auffällig unsicher reagiert, obwohl Diese Skepsis dürfte ein Grund dafür sein, dass es den
er insgesamt eher selbstbewusst ist. Gleichzeitig beginnen meisten Menschen schwerfällt, Alltagspsychologie und
1.1 · Alltagsverständnis der Persönlichkeit
3 1
Psychologie auseinanderzuhalten. Ein weiterer Grund
ist sicherlich, dass psychologische Begriffe oft denselben
Namen tragen wie alltagspsychologische Konzepte, obwohl
sie als wissenschaftliche Begriffe eine präzisere und teilweise
auch eine vom alltagspsychologischen Konzept abwei-
chende Bedeutung haben. Bei vielen physikalischen Begrif-
fen kommt eine solche Verwechselung schon deshalb nicht
vor, weil sie keine Entsprechung in der Alltagsphysik haben;
was ein Elektron oder ein Quark ist, überlassen wir ganz den
Physikern. Ängstlichkeit, Aggressivität, Geselligkeit oder
die Persönlichkeit eines Menschen sind dagegen alltagspsy-
chologische Konzepte, die gleichnamigen psychologischen
Begriffen entsprechen. Darum ist es ein Ziel dieser Einfüh-
rung in die Persönlichkeitspsychologie, den Unterschied
zwischen alltagspsychologischen und psychologischen Per-
sönlichkeitskonzepten von Anfang an möglichst klar her-
auszuarbeiten. Dieses Kapitel beschäftigt sich deshalb noch
gar nicht mit Persönlichkeitspsychologie, sondern mit dem
alltagspsychologischen Persönlichkeitskonzept.
Laucken (1974) unternahm einen umfassenden Versuch,
die deutsche Alltagspsychologie zu analysieren. Dazu notierte
und katalogisierte er eineinhalb Jahre lang alle alltagspsycho-
logischen Erklärungen, die ihm in Gesprächen, Büchern und
Filmen begegneten. Gestützt auf dieses Datenmaterial – aber
sicherlich auch auf sein psychologisches Wissen – rekonstru-
ierte Laucken die Struktur der deutschen Alltagspsychologie. . Abb. 1.1 Die Struktur der Alltagspsychologie. (Mod. nach
Danach besteht sie aus einer naiven Prozesstheorie und einer Laucken 1974, Diagramm I, mit freundl. Genehmigung)
naiven Dispositionstheorie (. Abb. 1.1).
Alltagspsychologisch beobachtbar, vorhersage- und erklä-
rungsbedürftig ist das Erleben und Verhalten einer Person in müssen sie erst mühsam aus unserem Wissen über Einzel-
einer bestimmten Situation. Laucken unterschied dabei zwei fälle rekonstruieren.
Komponenten alltagspsychologischer Erklärungen: Zentral für das alltagspsychologische Persönlichkeits-
55 die naive Prozesstheorie, die aus Vorstellungen konzept sind die Dispositionstheorie und ihr Dispositions-
über aktuell ablaufende Prozesse der Informations- begriff (7 Unter der Lupe).
verarbeitung besteht (Wahrnehmungsprozesse,
kognitive, motivationale und emotionale Prozesse bis Unter der Lupe
hin zu Prozessen der Verhaltensaktivierung);
55 die naive Dispositionstheorie, die aus Vorstellungen Der Dispositionsbegriff
über Dispositionen besteht, d. h. überdauernden Eine Disposition ist ein Merkmal einer Person, das
Merkmalen der Person, die für ihr Verhalten verant- eine mittelfristige zeitliche Stabilität aufweist,
wortlich gemacht werden (z. B. Wissensbestände, d. h. zumindest Wochen oder Monate überdauert.
Fähigkeiten, Temperamentsmerkmale, Interessen). Eine Disposition lässt eine Person in bestimmten
Situationen ein bestimmtes Verhalten zeigen. Die
Diese beiden naiven Theorien sind Rekonstruktionen der Dispositionen einer Person müssen streng von
Alltagspsychologie, d. h. alltagspsychologische Argumen- ihrem Verhalten unterschieden werden. Verhalten
tationen laufen so ab, als ob sie auf diesen beiden Theorien fluktuiert von Sekunde zu Sekunde und ist direkt
beruhen würden. Explizit repräsentiert sind diese Theo- beobachtbar. Dispositionen sind zeitlich stabiler
rien alltagspsychologisch nicht. Sie haben also denselben und nicht direkt beobachtbar, sondern nur aus den
Status wie eine grammatikalische Regel der Muttersprache: beobachtbaren Verhaltensregelmäßigkeiten einer
Wir benutzen solche Regeln beim Sprechen intuitiv, also Person erschließbar. In der Alltagspsychologie werden
ohne uns dessen bewusst zu sein. Fragt uns ein Ausländer, Dispositionsbegriffe intuitiv zur Beschreibung von
der etwas Deutsch beherrscht, nach einer solchen Regel, Verhaltensregelmäßigkeiten und zur Erklärung und
geraten wir meist in Verlegenheit, weil wir sie nie explizit Vorhersage von Verhalten verwendet.
erlernt haben wie beim Erwerb einer Fremdsprache; wir
4 Kapitel 1 · Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis
Beispiele für naiv-prozesstheoretische Erklärungen sind: Die vertikale Koppelung von Dispositionen kommt
1 „Warum verlässt X sein Bürozimmer? – Um Zigaretten zu durch den Glauben zustande, dass bestimmte Dispositio-
holen“, „Warum fiel X durch die Prüfung? – Sie hatte einen nen Spezialfälle umfassenderer Dispositionen sind, also
emotionalen Block“. Beispiele für naiv-dispositionstheore- ihnen untergeordnet sind. Zum Beispiel wird angenom-
tische Erklärungen desselben Verhaltens von X in densel- men, dass Prüfungsängstlichkeit, Ängstlichkeit beim Blut-
ben Situationen sind: „Warum verlässt X gerade sein Büro- abnehmen und Ängstlichkeit beim Sprechen vor großen
zimmer? – Weil er immer um diese Zeit geht“, „Warum fiel Gruppen zusammenhängen, weil sie Spezialfälle der über-
X durch die Prüfung? – Weil sie prüfungsängstlich ist“. geordneten Eigenschaft „Ängstlichkeit” sind. Das ist nur
Diese Beispiele zeigen, dass dasselbe Verhalten alltagspsy- z. T. richtig, weil Ängstlichkeit beim Blutabnehmen nicht
chologisch sowohl auf Prozesse als auch auf Dispositionen mit Prüfungsängstlichkeit und Ängstlichkeit beim Spre-
zurückgeführt werden kann. Diese beiden Erklärungsmus- chen vor großen Gruppen zusammenhängt, während die
ter schließen sich nicht wechselseitig aus, sondern sind beiden letzteren Ängstlichkeitsformen tatsächlich eng ver-
zwei mögliche, durchaus auch kombinierbare Erklärungs- knüpft sind.
ansätze, z. B. in: „Warum fiel X durch die Prüfung? – Weil
sie prüfungsängstlich ist und deshalb einen emotionalen > Dispositionen können durch Über- bzw.
Block hatte“. In der Alltagspsychologie wird ohnehin ange- Unterordnung vertikal verknüpft sein.
nommen, dass Dispositionen immer über eine Einwirkung
auf das Prozessgeschehen das Verhalten beeinflussen (vgl. Nach alltagspsychologischer Meinung kommen die körper-
. Abb. 1.1); oft wird dies nur nicht ausdrücklich gesagt. So lichen Persönlichkeitseigenschaften durch Vererbung und
ist mit „prüfungsängstlich“ die Vorstellung verbunden, dass Dispositionen zustande (z. B. Lachfältchen durch Freund-
jemand in Prüfungen besonders aufgeregt sei, was die Kon- lichkeit), die Verhaltensdispositionen wiederum durch zwei
zentration auf die Aufgaben behindere und dadurch zu einer völlig unabhängige Prozesse: Vererbung und Lernen. Dabei
Leistungsbeeinträchtigung führe. wird angenommen, dass vererbte Dispositionen besonders
In der naiven Prozesstheorie finden sich auf der einen änderungsresistent sind („dumm bleibt dumm, da helfen
Seite Akte (z. B. Wahrnehmen, Fühlen, Planen, Entscheiden) keine Pillen“). Ansonsten werden Dispositionen nach all-
und auf der anderen Seite Inhalte, an denen sich die Akte tagspsychologischer Auffassung durch direkte Auseinander-
vollziehen (z. B. Wahrnehmungsinhalte, Gefühle, Denkin- setzung mit der Umwelt oder durch Instruktion erlernt. In
halte). Dispositionen werden in der Alltagspsychologie ein- späteren Kapiteln werden wir sehen, dass auch diese Annah-
gesetzt, um zu erklären, warum jemand bestimmte Akte men nur teilweise richtig sind.
vollzieht oder woher bestimmte aktuelle Inhalte stammen.
Neben Dispositionen werden im Alltag auch leicht beob- > Alltagspsychologisch gesehen kommen körperliche
achtbare körperliche Merkmale zur Charakterisierung der Persönlichkeitsmerkmale durch Vererbung und
Persönlichkeit herangezogen, z. B. Gesichtsform, Größe, Dispositionen zustande, Verhaltensdispositionen
Schlankheit. dagegen durch Vererbung und Lernen.
Die einzelnen Dispositionen eines Menschen stehen
nach alltagspsychologischer Auffassung nicht zusammen- Wir nutzen also in unserem alltäglichen Umgang mit
hangslos nebeneinander, sondern sind horizontal und anderen eine komplexe, kulturell tradierte Wissensstruk-
vertikal verknüpft. Ihre horizontale Verknüpfung kommt tur, die wir ähnlich wie die Grammatik unserer Mutter-
durch den Glauben zustande, dass bestimmte Disposi- sprache intuitiv anwenden und die detaillierte Vorstel-
tionen gekoppelt auftreten. Zum Beispiel wird angenom- lungen darüber enthält, wie Verhaltensregelmäßigkeiten
men, dass schöne Menschen eher intelligent sind: Zeigt zustande kommen. Diese Wissensstruktur erleichtert uns
man Beurteilern Porträtaufnahmen von Menschen, die den Umgang mit anderen enorm. Könnten wir nämlich
sich deutlich in der Schönheit des Gesichts unterscheiden, deren Persönlichkeit gar nicht einschätzen, wäre unsere
werden die Schönen für intelligenter gehalten. Das ist ein Flexibilität im Verhalten stark eingeschränkt. Das Einzige,
reines Vorurteil, weil die so beurteilte Schönheit nicht mit was uns bliebe, wären Verhaltenskonventionen, nach denen
der Leistung in Intelligenztests übereinstimmt. Andere wir uns jedem gegenüber gleich verhalten müssten, ohne
Annahmen über horizontale Koppelungen sind realisti- dessen Individualität zu berücksichtigen. Das würde unsere
scher, z. B. dass eine rechte politische Einstellung eher mit Einflussmöglichkeiten auf andere schmälern. Die Alltags-
Ausländerfeindlichkeit verknüpft ist als eine linke politi- psychologie der Persönlichkeit erlaubt es, uns auf die indi-
sche Einstellung. viduellen Besonderheiten anderer einzustellen und unseren
Nutzen – oder einen gemeinsamen Nutzen – daraus zu
> Dispositionen können durch gleichzeitiges ziehen. Das vermittelt auch ein Gefühl der Sicherheit: Wir
Auftreten horizontal verknüpft sein. glauben zu wissen, wer der andere ist.
1.2 · Wissenschaftliche Persönlichkeitskonzepte
5 1
1.2 Wissenschaftliche längere historische Perioden in der Entwicklung
Persönlichkeitskonzepte einer Wissenschaft überdauert.
1.2.1 Wissenschaftsparadigmen Aus dieser Sicht lässt sich die Frage nach der Wissenschafts-
tauglichkeit der Alltagspsychologie weiter präzisieren: Ließe
sich eine schriftlich fixierte Alltagspsychologie der Persön-
Insgesamt ist die Alltagspsychologie der Persönlichkeit lichkeit als Paradigma der Persönlichkeitspsychologie auf-
also ein hochdifferenziertes, praxisnahes System von Aus- fassen? Es gibt in der Alltagspsychologie ja Leitsätze (z. B.
sagen über die menschliche Persönlichkeit. Brauchen wir in „Extraversion fördert den Erfolg im Außendienst“), Fra-
diesem Fall überhaupt noch eine wissenschaftliche Alter- gestellungen (z. B. „Ist diese Bewerberin geeignet für den
native? Könnten wir nicht einfach die Alltagspsychologie Außendienst?“) und Methoden zu ihrer Beantwortung (z. B.
der Persönlichkeit ein wenig expliziter gestalten, indem „Wenn diese Bewerberin im Bewerbungsgespräch positiv,
wir sie schriftlich fixieren? Ist sie dann nicht bereits eine offen und zugewandt wirkt, ist sie extravertiert und deshalb
Wissenschaft? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir geeignet für den Außendienst“). Genügen aber die Leitsätze
zunächst einmal klären, was eigentlich eine wissenschaft- und Methoden der Alltagspsychologie den Anforderungen
liche Theorie ausmacht und von nichtwissenschaftlichen an ein wissenschaftliches Paradigma?
Erklärungssystemen unterscheidet. Die meisten Paradigmen haben zumindest den
Wie der Wissenschaftshistoriker Kuhn (1967) gezeigt Anspruch, den in . Tab. 1.1 folgenden allgemeinen Qua-
hat, lassen sich Wissenschaften meist in mehrere Paradig- litätskriterien zu genügen. Darüber hinaus gibt es empiri-
men gliedern, charakterisiert durch ein Bündel theoreti- sche Wissenschaften (Erfahrungswissenschaften), die auf
scher Leitsätze, Fragestellungen und Methoden zu ihrer Beobachtungsdaten aufbauen und deren Aussagen sich
Beantwortung. Paradigmen überdauern längere historische durch Beobachtung bestätigen oder widerlegen lassen.
Perioden in der Entwicklung einer Wissenschaft, können Diese Wissenschaften müssen zwei Zusatzkriterien erfül-
sich dabei verändern und auch ganz verschwinden, weil sie len (. Tab. 1.1).
durch neue Paradigmen ersetzt werden. Meist koexistieren Bewerten wir also die Alltagspsychologie der Persön-
zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt mehrere, teil- lichkeit zunächst nach den allgemeinen Kriterien für ein
weise auch in Konkurrenz stehende Paradigmen. wissenschaftliches Paradigma. Das schärft bereits unseren
Blick dafür, was ein solches Paradigma überhaupt ist.
> Ein Wissenschaftsparadigma ist ein in 1. Explizitheit. Wissenschaftliche Begriffe sollen explizit
sich einigermaßen kohärentes, von vielen definiert sein, damit sie von unterschiedlichen
Wissenschaftlern geteiltes Bündel aus theoretischen Wissenschaftlern in gleicher Weise verstanden
Leitsätzen, Fragestellungen und Methoden, das werden. Die Grundbegriffe der Alltagspsychologie
Kriterium Erläuterung
Allgemeine Kriterien
1. Explizitheit Die Begriffe und Aussagen des Paradigmas sollen explizit dargelegt sein.
2. Widerspruchsfreiheit Die Aussagen sollen sich nicht widersprechen.
3. Vollständigkeit Die Aussagen sollen alle bekannten Phänomene des Gegenstandsbereichs des
Paradigmas erklären.
4. Sparsamkeit Das Paradigma soll mit möglichst wenigen Grundbegriffen auskommen.
5. Produktivität Das Paradigma soll neue Fragestellungen erzeugen und dadurch die Forschung
voranbringen.
6. Anwendbarkeit Das Paradigma soll sich praktisch anwenden lassen.
Zusatzkriterien für empirische Wissenschaften
7. Empirische Verankerung Die Begriffe des Paradigmas sollen sich direkt oder indirekt auf Beobachtungs-
daten beziehen.
8. Empirische Prüfbarkeit Die Aussagen des Paradigmas sollen sich anhand von Beobachtungsdaten über-
prüfen lassen.
6 Kapitel 1 · Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis
sind jedoch eher schwammig und werden von 5. Produktivität. Wäre die Alltagspsychologie der
1 unterschiedlichen Menschen in ähnlicher, aber nicht Persönlichkeit ein wissenschaftliches Paradigma,
identischer Weise verwendet. Wenn Nichtpsycho- würde ihr reiches Reservoir an Eigenschaften nahezu
logen um eine Definition eines alltagspsychologischen unbegrenzte Möglichkeiten für Untersuchungen über
Begriffs gebeten werden, müssen sie sehr nachdenken, die Funktion bestimmter Eigenschaften und ihrer
um die Bedeutung einigermaßen zutreffend zu Koppelungen untereinander bieten. Deshalb wird oft
rekonstruieren. Was bedeutet „extravertiert“ genau? in der Persönlichkeitspsychologie dazu aufgerufen,
Wo ist die Grenze zwischen „stark extravertiert“ und doch die „Weisheit der Sprache“ zu nutzen (gemeint
„mittelmäßig extravertiert“? Was ist eine Persön- ist damit die Weisheit der Alltagspsychologie).
lichkeitseigenschaft, was ist die Persönlichkeit eines Diese Vielfalt möglicher Fragestellungen würde aber
Menschen? gleichzeitig die Gefahr der Verzettelung in immer
2. Widerspruchsfreiheit. In der Alltagspsychologie neue, wenig aufeinander bezogene Fragestellungen
der Persönlichkeit finden sich oft widersprüchliche heraufbeschwören, was einen kontinuierlichen
Behauptungen wie z. B. „gleich und gleich gesellt sich Erkenntnisfortschritt behindern würde. Insgesamt
gern“ (im Sinne von „ähnliche Persönlichkeiten gehen wäre ein solches Paradigma damit wissenschaftlich
eher eine Beziehung ein als unähnliche“) und „Gegen- nicht allzu produktiv.
sätze ziehen sich an“ (im Sinne von „unähnliche 6. Anwendbarkeit. Wie wir schon gesehen haben, liegt
Persönlichkeiten gehen eher eine Beziehung ein als die Stärke der Alltagspsychologie in ihrer einfachen,
ähnliche“). Ein derartig widersprüchliches Aussagen- schnellen und robusten Anwendbarkeit auf alltägliche
system erklärt jeden beliebigen Sachverhalt, damit Probleme der Verhaltenserklärung und -vorhersage.
auch sein Gegenteil und somit nichts: Es handelt sich Deshalb bewährt sich die Alltagspsychologie der
nur um Scheinerklärungen. Das fällt nicht unbedingt Persönlichkeit trotz der oben genannten Schwächen
auf. Im Gegenteil: Das Paradigma scheint zutreffend im Alltag gut.
zu sein, denn es liefert für alles eine Erklärung.
3. Vollständigkeit. Paradigmen sollen alles schon Die Alltagspsychologie der Persönlichkeit ist vollständig
Bekannte erklären. Hier liegt eine der Stärken der und anwendbar, aber nicht ausreichend explizit, wider-
Alltagspsychologie der Persönlichkeit, denn wegen spruchsfrei, sparsam und produktiv. Damit eignet sie sich
der riesigen Menge von Eigenschaften, die zu einer nicht als Paradigma einer Wissenschaft.
Erklärung herangezogen werden können, lassen sich
fast alle beobachtbaren individuellen Besonderheiten > Die Alltagspsychologie der Persönlichkeit eignet
erklären. Das wird allerdings durch eine mangelnde sich nicht als wissenschaftliches Paradigma.
Widerspruchsfreiheit erkauft.
4. Sparsamkeit. Die Alltagspsychologie der Persön- Paradigmen der empirischen Wissenschaften müssen
lichkeit ist extrem reich an Grundbegriffen, weil jede zusätzlich zu den bereits diskutierten allgemeinen Krite-
Persönlichkeitseigenschaft ein Grundbegriff ist (sie rien zwei Zusatzkriterien genügen (vgl. . Tab. 1.1):
ist nicht aus anderen Grundbegriffen abgeleitet). 7. Empirische Verankerung. Die Körpergröße ist
Es gibt also mindestens so viele Grundbegriffe, eine Eigenschaft, die sich direkt beobachten lässt.
wie es Worte im Lexikon einer Sprache gibt, die Dispositionen dagegen sind nicht direkt beobachtbar,
Persönlichkeitseigenschaften bezeichnen. Ostendorf sondern nur aus dem Verhalten erschließbar. Es
(1990) fand unter ca. 12 000 deutschen Adjektiven sind theoretische Konstruktionen, Konstrukte, die
über 5 000 personenbeschreibende Adjektive. „hinter“ dem beobachtbaren Verhalten liegen und es
Eine solche Fülle von Grundbegriffen kann durch erklären sollen. Die Eigenschaft „Aggressivität“ ist ein
die Komplexität des Gegenstandsbereiches nicht Konstrukt, das die Beobachtung erklären soll, dass
unbedingt gerechtfertigt werden, wie ein Blick in jemand besonders viel oder besonders wenig aggres-
die Chemie zeigt, wo die riesige Vielfalt von Stoffen sives Verhalten zeigt. An Konstrukte wird in den
äußerst ökonomisch auf Kombinationen weniger Erfahrungswissenschaften die Forderung gestellt, dass
Elemente zurückgeführt werden kann. Auch wenn sie durch Zuordnungsregeln mit Beobachtungsdaten
eine solche drastische Reduktion in der Psychologie verknüpft sind (den empirischen Indikatoren des
nicht möglich sein mag, erscheint die große Zahl fast Konstrukts). Diese Regeln beschreiben ein Messver-
synonymer Eigenschaftsbegriffe doch viel zu unöko- fahren für das Konstrukt anhand von Beobachtungs-
nomisch. Die Alltagspsychologie verletzt massiv das daten; das Messverfahren wird auch die Operationa-
Sparsamkeitsprinzip. lisierung des Konstrukts genannt. Konstrukte werden
1.2 · Wissenschaftliche Persönlichkeitskonzepte
7 1
durch empirische Indikatoren operationalisiert und Insbesondere legt die unpräzise Definition der Verhal-
damit empirisch verankert. tensregelmäßigkeit einen Zirkelschluss in der Definition
von Eigenschaften nahe: Aus einem einmaligen Verhal-
Beispiel ten wird direkt auf eine Eigenschaft geschlossen, die dann
Operationalisierung von Prüfungsängstlichkeit zur Begründung des Verhaltens herhalten muss. Beispiel:
Das Konstrukt der Prüfungsängstlichkeit könnten wir z. B. „Warum hat X den Y geschlagen? Weil X aggressiv ist.
dadurch operationalisieren, dass wir fünf verschiedene Warum ist X aggressiv? Weil X den Y geschlagen hat.“ Eine
Verhaltensweisen angeben, die typisch für aktuelle, direkt korrekte Begründung würde lauten, „Weil X generell dazu
beobachtbare Prüfungsangst sind (einen emotionalen Zu- neigt, andere zu schlagen“, und dies müsste durch Beobach-
stand), und dann bei einem Prüfling für jede Verhaltens- tung in vielen Situationen belegbar sein.
weise entscheiden, ob sie während einer Prüfung auftrat 8. Empirische Prüfbarkeit. Von empirischen Wissen-
oder nicht; die Zahl aller aufgetretenen Verhaltensweisen schaften wird erwartet, dass sie empirisch prüfbar sind.
könnten wir als Operationalisierung des Zustands der Prü- Genauer gesagt wird erwartet, dass ihre Aussagen sich
fungsangst (nicht der Eigenschaft Prüfungsängstlichkeit!) empirisch bestätigen oder widerlegen lassen. Dazu
betrachten. Wenn Untersuchungen an vielen Prüflingen müssen sie so klar formuliert sein, dass ein solcher Test
ergeben, dass der Mittelwert von drei Prüfungen sehr gut überhaupt möglich ist. Die mangelnde Explizitheit
den Mittelwert in den nächsten drei Prüfungen vorhersagt, und die unzureichende empirische Verankerung
könnte der Mittelwert der Prüfungsangst in drei Prüfungen des alltagspsychologischen Eigenschaftsbegriffs
als Operationalisierung der Eigenschaft Prüfungsängst- erschweren einen solchen Test, weil jede beliebige
lichkeit betrachtet werden: Wir haben aus einer Verhaltens- Aussage durch passende Modifikation der Erklärung
regelmäßigkeit auf eine Eigenschaft geschlossen. gegen eine Widerlegung immunisiert werden kann.
> Die Alltagspsychologie ist unbrauchbar als 1.6 Warum ist die Alltagspsychologie für
1 psychologische Theorie. die Persönlichkeitspsychologie wichtig?
(→ psychologische Tatsache, Ansatzpunkt für
Auch wenn die naive Persönlichkeitstheorie als psycho- Theorienbildung, Verwechslungsgefahr)
logische Theorie unbrauchbar ist, ist sie dennoch aus drei
Gründen wichtig für die Psychologie. Mehr lesen
55 Erstens ist sie eine psychologische Tatsache: Wir alle
haben diese Theorie im Kopf und nutzen sie ständig. Laucken, U. (1974). Naive Verhaltenstheorie. Stuttgart:
Wer verstehen will, wie Menschen individuelle Klett.
Besonderheiten ihrer Mitmenschen und von sich Walach, H. (2013). Psychologie: Wissenschaftstheorie,
selbst wahrnehmen und damit umgehen, muss sich philosophische Grundlagen und Geschichte (3. Aufl.),
mit der naiven Persönlichkeitstheorie beschäftigen. Kap. 10: Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Kohlhammer.
55 Zweitens ist die naive Persönlichkeitstheorie ungeachtet
ihrer Probleme ein möglicher Ansatzpunkt für die
persönlichkeitspsychologische Theorienbildung.
Viele ihrer Probleme lassen sich vermeiden, wenn 1.2.2 Das psychoanalytische Paradigma
Eigenschaften besser operationalisiert werden und
ihre Funktion in aktuellen Prozessen der Situations- Wichtige Konzepte der heutigen erfahrungswissenschaftli-
verarbeitung klarer herausgearbeitet wird. Wie in den chen Persönlichkeitspsychologie gehen auf psychoanalyti-
folgenden Kapiteln deutlich werden wird, knüpfen alle sche Konzepte der Persönlichkeit zurück, die zunächst von
persönlichkeitspsychologischen Theorien an Konzepte Sigmund Freud (1856–1939) entwickelt (z. B. Freud, 1982)
der naiven Persönlichkeitstheorie an. Das gilt besonders und später von neoanalytischen Theoretikern weiterent-
für den Begriff der Verhaltensdisposition, der in der wickelt und dabei auch modifiziert wurden. Deshalb ist es
Persönlichkeitspsychologie eine zentrale Rolle spielt. sinnvoll, einen Blick auf diese historisch bedeutsamen Kon-
55 Drittens laufen Psychologen ständig Gefahr, alltags- zepte zu werfen. Wird dies mit einer Kritik der psychoanaly-
psychologische Konzepte mit wissenschaftlichen tischen Methodik verbunden, vertieft dies das Verständnis
Begriffen zu verwechseln, weil sie ja über beides für die Kriterien erfahrungswissenschaftlicher Paradigmen.
verfügen: ihre Alltagspsychologie und ihre Psycho- Betrachten wir also im Folgenden das klassische psycho-
logie. Diese Gefahr ist im Falle der Persönlichkeits- analytische Konzept der Persönlichkeit und ihrer Entwick-
psychologie besonders groß, weil sie sich noch nicht so lung aus methodenkritischer Sicht: Genügt es den Anfor-
weit wie manche andere Gebiete der Psychologie (z. B. derungen an ein wissenschaftliches Paradigma und darüber
die Wahrnehmungspsychologie) von alltagspsycholo- hinaus auch den Anforderungen an ein Paradigma einer
gischen Vorstellungen gelöst hat. Einer Verwechselung empirischen Wissenschaft?
von Alltagspsychologie und Psychologie kann dadurch Die Psychoanalyse war einerseits der Versuch, eine
vorgebeugt werden, dass beide möglichst klar und relativ umfassende Theorie des „menschlichen Seelenle-
streng getrennt voneinander konzeptualisiert werden. bens“ zu entwickeln, andererseits handelt es sich um eine
bestimmte psychotherapeutische Technik. Die Psychoana-
? Fragen lyse hat in den vergangenen 100 Jahren zahlreiche Wand-
1.1 Welche Struktur weist die Alltagspsychologie lungen erfahren. Freud selbst änderte vielfach seine Betrach-
nach Laucken auf? (→ . Abb. 1.1) tungsweise. Wegen dieser langen und heterogenen Entwick-
1.2 Was versteht man unter einer Disposition, was lungsgeschichte ist es nicht unproblematisch, von „dem psy-
unter einer Dispositionshierarchie? (→ Unter choanalytischen Paradigma“ zu sprechen. Dennoch lassen
der Lupe) sich ein Kern von Grundannahmen über menschliches
1.3 Welche Dispositionen und körperlichen Erleben und Verhalten und ein grundlegender methodi-
Merkmale sind aus Sicht der Alltagspsy- scher Ansatz ausmachen, der unter Psychoanalytikern
chologie keine Persönlichkeitseigenschaften? von Freud an bis heute zumindest mehrheitsfähig war und
(→ universelle Merkmale [Beispiele angeben]) immer noch mehrheitsfähig ist. Vor allem der methodische
1.4 Welchen Kriterien sollen erfahrungswissen- Ansatz ist klar abgrenzbar vom Vorgehen der empirischen
schaftliche Paradigmen genügen? (→ 8 Psychologie. Dieser gemeinsame Kern aller psychoanalyti-
Kriterien) schen Richtungen wird hier als „das psychoanalytische Para-
1.5 Welchen Nutzen hat die Alltagspsychologie digma“ bezeichnet.
der Persönlichkeit im Alltag? (→ schnelle Im Folgenden wird nicht etwa das psychoanalytische
Orientierung, Anwendbarkeit) Paradigma in voller Breite dargestellt, sondern nur in
1.2 · Wissenschaftliche Persönlichkeitskonzepte
9 1
denjenigen Anteilen, die für die Persönlichkeitspsycholo- Bei der Geburt sei nur das Es vorhanden; es repräsentiere
gie unmittelbar von Bedeutung sind. Freud selbst interes- das Gesamtreservoir der Energie, die durch angeborene
sierte sich viel mehr für pathologische Störungen, wie sie in Instinkte verarbeitet werde, sowie angeborene Disposi-
der klinischen Psychologie untersucht werden, als für Nor- tionen. Das Es sei dem „Lustprinzip“ unterworfen: Es sei
malvarianten der Persönlichkeit; letztere bezeichnete er als bestrebt, Energie sofort zu entladen, indem es Lust suche
Charakter. Das lässt sich auf alle psychoanalytischen Rich- und Schmerz vermeide.
tungen verallgemeinern: Im Vordergrund steht immer die Im Verlauf der Entwicklung bilde sich aus Teilen des Es
Erklärung pathologischer Störungen. Im Folgenden inte- durch den Kontakt zur Außenwelt das Ich heraus. Das Ich sei
ressiert aber nur derjenige Anteil des psychoanalytischen dem „Realitätsprinzip“ unterworfen: Es vermittle zwischen
Paradigmas, der sich mit dem Charakter und seiner Ent- den Ansprüchen des Es und der Außenwelt, indem es einer-
wicklung beschäftigt. seits den Einfluss der Außenwelt zu ändern suche (durch
Flucht, Anpassung oder aktive Veränderung) und anderer-
seits die Triebansprüche des Es einzudämmen suche.
1.2.2.1 Allgemeines Menschenbild Das Über-Ich stelle eine besondere Instanz im Ich dar.
Zentral für Freuds Menschenbild ist die Ansicht, dass alle Die durch die Eltern und Vorbilder vermittelten Normen
menschliche Aktivität, einschließlich des Erlebens und Ver- der Kultur würden verinnerlicht und dadurch eine Eigen-
haltens, auf der Verarbeitung von Energie beruhe. Er sah dynamik im Ich entfalten: Das Über-Ich beobachte das Ich
den Menschen als ein energiemäßig weitgehend abgeschlos- und suche es anstelle der Eltern und Vorbilder zu kontrollie-
senes System an, das eine bestimmte Menge an Energie zur ren. So müsse das Ich nicht nur zwischen Es und Außenwelt,
Verfügung habe, sodass die Energie für eine Aktivität nur sondern zwischen Es, Außenwelt und Über-Ich vermitteln.
auf Kosten der Energie für eine andere Aktivität verbraucht Freuds metaphorische Sprache verleitet zu der Vor-
werden könne. Das „Seelenleben“ (psychische Prozesse wie stellung, die drei Instanzen seien drei kleine Männchen
Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Erinnern, Träumen) beruhe in unseren Köpfen, die miteinander um die Kontrolle der
auf dem Fluss von Energie. psychischen Energie ringen. Das wäre eine ebenso falsche
Gespeist werde diese Energie aus angeborenen Interpretation wie die Vorstellung, es handele sich um ana-
Trieben (körperlichen Spannungszuständen). Sie dräng- tomisch oder physiologisch bestimmbare Hirnstruktu-
ten zur Entladung durch Triebbefriedigung an Triebob- ren. Es handelt sich vielmehr um theoretische Begriffe, die
jekten. Diese Triebimpulse könnten aber oft nicht durch Freud einführte, um bestimmte beobachtbare Phänomene
entsprechendes Verhalten direkt befriedigt werden. Sie zu erklären, z. B. Erinnerungsblockaden, Versprecher im
würden dann in vielfältiger Weise umgeformt oder auf Alltag oder bestimmte pathologische Symptome.
andere Triebobjekte umgelenkt (z. B. Befriedigung in der Das Seelenleben finde auf drei Ebenen statt:
Phantasie oder in Träumen). Freud interessierte sich vor 55 unbewusste,
allem für Energie aus sexuellen Spannungszuständen (die 55 vorbewusste,
„Libido“, lat. Verlangen, Lust), später auch für aggressive 55 bewusste Ebene.
Energie.
Freuds Energie- und Triebbegriff war ein Kind des 19. Auf der bewussten Ebene fänden sich Inhalte des momen-
Jahrhunderts; ihm stand der Begriff der Information noch tanen Bewusstseins, z. B. Wahrnehmungen, Empfindungen,
nicht zur Verfügung (vgl. 7 Abschn. 2.2). Freud hoffte bis Gefühle, Gedanken, Vorstellungen und Erinnerungen. Auf
zu seinem Tod, dass psychische Energie und Triebimpulse der vorbewussten Ebene fänden sich prinzipiell dieselben
sich später einmal physiologisch messen lassen würden. Inhalte, nur dass ihre Stärke nicht ausreiche, das Bewusst-
Inzwischen herrscht auch unter orthodoxen Psychoana- sein zu erreichen. Wenn man z. B. versuche, sich an einen
lytikern die Auffassung vor, dass psychische Energie und Namen zu erinnern und er „auf der Zunge liegt“, man ihn
Triebe lediglich theoretische Begriffe sind, die zur Erklä- aber nicht nennen könne, sei die Erinnerung an den Namen
rung beobachtbaren Erlebens („Wünsche“) und motivierten vorbewusst. Inhalte des Unbewussten seien der bewussten
Verhaltens eingeführt werden, ohne dass sie eine Entspre- Ebene auch bei großer Anstrengung nicht zugänglich. Die
chung auf physiologischer Ebene haben, und Freuds Trieb- gesamten Inhalte und Aktivitäten des Es seien unbewusst,
konzept wird von vielen Psychoanalytikern als zu mecha- ebenso Teile des Über-Ich und des Ich. Andere Teile des
nistisch abgelehnt (vgl. für eine Kritik Holt, 1976). Über-Ich und Ich seien vorbewusst oder bewusst.
Die Energieverarbeitung werde von drei psychischen Unbewusste Prozesse seien nicht einfach nicht-be-
Instanzen geregelt: wusste Prozesse, sondern hätten eine eigene Qualität („pri-
55 Es, märprozesshaftes Denken“; z. B. Verschmelzung von Orten,
55 Ich, Zeitpunkten oder logischen Gegensätzen). Gegen unange-
55 Über-Ich. nehme Wahrnehmungen, Gedanken und Erinnerungen,
10 Kapitel 1 · Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis
die auf Triebimpulsen des Es beruhen, könne sich das Ich und Handelns werden wenig thematisiert. Wie Menschen
1 wehren, indem es sie ins Unbewusste verdränge. Dort beispielsweise systematisch Probleme lösen können, ist
würden sie jedoch weiterhin motivational und affektiv kein Thema der Psychoanalyse. Das ist aus der klinischen
wirksam sein. . Abb. 1.2 illustriert den Zusammenhang zwi- Orientierung der Psychoanalyse verständlich, stellt aber
schen den drei psychischen Instanzen und den drei Ebenen eine wesentliche Einschränkung des Anwendungsbereichs
des Seelenlebens. der Psychoanalyse dar.
Die drei psychischen Instanzen (das „Strukturmodell“) Zudem wurden von Freud an bis heute sexuelle und
und die drei Bewusstseinsebenen (das „topographische aggressive Motive überbetont und andere wie z. B. Neugier
Modell“) sind bis heute Kernannahmen aller psychoanaly- oder das Kompetenzmotiv (das Streben nach Vervollkomm-
tischen Richtungen. Mit dem Aufkommen der Ich-Psycho- nung der eigenen Fähigkeiten um ihrer selbst willen) ver-
logie und der Objektbeziehungstheorien entstand die Frage, nachlässigt. Das dürfte wohl darauf zurückzuführen sein,
wo das Selbstbild und das Bild wichtiger Bezugspersonen dass sexuelle und aggressive Impulse sozial besonders kon-
anzusiedeln seien: Sollten diese als Komponenten des Ich fliktträchtig sind, deshalb besonders häufig in pathologi-
betrachtet werden, des Über-Ich (das z. T. durch Internalisie- schen Störungen eine Rolle spielen und deswegen in den
rung des Bildes der Eltern entstehe) oder des Es (weil sie Teile primär klinischen Beobachtungen der Psychoanalytiker
von Triebstrukturen seien)? Oder seien vielmehr Selbstbild überrepräsentiert sind. Zusammen mit der Überbetonung
und das Bild wichtiger Bezugspersonen Kompromisse aus irrationaler Prozesse ergibt sich ein verzerrtes Menschen-
Ich-, Es- und Über-Ich-Anteilen? Oder seien es eigenstän- bild, das dem heutigen Wissen über die irrationalen und
dige psychische Instanzen? Diese Kontroversen machen rationalen Seiten menschlichen Erlebens und Verhaltens
deutlich, dass der Begriff der psychischen Instanz keines- nicht entspricht.
wegs so klar ist, wie die Kontinuität seiner Benutzung in allen
psychoanalytischen Richtungen nahezulegen scheint. > Das allgemeine Menschenbild des psychoana-
Zu den psychoanalytischen Kernannahmen wird meist lytischen Paradigmas überbetont aufgrund seiner
auch Freuds Phasenlehre der Entwicklung gezählt. Wegen klinischen Orientierung irrationale auf Kosten
ihrer offenkundigen Schwächen wird sie heute zunehmend rationaler Prozesse und sexuelle und aggressive
auch von Psychoanalytikern in wesentlichen Teilen abge- Motive auf Kosten anderer Motive.
lehnt. Sie wird im nächsten Abschnitt skizziert.
Das allgemeine Menschenbild des psychoanalytischen
Paradigmas betont motivationale, affektive und irratio- 1.2.2.2 Persönlichkeitskonzept
nale Prozesse, die menschlichem Erleben und Verhalten Das alles hat allerdings noch nichts mit Persönlichkeitspsy-
zugrunde liegen. Rationale Prozesse des Denkens, Planens chologie zu tun; es handelt sich um Annahmen über moti-
vationale Prozesse, die für alle Menschen in gleicher Weise
gelten sollen. Diese motivationalen Prozesse stellen nach
Freud aber gleichzeitig auch den Schlüssel zum Verständnis
der Persönlichkeit dar. Die Stärke der Es-Ansprüche könne
konstitutionell bedingt von Person zu Person unterschied-
lich ausfallen und die Stärke und Form der Ich-Funktionen
und die Ansprüche des Über-Ich könnten erfahrungsbe-
dingt variieren. Die resultierende typische Triebdynamik
einer Person, ihr Charakter, sei damit eine gemeinsame
Funktion von angeborener Konstitution und Erfahrung.
