PL AT ON
U N D DIE FOLG E N
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Christoph Quarch
Platon
und die Folgen
J. B. Metzler Verlag
Zum Autor
Christoph Quarch, Philosoph, Theologe und Religionswissen-
schaftler, arbeitet freiberuflich als Autor, Vortragender und
Berater. Er veranstaltet philosophische Seminare und Reisen in
Zusammenarbeit mit »ZEIT-Reisen« und ist Lehrbeauftragter
an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland.
Einleitung 1
Literatur 183
Einleitung 1
Einleitung
»Die zuverlässigste Beschreibung der europäischen
Philosophiegeschichte ist, dass sie aus einer Serie von
Fußnoten zu Platon besteht.«
(Alfred North Whitehead, Prozess und Wirklichkeit)
tete : »Nur noch ein Gott kann uns retten« (Der Spiegel Nr. 23/
1976). Was, in Gottes Namen, hatte Platon nur verbrochen,
dass es so weit kommen konnte ?
Heideggers Antwort klingt einfach, ist es aber nicht : Platon
hatte, so meinte Heidegger, mit seiner Philosophie das Wesen
der Wahrheit verschattet : Er hatte eine Auslegung des Seins be-
gründet, die das Sein nur noch als Gegenwärtigkeit oder als An
wesenheit kennt – was in Heideggers Augen eine folgenschwere
Verkürzung war, der wir sämtliche Pathologien der modernen
Welt zu verdanken haben, vor allem die Dominanz des tech-
nisch-instrumentellen Denkens des Gestells, wie er das nannte.
Platon war für Heidegger der Anfang einer Seinsgeschichte,
die die Menschheit untergehen lassen wird, wenn – ja, wenn –
es nicht zu einem anderen Anfang kommt ; den sich der Den-
ker unseligerweise zumindest zeitweise vom Nationalsozialis-
mus versprach.
Aber auch daran war kein anderer als Platon schuld. Nicht,
dass Heidegger solches behauptet hätte. Nein, derjenige, der
Platon zum Begründer des Faschismus machte, war kein gerin-
gerer als Sir Karl Popper, jener Papst des nüchternen und ratio-
nalen Szientismus. Popper hatte sich – wie viele andere auch –
nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des Dritten
Reichs die Frage vorgelegt, wie es möglich war, dass dieser Irr-
sinn über Europa hereinbrechen konnte. Und er fand in Pla-
ton seinen Teufel : einen Feind der offenen Gesellschaft, einen
Theoretiker der Tyrannei und Despotie, den Erfinder des tota-
len Staates und den Ahnherrn des Führerprinzips – den »ers-
ten großen politischen Ideologen, der in Klassen und Rasse
dachte und Konzentrationslager vorschlug«, wie er im Vorwort
zu seiner Studie Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde wetterte.
Was es mit dem politischen Denken Platons auf sich hat, wer-
den wir noch sehen, aber so viel sei schon hier gesagt, dass
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Popper Platon gründlich missverstand – dass er seine eigene
viel gerühmte Nüchternheit ausgerechnet bei der Sicht auf Pla-
Aristoteles
Sokrates
Jeder unbedarfte Leser Platons läuft Gefahr, den Autor der Dia-
loge mit der Dialogfigur namens Sokrates zu verwechseln ; al
so all das, was Platon in seinen Dialogen in den Mund des So-
krates legt, für Platons Meinung oder Lehre zu halten. Aber
das wäre ein Missverständnis. Platon ist nicht Sokrates. Hätte
Platon seine Meinungen oder Lehren vortragen wollen, hätte
er das tun können, ohne dafür eigens eine Dialogfigur namens
Sokrates erfinden zu müssen. Irgendetwas aber muss er sich
bei diesem Spiel gedacht haben. Irgendetwas muss ihn dazu
veranlasst haben, keine philosophischen Traktate abzufassen,
sondern Gespräche abzubilden, die man mit verteilten Rollen
lesen könnte ; und bei denen Sokrates zumeist der Hauptunter-
redner ist – jedenfalls meistens derjenige, der etwas Substan-
zielles sagt, was man dann für Platons Botschaft zu halten ver-
sucht ist.
Doch so einfach ist es nicht. Nicht nur, weil es Dialoge gibt,
in denen Sokrates entweder nicht vorkommt (Timaios, Kritias,
Nomoi), nur eine untergeordnete Rolle spielt (Sophistes, Politi
kos) oder als junger, ahnungsloser Mann auftritt (Parmenides),
sondern weil auch das, was Platon seinen Sokrates in all den
anderen Texten sagen lässt, sich keineswegs zu irgendeiner Art
von Lehre zusammenfügt. Einerseits, weil der Sokrates der so-
genannten frühen Dialoge sich meistenteils darauf beschränkt,
die Sichtweisen seiner Gesprächspartner ad absurdum zu füh-
ren, andererseits weil dasjenige, was Sokrates ansonsten sagt,
sich zuweilen widerspricht oder nicht zusammenpasst. Das
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liegt nicht daran, dass Platon schlampig geschrieben hätte,
sondern daran, dass seine Dialoge literarische Stücke sind, bei
Platon
Also scheint geklärt, wie man sich Platons Texten nähern sollte.
Wäre da nicht dieser große Warnhinweis, den Platon seinen
Lesern selbst gegeben und der viele Platon-Interpreten irri-
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tiert hat. Denn in einem seiner Briefe lässt uns Platon wissen,
dass er große Vorbehalte gegen das Medium der Schrift habe –
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
»Seele im Ganzen waltet über alles Unbeseelte, indem sie
sich verschiedentlich in verschiedenen Gestalten zeigt.«
(Phdr. 246 b)
Jahrtausende lang hatten sich die Menschen ihr Dasein und die
Welt erklärt, indem sie einander Mythen erzählten. Dann je-
doch zog im achten und siebten Jahrhundert v. Chr. eine neue
Weltzeit auf – nicht nur, aber auch in Griechenland : Die alten
Mythen verloren an Glanz und Überzeugungskraft, und die
Menschen schickten sich an, die Welt mit dem Licht der Ver-
nunft zu durchleuchten. Vom Mythos zum Logos (Wilhelm Nestle)
hat man diesen Schritt genannt, und die Zeit, in der die
Menschheit ihn vollzog, taufte Karl Jaspers auf den Namen
»Schwellenzeit«.
Als die Schwellenzeit in Hellas angebrochen war, rückte
rasch die Frage in den Vordergrund, die später wie ein cantus
firmus durch die wenigen Fragmente jener Denker ziehen wird,
die man als Vorsokratiker bezeichnet : Thales und Anaximander,
Heraklit, Xenophanes, Parmenides, Empedokles, Anaxagoras
oder Demokrit – um nur einige der ältesten der großen Geis-
ter Griechenlands zu nennen. Ihrer aller Thema war, was sie in
ihrer Sprache phýsis nannten und was im Deutschen meist mit
›Natur‹ übersetzt wird.
Ursprünglich aber meint das Wörtchen phýsis etwas ande-
res als das, was wir mit unserem Wort ›Natur‹ verbinden. Phýsis :
das ist nicht die Summe alles dessen, was nicht von Menschen-
hand geschaffen wurde. Phýsis ist auch nicht ein Gegenstands-
bereich. Phýsis ist, wie der Gräzist Wolfgang Schadewaldt for-
mulierte, »ein ganz umfassendes Walten und Wesen im Sinne
eines Hervortreibens und Wachsenlassens«. Oder in den Wor-
ten Heideggers : Sie ist die »wunderbar Allgegenwärtige«, die
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»zuvor schon allem Wirklichen die Lichtung verschenkt, in de-
ren Offenes hinein erst alles zu erscheinen vermag, was ein
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
Wirkliches ist« (Hölderlin und das Wesen der Dichtung). Das Wort
bezeichnet ursprünglich das ins Licht kommende Sich-Entfal-
ten einer Pflanze : das zum Vorschein-Kommen aus dem Dun-
kel des Erdreichs in die Helle des Erscheinens. Phýsis ist so ge-
sehen das Wesen – verbal verstanden – des Erscheinenden. Und
als die phýsis ist sie die Totalität des Erscheinens von allem, was
in Erscheinung tritt : aller Phänomene – das Wesen des Erschei
nens.
Was jedoch, so fragten sich die ursprünglichen Denker, ist
das Geheimnis dieser phýsis ? Wie geht es nur zu, dass etwas
in Erscheinung tritt ? Was ist nur der Grund dafür, dass etwas
da ist, das wir sehen, hören, fühlen und verstehen können ?
Diese Fragen trieben nicht nur die genannten alten Philoso-
phen um. Sie beschäftigten auch Platon. Ja, sein ganzes Den-
ken steuert darauf zu, das Mysterium der phýsis zu erschließen.
Dass das naheliegend war, können wir uns leicht vergegenwär-
tigen, wenn wir uns daran erinnern, was nach Platons eigenen
Worten die zentrale Frage seines Denkens war : Was ist und wie
führt man ein gutes Leben ? Da der Mensch – und mithin auch
sein Leben – Teil der großen phýsis ist, ließ sich die Frage nach
dem guten Leben nur beantworten, wenn man verstanden hatte,
was das Wesen dieses Lebens, was die phýsis, ist.
Phýsis ist von dieser Welt. Weder waltet sie im Jenseits noch
in einer anderen Sphäre. Phýsis ist das Wesen dieser unserer
Welt, die die Griechen kósmos nannten. Diesem kósmos gilt
das Denken Platons. Diese Welt mit allen ihren Phänomenen
möchte er in ihrem Sein und Wesen geistig durchdringen und
verstehen – ein Ansinnen, das er in der von ihm gegründeten
Akademie im Kreise seiner Weggefährten und Schüler auf die
Formel brachte : »die Phänomene retten«. Freilich war der Weg
zur Rettung der Phänomene lang. Erst führte er aus der Welt
hinaus in eine Sphäre, die allein unserem Denken und Verste-
21
hen zugänglich ist – in die Sphäre der »Ideen« und des lógos,
mit der wir uns in mehreren späteren Kapiteln beschäftigen
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
werden. Aber das war – allem was in Philosophiegeschichten
steht zum Trotz – nicht Platons Lieblingsthema. Ideen und ló
gos brauchte er nur, um den Kosmos geistig zu durchdringen.
Das gibt er in seinem Dialog Der Staat an einer programmati-
schen Stelle – dem »Liniengleichnis« – zu erkennen (Rp. 511 b
und 534 b).
Richtig Ernst mit der »Rettung der Phänomene« macht Pla-
ton freilich erst in seinen späten Dialogen : im Timaios, worin
er seinen großen Weltentstehungsmythos zum Besten gibt, im
Philebos, wo er unter veränderten Vorzeichen noch einmal die
alte sokratische Frage nach dem guten Leben aufwirft, und in
den Gesetzen (Nomoi) : Das ist der Dialog, dem wir uns nun zu-
wenden werden.
Nomoi ist ein sonderbarer Text. Zum einen ist er mit Abstand
der umfangreichste Dialog Platons, zum anderen kommt, an-
ders als in allen anderen seiner Texte, Sokrates darin nicht vor.
Die Szene zeigt vielmehr drei Herren im fortgeschrittenen Al-
ter, die auf der Insel Kreta eine Wanderung unternehmen. Ihr
Ziel ist die sagenhafte Höhle am Berg Ida, in der Zeus dem My-
thos nach von der Amme Adrasteia aufgezogen wurde – und in
der der Göttervater dem sagenhaften kretischen König Minos
einst die Gesetze des Landes diktiert haben soll. Dieses Set-
ting passt vorzüglich zu dem Inhalt jener Unterredung. Denn
die Herren gehen bei der Wanderung der Frage nach, wie man
ein Gemeinwesen – auf Griechisch : polis – einrichten und ge-
stalten solle. Anlass ist der Umstand, dass einer der drei, ein
gewisser Kleinias aus Kreta, den Auftrag erhalten hat, für eine
neu zu gründende Polis namens Magnesia eine Verfassung zu
entwerfen. Da trifft es sich gut, dass seine Wanderfreunde,
Megillos aus Sparta und ein Athener ohne Namen, in politi-
schen Fragen versiert sind und ihm unterstützend zur Seite ge-
hen können.
22
Also pilgern die drei Herren durch die Wälder Kretas –
durch ein Meer von phýsis – aufwärts zu dem Ort, an dem der
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
oberste der Götter einem Volk einst die Gesetze gab und sich
damit als maßgeblich erwies. All das ist nicht nebensächlich,
denn es weist auf das, worum es im Gespräch der Männer geht :
um das Maß, das man beachten muss, wenn man dem Leben
der Natur – nicht nur des Staates, sondern auch des Menschen
und des Kosmos überhaupt – in seinem Handeln Rechnung
tragen möchte. Letztlich geht es um die Frage, was dem Leben
aller Wesen – dem Gemeinwesen wie auch dem Menschenwe-
sen – so wesentlich ist, dass dem zu entsprechen das Leben
eines Wesens gelingen bzw. ein wahres, gutes, wesentliches
Leben sein lässt. Es geht darum, die phýsis selbst gedanklich so
weit zu durchdringen, dass erkennbar wird, worauf ein Mensch
sein Leben und das Leben der Gemeinschaft bauen kann. Ja, es
geht darum, an welchem Maß wir Menschen maßzunehmen
haben, wenn wir unsere Welt und unsere Staaten so einrichten
wollen, dass das Leben sich darin entfalten und erblühen kann.
Diese Fragen zielen vordergründig darauf, einem konkre-
ten Gemeinwesen eine konkrete Rechtsordnung zu geben.
Doch gibt der namenlose Wanderer aus Athen zu verstehen,
dass es dabei noch um mehr geht ; weil vor jeder konkreten
Rechtsordnung geklärt sein muss, was deren Sinn ist : was mit
ihr bezweckt wird, was für sie maßgeblich ist. Deshalb lässt
Platon ihn im IV. Buch der Nomoi vorschlagen, eine fiktive Rede
an die fiktive Bürgerschaft Magnesias zu richten, die den Ein-
wohnern den Sinn und Zweck, das Maß und Worumwillen des
Gesetzeswerks erläutern soll. Diese Rede des Atheners ist be-
rüchtigt :
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
und folgt ihr demütig und wohlgeordnet.« (Lg. 715 e)
»Die Seele […] muss doch wohl ein jeder Mensch für eine
Gottheit halten, oder ?« (Lg. 899 a)
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
Dem folgt eine zweite Etymologie, um die erste zu bestätigen.
Erneut geht es darum, psyché als Ursache des Lebens in den
Blick zu nehmen :
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
und Bewegung alles Seienden erwiesen hat.«
(Lg. 896 a)
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
Die Nähe zu dem eingangs angeführten dunklen Wort, das in
Platons Nomoi der Athener der fiktiven Bürgerschaft Magnesias
ins Stammbuch schreibt, ist kaum zu übersehen : Alles Seiende
folgt einem Maß, das ihm eingezeichnet ist ; alles Seiende
nimmt Maß an seinem eigenen Sein, an der Lebendigkeit, die
in ihm west und waltet, es ins Dasein rief und darin hält.
Die Lebendigkeit – psyché –, die allem innewohnt, ist nicht
nur Grund dafür, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr
nichts ; sie ist auch das Maß, dem gemäß zu sein bedeutet,
wirklich und wahrhaftig da zu sein. Deshalb sind nicht nur die
drei Wandersleute in den Nomoi gut beraten, bei der Gründung
Magnesias minutiös darauf zu achten, dass die von ihnen gege-
benen Gesetze im Einklang mit der kosmischen Lebendigkeit
sind, sondern ein jeder Mensch tut gut daran, die alles durch-
waltende psyché als Maß aller Dinge anzuerkennen und ihr ge-
mäß das Leben einzurichten. Nur so wird es gelingen, über
die Spanne der Jahre das uns innewohnende Potenzial zu voll
erblühter Lebendigkeit zu entfalten, worin sich unser Sein er-
füllt.
Damit ist im Umriss skizziert, worum das ganze D enken
Platons kreist und wohin alle seine Wege führen : zur Lebendig
keit – psyché –, die ihm nicht nur die Gottheit ist, sondern das
Zentralgestirn seiner gesamten Auslegung des Seins im Gan-
zen. Lebendigkeit ist ihm das Sein des Seienden, der Grund
des Werdens und Erscheinens aller Dinge. Sie ist die Energie,
die alle phýsis trägt und ordnet. Wenn es überhaupt so etwas
wie die Lehre Platons gibt, dann kann man sie als »Metaphysik
der Lebendigkeit« beschreiben : als eine Auslegung des Seins
im Ganzen, die das Sein als phýsis deutet und als Grund und
Wesen aller phýsis die psyché am Werke sieht.
Diese Metaphysik ist das bislang unentdeckte Erbe Platons.
