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FESTSCHRIFT
FÜR
KARL JASPERS
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KARL JASPERS
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Albert Camus
DIE GOTTESMÖRDER
13
ALBERT CAMUS
wissen, das der Gerechtigkeit und der Wahrheit folgt, als ob diese Werte
außerhalb der Welt existierten, gerade das Sichtbarwerden dieser Werte
verhindere. Das Gesetz für das Handeln ist also das Handeln selbst ge¬
worden, das im Finstern ablaufen muß, während es auf die Erleuchtung
wartet, die am Ziele erfolgen soll. Die von einer solchen Romantik an¬
nektierte Vernunft ist nur noch eine starre Leidenschaft.
Die Ziele sind die gleichen geblieben, nur der Ehrgeiz, sie zu errei¬
chen, ist größer geworden; das Denken ist dynamisch, die Vernunft ist
Werden und Eroberung geworden. Das Handeln ist nur noch ein Kalkül
in Abhängigkeit von den Resultaten, nicht von den Prinzipien. Es ver¬
schmilzt infolgedessen mit einer fortwährenden Bewegung. In gleicher
Weise haben sich im 19. Jahrhundert alle Wissenschaftszweige von der
Unbeweglichkeit und Geordnetheit abgewandt, die das Denken des 18.
Jahrhunderts charakterisierten. So wie Darwin an die Stelle von Linne
getreten ist, so haben die Philosophen der dialektischen Bewegung den
Platz der ausgeglichenen und unfruchtbaren Konstrukteure der Vernunft
eingenommen. Von diesem Zeitpunkt her datiert die Idee (die dem gan¬
zen antiken Denken widerspricht, sich aber teilweise im Geiste der fran¬
zösischen Revolution vorfand), daß der Mensch keine ihm ein für allemal
verliehene menschliche Natur besitze, daß er kein fertiges Geschöpf sei,
sondern ein Abenteuer, das er zum Teil selbst hervorrufen kann. Mit
Napoleon und mit Hegel, dem napoleonischen Philosophen, beginnt die
Zeit der „Wirksamkeit“. Bis Napoleon haben die Menschen den Welten¬
raum entdeckt, seit Napoleon die Weltenzeit und die Zukunft. Der Geist
der Revolte wird dadurch tiefgehend umgewandelt.
Jedenfalls ist es seltsam, daß man das Werk Hegels gerade an dieser
neuen Etappe des Geistes der Revolte vorfindet. In gewissem Sinne ist
nämlich sein ganzes Werk erfüllt von dem Abscheu vor dem Non-Kon-
formismus: er wollte der Geist der Aussöhnung sein. Aber das ist nur
eine der vielen Seiten seines Systems, das schon auf Grund der angewand¬
ten Methode das vieldeutigste in der ganzen philosophischen Literatur ist.
Insoweit für ihn das, was wirklich ist, auch vernünftig ist, rechtfertigt er
alle Unternehmungen derer, die der Ideologie des Realen anhängen. Was
man den Panlogismus Hegels genannt hat, ist eine Rechtfertigung des
faktischen Zustandes. Aber sein Pan-Tragismus verherrlicht auch die
Zerstörung als solche. Ohne Zweifel wird in der Dialektik alles wieder
miteinander versöhnt, und man kann kein Extrem setzen, ohne daß ein
anderes auftaucht; wie bei jedem großen Denker, gibt es auch bei Hegel
etwas, womit Hegel korrigiert werden kann. Aber die Philosophen wer¬
den selten bloß mit dem Verstände gelesen, oft mit dem Herzen und des¬
sen Leidenschaften, die nichts miteinander versöhnen.
14
DIEGOTTESMDRDER
Jedenfalls haben sich die Revolutionäre des 20. Jahrhunderts aus He¬
gel die Waffen geschmiedet, die die formalen Prinzipien der Tugend end¬
gültig vernichtet haben. Zurückbehalten haben sie von ihr die Auffas¬
sung einer transzendenzfreien Geschichte, deren Kern ein fortwährendes
Bestreiten von irgend etwas und ein Kampf zwischen den Trägern des
Willens zur Macht ist. Kritisch betrachtet ist die revolutionäre Bewegung
unserer Zeit zunächst eine heftige Anprangerung der formalen Heuche¬
lei, von der die bürgerliche Gesellschaft beherrscht wird. Der zum Teil
begründete Anspruch des modernen Kommunismus und der bedeutend
leichtfertigere des Faschismus ist es, die Mystifikation aufzudecken, die die
Demokratie bürgerlichen Typs, ihre Grundsätze und ihre Tugenden
verdirbt. Die Transzendenz Gottes diente bis 1789 dazu, die Will¬
kür der Könige zu rechtfertigen. Nach der französisdien Revolution dient
die Transzendenz der formalen Prinzipien - Vernunft oder Gerechtig¬
keit - dazu, eine Herrschaftsform zu rechtfertigen, die weder gerecht noch
vernünftig ist. Diese Transzendenz ist also eine Maske, die man herunter¬
reißen muß. Gott ist tot, aber - wie Stirner es vorausgesagt hat - es ist
notwendig, die Moral der Prinzipien zu töten, in denen sich noch die Er¬
innerung an Gott erhält. Der Haß auf die formale Tugend, auf diesen
heruntergekommenen Zeugen der Gottheit, auf diesen falschen Zeugen
im Dienste der Ungerechtigkeit, ist nach wie vor eine Triebfeder der Ge¬
schichte der Gegenwart. Nichts ist sauber, dieser Ruf erschüttert das Jahr¬
hundert. Das Unsaubere, die Geschichte also, wird zum Gesetz, und die wü¬
stenhafte Erde ist der nackten Kraft ausgeliefert, die über die Göttlichkeit
des Menschen entsdieidet oder nicht entscheidet. Man tritt dann der Lüge
und der Gewalttat bei, wie man einer Religion beitritt, und auch mit der
gleidien pathetischen Bewegtheit.
Aber die erste, grundlegende Kritik am guten Gewissen, die Anpran¬
gerung der „schönen Seele“ und der unwirksamen Einstellungen ver¬
danken wir Hegel, für den die Ideologie des Wahren, Guten und Schö¬
nen die Religion derer ist, die keine haben. Während das Umsichgreifen
der Parteibildung Saint-Just befremdet, weil sie der von ihm bejahten
idealen Ordnung zuwiderläuft, ist Hegel davon nicht nur nicht befremdet,
sondern er behauptet sogar, daß die Parteibildung der Beginn des Gei¬
stes ist. Für den Jakobiner ist jedermann tugendhaft. Die von Hegel aus¬
gehende und heute siegreiche Bewegung nimmt im Gegented an, daß
niemand tugendhaft ist, daß aber jedermann es sein wird. Im Anfang
war, nach Saint-Just, alles eine einzige Idylle, nach Hegel eine einzige
Tragödie. Aber schließlich läuft das aufs Gleiche hinaus. Es gilt, dieje¬
nigen zu vernichten, die die Idylle verniditen, oder aber zu vernichten,
um die Idylle zu schaffen. In beiden Fällen deckt die Gewalttat alles.
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ALBERT CAMUS
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DIE GOTTESMÖRDER
Übrigen von der Geschichte in einer Weise sanktioniert, die fast stets ver¬
hängnisvoll war, sei es für das Bewußtsein, sei es für die Zivilisation, in
der es sich spiegelt. Hegel macht es sich zur Aufgabe, die Notwen¬
digkeit dieser schmerzvollen Stufen darzutun. Einer der Aspekte der
„Phänomenologie“ ist eine Betrachtung von Verzweiflung und Tod. Frei¬
lich will diese Verzweiflung eine methodische sein, denn am Ende der
Geschichte soll sie sich in absolute Genugtuung und Weisheit verwandeln.
Diese Pädagogik macht indessen den Fehler, nur höhere Schüler voraus¬
zusetzen; sie ist beim Worte genommen worden, während sie doch durch
das Wort nur den Geist verkünden wollte. Genau so ist es mit der be¬
rühmten Untersuchung von Herrschaft und Knechtschaft gegangen.
(Was folgt, ist eine schematische Darstellung der Dialektik Herr-Knecht.
Nur die Folgen dieser Untersuchung interessieren uns hier. Deshalb er¬
schien uns eine neue Darstellung notwendig, die gewisse Tendenzen stär¬
ker als andere hervorhebt. Zugleich sdiließt das jede kritische Darstellung
aus. Indessen wird es nicht sdiwer sein, einzusehen, daß eine Argumen¬
tation, die sich mittels einiger Kunststückchen im Bereich des Logischen
hält, nicht den Anspruch erheben kann, eine wirkliche Phänomenologie zu
sdiaffen, wenigstens insoweit nicht, als die Argumentation auf einer völlig
willkürlichen Psychologie beruht. Die Nützlidikeit und Wirksamkeit der
Kritik Kierkegaards an Hegel bestehen darin, daß sie sich oft auf die
Psychologie stützt. Das vermindert übrigens nicht den Wert gewisser be¬
wunderungswürdiger Analysen Hegels.)
Das Tier besitzt - nach Hegel - ein unmittelbares Bewußtsein der
Außenwelt, ein Gefühl seiner selbst, aber kein Bewußtsein seiner selbst, was
allein den Menschen auszeichnet. Dieser entsteht wirklich erst von dem
Augenblick an, in dem er, sofern er erkennendes Subjekt ist, Bewußtsein
seiner selbst gewinnt. Er ist also wesentlich Selbstbewußtsein. Das Selbst¬
bewußtsein muß sich, um sich bejahen zu können, von dem unterscheiden,
was es nicht ist. Der Mensch ist das Geschöpf, das, um sein Sein und seine
Unterschiedenheit bejahen zu können, verneint. Was das Selbstbewußt¬
sein von der natürlicben Welt untersdieidet, ist nicht die schlichte Be¬
trachtung, in der es sidi mit der Außenwelt identifiziert und sich selbst ver¬
gißt, sondern die Begierde, die es im Hinblick auf die Welt empfinden
kann. Diese Begierde ruft das Selbstbewußtsein zu sich selbst zurück, und
zwar während sie ihm die Außenwelt als von ihm verschieden zeigt. In
seiner Begierde ist die Außenwelt das, was es nicht hat und was „ist“,
was es aber haben möchte, um sein zu können, und was nicht mehr sein
soll. Das Selbstbewußtsein ist also notwendigerweise Begierde. Aber um
sein zu können, muß es befriedigt werden; es kann aber nur durch Stil¬
lung seiner Begierde befriedigt werden. Es handelt also, um sich zu stil-
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ALBERT CAMUS
len, und indem es das tut, verneint und beseitigt es das, womit es sich
stillt. Es ist Verneinung. Handeln heißt zerstören, um die geistige Reali¬
tät des Bewußtseins entstehen zu lassen. Aber ein Objekt ohne Bewußt¬
sein zerstören, wie zum Beispiel Fleisch beim Akt des Essens, kommt auch
beim Tier vor. Etwas verbrauchen heißt noch nicht, bewußt sein. Die Be¬
gierde des Bewußtseins muß sich auf etwas richten, was etwas anderes
ist als Natur ohne Bewußtsein. Das einzige Ding in der Welt, das sich
von dieser Natur unterscheidet, ist eben das Selbstbewußtsein. Die Be¬
gierde muß also auf einer anderen Begierde beruhen, das Selbstbewußt¬
sein muß sich an einem anderen Selbstbewußtsein stillen. Mit einfachen
Worten; der Mensch wird nicht erkannt und erkennt sich nicht als Mensch,
solange er sich darauf beschränkt, tierhaft sich am Leben zu halten. Er
muß von den anderen Menschen erkannt werden. Jedes Bewußtsein ist
prinzipiell Begierde, um als solches erkannt und begrüßt zu werden von den
anderen Bewußtseinsindividuen. Es sind die anderen, die uns hervor¬
bringen. Nur in Gesellschaft erhalten wir einen menschlichen Wert, der
höher ist als der tierische.