Eine wichtige Konsequenz dieses Persönlichkeitskonzepts
ist es, Motive, also individualtypische motivationale Tenden-
zen, nicht nur auf der bewussten Ebene zu suchen (durch
Erfragen), sondern auch auf der unbewussten Ebene.
Was den Einfluss der Erfahrung auf die Persönlich-
keitsentwicklung betrifft, nahm Freud an, dass es beson-
ders die frühkindlichen Erfahrungen seien, die den späteren
Charakter prägen. Nach Freud durchläuft jedes Kind drei
Phasen der Entwicklung, die durch jeweils bevorzugte Kör-
. Abb. 1.2 Beziehungen zwischen den drei psychischen Instanzen perzonen der Triebbefriedigung („erogene Zonen“) gekenn-
und den drei Ebenen psychischer Prozesse nach Freud zeichnet seien:
1.2 · Wissenschaftliche Persönlichkeitskonzepte
11 1
55 orale, Charakterentwicklung liege vor allem in der Verarbeitung
55 anale, des Ödipuskonflikts. Werde er nur unzureichend gelöst,
55 phallische Phase. resultiere ein Charakter, der durch einen „Ödipuskomplex“
gekennzeichnet sei. Bei einer Überkompensation der Kast-
In der oralen Phase (1. Lebensjahr) finde die Triebbefriedi- rationsangst resultierten Charakterzüge, die heutzutage als
gung vor allem mithilfe der Mundzone statt (Saugen, Beißen, „machohaftes“ Gehabe bezeichnet werden; übertriebenes
Kauen). In der analen Phase (2.–3. Lebensjahr) richteten sich Erfolgsstreben im Beruf sei eine Fortsetzung der frühen
die Triebimpulse vor allem auf den Anus. Lustvoll sei zunächst Rivalität zum Vater mit anderen Mitteln.
das Ausscheiden, später das Zurückhalten von Kot. In der
phallischen Phase (3.–5. Lebensjahr, „Phallus“ lat. Penis) > Freud glaubte, dass die frühkindliche Geschichte
sei der Penis bzw. die Scheide die bevorzugte erogene Zone. der Triebregulation in der oralen, analen und
Während der phallischen Phase richteten sich die Triebim- phallischen Phase den späteren Charakter forme.
pulse auf das gegengeschlechtliche Elternteil, verbunden mit Ihm liege eine Sequenz elterliches Verhalten →
Phantasien, es vollständig in Besitz zu nehmen. Das Kind Fixierung → Charakter zugrunde.
liebe beide Elternteile und möchte von ihnen geliebt werden,
befinde sich aber gleichzeitig in einer Rivalitätssituation zum Diese Sicht der Charakterbildung leidet wie die meisten von
gleichgeschlechtlichen Elternteil, was eine tiefgehende emo- Freuds Konzepten unter der fehlenden Operationalisierung
tionale Ambivalenz diesem Elternteil gegenüber auslöse. zentraler Begriffe. Wie lässt sich die Stärke der Rivalität zum
Bei Jungen löse die Rivalität mit dem Vater Angst vor gleichgeschlechtlichen Elternteil, die der sexuellen Triebim-
Kastration durch den Vater aus. Den Konflikt zwischen pulse gegenüber dem gegengeschlechtlichen Elternteil, die
Wunsch nach Besitznahme der Mutter und aggressiver der Kastrationsangst oder des Penisneides messen? Wie lässt
Rivalität mit dem Vater bezeichnete Freud als Ödipus- sich nach Abschluss einer Entwicklungsphase entscheiden,
konflikt (nach dem griechischen Mythos vom Königssohn ob eine Fixierung tatsächlich stattgefunden hat?
Ödipus, der unwissentlich und unwillentlich seinen Vater Neben der Charakterbildung durch Fixierung ent-
erschlug und seine Mutter heiratete). Dieser Konflikt werde wickelte Freud eine zweite Auffassung der Charakterent-
bewältigt, indem der Junge sich mit dem Vater identifiziere wicklung, die auf einer Theorie der Angstverarbeitung
und seine Triebimpulse gegenüber der Mutter in Zärtlich- beruht. Danach entstehe Angst immer dann, wenn das Ich
keit verwandle. Insbesondere übernehme er dabei die Wert- durch Reize überflutet werde, die es nicht mehr bewälti-
und Moralvorstellungen des Vaters. gen könne. Bei Reizen aus der Umwelt, die subjektiv oder
Weniger interessierte sich Freud dafür, wie Mädchen objektiv Gefahr anzeigen, resultiere „Realangst“. Könnten
die phallische Phase verarbeiteten. Sie hätten keine Kas- Triebimpulse des Es nicht ausreichend abgewehrt werden,
trationsängste gegenüber der Mutter, sondern empfän- entstehe „neurotische Angst“. Könne das Ich Ansprüchen
den einen Penisneid und würden ihn der Mutter anlas- des Über-Ich nicht genügen, handele es sich um „morali-
ten. Ein Wunsch nach Übernahme des väterlichen Penis sche Angst“. Die Angst signalisiere in jedem Fall eine Über-
werde später durch den Wunsch ersetzt, von ihm ein Kind forderung des Ich. Während Furcht immer ein spezifisches
zu bekommen. Gefördert werde die Zuwendung zum Vater Objekt habe, das gefürchtet werde, sei Angst ein objektun-
durch Identifikation mit der Mutter und Angst vor Liebes- abhängiges Alarmsignal.
entzug und Bestrafung durch die Mutter. Insbesondere Um mit der Angst fertig zu werden, wehre sich das Ich
übernehme das Mädchen dabei die Wert- und Moralvor- gegen die angstauslösenden Triebimpulse durch Abwehr-
stellungen der Mutter. mechanismen. Dem Ich ständen dafür vielfältige Formen
Der Charakter (die Persönlichkeit) eines Menschen der Abwehr zur Verfügung (. Tab. 1.2).
werde entscheidend durch die individuelle Verarbeitung der Die häufigste Form sei die Verdrängung, bei der die
drei frühkindlichen Entwicklungsphasen bestimmt. Ließen angsterregenden Impulse ins Unbewusste gedrängt würden.
die Eltern in einer der drei Phasen eine zu große Triebbefrie- Dort würden sie jedoch weiter existieren und müssten durch
digung zu oder schränkten sie diese zu sehr ein, komme es weitere Abwehrmechanismen im Zaum gehalten werden.
zu einer Fixierung der vorhandenen frühkindlichen Trieb- Bei Ich-Schwäche (z. B. durch Alkoholisierung oder im
impulse, die den Charakter fortan bestimmten. Schlaf) würden sie wieder ins Bewusstsein drängen. Deshalb
Orale Fixierung resultiere beispielsweise in über- seien Träume oder Reaktionen unter Drogen informativ
mäßiger Abhängigkeit von anderen und übermäßigem über die ins Unbewusste verdrängten Triebimpulse. Aber
Trinken, Essen oder Rauchen. Anale Fixierung führe zu auch bei vollständiger Verdrängung könnten sich verdrängte
einem zwanghaft ordentlichen, pedantischen und geizigen Impulse indirekt zeigen in Form von Versprechern, neuro-
Charakter. Die Bedeutung der phallischen Phase für die tischen oder somatischen Symptomen.
12 Kapitel 1 · Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis
Bei der Projektion würden die angsterregenden Impulse entsprechend unreifem Verhalten. Oft finde der Rückzug
anderen Personen unterstellt (auf sie „projiziert“). Zum auf diejenige Entwicklungsphase statt, auf der eine Fixie-
Beispiel könnten aggressive Impulse dadurch abgewehrt rung stattgefunden habe (s. oben). Ein Beispiel ist ein
werden, dass das Verhalten anderer als feindselig interpre- Erwachsener, der nach der Trennung von seiner Frau
tiert werde (wodurch eigene aggressive Tendenzen wiede- wieder zu rauchen anfängt, obwohl er vorher damit auf-
rum gerechtfertigt würden). gehört hatte.
Bei der Verschiebung würden die angsterregenden Neben diesen acht Abwehrmechanismen werden in
Impulse auf andere Objekte der Triebbefriedigung verscho- der psychoanalytischen Literatur noch weitere diskutiert.
ben. Zum Beispiel könnten aggressive Impulse gegenüber Entscheidend für die Frage nach der Charakterbildung ist
dem Chef dadurch abgewehrt werden, dass sie zu Hause Freuds Annahme, dass sich im Verlauf der Ich-Entwicklung
gegen die Ehefrau gewendet würden. individualtypische Bevorzugungen bestimmter Abwehrme-
Bei der Reaktionsbildung würden die angsterregen- chanismen herausbilden würden. Es gebe also z. B. typische
den Impulse ins Gegenteil verkehrt, damit akzeptabel für Verdränger, Projizierer oder Verleugner. Damit sei der Cha-
das Ich und somit zugänglich für das Bewusstsein. Bei- rakter doppelt bestimmt: durch eine eventuelle Fixierung
spielsweise könne eine Mutter feindselige Impulse gegen- auf eine der drei frühkindlichen Entwicklungsphasen und
über ihrem Kind, die in Widerspruch zu ihrem Über-Ich die typischen Abwehrmechanismen, die das Ich bei Gefahr
stehen, durch Reaktionsbildung in überbehütendes Verhal- von innen bzw. außen bevorzugt einsetze.
ten ummünzen. Diese Auffassung der Charakterentwicklung leidet unter
Projektion, Verschiebung und Reaktionsbildung einer mangelhaften empirischen Verankerung der zentralen
würden sich vor allem auf die Abwehr von neurotischer Begriffe. So plausibel es auch ist, dass es Abwehrmechanis-
Angst beziehen. Die folgenden beiden Abwehrmechanis- men gibt: Unklar bleibt, nach welchem Kriterium entschie-
men würden primär zur Abwehr von Realangst eingesetzt. den werden soll, ob ein beobachtetes Verhalten auf Abwehr
Bei der Verleugnung würden reale Gefahren verleugnet. beruht oder nicht. Wenn jemand in einer Situation, die bei
Ein Beispiel wäre eine Frau, die Knoten in ihrer Brust fühlt, vielen Menschen Angst hervorruft (z. B. eine Stegreifrede
aber nicht wahrhaben will, dass es sich um Krebs handeln vor einem unbekannten Publikum halten) über keine Angst
könnte. berichtet, so könnte es sich um Nichtängstlichkeit aufgrund
Bei der Rationalisierung werde inakzeptables eigenes einer ausgeprägten Selbstsicherheit handeln oder aber um
Verhalten vor anderen oder sich selbst so umgedeutet, dass Angstverdrängung. Wie kann zwischen diesen beiden Alter-
es akzeptabel erscheint. Ein Beispiel wäre ein Chef, der eine nativen entschieden werden?
offensichtlich inkompetente, aber hochattraktive Mitarbei- Psychoanalytiker begegnen diesem Einwand meist
terin einstellt und der Überzeugung ist, dass seine Wahl mit der Erwiderung, dass sie durchaus in der Lage seien,
durch fachliche Gesichtspunkte begründet sei. Abwehrmechanismen im Verhalten zu erkennen. Dies
Schließlich würden manche Menschen bei einem gelänge aber nicht alleine aus der Beobachtung des Ver-
Trauma (ein emotional extrem belastendes Ereignis wie haltens im aktuellen Kontext, sondern erfordere den Ein-
z. B. der Tod eines nahen Angehörigen, Arbeitsplatzver- bezug vielfältiger Informationen über vergangenes Erleben
lust, bleibende körperliche Behinderung) mit Regres- und Verhalten der betreffenden Person bis hin zur Trieb-
sion reagieren. Darunter verstand Freud den Rückzug dynamik in ihrer frühen Kindheit. Genaue Regeln, unter
auf eine frühkindliche Entwicklungsstufe, erkennbar an welchen Bedingungen welche Abwehrform diagnostiziert
1.2 · Wissenschaftliche Persönlichkeitskonzepte
13 1
werden kann, gibt es aber in der psychoanalytischen Lite- > Neuere psychoanalytische Persönlichkeitskonzepte
ratur nicht. betonen die Rolle früher Objektbeziehungen für
Kritisch für die Anwendbarkeit des Abwehrbegriffs auf die Entwicklung der Persönlichkeit und der sozialen
die Charakterentwicklung ist vor allem das Fehlen von Kri- Beziehungen.
terien dafür, warum verschiedene Menschen in derselben
Situation unterschiedliche Abwehrmechanismen bevorzu-
gen. Der spezielle Abwehrtyp kann bestenfalls diagnosti- 1.2.2.3 Methodik
ziert, nicht aber aus bestimmten Entwicklungsbedingungen Wie kamen Freud und seine Nachfolger zu ihren Persön-
vorhergesagt werden. Hier ist eine Lücke in Freuds Theorie, lichkeitskonzepten? Untersuchten sie Kinder von der frühen
die auch seine Nachfolger bis heute nicht füllen konnten. Kindheit an und beobachteten dann viele Jahre später, was
7 Unter der Lupe fasst Freuds Persönlichkeitskonzept noch aus ihnen als Erwachsene geworden war? Keineswegs. Freud
einmal zusammen. selbst arbeitete so gut wie gar nicht mit Kindern; dafür
Während das Konzept der Abwehrmechanismen zum wäre seine Methodik auch gar nicht geeignet gewesen. Sie
Kernbestand aller psychoanalytischen Richtungen gehört, bestand im Kern aus dem Versuch, erwachsene Patienten
nehmen neuere Strömungen Abstand von Teilen der Pha- durch freies Assoziieren dazu zu bringen, unbewusste Trieb-
senlehre, da diese sich als unhaltbar erwiesen hat – meist impulse verbal zu äußern. Dazu sollte sich der Patient auf
allerdings, ohne dabei das Konzept des Ödipuskonfliktes eine Couch legen und über ein problematisches Thema,
aufzugeben. Betont wird nun die Entwicklung des Selbstbil- einschließlich Träume und Kindheitserinnerungen, mög-
des und Selbstwertgefühls und des Bildes wichtiger Bezugs- lichst spontan reden. Freud saß neben der Couch, unsicht-
personen und enger Beziehungen. Zusätzlich zur Libido bar für den Patienten, und versuchte, aus dem Redefluss
wird das Motiv nach Verbundenheit mit anderen Menschen oder auch aus dem Stocken des Redeflusses an bestimmten
berücksichtigt (und z. T. für zentraler erklärt). Der spätere Stellen Rückschlüsse auf unbewusste Prozesse des Patien-
Charakter und die späteren sozialen Beziehungen werden ten zu ziehen.
auf eine Internalisierung früher Objektbeziehungen zurück- Die empirischen Daten, die Freud benutzte, um die
zuführen versucht (ein ganz anderer Internalisierungsbe- aktuelle Triebdynamik von Patienten und deren Geschichte
griff als bei Freud). Dabei besteht meist in dem Punkt Einig- seit der frühesten Kindheit zu rekonstruieren, bestanden
keit mit Freud, dass es frühkindliche Erfahrungen mit den also primär aus den freien Assoziationen dieser Patienten
Eltern seien, die die weitere Charakterentwicklung prägten. in Therapiesitzungen (Freud deutete darüber hinaus auch
Strittig ist dabei innerhalb der Psychoanalyse vor allem, ob faktische Erlebnisse und schriftlich niedergelegte Gedanken
diese neueren Auffassungen Freuds Annahmen ersetzen seiner Patienten). Er deutete dieses Material im Rahmen
oder ergänzen sollen (während die Gültigkeit der Annahme, seiner theoretischen Annahmen und bot diese Interpre-
dass frühe Objektbeziehungen einen starken Einfluss auf die tationen von Zeit zu Zeit an. Akzeptierte der Patient die
Persönlichkeits- und Beziehungsentwicklung haben, fast nie Deutung nicht, vor allem nicht gefühlsmäßig, interpretierte
problematisiert wird; vgl. dazu 7 Abschn. 5.3). Freud diesen „Widerstand“ als Abwehr des Ich gegenüber
unangenehmen Aspekten der Interpretation, was ihn darin
Unter der Lupe bestätigte, an einen kritischen Punkt gekommen zu sein. Bei
erfolgreichem Durcharbeiten dieser kritischen Punkte im
Freuds Persönlichkeitskonzept Verlauf der Analyse akzeptierte der Patient die Interpreta-
Freud verstand unter dem Charakter die individual- tionen nicht nur rational, sondern auch emotional, und auch
typische Ausformung der weitgehend unbewusst beim Analytiker stellte sich nicht nur rational, sondern auch
ablaufenden Triebdynamik. Sie sei durch die gefühlsmäßig die Überzeugung ein, Einsicht in die tatsäch-
frühkindliche Geschichte der Triebdynamik lichen unbewussten Beweggründe des bewussten Erlebens
bestimmt. Bei zu starker Verwöhnung oder zu starker und Handelns des Patienten gewonnen zu haben. Diesen
Einschränkung durch die Eltern in der oralen, analen Therapieerfolg hielt Freud dann für eine Bestätigung der
oder phallischen Phase würden die frühkindlichen Theorie, auf der seine Interpretationen beruhten.
Triebimpulse fixiert und so die weitere Triebregulation Diese klassische psychoanalytische Methodik ist aus
prägen. Im Verlauf der Ich-Entwicklung würden sich Sicht der empirischen Wissenschaften aus mehreren
individualtypische Abwehrmechanismen gegenüber Gründen inakzeptabel (vgl. v. a. Grünbaum, 1999). Der
inneren bzw. äußeren Gefahrreizen herausbilden. kritischste Punkt ist die Gefahr der Immunisierung der
Fixierungen und Abwehrformen prägten gemeinsam theoretischen Konzepte der Analytiker gegenüber den
den Charakter, der ab dem Ende der phallischen Phase empirischen Daten aus der Analyse. Akzeptiert der Patient
weitgehend konstant sei. die Deutung, betrachten Analytiker dies als Bestätigung
der Deutung und damit auch der Theorie. Akzeptiert der
14 Kapitel 1 · Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis
Patient die Deutung nicht, neigen Analytiker dazu, dies als 55 insofern sei jeder Therapieerfolg eine Bestätigung,
1 Widerstand aufzufassen und nach unbewussten Prozessen dass die Deutungen der Therapie korrekt gewesen
zu suchen, die den Widerstand hervorrufen. Das gewal- seien.
tige Instrumentarium der Abwehrmechanismen und die
nahezu beliebige Interpretation des symbolischen Gehalts Der Schluss von (1) und (2) auf (3) ist zwar korrekt, aber
von Aussagen erlauben es, nahezu jede beliebige Äußerung seine Voraussetzung ist falsch, weil es Spontanremissionen
des Patienten, aber auch ihr Gegenteil, auf passende unbe- von Neurosen gibt, d. h. Heilung ohne jede Psychotherapie,
wusste Triebimpulse zurückzuführen. geschweige denn Psychoanalyse. Dies wird heute von nie-
Das fördert die Analytiker in dem Glauben, recht zu mandem mehr ernsthaft bestritten und Freud selbst erkannte
haben, und verstärkt wegen ihrer Autorität als Experten in späteren Jahren die Rolle von Spontanremissionen an.
suggestive Wirkungen auf die Patienten, die sich im Laufe Damit kann aber ein Therapieerfolg nicht mehr als Bestä-
der Therapie schon deswegen immer konformer mit den tigung korrekter Deutungen gewertet werden. Dass damit
Erwartungen der Analytiker verhalten. Diesen Erfolg ver- seine ganze Argumentation zur Verteidigung der psychoana-
buchen die Analytiker für sich und ihre Theorie. Der Erfolg lytischen Methode der Theoriebestätigung zusammenbrach,
ist aber möglicherweise nur eine scheinbare Bestätigung der hat Freud aber in seinen Schriften nie thematisiert – er selbst
Theorie, denn er könnte auf einer selbsterfüllenden Prophe- hätte dies wohl als Verleugnung interpretiert.
zeiung beruhen: Was prophezeit wird (die Theorie), wird Ein weiterer speziell für die Frage nach der Charak-
fast immer bestätigt, weil sich fast alles und damit auch sein terbildung kritischer Punkt ist die methodenbedingte
Gegenteil in einer für Analytiker und Patienten letztendlich Beschränkung auf Erwachsene. Die frühe Kindheit wird aus
akzeptablen Weise deuten lässt. den Erinnerungen Erwachsener an diese Kindheit rekons-
Hier gibt es eine klare Parallele zwischen Alltagspsycho- truiert. Diese Erinnerungen können aber durch Erlebnisse
logie und Psychoanalyse: Beide sind sehr erklärungsmäch- nach der phallischen Phase unabsichtlich verfälscht sein.
tig. Das ist aber, wie schon in 7 Abschn. 1.2.1 erläutert wurde, Empirische Untersuchungen zur Verfälschung der Erinne-
nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal einer Theorie; auch rung an frühere Ereignisse durch Erwartungen, was früher
unklare Begriffsbildung und mangelnde empirische Veran- wohl passiert war, nachfolgende Erlebnisse und suggestive
kerung können über widersprüchliche Aussagen die Erklä- Fragen anderer haben überzeugend zeigen können, dass
rungsmächtigkeit einer Theorie fördern. Erinnerungen weit von der Realität entfernt sein können
Kritisch ist deshalb das Kriterium der Vorhersagbarkeit. (vgl. Bjorklund, 2000). Damit sind die aus psychoanalyti-
Schon Freud erkannte, dass seine Methode erheblich besser schen Sitzungen rekonstruierten Daten über die Kindheit
zur Erklärung als zur Vorhersage geeignet ist – eine Tatsa- äußerst zweifelhaft.
che, die von Psychoanalytikern durchweg anerkannt wird.
Begründet wird dies von ihnen durch die Komplexität des > Die klassische psychoanalytische Methodik der
Gegenstandes. Die deutlich bessere Erklärbarkeit könnte Persönlichkeitserklärung beruht auf Erinnerungen
aber auch Ausdruck einer unscharfen oder faktisch falschen von Erwachsenen an Kindheitserlebnisse; dies
Theorie sein, die sich dennoch hält, weil sie aufgrund ihrer ist wegen der bekannten Erinnerungsfehler
Methodik gegen Widerlegung immunisiert ist. inakzeptabel als Methodik einer empirischen
Wissenschaft.
> Die klassische psychoanalytische Methodik
ist aufgrund ihrer suggestiven Wirkungen auf Eher untergeordnet ist ein dritter Kritikpunkt zu sehen: die
Patient und Therapeut in Gefahr, selbsterfüllende weitgehende Beschränkung auf neurotische Patienten. Cha-
Prophezeiungen zu produzieren, und ist deshalb rakterunterschiede bei neurotischen Patienten sind mög-
nicht akzeptabel als Methodik einer empirischen licherweise nur ein Teil der Charakterunterschiede in der
Wissenschaft. gesamten Population. Deshalb dürften die Daten verzerrt
sein (z. B. Überrepräsentation konflikthafter Motive).
Freud war sich dieses Problems der Scheinbestätigung von Auch wenn die klassische Psychoanalyse (definiert
Deutungen durch suggestive Wirkungen auf den Patienten durch die klassische psychoanalytische Methodik der Theo-
schon früh bewusst. Seine Lösung des Problems bestand rienprüfung) empirische Daten nutzt, genügt ihre Metho-
in der folgenden Argumentation (vgl. Grünbaum, 1999): dik nicht den in 7 Abschn. 1.2.1 dargelegten Kriterien einer
55 Neurosen ließen sich nur durch Bewusstmachen der empirischen Wissenschaft.
ihnen zugrunde liegenden unbewussten Konflikte In den letzten Jahren gibt es vielfältige Versuche, die
dauerhaft beseitigen; psychoanalytische Methodik zu erweitern, indem The-
55 nur die psychoanalytische Methode sei in der Lage, rapeut-Patient-Interaktionen, aber auch normale soziale
Patienten unbewusste Konflikte bewusst zu machen; Interaktionen, vor allem zwischen Müttern und ihren
1.2 · Wissenschaftliche Persönlichkeitskonzepte
15 1
Kindern, systematisch beobachtet werden und diese Daten Da Freuds Auffassung von der Charakterentwick-
psychoanalytisch interpretiert werden. Dabei wird zuneh- lung auf durchweg falschen entwicklungspsychologischen
mend Wert auf die empirische Sicherung der Überein- Annahmen beruhte, ist es nicht erstaunlich, dass auch Über-
stimmung der Interpretationen unabhängig arbeitender prüfungsversuche der nach Freud zu erwartenden Charak-
Beobachter gelegt. Hier nähert sich die Verfahrensweise terkonsequenzen bestimmter Entwicklungsbedingungen
der erfahrungswissenschaftlichen Methodik an. fehlschlugen. Zum Beispiel sollten nach psychoanalytischer
Auffassung Kinder mit ausgeprägten Lippen-, Kiefer- oder
Gaumenspalten, die nicht saugen konnten, weil sie ihre
1.2.2.4 Empirische Bewährung Mundhöhle wegen des Spalts nicht luftdicht verschließen
Auch wenn die klassische psychoanalytische Methodik aus konnten, schwere orale Frustrationen erleiden und später
den genannten Gründen inakzeptabel für die empirische entsprechend gestört sein. Das ließ sich nicht bestätigen
Persönlichkeitspsychologie ist, ist nicht auszuschließen, (vgl. Hartmann, Mößner & Härle, 1972).
dass Freud und seine Nachfolger trotz inadäquater Metho- Weiterhin sollten Erwachsene, die als Kinder einer
dik tatsächlich vorhandene Phänomene und Gesetzmä- besonders strengen Sauberkeitserziehung ausgesetzt waren,
ßigkeiten erkannt haben, die sich mit adäquater Metho- die entsprechenden Züge des analen Charakters zeigen
dik empirisch bestätigen lassen. Mehrere Jahrzehnte lang (Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Eigensinn); auch das
bemühten sich deshalb Forscher, aus Freuds Gedankenge- ließ sich nicht bestätigen (vgl. Fisher & Greenberg, 1977;
bäude Aussagen abzuleiten, die sich mit den Methoden der Kline, 1981). Insgesamt ist die Befundlage der empirischen
empirischen Wissenschaften überprüfen lassen (vgl. z. B. Prüfungen von Freuds Annahmen über die Charakterent-
Eysenck & Wilson, 1973; Fisher & Greenberg, 1977; Kiener, wicklung durchweg negativ. Keine der postulierten Bezie-
1978; Kline, 1981; Masling, 1983). hungen zwischen Bedingungen frühkindlicher Fixierun-
Was persönlichkeitspsychologisch relevante Anteile der gen und späterem Charakter konnten eindeutig empirisch
klassischen Psychoanalyse betraf, so gingen diese Überprü- bestätigt werden.
fungsversuche fast immer negativ aus, und zwar in zweier-
lei Hinsicht. Entweder war eine Überprüfung nicht sinnvoll > Freuds Auffassung der Charakterformung als
möglich, weil die zu überprüfenden Konzepte zu schwam- Konsequenz der frühkindlichen Triebregulation
mig definiert waren, um einer klaren Operationalisierung erwies sich entweder als empirisch nicht prüfbar
zugänglich zu sein (z. B. das Konzept der Libido). Oder eine oder kann in den zentralen Annahmen als
Überprüfung war möglich, bestätigte aber nicht psychoana- widerlegt gelten. Deshalb spielt sie in der heutigen
lytische Vermutungen. Hierzu gehört insbesondere Freuds empirischen Persönlichkeitspsychologie keine Rolle
Phasenlehre der frühkindlichen Entwicklung. Die primäre mehr.
Bedeutung der oralen, analen und phallischen Stimulation
in den entsprechenden Phasen ließ sich nicht nachweisen Als fruchtbarer für die empirische Persönlichkeitspsycho-
und für den Ödipuskonflikt bei Jungen bzw. den entspre- logie hat sich dagegen Freuds Konzept unbewusster Pro-
chenden Konflikt bei Mädchen gibt es keine überzeugende zesse und Abwehrmechanismen erwiesen. Inzwischen kann
empirische Evidenz: Weder lässt sich durch Interviewver- kein Zweifel mehr daran bestehen, dass der weitaus größte
fahren eine besondere Häufung von berichteter Kastrations- Teil der menschlichen Informationsverarbeitung faktisch
angst bzw. Penisneid im entsprechenden Alter nachweisen, unterhalb der Bewusstseinsschwelle verläuft und auch bei
noch gibt es einen klaren Beleg dafür, dass diese Emotionen größter willentlicher Anstrengung nicht ins Bewusstsein
in diesem Alter auf unbewusster Ebene besonders häufig geholt werden kann (vgl. Greenwald, 1992; Hassin, Uleman
wären (vgl. Roos & Greve, 1996). & Bargh, 2005). Nicht die Existenz unbewusster Prozesse
Wenn sich auch manche physiologische Reaktionen, ist heutzutage erklärungsbedürftig, sondern umgekehrt ist
die später im Dienste der Sexualität stehen, schon sehr früh es eines der größten ungeklärten Probleme der Psycholo-
beobachten lassen (z. B. begleiten Peniserektionen regel- gie und der Neurowissenschaft, unter welchen Umständen
mäßig ein bestimmtes Schlafstadium (REM-Schlaf) schon welche Prozesse und Inhalte auf welche Weise überhaupt
bei Säuglingen), spielen Vorformen der sexuellen Motiva- bewusst werden (vgl. 7 Abschn. 2.2). Das gilt insbesondere
tion bei Kindern eine viel geringere Rolle, als Freud annahm für motivationale Prozesse.
(vgl. z. B. Martinson, 1980). Theorien der Identifikation mit Abwehrmechanismen werden nach Freud sowohl
dem gleichgeschlechtlichen Elternteil sind unhaltbar, denn gegenüber äußeren als auch gegenüber inneren bedrohli-
würden sie zutreffen, müssten Söhne ihrem Vater in ihrer chen Reizen angewendet und zumindest im Erwachsenen-
Persönlichkeit (z. B. Werthaltungen) ähnlicher sein als ihrer alter sollten sich Menschen nach ihren typischen Abwehr-
Mutter und Töchter ihrer Mutter ähnlicher sein als ihrem stilen unterscheiden lassen. Tatsächlich unterscheiden sich
Vater; das ist aber nicht der Fall (vgl. 7 Abschn. 7.5.1). Erwachsene deutlich und in recht stabiler Weise in ihrem
16 Kapitel 1 · Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis
Umgang mit bestimmten äußeren Bedrohungen, wobei sich mogeln Personen mit hohen Werten im SDS eher als Men-
1 die von Freud postulierten Abwehrmechanismen weitgehend schen mit niedrigen SDS-Werten, um eine negative Bewer-
wiederfinden lassen. Die Bewältigung äußerer Belastungen tung anderer zu vermeiden, aber sie mogeln nicht stärker,
ist inzwischen ein bedeutendes Gebiet der empirischen Per- wenn es darum geht, positive Anerkennung zu gewinnen.
sönlichkeitsforschung geworden (vgl. 7 Abschn. 4.4.3). Weinberger et al. (1979) vermuteten deshalb, dass Perso-
Freud selbst interessierte sich jedoch mehr für den nen mit hohen Werten im SDS, die sich außerdem in einer
Umgang mit inneren Bedrohungen – inakzeptablen Gedan- Ängstlichkeitsskala als wenig ängstlich schildern (Represser),
ken, Erinnerungen, Phantasien oder Handlungsimpulsen, zur Verdrängung (engl. „repression“) innerer Bedrohungen
die aus dem Es ins Bewusstsein drängten. Diese Art der neigen, während Personen, die sich als wenig ängstlich schil-
Abwehr ist empirisch viel schwerer zu untersuchen, weil dern und niedrige Werte in der SDS haben (Niedrigängstli-
die Es-Inhalte, die die Abwehr auslösen sollten, im Gegen- che), nicht zu einer solchen Verdrängung neigen. Zur weite-
satz zu äußeren Bedrohungen nicht beobachtbar sind. Es ren Kontrolle verglichen die Autoren zudem beide Gruppen
gibt aber einige empirische Hinweise darauf, dass Abwehr mit Personen, die sich hochängstlich schilderten und nied-
innerer Bedrohungen tatsächlich stattfindet und dass sich rige SDS-Werte hatten (Hochängstliche); vgl. . Abb. 1.3 für
Menschen im bevorzugten Abwehrstil inneren Bedrohun- die Operationalisierung der drei Versuchsgruppen. Selbst-
gen gegenüber unterscheiden. Dies wird im Folgenden beurteilte Ängstlichkeit operationalisierten Weinberger et al.
exemplarisch am Beispiel der Verdrängung erläutert. (1979) durch einen klassischen Ängstlichkeitsfragebogen, die
Nach Freud ist die Verdrängung ein Abwehrmecha- MAS (Manifest Anxiety Scale; Taylor, 1953).
nismus, der insbesondere gegenüber sozial unerwünsch- Zur Überprüfung ihrer Hypothese, dass Represser
ten sexuellen und aggressiven Triebimpulsen angewandt innere Bedrohungen verdrängen, brachten Weinberger
wird, die unvereinbar mit dem Über-Ich sind und daher et al. (1979) alle Versuchspersonen in eine Situation, die
vom Ich als inakzeptabel empfunden werden. Dies sollte eine solche Bedrohung potenziell hervorruft. Die Versuchs-
vor allem für Menschen gelten, die danach streben, ein idea- personen sollten auf Sätze mit teilweise sozial unerwünsch-
lisiertes Selbstbild als „Mensch ohne Fehl und Tadel“ vor tem sexuellem oder aggressivem Inhalt so schnell wie
anderen und vor sich selbst aufrecht zu erhalten, um Ableh- möglich mit dem ersten Satz antworten, der ihnen in den
nung durch andere zu vermeiden. Sozial unerwünschte Sinn kam („Satzassoziationstest“). Gemessen wurde bei
sexuelle und aggressive Impulse sind sehr bedrohlich für jedem Satz u. a. die Reaktionszeit bis zur Antwort und die
solche Menschen und sollten deshalb von ihnen abgewehrt Erhöhung der Herzrate gegenüber einer neutralen Ruhebe-
werden, u. a. durch Verdrängung. Bei erfolgreicher Ver- dingung (aufgefasst als Maße des inneren Konflikts). Wie
drängung sollten diese Menschen in Situationen, in denen erwartet reagierten die Represser in beiden Konfliktma-
sie Gefahr laufen, sich entgegen ihrem perfektionistischen ßen stärker als die Niedrigängstlichen und mindestens so
Selbstbild zu verhalten, auf unbewusster Ebene in Konflikte stark wie die Hochängstlichen, gaben aber nach dem Expe-
geraten, bewusst aber keine Angst verspüren. riment an, weniger Angst gehabt zu haben als Hoch- und
Weinberger, Schwartz und Davidson (1979) überprüften Niedrigängstliche.
diese auf Freuds Annahmen beruhende Vorhersage empirisch.
Zur Identifizierung von Menschen mit einem sozial erwünsch-
ten idealisierten Selbstbild verwendeten sie einen Fragebo-
gen, die Soziale Erwünschtheitsskala (Social Desirability Scale;
SDS) von Crowne und Marlowe (1964). Sie besteht aus einer
Vielzahl von Fragen, die mit ja oder nein zu beantworten sind.
Die Fragen beziehen sich entweder auf sozial erwünschtes,
aber gänzlich unwahrscheinliches Verhalten (z. B. „Ich habe
niemals mit Absicht etwas gesagt, was die Gefühle des anderen
verletzen könnte“) oder auf sozial unerwünschtes, aber sehr
wahrscheinliches Verhalten (z. B. „Ich bin manchmal ärger-
lich, wenn ich meinen Willen nicht bekomme“). Je öfter die
Fragen des ersten Typs bejaht und die Fragen des zweiten Typs
verneint werden, desto stärker sollte die Tendenz zu einem
sozial erwünschten, idealisierten Selbstbild sein.
Wie zahlreiche Experimente zeigten, streben Men-
schen mit hohen SDS-Werten eher danach, soziale Ableh- . Abb. 1.3 Operationalisierung von Repressern, Niedrigängstlichen
nung zu vermeiden, als danach, soziale Anerkennung zu und Hochängstlichen durch Werte in der SDS (Social Desirability
gewinnen (vgl. Millham & Jacobson, 1978). Zum Beispiel Scale) und MAS (Manifest Anxiety Scale)
1.2 · Wissenschaftliche Persönlichkeitskonzepte
17 1
zugeben wollten. In diesem Fall hätte gar keine Verdrängung
stattgefunden, sondern eine bewusste Leugnung.
Nachfolgende Studien, die Represser, Niedrigängstli-
che und Hochängstliche genauso operationalisierten, unter-
stützen die Hypothese, dass Represser defensiv mit negati-
ven selbstbezogenen Gefühlen umgehen. So unterschätzen
Represser die eigene Angst, nicht aber die Angst anderer
(Derakshan & Eysenck, 1997), und erinnern sich schlechter
an negative Beschreibungen der eigenen Person, wenn diese
Beschreibungen anderen nicht zugänglich sind, nicht aber
in Gegenwart anderer (Myers & Derakshan, 2004). Letzte-
res legt nahe, dass Represser aus Selbstschutz defensiv sind,
nicht aber, um bei anderen einen guten Eindruck machen zu
wollen. Offen bleibt aber auch in diesen Studien, ob es sich
tatsächlich um Verdrängung oder nur um bewusste Leug-
nung handelt. Fest steht jedenfalls, dass Represser mit nega-
tiven Gefühlen und Situationen, die ihr idealisiertes Selbst-
bild bedrohen, defensiv umgehen.
. Abb. 1.4 Veränderung verschiedener Konfliktindikatoren
Der Ansatz von Weinberger et al. (1979) wurde hier so
zwischen Ruhebedingung und Satzassoziationstest im Experiment ausführlich geschildert, um an einem Beispiel deutlich zu
von Asendorpf und Scherer (REP Represser, NÄ Niedrigängstliche, HÄ machen, dass die methodische Kritik am psychoanalyti-
Hochängstlich). (Aus Asendorpf & Scherer, 1983) schen Paradigma nicht dazu verleiten darf, das Kind mit
dem Bade auszuschütten und das ganze psychoanalytische
Asendorpf und Scherer (1983) konnten diese Ergeb- Paradigma ad acta zu legen. Gerade die Theorie der Abwehr
nisse replizieren und weiter präzisieren. Einerseits erfrag- innerer Bedrohungen scheint es wert, viel genauer empi-
ten sie die Angst ihrer Versuchspersonen nicht nur nach, risch untersucht zu werden als es bisher der Fall ist (vgl.
sondern auch vor dem Test, sodass sie den testspezifischen auch 7 Abschn. 4.4.3). Gleichzeitig illustriert das Beispiel
Anstieg der berichteten Angst erfassen konnten. Zweitens aber auch die Schwierigkeiten, die sich bei einer empiri-
filmten sie ohne Wissen der Versuchspersonen deren Mimik schen Verankerung psychoanalytischer Konzepte ergeben.
und ließen diese Aufnahmen von Beurteilern bezüglich der Freuds Annahme unbewusster Motive hat zu einer
gezeigten Angst einschätzen. . Abb. 1.4 zeigt die Verände- umfangreichen empirischen Forschung zu Unterschie-
rung der berichteten Angst, der Herzrate und der beurteil- den zwischen unbewussten motivationalen Themen und
ten mimischen Angst zwischen einer Ruhebedingung vor bewusst repräsentierten motivationalen Tendenzen geführt,
dem Test und dem Satzergänzungstest. Diese drei Konflikt- nachdem unbewusste Themen durch projektive Tests opera-
indikatoren wurden in einem einheitlichen Maßstab aus- tionalisiert wurden (vgl. 7 Abschn. 4.4.1). Freuds Annahmen
gedrückt (z-Werte; vgl. genauer dazu 7 Abschn. 3.2.2) und über unbewusstes, primär prozesshaftes Denken sind in die
können deshalb in ihrer Stärke direkt miteinander vergli- experimentelle Forschung zu impliziten Kognitionen auf der
chen werden. Die Represser berichteten über den geringsten Basis automatischer Prozesse (z. B. implizite Einstellungen)
Angstanstieg, zeigten aber einen leicht überdurchschnitt- eingeflossen (7 Abschn. 2.2.4). Freuds Konzept der Über-
lichen Anstieg in der Herzrate und der mimischen Angst; tragung (emotionale Gleichsetzung des Therapeuten mit
Niedrigängstliche hatten den geringsten Anstieg in Herzrate einer Bezugsperson des Patienten, z. B. dem Vater) wurde
und Mimik; Hochängstliche hatten einen mindestens durch- in der empirischen Sozialpsychologie aufgegriffen und
schnittlichen Anstieg in allen drei Konfliktindikatoren. inzwischen dort systematisch untersucht, wenn auch weit-
Die Experimente von Weinberger et al. (1979) und Asen- gehend entkleidet von seinen triebpsychologischen Kompo-
dorpf und Scherer (1983) belegen zunächst nur, dass Repres- nenten (vgl. Andersen, Glassman, Chen & Cole, 1995). Das
ser eine Diskrepanz zeigen zwischen niedriger berichteter Konzept, dass mentale Repräsentationen früher Objektbe-
Angst und spontanem, unkontrolliertem Verhalten, was auf ziehungen die weitere Entwicklung der Persönlichkeit und
einen innerpsychischen Konflikt hinweisen könnte. Niedrig- Beziehungen beeinflussen, wurde ursprünglich im Rahmen
und Hochängstliche dagegen reagieren einheitlich schwach der Objektbeziehungstheorien entwickelt (vgl. Sandler &
bzw. stark in spontanem und in kontrolliertem Verhalten. Rosenblatt, 1962). Es hat eine fruchtbare empirische For-
Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass Repres- schung zum Bindungsverhalten von der frühen Kindheit bis
ser in diesen Experimenten zwar den Konflikt oder die hier- zum Erwachsenenalter angeregt, nachdem es gelang, Bin-
durch ausgelöste Angst wahrnahmen, dies aber einfach nicht dungsstile zu operationalisieren (vgl. 7 Abschn. 5.3).