30
Sie ist seine folgenreichste Folge. Denn sie öffnet einen Raum
des Denkens, das ganz anders ist als die aristotelische Meta-
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
31
Psyché. Die Metaphysik der Lebendigkeit und das Maß aller Dinge
Kosmos. Das Wunder
des Werdens und die Philosophie
der Möglichkeit 33
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
»Dieser unser Kosmos ist ein sinnlich wahrnehmbares göttliches
Lebewesen, das größte und beste, schönste und vollendetste –
dieser unser einziger und einzigartiger Himmel.«
(Ti. 92 c)
Wer kennt nicht die Schule von Athen – jenes großartige Fresko,
mit dem Raffael eine der Stanzen des Vatikan schmückte ? Im
Zentrum dieses Bildes sieht man zwei antik gewandete und
bärtige Herren : der eine leicht ergraut und sichtbar älter als
der andere, welcher feuriger und jugendlicher wirkt. Der Jün-
gere streckt seine Rechte aus, als wolle er sie schützend oder
segnend über die Erde halten, der Ältere hingegen weist mit
der rechten Hand zum Himmel. Und wer bis hierhin immer
noch nicht weiß, um welche Herren es sich handelt, dem gibt
Raffael den entscheidenden Hinweis, indem er beiden Män-
nern je ein Buch in ihre linke Hand gemalt hat. Bei dem jungen
Mann trägt es die Aufschrift Ethica, bei dem älteren den Titel Ti
maios. Und damit wäre klar, um wen es sich hier handelt : Der
zum Himmel weist, ist Platon, denn der Timaios ist eines seiner
einflussreichsten Werke. Sein Gefährte ist der Autor der Niko
machischen Ethik, also Aristoteles. Und beider Gesten sollen zu
verstehen geben, worin sich beider Denken unterscheidet : Pla-
ton wird als Denker der Ideen vorgestellt, die – wie man meist
fälschlich glaubt – in irgendeiner jenseitigen, transzendenten
Welt verortet sind ; während sein Meisterschüler sich den irdi-
schen Dingen und menschlichen Belangen verpflichtet weiß,
so dass er ganz im Sinne Nietzsches unserer Erde treu bleibt.
So werden Klischees geboren und verewigt. So werden Irrtü-
mer verbreitet.
Denn es trifft nicht zu, dass Platon sich den Dingen dieser
Welt verschlossen und alles Sicht- und Fühlbare für minder-
34
wertig gehalten hätte. Es ist falsch, in Platon den Propheten
einer jenseitigen, geistigen Ideenwelt zu sehen, der in einem An-
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
einstreute, weisen in diese Richtung, sondern auch der Auf-
bau und die Dramaturgie des Textes, der keine einheitliche
Lehre zu erkennen gibt – ja, bei dem sich Hauptredner Timaios
mehrfach selbst ins Wort fällt, um neue Anläufe zu unterneh-
men und zuvor Gesagtes richtigzustellen. All das weist darauf,
dass Platon durch den Mund des Timaios keineswegs eine ko-
härente Weltentstehungslehre zum Besten geben wollte, son-
dern eine mythisch gewandete Theorie der physischen Welt :
der gewordenen, sicht- und messbaren phýsis. Es geht in die-
sem sonderbaren Dialog in erster Linie darum, die Phäno-
mene des kósmos in ihrer Gewordenheit zu ergründen ; und das
heißt zugleich : eine Philosophie des Werdens vor dem Hinter-
grund der Metaphysik der Lebendigkeit zu entwerfen.
Grundlage für alles, was von Timaios über den kósmos ge-
sagt wird, ist die allen Griechen gemeine Intuition, die Welt
im Ganzen sei ein Lebewesen. So erklärt Timaios ganz am An-
fang seines Mythos, man müsse »im Rahmen der wahrschein-
lichen Rede« annehmen, der Kosmos sei »durch der Gottheit
Fürsorge in Wahrheit als ein beseeltes (émpsychon) und geist
erfülltes Lebewesen entstanden« (Ti. 30 c). Wenn wir uns da-
ran erinnern, dass Platon in den Nomoi seinen namenlosen
Athener sagen ließ, dass jedermann psyché für eine Gottheit
halten müsse, dann ahnen wir, worum es hier im Timaios tat-
sächlich geht : um eine Kosmologie und Physik der Lebendig-
keit – eine naturphilosophische Theorie, die das Werden bzw.
Gewordensein der Welt als ein lebendiges Geschehen deutet ;
ja, die das Sein des Kosmos selbst als lebendiges Geschehen
des Werdens (und Vergehens) auslegt.
Die Weise, wie Timaios dabei vorgeht, ist freilich verwir-
rend. In einem ersten, beinahe hymnisch anmutenden Anlauf,
preist er den Kosmos ob seiner Schönheit und Vollkommen-
heit. Und er betont, dass ihm eine atemberaubende innere
36
Ordnung eingezeichnet ist, die – in der Sprache des Mythos –
auf einen intelligenten Urheber schließen lässt, der großes Ge-
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
Zeit beigelegt haben.« (Ti. 37 d)
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
ist, in seiner Wahrheit west. Daher ist die Grenze eines Seien-
den zugleich immer auch das Maß, an dem es sich daran mes-
sen lassen können muss, ob es wirklich seinem Wesen ent-
spricht – ob es sinnvoll ist (Phlb. 25 a). Die Grenze eines Seien-
den ist mithin gar nichts anderes als sein Sinn. Denn der Sinn
ist letztlich die Ursache dafür, dass etwas genau dasjenige ist,
was es ist. Und am Sinn misst sich zudem, ob es in seinem
Erscheinen seinem eigentümlichen Wesen angemessen ist. Ist
das der Fall, dann ist ein Seiendes nicht nur als bestimmtes er-
kennbar, sondern zugleich auch gut und wahr : sinnvoll.
Was hier Grenze heißt, entspricht präzise dem, was Platon
an vielen anderen Stellen als ›Idee‹ bezeichnet : der versteh-
bare Sinn eines Phänomens, von dem wir allen Grund zu der
Annahme haben, dass das konkrete, bestimmte So-Sein eines
Phänomens darauf zurückzuführen ist, dass es eben diesen
seinen Sinn, seine Idee, manifestiert. Sinn ist so gesehen das,
was etwas wirklich ist ; oder besser : es ist die Wirklichkeit eines
jeden Seienden – und zwar in dem Sinne, dass es dessen be-
stimmtes Gewordensein erwirkt ; und zwar erwirkt am bloßen
Möglichen, das im Philebos den Namen ›Grenzenloses‹ trägt.
Das Grenzenlose oder Unbegrenzte ist laut Sokrates zu-
nächst dasjenige, woran sich das Begrenzende (die Idee, der Sinn)
bewährt (Phlb. 24 a). Es ist die nackte Möglichkeit, von der wir
gar nichts ahnen könnten, würde sie nicht am Gewordenen
bzw. im Prozess des Werdens als dasjenige erscheinen, woran
sich die Wirklichkeit und Wirksamkeit des grenzenden Sinns
erweist. Grenzenloses ist mithin das Potenzial zum Sinn, ist Be-
stimmbarkeit, Gestaltbarkeit, Erkennbarkeit – aber nichts Be-
stimmtes, nichts Gestaltetes und nichts Erkennbares. Es ist
völlig ungreifbar, doch trotzdem kommt keiner an ihm vorbei,
der das Phänomen des Werdens zum Sein (Aspekt 3 : die gene
sis eis ousian) denkerisch durchdringen und verstehen möchte,
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wie der große kósmos funktioniert : was die ihm innewohnende
Lebendigkeit (Aspekt 4 : psyché und noûs) ausmacht.
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
»Denn ihrem Wesen nach liegt sie für alles als eine Präge
masse bereit, die durch das auf sie Einwirkende be-
wegt und gestaltet wird und folglich in unterschiedlichen
Gestalten erscheint.« (Ti. 50 c)
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
nomene dieser Welt zu erwirken. Sie sind das Prägende, das
unter Einwirkung auf die Prägemasse, dem werdenden Seien-
den ein Gepräge bzw. seine Identität verleiht. Platon legt dem
Timaios dafür ein weiteres, eingängiges Bild in den Mund :
Womit jedoch noch immer nicht geklärt ist, was es mit der
sonderbaren Mutter oder Amme allen Werdens letztlich auf
sich hat. Und das wird nicht besser dadurch, dass Timaios sie
mit einer »Worfelschwinge« (Ti. 52 e) oder einem »Rüttelsieb«
(Ti. 53 b) vergleicht, denn letztlich stellt er konsterniert fest, es
handele sich bei dieser rätselhaften Mutter um den »offenen
Raum« (chóra), der immer sei, der nie vergehe, allem Entste-
henden einen Ort gebe, selbst aber nicht wahrnehmbar und al-
lenfalls nur durch ein Pseudodenken ahnbar sei« (Ti. 52 a). Was
nur kann das sein ?
Die naheliegende Erklärung wäre, dass es sich hierbei um
so etwas wie »Materie« handelt. Und eben das kann man in
den meisten Kommentaren nachlesen. Die »Amme alles Wer-
dens« so zu deuten, hieße aber, die Metaphysik des Aristoteles
und sein an Kategorien der Herstellung orientiertes Denken in
den Timaios hineinzulesen und damit dessen eigentliche Pointe
zu verfehlen. Denn dem mythischen Bild des göttlichen Hand-
werkers zum Trotz geht es im Timaios nicht darum, die Welt als
Produkt der Herstellung zu deuten, sondern sie als ein Lebe-
wesen zu begreifen. Das Grenzenlose bzw. die »Amme des
Werdens« ist deshalb nicht das Material, an dem ein Produzent
42
seine Ideen verwirklicht, sondern das pure Potenzial, aus dem
die Welt gewachsen ist : Es ist so etwas wie das dunkle Erdreich,
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
reich. Und das in zweierlei Hinsicht :
Platon legt durch Timaios den Gedanken nahe, dieser kós
mos sei noch bis in seine kleinsten »Bausteine« m
athematisch
berechenbar. Selbst dorthin, wohin keine empirische For-
schung reicht und unsere Messinstrumente an ihre Grenzen
stoßen, kann der menschliche Geist mit Hilfe der Mathematik
vordringen. Auf diese platonische Grundintuition bauten die
Pioniere der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft
wie Galileo Galilei und Johannes Kepler in bewusster Opposi-
tion zur Empiriegläubigkeit der mittelalterlichen Aristoteliker
ihre revolutionären Theorien auf. Die gesamte neuzeitliche
Naturwissenschaft ist nicht denkbar ohne die platonische –
wahrscheinlich sogar schon pythagoreische – Grundintuition,
das Sein und Werden des kósmos folge einer mathematisch er-
schließbaren Intelligenz ; waren es doch nach dem Zeugnis des
Aristoteles (z. B. Met. 985 b) die Pythagoreer, die vermuteten,
der kósmos folge einer mathematischen Grundstruktur und sei,
wenn man so will, aus Zahlen gebaut. Gleichviel, das Faszi-
nosum der mathematischen Grundstruktur des kósmos ist bis
heute ungebrochen. Rechner dringen in die fernsten Winkel
der Galaxien vor – ebenso wie in die subatomaren Welten der
Quantenphysik. Von Martin Heisenberg berichtet Carl Fried-
rich von Weizsäcker in seinem Vortrag »Ein Blick auf Platon«,
dass ihn seine Lektüre des griechischen Originaltextes des Ti
maios dazu ermutigte, auf dem Weg mathematischer Opera-
tionen nach den kleinsten Bausteinen des Universums zu for-
schen. Man ahnt, wie folgenreich für die Geschichte unserer
modernen Wissenschaft die Kosmologie Platons wurde. Aber
damit nicht genug. In seinem Vortrag Das Wesen der Materie von
1944 bemerkte der Nobelpreisträger und Mitbegründer der
Quantenphysik Max Planck :
44
»Es gibt keine Materie an sich, alle Materie entsteht und
besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
Horizont, vor dem die schwer begreifliche Quantenphysik ver-
ständlich wird.
Der Physiker Hans Peter Dürr hat immer wieder darauf hin-
gewiesen, dass die Quantenphysik eine ›Physik der Möglich-
keit‹ sei, die sich nicht darauf beschränkt, die seienden Phäno-
mene dieser Welt zu messen und unter Rückgriff auf bleiben-
de Naturgesetze zu erklären. Vielmehr deute sie das Sein der
Phänomene als das unauslotbare energetische Potenzial, das
gleichsam als Rückseite des wirklich Gewordenen allem Seien-
den innewohnt und dessen permanente Wandlungsfähigkeit
begründet ; denn eine der wichtigsten Beobachtungen der Pio-
niere der Quantenphysik war – wie die Wissenschaftsjourna-
listin Lynne McTaggart in ihrem Bestseller Das Nullpunkt-Feld
formuliert –, dass »die winzigsten Materieteilchen gar keine
Materie waren, wie wir sie kennen ; sie waren nicht einmal ein
bestimmtes Etwas, sondern manchmal das eine und manchmal
etwas ganz anderes. Und seltsamer noch, oft waren sie gleich-
zeitig viele mögliche Dinge.« Quantenphysiker sprechen in die-
sem Zusammenhang von einem indifferenten Energiepoten-
zial, das fortwährend durch Interaktion mit sich selbst energe-
tische Zustände generiert, die dann als »Welle« oder »Teilchen«
gemessen werden können. McTaggart schreibt : »Was wir für
unser stabiles, statisches Universum halten, ist in Wirklich-
keit ein schäumender Strudel subatomarer Teilchen, die stän-
dig wie Gischttropfen in die materielle Welt eintreten und wie-
der in das substanzlose Energiemeer des Raumes zwischen den
Teilchen zurückfallen«.
Alle Materie des Kosmos pulsiert so gesehen in einem stän-
digen Fluss des Kommens und Gehens, durch den sich das
energetische Feld ständig erneuert. Das hat einen der führen-
den Pioniere der Erforschung des Nullpunkt-Feldes, Hal Put-
hoff, dazu veranlasst, es als »eine Art sich selbst regenerieren-
46
den energetischen Urzustand des Universums« zu beschreiben.
Man ahnt, dass hier die »Amme des Werdens« aus Timaios Pate
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
gestanden hat.
Noch deutlicher erkennbar ist das platonische Erbe in den
Arbeiten des Münchener Physikers Thomas Görnitz, der lange
ein vertrauter Mitarbeiter Carl Friedrich von Weizsäckers war.
Auch Görnitz vermutet im Hintergrund des sichtbaren und
messbaren Universums ein Feld geistiger Energie – die alte
»Prägemasse« des Timaios – das er nicht zufällig ›Protyposis‹
(»das, was zu prägen ist«) nennt. In seinem mit seiner Frau
Brigitte verfassten Buch Die Evolution des Geistigen erläutert er :
»Protyposis ist die begriffliche Erfassung einer abstrakten, kos-
mologisch begründeten Quanteninformation, der sich Gestalt
und auch Bedeutung einprägen kann.« Daher sei Protyposis
»unter allen naturwissenschaftlichen Begriffen derjenige, der
in zutreffendster Weise als der ›Geistigste‹ bezeichnet werden
kann.«
Wir können hier erkennen, wie sehr die kosmologisch-phy-
sikalische Intuition Platons bis in die avancierte Physik der
Gegenwart hinein die Theoriebildung der Naturwissenschaft
beflügelt hat – und in welch erstaunlichem Maß sie dadurch
bestätigt worden ist. Wie Platons Timaios nehmen wir auch
heute an, das Universum werde fortwährend einem unend
lichen Meer grenzenloser Möglichkeit abgerungen ; und auch
Physiker scheuen sich nicht anzunehmen, dass dabei eine prä-
gende und ordnende geistige Energie und Intelligenz zugange
ist, die den Zusammenhalt und Bestand der sichtbaren und
messbaren Welt gewährt. Diese Erkenntnisse lassen sich gut
in eine Metaphysik der Lebendigkeit einbetten, die den Sinn
von Sein nicht aristotelisch als Anwesenheit deutet, sondern
als ein ewiges Spiel von Kommen und Gehen, Anwesen und
Abwesen, Werden und Vergehen.
Könnte es sein, dass die Welt tatsächlich ein geistreiches
und beseeltes Lebewesen ist, das kraft der ihm innewohnenden
47
psyché immer wieder das Wunder vollbringt, dem Möglichen
das Wirkliche abzuringen, das Grenzenlose zu begrenzen und
Kosmos. Das Wunder des Werdens und die Philosophie der Möglichkeit
dem ungestalten Chaos Ordnung und Struktur zu schenken ?
Könnte es sein, dass die platonische Kosmologie, die unseren
Kosmos als ewiges Spiel der Entfaltung von Potenzialen deutet,
weit tragfähiger und unserem Menschsein förderlicher ist als
das zunehmend bedrohliche mechanisch-technische Weltbild
der Gegenwart ? Könnte es sein, dass wir erst dann wirklich
lebendig werden, wenn wir dem Grundprinzip der phýsis fol-
gen und nicht länger glauben, »Herren und Meister der Natur«
(Descartes) zu sein ? Könnte es sein, dass sich die wichtigste
Folge der platonischen Metaphysik der Lebendigkeit erst jetzt
herauszuschälen beginnt : als ältestes und zugleich frischstes
Narrativ der westlichen Zivilisation ?