Da der höchste Wert für das Tier die Erhaltung des Lebens ist, muß
das Bewußtsein sidi über diesen Instinkt erheben, um den menschlichen
Wert zu erhalten. Es muß fähig sein, sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Um von einem anderen Bewußtsein erkannt zu werden, muß der Mensch
bereit sein, sein Leben zu wagen und die Möglichkeit, zu sterben, akzep¬
tieren. Die grundlegenden menschlichen Beziehungen sind also reine
Prestigebeziehungen, ein fortwährender Kampf um das Anerkanntwer¬
den des einen durch den anderen, ein Kampf, der mit dem Tode bezahlt
wird.
Auf der ersten Stufe seiner Dialektik behauptet Hegel, daß der Tod
das für Mensch und Tier Gemeinsame ist, und der Mensch sich vom Tier
dadurch unterscheide, daß er den Tod akzeptiert und sogar will. Im In¬
neren dieses Urkampfes um das Anerkanntwerden wird der Mensch
dann mit dem gewaltsamen Tode gleichgesetzt. ,,Stirb und werde“ ist die
traditionelle, von Hegel aufgenommene Devise. Aber das „werde, was
du bist“ wird verdrängt von dem „werde, was du noch nicht bist“.
Diese primitive und wütende Begierde nach Anerkennung, die mit dem
Willen, zu sein, verschmilzt, wird nur durch eine Anerkennung befrie¬
digt, die sich immer weiter, bis zur Anerkennung durch alle, ausdehnt.
Da ohnehin jeder durch alle anerkannt werden will, hört der Kampf ums
Leben erst mit dem Anerkanntwerden aller durch alle auf, was das Ende
der Geschichte bedeuten würde. Das Wesen, das versucht, das Hegersdie
Bewußtsein zu erlangen, entsteht inmitten des - schwer genug errunge¬
nen - Ruhmes einer kollektiven Billigung. Es ist nicht uninteressant, daß
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die GOTTESMÖRDER
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ALBERT CAMUS
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DIE GOTTESMÖRDER
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ALBERT CAMUS
Sitten und Gewohnheiten seines Volkes zu leben, eine Maxime des sozia¬
len Konformismus, für den Hegel tatsächlich die zynischsten Beweise er¬
bracht hat. Immerhin fügt Kojeve hinzu, daß dieser Konformismus nur
insoweit für berechtigt gehalten wird, als die Sitten jenes Volkes dem
Geist der Zeit entsprechen, das heißt insoweit sie gefestigt sind und den
revolutionären Kritiken und Angriffen standhalten. Aber wer entscheidet
über diese Festigkeit, wer urteilt über ihre Berechtigung? Seit hundert
Jahren hat das kapitalistische Regime des Abendlandes harten Stürmen
standgehalten. Muß man es deshalb für berechtigt halten? Müßten sich-
umgekehrt - diejenigen, die der Weimarer Republik treu geblieben wa¬
ren, 1933 von ihr abwenden und Hitler die Treue versprechen, nur weil
sie unter dessen Streichen zusammengebrochen war? Mußte die spanische
Republik in genau dem Augenblick verraten werden, an dem das Regime
des Generals Franco den Sieg errang? Das sind Schlußfolgerungen, die
das traditionelle revolutionäre Denken im Rahmen seiner eigenen Per¬
spektiven gerechtfertigt hätte. Das in seinen Konsequenzen unberechenbar
Neue ist, daß das revolutionäre Denken jene Schlußfolgerungen sich zu
eigen gemacht hat. Die Beseitigung jedes moralischen Wertes und aller
Prinzipien, ihre Ersetzung durch das Faktum, das vorläufiger aber realer
König ist, konnte nur, wie wir gesehen haben, zum politischen Zynis¬
mus führen, ob es sidi nun um das Faktum des einzelnen oder - schwer¬
wiegender - um das des Staates handelte. Die von Hegel beeinflußten
politischen oder ideologischen Bewegungen vereinigen sidi darin, daß sie
die Tugend sichtbar im Stich lassen.
In der Tat hat es Hegel nicht verhindern können, daß sidi diejenigen
in eine Welt ohne Schuldlosigkeit und ohne Prinzipien geworfen sahen,
die ihn mit einer keineswegs nur methodischen Angst gelesen hatten,
und dies in einem Europa, das von Ungerechtigkeit bereits zerrissen war:
in eben die Weit geworfen, von der Hegel sagt, sie sei an und für sich
ein Sündenfall, weil sie vom Geist geschieden ist. Zweifellos verzeiht
Hegel am Ende der Geschichte alle Sünden. Indessen wäre von hier bis
dahin jede menschliche Handlungsweise schuldhaft. „Schuldlos ist also
nur die Abwesenheit jeglichen Tuns, das Sein eines Steins, nicht einmal
das eines Kindes.“ Die Unschuld der Steine ist uns also fremd. Ohne
Schuldlosigkeit gibt es keine Beziehung zu irgend etwas, keine Vernunft.
Ohne Vernunft gibt es nur die nackte Kraft, Herren und Knechte, so lange
bis die Vernunft eines Tages herrscht. Zwischen Herrn und Knecht steht
das Leid vereinzelt da, ist die Freude ohne Wurzeln, sind beide unver¬
dient. Wie also leben, wie dies alles ertragen, wenn gegenseitige Zunei¬
gung eine Angelegenheit des Endes aller Zeiten ist? Der einzige Aus¬
weg ist, das Gesetz zu schaffen, die Waffen in der Hand. ,,Töten oder
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DIE GOTTESMÖRDER
unterwerfen“; die Hegel nur mit einer Neigung für das Schreckliche ge¬
lesen haben, konnten wirklich nur den ersten Teil des Dilemmas erfas¬
sen. Sie haben daraus eine Philosophie der Verachtung und der Ver¬
zweiflung gemacht, denn sie hielten sich für Knechte und nur für Knechte,
durch den Tod gebunden an den absoluten Herrn, durch die Peitsche an
die irdischen Herren. Diese Philosophie des schlechten Gewissens hat sie
bloß darüber belehrt, daß niemand Knecht ist ohne sein Einverständnis,
und jeder nur frei wird durch Zurückweisung der Knechtschaft, eine Zu¬
rückweisung, die mit dem Tod zusammenfällt. Die stolzesten unter ihnen
haben die Herausforderung angenommen, haben sich ganz mit jener Zu¬
rückweisung identifiziert und sich dem Tod geweiht. Alles in allem recht¬
fertigte der Satz, daß die Negation an sich ein positiver Akt sei, von
vornherein alle Arten von Negation und kündete bereits den Ausruf
Bakunins und Netschajews an: ,,Unsere Aufgabe ist es, zu zerstören,
nicht, aufzubauen.“ Für Hegel war der Nihilist bloß ein Skeptiker, der
keinen anderen Ausweg hatte als den Widerspruch oder den philosophi¬
schen Selbstmord. Er selber aber brachte eine andere Art von Nihilisten
zur Welt, die aus der Not ein Prinzip des Handelns machten und ihren
Selbstmord mit dem philosophischen Mord gleichsetzten. (Dieser Nihilis¬
mus ist, entgegen dem äußeren Anschein, noch Nihilismus im Sinne
Nietzsches, und zwar insoweit er Verleumdung des gegenwärtigen Lebens
zugunsten eines geschichtlichen Jenseits ist, an das zu glauben man sich
bemüht.) Hieraus erwacEsen die Terroristen, die entschieden haben, daß
man töten und sterben müsse, um sein zu können, denn der Mensch und
die Geschichte können sich nur durch Aufopferung und Mord erschaffen.
Der große Gedanke, daß jeder Idealismus hohl ist, wenn er nicht mit
dem Risiko, zu sterben, bezahlt wird, sollte von jenen jungen Leuten auf
die Spitze getrieben werden, die ihn nicht von der Höhe eines Universi¬
tätskatheders herab verkündeten, bevor sie in ihren Betten starben, son¬
dern mitten im Tumult der Bombenwürfe und auch noch unter den Gal¬
gen. Indem sie das taten, korrigierten sie - auch mit ihren Irrtümern -
ihren Meister und bewiesen gegen ihn, daß wenigstens eine Aristokratie
höher steht als die abscheuliche, von Hegel verherrlichte Erfolgsaristo¬
kratie: die der Aufopferung.
Eine andere Art von Erben, die Hegel ernsthafter liest, wählt den
zweiten Teil des Dilemmas und erklärt, daß der Knecht nur frei wird,
wenn er seinerseits jemanden unterwirft. Die nachhegelischen Lehr¬
gebäude vergaßen die mystische Seite gewisser Tendenzen des Meisters
und haben jene Erben zu einem absoluten Atheismus und zum wissen¬
schaftlichen Materialismus hingeführt. Aber diese Entwicklung ist nicht
vorstellbar ohne das vollständige Verschwundensein jedes transzenden-
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ALBERT CAMUS
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DIE GOTTESMÖRDER
den wir noch heute am Werke sehen und der der strikte Gegensatz zur nihi-
listisdien Verzweiflung zu sein sdieint. Aber das sieht nur so aus. Man
muß die letzten Schlußfolgerungen Feuerbachs in seiner „Theogonie“ ken¬
nen, um die zutiefst nihilistische Quelle dieser flammenden Gedanken
gewahr zu werden. Gegen Hegel selbst behauptet Feuerbach nämlich,
daß der Mensch nur ist, was er ißt, und faßt seinen Gedanken und die
Zukunft folgendermaßen zusammen: „Die wirkliche Philosophie ist die
Negation der Philosophie. Keine Religion ist meine Religion. Keine Phi¬
losophie ist meine Philosophie.“
Der Zynismus, die Vergöttlichung der Geschidite und der Materie, der
individuelle Terror oder das Verbrechen des Staates, alle diese maßlosen
Konsequenzen ergeben sich daraus, und alle sind gewappnet mit einer
zweideutigen Auffassung von der Welt, die der Geschichte allein die Sorge
überläßt, die Werte und die Wahrheit hervorzubringen. Wenn nichts
klar begriffen werden kann, bevor die Wahrheit - am Ende aller Zei¬
ten - ans Licht gebracht worden ist, ist jede Handlungsweise willkürlich,
und schließlich regiert die Kraft. „Wenn die Realität unbegreiflich ist“,
rief Hegel aus, „müssen wir unbegreifliche Begriffe schaffen.“ Ein Be¬
griff, den man nicht begreifen kann, hat es in der Tat nötig - so wie
der Irrtum - geschaffen zu werden. Aber um aufgenommen zu werden,
kann er nicht auf die Überzeugung zählen, die Wahrheitsrang hat, er
muß schließlich und endlich auferlegt werden. Hegels Einstellung drückt
folgendes aus: „die Wahrheit ist diejenige, die uns der Irrtum zu sein
scheint, die aber wahr ist, gerade weil es ihr geschieht, der Irrtum zu
sein. Was den Beweis betrifft, so bin nicht ich es, sondern die Geschichte,
die ihn bei ihrer Vollendung spenden wird.“ Eine solche Anmaßung
kann nur zwei Haltungen nach sich ziehen: entweder die Aufhebung
jeder Bejahung bis zur Spendung des Wahrheitsbeweises, oder die Be¬
jahung von allem, was in der Geschichte erfolgversprechend zu sein
scheint, in erster Linie Bejahung der Kraft. In beiden Fällen ein Nihi¬
lismus. Jedenfalls versteht man das revolutionäre Denken des 20. Jahr¬
hunderts nicht, wenn man die Tatsache außer acht läßt, daß es infolge
eines unglücklichen Zufalls zu einem großen Teil von einer Philosophie
des Konformismus und des Opportunismus inspiriert worden ist. Die
wirkliche Revolte wird durch die Entartungen dieses Denkens nicht in
Frage gestellt.