18 Kapitel 1 · Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis
> Einige Konzepte des psychoanalytischen sich begründet bezweifeln (vgl. wieder Grünbaum, 1999).
1 Paradigmas erwiesen sich als fruchtbar für die Auch würden sich viele Psychoanalytiker vehement gegen
Persönlichkeitspsychologie, nachdem es gelang, radikal-konstruktivistische Interpretationen der Psycho-
diese Konzepte ausreichend empirisch zu verankern. analyse wehren, die in psychoanalytischen Interpretationen
lediglich Konstruktionen einer fiktiven Realität von The-
Unerheblich für die empirische Bewährung der Psychoana- rapeut und Patient sehen – Geschichten, auf die man sich
lyse als Paradigma der Persönlichkeitspsychologie ist die geeinigt hat (vgl. Spence, 1982). Diese Kontroversen spielen
Frage, ob die psychotherapeutische Technik der Psychoana- hier aber keine Rolle, weil es um die Eignung der Psycho-
lyse in empirischen Therapieerfolgsstudien Erfolge vorzu- analyse als Paradigma der empirischen Persönlichkeitspsy-
weisen hat oder nicht. Therapieerfolge einer Behandlungs- chologie geht.
technik, die auf einer bestimmten Theorie des menschlichen Überraschenderweise war Freud der Meinung, die Psy-
Erlebens und Verhaltens beruhen, könnten auf Behand- choanalyse sei eine Naturwissenschaft. Zumindest aber in
lungskomponenten beruhen, die mit dieser Theorie gar seiner zweiten Lebenshälfte scheint er so überzeugt von
nichts zu tun haben. Zum Beispiel könnten die psychoana- den Grundzügen seiner Theorie gewesen zu sein, dass er
lytischen Deutungen völlig falsch sein, die Tatsache aber, nicht mehr wirklich nach der empirischen Bewährung
dass dem Patienten irgendeine plausible Deutung seiner seiner Thesen aufgrund unabhängiger Überprüfung durch
Probleme offeriert wird oder dass ein eindrucksvolles Ritual andere fragte. Diese Haltung ist nicht nur bei Psychoanaly-
über lange Zeit hin vollzogen wird, könnte therapeutisch tikern weit verbreitet; so soll ein in Ehren ergrauter, empi-
wirksam sein. Und selbst dann, wenn korrekte Deutun- risch orientierter Psychologe auf die Mitteilung einer Mit-
gen stärker als inkorrekte Deutungen den Therapieerfolg arbeiterin, dass die Daten seiner Theorie völlig widerspre-
fördern würden, würden dadurch bestenfalls klinisch rele- chen, gesagt haben: „Umso schlimmer für die Wirklichkeit!“
vante Annahmen der Psychoanalyse bestätigt, nicht aber Typisch für eine orthodoxe, selbstüberzeugte und
ihre Annahmen über die in der Persönlichkeitspsycholo- deshalb von vornherein gegen jede Kritik immunisierte
gie interessierenden nichtpathologischen individuellen Haltung ist Freuds Antwort auf einen Brief von Rosenzweig,
Besonderheiten. der ihm schrieb, er habe Freuds Thesen zur Verdrängung
experimentell erhärten können. 7 Unter der Lupe kontras-
tiert Freuds Antwort mit dem klassischen Credo des Natur-
1.2.2.5 Bewertung wissenschaftlers, das Bertolt Brecht dem Galileo Galilei in
Das klassische psychoanalytische Paradigma ist von seiner den Mund legte.
Methodik her inakzeptabel für die empirische Persönlich-
keitspsychologie. Viele seiner Grundbegriffe erwiesen sich Unter der Lupe
als zu unscharf, um in empirischen Untersuchungen sinn-
voll verwendet werden zu können, und Teile der Theo- Orthodoxie vs. Aufklärung
rienbildung, z. B. die Phasenlehre der Entwicklung, sind Freud antwortete auf Rosenzweigs Mitteilung, er habe
empirisch unhaltbar. Andere Bestandteile des Paradigmas das Verdrängungskonzept experimentell bestätigen
konnten empirisch verankert und dadurch für die empiri- können:
sche Persönlichkeitspsychologie fruchtbar gemacht werden. „Ich habe Ihre experimentellen Arbeiten zur
Insgesamt ist das psychoanalytische Paradigma deshalb als Prüfung psychoanalytischer Behauptungen mit
Paradigma – also als Einheit von Konzepten, Annahmen Interesse zur Kenntnis genommen. Sehr hoch
und Methoden – unbrauchbar für die empirische Persön- kann ich diese Bestätigungen nicht einschätzen,
lichkeitspsychologie, auch wenn sie Teile psychoanalyti- denn die Fülle sicherer Beobachtungen, auf denen
schen Gedankenguts heuristisch nutzen kann (d. h. hieraus jene Behauptungen ruhen, macht sie von der
Ideen für die Formulierung empirisch prüfbarer Hypothe- experimentellen Prüfung unabhängig. Immerhin, sie
sen beziehen kann). kann nicht schaden.“ (Zitiert nach Kiener, 1978, S. 1 200)
Aus dieser Bewertung darf nicht der Schluss gezogen Brecht legte dem Galileo Galilei das klassische Credo
werden, die Psychoanalyse (als psychologische Theorie) des Naturwissenschaftlers in den Mund:
sei keine Wissenschaft. Es gibt z. B. den weiten Bereich der „Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage
hermeneutischen (verstehenden) Wissenschaften (z. B. stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmei-
Literaturwissenschaften), die anderen Wissenschaftskrite- lenstiefeln vorwärts gehen, sondern im
rien verpflichtet sind als die empirischen Wissenschaften. Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden
Ob die Psychoanalyse aber den Kriterien der hermeneu- wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder
tischen Wissenschaften genügt oder genügen sollte, lässt
1.2 · Wissenschaftliche Persönlichkeitskonzepte
19 1
1.2.3 Empirische Persönlichkeits
anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden psychologie
haben. Und was wir zu finden wünschen, das werden
wir, gefunden, mit besonderem Misstrauen ansehen. Nachdem wir anhand der Kritik der Alltagspsychologie und
… (Mit einem Zwinkern:) Sollte uns dann aber jede Psychoanalyse unseren Blick für die Anforderungen einer
andere Annahme als diese unter den Händen empirischen Wissenschaft geschärft haben, können wir eine
zerronnen sein, dann keine Gnade mehr mit denen, erste Definition der Persönlichkeitspsychologie als empiri-
die nicht geforscht haben und doch reden.“ (Brecht, sche Wissenschaft versuchen:
1967, S. 1 311)
Definition
? Fragen Persönlichkeitspsychologie ist die empirische
1.7 Welche Beziehungen bestehen nach Freud Wissenschaft von den individuellen Besonderheiten
zwischen den drei psychischen Instanzen und von Menschen in körperlicher Erscheinung, Verhalten
den drei Bewusstseinsebenen? (→ . Abb. 1.2) und Erleben.
1.8 Sind Es, Ich und Über-Ich Konstrukte
im erfahrungswissenschaftlichen Sinn?
(→ empirische Verankerung ist nicht gegeben)
1.9 Welche Beziehungen bestehen nach Diese Definition ist nahe an der alltagspsychologischen
Freud zwischen den drei frühkindlichen Vorstellung, stellt aber durch den Zusatz „empirische
Entwicklungsstufen und dem Charakter von Wissenschaft“ hohe Anforderungen, weil Eigenschaften
Erwachsenen? (→ Konzept der Fixierung an nunmehr empirisch verankert und Aussagen empirisch
Beispiel erläutern) prüfbar sein müssen. Zudem muss der Begriff der „indi-
1.10 Was wehren Abwehrmechanismen wie ab? viduellen Besonderheit“ noch in dreierlei Hinsicht präzi-
(→ Neurotische – moralische – Realangst, siert werden.
mindestens fünf Abwehrformen erläutern 1. Zeitliche Stabilität. Mit „individuelle Besonderheit“
können) sind zeitlich stabile Eigenschaften gemeint (körper-
1.11 Ist die klassische psychoanalytische Methodik liche Merkmale und Dispositionen), und der Grad der
akzeptabel als Methode der Erfahrungswis- Stabilität muss quantifiziert werden: Wie hoch über
senschaft? (→ Problem der selbsterfüllenden welche Zeiträume – Tage, Monate, Jahre? Wie das
Prophezeiung erläutern können) möglich ist, wird im nächsten Kapitel gezeigt.
1.12 Welche Bedeutung hat die Psychoanalyse für 2. Vergleich mit Referenzgruppe. „Individuelle
die heutige empirische Persönlichkeitspsy- Besonderheit“ soll bedeuten, dass die betrachtete
chologie? (→ unbewusste Motive, implizite Eigenschaft zwischen Menschen überhaupt variiert,
Kognitionen, Abwehrstile (Beispiel), frühe und zwar nicht zwischen beliebigen Menschen,
Objektbeziehungen spielen auch heute noch sondern zwischen solchen ähnlichen Alters und
eine Rolle) gleicher Kultur. Denn es ergibt keinen Sinn, Persön-
lichkeitsunterschiede mit Altersunterschieden
Mehr lesen oder kulturellen Unterschieden zu vermischen. Die
Vergleichsgruppe, mit der eine bestimmte Person
Grünbaum, A. (1999). Die Grundlagen der verglichen wird, um so ihre individuelle Besonderheit
Psychoanalyse: Eine philosophische Kritik. Ditzingen: zu beschreiben, wird die Referenzpopulation der
Reclam. Vgl. auch Grünbaum, A. (1986). Précis of Person genannt.
“The foundations of psychoanalysis: A philosophical 3. Keine pathologischen Merkmale. Pathologische
critique”. Behavioral and Brain Sciences, 9, 217–284 (mit Merkmale sollen ausgeschlossen sein, weil ihre Stabi-
ausgiebigem Diskussionsteil). lität und Erklärung oft andersartig ist als bei nichtpa-
Westen, D., Gabbard, G.O., & Ortigo, K.M. (2008). thologischen Normalvarianten der Persönlichkeit. In
Psychoanalytic approaches to personality. In O. der Alltagspsychologie werden manchmal zwar auch
John, R.W. Robins & L.A. Pervin (Eds.), Handbook of pathologische körperliche Merkmale und Disposi-
personality: Theory and research (3rd ed., pp. 61–113). tionen, z. B. Blindheit, starke geistige Behinderung,
New York: Guilford. Schizophrenie oder eine Spinnenphobie als Persön-
lichkeitseigenschaften betrachtet. Pathologische
20 Kapitel 1 · Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis
> Bei der Personalauswahl und Personalentwicklung Entsprechendes gilt für die Erziehung (vgl. z.B. Seidel &
wird die Persönlichkeit von Bewerbern mit einem Krapp, 2014) insbesondere im Kindergartenbereich sowie
Anforderungsprofil verglichen. an der Hochschule im Sinne des Mentoring von fortge-
schrittenen Studierenden: Je mehr auf die Persönlichkeit
Beim zielgruppenorientierten Marketing richtet sich die eingegangen wird, umso erfolgreicher wird die Arbeit mit
Werbung an bestimmte Zielgruppen, die nicht nur über den Kindern oder den Studierenden sein. Wünschenswert
Alter, Bildung oder Beruf, sondern auch über Persönlich- wäre ein individualisierter Unterricht auch für den gesam-
keitseigenschaften wie z. B. ökologische oder politische ten Schulbereich und die unteren Hochschulsemester, was
Einstellungen, Homo- bzw. Heterosexualität oder Präfe- aber derzeit an der Unterfinanzierung des Bildungswesens
renzen der Nutzung bestimmter Medien (Print, TV, Inter- scheitert, denn individualisiertes Erziehen und Unterrich-
net, E-Mail usw.) definiert werden. Hierfür ist persönlich- ten erfordert viel Zeit für den Einzelnen.
keitspsychologisches Wissen über die jeweilige Zielgruppe
nützlich (vgl. z. B. Felser, 2015). > Erziehung, Unterricht und Mentoring sollten
individualisiert durchgeführt werden unter
> Marketing kann sich an Zielgruppen mit definierter Berücksichtigung der Persönlichkeit.
Persönlichkeit richten.
In Psychotherapieerfolgsstudien hat sich die Passung der
Entsprechendes gilt, wenn Präventionsmaßnahmen im Persönlichkeit von Klient und Therapeut als ein wesentli-
Gesundheitsbereich oder auch im Arbeitsschutz zielgrup- cher therapeutischer Faktor herausgestellt, der oft wichti-
pengerecht gestaltet werden sollen. Wie lässt sich z. B. bei ger ist als die jeweils angewandte Therapietechnik. Deshalb
bestimmten Risikogruppen für AIDS die Akzeptanz von sollte Psychotherapie ebenfalls möglichst individualisiert
Präservativen erhöhen (vgl. für Anwendungen auf die erfolgen, was eine individualisierte Therapieplanung erfor-
Gesundheitspsychologie z. B. Brinkmann, 2014)? dert. Da Persönlichkeitseigenschaften und Persönlichkeits-
störungen besonders therapieresistent sind, kann auch
> Prävention kann sich an Zielgruppen mit definierter dieses Wissen Entscheidungen im psychotherapeutischen
Persönlichkeit richten. Kontext verbessern (vgl. z. B. Wittchen & Hoyer, 2011).
Für eine erfolgreiche Beratung ist es unerlässlich, die Per- > Psychotherapie sollte individualisiert durchgeführt
sönlichkeit der Beratungssuchenden einzubeziehen, seien werden unter Berücksichtigung der Persönlichkeit.
es Kunden bei der Produktberatung, Eltern in der Erzie-
hungsberatung, Paare in der Familienberatung oder Dro- Persönlichkeitspsychologisches Wissen fließt auch in Gut-
genabhängige in der Drogenberatung. In allen Fällen ist die achten vor Gericht ein, z. B. über die Schuldfähigkeit oder
Beratung wirksamer, wenn sie individualisiert durchgeführt das Rückfallrisiko eines Sexualstraftäters, oder über die
wird, indem sie auf die Persönlichkeit abgestimmt wird (vgl. Fahrtauglichkeit eines wiederholten Verkehrssünders (vgl.
z. B. Nußbeck, 2014). z. B. Kroeber & Steller, 2005). Beim Profiling wird die Suche
22 Kapitel 1 · Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis
nach möglichen Gewalttätern durch ein Persönlichkeitspro- Berufspraxis zuerst einmal Alltagspsychologen sind.
1 fil einzugrenzen versucht, das auf Basis der vorhandenen Unsere Alltagspsychologie können wir genauso wenig
Spuren erfolgt (vgl. Musolff & Hoffmann, 2006). durch Promotion und Professur loswerden wie durch 30
Jahre Berufspraxis. Sie begleitet uns von Kindesbeinen
> In der Begutachtung vor Gericht und beim Profiling an, geht später eine Liaison mit der Psychologie ein, aber
in der Kriminalistik wird persönlichkeitspsycho- dominiert in dieser fragilen Beziehung allemal. Wir können
logisches Wissen genutzt. unsere Expertise als Psychologen von Fall zu Fall zu Hilfe
nehmen, aber immer nur vor dem Hintergrund der intui-
Diese Beispiele vermitteln nur einen kleinen Einblick in die tiv und automatisiert ablaufenden Assoziationen, Bewer-
zahllosen Möglichkeiten, persönlichkeitspsychologisches tungen, Kategorisierungen und Schlussfolgerungen unserer
Wissen in der Berufspraxis zu nutzen – bis hin zu exotischen Alltagspsychologie.
Anwendungen wie z. B. Auswahl von Wissenschaftlern für
mehrmonatige Aufenthalte auf engstem Raum in der Ant- > Die Alltagspsychologie dominiert auch in
arktis oder in Raumstationen. Wissenschaft und Berufspraxis.
In der Praxis psychologisch Ausgebildeter gehen All-
tagspsychologie und Psychologie eine schwer zu trennende ? Frage
Liaison ein. Auf der einen Seite werden psychologische 1.14 Ein Wissenschaftler führt eine Studie an 100
Kenntnisse wie die in diesem Buch erworbenen (hoffent- Personen als Beleg seiner These an, dass
lich) gezielt angewendet. Auch beeinflussen diese Kennt- Schönheit und IQ nicht zusammenhängen, ein
nisse das Handeln indirekt über ihren Einfluss auf die All- Praktiker seine jahrzehntelange Erfahrung in
tagspsychologie, bis hin zu der zu Recht beklagten „profes- der Personalauswahl, dass es einen positiven
sionellen Verbiegung“, bei der z. B. klinisch Ausgebildete in Zusammenhang gibt. Wer hat Recht? (→ Urteil
jedem Mitarbeiter und bei jedem in Scheidung begriffenen des Praktikers beruht auf horizontaler
Bekannten einen Fall für eine Psychotherapie sehen, weil Koppelung von Schönheit und IQ, individuelle
sie individuelle Besonderheiten oder Lebenskrisen generell Erfahrung ist in empirischer Wissenschaft
für therapiebedürftig halten. Im Falle der Persönlichkeits- irrelevant.)
psychologie kann es zu einer arg verkürzten Wahrnehmung
kommen, indem Mitarbeiter, Bewerber, Kunden und Klien- Mehr lesen
ten bevorzugt nach denjenigen Persönlichkeitseigenschaf-
ten eingeschätzt werden, die zum Zeitpunkt der Ausbildung Weber, H. & Rammsayer, T. (Hrsg.) (2005). Handbuch
oder gegenwärtig gerade en vogue sind. der Persönlichkeitspsychologie und Differentiellen
Psychologie. Kap. VIII: Die Relevanz von Persönlich-
> In Wissenschaft und Berufspraxis gibt es die keitsmerkmalen in den zentralen Anwendungs-
Gefahr einer professionellen Verbiegung der gebieten der Psychologie. Göttingen: Hogrefe.
Alltagspsychologie.
2.1 Eigenschaftsparadigma – 24
2.1.1 Von Sterns Schema zu Cattells Würfel – 25
2.1.2 Langfristige Stabilität – 26
2.1.3 Transsituative Konsistenz – 27
2.1.4 Reaktionskohärenz – 28
2.1.5 Idiographischer und nomothetischer Ansatz – 29
2.2 Informationsverarbeitungsparadigma – 32
2.2.1 Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung – 33
2.2.2 Kapazität des Arbeitsgedächtnisses – 33
2.2.3 Impulsive vs. reflektive Informationsverarbeitung – 34
2.2.4 Implizite Einstellungen – 35
2.7 Gesamtüberblick – 79
Wie alle empirischen Wissenschaften lässt sich auch die heu- Alltag machen wir das intuitiv, im Eigenschaftsparadigma
tige Persönlichkeitspsychologie in mehrere Paradigmen quantitativ durch Einordnung der Eigenschaftsausprägung
gliedern: Bündel theoretischer Leitsätze, Fragestellungen einer Person in die beobachtete Eigenschaftsvariation inner-
2 und Methoden zu ihrer Beantwortung. Diese Paradigmen halb einer Referenzpopulation: Wie über- oder unterdurch-
lassen sich historisch bis ins 19. Jahrhundert zurückverfol- schnittlich ist diese Ausprägung?
gen. In diesem Kapitel werden die sechs wichtigsten Para-
digmen der heutigen empirischen Psychologie dargestellt. > Die Individualität einer Person wird nur im Vergleich
Es geht dabei nicht darum, das Lebenswerk ihrer Begründer mit einer Referenzpopulation deutlich.
auszubreiten oder die zahllosen Verästelungen und Sack-
gassen ihrer historischen Entwicklung zu beschreiben. Viel- Die zweite Antwort ist, dass wir der Individualität einer
mehr geht es darum, einige Hauptlinien ihrer Entwicklung Person umso gerechter werden, je mehr Eigenschaften wir
nachzuzeichnen und die Fragestellungen, Methoden und betrachten. Dass jemand intelligenter ist als der Durch-
Hauptergebnisse der sechs Paradigmen an wenigen Bei- schnitt, ist eine eher dürftige Aussage. Wir können sie
spielen zu skizzieren. Erst in den nachfolgenden Kapiteln bereichern, indem wir spezifischere Intelligenzfaktoren
werden diese Methoden genauer geschildert, die Ergeb- betrachten, z. B. sprachliches Verständnis, schlussfolgern-
nisse inhaltsbezogen dargestellt und Anwendungen in der des Denken und räumliches Vorstellungsvermögen. So
Praxis exemplarisch geschildert. kommen wir zu einem Intelligenzprofil, in dem die Stärken
und Schwächen differenzierter hervortreten. . Abb. 2.1
illustriert ein Intelligenzprofil am Beispiel von 8 Unter-
? Lernziele tests eines Intelligenztests. Das Niveau dieses Profils, d. h.
44 Fragestellungen, Methoden und Entstehungsge- die mittlere Leistung der Person in allen Intelligenztests,
schichte der heutigen Paradigmen der empirischen beschreibt die „allgemeine Intelligenz“ der Person. Die Pro-
Persönlichkeitspsychologie nachvollziehen können; filgestalt, d. h. Unterschiede zwischen ihren Leistungen in
44 einige Hauptergebnisse dieser Paradigmen schildern den einzelnen Tests, beschreibt ihre „Intelligenzstruktur“,
können. z. B. ob ihre sprachlichen Fähigkeiten (die 4 oberen Tests in
. Abb. 2.1) schlechter sind als ihre nichtsprachlichen (die
4 unteren Tests).
2.1 Eigenschaftsparadigma Noch reicher wird die Persönlichkeitsbeschreibung,
wenn wir sie nicht nur auf den Intelligenzbereich beschrän-
Das Menschenbild des Eigenschaftsparadigmas knüpft eng ken, sondern auch verwandte Eigenschaften wie Kreativität
an das alltagspsychologische Eigenschaftskonzept an: Per- und emotionale Kompetenzen einbeziehen, bis hin zu gänz-
sonen weisen charakteristische körperliche Merkmale und lich anderen Eigenschaften wie z. B. Geselligkeit, Aggres-
Regelmäßigkeiten ihres Verhaltens und Erlebens auf; diese sivität, Gewissenhaftigkeit und politische Einstellung. So
Regelmäßigkeiten können wir nicht direkt beobachten, aber entsteht ein immer umfassenderes Persönlichkeitsprofil
durch wiederholte Beobachtung erschließen. Im Mittelpunkt aus ganz unterschiedlichen Eigenschaften, das letztend-
steht jedoch nicht eine einzelne Person, sondern eine Refe- lich einzigartig ist. Bei nur zehn Eigenschaften mit je zehn
renzpopulation von Personen ähnlichen Alters und ähnlicher
Kultur, die untereinander in ihrer Persönlichkeit verglichen
werden. Damit stehen Differenzen von Personen (Unter-
schiede zwischen Personen) im Mittelpunkt der Betrachtung
(differenzielle Sichtweise in der Psychologie). Im Gegensatz
dazu ignoriert die Allgemeine Psychologie diese Differenzen
und beschäftigt sich mit durchschnittlichen Personen, um
so allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Erlebens und Verhal-
tens aufzudecken. Insofern ist die Persönlichkeitspsychologie
komplementär zur Allgemeinen Psychologie.
Das wirkt paradox: Wie kann man der Individualität
einer Person gerecht werden, wenn man eigentlich nur
Unterschiede zwischen Personen betrachtet? Die erste
Antwort ist, dass die Individualität nur durch den Vergleich
mit vergleichbaren Personen deutlich werden kann. Im . Abb. 2.1 Intelligenzprofil in acht Untertests des HAWIE
2.1 · Eigenschaftsparadigma
25 2
Ausprägungsmöglichkeiten gibt es bereits 1010, also zehn
Milliarden verschiedene Persönlichkeitsprofile, und es gibt
ja sehr viel mehr als nur zehn verschiedene Eigenschaften.
Im Eigenschaftsparadigma wird also die Individualität einer
Person durch Betrachtung vieler unterschiedlicher Eigen-
schaften erfasst, wobei die individuelle Ausprägung jeder
dieser Eigenschaften durch Vergleich mit den Ausprägun-
gen in einer Referenzpopulation deutlich wird.
Das war auch das Ergebnis umfangreicherer Testungen 2.2.2 Kapazität des Arbeitsgedächtnisses
nordamerikanischer Studenten um 1900 an der Columbia
University in New York, wobei die einzelnen Tests keine Ab den 1950er-Jahren wurde auch Galtons Versuch, Intel-
substanziellen Beziehungen zum Studienerfolg aufwiesen. ligenz durch Gedächtnisleistungen zu erfassen, neu belebt,
Die erste Phase der Intelligenzforschung auf der Basis von indem die individuelle Kapazität des Arbeitsgedächtnisses
Sinnes- und Gedächtnisprüfungen war damit in eine Sack- bestimmt wird. Unter dem Arbeitsgedächtnis wird derje-
gasse geraten. nige Teil des Gedächtnisses verstanden, der für die vorüber-
Es dauerte über 70 Jahre, bis praktisch zeitgleich deut- gehende Speicherung und für Veränderungen von Gedächt-
liche Zusammenhänge zwischen Intelligenz (erfasst durch nisinhalten verantwortlich ist. Das Arbeitsgedächtnis wird
Intelligenztests; 7 Abschn. 4.3.1) und Parametern in ein- z. B. benötigt, um einen langen Satz auch noch am Ende zu
fachen kognitiven Aufgaben gefunden wurden. Der US- verstehen (dazu muss man sich an den Anfang noch erin-
Amerikaner Arthur Jensen (1923–2012) entdeckte diesen nern können). Auch beim Erwerb neuen Wissens und der
Zusammenhang für die Reaktionszeit bei einfachen Ent- Lösung komplexer Probleme ist das Arbeitsgedächtnis not-
scheidungsaufgaben, bei der die Versuchspersonen so wendig, indem Wissensbestandteile aus dem Langzeitge-
schnell wie möglich eine Taste drücken sollen, wenn eines dächtnis abgerufen und verändert oder mit neuem Wissen
von mehreren Lämpchen aufleuchtet (Jensen &Munroe, verknüpft werden. Wie viele Gedächtnisinhalte gleichzeitig
1979). Intelligente Personen drücken die Taste im Mittel verarbeitet werden können, wird durch die Kapazität des
über viele Testdurchgänge schneller als weniger intelligente. Arbeitsgedächtnisses begrenzt.
Spätere Studien konnten dies immer wieder bestätigen (vgl. Der US-Amerikaner George A. Miller (1920–2012)
z. B. Deary, Der & Ford, 2001). legte 1956 eine einflussreiche Theorie vor, wonach Erwach-
sene 7 + 2 Elemente („chunks“) gleichzeitig im Gedächtnis
> Arthur Jensen entdeckte 1979 einen behalten können. Das legt nahe, Unterschiede in der Kapa-
Zusammenhang zwischen Intelligenz und zität (Umfang) des Arbeitsgedächtnisses auf Intelligenz-
Reaktionszeit bei einfachen Entscheidungen. unterschiede zu beziehen. Seitdem gibt es eine wachsende
Forschung zur Rolle des Arbeitsgedächtnisses, die durch
Der Australier Ted Nettelbeck entdeckte 1982 einen ähn- neurowissenschaftliche Untersuchungen zur Rolle des prä-
lichen Zusammenhang für die visuelle Inspektionszeit. frontalen Kortex (vorderer Teil der Großhirnrinde) für das
Darunter wird die Schnelligkeit verstanden, mit der Per- Arbeitsgedächtnis zusätzlichen Auftrieb erhielt.
sonen unterscheiden können, ob zwei ähnlich lange Linien Kyllonen und Christal (1990) fanden einen überra-
gleich lang sind oder nicht. Hierzu werden auf einem Bild- schend engen Zusammenhang zwischen der Kapazität des
schirm ähnlich lange Linien immer kürzer dargeboten, bis Arbeitsgedächtnisses und der Fähigkeit zum verbalen und
34 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
mathematischen schlussfolgernden Denken, wobei beide unbewusste Motive und „primärprozesshaftes Denken“
Fähigkeiten nur wenig mit Tests zur Geschwindigkeit der zurückführte, wird im Rahmen des Informationsverarbei-
Informationsverarbeitung und Wissenstests zusammenhin- tungsparadigmas davon ausgegangen, dass es unterschied-
2 gen. Das erregte großes Aufsehen und regte vielfältige For- liche Modi (Arten) der Informationsverarbeitung gibt, die
schungsbemühungen zu einem besseren Verständnis der parallel ablaufen, aber unterschiedliche Hirnstrukturen
Rolle des Arbeitsgedächtnisses bei Intelligenzleistungen an. nutzen und deshalb auch unterschiedlichen Prinzipien der
Kritisch ist allerdings anzumerken, dass die Gedächtniska- Informationsverarbeitung folgen.
pazität durch Tests erfasst wurde, die selbst wiederum ele- Im Folgenden wird beispielhaft die von Strack und
mentares schlussfolgerndes Denken erfordern, sodass die Deutsch (2004) getroffene Unterscheidung zwischen impul-
Operationalisierungen der Gedächtniskapazität und der siver und reflektiver Informationsverarbeitung vereinfacht
Intelligenz nicht unabhängig waren. Der vergleichsweise dargestellt. Danach gibt es zwei Informationsverarbeitungs-
geringe Zusammenhang mit Reaktions- und Inspektions- systeme, das impulsive und das reflektive System, die sich
zeittests legt jedenfalls nahe, dass die Kapazität des Arbeits- sowohl in der Repräsentation von Informationen als auch
gedächtnisses eine wichtige zusätzliche Quelle von Intelli- in deren Verarbeitung unterscheiden. Das impulsive System
genzunterschieden darstellt. ist ständig aktiv, das reflektive System wird ab und zu „zuge-
schaltet“ (vgl. . Abb. 2.8).
> Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses stellt eine Im impulsiven System breiten sich aktivierte Wahrneh-
wichtige Quelle von Intelligenzunterschieden dar mungen oder Vorstellungen in einem assoziativen Netzwerk
zusätzlich zu „mental speed“. aus, das auch Verhaltensschemata enthält, sodass sie diese
direkt anregen können. Das System funktioniert nach kon-
nektionistischen Prinzipien. Zum Beispiel wird die Asso-
2.2.3 Impulsive vs. reflektive ziation zwischen Elementen des Netzwerks gestärkt, wenn
Informationsverarbeitung beide gleichzeitig angeregt sind, und angeregte Elemente
regen mit ihnen assoziierte Elemente proportional zur Asso-
Ansätze im Informationsverarbeitungsparadigma, die ziationsstärke an. Angeregte Elemente des Netzwerks hin-
von „der“ Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung terlassen eine Gedächtnisspur, sodass sie das nächste Mal
oder der Kapazität „des“ Arbeitsgedächtnisses ausgehen, leichter angeregt werden können. So bildet sich ein assozia-
laufen Gefahr, zu viel über einen Kamm zu scheren, weil die tives Gedächtnis über früher aktivierte Wahrnehmungen,
menschliche Informationsverarbeitung in einem Nerven- Vorstellungen und Verhalten. Wahrnehmungen und Vor-
system abläuft, das in viele relativ eigenständig arbeitende stellungen können, vermittelt über dieses assoziative Netz-
Teilsysteme untergliedert ist, die z. T. nach unterschiedli- werk, unmittelbar verhaltensanregend wirken.
chen Prinzipien funktionieren. Das ist evolutionsbiologisch Stärker aktivierte Wahrnehmungen oder Vorstellun-
und neuroanatomisch verständlich. Unser Nervensystem gen werden unabhängig davon vom reflektiven System ver-
ist in einem Jahrmillionen dauernden Entwicklungspro- arbeitet, wobei die Aktivierung durch Aufmerksamkeits-
zess entstanden, in dessen Verlauf „alte“ Strukturen modi- zuwendung (eine Leistung des reflektiven Systems) erhöht
fiziert und durch „jüngere“ Strukturen überlagert wurden werden kann. Das reflektive System führt diese Wahrneh-
(vgl. z. B. Birbaumer & Schmidt, 2010). Ältere und jüngere mungen oder Vorstellungen zunächst in ein propositionales
Strukturen können sich deshalb erheblich in Prinzipien Format über, also in Begriffe mit Merkmalen (das impulsive
der Informationsverarbeitung unterscheiden, auch wenn System verarbeitet Informationen nicht in einem solchen
sie miteinander in vielfältiger Weise Informationen austau-
schen können.
Eine erste, grobe Unterscheidung findet sich seit
Sigmund Freud in vielen Theorien des menschlichen Erle-
bens und Verhaltens: die Unterscheidung zwischen emo-
tionalen vs. rationalen, affektiven vs. kognitiven, sponta-
nen vs. willentlichen, intuitiven vs. analytischen, impulsiven
vs. reflektiven, impliziten vs. expliziten Prozessen (vgl. für
eine Übersicht Evans, 2008). Diese Unterscheidungen sind
nicht identisch, aber miteinander verwandt. Sie beziehen
sich auf unsere alltägliche Erfahrung, dass wir manchmal
gefühlsmäßig oder auch ohne besondere Gefühle intuitiv . Abb. 2.8 Das impulsive und das reflektive System der
und spontan an etwas denken oder etwas tun, ohne dass Informationsverarbeitung. (Mod. nach Strack & Deutsch, 2004, mit
wir das beabsichtigt haben. Während Freud (1901) dies auf freundl. Genehmigung von SAGE Publications)
2.2 · Informationsverarbeitungsparadigma
35 2
propositionalen Format, sondern rein assoziativ). Dieses Viele Verhaltensweisen unterliegen allen drei Kontrolltypen.
deklarative Wissen wird dann in rationalen Denk- und Ent- Man kann z. B. spontan über einen Scherz lächeln (impulsiv
scheidungsprozessen genutzt und beeinflusst in Form von gesteuerter Emotionsausdruck), professionell als Stewar-
Intentionsbildungen das Verhalten. dess (automatisiert) oder willentlich (reflektiv gesteuert),
Verhalten ist also nach dieser Auffassung eine gemein- z. B. aus Höflichkeit. Spontane, automatisierte und willent-
same Endstrecke beider Systeme. Da die Systeme nicht liche Verhaltenskontrolle nutzen unterschiedliche Hirn-
immer dasselbe Verhalten anregen, kann es zu Interfe- strukturen. Es gibt z. B. zwei verschiedene Formen der halb-
renzen und Konflikten kommen. Wer sich das Rauchen seitigen Lähmung der Gesichtsmuskulatur. Bei peripherer
abgewöhnen möchte und seinen Nachbarn rauchen sieht, Lähmung ist der Gesichtsnerv selbst betroffen; solche Men-
wird versuchen, sein reflektives System zu nutzen, um den schen können nur halbseitig lächeln. Bei zentraler Lähmung
Griff zur Zigarette zu verhindern. Aber das ist gar nicht ist die für die willentliche Kontrolle der Gesichtsmuskeln
so einfach, weil das impulsive System automatisch das zuständige Region der Hirnrinde betroffen; solche Men-
motorische Schema „eine rauchen“ und alle damit assozi- schen können auf Aufforderung nur halbseitig lächeln,
ierten Gefühle anregt, auch die positiven, gegen die man sind aber in der Lage, spontan über einen Witz beidseitig
angehen möchte (vgl. Hofmann, Friese, Müller & Strack, zu lächeln (Rinn, 1984).
2011, für eine Anwendung des Modells auf selbstregulato-
risches Verhalten). Wer zum Erröten neigt, einem impul-
siv vermittelten Verhalten, mag es durch Kontrollversu- Unter der Lupe
che des reflektiven Systems sogar noch verstärken, weil
es die Aufmerksamkeit auf das Erröten lenkt und damit Impulsive und reflektive Prozesse
für das impulsive System verstärkt, das Erröten selbst Informationsverarbeitungsprozesse lassen sich in
aber nicht direkt reflektiv kontrollierbar ist. Das Modell impulsive und reflektive Prozesse gliedern, die parallel
in . Abb. 2.8 kann so eine Grundlage für die Erklärung ablaufen und Verhalten als gemeinsame Endstrecke
zahlreicher alltäglicher und psychopathologischer Phä- haben. Impulsive Prozesse nutzen assoziative
nomene bilden. Strukturen und führen ständig und automatisch zu
Die reflektive Informationsverarbeitung bildet eher die Verhaltensimpulsen und Gedächtnisbildung über
Ausnahme als die Regel im alltäglichen Verhalten. Sie wird ausgeführtes Verhalten. Phasenhaft zugeschaltete
„zugeschaltet“, wenn Hindernisse die Ausführung von Rou- reflektive Prozesse verarbeiten propositionale
tineverhalten erschweren, oder um längerfristige Ziele zu Strukturen und sind die Voraussetzung für die
verfolgen. Verhalten, das primär reflektiv gesteuert ist, wird rationale Analyse und Reflektion; sie können zu
in der Psychologie als „Handeln“ vom sonstigen Verhalten willentlichem Verhalten und langanhaltenden Denk-
abgegrenzt. Längerfristiges Handeln bedarf der Planung und Handlungsprozessen führen. Die beiden Systeme
über die aktuelle Situation hinaus; das kann das impulsive können unterschiedliches, teilweise auch sich
System nicht leisten. Die Planung erfolgt durch Problem- widersprechendes Verhalten anregen.
löseprozesse; z. B. wie kann ich meine Stellung im Schach-
spiel durch den nächsten Zug oder, noch besser, durch eine
Strategie aus mehreren Zügen verbessern?
Die Unterscheidung der beiden Systeme ist nur ein erster
Differenzierungsschritt in Richtung komplexerer Modelle 2.2.4 Implizite Einstellungen
der Informationsverarbeitung. Betrachten wir z. B. die Ver-
haltensinitiierung genauer, können wir nicht nur impulsive Die Unterscheidung zwischen impulsiven und reflektiven
und reflektive Verhaltensinitiierung unterscheiden, sondern Prozessen findet sich in der heutigen Persönlichkeitspsy-
drei Arten der Initiierung. Das Verhalten kann chologie v. a. in der Einstellungsforschung. Unter einer Ein-
55 willentlich gesteuert werden (z. B. Bedienung der stellung wird die individualtypische Bewertung von Objek-
Gangschaltung durch einen Fahrschüler in der ersten ten der Wahrnehmung oder Vorstellung auf der Dimension
Stunde), positiv – negativ verstanden, z. B. Einstellungen zu politi-
55 automatisiert worden sein (z. B. Schalten eines schen Parteien oder zu einer Automarke (7 Abschn. 4.5.2).
erfahrenen Autofahrers), Ein Problem, das die Einstellungsforschung von Anfang an
55 spontan erfolgen, ohne dass es sich um automatisiertes bewegte, war die Frage, wie gut man aus Einstellungen Ver-
Verhalten handelt (z. B. Emotionsausdruck, wenn es halten vorhersagen kann, denn das ist manchmal nur sehr
im Getriebe knirscht). schwer möglich.