Nous. Das Prinzip der Harmonie
und der Sinn des Lebens 49
Nous. Das Prinzip der Harmonie und der Sinn des Lebens
»Der Natur des Zeus wohnen eine königliche Seele
und ein königlicher Geist inne.«
(Phlb. 30 d)
»Die große Weltzeit«, hatte lange vor Platon schon der alte He-
raklit notiert, »ist ein spielendes Kind, das Spielsteine setzt«
(Fr. 52). Und er hatte angefügt : »Eines Kindes ist die Königs-
herrschaft«. Das war kühn gesprochen, legt es uns doch den
Gedanken nahe, diese Welt im Ganzen sei nichts anderes als
ein Kinderspiel – als ein Produkt des Zufalls oder eine Laune
des Schicksals. Das war es aber – nach allem, was wir wissen –
nicht, was Heraklit uns sagen wollte ; wurde er doch nicht
müde zu betonen, dass die Welt geordnet sei und ihrem eige-
nen Maß und ihren eigenen Regeln folge. Erinnern wir uns
an sein Wort, wonach der kósmos »immer war und ist und sein
wird : ewiglebende Energie (Feuer), aufflammend nach Maßen
und verlöschend nach Maßen« (Fr. 30).
Heraklit sah im kósmos eine Kraft am Werke, die ihm dasje-
nige verleiht, was er den lógos nannte. Lógos heißt so viel wie
›geistige Ordnung‹ oder ›Fuge‹. Lógos ist im Sinne Heraklits in
etwa das, was man die Spielregel des großen Weltgeschehens
nennen könnte ; oder besser noch : als Spielregel der kosmi-
schen Lebendigkeit, die sich als jenes große Weltgeschehen
mitteilt und im Spiel der phýsis immer neu entfaltet. So lässt
sich ein Reim darauf machen, was er mit folgendem Wort sa-
gen wollte :
den Weg beschreitest – zu tief ist der ihr eigene lógos«. (Fr. 45)
Wäre es anders, so meinte Heraklit, würden die Menschen we-
niger ›herumeiern‹ und schlicht und einfach ihrer eigenen Na-
tur gemäß leben (vgl. Fr. 2 + 17) – was sie aber schon zu seinen
Zeiten offenbar nur selten taten.
Diesem »tiefen lógos«, der die Ordnung und den Sinn des
großen Lebensspiels des kósmos verbürgt, galten Platons späte
Dialoge. Denn das große Lebensspiel, von dem schon Heraklit
gesprochen hatte, war in Platons Augen gar nichts anderes als
das lebendige Walten der phýsis : des Werdens und Vergehens,
des Anwesens und Abwesens, des Wachsens und des Sterbens.
Dieses wunderbare, göttliche und heilige Geschehen zu durch-
denken war der Fokus des Programms, das er als »Rettung der
Phänomene« propagiert hatte und dessen literarischer Umset-
zung wir in den Dialogen Nomoi, Timaios und Philebos bereits
nachgegangen sind.
Im Philebos waren wir darauf gestoßen, dass nach Platon
vier Faktoren unterschieden werden müssen, die gemeinsam
die Dynamik des großen kosmischen Lebensspiels des Seins
und Werdens aller Dinge ausmachen : die begrenzende Wirk-
lichkeit (péras) der Ideen (auf die wir noch ausführlicher zu
sprechen kommen werden) ; die blanke Möglichkeit (apeiron)
des Grenzenlosen, das aus beiden gemischte Werden bzw. Ge-
wordensein aller Phänomene (génesis eis ousian = Werden zum
Sein) und der dieses Werden ordnende und strukturierende
Geist, auf Griechisch noûs. Ganz in diesem Sinne lässt Platon
im Philebos des jungen Protarchos sagen :
Hier kommt nun heraus, dass es einen Grund und eine Ursa-
Nous. Das Prinzip der Harmonie und der Sinn des Lebens
che dafür gibt, dass bei dem Spiel des Werdens nicht nur ir-
gendetwas Zufälliges oder Sinnloses entsteht, sondern etwas
Sinnvolles, Vernünftiges, Erkennbares und Stimmiges : den
noûs, den Geist. Ihm, so erfahren wir im Philebos, verdankt sich
die Wiederkehr der Jahreszeiten und die Gesundheit eines Lei-
bes oder überhaupt ein jedes ausgewogenes, wohltemperier-
tes oder balanciertes Miteinander vieler Wesen, die gemein-
sam ein System bevölkern (Phlb. 26 a–b). Überall, wo Leben
sinnvolle, geordnete, stabile und verlässliche Strukturen her-
vorbringt, so der Kerngedanke Platons, zeigt sich darin als
verursachende Kraft der noûs, der daher vielleicht besser noch
als mit dem Wort Geist, mit Sinn übersetzt werden kann ; und
zwar mit dem umfassenden Bedeutungsspektrum, das unsere
Sprache diesem Wort gibt : Sinn nicht allein als die Qualität der
Verständlichkeit und Bejahbarkeit, die allem Sinnvollen inne-
wohnt, sondern auch als die Fähigkeit oder besser noch das
Organ, kraft dessen wir ein Phänomen erschließen können :
Noûs ist so etwas wie der Sinn für den Sinn – und dies in einem die
Sinne umfassenden, also nicht allein kognitiven Sinn. Darauf
weist auch der Umstand, dass das Wort noûs sich von dem in-
dogermanischen Wortstamm snû herleitet, aus dem sich nicht
allein der noûs der Griechen, sondern auch unsere Worte ›Nase‹
oder ›schnüffeln‹ entwickelt haben. All das sollten wir im Ohr
haben, wenn wir es mit dem noûs als Grundprinzip des Wer-
dens und als Kernaspekt der alle phýsis tragenden psyché bei Pla-
ton zu tun bekommen.
Für Platon ist dabei klar : Es gibt keinen noûs ohne psyché. So
lesen wir im Timaios :
Noûs erweist sich also als das ordnende Moment, das der kos-
Nous. Das Prinzip der Harmonie und der Sinn des Lebens
Nous. Das Prinzip der Harmonie und der Sinn des Lebens
einst den Namen ›Zeus‹ gegeben hatte. Kosmische Lebendig-
keit regiert und waltet in der Welt kraft des ihr eigenen Sinnes,
Geistes oder noûs. Das ist Platons Botschaft auf den Spuren He-
raklits ; aber nicht allein auf dessen Spuren.
Von dem noûs als Urheber und Ordner allen Lebens hatte
ausdrücklich ein anderer der sogenannten Vorsokratiker ge-
sprochen : Anaxagoras. Seine Lehre von der Ordnungskraft des
Geistes ist dank Aristoteles und einiger antiker Kommentato
ren zu seinen Werken gut bezeugt. So zitiert Simplikios in sei-
nen Anmerkungen zur Physik des Aristoteles aus den Werken
jenes alten Denkers, um seinen Lesern verständlich zu m achen,
womit Aristoteles sich auseinandergesetzt hatte. Dort findet
man zum Beispiel dieses Zitat :
Nous. Das Prinzip der Harmonie und der Sinn des Lebens
ben. Und so schließt er nicht ohne spürbare Erregung : »Ich
nun wäre, um zu wissen, wie es sich mit der wirklichen Ursa-
che verhält, gar zu gern irgendjemandes Schüler geworden«
(Phd. 99 c). Da ihm dieses Glück aber nicht zuteilgeworden sei,
habe er sich mit einer »zweitbesten Fahrt« helfen müssen. Da-
rauf wird zurückzukommen sein.
Wir können derweil vermuten, dass Sokrates mit den Erläu-
terungen des Timaios oder des namenlosen Herren aus Athen
in den Nomoi zufriedener gewesen sein dürfte. Denn – wenn-
gleich getarnt im mythischen Gewand eines Handwerkers qua
Weltenschöpfer bzw. eingebaut in eine Theorie der Bewegung –
in diesen Dialogen gibt uns Platon deutlich zu verstehen, wo-
rin eigentlich die ordnende und damit alles Werden tragende
Funktion des noûs besteht, was sein eigentliches Werk ist, wel-
cher Richtung und Tendenz er folgt, wenn er dem Möglichen
den Weg ins Wirkliche, dem Grenzenlosen die Begrenzung
schenkt : Es geht bei alledem um Harmonie und Stimmigkeit,
um Gleichgewicht und Ganzheit lebender Systeme. Noûs bzw.
Sinn ist bei Platon dadurch definiert, dass seine Wirkung oder
Wirklichkeit darin besteht, Systeme so zu arrangieren, dass sie
mit sich und mit der Welt im Einklang sind. Das Im-Einklang-
mit-sich-Sein ist exakt »das Gute« oder »Beste«, dessen Ursa-
che Sokrates in Erfahrung bringen wollte, doch bei Anaxago-
ras nicht fand.
Anders als der noûs des Anaxagoras ist der noûs des Timaios,
der Nomoi und des Philebos die Ursache dafür, dass die Dinge
nicht nur einfach da sind, sondern dass sie gut und sinnvoll
sind. Andersherum lässt sich sagen, dass bei allem, was harmo
nisch, stimmig oder sinnvoll ist, davon ausgegangen werden
kann, dass der königliche noûs darin mächtig ist. Das gilt alle-
mal und in besonderem Maß vom kósmos selbst, den wir schon
als größtes, bestes, schönstes und vollendetes Lebewesen ken-
56
nen. Immer wieder neu, durch immer wieder andere Perso-
nen, lässt uns Platon wissen, dass der kósmos ihm als Inbegriff
Nous. Das Prinzip der Harmonie und der Sinn des Lebens
Nous. Das Prinzip der Harmonie und der Sinn des Lebens
hatte als lógos – also als Spielregel – des großen Lebensspiels er-
mittelt : »das Wider-einander-Stehende zusammenstimmend
und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie« (Fr. 8), und
im Blick auf seine Zeitgenossen bemängelt, sie würden nicht
verstehen, »wie das Unstimmige mit sich übereinstimmt : des
Wider-Spännstigen Fügung wie bei Bogen und Leier« (Fr. 51).
Was er damit sagen wollte, war wohl Folgendes : Harmo-
nie hat gar nichts Harmonistisches. Harmonie bedeutet Hoch-
spannung. Dieser kósmos ist harmonisch, weil er in sich alle
Widersprüche trägt und aushält : Alles ist in ihm so arrangiert,
dass es allen inneren Unverträglichkeiten und Gegensätzen
zum Trotz doch ein Ganzes ist : ein System voller Antagonismen
und Antipoden, ein System in Hochspannung (wie Bogen und
Leier), das aber gerade in dieser energetischen Spannung die
in ihm waltende Lebendigkeit bezeugt.
Die kosmische Lebendigkeit – die Weltenseele des Timaios –
erweist sich vor diesem Hintergrund als Grund und Wesen al-
len Seins und Werdens, indem sie diese Welt bei allen ihren in-
neren Widersprüchen doch im Innersten erhält und trägt. So
wie Heraklit orakelt hatte, als er schrieb : »Zusammengefasst
sind Ganze und Nichtganze, Einträchtiges und Zwieträchtiges,
Einstimmendes und Missstimmendes – das heißt : aus allem
eines und aus einem alles« (Fr. 10). Und sie bekundet ihre Kraft
darin, dass sie alle phýsis still durchwaltet, wenn sie dabei auch
zumeist verborgen bleibt. Denn »die phýsis mag es, sich zu ver-
bergen« (Fr. 123), hatte Heraklit bemerkt. Und : »Die verbor-
gene Harmonie ist mächtiger als die offenbare« (Fr. 54).
Der Bezug zu Heraklit ist wichtig, weil er zu erkennen gibt,
wie psyché die Welt im Innersten zusammenhält : Kraft des noûs,
der ihr innewohnt, gibt sie allem Wachsen und Werden, al-
ler phýsis und allem Leben, eine Richtung und ein Ziel. Wach-
sen, Werden, phýsis, Leben : Alles strebt nach Harmonie, alles
58
strebt nach Einklang mit sich selbst, alles strebt nach stimmi-
ger Ganzheit – nach einer Ordnung, in der alles so mit allem
Nous. Das Prinzip der Harmonie und der Sinn des Lebens
Nous. Das Prinzip der Harmonie und der Sinn des Lebens
tiefer wir in die Zusammenhänge eindringen, desto mehr Har-
monien entdecken wir.« Denn »Harmonien stellen sich in die-
ser Welt von selbst ein, wenn man Chaos unter bestimmten,
rückgekoppelten Bedingungen sich selbst aufschaukeln lässt«.
Mit einem Wort, das Platons Einsicht in die Sinnhaftigkeit des
kósmos ebenso wie unser aller Leben verdichtet : »Die Welt ist
harmonisch.«
Agathon. Die Idee des Guten
und die Tugenden jenseits
von Gut und Böse 61
Agathon. Die Idee des Guten und die Tugenden jenseits von Gut und Böse
»Am Himmel aber ist vielleicht ein Vorbild aufgestellt für den,
der sehen und nach Maßgabe des Geschauten sein Leben
einzurichten wünscht.«
(Rp. 592 b)
Agathon. Die Idee des Guten und die Tugenden jenseits von Gut und Böse
es wohl sein möge.« (Rp. 505 d–e)
Das aber soll sich nun ändern, weshalb er den Vorschlag unter-
breitet, das schwer zu fassende »Gute selbst« (Rp. 506 d) durch
das Bild der Sonne zu veranschaulichen. Nicht nur, weil ihr alle
Pflanzen zustreben, sondern weil sie es ist, die
»dass durch die Idee des Guten nicht nur dem Erkenn
baren das Erkanntwerden zukomme, sondern auch das
Sein und Wesen, wenngleich das Gute selbst kein Seiendes
ist, sondern noch jenseits des Wesens es an Würde und
Kraft überragt.« (Rp. 509 b)
Das ist ein starkes Stück. Die Idee des Guten wird hier in
zweierlei Hinsicht als Ursprung gefeiert : einerseits als Grund
des Seins und Wesens, andererseits als Grund der Erkennbar-
keit ; und dies beides, sofern die Idee des Guten selbst »jenseits
des Wesens« verortet wird (epékeina tês ousías). Wie kann man
sich einen Reim darauf machen ?
Gut vorbereitet sind wir, um zu verstehen, inwiefern die
Idee des Guten das Sein und Wesen alles Seienden durchwirkt :
sofern das Sein des Seienden psyché ist, psyché den noûs in sich
trägt und noûs alles Werden harmonisch ordnet, weil er Maß am
Guten nimmt. Alle phýsis wächst zum Guten. Die Systeme, die
die phýsis wachsen lässt, haben alle die Tendenz zur Harmo-
nie. Harmonie ist gleichsam Frucht und Blüte allen Wachsens
64
und Gedeihens. Sie markiert den Zustand, in dem ein Seien-
des ganz zu sich selbst gekommen ist und ganz sein Potenzial
Agathon. Die Idee des Guten und die Tugenden jenseits von Gut und Böse
entfaltet hat.
Deshalb ist es nicht zu viel gesagt, das Gute sei der Grund
des Seins und Wesens aller Dinge. Denn was ist, ist dann erst
wirklich, wenn es gut ist – wenn es ganz das ist, was es zu sein
vermag, wenn es ganz mit sich im Einklang ist : stimmig und
harmonisch. Stimmigkeit und Harmonie sind in der Welt der
Phänomene, des Gewordenseins und Werdens, die Erschei-
nungsform des Guten. Immer dann, wenn etwas stimmig und
harmonisch ist, darf man deshalb darauf schließen, dass ein
wacher noûs in ihm zugange ist. Und für den kósmos im Ganzen
darf man unterstellen, dass die »beste psyché« in ihm mächtig
ist (Lg. 897 a) : eine psyché, deren noûs ganz vom Guten durch-
drungen ist und die es in der Welt der Phänomene sinnenfäl-
lig macht.
Aber nicht allein im großen Ganzen ist das Gute ursächlich
zugange. Letztlich zeigt es seine Macht in einem jeden Seien-
den, das nach Einklang mit sich und seiner Umgebung strebt.
Hat es diese Harmonie mit sich erreicht, sagen wir von ihm,
es sei gut. Auf Griechisch könnte man ebenso sagen : Es ver-
fügt über areté. Das Wort wird meist mit Tugend übersetzt, was
jedoch nur dann korrekt ist, wenn man Tugend nicht mora-
lisch, sondern ursprünglich als Tauglichkeit versteht : Areté hat
das, was etwas taugt. Das ist dann der Fall, wenn es gut ist :
mit sich selbst im Einklang, stimmig, sinnvoll. Ein gutes Mes-
ser etwa ist ein Messer, das in sich so strukturiert ist, dass es
eine Ordnung aufweist, an der sich zeigen kann, was ein wah-
res und sinnvolles Messer ist (Rp. 353 a). Solch ein Messer hat
das Potenzial, das einem Messer innewohnt, entfaltet. Solch
ein Messer ist ein exzellentes Messer, es ist trefflich, denn es
trifft die areté des Messers – seine ›Bestheit‹, wie man wörtlich
übersetzen könnte. Das bedeutet : Ein echtes Messer, ein wirk-
liches und wahres Messer, ist ein gutes Messer. Die Tugend
65
eines Messers liegt genau dann vor, wenn ein Messer wahrlich
und wahrhaft ein echtes Messer ist. Wenn wir ihr einen Namen
Agathon. Die Idee des Guten und die Tugenden jenseits von Gut und Böse
geben wollten, könnten wir sie ›Schnittigkeit‹ nennen.
Nicht viel anders steht es um die areté des menschlichen
Organismus. Diese areté heißt auf Griechisch hygeía, Gesund-
heit. Sie benennt den Zustand, bei dem alle seine Organe und
Funktionen so in Balance und Harmonie sind, dass das Sys-
tem ›Leib‹ im Ganzen stimmt. So hatten die großen Ärzte der
Antike es gelehrt. Alkmaion etwa, der antiken Quellen zufolge
sagte :
Agathon. Die Idee des Guten und die Tugenden jenseits von Gut und Böse
dern auch verstehen können. Wie nun das ?