Schließlich ist das, was den Anspruch Hegels rechtfertigt, zugleich das,
was ihn verstandesmäßig und für alle Zeiten verdächtig macht. Er glaubte,
daß die Geschichte im Jahre 1807 mit Napoleon und mit ihm vollendet
sei, daß also die Bejahung möglich und der Nihilismus besiegt sei. Die
„Phänomenologie“, eine Bibel, die nur die Vergangenheit prophezeit
25
ALBERT CAMUS
hätte, setzte der Zeit eine Schranke. Im Jahre 1807 waren alle Sünden
vergeben, und die Zeitalter waren abgelaufen. Aber die Geschichte ist
weitergegangen. Neue Sünden schreien seither in das Angesicht der
Welt und lassen den Skandal der früheren Schandtaten, die von der
deutschen Philosophie auf ewig für straflos erklärt worden waren, wie¬
der ausbrechen. Die Vergöttlichung Hegels durch ihn selbst nach derjeni¬
gen Napoleons - der von nun an schuldlos ist, da es ihm gelungen war, die
Geschichte zu stabilisieren -, hat nur sieben Jahre gedauert. An Stelle der
totalen Bejahung hat der Nihilismus die Welt eingenommen. Auch die
Philosophie hat, selbst wenn sie lakaienhaft ist, ihre W^aterloos.
Aber nichts kann das Gelüst nach Göttlichkeit im Herzen des Menschen
entmutigen. Andere sind gekommen und kommen noch, die Waterloo
vergessen und weiter den Anspruch erheben, die Geschichte zu Ende zu
bringen. Die Göttlichkeit des Menschen ist noch immer auf dem Marsche
und wird erst am Ende aller Zeiten angebetet werden können. Man muß
ein Diener dieser Apokalypse sein und, da Gott fehlt, wenigstens eine
Kirche errichten. Alles in allem läßt die Geschichte, die immer noch nicht
stehengeblieben ist, eine Perspektive vorausahnen, die die des HegeP-
schen Systems sein könnte, aber aus dem einfachen Grunde, daß sie
vorläufig von den geistigen Fäden Hegels gezogen, wenn nicht gelenkt
wird. Wenn die Cholera den Philosophen der Schlacht bei Jena auf der
Höhe seines Ruhms dahinrafft, ist alles in bester Ordnung, nämlich für
das, was folgt. Der Himmel ist leer, die Erde ist der prinzipienlosen
Macht ausgeliefert. Die zu töten und die zu unterwerfen gewählt haben,
werden abwechselnd an der Rampe der Bühne stehen, im Namen einer
Revolte, die sich von ihrer Wahrheit abgewendet hat.
Anmerkungen
^ Hegel und Rousseau zusammen zu nennen, hat seinen guten Sinn. Das Schicksal der
„Phänomenologie“ war in seinen Konsequenzen das gleiche wie das des „Contrat
social“. Es hat das philosophische Denken seiner Zeit gestaltet. Rousseaus Theorie
vom Gesamtwillen findet sich übrigens im Hegel’schen System wieder.
- In Wirklichkeit liegt hier eine tiefreichende Doppelsinnigkeit vor, denn es handelt
sich gar nicht um die gleiche Natur. Beseitigt die Heraufkunft der technischen Welt
den Tod oder die Furcht vor dem Tode in der natürlichen Welt? Das ist die eigent¬
liche Frage, und sie hat Hegel in der Schwebe gelassen.
® Jean Hyppolite, „Genese et structure de la Phenomenologie de l’esprit“, Seite 168.
Die Kritik Kierkegaards ist in jeder Hinsicht berechtigt. Die Gottheit auf die Ge¬
schichte gründen heißt, einen absoluten Wert paradoxerweise auf eine annähernd
richtige Erkenntnis gründen. Etwas „ewig Geschichtliches“ ist ein Widerspruch in
sich selber. Übersetzt von Justus Streller
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Oskar Hammelsbeck
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OSKAR HAMMELSBECK
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THEOLOGISCHE BESTREITUNG DES PHILOSOPHISCHEN GLAUBENS
Der Glaube ist von ihnen her nicht erfüllbar. Gott allein füllt und erfüllt
ihn. Die Theologie muß diesen souveränen Vorbehalt Gottes der religiö¬
sen Sucht und der Philosophie gegenüber vertreten. Indem die Philo¬
sophie auf die religiösen Ansprüche verzichtet, kann sie in der Zulassung
durch Gott wahrhaft weise, Weltweisheit, werden.
In diesem Verzicht der Philosophie gründet sich ihr Redit, gegen jede
Art von „Ausschließlichkeitsanspruch“ (Jaspers, S. 69 ff.) zu protestieren.
Sie protestiert damit als rechte Philosophie gegen die falsche, gerade
auch gegen die falsdie Philosophie in der falschen Theologie. Es ist
im Grunde der reformatorische Protest für die „Freiheit eines Christen¬
menschen“. Wir müssen wohl unterscheiden zwischen der unbestreitbaren
„Ausschließlichkeit“, die Gott zukommt, und dem Anspruch, den Men¬
schen für ihr Gottesverhältnis abzuleiten meinen. Audi im Philosophieren
steht, soll Gott als emer begriffen werden, seine Ausschließlichkeit logi¬
scherweise fest. Die Theologie in Anerkenntnis der Souveränität Gottes
kann nur von der Offenbarungsaussage her denken; „Ich, ich bin (der
Herr) und außer mir kein Befreier“ (Jes. 43,11). Das Erste Gebot mit dem
folgenden Bilderverbot und dem Gebot der Heiligung seines Namens tut
die Einzigkeit kund, die Ausschließlichkeit des Einen, der Gott ist und
uns Gott sein will als Offenbarer. Das „Ich bin“ Gottes ist die Aussage
der Aussdiließlidikeit (2. Mos. 3,14). Gott offenbart sich mit dem „Ich
bin, der ich bin“ oder dem „Ich werde sein, der ich sein werde“ und ent¬
zieht sich damit zugleich dem Zugriff des religiösen Menschen. Er ist nur
Gott für die Menschenkinder, wie er - souverän - für sie da sein will.
Der Philosoph wendet sein kritisches Unterscheidungsbewußtsein (Jas¬
pers, S. 69) gegen die neutestamentlich bezeugte Aussage Jesu (Joh. 14, 6):
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Was dem einen Gott
auch philosophisch zugestanden werden kann, also von der Vernunft her,
mit der die Kriterien für das philosophisch Mögliche festgestellt werden,
kann dem Nazarener und seinen Anhängern nicht zugestanden werden.
Hier scheint ein Ausschließlichkeitsanspruch fordernd aufzutreten, den
es außerhalb der biblischen Welt nicht gibt. „Menschen hohen Adels und
reiner Seele sind auch außerhalb des Christentums sichtbar; es wäre ab¬
surd, wenn sie verloren sein sollten, zumal im Vergleich zu menschlich
fragwürdigen, kaum liebenswerten Gestalten unter den größten histo¬
risch wirksamen Christen“ (Jaspers, S. 69/70).
Die Theologie in Anerkenntnis der Souveränität Gottes geht einen
anderen Weg der Klärung. Theologisch ist es nicht möglich, jene Aussage
Jesu aus dem Gesamtzusammenhang des Offenbarungszeugnisses zu lösen.
Schon innerhalb des Johannes-Evangeliums muß der Zusammenhang mit
seiner Einleitung, dem sogenannten Prolog, gewahrt bleiben: „Das Wort
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OSKAR HAMMELSBECK
ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herilichkeit, eine
Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und
Wahrheit“ (Joh. 1,14). Philosophisch ist dasnur die Verschiebung auf eine
andere nicht haltbare Behauptung. Theologisch wird statt dessen der Zu¬
sammenhang des Offenbarungszeugnisses Alten und Neuen Testaments,
das Zeugnis von der Offenbarung des eine7i Gottes wichtig. Die erkannte
Herrlichkeit dieses einen Gottes ist nicht eine nach menschlicher Weis¬
heit oder Religion aufweisbare, sondern in Anerkenntnis der Souveräni¬
tät Gottes die nur im Glauben vollziehbare Erkenntnis: der eine Gott
ist dem gefallenen Menschen zugute Mensch geworden - wahrhaftiger
Gott, wahrhaftiger Mensch. Diese Menschwerdung Gottes - im An¬
nehmen der Knechtsgestalt dieser Welt - macht die religiösen Illusionen
zunichte. Im Blick auf Joh. 14, 6 heißt das: das alte, ewige „Ich bin
Gottes bleibt unvermindert, wenn der eine Gott eingeht in die menschlich-
weltliche Wirklichkeit: Weg, Leben, Wahrheit, Türe, Brot, Wein, Licht
zu sein. Wege, Leben und Wahrheit hören in Christus auf, Bemühungen
und Spekulationen religiösen und philosophischen Glaubens zu sein. Gott
kommt auf seinem Weg, der Christus heißt, mit seinem Leben, mit seiner
Wahrheit den religiösen und philosophierenden Menschen entgegen.
Die Prädikatsnomina sind die welthaften, menschlichen, „ fleischlichen
Daseinsweisen, deren sich nunmehr der eine Gott mit seinem „Ich bin“
angenommen hat. Der Philosoph würde es erträglich und dann eben nicht
mehr als intoleranten Ausschließlichkeitsanspruch finden, wenn der Christ
verbessernd sagen würde: das ist mein Weg. Er hat in der kritischen
Begrenzung des Religiösen durch philosophische Redlichkeit ganz recht.