36 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
Fazio et al. (1995) zeigten mithilfe dieser Technik, dass > Ob implizite und explizite Vorurteile
Weiße das Bild eines Schwarzen im Mittel negativer bewer- übereinstimmen, hängt unter anderem vom Motiv
teten als das Bild eines Weißen, während Schwarze das Bild zur Vorurteilskontrolle ab.
eines Weißen im Mittel negativer bewerteten als das Bild
eines Schwarzen. Die implizite Einstellung der weißen Ver- Allerdings sind Primingeffekte meist schwach (Beschleuni-
suchspersonen sagte zudem das von dem schwarzen Ver- gungen bzw. Verlangsamungen im Millisekundenbereich)
suchsleiter eingeschätzte Vorurteil gegenüber Schwarzen und beim Vergleich von einzelnen Personen zeigten sich
vorher, während die zusätzlich durch einen Fragebogen keine stabilen Unterschiede in der Stärke der impliziten Ein-
erhobene explizite Einstellung dies nicht tat. Implizite stellungen: Die Methode ist zu unzuverlässig, um damit Per-
und explizite Einstellung zeigten keinen Zusammenhang, sönlichkeitsunterschiede zu erfassen. Sie ist lediglich geeig-
d. h. das implizite Vorurteil gegenüber Schwarzen ließ net, um mittlere Tendenzen in größeren Gruppen von Per-
sich nicht aus dem expliziten Vorurteil erschließen oder sonen zu erfassen, indem die impliziten Einstellungen vieler
umgekehrt. Personen gemittelt werden.
In einem weiteren Experiment konnten Fazio et al.
(1995) zeigen, dass die implizite Einstellung dann von der > Durch affektives Priming können implizite
expliziten abwich, wenn die Versuchspersonen Vorurteile Einstellungen einzelner Personen nicht zuverlässig
hatten, gleichzeitig aber motiviert waren, keine Vorurteile erfasst werden.
anzugeben. Diese Kontrolltendenz wurde durch einen Fra-
gebogen erhoben mit Fragen wie „Es ist heutzutage wichtig, Erst 1998 gelang es Anthony G. Greenwald durch ein
nicht als vorurteilsbeladen zu erscheinen“. Diese Personen anderes Testverfahren, die Impliziten Assoziationstests
schilderten sich im Einstellungsfragebogen umso weniger (IAT), implizite Einstellungen zuverlässiger zu erfassen
vorurteilsbehaftet, je stärker ihre Vorurteile nach der (7 Methodik; . Tab. 2.1).
38 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
. Tab. 2.1 Aufbau eines IAT zur Erfassung der impliziten Einstellung zur Jugend
der zwischen 1920 und 1970 die empirisch orientierte Psy- (und viele Tierarten) in gleicher Weise gültig seien und die nur
chologie in Nordamerika beherrschte. auf zeitlichen Beziehungen zwischen Reizen und Reaktionen
Nach behavioristischer Auffassung kommt ein Neuge- beruhten, nicht aber auf den spezifischen Inhalten von Reiz
2 borenes als unbeschriebenes Blatt zur Welt (ein Bild, das und Reaktion. Speicheln ließe sich also nicht nur auf einen
von dem englischen Philosophen John Locke, 1632–1704, Glockenton konditionieren wie in den klassischen Experi-
stammt). Es sei nur ausgestattet mit ungerichteter Spon- menten von Pavlov, sondern auch auf einen Geruch oder das
tanaktivität sowie mit einigen Reflexen, die es ihm erlaub- Bild eines Sportwagens, und auf einen Glockenton ließen sich
ten, erfahrungsunabhängig auf Reize der Umwelt zu reagie- nicht nur Speicheln, sondern auch ängstliche oder freudige
ren (z. B. Brustwarze – saugen). Nach und nach gerate das Reaktionen konditionieren. Sei erst einmal der Belohnungs-
Verhalten dann aber unter den Einfluss der Reize aus der wert eines Reizes etabliert, sollte er beim operanten Kondi-
Umwelt; alle komplexeren Reaktionen auf Situationen seien tionieren beliebiger Reaktionen anwendbar sein. Die Kennt-
deshalb erlernt. nis dieser Lerngesetze ermöglicht es nach behavioristischer
Drei Lernmechanismen wurden dabei im Behavioris- Auffassung, menschliches Verhalten durch Schaffung ent-
mus besonders ausführlich untersucht (vgl. z. B. Müsseler, sprechender Umweltbedingungen beliebig zu manipulieren.
2008): Diese Persönlichkeitsauffassung, nach der Personen
55 klassisches Konditionieren (Signallernen), entdeckt vollständig Opfer ihrer Umwelt sind, ist ebenso schlicht
vom russischen Nobelpreisträger Ivan P. Pavlov wie weitreichend. Würde man nämlich alle Situationen
(1849–1936) durch Experimente an Hunden; kennen, in denen eine Person mit Hunden konfrontiert
55 operantes Konditionieren (Lernen durch Belohnung war, könnte man eindeutig vorhersagen, ob diese Person im
bzw. Bestrafung), erforscht v. a. vom US-Amerikaner Erwachsenenalter Angst vor Hunden hat oder nicht. Mehr
Burrhus F. Skinner (1904–1990) durch Experimente noch: Durch Schaffung entsprechender Umweltbedingun-
mit Tauben und Ratten; gen könnte man in beliebiger Weise bei einem Menschen
55 Beobachtungslernen (Nachahmungslernen), erforscht Hundeangst erzeugen oder auch beseitigen. Man müsste
v. a. vom Kanadier Albert Bandura (geb. 1925) durch nur diese Umweltbedingungen genau kontrollieren und die
Experimente mit Kindern. Lerngesetze beachten. Persönlichkeitsentwicklung sei daher
letztlich vollständig erklärbar, vorhersagbar und veränder-
Individuelle Besonderheiten im Verhalten und im Beloh- bar (7 Unter der Lupe).
nungswert bestimmter Reize sind nach behavioristischer
Auffassung ausschließlich Resultat der individuellen Lern-
geschichte. Wenn man die Reize kenne, denen ein Kind aus- Unter der Lupe
gesetzt war, könne man vorhersagen, welche Persönlichkeit
es haben werde. Angst vor Hunden z. B. ist kein angebore- Watsons Optimismus
ner Reflex. Ob jemand später Hunden gegenüber mit Angst Zu Beginn der behavioristischen Ära herrschte
reagiert oder nicht, ist nach behavioristischer Sicht nur von ein nahezu ungebrochener Optimismus, was die
der individuellen Erfahrung mit Hunden abhängig (vgl. Kontrollierbarkeit (also die Therapierbarkeit und
auch 7 Beispiele). Manipulierbarkeit) der Persönlichkeitsentwicklung
angeht: „Man gebe mir ein Dutzend gesunder
Beispiel Säuglinge und eine von mir gestaltete Umwelt, um
Behavioristische Erklärungen von Persönlichkeitseigen- sie aufzuziehen, und ich würde garantieren, dass
schaften ich jeden trainieren könnte zu jeder beliebigen
44 Erwerb von besonderer Ängstlichkeit vor Fliegeralarm Spezialität – Arzt, Anwalt, Künstler, Händler und,
durch klassisches Konditionieren im Zweiten Weltkrieg ja, sogar Bettler und Dieb, unabhängig von seinen
(Sirenen signalisierten Bombardierung); Talenten, Tendenzen, Fähigkeiten, Berufungen und
44 Erwerb von besonderer Ängstlichkeit vor Hunden durch der Rasse seiner Vorfahren. Ich gebe zu, dass ich
operantes Konditionieren (mehrfach gebissen werden); hiermit mein faktisches Wissen überschreite, aber
44 Erwerb von Macho-Gehabe durch Beobachtungslernen genau das tun auch die Vertreter der gegenteiligen
(z. B. durch häufiges Ansehen von Filmen, in denen Meinung seit vielen tausend Jahren.“ (Watson, 1930,
Machos als Helden dargestellt werden). S. 104; eigene Übersetzung).
Erst Bell und Harper (1977) bezogen Effekte des Kindes auf Die klassische Studie
seine Mutter in Erklärungen der Persönlichkeitsentwick- Genetische Prädisposition zum Beobachtungslernen
lung ein und inzwischen konnte empirisch belegt werden, Cook und Mineka (1989) zeigten verschiedenen
dass aggressive Kinder tatsächlich Einfluss auf den Erzie- Gruppen von Rhesusaffen, die im Zoo aufgewachsen
hungsstil ihrer Mütter haben (vgl. 7 Abschn. 6.3). Die dyna- waren und nie zuvor eine Spielzeugschlange, ein
misch-interaktionistische Wende ist aber wohl v. a. Alfred Spielzeugkrokodil, einen Spielzeughasen oder
Bandura zu verdanken, der 1978 einen programmatischen eine Plastikblume gesehen hatten, mehrfach einen
Artikel über den „reziproken Determinismus“ zwischen Videofilm, in dem ein Artgenosse unängstlich oder
Lernenden und ihrer Lernumwelt verfasste: Die Lernum- mit großer Angst auf einen dieser vier Reize reagierte.
welt kann die Lernenden ebenso beeinflussen wie die Ler- Durch Bildmanipulation wurde erreicht, dass die
nenden ihre Lernumwelt (Bandura, 1978). (nicht-)ängstliche Reaktion des Artgenossen bei
Die Betonung der aktiven Rolle der Lernenden im allen Reizen identisch war. Vor und nach diesem
Lernprozess löst auch das behavioristisch letztlich unlös- Lernexperiment wurden die Versuchstiere mit den im
bare Problem, dass manches viel leichter konditionierbar Film gezeigten Reizen direkt konfrontiert. Filme, in
ist als anderes. Viele Lerneffekte erwiesen sich als wenig denen der Artgenosse nichtängstlich auf Schlange,
stabil trotz langer Lernphasen (z. B. Verhaltenstherapie Krokodil, Hase oder Blume reagiert hatte, hinterließen
bei Rauchen, Übergewicht oder Alkoholismus), andere als keine Wirkung: Die Versuchstiere reagierten wie
hochstabil nach einmaligem Lerndurchgang (Seligman, vor dem Experiment nichtängstlich. Reagierte der
1970). In Tierversuchen, in denen die Lernumwelt gut Artgenosse hochängstlich auf den Hasen oder die
manipulierbar ist, wurde dies nicht nur für klassisches und
2.3 · Dynamisch-interaktionistisches Paradigma
43 2
ihrer Lehrer – wesentlichen Einfluss auf das Lernangebot,
Blume, ließ sie das ebenfalls unbeeindruckt. Hatten indem sie es in individueller Weise wahrnehmen oder nicht
sie aber ihren Artgenossen zuvor ängstlich gegenüber beachten, verstehen oder falsch interpretieren und später
der Schlange oder dem Krokodil reagieren sehen, das erworbene Wissen anwenden oder nicht anwenden. Das
reagierten sie nun auch selbst mit Angst. Die Angst gilt für Lernprozesse ganz allgemein: Es gibt dynamisch-
also wurde nur bestimmten Reizen gegenüber interaktionistische Wechselwirkungen zwischen Lernenden
erworben. Dieses Ergebnis ist behavioristisch nicht und ihrer Lernumwelt.
erklärbar. Evolutionsbiologisch betrachtet ergibt
es aber viel Sinn, weil Schlangen und Krokodile > Menschliches Lernen ist wesentlich von Persönlich-
hochgefährlich für Säugetiere sind, Hasen und keitseigenschaften des Lernenden abhängig.
Blumen jedoch nicht (deshalb hatten die Forscher Deshalb nimmt die Persönlichkeit Einfluss auf den
diese Reize so gewählt). Es scheint sich im Verlauf Lernprozess.
der Evolution eine genetische Prädisposition zum
Erlernen von Angst gegenüber solchen Reizen Auch wenn Psychologen heute nicht mehr Watsons Glauben
herausgebildet zu haben, die in der evolutionären an die Manipulierbarkeit der menschlichen Persönlichkeit
Vergangenheit Gefahr signalisierten. teilen: Die heutige Alltagspsychologie ist noch immer durch
den Glauben beeinflusst, Persönlichkeit sei durch Anwen-
dung geeigneter Erziehungsregeln, guten Unterrichts, the-
Bei diesen genetischen Prädispositionen zum bereichsspezifi- rapeutischer Interventionen oder effizienter Werbung in
schen Lernen dürfte es sich teilweise um universelle Disposi- großem Maße formbar. Man müsse nur das Wissen über
tionen handeln, die für fast alle Mitglieder einer Art, z. B. fast die entscheidenden allgemeinen Regeln kennen und diese
alle Menschen, gültig sind, weil sie so hilfreich für das Über- dann konsequent anwenden. An diesem Irrtum ist der Beha-
leben unserer Vorfahren gewesen sind, dass die entsprechen- viorismus nicht ganz unschuldig.
den Genvarianten sich gegenüber Alternativen klar durchge-
setzt haben. Sie sind damit noch kein Thema der Persönlich- Unter der Lupe
keitspsychologie. Dennoch wurden sie hier relativ ausführ-
lich diskutiert, weil die Existenz genetischer Prädispositionen Psychologie, Behaviorismus und Psychoanalyse
zum Erlernen von Ängstlichkeit die Annahme nahelegt, dass Ihr Verhältnis charakterisiert das folgende Bonmot:
es zumindest bei weniger potenten Gefahrreizen auch indi- 55Was ist Psychologie? – Nach einer schwarzen Katze
viduelle Besonderheiten in derartigen genetischen Prädispo- in einem stockdunklen Zimmer suchen.
sitionen gibt: Die eine erwirbt z. B. aus genetischen Gründen 55Was ist Behaviorismus? – Zu glauben, in einem
leichter Ängste gegenüber Mäusen als der andere. stockdunklen Zimmer könne man keine schwarze
Tatsächlich fanden Zwillingsstudien, dass sowohl spe- Katze finden.
zifische Ängste als auch Phobien (starke Ängste gegenüber 55Was ist Psychoanalyse? – Nach einer schwarzen
spezifischen Auslösern wie z. B. Schlangen oder Spinnen) Katze in einem stockdunklen Zimmer suchen, in
einen genetischen Einfluss auf den Ängstlichkeitsgrad dem keine schwarze Katze ist – aber trotzdem eine
zeigten (eineiige Zwillinge waren sich wesentlich ähnlicher finden.
als zweieiige; vgl. zur Methodik 7 Abschn. 6.2). Am stärks-
ten ist dieser Einfluss bei Ängsten gegenüber bestimmten
Tieren (Van Houtem et al., 2013). Dies lässt sich als gene-
tisch bedingte Persönlichkeitsunterschiede in der Lernbe- 2.3.2 Vom genetischen Determinismus zu
reitschaft interpretieren. Genom-Umwelt-Korrelationen
Genetisch bedingte Unterschiede in der Lernbereitschaft
sind nur ein Aspekt eines größeren Problems für behavio- Auch die Forschung zum genetischen Einfluss auf Persön-
ristische Ansätze der Persönlichkeitserklärung: Lernen ist lichkeitsunterschiede zeigt eine historische Entwicklung hin
generell persönlichkeitsabhängig. Verschiedene Menschen zu einer dynamisch-interaktionistischen Sichtweise. Diese
lernen nicht gleich schnell – eine Binsenweisheit für jeden Forschung beginnt (wieder einmal) mit Francis Galton
Lehrer. Intelligenzunterschiede, Unterschiede im Vorwis- (1822–1911). Angeregt durch die 1859 publizierte Evolu-
sen, in Lernstrategien und Unterschiede in der Lernmoti- tionstheorie seines Cousins Charles Darwin unternahm er
vation beeinflussen die Lernleistung (vgl. 7Abschn. 6.3). Aus die ersten Versuche, Erbeinflüsse auf Intelligenz, insbeson-
dynamisch-interaktionistischer Sicht ist klar, dass Schüler dere Hochbegabung, durch Vergleich der Intelligenz mehr
keine Nürnberger Trichter sind, in die Lehrer Wissen hin- oder weniger stark verwandter Familienmitglieder nachzu-
einschütten, sondern Schüler nehmen – oft zum Leidwesen weisen (Galton 1869).
44 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
> Die Forschung zum genetischen Einfluss auf auf individuellen Besonderheiten in seinem Genom (früher
Persönlichkeitsunterschiede begann 1869 mit auch Genotyp genannt) als auch auf individuellen Beson-
Versuchen von Francis Galton, die Vererbung von derheiten seiner Umwelt im Verlauf seiner Entwicklung
2 Hochbegabung nachzuweisen. (7 Abschn. 6.2 für eine genauere Darstellung).
Damit begründete Galton die Verhaltensgenetik, die geneti- > Die Persönlichkeit ist von Genom und Umwelt
sche Einflüsse auf Persönlichkeitsunterschiede anhand der ähnlich stark abhängig.
Ähnlichkeit mehr oder weniger genetisch verwandter Fami-
lienmitglieder empirisch zu ermitteln sucht (z. B. Vergleich Parallel dazu wurden 1977 in einer bahnbrechenden Arbeit
von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen, von Adoptivge- des US-Amerikaners Robert R. Plomin wechselseitige
schwistern mit normalen Geschwistern, von Kindern mit Abhängigkeiten zwischen genetischen und Umweltein-
Enkeln). Wenn genetisch enger verwandte Personen sich flüssen deutlich, die eine einfache Zweiteilung in genetische
in einer bestimmten Persönlichkeitseigenschaft in einem und Umwelteinflüsse infrage stellten (Plomin, DeFries &
bestimmten Alter ähnlicher sind als weniger eng genetisch Loehlin, 1977). Denn genetische und Umweltunterschiede
verwandte, wird dies als Indiz für einen genetischen Ein- können korrelieren, indem bestimmte Genome in bestimm-
fluss interpretiert. Der britische Statistiker Ronald A. Fisher ten Umwelten besonders häufig oder selten vorkommen.
(1890–1962) entwickelte hierfür Methoden zur quantitati- Hierbei unterschieden Plomin et al. drei verschiedene Arten
ven Bestimmung der Stärke des genetischen Einflusses, die von Genom-Umwelt-Korrelationen (7 Unter der Lupe).
in 7 Abschn. 6.2 genauer dargestellt werden.
Diese Forschung war lange Zeit durch zwei historische Unter der Lupe
Verirrungen belastet. Zum einen führten in England, Frank-
reich und Deutschland Fehlinterpretationen von Darwins Drei Arten von Genom-Umwelt-Korrelationen
Begriff der natürlichen Auslese im Sinne eines „Überleben 55Eine aktive Genom-Umwelt-Korrelation entsteht,
des Stärkeren“ (7 Abschn. 2.6) zur Eugenik (Versuch, das indem Menschen aus genetischen Gründen
genetische Potenzial einer ganzen Gesellschaft gezielt zu bestimmte Umwelten suchen oder schaffen.
verbessern) bis hin zur nationalsozialistischen „Rassen- Beruht nämlich ihr Einfluss auf die Umwelt auf
hygiene“ durch gezielte Tötung von Juden und psychiatri- Eigenschaften, die teilweise genetisch beeinflusst
schen Patienten, die als „genetisch minderwertig“ angese- sind, so kommt es zu einem genetischen Einfluss
hen wurden. Hierbei koexistierte eine seriöse empirische auf die Umwelt, der durch die Persönlichkeit
Forschung wie z. B. die Zwillingsforschung von Kurt Gott- vermittelt ist. Zum Beispiel werden musikalische
schaldt (1902–1991) an der Abteilung für Erbpsychologie Menschen eher in Konzerte gehen als weniger
des Berliner „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, musikalische, eher ein Musikinstrument spielen
menschliche Erblehre und Eugenik“ mit den eugenischen usw. (Musikalität ist teilweise genetisch bedingt).
und rassenhygienischen Arbeiten von Otmar von Verschuer 55Eine reaktive Genom-Umwelt-Korrela-
bis hin zu den Verbrechen des KZ-Arztes Josef Mengele, der tionentsteht, indem andere Menschen auf
bei von Verschuer promoviert hatte. Zudem förderte ein genetisch beeinflusste Persönlichkeitsmerkmale
Skandal um Publikationen des Briten Cyril L. Burt (1883– reagieren und dadurch bestimmte Umwelten
1971), die möglicherweise auf der Verfälschung oder gar schaffen. Zum Beispiel wird ein musikalisches
Erfindung von Zwillingsdaten beruhten, den schlechten Ruf Kind dem Musiklehrer auffallen, der es dann ins
der Verhaltensgenetik. Schulorchester aufnimmt und so seine Musikalität
Dieses Handicap wirkte sich aber langfristig heilsam fördert.
aus, weil verhaltensgenetische Forscher unter besonderem 55Eine passive Genom-Umwelt-Korrelationentsteht
Druck standen, solide Daten und vorsichtige Interpreta- bei Kindern, die mit genetisch Verwandten
tionen der Ergebnisse vorzulegen. Dadurch nahm die Ver- aufwachsen, schon dadurch, dass sich aktive oder
haltensgenetik ab Mitte der 1970er-Jahre einen deutlichen reaktive Genom-Umwelt-Korrelationen dieser
Aufschwung und zählt heute zu den Gebieten der Persön- Verwandten auf das Kind genetisch übertragen.
lichkeitsforschung mit den anspruchsvollsten statistischen Zum Beispiel werden musikalische Eltern eine
Methoden. musikalisch anregende Familienumwelt haben, die
Zunächst wurde auf der Basis sehr großer Stichproben ihre Kinder aufgrund genetischer Verwandtschaft
von ein- und zweieiigen Zwillingen und Adoptivgeschwis- auch haben werden. Bei Adoptivkindern, die
tern deutlich, dass die meisten Persönlichkeitsunterschiede mit genetisch nichtverwandten Eltern und
in westlichen Kulturen in ähnlich starker Weise durch gene- Geschwistern aufwachsen, gibt es diese Form der
tische Unterschiede und durch Umweltunterschiede bedingt Korrelation nicht.
sind. Die Persönlichkeit eines Menschen beruht also sowohl
2.3 · Dynamisch-interaktionistisches Paradigma
45 2
Genom-Umwelt-Korrelationen können aufgrund passi- scheinen, z. T. auch genetisch bedingt sein können. Beson-
ver Genom-Umwelt-Korrelation schon vor der Geburt ders leicht übersehen werden dabei genetische Einflüsse, die
bestehen, weil sich die pränatale Umwelt aufgrund der gene- auf passiver Genom-Umwelt-Korrelation beruhen (7 Die
tischen Verwandtschaft mit der Mutter unterscheiden kann. klassische Studie).
So haben Kinder intelligenter Eltern eher förderliche prä- Aber auch umgekehrt können Umweltbedingungen
natale Umweltbedingungen, weil intelligente Mütter intelli- über umweltbeeinflusste Persönlichkeitseigenschaften
genzmindernde Risikofaktoren wie Rauchen oder Alkohol oder die Reaktion von Mitmenschen genetische Einflüsse
während der Schwangerschaft eher meiden als weniger auf die Persönlichkeit verändern. Hierbei muss nicht unbe-
intelligente Mütter. dingt das Genom durch Gentechnologie verändert werden
(was derzeit nur in ersten Ansätzen möglich ist). Wie in
7 Abschn. 2.5 genauer beschrieben wird, kann die Genaktivi-
tät durch Umwelteinflüsse dauerhaft verändert werden, und
Die klassische Studie das kann im Prinzip durch Diäten, Medikamente, Psycho-
Zusammenhang zwischen Bildungsorientierung therapie oder eine Veränderung des Lebensstils geschehen.
der Eltern und dem IQ ihrer adoptierten und
biologischen Kinder > Umweltbedingungen können genetische Einflüsse
Burks (1928) verglich Adoptivfamilien mit auch ohne Gentechnologie verändern.
normalen Familien, in denen die Kinder mit ihren
biologischen Eltern aufwuchsen, hinsichtlich Eine zentrale Erkenntnis der Verhaltensgenetik ist also,
des Zusammenhangs zwischen dem getesteten dass es im Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung zu einer
IQ der Kinder und der Bildungsorientierung der dynamischen Interaktion von genetischen und Umweltbe-
Eltern (ein bei Hausbesuchen erfasster Index, in dingungen der Persönlichkeit kommt, und da diese Wech-
den ihr Bildungsgrad, ihr sprachliches Niveau, ihre selwirkung durch die jeweils entwickelte Persönlichkeit
intellektuellen Interessen und die Zahl der Bücher vermittelt wird, kommt es zu dynamischen Interaktionen
im Haushalt eingingen). Der Zusammenhang war zwischen Umwelt und Persönlichkeit einerseits und Per-
in beiden Familientypen gegeben, aber sehr viel sönlichkeit und genetischen Einflüssen andererseits. Platz
enger in normalen Familien. In Adoptivfamilien für genetischen Determinismus, wonach Persönlichkeits-
konnte er nicht auf passiver Genom-Umwelt-Kor- merkmale umweltunabhängig an die nächste Generation
relation beruhen, weil die Kinder ja ihren Eltern nicht vererbt werden, ist in der modernen Verhaltensgenetik
genetisch ähnlich waren, er ließ sich also eindeutig nicht – genauso wenig wie Platz für Umweltdeterminismus
als Umwelteffekt interpretieren. In den normalen in modernen Lerntheorien.
Familien hingegen konnte er zusätzlich auf passiver
Genom-Umwelt-Korrelation beruhen. Die Differenz > Im Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung kommt es
der Korrelationen zwischen den beiden Familientypen zu einer dynamischen Interaktion von genetischen
weist deshalb darauf hin, dass der Zusammenhang und Umweltbedingungen der Persönlichkeit, die
zwischen Bildungsorientierung der Eltern und IQ durch die Persönlichkeit vermittelt wird.
ihrer Kinder in normalen Familien auch genetisch
vermittelt ist.
2.3.3 Persönlichkeit-Umwelt-Transaktion
Persönlichkeitspsychologie. Nicht immer wird in Model- markieren, die so weit auseinanderliegen, dass sich dazwi-
len der Persönlichkeitsentwicklung die komplementäre schen jeweils die Persönlichkeit geändert haben kann. P0
Annahme für die Umwelt formuliert: Auch die Umwelt ist der Anfangszustand der Persönlichkeit zum Zeitpunkt
2 weist eine mittelfristig zeitstabile Organisation auf. Die der Zeugung; hier besteht also die Person aus nicht mehr
soziale Umwelt z. B. erhält ihre Stabilität durch die Men- als einer befruchteten Eizelle. Verhalten im psychologi-
schen, mit denen man regelmäßig Kontakt hat und die wie- schen Sinn gibt es noch nicht, wohl aber ein körperliches
derum untereinander durch Beziehungen verknüpft sind; Merkmal, das hoch stabil und relevant für späteres Verhal-
dieser Ausschnitt der Umwelt ist repräsentiert durch ein ten ist: das Genom im Zellkern, d. h. die Gesamtheit der
Netzwerk sozialer Beziehungen, in das man eingebettet ist. genetischen Information.
Die zweite Annahme ist, dass sich Person und Umwelt Parallel zu den Zuständen der Persönlichkeit P0–P3
langfristig ändern können. Im Falle von Personen ist das durchläuft die Umwelt dieser Person Zustände U0–U3. Je
offensichtlich; dies ist die Voraussetzung der Entwicklungs- nach Modell werden kausale Wirkungen zwischen diesen
psychologie. Genauso offensichtlich ist, dass sich auch die Zuständen der Person bzw. Umwelt angenommen, die durch
Umwelt ändern kann – schon deshalb, weil die Mitglieder Pfeile markiert sind. Jeder Pfeil repräsentiert kumulierte
des sozialen Netzwerks einer Person sich ändern. Wirkungen zwischen zwei Zeitpunkten t und t + 1, d. h. die
Die dritte Annahme schließlich ist die entscheidende, Resultante mehrerer Wirkungen, die zu unterschiedlichen
die dynamisch-interaktionistische Modelle von anderen Zeitpunkten zwischen t und t + 1 eingetreten sind. Um die
Modellen der Persönlichkeitsentwicklung unterscheidet. Darstellung zu vereinfachen, sind direkte Wirkungen nicht
Sie nimmt an, dass die Entwicklung einer Person das Resul- gesondert eingezeichnet, wenn es transitive gibt. Zum Bei-
tat von vier Prozessen ist: spiel wirkt im Falle P0 → P1 → P2 auch P0 auf P2 vermittelt
55 Veränderungsprozesse in der Person, über P1 (transitive Wirkung). Besteht unabhängig davon
55 Veränderungsprozesse in der Umwelt, eine direkte Wirkung P0 → P2, so ist sie nicht eingezeichnet.
55 Einflüsse der Umwelt auf die Person, Das Modell der Umweltdetermination (im Englischen
55 Einflüsse der Person auf die Umwelt. wird hier von „environmentalism“ gesprochen) entspricht
der behavioristischen Auffassung, dass Menschen Opfer
Alle anderen Modelle der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Umwelt sind. Wie jemand auf seine aktuelle Umwelt
lassen sich als Spezialfälle des dynamisch-interaktionis- reagiert, sei mit Ausnahme weniger Reflexe ausschließlich
tischen Paradigmas auffassen. Sie berücksichtigen einige erklärbar durch seine Lerngeschichte, die wiederum durch
dieser vier Prozesse nicht oder machen besondere Annah- die Umwelt festgelegt sei. Was bei Betrachtung der Person
men über diese Prozesse. . Abb. 2.11 kontrastiert das dyna- als Entwicklung erscheine, sei vollständig rückführbar auf
misch-interaktionistische Modell exemplarisch mit drei diese Umwelteinflüsse. Es gebe keine davon unabhängigen
anderen Modellen, die typische alternative Entwicklungs- Entwicklungsprozesse in der Person.
vorstellungen beinhalten. Dem Modell der Entfaltung liegen Vorstellungen
Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der zugrunde, dass es im Genom eine Art Programm gibt, das
Modelle möglichst deutlich zu machen, werden sie hier die weitere Entwicklung steuert. Die Umwelt habe nur zeit-
stark vereinfacht geschildert. Gegeben sei eine Person, die lich begrenzte Wirkungen; langfristig setze sich das Pro-
im Verlauf der Zeit verschiedene Zustände ihrer Persönlich- gramm durch. Dadurch wirke die Entwicklung so, als
keit P0, P1, P2, P3 durchläuft. Die Zahlen sollen Zeitpunkte würde sie auf ein Ziel hinsteuern. Es handelt sich also um
ein Modell der genetischen Determination, bei dem die
Umwelt nur vorübergehenden Einfluss hat. Dieses Modell
beschreibt recht gut die Entwicklung mancher körperlicher
Merkmale. Zum Beispiel lässt sich die Körpergröße eines
Kindes in einem bestimmten Alter ziemlich genau schätzen
aus der Körpergröße der beiden Eltern, einer Alterskons-
tante und einer Konstante, die den Zuwachs der mittleren
Körpergröße von Generation zu Generation repräsentiert.
Mangelernährung oder zu wenig Licht verlangsamen die
Entwicklung; bei Wegfall der hemmenden Umweltbedin-
gungen kommt es zu einer beschleunigten Entwicklung, bis
das Defizit kompensiert ist (Tanner, 1978).
Wenn auch das Entfaltungsmodell manche Entwick-
lungsphänomene besonders im Bereich der körperlichen
. Abb. 2.11 Vier Modelle der Persönlichkeitsentwicklung Entwicklung ausreichend beschreiben mag, so ist es doch
2.3 · Dynamisch-interaktionistisches Paradigma
47 2
in fast allen Fällen der psychischen Entwicklung unzu- Konzept der statistischen Interaktion klar zu unterscheiden.
reichend, weil dort Umweltwirkungen langfristige Ände- Mit einer statistischen Interaktion ist nur gemeint, dass die
rungen hervorrufen können. Im Modell der Kodetermi- Wirkung einer Variable X auf eine andere Variable Y von
nation wird angenommen, dass Umweltwirkungen gene- einer dritten Variablen Z abhängt:
tisch gesteuerte Reifungsprozesse verändern können. Die
weitere Entwicklung hänge aber nicht nur von den Umwelt- Y = f ( X ,Z )
wirkungen ab, sondern auch von den Reifungsprozessen.
Direkte genetische Wirkungen auf spätere Zeitpunkte sind Zum Beispiel könnte der Einfluss von einer Umweltbe-
dabei berücksichtigt (vgl. dazu 7 Abschn. 6.3). Das Modell dingung X auf eine Persönlichkeitseigenschaft Y von einer
enthält deshalb Umweltdetermination und Entfaltung als anderen Persönlichkeitseigenschaft Z abhängen: Der Ein-
Grenzfälle. fluss von X auf Y wird durch Z moderiert. Die Zeit kommt
in diesem Interaktionskonzept nicht vor. Dagegen handelt es
> Umweltdetermination, Entfaltung und sich bei Transaktionen um Wechselwirkungen über die Zeit,
Kodetermination sind Spezialfälle des dynamisch- analog zu sozialen Interaktionen, bei denen sich zwei Inter-
interaktionistischen Modells. aktionspartner wechselseitig in ihrem Verhalten beeinflus-
sen. Transaktionen beziehen sich aber nicht auf Verhalten
Das Modell der dynamischen Interaktion unterscheidet oder Situationen, sondern auf Persönlichkeit und Umwel-
sich von dem Modell der Kodetermination nur dadurch, ten, also mittelfristig zeitstabile Merkmale.
dass Wirkungen von der Person auf die Umwelt zugelassen
werden. Es enthält alle drei anderen Modelle als Spezial- > Bei Transaktionen zwischen Persönlichkeit
fälle. Personen können nach dieser Auffassung ihre Umwelt und Umwelt handelt es sich um einen anderen
in mehrfacher Hinsicht beeinflussen (vgl. z. B. Buss, 1987): Interaktionsbegriff als bei statistischen
55 Auswahl: Sie können Umwelten auswählen, indem Interaktionen oder sozialen Interaktionen.
sie regelmäßig bestimmte Situationen aufsuchen oder
vermeiden, z. B. Partys, den eigenen Garten. Im Modell der Umweltdetermination und im Modell der
55 Herstellung: Sie können Umwelten herstellen, indem Entfaltung gibt es weder eine statistische noch eine dyna-
sie dauerhaft bestimmte Situationen schaffen, z. B. mische Interaktion zwischen Umwelt und Persönlichkeit,
eine Beziehung zu jemandem knüpfen, einen Baum weil von der Persönlichkeit keine Wirkungen ausgehen, auf
pflanzen. die die Umweltwirkung Einfluss haben könnte. Im Modell
55 Veränderung: Sie können Umwelten verändern, der Kodetermination liegt keine Transaktion zwischen Per-
indem sie längerfristig Situationen ändern, z. B. eine sönlichkeit und Umwelt vor, aber es kann zu einer statisti-
Freundschaft beginnen oder aufkündigen, einen schen Interaktion kommen, nämlich dann, wenn derselbe
Baum im Garten verpflanzen. Umwelteinfluss je nach Persönlichkeit unterschiedliche
Wirkungen hat. Eine solche Filterwirkung der Persönlich-
Da diese Wirkungen der Person auf die Umwelt künftige keit lässt sich oft finden, z. B. wenn Umweltrisiken durch
Umweltwirkungen auf die Person verändern, entsteht eine protektive Persönlichkeitsfaktoren abgepuffert werden.
echte Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Umwelt
über die Zeit. Solche Wechselwirkungen finden sich z. B. > Im Modell der Kodetermination kann es zu
bei der Entwicklung beruflicher Interessen. Ein Mädchen statistischen Interaktionen zwischen Umwelt und
kommt während des Urlaubs zum ersten Mal mit Pferden Persönlichkeit kommen, im Modell der dynamischen
in Kontakt. Es ist Feuer und Flamme und leiht sich ab jetzt Interaktion zusätzlich zu Transaktionen zwischen
nur noch Pferdebücher aus der Bibliothek aus. Das steigert Persönlichkeit und Umwelt.
ihr Interesse weiter und nach langem Betteln bekommt sie
Reitstunden. Dabei lernt sie eine neue Freundin kennen, die Wie lassen sich Einflüsse der Umwelt auf die Persönlich-
ihr Interesse teilt und weiter verstärkt; sie studiert schließ- keit oder umgekehrt empirisch untersuchen? Idealerweise
lich Veterinärmedizin und wird Tierärztin. Die Entwick- müssten dazu Experimente durchgeführt werden, in denen
lung dieser Tierärztin ist durch vielfältige Wechselwirkun- Personen per Zufall einer Experimental- oder einer Kon-
gen zwischen Umweltauswahl, -herstellung und -verän- trollgruppe zugewiesen werden und dann entweder eine
derung und Rückwirkungen der so veränderten Umwelt Umwelt- oder eine Persönlichkeitseigenschaft in der Expe-
gekennzeichnet. rimentalgruppe gezielt verändert wird, um durch Vergleich
Diese Wechselwirkungen über die Zeit werden manch- mit der Kontrollgruppe Effekte der Umweltveränderung auf
mal auch als Transaktionen bezeichnet (Pervin, 1968; die Persönlichkeit bzw. Effekte der Persönlichkeitsverände-
Sameroff, 1983; Lazarus & Launier, 1978), um sie von dem rung auf die Umwelt nachzuweisen.
48 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
55 Herz-Kreislauf-System (untersucht von der kardio- Verbindung zu den Körperorganen und der Muskulatur
vaskulären Psychophysiologie), herstellt. Letzteres besteht aus dem somatischen Nerven-
55 hormonelles System (untersucht von der system, das sensorische und motorische Neuronen enthält
2 Psychoneuroendokrinologie), und willentliche Kontrolle vermittelt, und dem autonomen
55 Immunsystem (untersucht von der (oder vegetativen) Nervensystem, das kaum willentlich
Psychoneuroimmunologie). beeinflussbar ist. Im autonomen Nervensystem lassen sich
Sympathikus und Parasympathikus unterscheiden, die Ver-
> Im neurowissenschaftlichen Paradigma werden haltensaktivierung bzw. Nahrungsaufnahme und -ausschei-
auch Wechselwirkungen des Nervensystems mit dung unterstützen (vgl. . Abb. 2.13a). Alle parasympathisch
dem Herz-Kreislauf-, dem hormonellen und dem innervierten Organe sind auch sympathisch innerviert; in
Immunsystem einbezogen. diesen Fällen üben Sympathikus und Parasympathikus eine
antagonistische Wirkung aus (z. B. führt sympathische Akti-
vierung zu Herzfrequenzzunahme und Abnahme der Ver-
2.4.1 Biologische Systeme dauungstätigkeit, während parasympathische Aktivierung
den gegenteiligen Effekt hat).
Funktionell gliedert sich das Nervensystem in das zent- Funktionell gliedert sich das hormonelle System in
rale Nervensystem (ZNS), das aus Gehirn und Rücken- das „Kontrollorgan“ Hypothalamus im Gehirn, das über
mark besteht, und das periphere Nervensystem, das die sog. Releasing- und Inhibiting-Hormone die Hormonaus-
. Abb. 2.13 Funktionelle Gliederung des Nervensystems (a) und des hormonellen Systems (b)
2.4 · Neurowissenschaftliches Paradigma
51 2
schüttung in der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) steuert;
deren „glandotrope“ Hormone wiederum steuern die Hor-
monausschüttung diverser Zielorgane wie z. B. Nebenniere
und Eierstöcke bzw. Hoden, während andere Hypophysen-
hormone direkte Funktionen ausüben, z. B. Oxytocin (vgl.