Etwas zu verstehen heißt zu wissen, dass, warum und wie
es gut ist. Bleiben wir bei unserem Beispiel : Wer als Heilkun-
diger den menschlichen Organismus versteht, der hat zugleich
verstanden, was es mit dessen Gesundheit auf sich hat. Oder :
Wer beansprucht zu wissen, was ein Messer ist, kann dieses
Wissen nur bezeugen, indem er zu sagen weiß, worin die areté
eines Messers besteht : in der ›Schnittigkeit‹. Oder einfacher
gesagt : Er weiß nur dann, was ein Messer ist, wenn er ein gutes
Messer von einem schlechten Messer unterscheiden kann. Da-
mit ist ein nicht unerheblicher Sachverhalt angezeigt, den wir
noch genauer untersuchen werden, wenn wir uns im nächsten
Kapitel den nun schon mehrfach erwähnten Ideen zuwenden,
die letztlich nichts anderes sind als das jeweilige Gute oder
die jeweilige areté eines jeweiligen Seienden. Hier geht es da-
rum, zu verstehen, dass Verstehen immer impliziert zu wissen,
was das Gute an dem ist (oder doch sein könnte), was wir da
verstanden haben ; was es wahrhaft ist oder worin denn seine
Wahrheit liegen könnte. Nur im Licht des Guten zeigt sich et-
was als das, was es wirklich ist. Das Licht des Guten lässt die
Dinge in ihrer Wahrheit aufleuchten – oder in ihrer Unwahr-
heit, wenn sie der areté, auf die sie angelegt sind, nicht genü-
gen. Deshalb ist das Gute nicht allein die Ursache des Werdens
und des Wesens aller Dinge, sondern auch als Licht der Wahr-
heit der Grund ihrer Verstehbarkeit.
Daraus folgt ein Weiteres : Das Gute ist das Maß für alle, die
etwas Wahres, Verstehbares und Sinnvolles in die Welt bringen
wollen. Das Gute ist also nicht nur Grund und Ursprung al-
len Werdens, sondern auch Maßstab und Ziel. Was immer wer-
den und entstehen soll, ist sinnvoll dann, wenn es am Guten
maßnimmt : wenn es eine areté verwirklicht, d. h. wenn Harmo-
nie und Einklang darin sichtbar werden. Dann nämlich folgt
68
es den Spielregeln der kosmischen psyché, dann ist es naturge-
mäß, im Einklang mit dem Sein. Oder anders gesagt : Wer die
Agathon. Die Idee des Guten und die Tugenden jenseits von Gut und Böse
Idee des Guten verstanden hat und weiß, dass Gut-Sein gleich-
bedeutend ist mit Harmonisch-Sein, der hat einen Maßstab,
nach dem er sein Leben und die Welt so einrichten kann, dass
sie sinnvoll, wahr und gut sind, also so, dass sie dem Sein – psy
ché – entsprechen.
Nun ist auch verständlich, was es heißt, dass die Idee des
Guten von Sokrates »jenseits des Wesens« verortet wird. Sie
selber ist kein Seiendes, sie wird nicht und sie ist auch nicht
geworden. Sie ist vielmehr die verdichtete Gestalt des Grund-
prinzips des Seins und Werdens, wie es sich im Lichte der
Metaphysik der Lebendigkeit darstellt : Das Sein und Werden
alles Seienden ist ein auf Harmonie und folglich areté angeleg-
tes Zusammenspiel des Vielen in einem System. Im Mythos
hieß diese verdichtete Gestalt Apollon und genoss den Ruf des
schönsten Gottes. Daran denkt am Ende des Sonnengleichnis-
ses einer der Gesprächspartner des Sokrates, der überrascht
ausruft : »Apollon ! Welch geistreiche Enthüllung« ; fast so, als
sei ihm dieser Gott selbst erschienen – oder als habe er sein
Antlitz hinter der Maske des agathón erkannt.
Dieses Detail ist nicht unerheblich. Apollon war der Gott,
der von seinem Heiligtum in Delphi aus dem griechischen
Geist die entscheidenden Impulse gab. Dies vor allem durch
die bekannten Inschriften, die in der Vorhalle seines großen
Tempels eingemeißelt standen : ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ und ΜΗΔΕΝ
ΑΓΑΝ : Erkenne dich selbst ! und Nichts allzusehr ! Beide Worte wie-
sen den Menschen auf das ihm als einem sterblichen Lebewe-
sen innewohnende Maß, auf die ihm eigene areté – auf ein stim-
miges Leben, das bei allem stets den Einklang mit sich selbst
wie auch mit der Gemeinschaft anderer Menschen und dem
kósmos im Ganzen sucht. ΑΡΙΣΤΟΝ ΜΕΤΡΟΝ – Das Beste ist das
Maß ! – lautete denn auch ein drittes geflügeltes Wort aus Del-
phi.
69
Dieses Beste, dieses Maß des Lebens wird in Platons Poli
teia sichtbar – als Idee des Guten, als Idee der areté : Einklang,
Agathon. Die Idee des Guten und die Tugenden jenseits von Gut und Böse
Gleichgewicht und Harmonie, die Fuge des Vielen zu einem
stimmigen Ganzen. Daran gilt es Maß zu nehmen. Die Idee
des Guten zu verstehen, ist die Grundbedingung für ein gutes
Leben bzw. für die Fertigkeit, ein gutes Leben zu führen oder
doch wenigstens die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Ein-
sicht in die Idee des Guten ist so gesehen die conditio sine qua
non für eine jede Führungskraft.
Damit ist nun auch der Grund dafür gefunden, wie es
kommt, dass Platon die Idee des Guten ausgerechnet in einem
Dialog über Politik zum Thema macht. Für ihn ist es eine aus-
gemachte Sache, dass ein Gemeinwesen nur dann ein gutes –
und das heißt für ihn : ein gerechtes – Gemeinwesen sein wird,
wenn die Verantwortlichen wissen, woran sie Maß zu neh-
men haben ; wenn sie also die Idee des Guten verstanden ha-
ben. Dasselbe gilt im Blick auf Bildung und Erziehung : Nur wer
weiß, was die Idee des Guten ist, sollte anderen den Weg ins
Leben weisen dürfen. Ja, es gilt zuletzt für jedes Individuum,
denn die Harmonie der eigenen Seele wird nur dem zuteil, der
weiß, was Harmonie des Lebens sein kann. Dieses Wissen
heißt in Platons Sprache Weisheit : sophía. Und diejenigen, die
diesem Wissen, dieser Meisterschaft mit Leidenschaft und
Liebe – philía – auf die Schliche kommen wollen, heißen Philo
sophen. Philosophen also müssen Führungskräfte, Pädagogen,
ja sogar die Lenker eines Staates sein, wenn das Leben einzel-
ner und ganzer Gemeinwesen gelingen soll. Oder, wie Sokra-
tes in einem viel zitierten und viel verhöhnten Wort sagt :
Denn auf der Einsicht in die Idee des Guten gründet jedes
70
sinnvolle Urteil, jede sinnvolle Entscheidung zwischen gut und
schlecht. Sie ist das Fundament einer Ethik, die das Maß aller
Agathon. Die Idee des Guten und die Tugenden jenseits von Gut und Böse
Agathon. Die Idee des Guten und die Tugenden jenseits von Gut und Böse
Grenzen stoßen, dürfte ein Ethos – das nicht als kontingentes,
kulturell imprägniertes Konstrukt abgetan werden kann, da es
aus der Verfasstheit des lebendigen Seins selbst hergeleitet ist –
neue Horizonte für ein gemeinschaftliches Denken und Han-
deln im Dienste des Lebens öffnen, von dem allein zu hoffen
ist, dass es eine dem technischen Machbarkeitswahn erlegene
Menschheit zu retten vermöchte.
Eidos. Das Licht des Sinns und
der Ursprung des Bestimmten 73
Eidos. Das Licht des Sinns und der Ursprung des Bestimmten
»Dem stimme ich gar nicht zu : dass, wer das Seiende
im Denken betrachtet, es mehr in Bildern sieht,
als wer es in den Dingen anschaut.«
(Phd. 100 a)
Eidos. Das Licht des Sinns und der Ursprung des Bestimmten
Dialog Parmenides macht Platon uns zu Zuschauern einer denk-
würdigen Zusammenkunft : Parmenides und sein Meisterschü-
ler Zenon sind auf Besuch in Athen und treffen einen jugend-
lichen Sokrates (was historisch nicht ganz unmöglich ist), der
sich als eifriger, ja übereifriger Freizeitdenker hervortut und
sich anmaßt, dem großen alten Meisterdenker aus Elea froh-
gemut seine Ideenphilosophie aufzutischen – was nach dem
aussieht, was von Aristoteles bis Precht stets als »Ideenlehre«
referiert wurde und hier vom alten Parmenides ohne großes
Federlesen demontiert wird. So fragt der alte Mann den jun-
gen Sokrates an einer Schlüsselstelle des Textes :
den hatte, was es mit den Ideen wirklich auf sich hat – und
dass die Sache mit den zwei getrennten Welten dessen Phan-
tasie, nicht aber seinem eigenen Denken entspringe. Denn tat-
sächlich ist, wie Hans-Georg Gadamer als einer unter wenigen
in seinem Aufsatz »Die sokratische Frage des Aristoteles« zu
Recht bemerkt hat, »nicht Plato, sondern Aristoteles der Ur-
heber der Zweiweltenlehre, und auf ihn geht zurück, was über
den Neuplatonismus das Platobild dauerhaft entstellt«.
Aber ist das nicht ein bisschen viel des Aristoteles-›Ba
shings‹ ? Wie immer bei Missverständnissen gehört doch wohl
auch derjenige in die Kritik genommen, der Anlass zu ihnen
gegeben hatte ; in unserem Falle also Platon. Und tatsächlich :
Die Mär von der Zweiweltenlehre und den abgetrennten wahr-
haft seienden Ideen hätte sich, Aristoteles’ Einfluss hin oder
her, wohl kaum so hartnäckig gehalten, wenn Platon in sei-
nen Dialogen ihr nicht reichlich Nahrung gegeben hätte. Denn
alles, was Aristoteles an den Ideen auszusetzen hatte, findet
sich bei Platon selbst geschrieben – meistens aus dem Mund
des Sokrates. War der Parmenides also nicht doch eine Selbstkri-
tik ?
Nein, er war es nicht, und hier zeigt sich nun, wie w
ichtig es
bei der Platon-Lektüre ist, das literarische Setting zu berück-
sichtigen. Denn was Platon in diesem Dialog vorhatte, wird
einem klar, wenn man sich für einen Augenblick die Frage
stellt, was ihn dazu veranlasst haben mag, ausgerechnet Par-
menides auf die Dialogbühne zu stellen, um Aristoteles’ K ritik
an der Ideenphilosophie der Unzulänglichkeit zu ü berführen.
Die Antwort darauf weist den Weg zu einem besseren Verständ-
nis dessen, was Platon mit seiner Ideenphilosophie sagen
wollte. Denn Parmenides steht für eine ganz bestimmte Aus-
legung des Seins im Ganzen – eine Auslegung, in deren Fahr-
wasser sich auch Aristoteles bewegte und in deren Licht es un-
77
möglich ist, die Ideen als das zu erfassen, was sie im Verständ-
nis Platons sind : keine Gegenstände und kein gegenständliches,
Eidos. Das Licht des Sinns und der Ursprung des Bestimmten
anwesendes Seiendes, sondern vielmehr so etwas wie geistige
›Wirkquanten‹, die nicht begriff lich erfasst und empirisch fest-
gestellt, sondern nur in ihrer Wirkung erfahren und beschrie-
ben werden können.
Um sie wirklich zu verstehen, braucht es ein anderes Den-
ken als das am anwesenden und feststellbaren Seienden orien-
tierte Denken des Parmenides und auch des Aristoteles. Nicht
dass er Ideen annimmt, verrät im Parmenides die Naivität des
jungen Sokrates, sondern dass er unbedacht den Denkbahnen
des alten Parmenides auf den Leim geht und sich damit jeder
Chance beraubt, seiner richtigen Intuition zu folgen und die
Ideenannahme so zu versprachlichen, dass ihre Plausibilität
erkennbar wird.
Was aber soll es heißen, dass Ideen nicht als gegenständlich
Seiendes, sondern als geistige Wirkquanten zu deuten sind ?
Dafür schauen wir uns nun ein wenig näher an, was wir aus
den einschlägigen Passagen der Dialoge über sie in Erfahrung
bringen können. Dabei sticht vor allem ein Aspekt ins Auge,
den auch Aristoteles ins Zentrum seiner Auseinandersetzung
mit Platon rückte : Ideen sind Ursachen – aber eben nicht als
Ursachen wie Aristoteles unterstellte, sondern als Wirkquanten.
Hätte Platon sie für Ursachen gehalten, wäre seine Ideenphilo-
sophie in der Tat nicht zu retten. Wenn man Ideen aber mit Pla-
ton (und gegen alle von Aristoteles bis Precht) nicht als Sachen,
sondern als Wirkungen denkt, ist die Ideenphilosophie nicht nur
plausibel, sondern nachgerade der Türöffner für eine höchst
verheißungsvolle Deutung unserer Welt und unseres Lebens.
»Du erinnerst dich doch, dass ich dich nicht darum bat,
mir eines oder auch ein zweites von all dem vielen From-
men beizubringen, sondern diesen einen Gesichtspunkt
(eídos), unter dem all die frommen Dinge fromm sind.
Denn du sagtest ja, in einer gewissen Hinsicht (idéa) sei
alles Fromme fromm bzw. alles Frevelhafte frevelhaft.«
(Euph. 6 d–e)
Es zeigt sich deutlich, wie sehr Sokrates – und wohl auch Pla-
ton – um Worte ringt, die das mediale Wirken der Ideen zur
Sprache bringen : von der schon bekannten méthexis – Teilhabe –
ist die Rede, ebenso von Anwesenheit (parousía) und Gemein-
schaft (koinonía). So oder so geht es aber nur um eines : zu er-
läutern, dass da etwas ist, das zwischen unserem Verstehen
und den Phänomenen dieser Welt die Brücke baut – nicht als
Werkzeug oder Gegenstand, sondern als Wirkprinzip, das in
uns ebenso wie in den Dingen wirksam ist und gleichzeitig die
beiden Seiten miteinander vermittelt. So wie eben das Licht,
das sowohl unsere Wahrnehmung als auch das Erscheinen der
Dinge ermöglicht. Nur dass es hier nicht um das physische Licht
geht, sondern um das Licht des Geistes.
Dieses Licht ist uns inzwischen wohlvertraut, denn wir ken-
nen es bereits als die Idee des Guten. Und das trifft sich gut.
Denn von ihr aus können wir nun gut verstehen, was es mit
den vielen einzelnen Ideen auf sich hat ; ist sie doch so etwas
wie die Idee der Ideen – der Einheitsgesichtspunkt, der es erlaubt,
jede einzelne Idee als Idee zu verstehen. Jede einzelne Idee, so
wird nun deutlich, funktioniert wie die Idee des Guten : Jede
einzelne Idee wirft ein bestimmtes und bestimmendes Licht
auf die bestimmten Phänomene, so dass diese in ihrem be-
stimmten Sein als ein bestimmtes Seiendes zutagetreten.
Und so wie die eine Idee des Guten im noûs verortet war, so
sind auch die vielen einzelnen Ideen im noûs verortet – im noûs,
den wir als ordnendes Moment der kosmischen Lebendigkeit
und mithin des Seins kennen ; und der nicht nur den seienden
Dingen als deren Sinn innewohnt, sondern auch dem seienden
Menschen, als dessen selbstbewusster Sinn für den Sinn. Die
82
Ideen sind gar nichts anderes als Funktionen des noûs, d. h. das-
jenige, was wir bereits als Grenze und Begrenzendes – péras –
Eidos. Das Licht des Sinns und der Ursprung des Bestimmten
Der Sinn der Phänomene kann nicht selbst ein Phänomen sein.
Er ist das, was Phänomene als bestimmte sichtbar und versteh-
bar werden lässt, selbst jedoch ist er dem Licht gleich reines
Medium der Verstehbarkeit. Ebenso jedoch, wie wir vom Licht
nichts sähen, wenn es nicht auf irgendetwas stoßen würde, das
es reflektiert, wüssten wir auch nichts von den Ideen, stellten
sie sich nicht an den Phänomenen dar ; oder andersherum ge-
dacht : wären die Phänomene nicht Manifestationen oder Dar-
83
stellungen von dem Sinn, der es uns erlaubt, sie als bestimmte
anzusprechen – wir wüssten nichts vom Sinn.