Vom Menschen her kann es nur verschiedene, der Unbedingtheit des
einzelnen entsprechende Möglichkeiten geben. Aber von Gott her auf den
Menschen zu ist die Ausschließlichkeit gewissermaßen die Bedingung für
den unbedingten Glauben. In der Gemeinde Christi gibt es gerade nicht
einen Kollektivglauben auf Grund eines durch Menschen verkündbaren
Ausschließlichkeitsanspruchs. Es ist vielmehr das Besondere der Gemeinde,
daß jedes ihrer Glieder auf seine ihm eigene, persönliche und unbe¬
dingte Weise glaubt und zugleich jeder doch an den einen Gott in
Christus glaubt.
Indem der eine Gott mit seinem „Ich bin“ Weg, Leben, Wahrheit,
Türe, Brot, Wein, Licht - das alles sind ja Wahrzeichen der geschaffenen
Welt -, zu dem Seinen gemacht hat für die Menschen, hört die religiöse
Fanatisierung durch den gottfernen Menschen auf. Das Profane darf wie¬
der profan sein in echter Weltlichkeit. Die Ausschließlichkeit Gottes im
„Ich bin“ schließt die Ausschließlichkeitsansprüche menschlicher Wege zu
Gott aus. Gerade der Christenmensch kann einen solchen fordernden An-
30
THEOLOGISCHE BESTREITUNG DES PHILOSOPHISCHEN GLAUBENS
Spruch nicht stellen. Denn in der Bibel begegnet ihm nur der Jesus
Christus, der überall solcher falschen „Christlichkeit“ wehrt. Wir müssen
also daraus folgern, daß Ausschließlichkeitsansprüche nur außerhalb der
biblischen Erkenntnis in Christus und in ihren religiösen Mißverständ¬
nissen Vorkommen. Fichtes idealistische Hybris in seinen „Reden“ ist ein
solcher Mißverstand und Ausschließlichkeitsansprudi. Aber auch die
Kirchen sind immer wieder in der Gefahr, sich in Ansprüchen zu lösen
vom Evangelium und „Religionsgemeinschaften“ zu werden. Ecclesia
semper reforrnanda.
Das „Idi bin“ Christi ist immer Anlaß zum Ärgernis gewesen, bis in
die Schar der erwählten Jünger. Die Ausschließlichkeit Gottes wird von
keinem natürlichen Menschen anerkannt, sondern nur in Gottes erschlie¬
ßendem Geist. Es ist der der Gemeinde verheißene Geist. Diese Aussage
ist der eigentlich neuralgische Punkt zwischen Theologie und Philosophie.
Gott schließt niemanden aus. Er „will, daß alle Menschen zur Erkenntnis
der Wahrheit kommen“ (l.Tim.2, 4). Er zwingt aber niemanden. Darum
gibt es nur den Auftrag Christi zur Verkündigung und Lehre. Gott, der Be¬
freier, zwingt nicht. Zwang widerspricht der Befreiung. Das Zeugnis der
Bekennenden Kirche von 1934 ist darum ein echtes biblisches Zeugnis. In
der 2. These heißt es gegen die falschen Zeugnisse der Zeit: „Durch ihn
(Christus) widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen
dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen (Gottes) Geschöpfen.“
Damit ist jede undiristliche Ausschließlichkeit ausgeschlossen. In diesem
freien, dankbaren Dienst wird nicht geschieden zwischen Gläubigen und
Ungläubigen, Christen und Nichtchristen. Die Liebe Christi dient jedem
Menschenkind.
Wenn der eine Gott des „Ich bin“ den glaubenden Jüngern zuspricht:
„Ihr seid das Licht der Welt“ oder ähnliche Zusprüche, so kann kein Glau¬
bender, von diesem unmittelbaren Zuspruch sich lösend, von sich behaup¬
ten, er sei Licht oder Salz der Erde. Immer ist nur das Wort Gottes als
Licht und Salz gemeint, das durch die Gemeinde und ihre Glieder für die
Welt aktuell wird. Von der Theologie in Anerkenntnis der Souveränität
Gottes muß deshalb dem Philosophen bestritten werden, vom Vergleich
mit „Menschen hohen Adels und reiner Seele“ her jene töricht und an¬
maßend erscheinende Qualifizierung der Christen zu entwerten. Denn sie
ist gar keine Qualifizierung im philosophisch vertretbaren Sinne. Im Offen¬
barungszeugnis darf jedoch nicht unausgesprochen bleiben, daß jene hohen
und reinen Seelen vor Gottes Augen wie jedermann ohne Verdienst und
Würdigkeit dastehen und wie jedermann der Barmherzigkeit Gottes be¬
dürftig sind. Unsere Selbsttäuschungen hinsichtlich der Verlorenheit vor
Gott sind allgemein.
31
OSKAR HAMMELSBECK
32
THEOLOGISCHE BESTREITUNG DES PHILOSOPHISCHEN GLAUBENS
33
OSKAR HAMMELSBECK
„Im Verhalten zur Bibel kommt es immer darauf an, aus den Abgleitungen
wieder zu gewinnen die sich gleichbleibende Wahrheit, die doch nie ob
jektiv da ist. Wahre Verwandlung ist Rückkehr zum Ursprünglichen. ...
Das Ursprüngliche ist aber nicht das Anfängliche, sondern das Jeder¬
zeitige, das eigentlich und ewig ist“ (Jaspers, S. 79). Gute Theologie und
gute Philosophie besorgen jede auf ihre W^eise und miteinander das
immer notwendige Gesdiäft, die religiösen und die philosophischen Ob-
jektivationen um des existentiellen Wagnisses von Glauben und W^issen
willen aufzuheben. Das paulinische „Haben, als hätten wir nicht gilt
auch hier. Christlicher Glaube und philosophischer Glaube stimmen in
Wagnis und Haltung weithin überein, wie Jaspers ihn beschreibt. Die
dogmatischen und institutionellen Objektivationen sind aufhebbare ge-
sdbichtliche Formen. Gott ist ungegenständlich. Aber er neigt sich in der
Offenbarung unserem menschlichen Bedürfnis, sogar dem religiösen Be¬
dürfnis nach dem Objektivierbaren, zu. Dabei wird aber von ihm her
unser Festhalten am vergänglich Gegenständlichen aufgehoben; was der
Glaubende ergreift, ist Antwort auf das Ergriffensein durch Gott. Taufe
und Abendmahl sind die beiden einzigen über das Wort hinausgehenden
„Objektivationen“ der christlichen Offenbarung, die aber in der ausdrück¬
lichen Verbundenheit mit dem Tod Christi zugleich eschatologisch quali¬
fiziert sind.
Philosophie im philosophischen Glauben und Philosophie in der Theo¬
logie (Bultmann) versucht die übersäkularen Gehalte mit den säkularen
Kategorien aufzufangen. Das ist einesteils geschichtlich notwendig gegen
Erstarrung, für Lebendigkeit im Überliefern. Es begünstigt andernteils
die Entleerung aus den Offenbarungsgehalten. Wir dürfen Nietzsche zu¬
erkennen, daß er das Christentum als eine Fehlentwicklung widerlegt hat.
Christentum ist immer eine Fehlentwiddung vom jederzeitigen Ursprung
in Christus. Was Nietzsche nicht erkannt oder erfahren hat, ist das andere,
daß die lautere und reine Verkündigung des Evangeliums im jeweiligen
Christentum das Geschichtliche durchbricht. Die Gottesgabe des Wortes
gilt wie das Manna in der Wüste für jeden Tag neu. Jeder Vorrat wurde
wurmig und stinkend. Das muß gute Theologie beachten, und sie darf sich
darin von der kritischen Philosophie helfen lassen.
Philosophischer Glaube kann niemals die Ursprünglichkeit des Glau¬
bens in der Souveränität Gottes erreichen. Die Philosophie hat ein ganz
anderes Feld. Dieses ihr eigene Feld darf wiederum nicht durch eine fal¬
sche Theologie beschlagnahmt werden. Gott hat trotz des Sündenfalls den
gesegneten Auftrag nicht zurückgenommen, die geschaffene Welt zu er¬
forschen und dem Menschen dienstbar zu machen. Die Geschichte des
Menschen ist die Geschichte der Entfaltung des menschlichen Geistes in
34
THEOLOGISCHE BESTREITUNG DES PHILOSOPHISCHEN GLAUBENS
35
Fumio Hashimoto
Vorwort
36
WESENSZÜGE DES ÖSTLICHEN DENKENS
audi dem Westen bekannt, für den Westen handle es sich aber um die
Wissenschaft, zu der Einzelwissenschaft und Philosophie als zwei von¬
einander zu unterscheidende Gebiete gehören; selbstverständlich kenne
auch der Westen, wenn es auf außerwissenschaftliches Wissen ankomme,
alle diese dem Osten bekannten Formen des Wissens.
Das ist richtig. Der Unterschied ist aber der, daß der Osten keinen so
großen Wert legt auf das wissenschaftliche Wissen mit seinen begriff¬
lichen Bestimmungen, mit seinem Anspruch auf begriffliche Exaktheit oder
Strenge, sondern auf das Wissen überhaupt mit seinem sich im einzelnen
Menschen vollziehenden Entwicklungsgang von der vorbegrifflichen durch
die begriffliche bis zur außer- und überbegrifflichen Stufe hinauf. Oder
richtiger: Die Einzelwissenschaften und die Philosophie im westlichen Sinn
gibt und gab es zwar auch im Osten; bis vor etwa einem Jahrhundert aber
wollte niemand im Osten behaupten, sein Fach sei diese oder jene Einzel¬
wissenschaft, oder aber die Philosophie. Jeder Wissenschaftler, sei er
etwa Mathematiker oder Chemiker oder Nationalökonom oder was er
sonst sei, erhob zugleich Anspruch, Philosoph zu sein, Besitzer des wahren
Wissens zu sein. Von welcher Einzelwissenschaft, von welchem Winkel
des Wissens man auch ausging, man versuchte sich immer über sein Fach
hinaus zu erheben, seine Fachkenntnisse zu einer wahren persönlich¬
menschlichen Bildung zu veredeln und durch diese Bildung hindurch zur
Einsicht in Welt und Menschsein zu gelangen, um auf diese Weise mit
unermüdlichem, ewig dauerndem Eifer immer und immer näher auf die
letzte Wahrheit hinzudrängen.
Das Wissen ist für den Osten nicht bloß Sache des Verstandes und der
- theoretischen - Vernunft, nicht bloß Sache des Theoretisierens. Es ist
vielmehr Einsatz eines ganzen Menschen. Beim Wissen kommt es nicht
sowohl auf das theoretische Vermögen, als vielmehr auf den ganzen Men¬
schen an. Das Wissen eines Menschen zeugt daher von seiner Gesinnung,
seiner Geisteshaltung, seinem Format, seiner menschlichen Reife. Subjekt
des Wissens und zum Wissen führenden Denkens ist, allen Scherz bei¬
seite, nicht der Kopf, sondern der Leib, der Bauch (japanisch: hara). Daher
die Redewendungen wie „mit dem Bauch denken“, „das will mir nicht in
die Eingeweide fallen“ (japanisch: fu ni ochinai, soviel wie: das will mir
nicht in den Kopf).