. Abb. 2.13b). Es lassen sich also Steuerungssequenzen
(„Achsen“) unterscheiden, die bis zu 3 Ebenen umfassen.
Die beiden meistuntersuchten Achsen in der Psychoneuro-
endokrinologie sind die HPA-Achse (engl.: „hypothalamo-
pituitary-adrenal axis“) vom Hypothalamus zur Nebennie-
rennrinde und die HPG-Achse (engl.: „hypothalamo-pitua-
ry-gonadal axis“) vom Hypothalamus zu den Eierstöcken
bzw. Hoden („Gonaden“; vgl. . Abb. 2.13b).
Die meiste Informationsverarbeitung findet im Gehirn
statt, das als „Kommandozentrum“ des Nervensystems
und des hormonellen Systems betrachtet werden kann. Die
2–4 mm dicke Oberfläche des Gehirns, die Großhirnrinde
(Kortex; von lat. bzw. engl. „cortex“), enthält ca. 14 Mrd.
Neurone. Auf ihr lassen sich funktionell bestimmte Bereiche
lokalisieren, die Rindenfelder. Die primären Felder im sen-
sorischen Kortex verarbeiten Informationen einer bestimm-
ten sensorischen Qualität (z. B. Sehen, Hören) oder Infor-
mationen über einfache Bewegungen (z. B. Fingerbewegun-
gen, mimische Bewegungen). Die Assoziationsfelder (v. a.
im präfrontalen Kortex) stimmen diese einzelnen Funktio-
nen miteinander ab und werden für „höhere“ übergreifende
Funktionen wie z. B. Planung von Handlungen verantwort-
lich gemacht. Der Kortex besteht aus einer linken und einer
rechten Hälfte („Hemisphäre“), die durch einen breiten Ner-
venstrang, den Balken, verbunden sind.
Die Großhirnrinde ist der evolutionär am spätesten ent- . Abb. 2.14 Persönlichkeitspsychologisch wichtige Teile des
wickelte Teil des menschlichen Gehirns. Darunter liegen Gehirns (a) und das limbische System (b). (Mod. nach Birbaumer &
evolutionär ältere Teile: das Kleinhirn, das v. a. für Gleich- Schmidt, 2010)
gewicht und Bewegung zuständig ist, nach neueren Ergeb-
nissen aber auch Funktionen beim unbewussten Lernen hat;
der Thalamus, der als Vermittlungsstation zwischen sen- mehr als 100 Mrd.) und ihrer dichten Vernetzung (jedes
sorischen und motorischen Informationen zum und vom Neuron im Gehirn ist im Durchschnitt mit ca. 1 000 anderen
Großhirn dient; der Hypothalamus mit der Hypophyse als Neuronen verbunden) ist es aber sehr schwer, die Gehirn-
zentralem Kontrollorgan des hormonellen Systems; das aktivität in Raum und Zeit zu erfassen. Nichtinvasiv, also
limbische System, das unter anderem aus Amygdala (Man- ohne direkten Eingriff, war es lange Zeit nur möglich, elek-
delkern), Hippocampus und Gyrus cingulus besteht und trische Erregung an der Hirnoberfläche durch das Elektro-
v. a. für emotionale Bewertung und emotionale Reaktio- enzephalogramm (EEG) zu messen. In den letzten Jahren
nen, aber auch für große Teile der Gedächtnisbildung ver- sind zusätzliche Verfahren entwickelt worden, die Aktivität
antwortlich gemacht wird. Den untersten Gehirnabschnitt auch in tieferliegenden Gehirngebieten zu registrieren, z. B.
bildet der evolutionär älteste Teil, der Hirnstamm, dem ele- durch funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT).
mentare und reflexartige Steuermechanismen zugeschrie- Verbunden mit gezielt eingesetzten Reizen (ereigniskorre-
ben werden, z. B. Schlaf-Wach-Funktionen oder Lidschluss- lierte Ableitungen) können so Reaktionen auf spezifische
reflex (vgl. . Abb. 2.14). Reize relativ präzise raumzeitlich lokalisiert werden.
Wie die Informationsübertragung innerhalb und zwi- Es gibt eine lange Tradition in der Hirnforschung und
schen Neuronen funktioniert, nämlich durch elektrische ihrer Popularisierung in den Medien, bestimmte psychische
Impulse innerhalb und biochemische Botenstoffe zwischen Funktionen auf bestimmte räumlich definierte Gehirnareale
Neuronen, ist im Prinzip schon lange verstanden. Wegen zu beziehen, z. B. das limbische System als „Sitz der Emo-
der immens großen Zahl von Neuronen (allein im Gehirn tionen“ zu betrachten oder die rechte Großhirnrinde mit
52 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
Intuition und die linke Großhirnrinde mit Rationalität zu weiträumige Erregungs- und Hemmungsprozesse
verbinden. Zwar lassen sich recht gut primäre Rindenfel- beteiligt, die oft auch andere biologische Systeme
der mit bestimmten sensorischen Qualitäten verbinden und jenseits des Nervensystems beeinflussen und von
2 die hübschen Farbfotos der bildgebenden Verfahren sug- ihnen beeinflusst werden.
gerieren eine Lokalisierbarkeit psychischer Prozesse, aber
an komplexeren Leistungen des Gehirns sind immer räum- Alternativ zur räumlichen Zuordnung komplexerer Infor-
lich weit getrennte Hirnanteile beteiligt und die Schnapp- mationsverarbeitungsprozesse zu bestimmten Gehirnan-
schüsse der bildgebenden Verfahren ignorieren die zeitliche teilen kann versucht werden, die Prozesse auf biochemi-
Struktur der Informationsverarbeitungsprozesse. Instrukti- sche Systeme zu beziehen. Derzeit sind ca. 60 verschiedene
ver wären Filme der Gehirnaktivität, auf denen die weiträu- Substanzen bekannt, die an der menschlichen Informa-
migen Prozesse der Erregungsausbreitung und -hemmung tionsverarbeitung beteiligt sind (Gazzaniga & Heather-
sichtbar und so besser untersuchbar wären. ton, 2003). Grob lassen sie sich in Neurotransmitter und
Adäquater als starke Lokalisationsannahmen ist die Hormone unterteilen. Neurotransmitter dienen der Infor-
Vorstellung, dass an komplexeren Leistungen wie z. B. mationsübertragung zwischen zwei Neuronen. Sie werden
einer Angstreaktion viele biologische Systeme beteiligt von einem Neuron in die Synapse zwischen zwei Neuro-
sind, nicht nur das Nervensystem. Emotionen finden im nen ausgeschüttet und von Rezeptoren des anderen Neurons
gesamten Körper statt, nicht nur im limbischen System. gebunden. Hormone dagegen werden über die Blutbahn
Im intakten Gehirn ist im Prinzip jedes Neuron mit jedem übertragen. Einige Substanzen können sowohl als Neuro-
anderen Neuron verbunden, und zwar im Durchschnitt transmitter als auch als Hormon fungieren, z. B. Norad-
über nur vier dazwischengeschaltete Neurone. Dass so dra- renalin. . Tab. 2.2 listet Neurotransmitter und Hormone
matische Eingriffe wie die Durchtrennung des Balkens zwi- auf, die in der persönlichkeitspsychologischen Forschung
schen den beiden Hirnhälften nur eher subtile Wirkungen derzeit einen größeren Stellenwert besitzen, und ordnet sie
haben, dass die psychischen Folgen von Schlaganfällen, bei persönlichkeitsrelevanten Funktionen zu.
denen oft große Teile einer Gehirnhälfte zerstört werden, Die Zuordnung von biochemischen Systemen zu Infor-
im Einzelfall wenig vorhersagbar sind, weil gleiche Aus- mationsverarbeitungsprozessen muss mit derselben Vor-
fälle bei verschiedenen Patienten unterschiedliche Wirkun- sicht vorgenommen werden wie die räumliche Zuord-
gen haben können, und dass auch dramatische Ausfälle in nung dieser Prozesse. Die Beziehungen sind erst ansatz-
manchen Fällen erstaunlich gut kompensierbar sind, sind weise erforscht. Erschwert wird eine Zuordnung bereits
starke Argumente für die Komplexität und Plastizität des auf biochemischer Ebene, weil die Konzentration einer
Gehirns. Substanz zeitlich und räumlich stark variiert. Zum Bei-
spiel korreliert die Konzentration von Testosteron im
> Komplexere psychische Funktionen lassen sich Blut (entscheidend für seine Wirkung) nicht besonders
neuroanatomisch nicht auf eng begrenzte Gebiete hoch mit der Konzentration von Testosteron im Speichel
des Gehirns beziehen. Vielmehr sind daran (wo es viel leichter gemessen werden kann und deshalb
> Der korrelative Ansatz ergab meist nur niedrige Ein weiteres Problem korrelativer und multivariater Labor-
oder gar keine Korrelationen zwischen einer studien ist, dass sie physiologische Reaktionen in Situatio-
bestimmten beurteilten oder beobachteten nen untersuchen, in denen das Verhalten der Versuchsper-
2 Persönlichkeitseigenschaft und einer bestimmten sonen deutlich eingeschränkt ist (z. B. ist meist ihre Bewe-
physiologischen Variable. Die Gründe: mangelnde gungsfähigkeit extrem eingeschränkt, weil sie mit Mess-
Zeitstabilität der interindividuellen Unterschiede apparaturen verkabelt sind). Deshalb ist es nicht klar, ob
in den physiologischen Messungen, individuelle Befunde in diesen ungewöhnlichen Situationen auf den
Reaktionshierarchien, Systemunspezifität der Alltag übertragbar sind (vgl. 7 Unter der Lupe).
physiologischen Reaktionen.
> Im systemorientierten Ansatz werden beurteilte > Biologistische Auffassungen, wonach Ursachen für
oder beobachtete Persönlichkeitseigenschaften auf psychologische Phänomene primär in neurowis-
die Aktivität eines möglichst genau umschriebenen senschaftlichen Phänomenen zu suchen seien,
biologischen Systems bezogen. Hierbei wird die und psychologistische Auffassungen, wonach
Aktivität des Systems durch maßgeschneiderte das Umgekehrte gilt, sind zu einseitig. Je nach
Situationen bzw. Psychopharmaka experimentell Phänomen dominiert eher die eine oder die andere
variiert. Kausalrichtung.
2.4 · Neurowissenschaftliches Paradigma
61 2
Aufbau dieser Wissenschaften derart gibt, dass z. B. Psy-
chologie auf Biologie gründet, dass es aber in jeder Wissen-
schaft emergente Phänomene gibt, die sich nicht durch die
hierarchisch darunter angesiedelten Wissenschaften auf-
klären lassen. Aus dieser Sicht ist die Neurowissenschaft
grundlegender als die Psychologie, aber die Psychologie
lässt sich nicht auf die Neurowissenschaft reduzieren, weil
. Abb. 2.20 Die interaktionistische Sichtweise im
neurowissenschaftlichen Paradigma
sie Phänomene enthält, die sich psychologisch, nicht aber
neurowissenschaftlich beschreiben lassen. Demnach wäre
ein gewisser Graben zwischen manchen psychologischen
Insgesamt ist das neurowissenschaftliche Paradigma derzeit und manchen neurowissenschaftlichen Konstrukten ganz
noch weit davon entfernt, das inhaltliche Verständnis von selbstverständlich.
Persönlichkeitseigenschaften wesentlich zu verbessern. Das
gilt selbst für die scheinbar „besonders physiologienahen“ > Trotz des rasanten Fortschritts der Neurowissen-
Temperamentsmerkmale, scheinbar insofern, als ohnehin schaften ist ihr Ertrag für das Verständnis von
alles menschliche Erleben und Verhalten eine neuronale Persönlichkeitsunterschieden derzeit gering. Ein
Basis hat. Das Hauptproblem ist einerseits, dass das Ver- grundsätzliches Problem besteht darin, dass Erleben
ständnis der einzelnen biologischen Systeme und erst recht und Verhalten emergente Eigenschaften haben,
ihrer Variation von Person zu Person noch äußerst bruch- die sich neurowissenschaftlich nicht beschreiben
stückhaft ist. Das zweite Problem ist der Graben zwischen lassen.
dem neurophysiologisch Messbaren und dem subjektiv-ver-
bal Berichtbaren, der mit zunehmendem Wissen über die ? Fragen
neurophysiologische Ebene eher noch tiefer und unüber- 2.23 Nennen Sie einige persönlichkeitspsychologisch
brückbarer erscheint. wichtige biochemische Substanzen und deren
Möglicherweise wird dieser Graben erst dann besser Funktion (→ siehe . Tab. 2.2)
überbrückt werden können, wenn das subjektive Erleben 2.24 Wie lässt sich unter anderem die Aktivität des
und die gespeicherten Gedächtnisinhalte selbst neuro- Immunsystems messen? (→ Anzahl von Killer-
physiologisch beschreibbar werden. Das erfordert eine und Helferzellen)
Lösung des Bewusstseinsproblems (was entspricht bewuss- 2.25 Wie wird Temperament definiert? (→ Drei A der
tem Erleben auf neurophysiologischer Ebene?) und des Persönlichkeit)
Gedächtnisproblems (was entspricht Gedächtnisinhalten 2.26 Wer lernt nach Eysencks Theorie besser bei
auf neurophysiologischer Ebene?). Solange diese beiden leichter Hintergrundmusik: Introvertierte oder
Grundprobleme der Neurowissenschaft ungelöst sind, Extravertierte? (→ Extravertierte, da sie diese
dürfte der Graben unüberwindlich bleiben. Stimulation eher brauchen als Introvertierte)
Möglicherweise ist es aber auch gar nicht sinnvoll, den 2.27 Auf welchen Verhaltenssystemen beruhen
Graben ganz überwinden zu wollen. Denn letztendlich liefe Temperamentsunterschiede nach Gray? Bezug
das ja auf eine Reduktion der Psychologie auf die Neuro- zu Eysenck? Bestätigung? (→ BAS und BIS,
wissenschaft hinaus. Dagegen spricht auf den ersten Blick Drehung um 45°, Studien von Asendorpf zu
erst einmal nicht viel. Wenn alles menschliche Erleben und sozialer Ängstlichkeit)
Verhalten auf Informationsverarbeitungsprozessen beruht 2.28 Welcher Zusammenhang zwischen
und diese wiederum auf neuronaler Aktivität, müsste sich Temperament und Neurotransmittern
die gesamte Psychologie neurowissenschaftlich rekonstru- in der Theorie von Cloninger wurde am
ieren lassen. Mit gleichem Recht könnte allerdings dann ehesten bestätigt? (→ Neuheitssuche und
auch argumentiert werden, dass sich die Neurowissenschaft Dopamin-System)
„letztlich“ auf Chemie und diese sich auf Physik reduzieren 2.29 Kann man aus hohen Korrelationen
lasse. An dieser Stelle greifen üblicherweise dann Philoso- physiologischer Reaktionen über Situationen
phen ein mit dem Argument, die Physik sei „letztlich“ eine auf hohe Korrelationen über Personen
Erfindung des menschlichen Gehirns und daher sei diese schließen? Warum nicht? (→ Studie von
reduktionistische Argumentation ein Zirkelschluss (vgl. Stemmler; individuelle Reaktionshierarchien
hierzu das alternative Konzept des „Kreisgangs durch den verhindern Schlussfolgerung)
Garten der Natur“ von Weizsäcker, 1985). 2.30 Warum kann unter Alltagsbedingungen ein
Vermutlich mehrheitsfähig in den Erfahrungswissen- Zusammenhang Persönlichkeit – Physiologie
schaften ist die Sicht, dass es zwar einen hierarchischen anders ausfallen als im Labor? Beispiel?
62 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
(→ dasselbe System kann unterschiedliche enthält der Zellkern jeder Zelle (mit Ausnahme der Ei-
Funktionen haben; Herzrate bei ängstlichen und Spermazellen) die vollständige genetische Informa-
Kindern) tion (das Genom); zusätzlich gibt es in den Mitochondrien
2 2.31 Kann Verhalten auf neuronale Strukturen oder der Zelle kleinere Mengen DNA, die von der mütterlichen
neuronale Funktionen wirken? Beispiele? (→ Eizelle abstammen (rein weiblicher Erbgang). Die DNA im
Studie von Breedlove, Herzrate bei Sportlern) Zellkern zerfällt in 2 × 23 Chromosomen. Die Gene sind
Abschnitte auf den Chromosomen, die durch ihre Funktion
Mehr lesen im Stoffwechsel definiert werden; sie können von Mensch zu
Mensch in ihrer Struktur variieren (unterschiedliche Allele
DeYoung, C.G. (2010). Personality neuroscience and desselben Gens). Im Rahmen des Humangenomprojekts
the biology of traits. Social and Personality Psychology (1990–2003) wurde fast das gesamte Genom des heutigen
Compass, 4, 1165–1180. Menschen kartiert; hierbei ergaben sich ca. 25 000 verschie-
Hennig, J. & Netter, P. (Hrsg.) (2005). Biopsychologische dene Gene, die jeweils wiederum in verschiedenen Allelen
Grundlagen der Persönlichkeit. München: Elsevier. auftreten können (http://genomics.energy.gov/).
Die Gene variieren zwischen biologischen Arten; z. B.
teilen der heutige Mensch und der Schimpanse ca. 94%
ihrer Gene (Demuth, De Bie, Stajich, Cristianini, & Hahn,
2006) und der heutige Mensch und der Neandertaler ca.
2.5 Molekulargenetisches Paradigma 99% (Green et al., 2010). Heutige Menschen unterscheiden
sich nicht in ihren Genen (darin sind sie zu 99,9% iden-
Der Augustinermönch Gregor Mendel (1822–1884) ent- tisch), sondern in ihrem Allelmuster (in welcher Variante
deckte in langjährigen Kreuzungsversuchen an Erbsen im ihre Gene jeweils vorkommen). Das Humangenompro-
Garten seines Klosters in Brünn (heute das tschechische jekt beruhte nur auf Genen weniger Menschen, sodass
Brno) Vererbungsregeln für Merkmale, in denen sich die die Variationsbreite der Allele systematisch unterschätzt
Erbsen unterschieden. Zwar publizierte Mendel die Ergeb- wurde. Deshalb wurde 2008 das 1 000-Genome-Projekt ins
nisse (Mendel, 1866), aber sie wurden von den Biologen Leben gerufen, in dem die Genome von inzwischen über
seiner Zeit nicht wahrgenommen. Erst um 1900 wurde die 2 500 Menschen aus 26 unterschiedlichen Kulturkreisen
grundlegende Bedeutung dieser Vererbungsregeln deut- sequenziert wurden (The 1 000 Genomes Project Consor-
lich. Es dauerte dann immer noch bis in die 1940er-Jahre tium, 2010, 2015). Dadurch lassen sich detaillierte Daten
hinein, bis die auf Kreuzungsexperimenten an Pflanzen und über die Variation der Allelmuster innerhalb und zwischen
Tieren gegründete Vererbungslehre mit der Verhaltensgene- Kulturen gewinnen.
tik und der Evolutionstheorie zur modernen Synthese der Nach dem weithin akzeptierten zentralen Dogma der
Evolutionsbiologie verknüpft wurde (Huxley, 1942). Sie sah Molekularbiologie (Crick, 1970) verändert sich das Allel-
in der Variation einzelner Gene in Form qualitativ unter- muster zwischen Zeugung und Tod nicht (abgesehen von
schiedlicher Allele (Gen-Varianten) die Grundlage für die seltenen, zufälligen Mutationen einzelner Gene). Damit
von Darwin (1859) beschriebene Variation innerhalb biolo- liegt es nahe, individuelle Besonderheiten in der Persönlich-
gischer Arten. Zum Beispiel tritt das menschliche Blutgrup- keit auf das individualtypische Allelmuster in diesen Genen
pen-Gen in den drei Allelen A, B, 0 auf und die Vererbung zu beziehen. Dies ist das molekulargenetische Paradigma
der Blutgruppe folgt den Mendelschen Regeln. der Persönlichkeitspsychologie (Ebstein, 2006).
> Gregor Mendel entdeckte 1866 die ersten > Das molekulargenetische Paradigma versucht,
Vererbungsregeln für die Allele von Genen; erst die Persönlichkeit auf das individualtypische
1942 wurden Vererbungslehre, Verhaltensgenetik Allelmuster zu beziehen.
und Evolutionstheorie zur modernen Synthese der
Evolutionsbiologie vereinigt.
2.5.1 Genetik
Im Jahr 1953 entdeckten der US-Amerikaner James D.
Watson und der Brite Francis Crick gemeinsam die bio- Das molekulargenetische Paradigma versucht also, eine
chemische Struktur der DNA („desoxyribonucleid acid“, Brücke vom Genom hin zur Persönlichkeit zu schlagen.
dt. Desoxyribonukleinsäure) in Form einer „Doppelhelix“ Das scheint auf den ersten Blick einfach, denn aus der Kon-
und legten damit die Grundlage für die molekulargenetische stanz des Genoms und der Annahme, dass Gene direkt auf
Erforschung des Genoms von Lebewesen. Beim Menschen die Persönlichkeit wirken, wird oft der Schluss gezogen, dass
2.5 · Molekulargenetisches Paradigma
63 2
der genetische Einfluss auf die Persönlichkeit im Verlauf
des Lebens ebenfalls konstant und – außer durch gentech- Die klassische Studie
nologische Maßnahmen – nicht veränderbar sei. Da nach Das IQ-QTL Projekt
den Befunden der Verhaltensgenetik Persönlichkeitsunter- Plomin et al. (1994a) untersuchten zwei unabhängige
schiede zu ca. 50% auf genetischen Unterschieden beruhen Stichproben weißer US-amerikanischer Kinder,
(vgl. 7 Abschn. 6.2), sollten sich diese genetischen Unter- die nach hohem und niedrigem IQ vorausgelesen
schiede konkretisieren lassen, indem Persönlichkeitsunter- wurden. Sechzig Allelmarker für Genomregionen,
schiede direkt mit genetischen Unterschieden korreliert die an neuronaler Aktivität beteiligt sind, wurden
werden. Zusammenhänge zwischen der Ausprägung einer zunächst in der ersten Stichprobe auf überzufällige
Eigenschaft und dem Vorkommen bestimmter Allele ließen Häufigkeitsunterschiede zwischen Kindern mit
sich dann kausal interpretieren als direkte Verursachung niedrigem IQ (Mittelwert IQ = 82) und hohem IQ
dieser Eigenschaft durch die Allele. (Mittelwert IQ = 130) geprüft. Acht Marker zeigten
Die bisherige, kurze Geschichte des molekulargeneti- überzufällige Unterschiede. Mit ihnen wurde die
schen Paradigmas legt allerdings nahe, dass ein einfaches zweite Stichprobe aus Kindern mit sehr niedrigem IQ
Korrelieren von Allelen mit Persönlichkeitseigenschaf- (Mittelwert IQ = 59) und sehr hohem IQ (Mittelwert
ten wenig Erfolg versprechend scheint. Drei verschie- IQ = 142) getestet. Kein einziger Marker zeigte einen
dene Ansätze lassen sich hierbei unterscheiden. Zunächst überzufälligen Unterschied.
könnte man daran denken, dem Ansatz der medizini-
schen Humangenetik zu folgen, die Erbkrankheiten nach
den Mendelschen Vererbungsregeln mithilfe von Stamm- Zahlreiche weitere Versuche, Intelligenzunterschiede durch
baumanalysen untersucht und das Auftreten dieser Krank- QTLs zu erklären, ergaben lediglich Hinweise auf einen
heiten in Familien mit dem Vorkommen bestimmter Allele einzigen QTL (das möglicherweise auch an Alzheimer
bei den Familienangehörigen in Beziehung setzt. Auf diese beteiligte APOE-Gen), der aber nur 3% der IQ-Variabili-
Weise konnten bisher über 3 000 Erbkrankheiten durch tät erklärt (Deary, Penke & Johnson, 2010). Ähnliches gilt
jeweils ein oder wenige Allele erklärt werden (vgl. für eine für die Befundlage zu einem Gen für den Dopamin-Rezep-
Übersicht die Datenbank „Online Mendelian Inheritance tor D4, dem DRD4-Gen auf dem 11. Chromosom. Wie bei
in Man“, www.ncbi.nlm.nih.gov/sites/entrez?db=omim ). vielen anderen Genen auch bestehen in diesem Fall die ver-
Diese Allele erklären zwar pathologische Merkmale, sind schiedenen Allele aus unterschiedlich häufigen Wiederho-
aber so selten, dass durch sie Persönlichkeitsunterschiede lungen eines bestimmten Genabschnittes (2–8 Wiederho-
im Normalbereich nur unwesentlich aufgeklärt werden lungen in diesem Fall). Die Zahl der Wiederholungen beein-
können (Plomin, 1990). Zum Beispiel sind inzwischen flusst die Effizienz, mit der der Neurotransmitter Dopamin
Hunderte von Allelen bekannt, die den IQ massiv beein- aufgenommen wird, d. h. die Allele beeinflussen direkt den
trächtigen, aber alle zusammen können letztlich nur einen Dopaminstoffwechsel. Im Rahmen der Temperamentstheo-
winzigen Bruchteil der genetisch bedingten IQ-Variabili- rien von Cloninger (1987) und Depue und Collins (1999);
tät erklären. 7 Abschn. 2.4.2) wurde deshalb angenommen, dass Perso-
nen mit vielen Wiederholungen dopamindefizient sind
> Persönlichkeitsunterschiede im Normalbereich und deshalb nach Neuigkeit, Abwechslung und Aufregung
lassen sich durch humangenetisch identifizierte streben, um ihren Dopaminspiegel zu erhöhen. Nach über
Allele nicht aufklären, weil sie zu selten sind. 10 Jahren Forschung waren die Befunde zahlreicher Studien
zum Zusammenhang zwischen der Zahl der Wiederho-
Alternativ wurde vermutet, dass Normalvarianten der Per- lungen im DRD4-Gen und dem selbstberichteten Streben
sönlichkeit mit mehreren häufigen Allelen assoziiert sind nach Neuigkeit aber noch immer widersprüchlich (Munafo,
(sogenannte „quantitative trait loci“; QTL). Wenn jeder ein- Yalcin, Willis-Owen & Flint, 2008).
zelne QTL z. B. 2% der Eigenschaftsunterschiede erklären Deshalb setzen Genetiker inzwischen auf die dritte
würde, wären mindestens 25 unabhängig voneinander ope- Methode, mittels genomweiter Assoziationsstudien (GWAS)
rierende QTL notwendig, um die Eigenschaft molekular- genetische Varianten in den einzelnen Bausteinen der Gene,
genetisch aufzuklären, sofern sie zu 50% genetisch beein- den Basenpaaren, bestimmten Persönlichkeitsunterschie-
flusst ist. Diese Logik liegt dem ersten molekulargenetischen den zuzuordnen. Da es mehrere Millionen solcher Single
Versuch zugrunde, Normalvarianten einer menschlichen Nucleotide Polymorphisms (SNPs) beim Menschen gibt,
Eigenschaft aufzuklären, dem IQ-QTL Projekt von Robert besteht hier vor allem ein statistisches Problem: Wie kann
R. Plomin (der auch das Konzept der Genom-Umwelt- verhindert werden, dass Zusammenhänge zwischen SNPs
Korrelation prägte; 7 Abschn. 2.3.2; 7 Die klassische Studie). und Persönlichkeitsunterschieden rein zufällig bedingt
64 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
sind? Entweder werden alle SNP-Effekte einzeln für die Zahl deklariert wurde (Maher, 2008). Was fehlt, ist aber nicht
der statistischen Tests korrigiert, sodass nur relativ starke der genetische Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede (der
Effekte für überzufällig gehalten werden; dann könnte selbst zeigt sich unbestritten in verhaltensgenetischen Studien;
2 ein so stark genetisch bedingtes Merkmal wie die Körper- vgl. 7 Abschn. 6.2), sondern die Aufklärung dieses Einflus-
größe (80–90% genetischer Einfluss) nur zu 5% durch der- ses durch wenige Allele. Vielmehr scheinen nach den neu-
artige SNPs aufgeklärt werden und für den IQ und Neu- esten GWAS-Studien sehr viele Gene und Allelvarianten
rotizismus ergaben sich ebenfalls nur äußerst bescheidene dieser Gene am Zustandekommen von Persönlichkeits-
molekulargenetische Erklärungen des Merkmal von nur 3%; unterschieden beteiligt zu sein, wobei deren Wechselwir-
bei Cloningers 4 Temperamentsdimensionen konnten bei kungen untereinander noch gar nicht berücksichtigt sind.
einer Analyse von mehr als 1 Million SNPs und über 5 000 Noch komplexer wird das Bild, wenn nicht nur Wech-
Personen keinerlei überzufällige Zusammenhänge gefun- selwirkungen zwischen Genen, sondern auch zwischen
den werden (Verweij et al., 2010). Genen und Umweltbedingungen berücksichtigt werden.
Vielversprechender scheint es zu sein, die Ergebnisse Um dies zu verstehen, müssen wir einen genaueren Blick
aller untersuchten SNP-Effekte simultan zu berücksichti- darauf werfen, wie eigentlich Gene auf die Persönlichkeit
gen (genom-wide complex trait analysis, GCTA); dadurch wirken können.
konnten Yang et al. (2010) durch Analyse von 300 000 SNPs Gene wirken nämlich nur äußerst indirekt auf die Per-
bei 4 000 Erwachsenen immerhin über 50% des genetischen sönlichkeit. Gene sind Moleküle, deren Aktivität auf die
Einflusses auf Unterschiede in ihrer Körpergröße durch Proteinsynthese der Zellen wirkt. Bestimmte Gene, die ca.
SNPs erklären. Mit dieser Methode gelang es inzwischen 5 000 Strukturgene, enthalten Information für Proteine, die
auch, IQ-Unterschiede bei älteren Briten zu 51% auf Unter- z. B. für den Aufbau des Nervensystems benötigt werden
schiede in ihren SNPs zurückzuführen (Davies et al., 2011), oder Botenstoffe für die Informationsübertragung zwischen
wobei dieser genetische Gesamteffekt auf tausende Gene Zellen darstellen (Hormone, Neurotransmitter). Wird ein
zurückging – sehr viel mehr, als im QTL-Ansatz vermu- Strukturgen aktiviert, wird seine Information abgelesen und
tet wurde. Weitere Studien mit heterogeneren Stichproben zur Produktion des jeweils zugehörigen Proteins verwendet.
fanden mit dieser Methode mindestens 28% molekularge- Die Aktivierung der Strukturgene besorgen andere Gene,
netisch erklärte IQ-Unterschiede. In Kontrast dazu fallen deren Aktivität wiederum untereinander auf höchst kom-
die Schätzungen für selbstbeurteilte Persönlichkeitsmerk- plexe Weise vernetzt ist. Die Wechselwirkungen der Aktivi-
male deutlich niedriger aus, wobei wieder tausende SNPs an tät jeweils vieler Gene bilden die Basis der Stoffwechsel- und
einem einzigen Merkmal beteiligt sind (0%–21% molekular- Entwicklungsprozesse eines Menschen. Die Genaktivität ist
genetisch erklärte Merkmalsunterschiede; Penke & Jokela, also zeitlich variabel.
2016). Hierbei muss berücksichtigt werden, dass dies Schät-
zungen auf der Basis eines einfachen additiven Modells sind, > Das Genom ist zeitlebens konstant, aber der Prozess
das Wechselwirkungen zwischen SNPs nicht berücksichtigt. der Genaktivität ist zeitlich variabel.
> Derzeit wird mithilfe genomweiter Nicht nur einzelne Gene stehen in Wechselwirkung mitein-
Assoziationsstudien nach genetischen Bedingungen ander, sondern auch Gene und ihre Produkte, z. B. Enzyme.
von Persönlichkeitsunterschieden gefahndet. Die genetische Aktivität beeinflusst die neuronale Aktivität,
Bei simultaner Betrachtung aller SNPs konnten die Grundlage des Erlebens und Verhaltens ist; durch Ver-
Unterschiede in der Körpergröße und im IQ älterer halten kann die Umwelt verändert werden. Aber auch umge-
Erwachsener bereits zu über 50% genetisch erklärt kehrt können Umweltbedingungen das Verhalten beein-
werden, wobei der genetische Gesamteffekt jeweils flussen und dadurch die neuronale Aktivität und geneti-
auf sehr viele Gene zurückging. Dagegen lassen sche Wirkungen bis hin zur genetischen Aktivität selbst.
sich Unterschiede in selbstbeurteilten Persönlich- Die Molekulargenetik geht also von einem dynamisch-
keitsmerkmalen bisher deutlich weniger molekular- interaktionistischen Konzept genetischer Wirkungen aus.
genetisch aufklären. Es gibt keine Einbahnstraße vom Genom zur Persönlich-
keit, sondern ein viele Aktivitätsebenen umspannendes
Die anfängliche Euphorie über die „Entschlüsselung des Wirkungsnetz (Gottlieb, 1991; . Abb. 2.21).
menschlichen Genoms“ zu Beginn dieses Jahrtausends, die Wegen dieser Wechselwirkung zwischen der Genakti-
versprach, genetische Einflüsse auch auf Persönlichkeits- vität und anderen Prozessebenen ist die Vorstellung falsch,
unterschiede im Normalbereich durch eine überschaubare Gene „bewirkten“ Entwicklung oder Verhalten. Folgendes
Zahl von Allelen zu erklären, ist inzwischen einer großen Beispiel führt das drastisch vor Augen: Ob jemand ein Mann
Ernüchterung gewichen. Bisweilen wurde auch über das Ziel oder eine Frau ist, ist abgesehen von extrem seltenen Aus-
hinausgeschossen, indem ein „missing heritability problem“ nahmen rein genetisch bedingt (7 Abschn. 7.2.1). Stricken
2.5 · Molekulargenetisches Paradigma
65 2
im Kindesalter eine phenylalaninarme Diät eingehalten
(einschließlich Einnahme von Medikamenten, die den Phe-
nylalanin-Haushalt regeln sollen), wird dieser intelligenz-
mindernde genetische Effekt fast vollständig unterdrückt.
Umgekehrt können Umweltwirkungen durch Eingriff in
die Genaktivität, einschließlich gentechnologischer Verän-
derung des Genoms, verändert werden. Im Prinzip könnten
Menschen gentechnologisch z. B. so verändert werden, dass
sie unempfindlicher gegenüber bestimmten Umweltbedin-
gungen werden – z. B. gegenüber Giften an Arbeitsplätzen
. Abb. 2.21 Ein Modell der Genom-Umwelt-Wechselwirkung. der chemischen Industrie. Das ist im Moment noch reine
(Mod. nach Asendorpf, 1993, mit freundl. Genehmigung der APA) Phantasie, aber diese Phantasie beruht auf realistischen
Annahmen und wirft deshalb schon jetzt ethische Fragen
auf: Dürfen Menschen die genetische Natur von Menschen
ist eine Tätigkeit, die in unserer Kultur fast nur von Frauen verändern?
ausgeübt wird. Also ist Stricken stark genetisch beeinflusst. Wegen der Wechselwirkungen zwischen Genom und
Das heißt aber natürlich nicht, dass Frauen ein „Strickgen“ Umwelt besteht keine strenge Korrelation zwischen Ein-
besitzen, das sie zum Stricken befähigt oder motiviert. Vom flussquelle und Ziel der Veränderung (. Tab. 2.4). Wir
genetischen Geschlecht zu den Geschlechtsunterschieden gehen intuitiv davon aus, dass genetische Wirkungen nur
im Verhalten führt ein langer Weg (7 Kap. 7); das gilt für durch Änderung des Genoms, Umweltwirkungen nur
alle Gene. durch Änderung der Umwelt verändert werden können (die
Irreführend ist auch die Vorstellung, das Genom „sei“ +-Zellen in . Tab. 2.4). Wir übersehen dabei die ! -Zellen in
oder „enthalte“ ein Programm, das die Entwicklung eines . Tab. 2.4.
Organismus steuere (vgl. Johnston & Edwards, 2002; Bei Phenylketonurie ist die Einhaltung einer phenyl-
Oyama, 2000). Adäquater ist der Vergleich des Genoms mit alaninarmen Diät nicht das ganze Leben lang erforder-
einem Text, aus dem im Verlauf des Lebens immer wieder lich, sondern nur während der Gehirnentwicklung in der
kleine Teile abgelesen werden. Der Text begrenzt das, was Kindheit und Jugend. Ist dieser Prozess weitgehend abge-
abgelesen werden kann, legt aber keineswegs fest, was über- schlossen, spielt das kritische Allel keine wesentliche Rolle
haupt oder gar zu einem bestimmten Zeitpunkt abgelesen mehr. Genetische Wirkungen sind also im Prinzip altersab-
wird. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt abgelesen wird, hängig. Sie können die frühe Persönlichkeitsentwicklung
hängt davon ab, was vorher gelesen wurde und welche Wir- beeinflussen, können aber auch erst spät wirksam werden.
kungen dies hatte, eingeschlossen Rückkopplungseffekte auf Ein Beispiel für genetische Effekte, die erst im mittleren
das Leseverhalten. Erwachsenenalter wirksam werden, ist die Chorea Hun-
tington (Veitstanz), eine degenerative Hirnerkrankung, die
> Die Persönlichkeit ist nicht im Genom auf einem Allel auf dem vierten Chromosom beruht und
programmiert, sondern Resultat einer im Durchschnitt erst mit Mitte 40 beginnt; vorher führen
kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen der die Allelträger ein völlig normales Leben. Diese Altersab-
Genaktivität und anderen Prozessebenen. hängigkeit wiederum beruht letztlich darauf, dass Gene zu
bestimmten Zeitpunkten „angeschaltet“ oder „abgeschal- Alle drei Codes sind verantwortlich für so dramatische
tet“ werden können. Veränderungen wie den Umbau einer Raupe im Verlauf
eines Winters in einen Schmetterling oder für das Entste-
2 > Genetische Wirkungen sind altersabhängig. hen einer Bienenkönigin aus einer normalen Bienenlarve –
beide Entwicklungsformen desselben Lebewesens enthalten
dasselbe Genom, sind aber epigenetisch grundverschieden.
2.5.2 Epigenetik Alle drei Codes sind auch prinzipiell offen für Wirkungen
von Umweltbedingungen der Zelle. Krokodile entwickeln
Wie geschieht diese „Programmierung“ durch An- oder sich je nach Wassertemperatur beim Ausbrüten zu Männ-
Abschalten bestimmter Gene? Inzwischen hat sich der chen oder zu Weibchen, sodass ihr Geschlecht nicht gene-
Begriff der Epigenetik eingebürgert als derjenige Teil der tisch, sondern epigenetisch bestimmt ist. Wüstenheuschre-
Biologie, der sich mit Zuständen der Genaktivität von Zellen cken hingegen mutieren von unschädlichen grünen Einzel-
beschäftigt, die an Tochterzellen weitergegeben werden, gängern ab Erreichen einer bestimmten Populationsdichte
aber nicht auf Änderungen des Genoms beruhen. In Ana- zu braunschwarzen Wanderheuschrecken, die in riesigen
logie zu einem Computer handelt es sich um die „epige- Schwärmen ganze Felder kahl fressen; diese biblische Plage
netische Software“, die bestimmt, wie die „Hardware“ des beruht nicht auf Genetik, sondern auf Epigenetik, denn vom
Genoms funktioniert. Änderungen im epigenetischen Pro- Genom her unterscheiden sich die beiden Formen der Wüs-
gramm führen zu Änderungen in der Funktion des Genoms, tenheuschrecke nicht.
ohne dass das Genom selbst sich ändert, und das Programm
ist so stabil, dass es bei Zellteilung an Tochterzellen dessel- > Umweltabhängige epigenetische „Programmierung“
ben Organismus weitergegeben wird – manchmal sogar an kann massive Einflüsse auf die Entwicklung haben,
Nachkommen vererbt wird. ohne dass sich die Allele ändern.