85
Ideen lernt man in der Praxis
91
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
»Werden wir uns dazu verleiten lassen zu denken,
dass Bewegung und Leben, Seele und Denken dem gänzlich
Seienden in Wahrheit gar nicht zukommen ; und dazu,
dass es weder lebe noch denke, sondern hehr und heilig,
ohne Sinn und unbeweglich existiere ?«
(Sph. 248 e)
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
Aber dabei lässt es Platon nicht bewenden. Denn das Rät-
sel des Zusammenspiels von Sein und Werden ist noch nicht
gelöst. Dafür braucht es eine Klärung dessen, was auf Grie-
chisch lógos heißt. Erst mit der Erhellung dessen, was der lógos
ist, wird die ›Rettung der Phänomene‹ zu einem erfolgreichen
Ende gebracht werden können. Denn die Aufklärung des lógos
enthüllt die Logik, der die phýsis im großen Spiel des Werdens
und Vergehens folgt. Auch wird sie den philosophischen Hori-
zont umreißen, vor dem Platon die konkurrierenden ontologi-
schen Theorien seiner Vorgänger zu einer integralen, stimmi-
gen Metaphysik verbinden kann. Diese Aufklärung des lógos
ist das große Projekt, dem Platon den Namen ›Dialektik‹ gab
(Rp. 534 b) und das er in einer Sequenz von Dialogen ausge-
führt hat, die aus seiner vorletzten Schaffensphase stammen :
Parmenides, Theaitetos, Sophistes und Politikos.
Was ist lógos ? Das Wort kommt her vom Verbum légein, das
ein reiches Spektrum an Bedeutungen aufweist. Légein, das ist
lesen, sprechen, rechnen, denken – ursprünglicher noch ist die
Bedeutung sammeln, auflesen im Sinn der Weinlese, bei der
etwas gesammelt und zusammengetragen wird. Und genau da-
rum geht es beim lógos : Lógos ist nichts anderes als eine Ver-
sammlung, eine Fuge, eine systemische Ordnung. Wo lógos ist,
war immer schon ein noûs am Werk. Lógos ist die geistige und
grundsätzlich verstehbare Grundstruktur von jeglichem Sys-
tem, von jeder Ganzheit : das kann eine Melodie oder ein Satz
sein, eine Rede oder eine Rechnung, ein Programm oder ein
Algorithmus, eine DNA oder ein Bauplan, eine Rechtsordnung
oder ein Naturgesetz. Gleichviel : Alles, was ist, hat einen lógos.
Und den lógos zu verstehen, heißt ein Phänomen nicht nur in
seinem Was zu verstehen und zu benennen, sondern auch in
seinem Wie : darin, wie es gewachsen, gesammelt, geworden ist.
Das große Mysterium liegt darin, dass der lógos eines Seien-
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den nicht nur in den Phänomenen ›am Werke‹ ist, sondern im
noûs des Menschen ebenso. Lógos ist die Sprache der Dinge und
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
»So komm und lass dir sagen – und nimm gut die Rede auf,
die du vernimmst –
welche Wege des Suchens einzig denkbar sind :
Der eine – dass es ist und dass nicht-sein nicht ist –
ist der Weg der Überzeugung, der der Wahrheit folgt.
Dass nicht ist und dass es stimmt, dass nicht ist,
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dieser Weg, sage ich dir, ist einer, der dich in die Irre führt ;
denn was nicht ist, kannst du weder wahrnehmen
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
noch sagen,
denn das ist nicht möglich.« (Fr. 2)
Und :
»Zu sagen und zu denken ziemt sich, dass das Seiende ist.
Denn Sein ist. Nichts ist nicht. Dessen, sage ich dir, sollst
du dir bewusst sein.« (Fr. 6.1–2)
Wenn vom Seienden nichts anderes zu sagen ist, als dass es ist,
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gibt es weder Werden noch Vergehen. Denn Werden bedeutet,
dass etwas, dass jetzt ist, früher nicht war ; oder dass etwas, das
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
jetzt nicht ist, künftig sein wird. Werden vermengt das Sein mit
dem Nicht-Sein, was gegen das logische Axiom vom Satz des
Widerspruchs verstößt. Wenn aber, wie von Parmenides’ Göt-
tin behauptet, zutrifft, dass Sein und Denken derselben Logik
folgen, dann gibt es kein Werden : dann ist Werden eine Illu-
sion, ein Trugbild, dem die Sterblichen erlegen sind ; und dann
sind ihre Sprache und ihr Denken – ihr lógos – letztlich auch
nichts anderes als Lug und Trug. Und genau das behauptete
Parmenides (Fr. 8.50 ff.). Eben darin widersprach ihm Platon –
und entwarf auf diesem Wege eine andere Logik, die bis heute
als alternative Grammatik des Denkens im Schatzhaus unserer
Kultur verschlossen liegt ; und deren Entdeckung, wie wir nun
sehen werden, höchst folgenreich wäre.
Platon erhebt in seinen Dialogen Parmenides und S ophistes
mindestens drei Einwände gegen Parmenides. Erstens : Der
Satz des Widerspruchs nötigt Parmenides dazu, Sein als mono-
lithisches Eins zu denken und zu behaupten, das Sein selbst sei
unterschiedslos eines, nondual, indifferent. Die vermeintliche
Vielfalt der Erscheinungen muss er folglich als Illusion und
Trug, als reinen Schein (pseudós) abtun. Diese Geringschätzung
des bunten, mannigfaltigen kósmos kann Platon nicht teilen, ist
sie doch völlig kontraintuitiv. Man ahnt hier, vor wem die Phä-
nomene aus seiner Sicht gerettet werden mussten. Aber das ist
nicht das Entscheidende. Entscheidend ist der zweite Einwand :
Parmenides widerspricht sich selbst, weil er gar nicht umhin
kann, für sein eines Seiendes bzw. seiendes Eins zwei, ja am
Ende sogar »viele Kennzeichen« ausweisen zu müssen und auch
zu können. Die Vielheit, die er bestreitet, holt ihn unweigerlich
ein, sobald er sich anschickt, den lógos des Seins zur Sprache
zu bringen. Und daraus ergibt sich der dritte Einwand : Parme-
nides hat zwar eine Logik, aber er hat keinerlei Theorie des ló
gos, was dazu führt, dass er den lógos des Menschen mit sei-
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nen vielen Worten und Ideen in keiner Weise erklären, sondern
nur als Truggebilde diffamieren kann – ohne eine Erklärung
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
dafür zu bieten, wie so etwas wie Illusion, Hirngespinst und
Trug (pseudos) überhaupt möglich ist. Damit sind die Themen
umrissen, die Platon in den genannten Dialogen beschäftigen.
Dass Parmenides die Vielheit nicht loswird, rechnet er ihm im
gleichnamigen Dialog vor, dass er keine Theorie vom lógos hat
und seine Logik daher unzulänglich bleibt, im S ophistes.
Der Schachzug im Parmenides besteht darin, dass Platon in
diesem Dialog einen jungen, naiven Sokrates mit seiner noch
nicht vollständig durchdachten Ideentheorie auf den alten Par-
menides prallen lässt. Durch dieses Setting kann Platon sich
den Spaß machen (und ein solcher ist es), das Denken des Par-
menides in das Koordinatensystem der Ideenphilosophie zu
übersetzen. Dabei kommt heraus, dass Parmenides, um die
Idee »Sein« denken zu können, andere Ideen wie »Eins« mitden-
ken muss ; dass er aber, wenn er »Sein« und »Eins« denkt, nicht
umhin kann, auch »Verschieden« zu denken, was ihn wiede-
rum dazu nötigt, »Nicht-Sein« zu denken, weil nämlich »Sein«
verschieden von »Eins« ist bzw. weil »Sein« nicht »Eins« ist. Im
zweiten Teil des Dialogs Parmenides, der eine kaum lesbare, ge-
schweige denn verstehbare Burleske des Geistes präsentiert,
jongliert der alte Parmenides auf virtuose Weise mit diesen
genannten Ideen von »Sein« und »Nicht-Sein«, »Selbigkeit«
und »Verschiedenheit«, »Einheit« und »Vielfalt«, um Sokrates
zu demonstrieren, dass man sich in permanenten Widersprü-
chen verstrickt, wenn man viele Ideen als Wesen des Seienden
annimmt, anstatt wie er nur das eine »Sein« zu denken ; wobei
Platon pikanterweise in diesem zweiten Teil des Parmenides
einen zweiten jungen Mann als Gesprächspartner aus dem Hut
zaubert, dem er den Namen Aristoteles gegeben hat – als wolle
er dem namensgleichen Schüler damit ein Exempel statuieren
und ihm zeigen, dass er den gleichen ontologischen und logi-
schen Engführungen erlegen ist wie der alte Parmenides.
100
Dass das im zweiten Teil des Parmenides unübersehbare Pro-
blem permanenter Selbstwidersprüche jedoch gar nicht von
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
Sophisten begrifflich zu erfassen, zu der vorläufigen These,
ein Sophist sei als wortgewaltiger Meister der Rhetorik und
des Coachings offenkundig ein Vertreter der »darstellenden
Kunst« (mimetiké ; Sph. 235 d), die ihrerseits in eine »ebenbild-
nerische« und eine »trugbildnerische« Kunst unterschieden
werden müsse (Sph. 236 c). Ob der Sophist nun dieser oder je-
ner (und der Philosoph entsprechend der anderen) zugewiesen
werden müsse, könne freilich erst entschieden werden, wenn
man Klarheit darüber gewonnen hat, was es mit Trug bzw.
Schein eigentlich auf sich hat (Sph. 236 e) – was freilich eine
lange und komplexe Unterredung sei (Sph. 240 c). Denn man
komme nicht darum herum, bei dieser Gelegenheit das Wesen
des lógos zu ergründen und zu klären, inwiefern er ein wahrer
oder falscher, ein echter oder trügerischer lógos sein kann. Und
damit kommt die Rede endlich auf Parmenides, dem der Eleat
nun vorzurechnen gedenkt, dass dessen Entweder-oder-Logik
unzureichend ist und dass man gegen sie behaupten müsse,
»dass sowohl das Nichtseiende in gewisser Hinsicht ist, als
auch das Seiende wiederum irgendwie nicht« (Sph. 241 c).
Denn solange die Logik des Parmenides nicht widerlegt wird,
»wird nie jemand imstande sein, weder von trügerischen
lógoi oder Bildern zu reden – sei es nun von Schatten und
Kopien, Darstellungen oder Scheinbildern –, noch von
den ihnen entsprechenden Fertigkeiten, ohne sich selbst
lächerlich zu machen, weil man sich dabei selbst wider-
spricht.« (Sph. 241 e)
Die Botschaft ist klar : Eine andere Logik tut not, wenn man
das Geheimnis des Scheins – und des lógos – enthüllen will ;
und diese Logik kann nur eine Logik sein, in der Eines und
102
Vieles, Sein und Nicht-Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit
sich gerade nicht ausschließen, sondern in der sie trotz ihrer
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
sich in einem lógos vieler Ideen zu bewegen. Sie sind gleich-
sam genötigt anzunehmen, dass Ideen über ein Vermögen zur
Verbindung untereinander verfügen (dynamis toû epikoinonein
251 d 9 + e 8 ; 252 d 2–3 ; 253 a 8), ja, dass sie auf ihrem Weg in
die Erscheinung in Bewegung (= Entfalten, Wachsen, Werden)
sind, obgleich doch von einer jeden einzelnen Idee vorausge-
setzt wird, dass sie selbst nicht wird und nicht wächst, sondern
als Wirkquantum unwandelbarer Sinn ist.
Genau damit nun ist der springende Punkt ans Licht ge-
bracht : Lógos selbst ist phýsis. Lógos ist die Auffächerung einer
aktiv denkenden Idee (Wirkquantum) in die Erscheinung bzw.
ins Gedacht- oder Bedachtwerden. Und er wird vollzogen als
die Lese bzw. Einsammlung der vielen zu denkenden Ideen,
die bei dieser Auffächerung als ihre Aspekte hervorsprießen,
nach Maßgabe der Eingrenzung durch das Wirkquantum die-
ser einen Idee, die jeweils im lógos entfaltet wird. Lógos ist dann
aber keine Zusammenstellung gegenständlich gedachter »Ob-
jekte«, die der zweiwertigen Entweder-oder-Logik des Parme-
nides unterworfen wären, sondern – so wie ein Samenkorn
sich zu Ästen und Blättern entfaltet – die wachsende Auffä-
cherung einer Idee (Wirkquantum) in die Vielfalt der Aspekte,
die in einer Logik des Sowohl-als-auch zusammenspielen, so-
bald sie in Erscheinung treten. Und eben diese Auffächerung
ist laut dem Eleaten nur möglich, weil sie ein Vollzug von psy
ché ist. Psyché durchwaltet nicht nur alle phýsis, sondern auch
allen lógos :
Und :
»Der Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg
und Frieden, Sattheit und Hunger.« (Fr. 67)
Die mehrwertige Logik des Eleaten im Sophistés – die zugleich
die Logik Heraklits und Platons ist – folgt denselben Regeln
wie die phýsis. Sie ist eine Logik des lebendigen, dynamischen
lógos. Sie beschreibt die Spielregeln des noûs, die in allem Seien-
den mächtig sind und es harmonisch fügen, indem sie der Lo-
gik des Sowohl-als-auch folgen. In Platons Worten klingt das
so :
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
sehen wollen ; sondern er muss – ganz wie die Kinder,
die immer alles auf einmal haben wollen – sagen, dass das
Seiende bzw. das All sowohl bewegt als auch unbewegt
ist«. (Sph. 249 d)
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
Sinn, von dem er spricht, aus diesem lógos (dem Gefüge aller
Worte und Sätze) hervorstrahlt und Sie, liebe Leserin und lie-
ber Leser, Platons Logik der Lebendigkeit verstehen.
Gibt es irgendeine Garantie dafür, dass solch ein Logos, der
sich nicht in Bauteilen (Computer) oder Zellen (Eiche) mani-
festiert, gelingen kann ? Gibt es eine Methode, ein Verfahren
der Komposition, das es wahrscheinlich macht, dass ein lógos
aus Worten und Gedanken so stimmig ist, dass Sinn darin er-
scheinen kann ? Platon scheint zu glauben, dass dies möglich
ist. Und er lässt im Sophistes wie auch im Folgedialog Politikos
den Eleaten eine Kostprobe dieses Verfahrens geben. Es trägt
den Namen ›Dihairese‹ (dihaíresis) und liest sich wie eine sys-
tematische »Einsammlung« all der »Ideen«, die man denken
muss, wenn man den lógos dessen eingrenzen (lat. definere) will,
was da in Rede steht, z. B. ein Sophist. Doch scheint diese Me-
thode reichlich starr und unbefriedigend, zumal sie durchgän-
gig der zweiwertigen Logik des Parmenides folgt. Und so zeigt
sich, dass sie wohl taugt, wenn man eine bestimmte Idee in
den lógos ihrer Aspekte auffächern will – dass sie aber unge-
nügend ist, wenn es darum geht, ein konkretes Phänomen in
einem lógos einzugrenzen. Deshalb ist die Methode der Dihai-
rese für eine Rettung der Phänomene ungeeignet. Wer die Phä-
nomene dieser Welt in ihrer Lebendigkeit und Komplexität im
lógos zu fassen bekommen will, braucht eine andere Art des ló
gos.
Welche Art des lógos Platon für die geistige Durchdringung
der Phänomene für adäquat hielt, wissen wir bereits von unse-
rer Beschäftigung mit seinem Dialog Timaios : Die Form des ló
gos, die es braucht, um die erscheinende Welt zur Sprache zu
bringen, heißt bei Platon mýthos. Denn der Mythos spricht eine
Sprache, die der Logik des Sowohl-als-auch genügt. Wir sa-
hen, dass es für Platon kein Ausweis wissenschaftlicher Schwä-
108
che ist, wenn sein Titelheld sich bei seinem »wahrscheinlichen
Mythos« immer wieder selbst ins Wort fällt und neue Anläufe
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
Logos. Die mehrwertige Logik des Lebens und die Wahrheit des Scheins
der Möglichkeit wagt sie sich mehr als alle traditionelle Physik zu
jener rätselhaften Dimension des Seins vor, von der Platon im
Timaios als »Amme des Werdens« oder grenzenlose Möglich-
keit spricht. Diesem Grenzenlosen ist am Ende jeder lógos ab-
gerungen. Deshalb gibt es grenzenlos viele Optionen des Er-
scheinens. Deshalb kann ein lógos trügen oder wahr sein. Des-
halb kommt das Falsche, Schlechte, ja vielleicht sogar das
»Böse« in die Welt. Darin liegt die Tragik der Lebendigkeit. Da-
her rührt die Aufgabe, uns immer wieder dessen bewusst zu
werden, wer wir sind.
Gnothi sauton – Erkenne dich selbst ! – heißt nicht zufällig
das Mantra des griechischen Geistes, das am Apollon-Tempel
zu Delphi eingraviert stand. Es ist zugleich der Leitsatz dessen,
was man platonische Lebenskunst nennen könnte : die Fähig-
keit, den lógos des menschlichen Lebens so zu komponieren,
dass der Sinn des Lebens als areté zum Vorschein kommt – im
lógos des eigenen ebenso wie im lógos des politischen Lebens.
Das Leben zu verstehen, am Maß aller Dinge maßzunehmen –
das ist dem Menschen aufgetragen. Doch weil der lógos des
konkreten Lebens fehleranfällig ist, braucht es eine Reflexion
auf ihn.
Polis. Das Ringen um
Gerechtigkeit und der Sinn
des Gemeinwesens 111
tischer Denker.