Daß das östliche Wissen ein ganzmenschliches Wissen ist, welches den
Einsatz von Leib und Seele erfordert, daraus folgt, daß das W^issen eine
mehr oder weniger tiefgreifende Verwandlung des Menschen bedeutet.
Der Mensch verwandelt sich durch das Wissen. Das Wissen ist in diesem
Sinne zum Handeln erhoben. Es ist ein inneres, aber auch äußeres Han¬
deln. Denn das Innere muß sich immer auch nach außen bekunden. Wenn
37
FUMIO HASHIMOTO
zum Beispiel jemand zu wissen glaubt, daß das Rauchen der Gesundheit
schadet, und es sich doch nicht abgewöhnt, so ist es nicht dahin zu deuten,
daß er die verderbliche Wirkung des Rauchens zwar wisse, doch nicht genug
willensstark sei, um es sich abgewöhnen zu können, sondern dahin, daß
jenes Wissen, das notwendig dieses Abgewöhnen mit sich bringen müßte,
von ihm gar nicht angeeignet worden sei. Die Übereinstimmung, die Ein¬
heit von Wissen und Handeln, von Theorie und Praxis liegt der östlichen
Auffassung des Wissens zugrunde. Die Praxis ist die letzte Instanz der
Theorie. Die Gelehrsamkeit setzt immer eine menschliche Reife voraus,
die sich in allem Tun und Lassen, ja sogar im Heben und Legen der Eß-
stäbchen bekundet.
Die Fachkenntnisse müssen der Lebensauffassung, dem Weltbild, der
Einsicht in die Große Wahrheit eingegliedert und eingewoben sein. Da das
aber eine lebenslange, ja nie endende Aufgabe ist, so ist das unermüdliche
Bemühen um die Große Wahrheit, die ins hohe Alter hinein dauernde
Suche nach dem „Weg“ das beliebteste Bild des Gelehrten. Die immer
fortschreitende, nie ruhende große C/wvollkommenheit ist uns viel sym¬
pathischer als der selbstbewußte Anspruch auf Vollkommenheit, der sich
mit einem in sich abgeschlossenen System begnügt.
Der Weg
Alle Künste, sei es nun die Kunst des Teezeremoniells (chado, Tee-Weg)
oder die des Blumenarrangements (kado, Blumen-Weg), oder die des
Bogenschießens (kyudo, Bogen-Weg) oder die des Jujitsu (richtiger: jüjut-
su oder jüdö, weiche Kunst oder Weichheits-Weg) oder die des Fechtens
(kendö, Schwert-Weg), werden im Osten „Wege“ (chinesisch: tao, chi¬
nesisch-japanisch: do, japanisch: michi) genannt. Nun handelt es sich aber
nicht um die bloße Benennung, sondern um den Inhalt, den Sinn, der den
Namen „Weg“ verdient. Was ist denn das für ein Weg?
Jede Kunst ist ein Weg zur Großen Wahrheit, zum Einswerden mit
der Großen Wahrheit. Gleichviel, ob man diesen oder jenen Weg ein¬
schlägt, immer wird man zu dieser einen Wahrheit geführt. Der Wege
gibt es viele. Doch gibt es nur eine Wahrheit. Daher ist jeder einzelne
Weg gleichwertig mit der Gesamtheit aller Wege. Eins gleich allem (ichi
soku issai).
In welcher Kunst auch immer kommt es nicht so sehr auf die Technik
an, die im Grunde in der Geschicklichkeit der Bewegung der Gliedmaßen
oder des Leibes besteht. Die Technik, die Geschicklichkeit, spielt zwar
eine wichtige Rolle, doch eine untergeordnete, die der Materie, in der
das Höhere, der Geist, sich abspielt. Jede Kunst ist ein Weg, auf dem
38
WESENSZÜGE DES ÖSTLICHEN DENKENS
sich der Geist unablässig übt, und zwar nicht in der Technik, sondern an
der Technik. An der Technik übt man sich in seiner menschlichen Aus¬
reifung, Läuterung und Freiwerdung zur Großen Wahrheit. Erst wenn
man eins geworden ist mit der Großen Wahrheit, dann hat auch seine
Kunst ihre Vollkommenheit erreicht.
Ist es aber möglich, dieses Einswerden mit der Großen Wahrheit?
Selbstverständlich ist es eine ewige Aufgabe, ein ewig dauernder Weg.
Die Übung kann also auch nie aufhören. Daher ist die Vollkommenheit
der Kunst auch eine ewige Aufgabe. Was ist nun das größte Hindernis
auf dem Wege der Übung? Wovon will der Mensch durch Übung frei
und lauter werden? Von dem Ich, dem kleinen Ich, diesem Übel aller
Übel, das uns die Große Wahrheit verdunkelt.
Nach dem Buddhismus, der dem Begriff des Wegs zugrunde liegt, be¬
wegen sich Himmel und Erde und alle Dinge nach dem Gesetz der Kau¬
salität, dem „Gesetz von Ursachen und Anlässen“. Das Weltall ist ein
Meer von Kausalitäten. Unzählige Kausalitäten überqueren und durch¬
kreuzen sich auf unzählige Weisen, und so bilden sich überall verschie¬
dene Dinge und W^esen, hier und da bilden sich auch Knoten von Kau¬
salitäten, die sich Menschen nennen. Der einzelne Mensch, das einzelne
Ich, ist ein winziges Knötchen von Kausalnexus, ein Schäumchen im gro¬
ßen Meer der Kausalität.
Die Einsicht in diese Kausalität, die Einsicht, daß jedes Ich sowohl wie
jedes Ding letzten Endes in Kausalnexus, also in das Nichts aufzulosen
sei, gehört mit zur Großen Wahrheit. Aller Streit um Mein und Dein,
alle Ichsucht, ja das liebe Ich selbst, würde verschwinden, wenn diese
Einsicht angeeignet würde. Man sagt: „Ich liebe das und das , „Ich ess^e
und trinke“ usw. Das müßte aber heißen: „Es liebt bei mir das und das“,
„Es ißt und trinkt bei mir“ usw. Dieses „bei mir“ bedeutet, daß ich der
Ort, das Gefäß, der Durchgangspunkt bin, wo das unbekannte „es sich
betätigt. In jeder Kunst muß man lernen, sein Ich zum Durchgangspunkt
zu machen, wo das „es“, wo das große Gesetz frei und ungestört durch¬
geht. Dazu muß der Eigensinn, der Widerstand des Ich, alle ichbefan-
genen Vorurteile vernichtet und zerschmettert werden. Vernichtung des
Ich zugunsten des großen Gesetzes, der Großen Wahrheit, das ist der
Sinn der ewig unablässigen Übung in der Kunst.
Da in jeder Kunst nicht die Technik, sondern das Einswerden mit der
Großen Wahrheit und die Vernichtung des Ich das Entscheidende ist,
bedeutet der Kunstweg Verwandlung des ganzen Menschen, den Star
stechen für das Aufleuchten der Großen Wahrheit. Dabei bezieht sich
also die Übung nicht nur auf das Vermögen, auf die Fertigkeiten, die die
Technik in Anspruch nimmt, sondern eher auf den ganzen Menschen, auf
39
FUMIO HASHIMOTO
das Gehen und Stehen, das Sitzen und Liegen, auf das Alltagsleben des
Übenden. Daher die Konfuzianische Behauptung, der Sinn jedes Weges
liege erstens in der Ausbildung des eigenen Charakters, zweitens in der
Übernahme der Regierung eines Landes und drittens in der Gründung
des Friedens der ganzen Welt (wobei Welt ursprünglich Ganz-China
bedeutet). Es konnte also Vorkommen, daß ein Fürst einen weit und breit
als Meister bekannten Tee-Mann besuchte und bat, für ihn Kanzler zu
werden, nicht weil dieser in der Politik bewandert, sondern eben weil
er durch den Tee-Weg eins mit der Großen Wahrheit war und so allen
politischen Schwierigkeiten gewachsen sein mußte.
Wir haben schon oft von der Großen Wahrheit gesprochen und nie
gesagt, was das ist.
Die Große Wahrheit ist nicht etwa einer kleinen Wahrheit entgegen¬
gesetzt. Denn es ist kein relativer Begriff. Die Große Wahrheit ist nicht
etwa so etwas wie die absolute Wahrheit. Denn so wäre sie einer rela¬
tiven Wahrheit entgegengesetzt und selbst relativ.
Die Große Wahrheit ist unaussprechlich. Jeder Versuch, sie mit einer
Aussage zu beschreiben, scheitert. Ein Dichter, der Matsushima, eine der
„drei schönsten Landschaften Japans“, besingen wollte, konnte nur sagen:
„Matsushima! Ach, Matsushima! Matsushima!“ Ein anderer Dichter, der
das durch die Kirschblüten berühmte Yoshinoyama besichtigen wollte und
sich unterwegs auf verschiedene Möglichkeiten besann, die Schönheit der
Kirschblüten auszudrücken, etwa durch Vergleichung mit dem Schnee oder
mit sich hinziehenden Wolken oder aber mit der Haut einer schönen
Jungfrau, kam, sah und wurde besiegt. Sein Gedicht lautete nur: „Ach
nein! Das ist also Yoshinoyama mit seinen Kirschblüten.“ Das ist die
Große Wahrheit. Diese Gedichte kann nur der in ihrer vollen Wahrheit
verstehen, der Matsushima bzw. Yoshinoyama mit eigenen Augen ge¬
sehen hat. Die Große Wahrheit ist, paradoxerweise gesagt, nur dem zu¬
gänglich, der sie hat.
Die Große Wahrheit läßt sich durch keine Worte, durch keine Begriffe
vermitteln. Daher sagt der Buddhismus: „Man soll keine Buchstaben auf¬
stellen.“ Daher sagt der Shintoismus: „Man soll alle Erörterungen mei¬
den.“ „Buchstaben“ bedeutet „Begriffe“, „Theorien“, „Systeme“. Die
Große Wahrheit ist über allen Buchstaben und Erörterungen erhaben.
Wie wird sie denn also vermittelt? Wir haben eben gesagt: Sie ist nur
dem zugänglich, der sie hat. Sie wird nicht ver-mittel-t. Sie leuchtet einem
unmittelbar, also unvermittelt auf. Der Lehrer hilft dem Schüler beim
40
WESENSZÜGE DES ÖSTLICHEN DENKENS
Aufleuditen der Wahrheit. Diese Hilfe kann und muß, obwohl das Auf¬
leuchten selbst ohne jedes Mittel geschieht, nur mittelbar, unter Aufbie¬
tung aller möglichen Mittel geschehen, das heißt in der Wissenschaft
unter Aufbietung von Buchstaben, Worten, Begriffen, Theorien, Syste¬
men, in den Künsten aber wie Teezeremoniell, Blumenarrangement, Bo¬
genschießen, Fechtkunst usw. unter Aufbietung von Formen, Bildern, Far¬
ben, Bewegungen des Leibes und der Gliedmaßen. Der Lehrer hilft aber
vermöge dieser Mittel nur dann mit Erfolg, wenn der Schüler dazu bereit,
wenn dieser also schon der Großen Wahrheit trächtig ist. Das ist, wie So¬
krates sagt, die Hebammenkunst. Trächtig muß der Schüler selber werden.