Die Gesamtheit der epigenetischen Information einer
Zelle wird oft als Epigenom der Zelle bezeichnet. Ein grund- Gemeinsam ist diesen so verschiedenen Beispielen, dass
legender Unterschied zum Genom besteht darin, dass das die Veränderungen dauerhaft sind: Bienenköniginnen
Epigenom von Zelle zu Zelle unterschiedlich sein kann, v. a. entwickeln sich nicht mehr zu Arbeiterinnen zurück, das
bei unterschiedlichen Zelltypen (z. B. Gehirnzelle vs. Leber- Geschlecht von Krokodilen ist zeitlebens konstant und aus
zelle), weil die Spezialisierung von Zellen im Verlauf der Wanderheuschrecken werden keine Einzelgänger mehr.
Embryonalentwicklung durch Veränderung des Epigenoms Dies eröffnet die Möglichkeit, stabile Persönlichkeitsunter-
(aber nicht des Genoms) zustande kommt. schiede auf umweltabhängige epigenetische „Programmie-
Derzeit wird intensiv am epigenetischen Code gearbei- rung“ zu beziehen. Besonders gut sind hierfür Tierversu-
tet. Drei verschiedene „epigenetische Sprachen“ sind bisher che geeignet, in denen Umweltbedingungen experimen-
gut untersucht worden. Der Methyl-Code beruht auf tell manipuliert werden können. Seit den 1990er-Jahren
Methylgruppen, die an die DNA andocken und so Gene wurde ein enger Zusammenhang zwischen der Häufig-
ausschalten. Ob ein Gen aktiv ist oder nicht, hängt also unter keit, mit der Rattenmütter ihre Kinder in der ersten Woche
anderem davon ab, ob es epigenetisch „markiert“ wurde. nach der Geburt lecken und ihnen das Fell putzen, und der
Der Histon-Code besteht aus vier verschiedenen Substan- Stressanfälligkeit und Vorsicht dieser Kinder im späteren
zen (Methyl-, Acetyl-, Ubiquitin- und Phosphatgruppen), Leben etabliert: Mütterliche Fürsorge senkte die Häufig-
die nicht an der DNS andocken, sondern an den Histonen, keit und Intensität von Stressreaktionen ihrer Kinder und
Teilen der Nukleosomen, um die sich die DNA-Doppelhe- förderte ihre Neigung zum Explorieren neuer Umwelten.
lix mehrfach herumwickelt. Diese Substanzen regulieren die Das galt auch dann, wenn den Müttern fremde, genetisch
Aktivierbarkeit der benachbarten Gene. Der RNA-Interfe- nichtverwandte Junge untergeschoben wurden, und wenn
renz-Code besteht aus Mikro-RNA, die verhindert, dass ein die Kinder wenig fürsorglicher Ratten von fürsorglichen
Gen mittels Boten-RNA die Zelle dazu bringt, ein bestimm- fremden Müttern bemuttert wurden (cross-fostering design;
tes Protein zu produzieren. Die Mikro-RNA wird in schein- Francis, Diorio, Liu & Meaney, 1999). Es handelte sich also
bar nicht aktiven Teilen der DNA gebildet, der früher für um Umwelteffekte nach der Geburt, nicht um genetische
„genetischen Müll“ gehalten wurde, jetzt aber als verant- Effekte aufgrund der genetischen Verwandtschaft und nicht
wortlich für die Mikro-RNA rehabilitiert wurde. um pränatale Effekte.
Weaver et al. (2004) konnten erstmals nachweisen, dass
> Das Epigenom eines Menschen ist die epigenetische dieser Effekt mütterlicher Fürsorge auf einer epigenetischen
Markierung seiner Gene. Sie beeinflusst die Programmierung von Genen beruht, die für die Produk-
Genaktivität. tion des „Stresshormons“ Cortisol verantwortlich sind, das
2.5 · Molekulargenetisches Paradigma
67 2
wesentlich für die Intensität und Dauer von Stressreaktio- genetische und Umweltbedingungen statistische Wechsel-
nen verantwortlich ist. In einem Cross-fostering-Experi- wirkungen in der Art zeigen können, dass die Wirkung
ment zeigten die Kinder wenig fürsorglicher Rattenmüt- eines bestimmten Allels von den Umweltbedingungen
ter gegenüber Kindern fürsorglicher Mütter – egal, ob mit abhängt, unter denen es seine Wirkung entfaltet, oder die
ihnen genetisch verwandt oder nicht – epigenetische Ver- Wirkung einer Umweltbedingung von dem Vorhanden-
änderungen im Methyl- und Histon-Code von Genen, die sein bestimmter Allele. Derartige Interaktionen verschlei-
zu einer vermehrten Produktion von Cortisol unter Stress ern genetische Wirkungen, weil sie je nach Umwelt anders
führen. Diese Veränderungen entwickelten sich bereits ausfallen, und sie verschleiern Umweltwirkungen, weil
in der ersten Woche nach der Geburt und blieben bis ins sie je nach Allel anders ausfallen. Der erste überzeugende
Erwachsenenalter hinein bestehen, konnten jedoch phar- Nachweis einer derartigen Gen-Umwelt-Interaktion für
makologisch unterdrückt werden, indem die ursprüngli- Persönlichkeitsunterschiede wurde von Avshalom Caspi
chen epigenetischen Veränderungen wieder rückgängig und Mitarbeitern publiziert, die damals an demselben Lon-
gemacht wurden. doner Institut arbeiteten wie Eysenck, Gray und Plomin
(7 Die klassische Studie).
> Bei Ratten vermindert mütterliche Fürsorge die
Stressanfälligkeit ihrer Kinder, auch wenn es
nicht ihre eigenen sind. Dieser Umwelteffekt ist
epigenetisch vermittelt. Die klassische Studie
Gen-Umwelt-Interaktion bei Kindesmisshandlung
Aus ethischen Gründen können Cross-fostering-Experi- Caspi et al. (2002) untersuchten bei 442 männlichen
mente bei Menschen nicht durchgeführt werden, sodass Teilnehmern der neuseeländischen Dunedin
sich die Forschung auf indirekte Evidenz beschränken muss. Longitudinal Study den Zusammenhang zwischen
Einen ersten Hinweis auf epigenetische Veränderungen erfahrener Kindesmisshandlung im Alter zwischen
nach Kindesmissbrauch fanden McGowan et al. (2009), als 3 und 11 Jahren (keine, wahrscheinlich, schwere),
sie die Gehirne von Selbstmördern untersuchten, die in ihrer zwei häufigen Allelen des MAOA-Gens auf dem
Kindheit misshandelt worden waren, und mit den Gehir- X-Chromosom (Allele, die geringe vs. starke Aktivität
nen von Selbstmördern mit normaler Kindheit sowie den des Enzyms MAOA bedingen) und 4 verschiedenen
Gehirnen von Unfallopfern verglichen. Wie bei den Ratten Indikatoren für antisoziales Verhalten im Alter
mit wenig mütterlicher Fürsorge war der Methyl-Code der von 26 Jahren (durch standardisiertes Interview
missbrauchten Selbstmörder gegenüber beiden Kontroll- erfasste antisoziale Persönlichkeitsstörung, Zahl der
gruppen verändert, was auf eine stärkere Stressanfälligkeit Verurteilungen wegen Gewalttätigkeit, Selbstbe-
der missbrauchten Selbstmörder hinwies. Inzwischen gibt es urteilung antisozialer Tendenzen, Beurteilung
auch beim lebenden Menschen Hinweise auf epigenetische antisozialer Symptome durch Bekannte). Für alle
Effekte von Kindesmisshandlung und Stress in der frühen 4 Indikatoren ergab sich dieselbe statistische
Kindheit, die z. T. noch im Erwachsenenalter nachweisbar Gen-Umwelt-Interaktion, die in . Abb. 2.22 für den
sind, auch wenn die Stichproben derzeit oft noch bedenk- Mittelwert der 4 Indikatoren illustriert ist.
lich klein sind (Turecki & Meaney, 2016). Künftige Studien Wie . Abb. 2.22 zeigt, erhöhte erfahrene Kindesmiss-
werden zeigen, ob die epigenetische Begründung von Per- handlung das Risiko für antisoziales Verhalten im
sönlichkeitsunterschieden besser gelingt als die genetische Erwachsenenalter unabhängig vom MAOA-Gen,
im GWAS-Ansatz. Da es sich hierbei um Umwelteffekte auf wobei jedoch die Erhöhung deutlich stärker bei
molekulargenetischer Ebene handelt, wäre in diesem Fall denjenigen Männern ausfiel, die das Allel für niedrige
paradoxerweise die Molekulargenetik bei der Nutzung von MAOA-Aktivität hatten. So wurden z. B. die 55 Männer,
Umwelteffekten erfolgreicher als bei der Nutzung von gene- die beide Risikofaktoren aufwiesen (Misshandlung
tischen Effekten. und Allel für niedrige MAOA-Aktivität) bis zum Alter
von 26 Jahren dreimal so häufig verurteilt wie die
99 Männer, die auch misshandelt worden waren,
2.5.3 Gen-Umwelt-Interaktionen aber das Allel für hohe MAOA-Aktivität aufwiesen;
für schwerere Delikte (Vergewaltigung, Raub und
In beiden Fällen handelt es sich um Effekte von Allelen Überfälle) war die Rate sogar viermal so hoch.
oder von Umweltbedingungen auf die Persönlichkeit. Aus Genetisch bedingte unzureichende MAOA-Aktivität
Sicht des Kodeterminationsmodells der Persönlichkeits- scheint demnach die Entwicklung antisozialer
entwicklung (vgl. 7 Abschn. 2.3.3) ist aber zu erwarten, dass
68 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
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Attraktivität beim anderen Geschlecht. Gene, die körper- und die andere Hälfte vom Vater erben. Im Gegensatz zu
liche oder Verhaltensmerkmale fördern, die vom anderen zweieiigen Zwillingen, die unterschiedlichen befruchteten
Geschlecht für attraktiv gehalten werden, haben einen Eizellen entstammen und deshalb nicht genetisch ähnlicher
2 Reproduktionsvorteil. sind als Geschwister unterschiedlichen Alters, entstammen
eineiige Zwillinge derselben befruchteten Eizelle und sind
> Die genetische Variation beruht auf Mutation deshalb genetisch identisch.
und sexueller Rekombination, die natürliche Hieraus lässt sich ableiten, dass Hilfe anderer trotz
Selektion auf dem Reproduktionserfolg von Genen. der damit verbundenen eigenen Kosten dann evolutio-
Dieser Reproduktionserfolg hängt bei Menschen när adaptiv ist (d. h. sich langfristig im Verlauf der Evolu-
wesentlich von der intra- und intersexuellen tion durchsetzen wird), wenn die inklusive Fitness dadurch
Selektion ab. gesteigert wird. Opfert sich z. B. jemand für das Überleben
eines Geschwisters auf, ist das nicht adaptiv, weil Geschwis-
Der Brite William D. Hamilton (1936–2000) wies ter nur die Hälfte der eigenen Gene teilen (0,5f < f, wobei f
1964 darauf hin, dass die genetische Fitness eines Indivi- die Fitness aller eigenen Gene ist). Opfert sich aber jemand
duums auf zwei Komponenten beruht: auf dem Repro- für das Überleben von drei Geschwistern auf, ist das adaptiv,
duktionserfolg der eigenen Gene (deren Vorkommen in weil die inklusive Fitness 3 × 0,5f = 1,5f beträgt und damit
Kindern, Enkelkindern usw.) und dem Reproduktionserfolg die eigene Fitness f übersteigt.
dieser Gene bei genetisch Verwandten (dem Vorkommen
bei Geschwistern, Neffen, Nichten usw.). Hilft man gene- > Der Reproduktionserfolg eines Gens eines
tisch Verwandten, fördert das indirekt die Verbreitung Individuums beruht auf seinem Vorkommen in
der eigenen Gene. Was also letztlich die natürliche Selek- den Nachkommen des Individuums und seiner
tion auf genetischer Ebene treibt, ist nicht die Fitness im Verwandten. Deshalb kann es adaptiv sein, sich für
engeren Sinn (Häufigkeit des Gens bei direkten Nachkom- genetisch Verwandte zu opfern.
men), sondern die inklusive Fitness (Häufigkeit des Gens
bei direkten und indirekten Nachkommen). Die Häufigkeit Der US-Amerikaner Edward O. Wilson (geb. 1929) wandte
des Gens bei indirekten Nachkommen wird dabei gewich- evolutionsbiologische Erklärungsprinzipien auf das Sozial-
tet durch die erwartete Rate dieses Gens bei den jeweiligen verhalten verschiedener Tierarten an und prägte den
Verwandten (. Tab. 2.5). Begriff der Soziobiologie im Sinne einer Evolutionsbiolo-
Diese Rate lässt sich wiederum aus der Tatsache ablei- gie des Sozialverhaltens, einschließlich des Sozialverhal-
ten, dass Kinder jeweils die Hälfte ihrer Gene von der Mutter tens von Menschen (Wilson, 1975). Dieser Ansatz löste
starke Kontroversen mit Sozialwissenschaftlern aus, die
bis dahin geglaubt hatten, biologische Zugänge zu sozialen
Phänomenen ignorieren zu können. Mit gewissem Recht
. Tab. 2.5 Erwartete genetische Verwandtschaft bei
verschiedenem Verwandtschaftsgrad
wurde den Soziobiologen vorgeworfen, dass ihre Überle-
gungen letztlich nur auf Spekulationen über optimal ange-
Verwandtschaftsgrad Genetischer Ver- passtes Verhalten in einer hypothetischen Umwelt der Ver-
wandtschaftsgrad gangenheit beruhten und der notwendigerweise angenom-
mene genetische Einfluss auf das Verhalten nicht nachge-
Eineiige Zwillinge 100%
wiesen sei.
Zweieiige Zwillinge 50%
Allerdings unterschieden zumindest einige Soziobiolo-
Geschwister unterschiedlichen Alters 50% gen schon früh zwischen ultimaten und proximaten Erklä-
Eltern, Kind 50% rungen. Ultimate Erklärungen beruhen auf Überlegungen
Halbgeschwister (nur ein gemeinsames 25% zum Selektionsdruck und beschreiben, wie sich Individuen
Elternteil) unter den angenommenen Umweltbedingungen der evolu-
Großeltern, Enkel 25% tionären Vergangenheit hätten verhalten sollen. Aber damit
sie sich tatsächlich so verhalten haben, bedurfte es proxima-
Tante, Onkel, Neffen, Nichten 25%
ter Mechanismen, die sie dazu gebracht hatten, sich tatsäch-
Cousins, Cousinen 12,5%
lich so zu verhalten. Die evolutionsbiologische Erklärung
Partner 0% ist im Grunde nur vollständig (und überzeugender), wenn
Adoptivgeschwister 0% zu jeder ultimaten Erklärung auch eine proximate Erklä-
Adoptiveltern, Adoptivkinder 0% rung durch Angabe eines proximaten Mechanismus gelie-
fert wird.
2.6 · Evolutionspsychologisches Paradigma
71 2
> Ultimate Erklärungen von Verhalten begründen es
durch Reproduktionsvorteile in der evolutionären wurde und Freunde als etwas näher als sonstige
Vergangenheit; proximate Erklärungen geben an, Nichtverwandte (. Abb. 2.23). Bei älteren Menschen
wie das Verhalten konkret zustande kommt. ist der Partner meist die vertrauteste Person
überhaupt und Freunde dürften etwas vertrauter
Deshalb greifen in ernstzunehmenden evolutionären Erklä- sein als Nicht-Freunde. Auch die Unterschiede in
rungen menschlichen Erlebens und Verhaltens immer bio- emotionaler Nähe zwischen den drei genetischen
logische ultimate und psychologische proximate Erklä- Verwandtschaftsgraden dürften sich gut auf
rungen ineinander. Evolutionsbiologen nehmen z. B. nicht Unterschiede in Vertrautheit zurückführen lassen
an, dass es proximate Mechanismen gibt, die die Fitness in (z. B. sind Geschwister und Eltern meist vertrauter
konkreten Situationen für die Optionen „helfen“ und „nicht als Neffen, Nichten oder Enkel). Der proximate
helfen“ ausrechnen. Von der natürlichen Selektion werden Mechanismus für Hilfeleistung könnte also darin
vielmehr alle Verhaltensweisen begünstigt, die die inklu- bestehen, dass Vertrautheit mit einer Bezugsperson
sive Fitness relativ zur Fitness aufgrund direkter Nachkom- bei deren Anwesenheit das Gefühl emotionaler Nähe
men steigern. Hierbei kann es sich durchaus um wohlbe- aktiviert, das wiederum das Ausmaß der Hilfeleistung
kannte psychologische Mechanismen handeln, z. B. Hilfe beeinflusst.
aufgrund wahrgenommener emotionaler Nähe: Je näher ich
mich jemandem fühle, umso eher bin ich bereit zur Hilfe
(wobei natürlich andere Überlegungen eine zusätzliche
Rolle spielen, insbesondere die wahrgenommene Hilfsbe- Dieses Beispiel macht deutlich, dass aus ultimaten Erklärun-
dürftigkeit des anderen); vgl. 7 Unter der Lupe. gen abgeleitete Prinzipien (z. B.: Hilf jemandem umso mehr,
je höher die genetische Verwandtschaft ist) nicht unbedingt
direkt proximaten Mechanismen entsprechen müssen. Viel-
Unter der Lupe leicht gibt es gar keinen proximaten Mechanismus, der nur
die genetische Verwandtschaft erkennt und in eine Hilfe-
Verwandtschaft, Vertrautheit und emotionale Nähe tendenz umsetzt. Der vermutete Vertrautheit-Nähe-Hilfe-
Neyer und Lang (2003) untersuchten den Mechanismus würde jedenfalls zu einer deutlichen Korre-
Zusammenhang zwischen genetischem lation zwischen genetischer Verwandtschaft und Hilfeleis-
Verwandtschaftsgrad und emotionaler Nähe zu tung führen und auf diese Weise so „fit“ sein, dass er lang-
Bezugspersonen in drei Stichproben mit insgesamt fristig genetisch fixiert wird. Ein Mechanismus der Hilfe-
1 365 Erwachsenen höheren Alters. Der genetische leistung, der dem ultimaten Prinzip direkt widerspricht,
Verwandtschaftsgrad hing deutlich mit der weil er zu einer negativen Korrelation zwischen genetischer
subjektiv eingeschätzten emotionalen Nähe zu den Verwandtschaft und Hilfeleistung führt, hätte dagegen aus
Bezugspersonen zusammen: Je genetisch ähnlicher
die Bezugsperson, desto emotional näher fühlt man
sich ihr. Ein proximater Mechanismus „Hilfe aufgrund
emotionaler Nähe“ würde damit die inklusive
Fitness fördern, ohne dass der genetische Verwandt-
schaftsgrad auf direkte Weise wahrgenommen
werden müsste: Dieser Mechanismus wäre
evolutionär adaptiv. Allerdings ist damit noch
nicht klar, worauf das Gefühl der emotionalen
Nähe beruht.
Die Daten von Neyer und Lang (2003) legen nahe,
dass emotionale Nähe auf Vertrautheit beruht, d. h.
auf der Summe der (positiven aber auch negativen)
Erfahrungen mit der Bezugsperson. Innerhalb der
genetisch Nichtverwandten gab es nämlich große
Unterschiede in der emotionalen Nähe, wobei . Abb. 2.23 Mittlere emotionale Nähe zu Bezugspersonen
der Partner als besonders nah wahrgenommen unterschiedlichen genetischen Verwandtschaftsgrades. (Daten aus
Neyer & Lang, 2003)
72 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
evolutionsbiologischer Sicht kaum eine Chance, der natür- Unter der Lupe
lichen Selektion zu widerstehen.
Warum ist Angst vor Schlangen in Mitteleuropa so
2 > Proximate Mechanismen müssen nicht direkt häufig?
Prinzipien entsprechen, die aus ultimaten Etwa die Hälfte aller Mitteleuropäer hat Angst vor
Erklärungen abgeleitet werden; sie dürfen ihnen Schlangen, und die Schlangenphobie ist die häufigste
aber nicht widersprechen. Tierphobie (Polák et al., 2016; 7 Abschn. 2.3.1).
Als evolutionspsychologische Erklärung kann ein
Proximate Mechanismen können deshalb (in Grenzen) ein EPM angenommen werden, der das Erlernen von
Eigenleben jenseits ultimat abgeleiteter Prinzipien führen. Angst Schlangen gegenüber fördert (z. B. durch
Im Falle menschlichen Erlebens und Verhaltens sind pro- Beobachtungslernen; vgl. das Experiment von
ximate Mechanismen psychologische oder physiologische Cook & Mineka, 1989, in 7 Abschn. 2.3.1). Ein solcher
Mechanismen. Eine auf ultimate Erklärungen beschränkte EPM ist plausibel, da in Umwelten, in denen es von
Soziobiologie des menschlichen Erlebens und Verhaltens Giftschlangen wimmelt und die ältere Generation
greift deshalb zu kurz; sie bedarf der psychologischen und entsprechend schlechte Erfahrungen mit Schlangen
physiologischen Bereicherung. gemacht hat, diese Erfahrungen durch diesen EPM
Tatsächlich scheint sich der Schwerpunkt der evolu- schnell und effizient an die nächste Generation
tionspsychologischen Forschung in den letzten Jahren weitergegeben werden; dagegen besteht in
zunehmend in Richtung proximater Erklärungen ver- Umwelten, in denen Schlangen ungefährlich oder
schoben zu haben. Hierbei wurde von Cosmides, Tooby essbar sind, keine unnötige Angst vor Schlangen.
und Barkow (1992) der Begriff des evolvierten psycholo- Starke Schlangenangst wäre in solchen Umwelten
gischen Mechanismus (EPM) geprägt, der von Buss (1995) (z. B. dem heutigen Mitteleuropa) nicht universell
zur Abgrenzung der Evolutionspsychologie von einer vorhanden, könnte aber in den Fällen auftreten, wenn
nur ultimaten Erklärungen verpflichteten Soziobiologie der EPM ansprach, weil jemand anderes in Gegenwart
benutzt wurde. Unter einem EPM wird ein bereichs- und einer Schlange Angst zeigte. Die Alternativen
kontextspezifischer proximater Mechanismus verstanden, (kein leichtes Erlernen von Schlangenangst; „fest
der als Anpassungsleistung an die Umwelt unserer Vor- verdrahtete“ Schlangenangst) dürften weniger
fahren (also ultimat) verständlich ist und von dem ange- reproduktionsförderlich gewesen sein, sodass sich im
nommen wird, dass er genetisch fixiert ist und deshalb Laufe von Jahrmillionen ein EPM „leichtes Erlernen
vererbt wird. von Angst Schlangen gegenüber“ bei unseren
Vorfahren durchgesetzt hat.
> Ultimate Erklärungen durch natürliche Selektion
müssen in evolutionspsychologischen Erklärungen
ergänzt werden durch Angabe proximater
evolvierter psychologischer Mechanismen (EPMs). Ein zweiter Weg zur Identifikation von EPMs besteht darin,
eine Liste wichtiger adaptiver Probleme in der evolutionä-
Eine Aufgabe der Evolutionspsychologie ist es daher, uni- ren Vergangenheit zu erstellen, Überlegungen zu mögli-
verselle Mechanismen der Informationsverarbeitung, Ver- chen EPMs anzustellen, die ein bestimmtes solches Problem
haltensregulation und Individualentwicklung als EPMs zu vermutlich gut lösen konnten und dann durch empirische
identifizieren. Dies kann auf zwei unterschiedlichen Wegen psychologische Untersuchungen zu prüfen, ob diese EPMs
versucht werden. Zum einen wird versucht, für bekannte tatsächlich nachweisbar sind. Buss (2016) organisiert seine
Mechanismen eine besondere Fitness unter den vermute- Übersicht über die Evolutionspsychologie um 8 solche adap-
ten Umweltbedingungen unserer Vorfahren (im weites- tiven Probleme: Probleme des Überlebens, der Partnerwahl
ten Sinn, also eingeschlossen Vorläufer von Homo sapiens und Sexualität, der Elternschaft, der Unterstützung von Ver-
sapiens im Stammbaum der Evolution) nachzuweisen. Ein wandten, der Kooperation, der Aggression, der sexuellen
Beispiel hierfür wäre die evolutionspsychologische Erklä- Rivalität und der sozialen Dominanz.
rung der Tatsache, dass in Mitteleuropa starke Angst vor Besonders überzeugend ist die evolutionspsychologi-
Schlangen viel häufiger ist, als aufgrund der objektiven sche Analyse dann, wenn sie auf diesem Weg vorher unbe-
Gefahr durch Schlangen zu erwarten ist (vgl. 7 Unter der kannte psychologische Mechanismen identifiziert. Ein Bei-
Lupe). spiel hierfür sind evolutionspsychologische Vorhersagen für
2.6 · Evolutionspsychologisches Paradigma
73 2
Konsequenzen der Vaterschaftsunsicherheit auf die Unter-
. Tab. 2.6 Berichtete Unterstützung durch Verwandte
stützung durch Verwandte (vgl. 7 Unter der Lupe). mütterlicherseits und väterlicherseits (Daten nach Euler &
Weitzel, 1996, und Gaulin, McBurney & Brakeman-Wartell, 1997)
anspruchsvoller als die meisten sonstigen psychologischen Männer so lange erhöhen, bis sie genauso häufig sind wie
Erklärungen: Umwelteffekte auf die Persönlichkeit müssen Frauen. Die entsprechende Argumentation gilt für den
nicht nur empirisch nachgewiesen werden, sondern es umgekehrten Fall, dass Männer häufiger wären als Frauen.
2 müssen auch die vermittelnden EPMs spezifiziert werden. Deshalb pegelt sich in Populationen langfristig ein 1:1-Ver-
hältnis zwischen Männern und Frauen ein: Das Geschlech-
> Genetisch bedingte Persönlichkeitsunterschiede terverhältnis ist „evolutionär stabil“.
sind evolutionär erklärbar unter anderem durch
Mutation und sexuelle Rekombination. Diese > Das Geschlechterverhältnis von 1:1 zum Zeitpunkt
Variationsquellen erfüllen eine wichtige Funktion der maximalen Fruchtbarkeit beruht auf frequenz-
in der Evolution, weil sie ein Sicherheitsreservoir für abhängiger Selektion.
neue Umweltbedingungen aufrechterhalten.
Frequenzabhängige Auslese muss nicht in gleichen Propor-
Dieses evolutionspsychologische Minimalprogramm tionen der miteinander konkurrierenden Persönlichkeits-
zur Erklärung von Persönlichkeitsunterschieden wäre zu typen resultieren. Notwendig ist nur, dass zwei alternative
bescheiden, um zu einem Paradigma der Persönlichkeits- Gene oder Genkomplexe langfristig koexistieren, weil die
psychologie avancieren zu können. In den letzten Jahren Fitness jeweils eines Typs mit zunehmendem Anteil dieses
haben jedoch Biologen, Psychologen und Anthropologen Typs in der Population so stark sinkt, dass sie ab einem
eine ganze Reihe weiterer evolutionspsychologischer Prin- bestimmten Punkt geringer ist als die Fitness des anderen
zipien vorgeschlagen, die sich zur Erklärung von Persönlich- Typs. Dieser Punkt kann ein beliebiger Anteil über 0% und
keitsunterschieden eignen und so weit über das skizzierte unter 100% sein und genau diesen Anteil wird der Typ
Minimalprogramm hinausgehen, dass es sich inzwischen langfristig behalten (es sei denn, die Umweltbedingungen
rechtfertigen lässt, von einem evolutionspsychologischen ändern sich).
Paradigma der Persönlichkeitspsychologie zu sprechen. Dieses Erklärungsprinzip wandten Gangestad und
Zwei derartige Prinzipien werden in Anlehnung an Buss Simpson (1990) an, um Unterschiede in der Soziosexuali-
(2016) im Folgenden skizziert und jeweils anhand eines Per- tät von Frauen zu erklären (vgl. 7 Unter der Lupe).
sönlichkeitsunterschieds illustriert:
55 frequenzabhängige Selektion und
55 konditionale Entwicklungsstrategien. Unter der Lupe
Persönlichkeitsmerkmalen im Jugendalter zu schlagen (vgl. Entwicklungsstrategie zugrunde liegen könnten. Ein mög-
7 Unter der Lupe). licher, bei verschiedenen Säugetierarten nachgewiesener
Mechanismus ist die Beschleunigung der weiblichen bio-
2 logischen Reifung durch Geruchsstoffe nichtverwand-
Unter der Lupe ter männlicher Artgenossen. In Übereinstimmung damit
fanden Ellis und Garber (2000), dass die Regelblutung
Die Hypothese von Draper und Harpending besser durch die Dauer des Zusammenlebens mit nichtver-
Draper und Harpending (1982) formulierten auf wandten Partnern der Mutter (Stiefvätern und Freunden)
der Grundlage kulturvergleichender Studien die vorhergesagt wurde als durch die Dauer der Abwesenheit
Hypothese, dass im Verlauf der jüngeren Evolution des leiblichen Vaters. Ein zweiter, im Tierexperiment nicht
väterliche Fürsorge ein relativ verlässlicher Indikator so gut belegter möglicher Mechanismus ist die Hemmung
für die künftige reproduktionsrelevante Umwelt der der weiblichen biologischen Reifung durch Geruchsstoffe
Kinder sei, da sie von Generation zu Generation relativ des eigenen Vaters. So fanden Ellis et al. (1999), dass bei
stabil gewesen sei. Väterliche Fürsorge eigne sich also Mädchen, die bis zur Pubertät mit ihrem leiblichen Vater
als Bedingung für eine konditionale Entwicklungs- zusammenlebten, diejenigen eher in die Pubertät kamen,
strategie: Kinder entwickelten sich bei starker um die sich ihr Vater bis zum Alter von 5 Jahren weniger
väterlicher Fürsorge in Richtung starker elterlicher gekümmert hatte.
Investition und geringen Paarungsaufwandes. Bei Eine weitere mögliche biologische Erklärung ist, dass die
wahrgenommener Vaterabwesenheit oder geringer beobachteten Unterschiede bei Vätern und ihren T öchtern
väterlicher Fürsorge hingegen entwickelten sie sich in durch dieselben Gene bedingt sind. Genetische Unter-
Richtung starken Paarungsaufwandes und geringer schiede zwischen Vätern wären nach dieser Hypothese
elterlicher Investition. verantwortlich für ihr unterschiedliches Fürsorgeverhal-
Deshalb sollten Töchter von Vätern, die sich gar ten, und dieselben Gene (die die Väter in der Hälfte der Fälle
nicht oder wenig um sie in der Kindheit kümmern, an ihre Töchter weitergeben) wären für die unterschiedli-
früher in die Pubertät kommen, eher den ersten che Entwicklung der Töchter verantwortlich. Gegen diese
Geschlechtsverkehr haben, weniger stabile genetische Hypothese spricht allerdings, dass Mädchen, die
Partnerschaften haben und selber weniger in ihre eine Trennung vom Vater im Alter von ca. 5 Jahren erleb-
Kinder investieren als Töchter fürsorglicher Väter. ten und dann bis zur Pubertät nur mit der Mutter zusam-
menlebten, beim Vergleich mit einer leiblichen Schwester,
die diese Trennung im Alter von ca. 12 Jahren erlebte, in
einem früheren Alter in die Pubertät kamen als die ältere
Diese Vorhersagen lassen sich empirisch weitgehend bestä- Schwester, wobei der Unterschied besonders groß war, wenn
tigen (Ellis, 2004), insbesondere die Vorhersage für das Ein- der Vater besonders wenig in die Familie investiert hatte
setzen der Regelblutung. So fanden Ellis, McFayden-Ket- (ein sogenanntes Kontrollgeschwisterdesign; Tither & Ellis,
chum, Dodge, Pettit und Bates (1999) in einer Längsschnitt- 2008). Dieser Befund lässt sich weder genetisch noch durch
studie einen deutlichen Zusammenhang zwischen der beob- Umweltmerkmale erklären, die Geschwister teilen (z. B.
achteten positiven Qualität der Vater-Tochter-Beziehung soziale Schicht oder Bildung der Eltern).
im Alter von 4–5 Jahren und dem Alter der Tochter bei der
ersten Regelblutung. Dieser Zusammenhang war deutlich > Das weibliche Reproduktionsverhalten wird durch
stärker als der für die negative Qualität der Vater-Tochter- die Fürsorge des Vaters in der Kindheit mitbestimmt.
Beziehung und der für die positive und die negative Qualität Diskutiert werden als proximater Mechanismus
der Mutter-Tochter-Beziehung. Dass die Qualität der Bezie- Geruchsstoffe des Vaters bzw. nichtverwandter
hung zum Vater mehr Vorhersagewert hat als die Qualität Männer in der Familie während der Kindheit der
der Beziehung zur Mutter, ist evolutionspsychologisch zu Töchter.
erwarten, da die mütterliche Fürsorge weniger stark vari-
iert und deshalb nicht gut als Indikator für die künftig zu Methodisch steht und fällt die evolutionspsychologische
erwartende Umwelt genutzt werden kann. Neberich, Penke, Analyse mit der Qualität der Begründung dafür, dass ein
Lehnart und Asendorpf (2010) konnten bei jungen deut- bestimmter psychologischer Mechanismus ein EPM sein
schen Frauen die erwartete Sequenz wenig väterliche Für- könnte. Derartige Begründungen sind nicht unproble-
sorge → frühe Regelblutung → früher erster Geschlechtsver- matisch, da die Annahmen über die Umwelt in unserer
kehr → hohe Soziosexualität bestätigen. evolutionären Vergangenheit oft sehr spekulativ sind
Ellis et al. (1999) diskutierten verschiedene proxi- und deshalb die Gefahr von Scheinerklärungen besteht
mate Mechanismen, die der vermuteten konditionalen (Umweltbedingungen werden so angenommen, dass
2.6 · Evolutionspsychologisches Paradigma
77 2
sie den interessierenden Mechanismus erklären). Hier konnte, z. B. was die Merkmale aktiv, dominant, aggressiv,
besteht eine Analogie zu psychoanalytischen Erklärungen ängstlich, neugierig, gesellig, ausdauernd und intelligent
durch Annahme passender Abwehrmechanismen (vgl. anging. Auch die Vorhersagbarkeit tatsächlichen Verhal-
7 Abschn. 1.2.2). Auch dürfte es in absehbarer Zeit noch tens durch die eingeschätzte Persönlichkeit brauchte den
nicht möglich sein, die genetische Steuerung von EPMs im Vergleich mit Humanstudien nicht zu scheuen. Der oft
Detail nachzuweisen. vorgebrachte Einwand, dass derartige Ergebnisse ledig-
Deshalb muss in evolutionspsychologischen Erklä- lich in den Köpfen der Beobachter existieren und mit der
rungen möglichst gut begründet werden, dass ein EPM zu Realität des Tierverhaltens wenig zu tun haben („Anth-
einem wichtigen adaptiven Problem so genau passt wie ein ropomorphisierung“ des Tierverhaltens) trifft sicherlich
Schlüssel in ein Schloss. Hierbei ist es überzeugender, von ein methodisches Problem von Tierverhaltensstudien,
einem bekannten Schloss auf die Form des Schlüssels zu sollte aber nicht überbewertet werden. So fanden z. B.
schließen (ausgehend von einem adaptiven Problem werden Uher und Asendorpf (2008) bei Menschenaffen im Leip-
mögliche EPMs gesucht), als umgekehrt zu prüfen, ob etwas ziger Zoo gute Übereinstimmungen zwischen direkten
ein Schlüssel für ein noch unbekanntes Schloss sein könnte Verhaltensbeobachtungen und Persönlichkeitsbeurtei-
(ausgehend von einem psychologischen Mechanismus lungen durch die Pfleger und hohe zeitliche Stabilitäten
wird ein adaptives Problem gesucht, das dieser Mechanis- sowohl für die beobachteten als auch für die beurteilten
mus lösen könnte). Immerhin wurden von Evolutionsbio- Persönlichkeitseigenschaften.
logen Kriterien dafür entwickelt, wann etwas ein Schlüssel
sein könnte, d. h. welche Merkmale dafür sprechen, dass ein > Persönlichkeitsunterschiede von Tieren lassen sich
physiologischer oder psychologischer Mechanismus durch mit guter Übereinstimmung zwischen Beobachtern
natürliche Selektion entstanden ist: Ökonomie, Effizienz, beschreiben und sagen beobachtetes Verhalten gut
Komplexität, Präzision, Spezialisierung und Zuverlässig- vorher. Die Beschreibungen reflektieren durchaus
keit (Williams, 1966). Unterschiede im realen Verhalten, auch wenn
Förderlich für den Nachweis eines EPMs ist es auch, sie nicht frei von Tendenzen zur Anthropomor-
wenn homologe Mechanismen bei unseren näheren Art- phisierung sind.
verwandten gefunden werden, insbesondere bei Menschen-
affen (Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Orang-Utans) und Solche Analogien zwischen Persönlichkeitsunterschieden
anderen Primaten (z. B. Rhesus-Affen). „Homolog“ bedeu- bei Mensch und Tier legen zwar Homologien nahe, können
tet dabei mehr als nur „ähnlich“ oder „analog“; gemeint ist, sie aber nicht belegen. Es gibt z. B. bei zahlreichen Säugetier-
dass die Ähnlichkeit auf der Tatsache beruht, dass Menschen arten (Mäuse, Kühe, Schweine u. a.) einen Zusammenhang
und die jeweilige Affenart einen gemeinsamen Vorfahren zwischen dem Grad, mit dem die Jungtiere dem Geruch
mit diesem Merkmal hatten. Bei psychologischen Mecha- nichtverwandter, erwachsener männlicher Tiere ausgesetzt
nismen ist dies schwerer zu begründen als bei vielen körper- sind, und frühzeitiger Geschlechtsreifung (Ziegler & Ber-
lichen Merkmalen, weil die Homologie nie direkt anhand covitch, 1990). Trotzdem könnten die Zusammenhänge bei
fossiler Überreste, sondern nur indirekt belegt werden kann, Menschen auf anderen Mechanismen beruhen.
in fernerer Zukunft wohl v. a. durch den Nachweis, dass der
psychologische Mechanismus bei den verglichenen Arten
auf der Funktion derselben Gene beruht. Heutzutage muss Unter der Lupe
man deshalb mit dem Nachweis zufrieden sein, dass ein psy-
chologischer Mechanismus sich in ähnlicher Form bei mög- Anforderungen an einen EPM
lichst vielen verwandten Arten zeigt. Notwendig ist dieser Der evolutionspsychologische Nachweis eines EPM
Nachweis jedoch für EPMs beim Menschen nicht, weil es erfordert: Angabe des gelösten adaptiven Problems
artspezifische EPMs bei Menschen, aber auch bei Affen, in unserer evolutionären Vergangenheit; Angabe des
geben kann. proximaten psychologischen Mechanismus, der dies
Dennoch ist die Suche nach Analogien von Persön- leistete; Plausibilität der genetischen Fixiertheit dieses
lichkeitsunterschieden zwischen Arten insofern ins- Mechanismus; Bereichsspezifität des Mechanismus;
truktiv, als sie zu Hypothesen für Homologien in den Erfüllung der allgemeinen Anforderungen an ein
zugrunde liegenden Mechanismen führen kann. Gosling adaptives Design: Ökonomie, Effizienz, Komplexität,
(2001) sichtete 187 Studien zu Persönlichkeitsunterschie- Präzision, Spezialisierung und Zuverlässigkeit.
den innerhalb von 54 Tierarten, von Schimpansen bis zu Förderlich, wenn auch nicht notwendig, ist der
Tintenfischen. Die Persönlichkeitsunterschiede zeigten Nachweis homologer EPMs bei Artverwandten,
dabei eine Beobachterübereinstimmung, die durch- insbesondere Menschenaffen und anderen Primaten.
aus mit Beobachtungsstudien an Menschen mithalten
78 Kapitel 2 · Sechs Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie
Nicht nachgewiesen werden muss die Ökonomie, Effizienz ausschließlich deren Verhalten bestimmt haben, gibt es
usw. eines EPM unter heutigen Umweltbedingungen, denn zumindest beim Menschen zusätzlich bereichsübergrei-
diese sind bestenfalls relevant für EPMs unserer Nachkom- fende Mechanismen. Hierzu gehört z. B. die Fähigkeit zu
2 men. Ganz im Gegenteil führen evolutionspsychologische reflektivem Denken und Handeln nach bereichsunspezi-
Erklärungen gerade dann über die sonst üblichen Opti- fischen Prinzipien (vgl. 7 Abschn. 2.2.3), deren Existenz
malitätsüberlegungen in der Psychologie hinaus, wenn die durchaus evolutionär verständlich ist. Starke Umwelt-
Fitness eines EPM in vergangenen Umwelten höher war als schwankungen, wie sie in der jüngeren evolutionären
in heutigen Umwelten. Es gibt z. B. einen gut belegten EPM Geschichte von Homo sapiens verbreitet waren (Potts,
für die Präferenz fetter und süßer Speisen (Rozin & Kalat, 1998), sollten z. B. die Evolution bereichsunabhängiger
1971). Dieser EPM war äußerst nützlich für das Überleben Mechanismen begünstigt haben. Da es sich um eher junge
unserer evolutionären Vorfahren, führt aber zu einem Ess- evolutionäre Errungenschaften handelt, sollten Unter-
verhalten, das dem heutigen Lebensstil in westlichen Kul- schiede innerhalb der Art hierin besonders ausgeprägt
turen, insbesondere dem Mangel an körperlichen Anfor- sein, z. B. Unterschiede in der allgemeinen Intelligenz
derungen, schlecht angepasst ist. Dass dieses Essverhalten (Parker & McKinney, 1999).
dennoch so verbreitet und nur schwer änderbar ist, erklärt
gut die evolutionspsychologische Analyse. ? Fragen
Das evolutionspsychologische Paradigma der Persön- 2.38 Was wird unter einem EPM verstanden und
lichkeitspsychologie verleiht menschlichen individuellen welchen Kriterien sollte er genügen? Beispiel
Besonderheiten eine Tiefendimension, die Chancen und für einen EPM? (→ bereichsspezifischer,
Risiken in sich birgt. Die Chancen bestehen in der Möglich- genetisch fixierter Informationsverarbei-
keit, das evolutionsbiologische Wissen über die Bedeutung tungsmechanismus; s. Kasten „Methodik“;
innerartlicher Unterschiede für die Persönlichkeitspsycho- Schlangenangst)
logie zu nutzen und psychologiespezifisch auszubauen, um 2.39 Warum sollten wir genetisch Verwandten
so die vorhandenen Unterschiede nicht nur als Produkte der helfen, welcher EPM könnte verantwortlich sein,
individuellen Lebensgeschichte, sondern auch als Produkte warum wird Verwandten väterlicherseits meist
der Geschichte unserer Art besser zu verstehen. Die Fragen weniger geholfen als Verwandten mütterli-
nach dem ultimaten Nutzen unterschiedlicher Persönlich- cherseits? (→ inklusive Fitness, Vertrautheit-Nä-
keitsvarianten und nach den vermittelnden proximaten Pro- he-Hilfe, Vaterschaftsunsicherheit)
zessen stellen neue Anforderungen auch an vorhandene per- 2.40 Welches Geschlechterverhältnis besteht
sönlichkeitspsychologische Konstrukte, da ihre alltagspsy- kurz nach der Pubertät und warum? (→ 1:1;
chologische Ableitung oder die Einräumung eines Stellen- Erklärung durch frequenzabhängige Selektion
werts in Informationsverarbeitungsmodellen nicht mehr ausführen)
als ausreichend empfunden wird. Nicht zuletzt könnte die 2.41 Wie können Unterschiede in der Soziosexualität
Strategie, nach alternativen Lösungen eines adaptiven Pro- innerhalb der Geschlechter evolutionär
blems der Vergangenheit zu suchen und sie in Form beob- erklärt werden? (→ Erklärung durch frequenz-
achtbarer Persönlichkeitsunterschiede zu identifizieren, zu abhängige Selektion bei Frauen ausführen)
überraschenden neuen Persönlichkeitskonstrukten führen, 2.42 Wie kann der Zusammenhang zwischen
die bisher weder alltagspsychologisch noch kognitionspsy- Vaterabwesenheit und Pubertätszeitpunkt
chologisch beachtet wurden. bei Mädchen erklärt werden und wie nicht?