Vor diesem Hintergrund wiegt es besonders schwer, wenn
ein so renommierter Philosoph wie Karl Popper b ehauptete,
Platon sei der Ahnherr des Totalitarismus und Faschismus. Oh-
ne dass wir uns hier eingehend mit Poppers Thesen befassen
können, wird es doch darum gehen, diese These zurückzuwei-
sen und zu zeigen, inwiefern die Folge von Platons politischer
Philosophie durchaus nicht der Totalitarismus des 20. Jahr-
hunderts ist, sondern das genaue Gegenteil : das Prinzip der
freiheitlichen Rechtsstaatlichkeit.
Die Frage, die Platon umtreibt, lautet : Worin besteht die
areté eines Gemeinwesens ? Oder einfach nur : Was ist ein g utes
Gemeinwesen ? Und : Wie kann es gelingen, ein Gemeinwesen
so zu organisieren, dass es ein gutes Gemeinwesen ist ? Nun
können wir nach dem bislang Gesagten bereits ahnen, welchen
Weg Platon einschlägt, um auf diese Fragen gute Antworten
zu finden. Der Ausgangspunkt auf diesem Weg ist die Leben-
digkeit : Sein ist Leben. Das gilt auch für eine pólis. Sie ist ein
Lebewesen – ein Gemeinwesen. Und wie jedes Lebewesen ist sie
ein dynamisches System, in dem unterschiedliche ›Teile‹ – As-
pekte, Organe, Funktionen – miteinander entweder stimmig
und harmonisch oder unstimmig und dissonant interagieren.
Ist das Lebewesen polís mit sich selbst im Einklang, hat es seine
areté verwirklicht und erfüllt. Diese areté nennt Platon die Ge-
rechtigkeit : dikaiosýne. Ist die polís nicht nur mit sich selbst im
Inneren harmonisch, sondern auch nach außen im Einklang
mit den anderen Staaten, dann ist ihre areté vollkommen und
heißt Frieden : eiréne. Frieden und Freundschaft, lässt Platon
seinen namenlosen Athener in den Nomoi sagen, sind das Ziel,
der Sinn und Zweck eines Gemeinwesens (Lg. 628 c). Fragt sich
nur, wie man dahin kommt.
Dafür werfen wir zunächst einen Blick in die Politeia, Pla-
113
tons nach den Nomoi umfangreichstem Dialog, der, nach allem
was wir wissen, ziemlich genau in der Mitte der Chronologie
Wie wenig aus der Luft gegriffen diese Worte sind, lehrt nicht
nur ein Blick auf die USA unter Donald Trump, sondern auch
auf Länder wie Ungarn und Polen zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts. Platons Skepsis gegenüber der Demokratie machte ihn
freilich keineswegs zum Anhänger anderer Herrschaftsfor-
men wie Monarchie oder Oligarchie. Genaugenommen sind
ihm alle herkömmlichen Herrschaftsformen zuwider, denn
sie alle bleiben weit hinter dem Ideal einer harmonischen Ge-
sellschaft freier Menschen zurück. Nur eine einzige Option er-
scheint ihm vielversprechend. Und diese spricht sein Sokrates
im fünften Buch der Politeia aus :
Damit ist die Folge klar benannt, die Platons politisches Den-
ken bis heute hat : die Einsicht, dass für ein gerechtes und le-
bensdienliches Gemeinwesen nicht die Herrschaftsform der
Demokratie das Entscheidende ist, sondern die unbedingte
Rechtsstaatlichkeit ; und dass das Recht gegen jede Form von
Totalitarismus, Demagogie und Populismus verteidigt werden
muss. Platon ist mitnichten der Gründervater des Totalitaris-
mus. Er ist der Wegbereiter des modernen Rechtsstaates. Als
solcher ist er – Gott sei Dank – nicht folgenlos geblieben.
Folgenlos geblieben ist er eher in seinem Kernanliegen, alle
Politik am Maß des Lebens auszurichten ; also nicht Macht-
erhalt oder Wirtschaftswachstum zum Ziel der Politik zu ma-
chen, nicht Expansion oder (wie in Deutschland unter Angela
Merkel) die Verwaltung des Besitzstandes, sondern die Entfal-
tung von Lebendigkeit als Sinn der Politik zu sehen. Wenn die-
ses Erbe Platons neu zur Geltung käme, veränderte sich unsere
124
Welt vollkommen. Es käme, um es mit Nietzsche zu sagen, zu
einer Umwertung aller Werte. Es käme zu einer Entzauberung
Polis. Das Ringen um Gerechtigkeit und der Sinn des Gemeinwesens
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
»Niemals wird von den Göttern missachtet werden,
wer sich mit Leidenschaft bemüht, gerecht zu werden und
durch Ausbildung der Tugend, so weit es einem
Menschen möglich ist, dem Gotte ähnlich zu sein.«
(Rp. 613 a)
Wenn Platon nach dem guten Leben fragt, dann sucht er nach
dem Maß des guten Lebens. Dieses Maß, wir sahen es bereits,
nennt Platon in den Nomoi Gott – und er verrät im gleichen Dia-
log, wer diese Gottheit ist, die aller phýsis, allem Sein und Le-
ben unbedingt maßgeblich ist : die psyché bzw. die Lebendig-
keit, die alles trägt und hält, durchwaltet und belebt. Die psyché
ist Grund und Wesen des Erscheinens und des Werdens – und
es liegt in ihrer Logik, dass sie Harmonie und Stimmigkeit ge-
biert, wo immer sie sich in der wahrnehmbaren Welt bekundet.
In ihr gründet auch die Ordnung eines jeden lógos, der stets
dann ein wahrer lógos ist, wenn er der Logik der Lebendigkeit
angemessen ist und der Dynamik ebenso wie dem Sowohl-als-
auch des Lebens Rechnung trägt.
Alles Werden und Erscheinen zielt auf Harmonie und Ein-
klang. Immer aber ist es ungewiss, ob Harmonie und Einklang
wirklich werden : Denn das Werden und Erscheinen – sei’s im
lógos, sei es in der phýsis – schöpft aus einem Meer von Möglich-
keiten, dem geschuldet ist, dass etwas besser oder schlechter,
angemessen oder maßlos, wahrhaft oder trügerisch zum Vor-
schein kommt. Zwar zielt psyché mit Hilfe ihres noûs auf Best-
heit (areté) und Harmonie, doch bleibt bei jedem Seienden und
Wesen, das sich zeigt, letztendlich ungewiss, ob es in guter,
wahrer Stimmigkeit erscheint oder als unstimmig und schlecht.
Weil das so ist, braucht es die Fertigkeit und Kunst des Men-
schen – weil das Leben nicht per se, von selbst zu voller Har-
126
monie gedeiht, braucht es ein Maß, an dem wir unser Tun und
Lassen orientieren : das Maß der Gottheit, die nichts anderes
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
net. So gesehen liegt es nahe, ausgehend von der Gerechtig-
keit eines Gemeinwesens die Gerechtigkeit des Einzelwesens
zu bedenken. So geschieht es in der Politeia, denn :
Hier müssen wir einhaken, denn Sokrates spielt auf etwas an,
das wir bei unserer Reflexion auf die platonische Politik nur am
Rande streiften : Platon unterscheidet in der Politeia drei Klas-
sen von Bürgerinnen und Bürgern : die arbeitende Bevölkerung,
die Beamten (die über das Gemeinwesen wachen) und die Re-
genten. Und er hält dafür, dass die wichtigste areté der arbei-
tenden Bevölkerung die Besonnenheit (sophrosýne), die der
Beamten der Mut (andreía) und die der Regenten die Weisheit
(sophía) sei. Diese Trinität der aretaí kehrt nun zurück, um sie
ihrem eigentlichen Bestimmungszweck zuzuführen, nämlich
die innere Struktur der psyché eines Einzelwesens zu erhellen :
Das heißt : Die psyché des Einzelwesens ist – ganz wie die der
Polis – ein komplexes System, an dem man grob drei unter-
schiedliche Aspekte aufweisen kann, denen jeweils eine spezi-
fische areté eignet. Diese drei Aspekte heißen in der Politeia (Rp.
440 e) : epithymetikón, thymoeidés und lógistikon – das Triebhaft-
Affektive, das Leidenschaftlich-Emotionale, das Vernünftig-Ra-
tionale, wobei als areté des Triebhaft-Affektiven die Besonnen-
heit zur Geltung gebracht wird, als areté des Leidenschaftlich-
Emotionalen der Mut und als areté des Vernünftig-Rationalen
die Weisheit.
Die Besonnenheit erscheint dabei als eine Art ausgegliche-
ner Gefühlshaushalt, der weder apathisch noch exaltiert da-
herkommt. Der Mut ließe sich als ein wohltemperiertes Gemüt
beschreiben, dessen Leidenschaften weder übermäßig lodern
noch erloschen sind. Und die Weisheit ist die Meisterschaft
des ausgereiften noûs in der psyché des Einzelnen, die stets dann
erlangt ist, wenn er die Idee des Guten verstanden und damit
das Maß für das eigene Leben vor Augen hat. Was wir dafür tun
können, dass ein Einzelwesen – und am Ende dadurch auch die
Polis – diese Qualitäten ausbildet, werden wir im nächsten Ka-
pitel anschauen, wenn wir es mit demjenigen zu tun bekom-
men, was Platon die padeía nennt : Bildung.
Die psyché des Einzelwesens weist drei also ›Teile‹ auf, die
je für sich zur areté erblühen können. Sollte das der Fall sein,
wird zuletzt dann auch ihr Miteinander und Zusammenspiel –
also die psyché im Ganzen – jene vierte areté entfalten, die wir
als Gerechtigkeit kennen und die wir nun beschreiben können
als harmonischen Einklang der Einzelseele mit sich selbst : als
stimmige Fuge, in der Affekte, Emotionen und Intellekt mitei-
nander ›einverstanden‹ sind und sich nicht gegenseitig behin-
dern. Die Gerechtigkeit ist so gesehen eine innere Praxis des
Menschen, bei der
129
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
muss, noch sich die unterschiedlichen Aspekte seiner
psyché gegenseitig in ihre Bereiche einmischen, sondern er
jedem das ihm Entsprechende zuweist und sich selbst
beherrscht, ordnet und Freund ist – und die drei Aspekte
seiner selbst in eine Harmonie fügt […] und sie so ver-
bindet, dass er auf jede Weise einer wird aus vielen, be-
sonnen und wohlgestimmt ; und alles, was er v errichtet –
gleichviel ob es den Erwerb eines Vermögens betrifft, die
Pflege des Leibes oder die öffentlichen A ngelegenheiten
[…], – so ausführt, dass er bei alledem nur das als ge-
rechte und schöne Handlung bezeichnet, was die Qualität
der Harmonie bewahrt oder mit hervorbringt ; und Weis-
heit als die solche Handlungen ermöglichende Einsicht.«
(Rp. 443 d–e)
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
Vor diesem Hintergrund mussten die mit Pythagoras in Ver-
bindung gebrachten orientalischen Mythen von Seelenwande-
rung und Totengericht nicht nur exotisch, sondern auch ver-
heißungsvoll auf die Hellenen wirken – was offenbar auch so
war. Gleichzeitig aber bewahrten sie sich ein gesundes Maß
an Skepsis, was zu Situationen führen konnte wie derjenigen,
der wir in Platons Phaidon beiwohnen : In diesem Dialog nimmt
uns Platon mit in die Todeszelle des von der Athener Bürger-
schaft verurteilten Sokrates und lässt uns den Gesprächen lau-
schen, die der Delinquent dort kurz vor seinem Tode führte.
Dabei geht es durchgängig nur um ein Thema : Was wird aus
Sokrates, wenn er den Schierlingssaft getrunken hat ? Sokrates
selbst zeigt sich dabei als erstaunlich zuversichtlich,
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
zum vergänglichen Sinnesding verhält, ist die Pointe, die Pla-
ton im Phaidon macht, sondern dass sich die psyché des Einzel-
wesens zum Leib verhält wie das Verursachende zu dem von
ihm Verursachten ; und dass das Verursachende gerade nicht
nach Maßgabe des von ihm Verursachten zu denken ist, son-
dern – genau wie im Falle von Idee und Phänomen – als Seien-
des ganz anderer Art und anderen Wesens : als dasjenige, was
wir als ›Wirkquantum‹ bezeichneten. Das ist, worauf der Phai
don in seinem zweiten Teil zuläuft, und wenn es auch der darin
erscheinende Sokrates bis zuletzt nicht schafft, seine Freunde
mit philosophischen Gründen von der Unsterblichkeit seiner
psyché zu überzeugen – sondern nur durch seine persönliche
Glaubwürdigkeit –, so legt Platon doch eine Spur, die wir ver-
folgen können und die uns erneut zum Timaios und zu den No
moi führt.
Platon hatte im Timaios – ungeachtet der mythischen Rede
von einem Weltenschöpfer – deutlich gemacht, dass psyché das
ewige Wesen (diaionía phýsis, Ti. 38 b und 39 e) allen Seins und
Werdens ist. Die kosmische Lebendigkeit waltet und währt in
Ewigkeit. Und eine andere Lebendigkeit gibt es nicht. Die psy
ché eines Einzelwesens, daran lässt der Timaios keinen Zweifel,
ist nichts anderes als eine Ausdifferenzierung der kosmischen
Seele (Ti. 41 d), die nach einem komplizierten Verfahren – so
der Mythos – von den Göttern einem jeden sterblichen Men-
schenleib einverleibt bzw. inkarniert wird : als beseelendes, be-
lebendes und bewegendes Prinzip, das mit dem Tod dem Leib
entzogen wird, ansonsten aber fortbesteht (Ti. 41 d). Die Le-
bendigkeit selbst ist dem Tod nicht unterworfen. So weit ist
die Sache klar. Und so weit kann sich Sokrates den Freunden,
denen er erklären will, warum er guten Mutes sterben wird,
verständlich machen (Phd. 105 c–e).
Aber damit sind sie nicht zufrieden, denn der Fortbestand
134
der ewigen und kosmischen Lebendigkeit auch nach dem Tod
des Einzelwesens ist kein Trost, solange nicht erkennbar ist,
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
der allumfassenden Lebendigkeit bewahrt bleibt. So wie es der
alte Mythos bildhaft glauben machen wollte, wenn man sich
erzählte, dass die Musen ewiglich das Lebenslied der guten
Menschen vor dem Thron der Götter singen werden. Hält man
sich an dieses Bild, wird so manches klar. Denn im Reich der
Klänge ist es offensichtlich : Eine gute, stimmige, harmoni-
sche und sinnvolle Melodie bleibt (als Ohrwurm) im Bewusst-
sein haften ; der viele Lärm jedoch, der fortwährend erzeugt
wird, schwindet und vergeht.
Die jungen Freunde des Sokrates verstehen das nicht. Zu
sehr hängen sie der Vorstellung an, die psyché eines Menschen
sei ein substanzielles Ding. Weil sie letztlich nicht imstande
sind, psyché anders als gegenständlich anwesendes Seiendes zu
denken – ganz so wie sie die Idee nur als gegenständlich Seien-
des zu denken in der Lage sind –, kann Sokrates die Zweifel
ihrer Herzen nicht zerstreuen. Vielleicht weil auch ihm selbst
die Sprache einer reifen Metaphysik der Lebendigkeit nicht
zu Gebote steht. Es ist ja kein Zufall, dass Platon dafür spä-
ter einen Timaios bzw. die namenlosen Herren aus Elea und
Athen ins Rennen schickt.
Gleichviel : Ohne das Verständnis dafür, dass psyché als wir-
kendes Wesen allem Seienden innewohnt, lassen sich die von
Platon aufgetischten Mythen von der Unsterblichkeit der Seele
nicht in ein wirkliches Verstehen übersetzen. Vielleicht ist das
unter lebenspraktischen Gesichtspunkten auch gar nicht nö-
tig. Denn es ist ja wahr, dass der lógos der psyché auch nach dem
Tod Bestand hat – es ist auch wahr, dass dies nur dann der Fall
ist, wenn der lógos eines Lebens wahr und sinnvoll war, weil
nur das Wahre, Sinnvolle Bestand hat. Hat man das begriffen,
kann man die üppigen Mythen der Pythagoreer mit ihren Fan-
tasien einer Seelenwanderung oder eines jenseitigen Gerichts,
das die Guten belohnt und die Bösen bestraft, in aller Wert-
136
schätzung hinter sich lassen. In Wahrheit ist ein jeder selber
sein »Gericht«, denn seine eigene Lebensführung entscheidet
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
Sophia. Vom Sinn des Lebens und von der Unsterblichkeit der Seele
Eros.
Paideia. Die Kunst der seelischen
Kosmetik und das Erblühen
in Lebendigkeit 139
Paideia. Die Kunst der seelischen Kosmetik und das Erblühen in Lebendigkeit
»Der Philosoph, der mit dem Göttlichen und Wohlgeordneten
umgeht, wird selbst göttlich und schön geordnet
in dem höchsten Maße, das einem Menschen möglich ist.«
(Rp. 500 c)
Die Sonne ist uns wohl vertraut. Wir hörten schon davon, dass
Sokrates sie im »Sonnengleichnis« – das in der Politeia unmit-
telbar vor dem »Höhlengleichnis« steht – als Symbol für die
Idee des Guten ins Feld führt ; so dass wir allen Grund haben,
den im »Höhlengleichnis« beschriebenen Weg der Bildung als
141
den Weg zur Einsicht in die Idee des Guten zu deuten. Was
nicht überraschend ist, da das Gute zu verstehen und selbst
Paideia. Die Kunst der seelischen Kosmetik und das Erblühen in Lebendigkeit
gut zu sein – d. h. die areté des Lebens entfaltet zu haben – das-
selbe ist.