Diese Mittel vermitteln die Große Wahrheit nicht. Sie sind nur Chif¬
fren, nur Zeichen, anhand deren der Sdiüler, der Übende die Große
Wahrheit aufleuchten sehen soll. Er soll die Chiffren nicht mit der Wahr¬
heit verwechseln. Er soll hinter die Chiffren sehen. Wenn der Übende
wirklich weit vorgeschritten ist, so kann ihm alles als Chiffre dienen.
_Berge und Elüsse, Gräser und Bäume, alles predigt die Wahrheit.“
Wie geht die Große Wahrheit vom Lehrer zum Schüler? Sie geht, wie
der Buddhismus sagt, „von Seele zu Seele“. Das ist die höchste Kommu¬
nikation, die unmittelbarste, köstlichste, seltenste Kommunikation, die
ohne Worte, ohne Bilder gesdiieht, in dem Augenblick, wo die Chiffren,
die der Lehrer zeigt, das Höchstmaß von katalytischer Wirkung erreichen
und der Schüler so reif und trächtig geworden ist, daß die leiseste Be¬
rührung wie ein Eünklein wirkt, das in dem Schüler die Große Wahrheit
zum Aufleuchten bringt. Dieses Aufleuchten nennen wir „Erleuchtung“
(japanisch: satori). Die Erleuchtung geschieht nun aber keineswegs nur
einmal im Leben, keineswegs ein für allemal. Die eine Erleuchtung
reicht der andern die Hand. Jedesmal leuchtet dieselbe Gioße W^ahrheit
auf. Die Erleuchtung kann nie zu oft geschehen. Sie muß sich stets er¬
neuern. Und das gehört zum Wesen der Erleuchtung und zum Wesen
der Großen Wahrheit.
„Ein Weg, der als einziger Weg zu bezeichnen ist, ist kein stichhaltig
fesler Weg.“ Dieses Wort Laotses ist charakteristisch für das östliche
Denken. Den festen, einzigen, immer und überall gültigen, absoluten
Weg gibt es nicht. Jeder feste Standpunkt, alles Unauflösbare, alles, was
Bestand hat, ist dem Osten unsympathisch, weil es die Flüssigkeit des
Denkens stört, indem es dem umgreifenden Denken im Wege steht.
Der christliche Gedanke des Schöpfergottes zum Beispiel scheint dem
Osten wie ein fester Punkt, worüber das Christentum nie hinauskann und
41
FUMIO HASHIMOTO
der es trotz aller seiner guten Lehren in der Weite des Gesichtskreises
weit hinter dem Buddhismus zurückstehen läßt. Auch ist der Begriff der
Materie in der materialistischen Geschichtsauffassung ein fester Punkt,
ein unverdaulicher Klumpen, der trotz aller Dialektik der sich selbst be¬
wegenden Materie wie eine derbe Hypothese erscheint. Ein solcher un¬
verdaulicher Klumpen führt immer zu einer übereilten Verfestigung und
Verallgemeinerung dessen, was nur einen hypothetischen Wert besitzt.
Der Gedanke des vom Himmel ernannten Kaisers im alten China und
der des allein gottgleichen Tenno im Vorkriegs-Japan waren auch solche
Klumpen, die zu politischen Zwecken ausgenutzt wurden. Der Shintois-
mus, der ursprünglich in allen Menschen Gotteskinder erblickte, ist durch
den Klumpen des Gott-Tennotums entstellt worden, genau so, wie Hegels
Dialektik durch den Klumpen der Rechtfertigung des preußischen Staats¬
wesens eine verhängnisvolle Verkümmerung erfuhr. Eine solche Ent¬
stellung aber entspricht dem eigentlichen östlichen Denken überhaupt
nicht.
Der Begriff des Absoluten kann, wenn er als bloße Transzendenz jen¬
seits der Wirklichkeit, völlig abgelöst von allem Wirklichen angenom¬
men wird, ebenfalls ein unverdaulicher, fester und toter Klumpen sein.
Das wahre Absolute lebt und webt in den wirklichen Dingen und Wesen,
dergestalt, daß jedes einzelne Ding, jedes einzelne Wesen ohne weiteres
das Absolute ist, daß „Berge und Flüsse, Gräser und Bäume die Große
Wahrheit predigen.“ Das Absolute, die Große Wahrheit, die Buddha-
Natur liegt nicht im Jenseits, sie liegt im Diesseits, „unter meinen Füßen“.
Das östliche Denken kennt keinen Dualismus. Der Gegensatz von
Sein und Sollen, der Gegensatz von Idealismus und Realismus und der¬
gleichen Gegensätze sind dem Osten fremd. Wir sagen nicht, das und
das solle, weil es nicht sei, sondern es solle, weil es sei. Der Mensch soll
sich üben, um eins mit der Großen Wahrheit zu sein, weil er es schon
ist, weil er die Große Wahrheit hat. Auch ist die Frage, ob der Geist
die Materie bestimmt oder die Materie den Geist, uns völlig fremd.
Wenn der Geist die Materie bestimmt, so bleibt der Geist als hypothe¬
tischer Klumpen bestehen, und wenn die Materie den Geist bestimmt,
so muß man sich mit der klumpenhaften Hypothese der Materie be¬
gnügen. Der Geist ist ein Schaum, der sich bildet und bewegt, je nach
dem stets bewegten Nexus von unzähligen Kausalitäten. Er ist der Kirsch¬
blüte gleich, die aufblüht und bald wieder verwelkt. Niemand weiß,
woraus diese Blüte geworden ist. „Ich spalte den Kirschbaum entzwei und
finde nichts. Woraus ist ach! diese Blüte geworden?“ Dieses Gedicht will
zeigen, daß es den Geist außerhalb aller Kausalnexus gar nicht gibt, daß
der Geist kein fester Klumpen, sondern das Produkt jeweils bestehender
42
WESENSZÜGE DES ÖSTLICHEN DENKENS
und wirkender Ursachen und Anlässe ist. Das Gleiche gilt auch von der
Materie, die ebenfalls das Produkt der stets bewegten Ursachen und An¬
lässe ist.
Was sind denn die Ursachen und Anlässe? Der Begriff von Ursachen
und Anlässen ist wohl die Grundlage allen östlichen Denkens. „Anlässe
bedeutet „Nebenursachen“ oder „Begleitursachen“, „Umstände“. Auch
die eigentliche „Ursache“ zerfällt nach dem Buddhismus letzten Endes
in „Anlässe“. Sonst würde sie als plumper Klumpen bestehen bleiben.
Die Wirkung eines Anlasses ist nun im Grunde nichts anderes als die
eines Katalysators. Auf diese Weise ist der buddhistische Kausalitäts¬
begriff gar kein fester Klumpen, sondern ihm liegt nur die katalytische
Wirkung, das heißt ein wirkendes Nichts zugrunde. Kausalität gleich
Nichts, Nichts gleich Kausalität. Hier hat die Frage: Kausalität oder
Freiheit? Determinismus oder Indeterminismus? überhaupt keinen Sinn
mehr.
Ich glaube das östliche Denken, zwar bei weitem nicht erschöpfend,
doch in einigen Wesenszügen charakterisiert zu haben. Die Kommunika¬
tion zwischen Ost und West will gewiß nicht übereilt sein. Doch bin ich
fest überzeugt, daß Ost und West schon auf die Stufe gelangt sind, wo
sie sich für die Kommunikation im höchsten Sinn vorbereiten dürfen und
sollen.
43
Gerhard Krüger
Es ist immer schwer, das Wesen einer Sache unverzerrt einzusehen, weil
es immer verschiedene Möglichkeiten ihrer Beurteilung gibt. Bei dem We¬
sen der Autorität aber potenziert sich diese Sdiwierigkeit; denn eben die
Autorität charakterisiert eine von zwei Grundmöglichkeiten der Beurtei¬
lung aller Dinge überhaupt: man kann alles (auch die Autorität selbst)
entweder nach Maßgabe einer Autorität beurteilen oder nach eigenem Er¬
messen; man kann „gebunden“ oder „frei“ denken. Je nachdem zeigt sich
auch das Wesen der Autorität von vornherein in einem anderen Lichte:
es wird von vornherein „positiv“ oder „negativ“ betrachtet. Und da wir
es, als Erben der modernen europäischen Kultur, zunächst einmal „negativ“
betrachten und nach unseren Erfahrungen vielerlei Grund haben, davon
nicht so leicht abzugehen, ist uns die Autorität, wo immer sie zum Pro¬
blem wird, sogleich auch „problematisch“ im negativen Sinne des Wortes.
Wenn uns dennoch die Autorität noch beschäftigt, wenn sie uns - noch
immer oder schon wieder - begegnet, uns zu denken und zu fragen gibt,
statt schlechthin abgetan zu sein, so werden wir uns vor allem einmal auf
unser ablehnendes Verständnis von Autorität und auf seine Gründe be¬
sinnen müssen. Wir werden das Problem der Autorität nicht erörtern
können, ohne das Recht der uns geläufigen Problemstellung nachzuprüfen.
Wie man aber auch urteilen, und von welcher Seite her man die Frage
stellen mag: maßgebend für die Richtigkeit der Beurteilung und für die
Lösung der Frage kann offenbar nur die Sache selbst sein, so wie sie
trotz aller Strittigkeit immer schon für alle Menschen sinnfällig und
einsichtig ist. Denn so radikal ist die Strittigkeit doch nie, daß man nicht
wenigstens das strittige Thema als solches einmütig ins Auge fassen und
eindeutig namhaft machen könnte. So gewagt und unbegründbar ist auch
die fundamentale Entscheidung zwischen Autorität und Freiheit nicht,
daß man nicht, von der gemeinsamen Sprache geleitet, diesen Streit¬
punkt wenigstens als solchen von anderen unterscheiden könnte. Denn so
weit sind wir doch alle immer schon mit den sinnfälligen Erscheinungen
und dem einsichtigen Wesen der Autorität vertraut, daß wir beim Streit
um ihre Erkenntnis (im Sinne einer bestimmten Fragestellung) stets den
Rückhalt in unserer sprachlich greifbaren, sinnlichen und einsichtigen
Kenntnis finden können. Daher werden wir uns (im Bewußtsein der
Strittigkeit der Problemstellung, der Beurteilung und des Begreifens) in
die allgemein bekannten Erscheinungen der Autorität und in ihr fest-
44
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT
45
GERHARD KROGER
Gegenteil von Autorität. Und wenn es ohne Freiheit kein wahres Mensch¬
sein gibt, dann ist der Protest gegen Autorität unerläßlich zur Wahrung
der Menschenwürde.