Die Risiken bestehen in der schlechten empirischen (→ konditionale Entwicklungsstrategie
Testbarkeit evolutionspsychologischer Annahmen und beruhend auf Geruch-EPMs; nicht: gemeinsame
Interpretationen. Da neutrale oder nichtadaptive Persön- Gene von Vater und Tochter)
lichkeitsvarianten evolutionspsychologisch wenig herge- 2.43 Lassen sich Persönlichkeitsunterschiede bei
ben, besteht die Gefahr, dass Persönlichkeitsvarianten adap- Tieren gut beobachten? Inwiefern sind sie
tive Erfolgsgeschichten zugeschrieben werden, die sie gar informativ für evolutionspsychologische
nicht haben. Die Suche nach solchen Erfolgsgeschichten ist Erklärungen? (→ Beobachterübereinstimmung
zweifellos intellektuell reizvoll, dürfte aber des Öfteren zu und Verhaltensvorhersage gut; Analogien legen
Scheinerklärungen führen. Homologien nahe, Analogien sind aber nicht
Kritikwürdig ist auch die derzeitige Einengung notwendig für Evolviertheit)
des EPM-Konzepts in der Evolutionspsychologie auf 2.44 Zwei Probleme des evolutionspsychologischen
bereichsspezifische Mechanismen der Informations- Paradigmas? (→ empirisch nur schwer prüfbar;
verarbeitung. Obwohl diese sicherlich gerade bei Annahme, dass EPMs nur bereichsspezifisch
unseren evolutionären Vorfahren ganz wesentlich oder sind, ist problematisch)
2.7 · Gesamtüberblick
79 2
Mehr lesen noch einmal zusammen, indem die Hauptlinien der Para-
digmengeschichte der heutigen empirischen Persönlich-
Buss, D.M. (2016). Evolutionary psychology (5th ed.). keitspsychologie in ihrem Gesamtzusammenhang skiz-
London: Routledge. ziert werden. Oben in der Abbildung ist zu jedem Para-
digma diejenige wissenschaftliche Disziplin innerhalb oder
außerhalb der Psychologie angegeben, die das Paradigma
primär beeinflusst und deshalb meist auch als Namensge-
2.7 Gesamtüberblick ber fungiert.
Das Verhältnis der sechs Paradigmen, die die heutige
Die drei zuletzt geschilderten Paradigmen sind stark biolo- empirische Persönlichkeitspsychologie beherrschen, beleuch-
gisch orientiert, was einem aktuellen Trend in der Psycho- tet schlaglichtartig (in Fortführung von 7 Abschn. 2.3.1) das
logie insgesamt entspricht. . Abb. 2.24 fasst dieses Kapitel folgende Bonmot:
Methodik
ganz“ auf einer graduell abgestuften Antwortskala abge- 3.2.2 Verteilung von Eigenschaftswerten
fragt wird:
1=gar nicht – 2=eher nicht – 3=unentschieden – 4=eher Haben wir die Ausprägung einer bestimmten Persönlich-
ja – 5=voll und ganz. keitseigenschaft bei vielen Personen auf einer Intervall- oder
Solche 5-Punkte-Skalen der Zustimmung werden auch als Rationalskala gemessen, so können wir die Ergebnisse durch
Likert-Skalen bezeichnet nach dem Statistiker Rensis Likert. eine Eigenschaftsvariable beschreiben, die jeder Person
3 Angenommen wird dabei, dass es sich um eine Intervall- einen Eigenschaftswert zuweist, der die Ausprägung der
skala handelt, sodass z. B. der Unterschied zwischen „eher Eigenschaft bei dieser Person quantitativ beschreibt. Führen
ja“ und „eher nicht“ genauso groß ist wie der zwischen „un- wir z. B. einen Intelligenztest bei 100 Personen durch, wird
entschieden“ und „gar nicht“, weil er der gleichen Zahlen- das Ergebnis durch eine Intelligenzvariable beschrieben, die
differenz 2 entspricht. jeder getesteten Person einen Intelligenzwert zuweist. Zur
Vereinfachung wird oft statt von Eigenschaftsvariablen auch
Oft wird nicht die Zustimmung zu Aussagen abgefragt, einfach von Eigenschaften gesprochen.
sondern die Häufigkeit des Erlebens oder Verhaltens. In
diesem Fall können auch Zahlenverhältnisse (Proportio- > Unter einer Eigenschaft wird je nach Kontext
nen) psychologisch interpretiert werden. Wenn z. B. Fritz etwas völlig Unterschiedliches verstanden:
8-mal im Monat schlecht schläft und Susi 4-mal, so ist das der Eigenschaftswert einer Person oder eine
Verhältnis von 8:4 interpretierbar als „Fritz schläft doppelt Eigenschaftsvariable.
so schlecht wie Susi“. Man spricht in solchen Fällen von Ver-
hältnisskalen oder auch Rationalskalen (von lat. „ratio“: Intervall- und rationalskalierte Eigenschaftsvariablen lassen
Verhältnis). sich durch ihre Verteilung grafisch darstellen, indem auf
der X-Achse die möglichen Werte der Variable, z. B. die
> Bei Rationalskalen sind Multiplikationen, Likert-skalierten Werte 1–2–3–4–5, und auf der Y-Achse
Divisionen, Differenz- und Summenbildung der die Häufigkeit der gemessenen Eigenschaftswerte in einer
Messwerte sinnvoll psychologisch interpretierbar, bestimmten Stichprobe von Personen angegeben werden.
bei Intervallskalen nur Differenz- und Oft findet man eine Verteilung in Form einer „Glocken-
Summenbildung, bei Ordinalskalen keine dieser vier kurve“ (Normalverteilung), aber Verteilungen können auch
Rechenoperationen. schief sein (vgl. . Abb. 3.1). Beide Verteilungen beruhen auf
echten Daten. Bei der Verteilung von Extraversion handelte
Abgesehen von Häufigkeitsskalen oder anderen Rational- es sich um Selbstbeurteilungen von 1 000 britischen Sol-
skalen mit einem klaren Nullpunkt wie z. B. Reaktionsge- daten in Fragebögen (Eysenck, 1947), bei der Verteilung von
schwindigkeit (Millisekunden ms), Körpergröße (cm) oder Aggressivität um den pro Kind beobachteten Prozentanteil
Körpergewicht (kg) erfolgt die Messung von Persönlich- aggressiver Kontaktaufnahmen unter allen Kontaktaufnah-
keitseigenschaften meist mit Intervallskalen, seltener mit men beim Freispiel in der Kindergartengruppe (Asendorpf,
Ordinalskalen. Denissen & van Aken, 2008).
. Abb. 3.2 Veränderung einer Verteilung bei Addieren einer Konstanten (a) und Multiplikation mit einer Konstanten (b)
3.2 · Messung von Eigenschaften
87 3
solche Vorhersage möglich ist. Sie ist negativ, wenn über-
durchschnittliche Werte in der einen Variable unterdurch- 2
[ z ( X ) − z ( Y )]
schnittlichen Werten der anderen entsprechen. i ( X,Y ) = 1 −
2
Methodik Die halbe quadrierte Differenz ist ein Maß der
Korrelation Unähnlichkeit, die individuelle Konsistenz also ein
Der lineare Zusammenhang zwischen zwei intervall- Maß der Ähnlichkeit. Diese Sichtweise macht deutlich,
oder rationalskalierten Variablen X,Y wird durch dass die Korrelation als Mittelwert der individuellen
ihre Korrelation r beschrieben, die zwischen –1 und Ähnlichkeiten interpretiert werden kann.
1 variieren kann. r ist umso positiver, je enger der
lineare Zusammenhang zwischen X und Y ist. Es ist
r = 1 genau dann, wenn die z-Werte aller Personen Korrelationen beschreiben nur lineare Zusammenhänge:
identisch sind, ob Wertedifferenzen in der einen Variable Wertedifferenzen
r = 0, wenn kein linearer Zusammenhang zwischen X in der anderen entsprechen. Nichtlineare Zusammenhänge
und Y besteht, werden durch sie nicht erfasst. Wenn z. B. z(Y) = z(X)² gilt
r = –1, wenn die beiden z-Werte sich nur im (quadratischer Zusammenhang zwischen den z-Werten von
Vorzeichen unterscheiden. X und Y), ist die Korrelation zwischen X und Y exakt Null!
r wird berechnet, indem für jede Person der z-Wert Deshalb lässt sich aus Nullkorrelationen nicht schließen,
in X mit dem in Y multipliziert wird; der Mittelwert dass es keinen Zusammenhang zwischen den beiden kor-
dieser z-Wert-Produkte über alle n Personen ist die relierten Variablen gibt.
Korrelation r (in Stichproben wird wie bei der Varianz Daher sollte vor der Berechnung der Korrelation zwi-
durch n-1 geteilt): schen zwei Variablen immer erst einmal das Korrelations-
∑ [ z ( X ) × z (Y)]
diagramm angesehen werden: Wird dort tatsächlich ein
r= linearer Zusammenhang sichtbar oder handelt es sich um
n einen nichtlinearen Zusammenhang oder einen nur schein-
Den Zusammenhang von zwei ordinalskalierten baren Zusammenhang aufgrund eines oder weniger Ausrei-
Variablen kann man messen, indem man die ßerwerte in den verglichenen Variablen? Ein einziger starker
Rangplätze korreliert, auch Spearman-Korrelation ρ Ausreißer kann eine Korrelation selbst bei Stichproben von
(griech. „rho“) genannt. 100 Personen deutlich verzerren, nämlich zu groß oder zu
klein machen.
Grafisch kann man eine Korrelation durch ein Korrelations- > Vor der Berechnung von Korrelationen sollte das
diagramm beschreiben, in dem die beiden Variablen die Korrelationsdiagramm angesehen werden.
Achsen X und Y und die Personen die Punkte darstellen;
die Werte einer Person sind dann die X- bzw. Y-Koordinate Mithilfe von Korrelationen kann empirisch geprüft werden,
(. Abb. 3.3). ob Eigenschaften tatsächlich zeitstabil sind, indem die ent-
sprechende Eigenschaftsvariable zweimal bei denselben Per-
sonen gemessen wird und die beiden Messungen (an jeweils
Methodik vielen Personen) korreliert werden. Ganz analog lässt sich
Individuelle Konsistenz die transsituative Konsistenz durch Korrelation zwischen
Die Produkte der z-Werte in der Formel der Korrelation Situationen und die Reaktionskohärenz durch Korrelation
sind inhaltlich nicht einfach interpretierbar. Anders ist zwischen Reaktionen quantifizieren.
es bei der wenig bekannten, äquivalenten Darstellung Bei der zeitlichen Stabilität werden an Eigenschafts-
einer Korrelation als mittlere individuelle Konsistenz messungen hohe Anforderungen gestellt, denn Eigenschaf-
i(X,Y) (Asendorpf, 1991a), wobei die individuelle ten sollen ja per Definition zeitstabil sein, jedenfalls über
Konsistenz bestimmt wird, indem die quadrierte kürzere Zeiträume (Tage, Wochen; vgl. 7 Abschn. 1.2.3).
Differenz der z-Werte einer Person in X und Y gebildet, Bei Leistungstests (z. B. Intelligenztests) wird meist eine
halbiert und dann von 1 abgezogen wird: Stabilität über wenige Wochen von .90 oder höher gefor-
∑ i ( X,Y )
dert, bei Eigenschaftsbeurteilungen in Fragebögen .80.
r= Bei Fragebogenuntersuchungen wird eine niedrigere Sta-
n bilität als bei Leistungstests gefordert, da die Beurtei-
lungen fehleranfälliger sind als gute Leistungstests. Bei
88 Kapitel 3 · Methodik
. Abb. 3.3 Typische Fälle von Korrelationsdiagrammen. (a) Hohe positive Korrelation, (b) hohe negative Korrelation, (c) mittelstark positive
Korrelation, (d) Nullkorrelation
. Tab. 3.1 Korrelation unehrlichen Verhaltens innerhalb und zwischen Situationen in der Studie von Hartshorne und May (1928)
Situation 1 2 3 4 5 6 7 8
. Tab. 3.2 Korrelationen physiologischer Variablen (a) über Personen nach Mittelung über Situationen (oberhalb der Diagonale) und
(b) über Situationen nach Mittelung über Personen (unterhalb der Diagonale). (Aus Stemmler, 2005)
Eine hohe Reliabilität ist eine notwendige Bedingung für die beiden Messungen eine gleichgroße Varianz haben.
eine hohe Validität, denn unzuverlässige Messungen können Das lässt sich z. B. durch z-Transformation immer errei-
wegen der vielen enthaltenen Fehler nicht gültig sein. Aber chen, ist also eher eine technische Voraussetzung. Unter
eine hohe Reliabilität garantiert nicht eine hohe Validität: dieser Bedingung sind die Fehlervarianzen und die Relia-
Es könnte ja auch etwas anderes gemessen worden sein als bilitäten beider Messungen gleich groß. Kritisch bleibt die
was gemessen werden sollte. Annahme unkorrelierter Fehler. . Abb. 3.4 macht deutlich,
3 Die empirische Bestimmung der Reliabilität von Eigen- dass der Ansatz der praktischen Reliabilitätsbestimmung
schaftsmessungen beruht auf der klassischen Testtheorie darin besteht, die Reliabilität durch die Korrelation „gleich-
(vgl. z. B. Eid, Gollwitzer & Schmitt, 2015). Danach lässt guter Messungen“ zu bestimmen (gleichgut, weil sie die-
sich jede beobachtete Eigenschaftsvariable zerlegen in zwei selbe Fehlervarianz haben). Wie üblich werden in . Abb. 3.4
latente (nicht beobachtbare) Variablen: die wahre Variable die wahre Variable mit einem Kreis und die beobachteten
(die die wahren Eigenschaftswerte angibt) und die Fehlerva- Variablen durch Rechtecke symbolisiert; die Pfeile symbo-
riable (die die Messfehler angibt, nämlich die Abweichungen lisieren, dass die beobachteten Variablen durch die wahre
der gemessenen Werte von den wahren Werten): Variable und die zugehörige Fehlervariable bestimmt sind.
Drei Arten der Reliabilitätsbestimmung lassen sich
> Eigenschaftsvariable = wahre Variable + unterscheiden (. Tab. 3.3).
Fehlervariable Bei der Retestreliabilität wird dasselbe Messverfahren
(dieselbe Persönlichkeitsskala, derselbe Test) in kürzerem
Unter der Annahme, dass die Fehlerwerte nicht mit den Abstand zweimal auf dieselben Personen angewendet und
wahren Werten korrelieren, lässt sich die obige Gleichung dann die Korrelation zwischen den beiden Messzeitpunk-
auch auf die Varianzen der Variablen anwenden: ten bestimmt. Dadurch kann die zentrale Annahme geprüft
werden, dass das Messverfahren überhaupt eine zeitstabile
> Beobachtete Varianz = wahre Varianz + Persönlichkeitseigenschaft der Personen erfasst. Es handelt
Fehlervarianz sich hier also um die Bestimmung der kurzfristigen Stabili-
tät der Eigenschaft.
Damit lässt sich die Reliabilität definieren als: Eigentlich ist die Retestreliabilität die beste Methode
der Reliabilitätsbestimmung für Persönlichkeitsmessun-
> Reliabilität = wahre Varianz / beobachtete Varianz gen, weil die Voraussetzung der zeitlichen Stabilität gleich
mitgeprüft wird. Allerdings ist das sehr aufwendig, weil alle
Die Reliabilität ist 1, wenn die wahre Varianz gleich der Personen zweimal gemessen werden müssen. Zudem gibt
beobachteten ist, d. h. die Fehlervarianz 0 ist. Die Reliabili- es das Problem, dass die erste Messung die zweite beein-
tät ist 0, wenn die wahre Varianz 0 ist, d. h. wenn die beob- flussen kann, z. B. weil ein Fragebogen mit nur wenigen
achtete Varianz nur aus Fehlern besteht. Fragen im Abstand von nur einem Tag ausgefüllt wird: Die
Soweit die Theorie. Das praktische Problem besteht Personen könnten sich an ihre Antworten beim ersten Mal
darin, die Reliabilität empirisch zu bestimmen. Da die erinnern und dazu neigen, wieder dieselben Antworten zu
wahre Varianz nicht bekannt ist, reicht dazu die obige Glei- geben. Deshalb sollte entweder der Abstand zwischen den
chung nicht aus. Betrachten wir die in . Abb. 3.4 gestrichelt beiden Messzeitpunkten ausreichend groß sein oder die Par-
gezeichnete Korrelation zwischen zwei Messungen dersel- alleltestreliabilität bestimmt werden. Bei diesem besonders
ben Eigenschaftsvariable in einer Stichprobe von Perso- aufwendigen Verfahren müssen zwei parallele Messme-
nen: Sie gibt dann die Reliabilität der Messungen an, wenn thoden (miteinander hoch korrelierende Messmethoden,
z. B. ein Intelligenztest Form A mit 20 Aufgaben und ein
zweiter, möglichst gut vergleichbarer Intelligenztest B mit 20
Messungen Messverfahren
Dasselbe Parallele
Wert eines Messwertes von 120 um den Wert 116 herum Das ist bereits oberhalb der von Mischel (1968) behaupte-
zentriert: 116 ist gegenüber 120 in Richtung Mittelwert ten „magischen Grenze“ von .30.
verschoben. Die doppelte Minderungskorrektur ist vor allem dann
In der Literatur wird das Konfidenzintervall für wahre nützlich, wenn Korrelationen miteinander verglichen
Werte oft verwechselt mit dem Erwartungsbereich für beob- werden sollen, die unterschiedlich stark durch Messfehler
achtete Werte bei Kenntnis des wahren Werts, was allenfalls gemindert sind. Wenn z. B. ein Test mit der Reliabilität .80
3 von theoretischem Interesse ist (vgl. z. B. 7 Abschn. 6.2.2). ein Kriterium zu .50 vorhersagt und ein anderes, scheinbar
Ist y der wahre Wert, so beträgt der 95%-Erwartungsbereich gleich gutes Kriterium nur zu .34, so entsteht ein Problem,
für die beobachteten Werte: da die zweite Vorhersage deutlich schlechter zu sein scheint.
Das könnte aber einfach nur daran liegen, dass das zweite
y ± 1, 96 × SD 1 − R Kriterium unreliabler ist. Beträgt z. B. die Reliabilität des
ersten Kriteriums .90 und die des zweiten Kriteriums .40,
Dieses Intervall berücksichtigt nicht die Regression zur so beträgt die „wahre“, doppelt minderungskorrigierte Kor-
Mitte und wird in vielen Lehrbüchern der Testtheorie und relation des Tests mit dem ersten Kriterium .59 und mit
Statistik ebenfalls als Konfidenzintervall bezeichnet. Das ist dem zweiten Test .60: Die unterschiedlichen Korrelationen
angemessen, wenn nicht das Konfidenzintervall für einen mit den beiden Kriterien beruhten ausschließlich auf deren
einzigen Wert (z. B. Testwert einer Person), sondern das unterschiedlicher Reliabilität. Nicht der Test wäre in diesem
Konfidenzintervall um einen geschätzten wahren Wert Fall das Problem, sondern das zweite Kriterium.
herum aufgrund einer Untersuchung an vielen Personen
interessiert. > Durch die doppelte Minderungskorrektur wird
die Minderung beobachteter Korrelationen
> Das Konfidenzintervall gibt an, wie stark der durch Messfehler beseitigt. Sie ist u. a. nützlich,
wahre Wert von einem gemessenen bzw. um Korrelationen miteinander zu vergleichen,
geschätzten wahren Wert abweichen kann; der die unterschiedlich stark durch Messfehler
Erwartungsbereich gibt an, wie stark Messungen beeinträchtigt sind.
vom wahren Wert abweichen können.
Ist die Reliabilität von zwei Messungen bekannt, so kann 3.2.5 Validität
man diese Information auch nutzen, um die Korrelation
der beiden Messungen für die Unreliabilität der Messungen Das zweite Gütekriterium von Eigenschaftsmessungen ist
zu korrigieren. Die Korrelation r von zwei Messungen kann ihre Validität (Gültigkeit). Messungen sind valide in dem
nämlich nicht größer als die Wurzel aus dem Produkt ihrer Maße, wie sie das messen, was sie zu messen vorgeben. Vier
Reliabilitäten R1, R2 sein: Validitätsaspekte lassen sich unterscheiden:
Vier Formen der Kriteriumsvalidität werden üblicherweise die diskriminanten. Das zeigt, dass das Selbstkonzept schon
unterschieden: bei Kindern der 2. Klasse deutlich bereichsspezifisch ist
55 Konkurrente Validität (lat. „concurrere“: zugleich (vgl. auch 7 Abschn. 4.6.2).
stattfinden) meint, dass Messung und Kriterium
gleichzeitig erhoben werden. > Die konvergente Validität einer Konstrukt-Ope-
55 Prädiktive Validität (lat. „praedicere“: vorhersagen) rationalisierung wird durch den Nachweis ihrer
3 meint, dass das Kriterium später als die Messung diskriminanten Validität noch verstärkt.
erhoben wird; die Messung soll also das Kriterium
vorhersagen. Eine wichtige Anwendung des Ansatzes der simultanen
55 Konvergente Validität (lat. „convergere“: sich konvergenten und diskriminanten Validierung schlugen
hinbewegen) meint, dass bei mehreren alternativen Campbell und Fiske (1959) vor. Es werden mehrere Eigen-
Kriterien, von denen aber nur bestimmte eine hohe schaften (engl.: „multiple traits“) betrachtet, die jeweils mit
Konstruktvalidität haben, die Messung hoch mit den mehreren, gleichen Methoden untersucht werden (engl.:
Kriterien hoher Validität korreliert. „multiple methods“). Korreliert man nun die einzelnen
55 Diskriminante Validität (lat. „discriminare“: unter- Messungen untereinander, entsteht eine Multitrait-Multi-
scheiden) meint, dass bei mehreren alternativen method-Matrix. Darin lassen sich vier Arten von Korrela-
Kriterien, von denen nur bestimmte eine hohe tionen unterscheiden:
Konstruktvalidität haben, die Messung niedrig mit 55 Monotrait-Monomethod-Korrelationen: Dies sind
den Kriterien niedriger Validität korreliert und hoch Korrelationen zwischen Messungen derselben Eigen-
mit den Kriterien hoher Validität. schaft mit derselben Methode, also die Reliabilität der
Messung.
Die Kriteriumsvalidierung durch den simultanen Nachweis 55 Monotrait-Heteromethod-Korrelationen: Dies
von konvergenter und diskriminanter Validität ist stärker als sind Korrelationen zwischen Messungen derselben
die Validierung anhand eines einzigen Kriteriums, weil so Eigenschaft mit unterschiedlichen Methoden, also die
die Spezifität von Messungen deutlich wird. Das sei hier am konvergenten Validitäten der Messungen.
Beispiel einer Studie von Asendorpf und van Aken (1993) 55 Heterotrait-Monomethod-Korrelationen: Dies sind
erläutert. Die Autoren untersuchten in einer Längsschnitt- Korrelationen zwischen unterschiedlichen Eigen-
studie das Selbstkonzept von 166 Kindern in der 2., 3. und schaften, gemessen mit derselben Methode (der erste
4. Klasse im kognitiven, sportlichen und sozialen Bereich. Fall der diskriminanten Validität der Messungen).
Um nachzuweisen, dass das Selbstkonzept bereichsspezi- 55 Heterotrait-Heteromethod-Korrelationen: Dies sind
fisch ausdifferenziert ist, also von den Erfahrungen in dem Korrelationen zwischen unterschiedlichen Eigen-
jeweiligen Bereich abhängt, wurde es in der 2. und 4. Klasse schaften, gemessen mit unterschiedlichen Methoden
für jeden Bereich mit 1–2 Kriterien korreliert. Wie . Tab. 3.5 (der zweite Fall der diskriminanten Validität der
zeigt, waren die konvergenten Validitäten deutlich höher als Messungen).
. Tab. 3.5 Korrelationen zwischen dem Selbstkonzept im kognitiven, sportlichen und sozialen Bereich und bereichsspezifischen
Kriterien in der Grundschule. (Nach Asendorpf & van Aken, 1993, Tab. 3 und 6)
Selbstkonzept in Klassenstufe
2 4
Die Genauigkeit der Fremdbeurteilung ist bereits beim Uns persönlich bekannte Menschen können wir unter-
ersten Eindruck (engl. auch „zero acquaintance“ genannt) schiedlich gut beurteilen und wir wissen ziemlich genau,
überzufällig, sowohl bezogen auf selbstbeurteilte Persön- wen wir besonders gut beurteilen können und wen nicht
lichkeitsmerkmale als auch auf getestete Intelligenz (7 Unter (Biesanz et al., 2011). Gut beurteilbare Personen sind eher
der Lupe). konsistent in ihrem Verhalten über die Zeit und Situatio-
nen und weisen eher sozial erwünschte Eigenschaften auf
3 (Human & Biesanz, 2013).
Unter der Lupe Was die beurteilte Eigenschaft angeht, spielt deren Beob-
achtbarkeit eine wichtige Rolle (Funder & Dobroth, 1987).
Persönlichkeitsbeurteilung bei null Bekanntschaft Ob jemand viel redet oder pünktlich zu Verabredungen
Borkenau, Mauer, Riemann, Spinath und Angleitner kommt, ist für andere leicht einzuschätzen; welche Ängste
(2004) filmten 600 Personen in 15 Situationen oder Alpträume jemand hat, wissen bestenfalls sehr nahe-
und zeigten die entsprechenden Videos stehende Personen wie Eltern, Partner oder gute Freunde.
Beurteilergruppen. Die fünf Hauptfaktoren der Immerhin fanden Simms, Zelazny, Yam und Gros (2010)
Persönlichkeit (Big Five; vgl. 7 Abschn. 3.3) wurden für den schlecht beobachtbaren Neurotizismus einen
von den Personen und einem ihrer Bekannten Anstieg der Selbst-Bekannten-Übereinstimmung von .27
beurteilt (mittlere Übereinstimmung r = .45). bei weniger als 1 Jahr Bekanntschaft auf .46 bei mehr als 1
Urteiler, die die Personen nicht kannten, sollten Jahr Bekanntschaft.
aufgrund der 15 Videos (Länge 1–12 min) die Big Wichtig ist auch, wie alltagsnah und beobachtbar die zu
Five und die Intelligenz der gesehenen Person beurteilende Eigenschaft ist. Urteile über alltagsnahe Eigen-
beurteilen; jeder Urteiler sah nur 1 Situation einer schaften, also solche, die in der Alltagspsychologie häufig
Person. Selbst bei nur 1 Situation pro Person verwendet werden, werden von den Urteilern vermutlich
korrelierten die Persönlichkeitsurteile .13 mit dem immer wieder spontan generiert. Wie gesellig, gewissen-
Selbsturteil und .14 mit dem Bekanntenurteil; nach haft, ängstlich, aggressiv oder intelligent man selbst ist oder
Aggregation über die 15 Situationen erhöhte sich die Bekannte sind – für solche Einschätzungen gibt es immer
Genauigkeit des ersten Eindrucks auf .22 bzw. .24. wieder alltägliche Anlässe. Ein Urteil hierüber besteht
Die entsprechenden Korrelationen der beurteilten schon, bevor danach im Rahmen einer psychologischen
Intelligenz mit einem IQ-Test waren noch deutlich Untersuchung gefragt wird; es muss nur abgerufen werden.
höher (.33 für 1 Situation, .53 nach Aggregation über Anders ist es, wenn Laien aufgefordert werden, Eigen-
15 Situationen). Die Beurteiler konnten also valide schaften zu beurteilen, über die sie sich im Alltag kaum
Hinweisreize aus den Videos für ihr Urteil nutzen. Gedanken machen, z. B. „heilkundig“ oder „hitzeemp-
Die Genauigkeit des Urteils stieg von 1 Situation findlich“. In diesem Fall müssen sich die Urteiler mühsam
hin zu 6 aggregierten Situationen deutlich an an Situationen erinnern, in denen das betreffende Verhal-
und stabilisierte sich dann – ähnlich wie man ten auftrat. Oft werden sie dies jedoch gar nicht erst ver-
es bei parallelen Tests aufgrund der Spearman- suchen, sondern die Eigenschaft aus „ähnlichen“, besser
Brown-Formel erwarten sollte (vgl. . Abb. 3.5 wahrnehmbaren Eigenschaften abzuleiten versuchen, z. B.
in 7 Abschn. 3.2.4). Diese Studie zeigt, wie „hitzeempfindlich“ aus „kritikempfindlich“. Die wahrge-
Urteiler zu einem bereits recht validen Persönlich- nommene Ähnlichkeit der Eigenschaft kann aber auf einer
keitsurteil kommen können, wenn sie die unzuverlässigen Verallgemeinerung beruhen; z. B. könnte
beurteilte Person in mehreren unterschiedlichen „hitzeempfindlich“ nichts mit „kritikempfindlich“ zu tun
Situationen beobachten – auch wenn die haben. Dann ist das Urteil über „hitzeempfindlich“ invalide.
Validität ihres Urteils bei den Big Five noch Die Urteilerübereinstimmung ist deshalb bei alltagsnahen
deutlich unter der Validität von Urteilen von Eigenschaften besser als bei alltagsfernen.
Bekannten lag. Die Beurteilungsqualität hängt natürlich davon ab,
wie lange und aus welchen Situationen die Urteiler die zu
beurteilende Person kennen (Informiertheit der Beurtei-
ler). Die für eine gute Beurteilung notwendige Dauer der
Generell beruht die Genauigkeit der Eigenschaftsbeurtei- Bekanntschaft mit der zu beurteilenden Person lässt sich
lung auf vier Faktoren (Funder, 2012): nicht allgemein angeben, sondern hängt wesentlich von
55 beurteilte Personen, der Art der beurteilten Eigenschaft ab. Extraversion oder
55 beurteilte Eigenschaft, verbale Intelligenz z. B. lassen sich schon nach 90 Sekunden
55 Informiertheit der Urteiler, besser als der Zufall beurteilen, Liebenswürdigkeit dagegen
55 Urteiler. noch nicht (Borkenau & Liebler, 1993). Wie die Studie von
3.2 · Messung von Eigenschaften
99 3
Borkenau et al. (2004) und andere Studien zeigen, nimmt die Sie färben das Urteil über andere Eigenschaften. Wer schön
Korrelation zwischen Selbst- und Bekanntenbeurteilungen ist, wird eher für intelligent gehalten, wer aggressiv ist, eher
mit zunehmender Informiertheit deutlich zu. für wenig ängstlich. Dieser Halo-Effekt kann Scheinkorre-
Zudem hängt das Ergebnis wesentlich davon ab, aus lationen zwischen Eigenschaften hervorrufen, also Korre-
welchen Situationen die Urteiler die zu beurteilende Person lationen, die durch das tatsächliche Verhalten der Beurteil-
kennen. Arbeitskollegen wissen wenig über das Verhalten ten nicht gerechtfertigt sind. Ein Halo-Effekt kann nicht
der Kollegen zu Hause, Eltern wissen wenig über das Ver- nur bei der Beurteilung anderer, sondern auch bei Selbst-
halten ihrer Kinder im Kindergarten. Urteile können zwar beurteilungen auftreten, wenn eine im Selbstkonzept (vgl.
durch Kommunikation wechselseitig beeinflusst werden 7 Abschn. 4.6.1) zentral verankerte Eigenschaft das Urteil
(z. B. zwischen Ehepartnern oder zwischen Eltern und über andere eigene Eigenschaften beeinflusst.
Lehrern), aber der Einfluss der unmittelbaren Beobachtung Ein oft zitiertes Beispiel für einen Halo-Effekt ist eine
des Verhaltens dürfte meist stärker sein. überhöhte Korrelation zwischen Schönheit und Intelli-
Deshalb korrelieren die Urteile von Beurteilern, die die genz. Im Mittel über viele Studien wurde eine Korrelation
zu beurteilende Person aus ähnlichen Situationen kennen, von –.04 zwischen fremdeingeschätzter physischer Attrakti-
im Allgemeinen höher miteinander als mit Urteilen von vität und getestetem IQ gefunden (Feingold, 1992a). Schön-
Beurteilern, die dieselbe Person aus unterschiedlichen Situ- heit und Intelligenz hängen also de facto nicht zusammen.
ationen kennen. Zum Beispiel fanden Achenbach, McCo- Aber wenn physische Attraktivität und IQ aufgrund dessel-
naughy und Howell (1987) in einer Analyse von 119 Studien ben Fotos eingeschätzt wurden, ergab sich eine Korrelation
zu Verhaltensproblemen bei Kindern und Jugendlichen eine von .15 zwischen Attraktivität und IQ – ein leicht positi-
mittlere Korrelation zwischen den Urteilen von Mutter und ver Zusammenhang, der auf einen Halo-Effekt zurückgeht.
Vater von .59, eine ähnlich hohe mittlere Korrelation zwi- Die differenzielle Extremitätstendenz bezieht sich auf
schen den Urteilen verschiedener Lehrer desselben Kindes die von Urteiler zu Urteiler variierende Tendenz, auf mehr-
von .64, aber eine mittlere Korrelation zwischen den Urtei- stufigen Antwortskalen Extremwerte anzugeben. Manche
len von Eltern und Lehrern über dasselbe Kind von nur .27. Urteiler scheuen sich davor, sich klar festzulegen, und
Diese Differenz geht vor allem auf eine transsituative Inkon- halten sich deshalb lieber im Mittelfeld der Antwortskala
sistenz des Verhaltens der Kinder zurück. auf, andere neigen zur Dramatisierung individueller Beson-
Seit langem wird die Frage zu beantworten versucht, derheiten und vergeben deshalb oft Extremwerte. Gibt es für
wer besonders gut in der Beurteilung der Persönlichkeit jeden Beurteilten einen unterschiedlichen Urteiler, kann
anderer ist (Vernon, 1933; Letzring, 2008). Verträglichkeit die differenzielle Extremitätstendenz nicht von tatsächli-
und soziale Kompetenz scheinen die Beurteilungsgenauig- chen Eigenschaftsunterschieden getrennt werden und ver-
keit zu fördern, aber die Effekte sind eher bescheiden. Hasel- fälscht die Beurteilungen dementsprechend. Beurteilen
ton und Funder (2006) führten das darauf zurück, dass die z. B. Eltern ihre Kinder, beeinflussen differenzielle Extre-
Eigenschaftsbeurteilung so wichtig für den sozialen Alltag mitätstendenzen der Eltern die beurteilten Eigenschaften
ist, dass es keine großen Unterschiede in dieser Fähigkeit der Kinder. Bei Aggregation über mehrere Urteiler heben
gibt. sich die verschiedenen Extremitätstendenzen der Urteiler
teilweise gegenseitig auf, sodass diese Fehlerquelle weniger
> Gut beurteilbar sind konsistente Personen mit sozial stark ins Gewicht fällt.
erwünschten Eigenschaften, gut beobachtbare Die differenzielle Tendenz zu sozial erwünschten Urtei-
und alltagsnahe Eigenschaften und länger und aus len bezieht sich auf die von Urteiler zu Urteiler variierende
unterschiedlichen Situationen bekannte Personen. Tendenz, sozial erwünschte Eigenschaften des Beurteil-
Gute Urteiler sind eher verträglich und sozial ten besonders hervorzuheben. Persönlichkeitseigenschaf-
kompetent. ten sind ja meist deutlich wertbehaftet; z. B. gelten hohe
Aggressivität oder starke Ängstlichkeit als unerwünscht,
Die Qualität von Eigenschaftsbeurteilungen wird gemin- dagegen hohe Intelligenz oder große Gewissenhaftigkeit
dert durch eine Reihe von Urteilsverzerrungen. Besonders als erwünscht. . Tab. 3.6 zeigt einige Eigenschaften, die in
wichtig sind: Großbritannien bzw. den USA als besonders erwünscht bzw.