Ziel der paideía ist es, gut zu sein – und der Weg dahin be-
steht vor allem darin, Darstellungsverhältnisse zu durch-
schauen, um auf diese Weise zu einem umfassenderen Ver-
ständnis des Seins und Wesens aller Dinge zu gelangen. Wie
geht das zusammen ? Wie lässt sich das Gleichnis auflösen ?
Die Welt der Höhle steht für die Welt des alltäglichen Be-
wusstseins : Der Mensch hält sich an das, was vor seinen Au-
gen erscheint. Er nimmt für bare Münze, was die Medien ihm
vermitteln, und er hält die virtuelle Welt der Bilder für die
Wirklichkeit. Viele Medienkonsumenten heute sind perfekte
Beispiele für die platonischen Höhlenbewohner – zumal Pla-
ton sagt, sie hätten »Ehre, Lob und Belohnungen für den be-
stimmt, der das Vorüberziehende am schärfsten sieht und sich
am besten merkt, was zuerst zu kommen pflegt und was zu-
letzt und was zugleich – und so am besten prognostizieren
kann, was als nächstes kommen werde« (Rp. 516 c).
Es ist eine der modernen Lebenswelt verstörend ähnliche
virtuelle und kompetetive Welt, die Platon uns als niedrigstes
Niveau des Bildungsweges vorstellt : eine Welt, in der die Men-
schen ihre Meinungen und Ansichten bzw. das, was man ih-
nen für wahr verkauft, unreflektiert als Wahrheit anerkennen.
Und wir werden sehen, dass es äußerst mühsam ist, die Men-
schen, die in einem solchen Bewusstsein gefesselt sind, dazu
zu bringen, sich darüber klar zu werden, dass sie virtuellen Bil-
dern und Meinungen erlegen sind.
Sollte das gelingen, wäre immerhin ein Bewusstseinsniveau
erreicht, das es Menschen erlaubt, sich souverän in der Höhle
zu bewegen und zu wissen, dass es einen Unterschied gibt zwi-
schen Darstellung und Dargestelltem : zwischen der realen
sinnlich wahrnehmbaren Welt einschließlich aller Dinge und
142
Wesen und ihren virtuellen Repräsentationen in Schatten, Bil-
dern, Worten oder Tönen – d. h. in gegebenenfalls trügerischen
Paideia. Die Kunst der seelischen Kosmetik und das Erblühen in Lebendigkeit
Dialog
mit den Lernschritten ›im Freien‹ auf sich hat.
Dialog
»O, Sokrates, schon bevor ich dich traf, habe ich l äuten
hören, dass du dich selbst und alle anderen in Verwirrung
144
stürzt. Und tatsächlich scheint mir jetzt, dass du mich
verzauberst, behandelst und geradewegs besprichst, so
Paideia. Die Kunst der seelischen Kosmetik und das Erblühen in Lebendigkeit
Dialog
ab, die wir aus dem platonischen Verständnis der paideía für
unser aller Leben festhalten sollten : Aller Bildung Anfang liegt
darin, sich in seinem Selbstverständnis, seinen Denkgewohn-
heiten und Konventionen in Frage stellen zu lassen. Und das
geht nirgends so gut wie in der dialogischen Begegnung mit
anderen Menschen : Wer wirklich lebendig werden möchte,
sollte sich der Begegnung mit anderen Menschen nicht ent-
ziehen – gerade dann nicht, wenn sie unbequem sind und uns
in unserem Stolz und unserer Eitelkeit verletzen. Nichts bringt
uns auf dem Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben so
weiter, wie ein anderer, der uns wie Sokrates mit seiner Unbe-
quemlichkeit elektrisiert – und nicht wie Menon in Selbstgefäl-
ligkeit und Selbstmitleid erstarren lässt.
Viele der von Platon verfassten sokratischen Dialoge enden
genau damit. Ein gekränkter Möchtegern wird von Sokrates in
seinem Selbstbild verstört und probt den Rückzug. Geschieht
das, endet das Gespräch in dem, was griechisch aporía heißt :
Ausweglosigkeit. Ein konstruktives Fortkommen auf dem
Pfade der paideía scheint nicht möglich. Sokrates ist damit gar
nicht glücklich. Nicht nur, weil die Zahl der von ihm generv-
ten Gesprächspartner irgendwann – wie wir wissen – für ihn
bedrohliche Ausmaße annahm, sondern weil es ihm um eine
fruchtbringende paideía zu tun ist. Deshalb zieht es ihn vor-
zugsweise zu jungen Männern wie Phaidros oder Theaitetos,
die noch nicht geistig erstarrt sind, um im Dialog mit ihnen
einen Raum des Zwischenmenschlichen (Martin Buber) zu öffnen,
worin sich das Potenzial des Gegenübers zeigen und entfalten
kann. Das ist es, worum es Sokrates zu tun ist : dass sein Gegen-
über im Gespräch Einsichten erlangt und aus eigener Kraft
etwas versteht. Ganz so, wie Platon es in seinem VII . Brief ein-
mal bildhaft formuliert, wo er notiert, echtes Verstehen ent-
stehe
146
Schöner als hier ist dem Dialog kaum je ein Loblied gesungen
worden. Außer vielleicht bei den großen dialogischen Philoso-
phen des 20. Jahrhunderts wie Martin Buber, Emanuel Levinas
oder Hans-Georg Gadamer. Sie alle haben sich die Folge des
platonischen Programms der paideía zu Herzen genommen :
dass Menschen überhaupt nur da die in ihnen angelegten Po-
147
tenziale zu einem guten und lebendigen Leben entfalten, wo
sie das Gespräch mit anderen suchen, sich von anderen bewegen
»Ist nicht das Wichtigste der Bildung die Musik, weil durch
sie am besten Rhythmus und Harmonie in das Innere
149
der psyché einsickern und sich ihr nachhaltig einprägen,
wobei sie Anstand mit sich bringen und deshalb auch
Die Bedeutung von Tanz, Musik und Gymnastik lässt sich also
gar nicht hoch genug veranschlagen. Ohne diese Kernqualitä
ten ausgebildet zu haben, sollte sich niemand für gebildet hal-
ten :
»Nur wer schön zu singen und zu tanzen weiß, ist gut
gebildet.« (Lg. 654 b)
Wir haben hier also den Gedanken, dass die zahlreichen Fest-
spiele, die im alten Hellas nicht nur alle vier Jahre bei den gro-
ßen panhellenischen Feiern in Olympia und Delphi, sondern
fortwährend und überall veranstaltet wurden, der musischen
paideía der Menschen dienen – und ihren politischen Sinn für
die Stimmigkeit und Harmonie des Miteinanders einer Polis
zu pflegen und zu stärken. Die Folge, die sich daraus herleitet,
klingt überraschend, ist aber nur konsequent, denn in ihr ist all
das zu einem Konzept von kultureller Bildung verdichtet, was
wir in diesem Abschnitt vernommen haben. Platon hat sie in
einer bemerkenswerten Passage der Nomoi wie folgt verdichtet :
»Der Mensch […] ist nur ein vom Gott gemachtes Spiel-
zeug – und eben das ist in der Tat das Beste an ihm.
Demgemäß sollten ein jeder Mann und jede Frau die aller-
schönsten Spiele spielend ihr Leben zubringen, der
eutigen Denkweise gerade entgegensetzt. […] Was ist
h
nun das Richtige ? Dass man sein Leben lang bestimmte
Spiele spielt, mit Opfer, Gesang und Tanz, […] und sich
so die Huld der Himmlischen erwirkt, indem man das
Leben seiner Natur gemäß lebt.« (Lg. 803 c – 804 b)
sches Leben – des Einzelnen genauso wie der Polis. Es ist der
maßgebliche Anfang der paideía hin zum wahren Menschsein
in voll erblühter areté.
Hätten wir den Mut, Platon an diesem Punkt ernst zu neh-
men : es hätte ernste Folgen für das Schul- und Bildungswesen.
Tatsächlich nötigt sein Programm der paideía zu einer Renais-
sance dessen, was als Humboldtsches Bildungsideal in unse-
rem Land durchaus schon einmal hoch in Ansehen stand, in
den letzten fünfzig Jahren jedoch in Folge der Ausrichtung von
Bildung – nicht am Kriterium erblühter Lebendigkeit, son-
dern – am Kriterium ökonomischer Nützlichkeit weitgehend
in Vergessenheit geraten ist. An diesem Beispiel lässt sich klar
erkennen, in welchem Maße eine von der platonischen Meta-
physik der Lebendigkeit inspirierte Kultur eine gänzlich an-
dere Welt errichten würde als diejenige, die wir kennen – und
in welchem Maße zu erwarten wäre, dass eine solche Welt der
Lebendigkeit der Menschen weit mehr dienen dürfte ; einfach
deshalb, weil sie den Menschen in der psychosomatischen
Ganzheit seines Daseins ernst nimmt und ihn im Ganzen bei
der Entfaltung seiner Potenziale beflügeln möchte. Oder – um
noch einmal den Timaios zu zitieren :
»Es gibt nur einen Weg zur Heilung : Weder die p syché
ohne den Körper, noch den Körper ohne die psyché
in Bewegung setzen, so dass beide ausbalanciert und
gesund sein können.« (Ti. 88 d)
Wissenschaft
Der Dialog bereitet jeder Bildung allererst den Boden und er-
zeugt ein Klima, das Entfaltung und Wachstum der psyché er-
153
möglicht. Musik und Sport stimmen die psyché in Harmonie
und Einklang und entwickeln ihren Sinn für Stimmigkeit und
Wissenschaft
areté. Sie erzeugen in der psyché Besonnenheit und Mut und be-
reiten ineins damit der Herausbildung der dritten areté den
Weg : der areté des noûs, die bei Platon ›Weisheit‹ heißt : sophía.
Sie erwies sich als die Meisterschaft des Lebens, die g egründet
ist in einem Wissen um das Gute, das nicht darauf beschränkt
ist, sich theoretisch über die Idee des Guten kundig gemacht,
sondern sie der eigenen psyché so einverleibt zu haben, dass die-
ses Wissen durch jede ihrer Handlungen bezeugt wird. Weis-
heit ist das praktische und dabei doch auch kognitiv erfasste
Wissen darum, dass harmonische Lebendigkeit das Maß und
Wesen aller Dinge ist. Dies zu fühlen und zu spüren, ist die
Qualität der psyché, zu der Musik, Tanz und Gymnastik einen
Menschen bilden. Dies gedanklich zu erfassen, ist die Aufgabe
des zweiten Teils der platonischen paideía : des Teils, der in der
Metaphorik des Höhlengleichnisses beginnt, wo ein vorma-
liger virtueller Schattenkonsument aus der Höhle seiner Denk-
gewohnheiten ins Freie tritt, d. h. wo er sich im Dialog geöff-
net und der Dimension des Sinnes zugewandt hat. Nun geht
es nicht mehr primär um die Einstimmung des Leibes und Ge-
mütes, dafür aber des noûs ; und zwar auf dasjenige, was uns
lebendig macht und Sinn gibt : auf das Gute.
Im VII . Buch der Politeia beschreibt Platons Sokrates die
einzelnen Etappen der paideía des noûs, indem er eine Art Cur-
riculum für angehende Philosophen skizziert. Dass diese, wie
alle anderen Bürgerinnen und Bürger ebenfalls, in Musik und
Gymnastik unterwiesen sein sollten, wird als gesetzt betrach-
tet (Rp. 521 e). Darüber hinaus aber sollen sie nun der Reihe
nach in folgenden Disziplinen unterwiesen werden : Arithme
tik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie und Harmonielehre.
Und wer in alledem erfolgreich ausgebildet wurde, soll zuletzt
die Kunst der Dialektik lernen, die ihm dann den Weg zur
Weisheit ebnen wird. Schauen wir uns das genauer an.
154
Die Arithmetik dient als Türöffner zu Welt des Geistes. Sie
führt – im Bild gesprochen – einen Menschen über die Schwel
Paideia. Die Kunst der seelischen Kosmetik und das Erblühen in Lebendigkeit
Wissenschaft
läufe berichtigen kann, indem er die Harmonien und
Umläufe des Alls kennenlernt, um so der waltenden phýsis
gemäß den Verstehenden dem Verstandenen ähnlich
zu machen, indem er sich aber ähnlich macht, das Ziel des
besten Lebens zu erreichen, das den Menschen von den
Göttern für jetzt und die künftige Zeit in Aussicht gestellt
wurde.« (Ti. 90 c)
Wissenschaft
Eros. Die Macht der Schönheit
und die Erfüllung des Lebens
in der Liebe 159
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
»Und so behaupte ich, ein jeder Mensch müsse den Eros ehren,
und selber ehre ich all das, was mit der Liebe zusammenhängt,
und übe mich darin vor allem anderen so gut ich kann.«
(Smp. 212 b)
Platon ist der Philosoph des Eros. Doch was Eros ist, verstehen
wir erst dann, wenn wir mit Platons Deutung des Erotischen
vertraut geworden sind. Dankenswerter Weise hat uns Platon
gleich in zweien seiner Dialoge diese Deutung vorgelegt : im
Phaidros und im Symposion. Beide geben eines deutlich zu erken-
nen : Eros ist die Energie der psyché – die Energie, die ein Lebe-
wesen dazu anspornt, motiviert und antreibt, sich zur areté und
Schönheit eines voll erblühten Lebens zu entfalten. Eros ist der
Drang nach wirklicher Lebendigkeit, der jedem Lebewesen in-
newohnt. Eros ist der Sog, der von dem Gott, den Platon psyché
nennt, fortwährend ausgeht, um den Menschen immer mehr
der Harmonie des Lebens anzunähern. Eros ist der Treibstoff
jeglicher paideía. Ohne Liebe, Lust und Leidenschaft zum hei-
ligen Sein der Welt – Eros ist all das – sind alle Anstrengun-
gen der paideía und der Politik vergebens. Das ist Platons tiefste
Überzeugung. Deshalb ist er der Philosoph des Eros.
Aber wer oder was ist Eros ? Und vor allem : Was ist Eros
nicht ? Hier müssen wir zunächst aufmerken, denn Eros ist
nicht das blutarme und ›lendenlahme‹ Konzept, das unter
dem Namen »Platonische Liebe« durch die Geschichte spukt.
Das ist bestenfalls ein neuplatonisches Zerrbild jener eroti-
schen Urenergie, die Platon wie nichts anderes verehrte. Was
der Eros wirklich ist, ahnen wir, wenn wir im Phaidros folgende
Beschreibung seiner Wirkung lesen :
So viel dürfte hier schon deutlich sein : Eros, das ist blanke Lie-
besleidenschaft ; die Leidenschaft eines Verliebten, die Leiden-
schaft einer entflammten, voll energetisierten psyché, die Men-
schen dazu veranlasst, Dinge zu tun, die sie sonst nicht täten
und deshalb von denen, die sie nicht kennen oder ablehnen,
als Form des Wahnsinns (manía) diffamiert wird. Klar, denn
eine vom Eros ergriffene psyché,
Eros ist ein Wahnsinn, daran lässt der Sokrates des Phaidros kei-
nen Zweifel. Doch der Wahnsinn, den der Eros bringt, ist kei-
161
neswegs verderblich. Denn er ist ein gottgesandter, h eiliger
Wahnsinn, eine theía manía (Phdr. 256 b ; 265 a–b). Damit ist zu-
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
gleich gesagt, dass dieser Wahnsinn nichts ist, was ein Mensch
von sich aus herstellen und machen könnte. Nein, so wenig
wie man sich kraft seines Willens vorsätzlich verlieben kann,
so wenig lässt der Eros sich erzwingen. Er ergreift den Men-
schen, wenn es ihm gefällt. Er kommt über einen, auch wenn
man ihn nicht gerufen hat. Eros ist ein Widerfahrnis, bei dem
eine Energie, die größer ist als jeder Menschenwille, in der
psyché mächtig wird – eine Energie, die nach dem Zeugnis des
Symposion als großer daímon oder Geist bezeichnet werden kann.
Die Priesterin Diotima, auf deren Lehren Sokrates sich dort be-
ruft, hat ihm, so lässt er seine Zechkumpane wissen, über Eros
Folgendes verraten :
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
(andere in dem eines anderen Gottes) den seligen Blick
und die selige Schau genossen, […] und auch hierher
zurück gekommen, fassen wir sie mit dem hellsten unse-
rer Sinne auf, als das am hellsten Leuchtende. […] Denn
der Schönheit allein ist es eigen, das Hervorstrahlendste
und Liebreizendste zu sein.« (Phdr. 250 d–e)
Schönheit, wo immer sie uns begegnet, ist ein Wink des Wah-
ren, Guten, Sinnvollen und in diesem Sinne : Göttlichen. Sie
ist der Glanz, der allem innewohnt, woran die areté (bzw. die
unterschiedlichen aretaí) der psyché wahrnehmbar und spürbar
ist. Wenn wir uns nun dessen erinnern, dass die areté der Le-
bendigkeit – wie sie in der Idee des Guten erschlossen wird –
nichts anderes ist als die harmonische Übereinstimmung
eines Wesens mit sich und dem Ganzen, dann braucht es uns
nicht zu verwundern, wenn Platon im Timaios folgende Erklä-
rung der Schönheit auftischt :
»Alles Gute ist schön. Das Schöne aber ist niemals maß-
los. Um von einem Lebewesen sagen zu können, es
sei schön, müssen wir daher annehmen, dass es mit sich
selbst im Einklang ist.« (Ti. 87 c)
Schön ist alles, was harmonisch, stimmig, maßvoll ist. Mit die-
ser Erklärung des Phänomens ›Schönheit‹ steht Platon nicht
allein : Die gesamte antike griechische Kunst zeugt davon –
und von dem großen Bildhauer Polyklet ist bekannt, dass er
in seinem »Kanon« festhielt, die Schönheit einer Skulptur be-
stehe in ihrer ebenmäßigen Übereinstimmung mit sich selbst.