Will man aber ermessen, was diese bekannten geschichtlichen Verhält¬
nisse für unser philosophisches Denken bedeuten, so wird man genau dar¬
auf achten müssen, daß im Zentrum dieser alten Auseinandersetzung die
diristliche Kirche steht, vor allem die alte, katholische Kirche. Sie ist die
zentrale Autorität, von der alle autoritativen Verhältnisse, auch die
„weltlichen“, einst ihre Ordnung oder Sanktion bekommen haben. Antike
Philosophie oder königliche Gewalt haben ja nur insoweit gegolten, als
es von der Kirche wenigstens gutgeheißen war. In Gestalt der Kirche als
der stärksten Autorität hat sich daher die alte autoritative Lebensordnung
auch noch nach der Emanzipation der weltlichen Kultur erhalten, und
wenn es heute sogar noch im weltlichen Bereiche - in Ehe und Familie,
Schule und Wissenschaft, Politik und Moral - Überreste der alten, auto¬
ritativen Ordnung gibt, so ist es vor allem dem direkten oder indirekten
Einfluß der Kirche zuzuschreiben. Zwar hat sich auch in der Kirche selbst
der Protest gegen ihre Autorität erhoben; und selbst wo sie nicht „prote¬
stantisch“ (oder gar „liberal“) geworden ist, haben es die Christen als
moderne Menschen schwer, ihre Menschenwürde als Forscher, Künstler,
Politiker, und überhaupt als „mündig“ Gewordene, mit der alten Auto¬
rität zu vereinigen. Aber ohne diese Autorität, und sei es auch nur die
eines „Kernes“ der Bibel, ist das Christentum nie. Wenn aber die autori¬
tative Lebensordnung unserer Vergangenheit primär christlich war und
ist, dann haben wir es mit einer ganz besonderen Art von Autorität zu
tun, und dann hat wohl auch unser modernes, in der Opposition gegen
sie erwachsenes Freiheitsbewußtsein einen ganz besonderen, keineswegs
selbstverständlichen Charakter.
Christliche Autorität ist nun wirklich ein besonderer, und zwar ein
ganz extremer Fall von Autorität. Sie beruht nach ihrer eigenen Meinung
auf einer außergewöhnlichen, alle menschliche Vernunft übersteigenden
Offenbarung Gottes; und sie fordert einen außergewöhnlichen, alle Ver¬
nunft übersteigenden Gehorsam, den Glauben. Paulus pflegt sich in sei¬
nen Briefen als „Sklaven Christi“ zu bezeichnen. Hier steht die Autorität
offenbar wirklich in einem gewissen Gegensatz zur Freiheit: sie will nicht
nur Verehrung, Vorrang oder Achtung, die ihr der Mensch in freier
Würdigung ihrer Bedeutung zugestehen könnte, sondern bedingungslose
Unterwerfung; positiver gesagt: rückhaltloses Vertrauen. Allerdings sind
nicht alle Konfessionen der Meinung Kierkegaards, daß hier ein „Sprung“
und eine Leidenschaft fürs Paradox nötig sei; gerade die autoritativste
Kirche, die katholische, lehrt, daß man sich von der Glaubwürdigkeit des
46
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT
47
GERHARD KRÜGER
nem Ermessen urteilt. Diese „Autonomie“ braucht dabei nicht als Will¬
kür verstanden zu werden, auch nicht nur als Bindung an ein selbstge¬
gebenes Gesetz; sie kann auch noch (obwohl dies kaum ihre konsequen¬
teste Selbstauslegung ist) als Bindung an das gegebene Wesen der eigenen
Vernunft aufgefaßt werden. Auf jeden Fall aber ist die „Heteronomie“
ausgeschlossen, das heißt die Bindung an jede Instanz, die außerhalb der
freien Menschlichkeit stünde und ihr überlegen wäre. So wird denn auch
die Freiheit in Wissenschaft, Kunst, Moral und Politik, in Wirtschaft
und Technik bei uns als souveräne, autonome Freiheit verstanden. Wir
können uns unter Freiheit etwas anderes gar nicht mehr vorstellen; und
selbst wenn wir historisch bemerken, daß andere Zeiten oder Kulturen
einen anderen Begriff von Freiheit gehabt haben, können wir nicht um¬
hin, solche Freiheit an unserer Autonomie zu messen, indem wir sie un¬
vollkommen finden.
Merkwürdig nur, daß uns die autonome Kultur, die auf solcher Freiheit
beruht, keineswegs unproblematisch ist. Ihr Fortschritt, der der Aufklärung
immer als höchste Hoffnung erschienen ist und erscheint, hat schon viel
Zweifel und in der jüngsten Geschichte sogar viel Verzweiflung erregt.
Seit Rousseau haben die großen Geister des Abendlandes eine mehr oder
minder radikale Kulturkritik geübt, die zum Teil, zum Beispiel bei Kier¬
kegaard und bei Nietzsche, mit einer Rehabilitierung der Autorität ver¬
bunden ist. Seit der Romantik, mag sie auch „bloß“ romantisch geblieben
sein, hat sich in immer neuen Formen die Sehnsucht nach den verlorenen
Welten der Vergangenheit oder nach den von der modernen Kultur
noch unberührten Welten der Orientalen und der Primitiven erhoben,
und damit auch die „konservative“ Sympathie für die alten Autoritäten.
In unserem Jahrhundert ist, inmitten des Fortschritts der Wissenschaften
und der technisch-ökonomischen Kultur, die „existentielle“ Angst um den
Lebenssinn ausgebrochen, die vielfach der christlichen Autorität wieder
neues Ansehen gegeben hat. Und die Entwicklung der Wirtschaft, der
Gesellschaft und des Staates hat schon seit über 150 Jahren zu Revolutio¬
nen geführt, in denen nicht nur das Verlangen nach Freiheit zur Geltung
gekommen ist, sondern-in merkwürdigem Kontrast dazu-immer wieder
- schon seit Robespierre und Napoleon - auch ein Verlangen nach neuer
Autorität. Das Problem der Autorität ist also nicht erledigt, und wenn
wir es philosophisch in seiner Korrelation mit der Fragwürdigkeit der
modernen Kultur erkennen, dann zeigt es sich, daß der geschichtliche
Streit um die autonome Freiheit noch nicht aufhören kann. Dann wird es
aber auch bedeutsam, daß unsere Begriffe von Autorität und Freiheit
keineswegs nur der Einsicht in das Wesen dieser Dinge entstammen,
sondern zugleich der Leidenschaft eines weltgeschichtlichen Kampfes um
48
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT
ihr Recht. Wir werden darum den alten, scheinbar längst entschiedenen
Prozeß zwischen Kirche und Aufklärung, der unser Urteil bestimmt hat,
revidieren müssen. Es könnte sein, daß wir dem Wesen der Autorität
nicht gerecht geworden sind.
Allerdings; was wir heute in Sachen „Autorität und Freiheit“ erleben,
mahnt zunächst einmal zur Vorsicht; ja es scheint die bisherigen Begriffe
zunächst einmal aufs erschreckendste zu bestätigen. Denn auch die poli¬
tisch-weltanschauliche Autorität, wie sie in den totalitären Systemen
ganz plötzlich - mitten in einer Zeit fast vollendeter Autonomie “ er¬
standen ist, steht zur Freiheit in einem Gegensatz, den wir schmerzlich als
exklusiv erfahren. Hier ist man zwar von der christlichen Offenbarung
und ihren Mysterien nicht minder weit entfernt wie im Reiche der auto¬
nomen Freiheit; ja es scheint, daß hier erst die noch tolerante, im Grunde
defensive Ablehnung der christlichen Autorität durch die autonome Frei¬
heit zu einer aggressiven, tödlichen Feindschaft wird: die neuen Autori¬
täten können konkurrierende alte Autoritäten ebensowenig dulden wie
die Freiheit. Die Freiheit aber wird von den diktatorischen Parteien oder
Führern bis ins Innerste hinein in Anspruch genommen, und zwar noch
viel radikaler, als es im Christentum je geschehen ist. Denn auch das
„servum arbitrium“, wie es Luther lehrt, ist nur eine totale Unfreiheit
im Verhältnis zu Gott; im Verhältnis zur Welt läßt er der vernünftigen
menschlichen Freiheit ihr Recht. Die katholische Kirche aber spricht nicht
nur im weltlichen Leben der menschlichen Freiheit ihr Recht zu, sondern
sie läßt sie sogar im geistlichen Leben der Rechtfertigung und Heiligung,
wenn auch nur durch die Gnade erhöht und getragen, „mitwirken . Alle
auffälligen Eingriffe der Kirche in Wissenschaft oder Politik haben nach
ihrer eigenen Auffassung nur den Sinn, Irrtümer, sofern sie als Wider¬
sprüche zur Offenbarung sichtbar werden, im Interesse der Offenbarung
autoritativ zu kennzeichnen; das Recht freier Forschung oder Politik soll
dadurch grundsätzlich nicht angetastet werden. Hier erheben sich freilich
alle die Probleme, von denen vorhin die Rede war. Da sie nicht geklärt
sind, kann es geschehen, daß man vielfach die katholische Kirche im Lidhte
der jüngsten Erfahrungen einfach als ein totalitäres System unter ande¬
ren anspricht. Demgegenüber ist jedoch so viel von vornherein klar: daß
das Christentum selbst in allen Konfessionen einen Unterschied zwischen
Kirche und Welt macht, und daß es Autorität primär nur in Sachen der
Offenbarung beansprucht. Die totalitären Systeme der Gegenwart aber,
die in so vieler Hinsicht auch umgekehrt als atheistische Gegenbilder der
Kirche betrachtet werden können, sind dann ganz anders geartet, da es
in ihnen nur einen einzigen Lebensbereich, den ff
ihre Autorität darum primär und unmittelbar die Totalität der nat
49
GERHARD KRÜGER
50
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT
51
GERHARD KRÜGER
52
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT
II
Wir werden der alten Auseinandersetzung mit dem Christentum nicht
ausweichen können. Da aber die diristliche Autorität in unserer Erinne¬
rung so belastet, in unserer gegenwärtigen Erfahrung so vielfältig und.
ungeklärt ist, wird es gut sein, diesen extremen Fall zunächst einmal bei¬
seite zu lassen. Wir sind weit genug von der mittelalterlichen Leitung
der Kultur durch die Kirche entfernt, um zunächst, wie es der Philo¬
sophie ohnehin zukommt, die Erscheinungen der einfach menschlichen,
natürlidien Autorität „frei“ betrachten zu können. Freilich ein weites
Feld, dessen Breite und Tiefe wir heute noch kaum ermessen können.
Wir kennen jedenfalls auch im Bereiche der Autonomie, trotz der
weitgehenden Beseitigung „alter Bindungen , zahlreiche Lebensverhält¬
nisse, in denen wir von Autorität sprechen. Eltern und Lehrer haben noch
immer einige Autorität, erst recht Ärzte und sonstige Ratgeber in NoL
lagen, überhaupt Fachleute auf allen Gebieten, zumal wenn sie „Kapazi¬
täten“ sind. Wirtschaftsführer und erfinderische Techniker sind Autori¬
täten, in geringerem Maße auch die einfacheren Direktoren und Betriebs¬
leiter. Minister, Beamte und Richter haben kraft ihres Amtes (oft audi
kraft ihrer persönlichen Amtsführung) Autorität, nicht minder Partei¬
führer. Beim Militär spielt die Autorität ihre unvermeidliche, große Rolle.