55 Halo-Effekt, unerwünscht gelten (die britischen und US-amerikanischen
55 differenzielle Extremitätstendenz, Erwünschtheitswerte von 444 Eigenschaftsworten korre-
55 differenzielle Tendenz zu sozial erwünschten Urteilen. lierten .96 miteinander; Hampson, Goldberg & John, 1987).
Von daher besteht bei der Eigenschaftsbeurteilung
So wie der Mond in dunstigen Nächten einen Hof – einen immer die Gefahr, dass das Urteil in Richtung sozial
Halo – hat, bildet sich im Prozess der Personenwahrneh- erwünschter Eigenschaftsausprägungen hin verfälscht
mung um auffällige Eigenschaften ein „Bedeutungshof “: wird. So lang diese Tendenz bei allen Urteilern gleich stark
100 Kapitel 3 · Methodik
genutzt. Fragebögen können ins Netz gestellt werden; von internetbasierten sozialen Netzwerken (Online Social
durch ansprechende Gestaltung der Seite, sofortige Rück- Networks wie z. B. Facebook; siehe hierzu Abschn. 5.2) und
meldung der individuellen Ergebnisse am Ende des Tests in die Nutzung von Handys und Smartphones. Inzwischen
Form eines automatischen, allgemeinverständlichen Pro- wurden riesige Datenmengen („Big Data“) z. B. über Face-
tokolls, geschickte Wahl von Worten auf den Internetseiten book-Nutzer gesammelt, die es erlauben, das Verhalten auf
und Legen eines Links auf Seiten anderer Anbieter können Facebook über lange Zeiträume zu analysieren und so für
3 in relativ kurzer Zeit große Stichproben von Internet-Sur- sehr große Nutzergruppen reliable individuelle Persön-
fern quasi mühelos zum Beantworten der Fragen gebracht lichkeitsmerkmale zu bestimmen. Durch zusätzlich erho-
werden. Natürlich stellt sich hierbei die Frage der Antwort- bene Selbst- und Fremdbeschreibungen der Persönlichkeit
qualität (möglich sind z. B. Unaufmerksamkeit wegen par- konnte so gezeigt werden, dass hinreichend aggregierte
allelen Musikhörens, Essens usw., gemeinsame Bearbeitung Facebook-Likes besser als Freunde oder Familienangehö-
der Fragen durch mehrere Personen, Einholen von Zusatz- rige die selbstbeurteilte Persönlichkeit vorhersagen (7 Unter
informationen während des Tests) und der Stichprobense- der Lupe).
lektivität (es surfen mehr Männer als Frauen, andererseits
ist das Interesse von Frauen an den meisten psychologischen
Fragen größer, insbesondere bei Fragen zu sozialen Bezie- Unter der Lupe
hungen und Persönlichkeit).
Vergleichsuntersuchungen zwischen klassischer Frage- Das Projekt MyPersonality
bogenbearbeitung mit „Papier und Bleistift“, Beantwortung Mithilfe einer Facebook-Applikation wurden die
an einem Computer (Vorteil: Fehlerrückmeldung bei fal- Facebook-Daten von über 4 Millionen Nutzern
schen Eingaben, Registrierung der Antwortzeiten und feh- und deren Ergebnisse in zahlreichen Persönlich-
lerfreie Digitalisierung der Daten) und Interneterhebung keitstests erhoben, teilweise über lange Zeiträume.
ergaben sehr ähnliche Ergebnisse für praktisch alle Kenn- Das Projekt wurde vom britischen Bachelor-
werte der Fragebögen (Mittelwerte, Streuungen, interne studenten David Stillwell 2007 begonnen, die
Konsistenzen), jedenfalls bei Vergleichen zwischen Inter- Datenerhebung wurde 2012 abgeschlossen. Die
netstichproben und studentischen Stichproben (Pettit, öffentlich zugängliche Datenbasis wurde 2016
2002). Die oft sehr große Internetstichprobe sichert aber bereits von mehr als 200 Wissenschaftlerinnen und
nicht repräsentative Ergebnisse für die Gesamtbevölkerung. Wissenschaftlern ausgewertet (www.mypersonality.
Das Internet wurde 2015 zwar von über 90% der 16- bis org). So konnten Youyou, Kosinski und Stillwell (2015)
44-Jährigen täglich für private Zwecke genutzt, aber nur von zeigen, dass etwa 65 Facebook-Likes (Klicks "Like
67% der über 65-Jährigen (Statistisches Bundesamt, 2015). it!" auf Personen, Markenartikel, Webseiten usw.)
Kritischer zu betrachten ist die Durchführung ausreichen, um auf deren Grundlage mithilfe eines
anspruchsvoller Leistungstests (z. B. IQ-Tests), weil die Algorithmus die selbstbeurteilten fünf Hauptfaktoren
mangelnde Kontrolle der Testsituation hier die Validität der Persönlichkeit (vgl. Abschn. 3.3) so genau wie
deutlicher beeinträchtigt (Wilhelm, 2002). Vergleichsweise ein Freund vorherzusagen (r = .45); bei 125 Likes
kurze Tests, bei denen es nicht auf Millisekunden ankommt gelang es so genau wie Familienangehörigen
(z. B. Implizite Assoziationstests, vgl. 7 Abschn. 2.2.4) lassen (r = .50). Insgesamt lag die Vorhersagegüte bei r = .56.
sich dagegen recht gut internetbasiert durchführen (vgl. z. B. Ca. 100 Facebook-Likes enthalten also genügend
https://implicit.harvard.edu/implicit/germany). persönlichkeitsrelevante Information, um viele
Zunehmende Anwendung finden Messungen physio- Persönlichkeitseigenschaften valide zu erfassen
logischer Parameter im psychophysiologischen Labor, wo (auch ohne Einverständnis der Nutzer). Dies lässt
Reaktionen des autonomen und zentralen Nervensystems sich für personalisierte Werbung nutzen aber auch
kontinuierlich oder in kurzen Abständen gemessen werden für persönlichkeitspsychologische Untersuchungen
(7 Abschn. 2.4). Telemetrische Messungen, bei denen die zu Nutzerverhalten, ohne dass die Nutzer Auskunft
Messergebnisse drahtlos von der Versuchsperson an einen über ihre Persönlichkeit geben müssen. Dieses
nahen Empfänger übertragen werden, oder die kontinuier- Nutzerverhalten muss sich nicht auf Facebook-Daten
liche Speicherung der Messungen in einem portablen Com- beziehen, sondern kann z. B. auch die Nutzung des
puter, den die Versuchsperson während des Versuchs mit mobilen Geräts betreffen (z. B. Gesprächsverhalten,
sich trägt (ambulantes Monitoring, 7 Abschn. 2.4.3), erlau- Surfverhalten, Bewegungsverhalten erfasst durch
ben der Versuchsperson eine größere Bewegungsfreiheit Geolokation usw.). Sofern die Beteiligten zustimmen,
und damit naturalistischere Situationen. können so rein verhaltensbasierte persönlichkeitspsy-
Zwei weltweite Trends in der Kommunikation eröffnen chologische Untersuchungen durchgeführt werden.
neue Perspektiven für die Verhaltenserfassung: die Nutzung
3.2 · Messung von Eigenschaften
103 3
Ähnliche Ansätze nutzen Analysen von Texten in E-Mails machen. Die Zeiten sind für die Personen entweder vor-
(Gill, Oberlander & Austin, 2006), Blogs (Yarkoni, 2010) hersagbar (z. B. alle drei Stunden) oder variieren zufällig
oder auf Facebook (Park et al., 2015) oder die Analyse der (Letzteres ist besser, um Verfälschungen durch die erwar-
Handy- oder Smartphone-Nutzung (Chittaranjan, Blom, & tete nächste Beurteilung zu vermeiden). Wird diese oft
Gatica-Perez, 2013; de Montjoye, Quoidbach, Robic & Pent- auch als ESM bezeichnete Methode (engl.: „experience
land, 2013), um hieraus Persönlichkeitseigenschaften zu sampling method“) über eine Periode von 1–3 Wochen
ermitteln oder mit anderweitig erfassten Persönlichkeits- durchgeführt, erhält man ausreichend aggregierte Daten
eigenschaften in Verbindung zu bringen. Das Hauptproblem zur Erfassung von Verhaltensdispositionen. Fleeson und
hierbei sind nicht die Daten (eher im Überfluss vorhanden), Gallagher (2009) konnten in zahlreichen ESM-Studien
sondern deren Geheimhaltung aus geschäftlichem Interesse mit Studierenden zeigen, dass selbstbeurteilte Persön-
oder Datenschutzgründen. So gab es unseres Wissens bis lichkeitseigenschaften zu Beginn einer solchen Studie das
Ende 2016 keine aussagekräftige Publikation zum Zusam- selbstberichtete eigenschaftsrelevante Verhalten valide
menhang zwischen Persönlichkeit und gesuchten Begrif- vorhersagen können (Korrelationen zwischen .38 und .56
fen im Internet, vermutlich weil Google etc. entsprechende je nach Eigenschaft).
Daten geheim hielten. In einer Variante zur Erfassung sprachlichen Verhaltens
statteten Mehl, Gosling und Pennebaker (2006) Studierende
> Verhalten in realen Situationen wird in der mit einem kleinen Stimmrecorder aus, der in programmier-
Persönlichkeitspsychologie durch Selbstbe- ten Abständen jede Stunde fünf 30 Sekunden lange Ton-
urteilung, Fremdbeurteilung oder direkte aufnahmen machte, die anschließend inhaltlich analysiert
Verhaltensmessung erfasst, zunehmend unter wurden. So konnte z. B. die Annahme bestätigt werden, dass
Nutzung des Internet. Physiologische Messungen selbstbeurteilte Extraversion (vgl. 7 Abschn. 2.4.2) positiv
sind nicht nur im Labor, sondern auch im Alltag mit Gesprächen (Korrelation .30) und der Zahl gesproche-
möglich. Die Nutzung des Internets und mobiler ner Worte (.29) korrelierte und selbstbeurteilte Gewissen-
Kommunikationsgeräte durch weite Teile der haftigkeit die Teilnahme an Lehrveranstaltungen vorher-
Bevölkerung generiert große Datenmengen, die sagte (.42). Mit dieser Technik verglichen Vazire und Mehl
sich hervorragend für die Persönlichkeitsforschung (2008) die Validität von Selbst- und Bekanntenurteilen,
und deren Anwendungen nutzen lassen. indem sie vor der viertägigen Erhebung von 20 verschie-
denen Verhaltensweisen im Alltag die vermutete Häufigkeit
dieser Verhaltensweisen durch die Person selbst und drei
3.2.8 Persönlichkeitserfassung im Alltag ihrer Bekannten einschätzen ließen. Die mittlere Validität
und im Labor betrug .26 für das Selbsturteil und .23 für das Urteil eines
Bekannten; bei Mittelung der Urteile von drei Bekannten
Wenn in einer persönlichkeitspsychologischen Untersu- stieg die Validität auf .26. Bei manchen Verhaltenswei-
chung Verhalten in realen Situationen untersucht wird, kann sen war das Selbsturteil valider (z. B. Fernsehkonsum: .55
dies unter Alltagsbedingungen geschehen (auch Feldstudie vs. .39), bei anderen Verhaltensweisen das g emittelte
genannt) oder unter künstlichen, zum Zweck der Untersu- Bekanntenurteil (z. B. Alleinsein: .36 vs. .14). Bei optimaler
chung geschaffenen Bedingungen (Laborstudie; Wrzus & Gewichtung der Selbst- und Bekanntenurteile pro Verhal-
Mehl, 2015). Alltagsbedingungen sind bestimmte Tages- tensweise (multiple Regression) stieg die mittlere Validi-
zeiten (z. B. 8.00–18.00 Uhr), bestimmte Orte, die von den tät auf .33.
untersuchten Personen regelmäßig aufgesucht werden Felduntersuchungen lassen sich heute besonders einfach
(z. B. Kindergartengruppe, Schulklasse, Arbeitsplatz) oder mit Smartphones durchführen, die bereits standardmäßig
bestimmte alltägliche Ereignisse (z. B. soziale Interaktionen, zahlreiche Nutzerdaten erfassen können wie z. B. Nutzung
Stresssituationen). Laborbedingungen sind z. B. das psy- von SMS und Telefonaten, Antwortlatenzen bei Anrufen
chophysiologische Labor eines psychologischen Instituts, oder eingehenden SMS, Ort und Bewegungen durch Geo-
der Therapieraum eines klinischen Psychologen oder eine lokation mittels GPS und Funknetzen usw. Diese Daten
Erziehungsberatungsstelle. können durch entsprechende Apps sehr differenziert aus-
Persönlichkeitseigenschaften lassen sich unter All- gewertet und ausgelesen werden. Zusätzlich lassen sich das
tagsbedingungen z. B. dadurch erfassen, dass Perso- aktuelle Verhalten und Erleben und die aktuelle Situation
nen zu mehreren Zeitpunkten am Tag gebeten werden, durch Apps erfragen, die per Funk oder zu programmier-
ihr Verhalten in der letzten Stunde auf vorgegebenen ten Zeitpunkten aktiv werden. Diese Flexibilität (Miller,
Items zu beurteilen. Hierfür sind mobile Geräte wie z. B. 2012) machte inzwischen Smartphones zum am häufigs-
Handys, Smartphones oder iPods gut geeignet, die durch ten verwendeten Erhebungsinstrument für psychologische
ein Signal auf die nächste Beurteilungsrunde aufmerksam Felduntersuchungen.
104 Kapitel 3 · Methodik
Die Methode hierzu wurde in ersten Ansätzen 1904 vom Das Vorgehen bei der Faktorenanalyse sei hier an einem
britischen Psychologen Charles Spearman (1863–1945) Beispiel illustriert. Studierende beurteilten sich in Bezug
vorgelegt, einem Doktoranden von Wilhelm Wundt in auf 15 Eigenschaften auf einer Antwortskala von 1–5. Jede
Leipzig, nach dem auch die Spearman-Korrelation ρ und Person kreuzte also 15 Werte an. . Tab. 3.9 zeigt die Korrela-
die Spearman-Brown-Formel benannt sind. Sein Verfah- tionen zwischen allen Paaren von Eigenschaften (die Inter-
ren wurde später zur heutigen Faktorenanalyse weiterent- korrelationen der Eigenschaften). Die Korrelationen sind
wickelt (7 Methodik). realistisch; sie basieren auf Daten von Ostendorf an über
1 000 Studierenden.
Interkorrelationsmatrizen sind spiegelsymmetrisch,
weil die Korrelation zwischen Eigenschaft 1 und 2 iden-
Methodik tisch mit der Korrelation zwischen Eigenschaft 2 und 1 ist.
Die Faktorenanalyse Deshalb reicht es aus, nur die Korrelationen oberhalb der
Die Faktorenanalyse ist ein statistisches Verfahren, Diagonalen anzugeben. Die Korrelationen auf der Diago-
mehr oder weniger korrelierende Variablen in nalen sind 1, weil die Korrelation einer Eigenschaft mit sich
Gruppen hoch miteinander korrelierender Variablen selbst 1 ist. Auch die Diagonale kann deshalb weggelassen
zusammenzufassen. Jede solche Variablengruppe werden.
wird durch einen Faktor repräsentiert, wobei Die Eigenschaften wurden bereits so sortiert, dass eine
man sich unter einem Faktor eine neue Variable klare Struktur deutlich wird. Betrachten wir nur die fett
vorstellen kann, die so gewählt ist, dass ihre gedruckten höheren (positiven oder negativen) Korrelatio-
Ähnlichkeit zu allen Variablen der Gruppe nen, so lassen sich Dreiergruppen unterscheiden. Jeweils die
maximal ist. Erfassen die Variablen Eigenschaften, ersten beiden Eigenschaften jeder Dreiergruppe korrelie-
entsprechen die Faktoren breiteren Eigenschaften. ren positiv miteinander und die dritte Eigenschaft negativ
Die korrelative Ähnlichkeit zwischen Variablen mit den beiden vorangehenden Eigenschaften. Zum Bei-
und Faktoren wird durch Faktorenladungen der spiel korreliert kontaktfreudig .52 mit lebenslustig, und
Variablen beschrieben, die wie Korrelationen schüchtern korreliert –.56 mit kontaktfreudig und –.53 mit
zwischen +1 und –1 variieren können. Die lebenslustig. Dieses Korrelationsmuster weist darauf hin,
Faktorenanalyse versucht, viele Eigenschaftsvariablen dass es eine Eigenschaftsdimension gibt, die von kontakt-
E darzustellen als freudig und lebenslustig auf der einen Seite zu schüchtern
E=f1F1 + f2F2 + … + fkFk + Rest. auf der anderen Seite reicht. Kontaktfreudig und lebenslus-
Dabei sind Fi die Faktoren und fi die Ladungen von E tig ist der eine Pol und schüchtern der entgegengesetzte Pol
auf den Faktoren Fi. Der Rest (die „nicht aufgeklärte dieser Dimension. Bei der letzten Dreiergruppe bildet nur
Eigenschaft“) soll im Mittel über alle Eigenschaften gebildet vs. gedankenlos eine solche Dimension; phanta-
möglichst gering sein. sievoll korreliert zwar positiv mit gebildet und negativ mit
gedankenlos, aber nur geringfügig.
106 Kapitel 3 · Methodik
Eigenschaft 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kontaktfreudig 1 .52 –.56 –.24 –.18 .41 –.02 .14 .12 .03 .00 .03 .18 .21 –.03
3 Lebenslustig
Schüchtern
2
3
–.53 –.19
.29
–.15
.32 –.56
.31 .08
–.04
.20
–.17
.03
–.13
.08
–.09
.03
.02
.02
–.07
.28
–.21
.17
–.22
.01
.06
Überempfindlich 4 .48 –.44 .10 .12 –.08 –.39 –.25 .16 –.03 –.15 .08
Ängstlich 5 –.51 .05 .10 –.10 .26 –.17 .10 –.05 –.22 .15
Selbstsicher 6 –.11 –.07 .21 .10 .03 .05 .15 .36 –.19
Ordentlich 7 .38 –.43 –.08 –.17 .18 .01 –.15 .11
Besonnen 8 –.35 –.21 –.27 .24 .03 .22 –.18
Faul 9 .12 .14 –.14 .03 .22 –.18
Gutmütig 10 .54 –.51 –.05 .01 –.05
Friedfertig 11 –.81 –.02 .04 –.04
Streitlustig 12 .03 –.01 .03
Phantasievoll 13 .23 –.20
Gebildet 14 –.51
Gedankenlos 15
Mit nur 6 Ausnahmen sind alle anderen Korrelationen den vergleichsweise geringen Korrelationen mit den beiden
gering, d. h. sie variieren zwischen –.30 und +.30. Diese 6 anderen Eigenschaften dieses Faktors deutlich (gebildet und
Ausnahmen gehen auf 3 Eigenschaften zurück. Schüchtern gedankenlos).
korreliert auch mit ängstlich und negativ mit selbstsicher, Auch die 5 fett gedruckten höheren Ladungen auf
selbstsicher korreliert auch mit kontaktfreudig und gebil- anderen als den zugehörigen Faktoren (Querladungen)
det und gutmütig korreliert auch negativ mit überempfind- lassen sich gut durch die Interkorrelationen erklären. Zum
lich. Im Großen und Ganzen scheint es also 5 verschiedene, Beispiel lädt schüchtern auch auf Faktor 3, weil schüchtern
relativ unabhängige Dimensionen zu geben, die den Dreier- auch mit ängstlich und negativ mit selbstsicher korreliert
gruppen entsprechen. (vgl. . Tab. 3.9), und selbstsicher lädt auch auf Faktor 1, weil
Das wird durch die Faktorenanalyse dieser Korrelatio- selbstsicher auch mit kontaktfreudig und lebenslustig und
nen bestätigt (vgl. . Tab. 3.10). Gewählt wurde die am häu- negativ mit schüchtern korreliert.
figsten verwendete Methode, bei der die Faktoren nicht kor- Querladungen sprechen nur dann gegen eine gute
relieren (orthogonale Faktoren) und die Faktoren so gewählt Repräsentation der Eigenschaften durch die Faktoren, wenn
wurden, dass Ladungen eines Items auf anderen Faktoren sie sehr häufig sind. Vermeiden lassen sie sich nicht, wenn
als dem höchstladenden Faktor minimiert werden (Vari- viele Eigenschaften durch wenige Faktoren repräsentiert
maxrotation). Nach dem Scree-Test war eine Fünffaktoren- werden sollen. Denn natürlich sind Eigenschaften nicht in
lösung optimal. Bei dieser Lösung zeigt jede Dreiergruppe den Köpfen der Beurteiler als sauberes orthogonales Fak-
Faktorenladungen über .55 auf einem einzigen Faktor und torensystem organisiert. Dieses Faktorensystem soll nur
alle Ladungen auf allen anderen Faktoren sind höchstens die Ähnlichkeitsstruktur der Eigenschaften so effizient wie
.42, also deutlich niedriger. Die 15 Eigenschaften lassen sich möglich beschreiben.
also auf 5 Faktoren reduzieren. Die geringste Ladung auf Durch die Faktorenanalyse konnten also die 15 Eigen-
dem zugeordneten Faktor ist die Eigenschaft phantasievoll schaften auf 5 zugrunde liegende Eigenschaftsdimensionen
(Ladung nur .56); dies wurde ja auch schon in . Tab. 3.9 an zurückgeführt werden. Die Daten konnten also ohne großen
3.3 · Persönlichkeitsfaktoren
107 3
Eigenschaft Faktor
1 2 3 4 5
Angegeben sind die Faktorenladungen nach Varimax-Rotation. Faktorenladungen mit Absolutwerten über .30 sind fett gedruckt.
Informationsverlust vereinfacht werden. Der Informations- diesem Ansatz besteht in der immensen Zahl von Eigen-
verlust ist umso kleiner, je mehr Faktoren man zulässt. Lässt schaftsbegriffen. Die englische Sprache z. B. verfügt über ca.
man genauso viele Faktoren zu wie Variablen (im vorliegen- 18 000 verschiedene Dispositionsbegriffe. Man müsste also
den Fall also Eigenschaften), ist der Verlust Null, aber damit jede Person hinsichtlich aller 18 000 Eigenschaftsbegriffe
wäre nichts gewonnen. beurteilen lassen – ein Ding der Unmöglichkeit.
Dieses Problem wurde jahrzehntelang dadurch umgan-
> Die Faktorenanalyse kann genutzt werden, um viele gen, dass kleinere, aber heterogene Itemmengen zur Beurtei-
Items in Persönlichkeitsinventaren auf möglichst lung herangezogen wurden. Größere Itemzahlen ließen sich
wenige unabhängige Faktoren zu reduzieren, aus schon deshalb nicht verkraften, weil die Faktorenanalysen
denen sich die Items annähernd reproduzieren per Hand gerechnet werden mussten, was enorm zeitauf-
lassen. Die Faktoren lassen sich als Eigenschaftsdi- wendig war. Dadurch entstand das Problem, dass je nach
mensionen interpretieren. gewählter Itemmenge etwas unterschiedliche Faktoren
resultierten. Die Faktoren sind ja nur sparsame Beschrei-
Theoretisch könnte man nun die Faktorenanalyse nutzen, bungen der Itemmenge und wenn die Items variieren, vari-
um ein sparsames Beschreibungssystem aller Persönlich- ieren auch die Faktoren. Die bekanntesten älteren Faktoren-
keitseigenschaften zu erhalten, indem man eine große systeme waren die von Cattell (1946), Guilford (1964) und
Stichprobe von Personen sich selbst oder Bekannte hin- Eysenck und Eysenck (1969). Sie variierten erheblich in der
sichtlich aller Eigenschaftsworte, die es in der Alltagspsy- Zahl und Art der Faktoren und die Anhänger verschiede-
chologie gibt, beurteilen lässt. Denn die Faktoren der sich ner Systeme stritten sich darum, welches das „richtige“ sei.
ergebenden Interkorrelationsmatrix würden ein sparsames Dieser Streit konnte letztlich nicht befriedigend entschie-
Beschreibungssystem für interindividuelle Unterschiede den werden, weil die Itemauswahl in allen Fällen nicht aus-
in der Population darstellen. Das praktische Problem bei reichend systematisch war.
108 Kapitel 3 · Methodik
In den letzten Jahren konnte dieses Problem befriedi- 800 gebräuchlichere Eigenschaftsworte unter Ausschluss
gender gelöst werden, indem das gesamte Lexikon einer von gesundheitsbezogenen Bezeichnungen (z. B. „kränk-
Sprache systematisch nach Eigenschaftsworten durchsucht lich“) und stark bewertenden Bezeichnungen (z. B. „her-
wurde und diese dann in einem mehrstufigen, schrittweisen vorragend“, „bösartig“). Solche Eigenschaften sind wenig
Verfahren auf einen überschaubaren Satz von Items redu- sinnvoll, weil sie nicht gut zwischen Personen differenzie-
ziert wurden. Aus dieser Itemmenge wurden dann durch ren. Jeweils 200 von ihnen wurden Gruppen von jeweils
3 entsprechende Beurteilungsuntersuchungen Eigenschafts- 100 Studenten zur Selbstbeurteilung und zur Beurteilung
faktoren gewonnen. der Verständlichkeit des Wortes vorgelegt. Aufgrund dieser
Die Stärke dieses lexikalischen Ansatzes (John, Angleit- Beurteilungen entstand eine Liste von 1 566 allgemeinver-
ner & Ostendorf, 1988) liegt darin, dass die Ausgangsdaten ständlichen Worten, die auch ausreichend zwischen den
nur dadurch begrenzt sind, dass sie im Lexikon der jeweils Studenten differenzierten.
betrachteten Sprache vorhanden sein müssen (deshalb der Goldberg (1990) wiederum erweiterte und reduzierte
Name „lexikalischer Ansatz“) – eine Einschränkung, die diese Liste in mehreren Schritten der Klassifikation und
nach der sogenannten Sedimentationshypothese unwesent- Beurteilung durch Studenten zu 339 Adjektiven, die in 100
lich ist, da allen im Alltag wichtigen tatsächlichen Eigen- Gruppen fast synonymer Worte klassifiziert wurden (z. B.
schaften auch Eigenschaftsworte im Lexikon entsprechen. enthielt die Gruppe „fear“ die Adjektive „anxious, fearful,
Der Ansatz steht und fällt mit dem Reduktionsprozess, der nervous“). Im Verlauf dieses Reduktionsprozesses wurden
vom Lexikon zu den Eigenschaftsworten führt, die für die Worte, die Einstellungen und Werthaltungen bezeichne-
Persönlichkeitsbeurteilungen verwendet werden und damit ten (z. B. „konservativ“, „religiös“) oder die sich auf soziale
in die Faktorenanalyse eingehen. Der Reduktionsprozess Rollen oder Sexualität bezogen, ausgeschlossen – eine
darf die Ähnlichkeitsstruktur der Ausgangsdaten nicht weitere inhaltliche Reduktion der Eingangsvariablen für
wesentlich verzerren. das anschließende Beurteilungsverfahren.
Bei diesem Beurteilungsverfahren beurteilten Studen-
ten sich selbst oder Bekannte in allen diesen Eigenschafts-
Methodik worten. Unabhängig von der Art der Beurteilung ergaben
Die lexikalische Methode Faktorenanalysen fünf Faktoren, die inzwischen als Big Five
Im lexikalischen Ansatz wird das gesamte Lexikon bezeichnet werden (. Tab. 3.11). Diese Faktoren erhielten
einer Sprache schrittweise reduziert zu einem ihre Bezeichnungen aus den untergeordneten Eigenschaften
überschaubaren Satz von Eigenschaftsbe- (zu erkennen an einer hohen Faktorenladung). Die Kürzel
zeichnungen. Hiermit werden Selbst- oder Bekannten- ergeben OCEAN, wodurch sich die Big Five gut merken
beurteilungen an vielen Personen durchgeführt; die lassen. Die Big Five enthalten Eysencks Temperamentsdi-
resultierende korrelative Ähnlichkeitsstruktur wird mensionen E und N (vgl. 7 Abschn. 2.4.2). Das ist kein Zufall,
dann durch Faktorenanalyse zu wenigen, möglichst denn Eysenck kam zu E und N durch Faktorenanalysen von
unabhängigen Faktoren verdichtet. Temperamentsvariablen.
Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen bezieht sich
auf intellektuelle Neugier, Gefühl für Kunst und Kreativität
John et al. (1988) geben eine Übersicht über frühe lexikali- und korreliert positiv mit Intelligenz und vor allem Bildung.
sche Ansätze. Die Sedimentationshypothese wurde zuerst Gewissenhaftigkeit bezieht sich auf Ordentlichkeit, Beharr-
von Galton (1884) ansatzweise formuliert. Die erste syste- lichkeit und Zuverlässigkeit. Extraversion bezieht sich wie
matische Zusammenstellung lexikalischer Ausgangsdaten
stammt von Allport und Odbert (1936), die die annähernd
550 000 Worte von Webster‘s New International Dictionary
. Tab. 3.11 Die fünf Hauptfaktoren der Persönlichkeit (Big
aus dem Jahre 1925 nach Adjektiven, Partizipien und Subs- Five)
tantiven durchsuchten, die Persönlichkeitsdispositionen
bezeichneten. Selbst nach Ausschluss von Substantiven, die Kürzel Englisch Deutsch
identischen Adjektiven entsprachen (z. B. Ängstlichkeit –
ängstlich) und Dialektvarianten ergab sich immer noch eine O openness to new Offenheit gegenüber
experience neuen Erfahrungen
Liste von 17 953 Worten, darunter allerdings vielen sehr
seltenen, die nur von wenigen Englischsprechenden ver- C conscientiousness Gewissenhaftigkeit
Caspi, Robins, Moffitt und Stouthamer-Loeber (1994) dennoch so hohe Korrelationen, dass diese selbst wiede-
zeigten, dass es möglich ist, aus den Items des California rum faktorenanalysiert oder anderweitig auf Ähnlichkeit
Child Q-Set, eines Q-Sort-Verfahrens, Skalen zu bilden, die untereinander untersucht werden können. In einer ersten
die Big Five beschreiben. Asendorpf und van Aken (2003a) Studie dieser Art fand Digman (1997), dass von den Big Five
konnten entsprechende Big-Five-Skalen für die deutsche OCEAN die Skalen zur Erfassung von CAN und die zur
Version dieses Q-Sort-Verfahrens konstruieren. Erfassung von OE „Superfaktoren“ zweiter Ordnung bilde-
3 Kohnstamm, Mervielde, Besevegis und Halverson ten, die er Alpha und Beta nannte. Inhaltlich könnte man
(1995) ließen Eltern die Persönlichkeit ihrer Kinder frei Alpha als Stabilität im emotionalen (N), sozialen (A) und
beschreiben und versuchten dann, die freien Beschreibun- motivationalen Bereich (C) und Beta als Plastizität beim
gen den Big Five zuzuordnen. Dies gelang bei 3-jährigen Explorieren neuer sozialer (E) und intellektueller Bereiche
Kindern in 75% der Fälle und bei neunjährigen Kindern in (O) interpretieren (vgl. DeYoung, 2006). Alternativ kann
79% der Fälle. Die übrigen Fälle wurden 9 Kategorien zuge- man auch den ersten Faktor einer Faktorenanalyse aller
ordnet, z. B. Familienbeziehungen, die jedoch jeweils nicht OCEAN-Skalen (mit umgepoltem N) betrachten, der die
mehr als 5% der Fälle ausmachten. Dies stützt die Annahme, soziale Erwünschtheit der Persönlichkeit erfasst (bzw. eine
dass die Big Five auch weite Bereiche der kindlichen Persön- differenzielle Tendenz zu sozial erwünschten Antworten).
lichkeit abdecken. Anusic, Schimmack, Pinkus und Lockwood (2009) ver-
Während Erwachsene die Persönlichkeit von Kindern einten beide Ansätze in einem Modell, in dem sowohl die
gut mithilfe der Big Five beschreiben können, eignen sie Faktoren Alpha und Beta als auch der erste Faktor Korrela-
sich für die Selbstbeurteilung der Persönlichkeit erst ab tionen zwischen den Big Five vorhersagen, wobei die Vor-
dem Jugendalter, da erst dann das Persönlichkeitsselbst- hersagen durch die drei Faktoren wechselseitig füreinan-
bild genügend ausdifferenziert ist (Soto, John, Gosling & der statistisch kontrolliert sind. Besonders interessant an
Potter, 2008). Das gilt vermutlich auch für andere Formen diesem Modell ist, dass seine Anwendung auf Selbst- und
der Persönlichkeitsselbstbeurteilung. Bekanntenbeurteilungen derselben Personen die Validität
von Alpha und Beta durch positive Korrelationen dieser
> Die fünf Hauptfaktoren der Persönlichkeit beiden Faktoren zwischen den Beurteilern bestätigte (.64
beschreiben auch die Persönlichkeit von Kindern. für Alpha, .74 für Beta), aber gleichzeitig ergab, dass der
Sie eignen sich aber erst ab dem Jugendalter zur erste Faktor keine solche Übereinstimmung zwischen den
Selbstbeurteilung der Persönlichkeit. Beurteilern zeigte (.05), wenn für Alpha und Beta kontrol-
liert wird. Da dieser Faktor auch mit Selbstbeurteilungen so
Die Big Five sind das Resultat der Bemühungen um ein heterogener Eigenschaften wie Attraktivität, Intelligenz und
möglichst sparsames System der Beschreibung alltagspsy- sportliche Fähigkeit positiv korrelierte, nannten die Autoren
chologisch repräsentierter Persönlichkeitsunterschiede. ihn den Halo-Faktor (in Anlehnung an den Halo-Effekt bei
Dieses sparsame System reicht aber für feinere Unterschei- Beurteilungen allgemein; vgl. 7 Abschn. 3.2.6). Damit könnte
dungen nicht aus. Solche feineren Unterscheidungen lassen es ihnen gelungen sein, urteilerspezifische Tendenzen zu
sich in einer mit den Big Five konsistenten Weise dadurch sozial erwünschten Antworten (Halo-Faktor) von der tat-
erreichen, dass jeder Big-Five-Faktor in mehrere Unter- sächlichen sozialen Erwünschtheit der Persönlichkeit zu
faktoren gegliedert wird (Saucier & Ostendorf, 1999). Ein trennen (Alpha- und Beta-Faktoren).
Persönlichkeitsinventar, das dieser Logik folgt, ist die revi-
dierte Form des NEO-Persönlichkeitsinventars (NEO-PI-R) > Big Five Skalen korrelieren untereinander
von Costa und McCrae (1992) bzw. seine deutsche Fassung aufgrund urteilerspezifischer Tendenzen zu sozial
von Ostendorf und Angleitner (2003). In diesem Inven- erwünschten Antworten und aufgrund der beiden
tar werden für jeden der 5 Faktoren 6 Unterfaktoren oder „Superfaktoren“ Alpha (Stabilität) und Beta
„Facetten“ unterschieden, die jeweils durch eine Skala aus (Plastizität), für die Selbst- und Bekanntenurteile
8 Items erhoben werden. gut übereinstimmen.
Die 60 Items des NEO-FFI sind im NEO-PI-R enthal-
ten, also auch Beispiele für NEO-PI-R-Items; der NEO-FFI Metaphorisch betrachtet stellen die Big Five so etwas wie ein
ist deshalb ein Untertest des NEO-PI-R. Der Vorteil des Koordinatensystem für alltagspsychologische Persönlich-
NEO-FFI ist seine Kürze. Die Vorteile des NEO-PI-R keitsbeschreibungen dar. Die Big Five beschreiben Achsen
bestehen in der Möglichkeit einer differenzierteren Per- eines fünfdimensionalen Raumes, innerhalb dessen Persön-
sönlichkeitsbeschreibung und in der reliableren Messung lichkeitsbeschreibungen variieren. Jede Person lässt sich
der Big Five durch die zugeordneten 48 Items. durch 5 Koordinaten auf diesen Achsen beschreiben oder
Die Big Five sind zwar als Faktoren unkorreliert, ihre differenzierter durch zusätzliche Koordinaten auf Achsen,
Operationalisierungen durch Big Five Skalen zeigen aber die Unterfaktoren der Big Five entsprechen. Gleichzeitig
3.3 · Persönlichkeitsfaktoren
111 3
lassen sich viele andere Persönlichkeitsdimensionen als diese Persönlichkeitsunterschiede durch ein Kreismodell
Kombinationen der Big Five (oder ihrer Unterfaktoren) dar- beschreibbar seien. Die vertikale Achse repräsentiere die
stellen. Zum Beispiel lässt sich die alltagspsychologisch gut Dimension Status (Dominanz vs. Unterwürfigkeit), die
repräsentierte Dimension Schüchternheit als Kombination horizontale Achse die Dimension Liebe (Liebe vs. Hass).
der Big-Five-Dimensionen Extraversion und Neurotizis- Jede interpersonelle Persönlichkeitsdimension lasse sich als
mus darstellen, nämlich Schüchternheit = Neurotizismus – Kombination dieser beiden Achsen auffassen.
Extraversion: Schüchternheit korreliert positiv mit Neurot- Dieser Ansatz wurde von Wiggins und Mitarbeitern
izismus und negativ mit Extraversion. Die Achse Schüch- methodisch und empirisch weiterentwickelt zu einem
ternheit liegt also „quer“ zu zwei der 5 Big-Five-Achsen Inventar zur Beschreibung interpersoneller Persönlich-
(Asendorpf, 1989b). Die für die Personalauswahl besonders keitsmerkmale, den Revised Interpersonal Adjective Scales
wichtige Dimension Integrität (Ehrlichkeit am Arbeitsplatz) (IAS-R; Wiggins, Trapnell & Phillips, 1988; deutsche Ver-
korreliert nicht nur mit zwei, sondern mit allen Big-Five- sionen von Ostendorf, 2001, und Jacobs & Scholl, 2005).
Faktoren außer dem Kulturfaktor, liegt also quer zu vier der . Abb. 3.9 illustriert das zugrunde liegende Kreismodell,
Big Five. Das Fünffaktorenmodell sollte nicht dahingehend den interpersonellen Zirkumplex. Das Inventar enthält 8
missverstanden werden, dass nur die 5 Faktoren oder ihre Skalen mit jeweils 8 Items, insgesamt also 64 Items. Jedes
Unterfaktoren bedeutsame Persönlichkeitsdimensionen Item ist ein persönlichkeitsbeschreibendes Adjektiv wie z. B.
sind. Je nach den interessierenden Persönlichkeitsbereichen warmherzig, das auf einer mehrstufigen Zustimmungsskala
können Kombinationen dieser (Unter-)Faktoren ebenso gut (trifft auf die beurteilte Person gar nicht zu – sehr gut zu)
oder auch besser geeignet sein, Persönlichkeitsunterschiede beurteilt wird; es sind Selbstbeurteilungen oder Beurteilun-
zu beschreiben als die (Unter-)Faktoren selbst. gen anderer möglich. Die 8 Skalen wurden so konstruiert,
Auch komplexere Beschreibungssysteme aus mehr als dass sie zeigerförmig den gesamten Kreis in 8 Kreissegmente
nur einer Persönlichkeitsdimension können als Teil des zerlegen. Gegensatzpole wie extravertiert – introvertiert
Fünffaktorenmodells verstanden werden. Dies sei hier sind durch separate Skalen repräsentiert, die deshalb hoch
am Beispiel der interpersonellen Persönlichkeitsdimen- negativ korrelieren sollten. Die Items wurden faktorenana-
sionen illustriert. Darunter werden seit Sullivan (1953) lysiert und die ersten beiden Faktoren als Liebe und Domi-
Persönlichkeitsunterschiede verstanden, die sich aus- nanz interpretiert. . Abb. 3.9 zeigt den theoretisch erwar-
schließlich in der sozialen Interaktion mit anderen zeigen. teten Winkel, den jede Skala zum Faktor Liebe aufweisen
Leary (1957) formulierte als erster die Annahme, dass sollte, sowie den tatsächlichen Winkel, der sich empirisch