Harmonie und Stimmigkeit verursachen den Lichtglanz und
die Aura aller Schönheit. Damit sollte nun verständlich sein,
inwiefern uns in Platons Augen in allem Schönen das heilige
Sein der Welt selbst zuwinkt und anspricht ; und warum wir
164
diesem Anspruch nur so genügen können, dass wir uns vom
Schönen hinreißen und vom Eros entflammen lassen. Wahn-
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
liebten, der ja, wie wir wissen, immer auch ein Schöner oder
eine Schöne ist. Eros sehnt sich danach, Schönheit zu erfah-
ren und Schönheit zu erzeugen – um auf diese Weise selber
schön zu sein : in der stimmigen, liebenden Verbindung mit
dem oder der Geliebten Schönheit in die Welt zu tragen. Und
das nicht nur einmal kurz und flüchtig, sondern so, wie es dem
Göttlichen gebührt : ewig, bleibend, dauerhaft. Denn, wie Dio-
tima bemerkt :
Langsam rundet sich das Bild : Eros, soviel ist jetzt zu erken-
nen, ist die Energie der psyché, die ein jedes Wesen dazu an-
spornt, das unsterbliche Göttliche, die areté des Lebens und
das heißt immer auch den Sinn des Lebens, in sich selbst zu
entfalten und in die Welt zu tragen. Entfacht durch die Schön-
heit treibt Eros uns dazu an, selbst göttlich schön zu sein und
unsterbliche Schönheit zu erzeugen – was aber unmöglich ist.
Denn Menschen sind Menschen und Götter sind Götter. Men-
schen bleibt es ewig vorenthalten, Gott zu sein. Wenn es ih-
nen um Unsterblichkeit zu tun ist, bleibt ihnen nur zweierlei :
Sie können dafür Sorge tragen, dass das Leben selbst nicht
ausstirbt – und sie können dafür Sorge tragen, dass ihr Leben
selbst zu einem schönen lógos wird, einem schönen, stimmi-
gen und sinnvollen Lied, das – wie wir im Anschluss an den
Phaidon sagten, unvergesslich und mithin annähernd unsterb-
lich ist. Eros ist die Kraft, die uns zu beidem antreibt.
Deshalb ist Eros immer auch sexuell. Denn Sexualität ist
»das Ewige und Unsterbliche, wie es im Sterblichen sein kann«
166
(Smp. 206 e), sofern »immer ein Junges zurückbleibt anstelle
des Alten« (Smp. 207 d). Und deshalb lässt Platon die Diotima
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
sagen :
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
keit, Andenken und Glückseligkeit, wie sie meinen, für
alle kommende Zeit erwerben. Denjenigen aber, deren
psyché … – denn es gibt auch solche, deren psyché noch zeu-
gungskräftiger ist als ihr Leib, und zwar im Blick auf alles,
was der psyché zu zeugen und hervorzubringen zukommt –
was kommt denen zu ? Das Verstehen und alle anderen
Arten der areté.« (Smp. 208 e)
Der Mensch – in dem der Eros nicht nur quantitativ das Leben
am Leben halten, sondern es darüber hinaus qualitativ zur Ent-
faltung seiner Potenziale bewegen will – wird sich deshalb
nicht damit zufrieden geben, guten Sex zu haben und die Welt
mit Kindern zu bevölkern ; nein, er wird den Wunsch verspü-
ren, diese Welt mit schöner, guter, blühender und leuchtender
Lebendigkeit zu erfüllen. Und deshalb wird er tun, was Sokra-
tes zu tun pflegte : Menschen ins Gespräch verwickeln, um sie
dazu zu bewegen, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Gu-
ten, Wahren, Schönen immer neu zu fragen und zu fahnden.
Und auf diese Weise wird er nicht nur die psyché der je ande-
ren harmonisieren und auf einen schönen Einklang stimmen,
sondern selbst, so wie in einem Spiegel (Phdr. 255 d), seine
eigene psyché in eine schöne Ordnung bringen und auf diese
Weise dem Göttlichen immer näher kommen. Denn wer sich
im Licht des Schönen hält und dessen Glanz ins Leben anderer
überträgt, wird am Ende selbst – trotz aller leiblichen Makel,
wie das Beispiel des durchaus nicht sonderlich ansehnlichen
Sokrates lehrt – im Glanz der wahren Schönheit einer schö-
nen psyché strahlen.
Eros liebt das Leben, möchte es erhalten und entfalten, um
dem Anspruch des Göttlich-Schönen, der an ihn ergeht, nach
seinen Möglichkeiten zu genügen. Darin liegt seine Verant-
wortung – die die Verantwortung eines jeden Menschen ist ;
168
und der zu genügen in Platons Verständnis nichts anderes be-
deutet, als ein gutes, sinnvolles und glückliches Leben zu füh-
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
»Wer auf dem richtigen Weg die Sache angeht, wird sich
als junger Mensch den schönen Leibern zuwenden ; und
zwar zuerst, wenn sein Führer ihn richtig leitet, einen schö-
nen Leib lieben und dort schöne lógoi zeugen ; dann aber
wird er innewerden, dass die Schönheit eines beliebigen
Leibes der Schönheit anderer Leiber verschwistert ist ; und
dass es ziemlich unsinnig wäre, sofern es überhaupt da-
rum geht, der Schönheit eines Anblicks nachzulaufen, die
Schönheit aller Leiber nicht für eine und dieselbe zuhalten.
Hat er das verstanden, wird er zum Liebhaber aller schönen
Leiber werden, in seiner Leidenschaft für einen einzigen
aber nachlassen, weil der Leib für ihn nun weniger Bedeu-
tung hat«. (210 a–b)
Dies also wäre die Etappe eins der Ausfahrt auf das weite Meer
des Schönen : Der Liebende nimmt Kurs auf einen schönen
Leib, der ihn begeistert und inspiriert. Von Sex ist hier nicht
mehr die Rede, sondern nur vom Erzeugen »schöner lógoi«,
aber wenn man hinzunimmt, was Diotima zuvor zu diesem
Thema sagte, dann ist klar, dass die sexuelle Liebe hier nicht
ausgeschlossen ist : Wer frisch vom Eros ergriffen ist, wird sich
an schöne Leiber halten und mit ihnen seine Zeugungskraft
erproben. Erst im Bett und dann, wenn Eros reifer ist, im Dia-
log, bei dem dann nicht nur neues Leben, sondern gutes Leben
169
wachsen soll. Dabei weitet sich der Horizont. Denn der Fokus
liegt nun nicht mehr auf dem Körper derer, denen Eros hinge-
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
geben ist, sondern auf deren psyché, die ebenfalls mit der Zeit
nicht nur in einem Menschen sichtbar wird, sondern in vielen
(Smp. 210 b). So verliert der Eros seine enge, manchmal gie-
rige und eifersüchtige Ausrichtung und schifft hinaus auf das
offene Meer der schönen lógoi – der schönen verstehbaren Ord-
nungen, die der gereifte Eros irgendwann auch nicht mehr nur
in der psyché anderer Menschen sieht, sondern sich darüber hi-
naus gezwungen sieht,
Womit wir auf der Zielgeraden des »Stufenwegs« des Eros wä-
ren, wie man diese Rede auch bezeichnet hat. Hier geht es da-
rum, dass der vom Eros ergriffene Mensch mit wachsender
erotischer Reife immer mehr Schönheit zu gewahren lernt, bis
er zuletzt die Schönheit des Seins selbst erkennt : die Schönheit
der vollkommenen und göttlichen Lebendigkeit, die ihm in al-
170
len schönen Leibern, schönen ›Seelen‹, schönen lógoi, schö-
nen Lebens- und Kulturformen den ganzen Weg lang schon
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
vor Augen stand und die sich ihm mit zunehmender Klarheit
erschließt, sofern er sie in immer mehr Phänomenen wieder-
findet ; bis er zuletzt versteht, worin diese Schönheit eigentlich
besteht und was ihr Wesen ist, das sich in allen schönen Phä-
nomenen gleichermaßen kundtut ; bis er versteht, dass dies
nichts anderes ist als die vollkommene, harmonische psyché,
die in allem Sein und Werden waltet und in aller phýsis ebenso
wie allem lógos wirkt und west. Das ist dann die »einzige Er-
kenntnis«, die am Ende jenes Weges steht, und mit der im Rü-
cken allererst verständlich wird, dass es stets die gleiche Kraft
des Eros war, die den Liebenden zunächst zum Sex und später
dann zu Freundschaften und Partnerschaften, Kunstliebe, Na-
turliebe, Kulturliebe bewegte – bis er schließlich in einer all-
umfassenden, leidenschaftlichen Liebe zum Leben im Ganzen
aufgeht.
Dieses Anschwellen und Wachsen der von Eros entflamm-
ten Liebe in der psyché eines Einzelwesens hinterlässt dort frei-
lich Spuren : denn der Liebende ist, wie wir sahen, nicht nur
hingerissen und begeistert von der Harmonie des Schönen,
sondern er will dessen Schönheit seinem eigenem Sein einver
leiben – und er tut dies auch, sofern er seine eigene psyché auf
die geliebte Schöne oder den geliebten Schönen oder das ge-
liebte Schöne einstimmt und auf diese Weise selbst harmoni
siert und in Einklang mit sich und der Welt versetzt wird. Diese
erotische Resonanz der eigenen psyché mit der Schönheit des/r
Geliebten hat Platon in der Bildersprache des Phaidros eindring-
lich beschrieben, wenn er Sokrates erzählen lässt, wie das unter
dem Eindruck des Schönen in den Aufruhr des heiligen Wahn-
sinns versetzte »Seelengespann« später infolge des regelmäßi-
gen Umgangs mit dem Schönen langsam sein Gleichgewicht
und seine stimmige Mitte wiederfindet (Phdr. 255 d – 256 b). So
wird die psyché eines Liebenden im Zuge der Reife des Eros
171
immer stimmiger, immer harmonischer, immer mehr in der
Lage, das eigene und das Leben im Ganzen zu bejahen und zu
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
lieben ; und wird auf diese Weise immer glücklicher und gött-
licher. »Meinst du denn nicht«, fragt Diotima am Ende ihrer
lange Rede den von ihr nun eingeweihten Sokrates, dass es
einem erotisch gereiften Menschen gelinge,
Mit diesen Worten endet die Initiation, die Sokrates von seiner
Meisterin Diotima in ta erotiká – den Dingen der Liebe – erhielt.
Wenn man bedenkt, dass Sokrates in seiner Rede im Sympo
sion zu erkennen gibt, dass er sein eigenes Leben als erotisches
Projekt verstand, dann ahnt man, dass die Rede der Diotima
nichts anderes ist als eine Skizze jener Lebensform, die P laton
auf den Namen philosophía taufte – Liebe (philía) zur Weisheit
(sophía), Liebe zum guten Leben, Philosophie :
»Denn die Weisheit gehört zu dem Schönsten, Eros aber
ist Liebe zum Schönen, so dass Eros notwendig ein
Philosoph ist.« (Smp. 204 b)
der Tiefe seiner selbst verstanden hat und der nicht eher ruht,
als dass er seinen Teil dazu geleistet hat, dass Leben und Na-
tur sich frei entfalten und in voller Schönheit blühen dürfen.
Platon ist der Philosoph des Eros und der Lehrer einer ero-
tischen Lebenskunst. Diese Folge seines Denkens ist in der
Wirkungsgeschichte seiner Werke zu selten bedacht worden.
Wohl ahnten einige mystisch inspirierte Kirchenväter wie Gre-
gor von Nyssa oder Dionysios vom Areopag die spirituelle Kraft
der erotischen Liebe, die er wie keiner sonst zur Sprache ge-
bracht hatte, doch letztlich geriet im Zuge der Dominanz des
nüchternen aristotelischen Denkens und des spiritualisierten
Neuplatonismus Platons Begeisterung für den heiligen Wahn-
sinn des Eros in Vergessenheit und wurde vom Phantom der
völlig unerotischen »platonischen Liebe« verdrängt.
Heute sind wir gut beraten, Platons erotische Lebenskunst
als die der Metaphysik der Lebendigkeit entsprechende Le-
bensform neu zur Geltung zu bringen. Denn seien wir ehrlich :
Welches bessere Gegengift gegen die Vorherrschaft von instru
menteller Vernunft, Egoismus, Gier und cooler Apathie lässt
sich denken, als eine Rückbesinnung auf die vitale Urenergie
des Lebens, die Platon als Eros zur Sprache brachte ? Welche
bessere Lebenskunst ließe sich denken als eine, die den Men-
schen weder mit asketischen Praktiken noch moralischen Im-
perativen knechtet, sondern einlädt, das ganze Spektrum sei-
nes Lebens – vom Schlafzimmer bis zum Altar, vom Sex bis
in die Religion – im Lichte des Schönen zu entfalten ? In einer
Zeit, in der das menschliche Leben mehr und mehr dem kal-
ten Diktat der ökonomischen Vernunft und den Zwängen einer
technisch aufgerüsteten Welt unterworfen wird, mag Platons
Vision eines leidenschaftlich-liebenden Lebens manchem als
pure Nostalgie oder Romantik erscheinen ; doch wer solches
denkt, bekundet damit letztlich nur, dass er den Eros in sich
173
schon erstickt hat. Leider wird das mehr und mehr zum Regel-
fall. Deshalb ist die letzte – nein die vorletzte – der von uns be-
Eros. Die Macht der Schönheit und die Erfüllung des Lebens in der Liebe
dachten Folgen Platons mutmaßlich die wichtigste : Willst du
wirklich Mensch sein, willst du wirklich das Beste erleben, was
das Leben dir zu bieten hat, dann gebe dich dem Leben hin.
Öffne dich der Schönheit und dem Eros. Das ist aller Weisheit
Anfang – und auch Ende.
Theos. Die Versöhnung
von Mythos und Logos und
das Denken der Zukunft 175
Die Pointe dabei ist, dass Zenòs ónoma sowohl mit »Name des
Zeus« als auch mit »Name des Lebens« übersetzt werden
kann ; was den Verdacht nahelegt, dass schon Heraklit im my-
thischen Zeus die gestalthafte Verdichtung des Wesens aller
phýsis vermutete. Bei Platon jedenfalls ist offensichtlich, dass
Theos. Die Versöhnung von M
die mit noûs begabte psyché das alles Sein und Werden begrün-
dende Wesen der »phýsis des Zeus« ist – was auch wieder dop-
pelt gelesen werden : im Sinne von »das eigentümliche Wesen
des Zeus« und »die dem Zeus gehörende Natur im Ganzen«.
Beides wäre richtig, und beides zeigt, dass Platon mit seiner
Deutung des Seins im Ganzen – mit seiner Metaphysik der Le-
bendigkeit – nicht nur auf dem Boden des alten Mythos stand,
sondern das couragierte Projekt verfolgte, dessen Wahrheit in
einer neuen Sprache für eine neue Weltzeit zu Wort kommen
zu lassen.
Haben wir den Mut, als letzte und gewichtigste Folge Pla-
tons dieses Projekt auch zum unsrigen zu machen ? Stehen
nicht auch wir an einer Zeitenschwelle ? Ist es nicht auch heute
nötig, unser Menschsein wieder rückzubinden an die Tiefen-
dimension des Lebens, die jedoch unter dem Einfluss einer
über die letzten Jahrhunderte erstarrten Religion – und Philo-
sophie – immer mehr in Vergessenheit geraten ist ? Ja, könnte
es womöglich sein, dass wir das alte Wissen um die Heilig-
keit der alles Sein durchwaltenden Lebendigkeit gerade heute
dringend brauchen, da die Menschheit erneut an der Schwelle
zu einer neuen, nunmehr digitalen Weltzeit steht ? Sollte der
platonische Gott, der gar kein Gott im Sinne dessen ist, den
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Nietzsche einst für tot erklärte, gerade der Gott sein, der uns
vor der Gespensterherrschaft jenes Homo Deus retten kann, die
ENDE
Literatur 183
Literatur
Platon : Werke in 8 Bänden. Gr. und dt. Hg. von Gunther
Eigler. Darmstadt 1990.
(Die Textbelege zu den Werken Platons werden ausgewie-
sen nach der international geläufigen Stephanus-Pagi
nierung. Die wörtlichen Zitate sind Übersetzungen des
Autors, die angefertigt wurden auf der Grundlage des
griechischen Textes nach der von Gunther Eigler besorg-
ten zweisprachigen Ausgabe der Werke Platons sowie der
Edition der griechischen Texte durch John Burnet [Plato-
nis Opera, Tom I–V, Oxford University Press 1900–1907].)
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