Die autoritative Wirkung der „führenden Persönlichkeiten“ im „Kultur¬
leben“, besonders der Künstler, Dichter und Schriftsteller, ist, trotz der
betonten Freiheit, die hier herrscht, enorm. Und wenn man auch von den
religiösen Autoritäten absieht, so ist doch unser geistiger Horizont bis in
eine ziemliche Tiefe der Vergangenheit hinein von den Autoritäten um¬
stellt, die wir die „großen“, für unsere ganze Kultur „maßgebenden“
Männer nennen. In dieser Weise hat zum Beispiel Goethe eine unerme߬
liche Autorität, die zwar heute etwas erschüttert, aber keineswegs beseitigt
oder gar durch eine gleich große ersetzt ist.
Es handelt sich offenbar um sehr verschiedene Arten von Autorität; vor
53
GERHARD KRÜGER
54
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT
aufheben würde, wenn sie die Freiheit nicht bejahte. Mag die christliche
Autorität der natürlichen Freiheit ein Ende machen, weil der „alte Mensch
sterben muß, um einer ganz neuen Schöpfung zu weichen, oder weil die
natürliche Freiheit erst einmal in einen übernatürlichen Gnadenstand er¬
hoben werden muß: die ?iatürliche Autorität läßt die natürliche Freiheit
bestehen und appelliert an sie. Sie will imd braucht diese Freiheit.
Eine andere Frage ist es allerdings, ob diese Freiheit auch ihrerseits die
Autorität will und braucht. Frühere Zeitalter haben diese Frage naiv be¬
jaht. Aber die Neuzeit hat sie verneint; ihr scheint die durch Autorität
gebundene, der Autorität verantwortliche Freiheit noch keine eigentliche,
volle Freiheit zu sein. Es zeigte sich schon, daß man dabei primär die
christliche Autorität ablehnen wollte. Da sie aber so eng mit der natürlichen
Autorität verquickt war, verstand sich die Freiheit im Gegenschlag grund¬
sätzlich als souveräne Autonomie, und sie hat nun, wenn auch erst im
Laufe von Jahrhunderten, auch die natürlichen Autoritäten als etwas Frei¬
heitsfeindliches immer mehr abgeschüttelt.
Was besagt das aber, wenn es doch auch weiterhin nicht zu vermeiden
ist, daß unser ganzes Leben von Autoritätsverhältnissen durchzogen ist?
Hier liegt in der Tat eine ungeheure Paradoxie, deren Bewältigung im
Denken und im Handeln fortwährend die größte Mühe macht. Denn nun
gilt es zum Beispiel, die unvermeidliche Staatsautorität so zu interpretieren
und zu handhaben, daß sie mit der Souveränität jedes ihr Unterworfenen
vereinbar ist. Es gilt, selbst beim Militär die Menschenwürde der Auto¬
nomie zu wahren, selbst dem Kinde und dem Jugendlichen das Recht der
„eigenen kleinen Persönlichkeit“ gegenüber der Autorität der Erzieher zu
geben. Solchen „Menschenrechten“, von denen seit dem 18. Jahrhundert
ausdrücklich die Rede ist, widmet sich die tiefste Sympathie aller ent¬
schieden modernen, liberalen und „fortschrittlichen“ Menschen.
Das große Mittel zur Vereinigung der autonomen Freiheit mit der un¬
vermeidlichen Autorität besteht darin, daß sich der Mensch von den Au¬
toritäten innerlich zurückzieht. Wer die Autoritäten naiv und unkritisch
gelten läßt, ist von ihnen innerlich eingenommen: er laßt sich von ihrer
maßgeblichen Überlegenheit imponieren; und das bedeutet- je nach ihrer
Art und Höhe -, daß er vor ihnen Ehrfurcht und Furcht empfinclet, daß er
-wie etwa der Diener bei seinem vornehmen Herrn, der Soldat bei seinem
General, der Schüler bei seinem Meister - stolz ist, hier dienen oder folgen
zu „dürfen“; wer sich von Grund auf für „weniger halt als die Autori¬
täten, übt eine ihn von Grund auf bestimmende Loyalität und Treue, die
unter Umständen Hingabe, Begeisterung und Opferbereitschaft einscKließt.
Im Gegensatz zu all diesen Zügen eines „mittelalterlichen , in ^^altmodi¬
schen“ und konservativen“ Menschen noch lange nachwirkenden Ethos ist
55
GERHARD KRÜGER
der autonome Mensch skeptisch: die Autorität als solche ist ihm so ver¬
dächtig und verleidet, daß er lieber manches Gute und Schöne der Ver¬
gangenheit preisgibt, als daß er sich noch naiv auf Autoritäten einließe,
Er kann zwar nicht ohne Autoritäten auskommen, aber er hält sich von
ihnen innerlich zurück und macht sie dadurch zu etwas „Äußerlichem“.
Jede heutige „Hausgehilfin“, die nicht mehr „Dienstmädchen“ sein will,
demonstriert diesen Vorgang. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen
der Stellung des Menschen in der Öffentlichkeit, die unvermeidlich eine
weite Abstufung mit sich bringt, und dem davon „selbstbewußt“ unter¬
schiedenen „Menschen“ selbst. Die Autonomie wird gewahrt, indem das
eigentlich Menschliche in der souveränen, innerlichen Persönlichkeit ge¬
sucht wird, während die Stellung des Menschen in der autoritativ-hier¬
archischen Öffentlichkeit zu der sozialen „Rolle“ herabsinkt, die er (wenn
auch vielleicht mit viel Passion und Erfolg) „spielt“. So kann auch der
„Mann von der Straße“ gegenüber dem Minister, der Primaner gegen¬
über dem Studienrat, der Arbeiter gegenüber dem Betriebsleiter „frei“
sein im Sinne der inneren Freiheit von Autorität. Und so wird die Frei¬
heit, die zum Menschen wesenhaft gehört, eo ipso zur „menschlichen“
Gleichheit. Man kann nicht gut mehr als souverän sein: wer die Autonomie
behauptet, hat damit auch schon die wesenhafte Gleichheit aller Menschen
proklamiert. Er hat alle eigentlich menschlichen Rangunterschiede bestrit¬
ten, selbst wenn er geistige „Niveauunterschiede“ anerkennt.
Soll aber das prinzipielle Bewußtsein von der gleichen Würde aller
wirksam durchgeführt werden, dann muß doch auch die Öffentlichkeit in
all ihren Ungleichheiten so umgeformt werden, daß dabei Raum für die
„Menschenrechte“ entsteht. Daher der rechtliche Schutz des Privatlebens,
in dem die Persönlichkeit als solche maßgebend ist, in dem der Mensch
„Mensch sein darf“; daher überhaupt die Ausbildung einer so betont pri¬
vaten Sphäre, abseits der Öffentlichkeit, wie es sie in vorautonomen Zeiten
nie gegeben hat. Daher ferner das gleiche Recht jedes Menschen zum sozia¬
len „Aufstieg“ und die Abschaffung aller an der Person (durch Geburt
oder sonstwie) haftenden Privilegien. Daher vor allem die moderne Form
der Demokratie, die durch allgemeines, gleiches Wahlrecht, begrenzte
Amtsgewalt der Regierung, Verwaltungsgerichtsbarkeit und ähnliche Ein¬
richtungen die drückendste, mit der obersten Zwangsgewalt verbundene
Autorität so „verantwortlich“ machen will, daß die Unterlegenheit des
Staatsangehörigen gegenüber den Behörden durch die fundamentale
Überlegenheit bei der Konstitution und Kontrolle der Staatsgewalt über¬
boten wird. Auf diese Weise wird auch der Inhaber der stärksten äußeren
Autorität genötigt, die ihm untergeordneten Menschen als „Menschen“,
nicht als „Untertanen“ zu behandeln, und selbst „Mensch“ zu bleiben.
56
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT
der als solcher nicht „mehr“ ist als jeder andere, der ja im Prinzip audi
an seine Stelle treten könnte. Die Wahrung der „geistigen“ Freiheit ver¬
steht sich dann von selbst. Es ist zwar nicht jeder ein Goethe oder Hegel,
und man kann deshalb - mag es auch paradox sein - nicht ohne solche Au¬
toritäten zu einer „Weltanschauung“, das heißt einem autonomen Welt¬
bild, kommen. Aber es ist dafür gesorgt, daß keine Autorität hier „dog¬
matisch“ werden kann; man kann souverän zwischen mehreren wählen
und sie nadi Kräften modifizieren. (Die Dogmatik der Kirchen bleibt
dabei ein Ärgernis, das erträglich wird, wenn die Kirchen niemanden
zwingen können.)
So hat sich die Freiheit „befreit“ und behauptet sich gerade heute von
neuem gegen die totalitäre Autorität. Sicher mit Recht, denn diese Autori¬
tät ist ja selbst nur eine paradox mißbrauchte Autonomie. Daß aber der
Anspruch auf Autorität, der hier unecht erhoben wird, heute eine so un¬
heimliche Anziehungskraft entfaltet hat, daß er trotz seiner Unechtheit,
die sich im Wuchern von Propaganda und Zwang verrät, so viel „Boden“
findet, ist sehr merkwürdig, und um so mehr, als das heutige Bedürfnis
nach Autorität gerade in dem geschichtlichen Augenblick aufgetreten ist,
in dem mit dem ersten Weltkrieg die Reste der alten Autoritäten endgül¬
tig zu verschwinden begannen. Ist es vielleicht doch so, daß nicht nur die
Autorität eine ihr entsprechende Freiheit will und braucht, sondern auch
die Freiheit eine ihr entsprechende Autorität? Und hat vielleicht nur die
mittelalterliche Form der christlich-weltlichen Autorität, diese spezielle Art
der Verquickung von christlicher und natürlicher Autorität, der wahren
menschlichen Freiheit nicht entsprochen?
Die große Krise der heutigen Menschheit gibt uns in der Tat Anlaß,
diese Frage zu konkretisieren. Denn die autonome Lösung des Autontats-
problems steht mit der Krise in engstem Zusammenhang.
Der Mensch hat sich zur Wahrung seiner Würde als Persönlichkeit aus
der autoritativ-hierarchischen Öffentlichkeit zurückgezogen. Aber hat er
nicht eben damit die Öffentlichkeit alles persönlichen, innerlichen Lebens,
aller damit verbundenen Würde, Sittlichkeit und Schönheit beraubt? Ist
das äußere Dasein nicht eben dadurch, im Unterschied zu dem „gemüt¬
volleren“ Mittelalter, so kahl, brutal und häßlich geworden? Sind nicht
eben deshalb die unvermeidlichen Unterschiede zu rein äußerlichen Macht¬
unterschieden geworden? Und stellt nicht das Faktum von Machthabern,
die menschlich gar nicht über andere hervorragen, eine permanente Auf¬
reizung zu Revolutionen dar? Wäre jene Objektivierung des Menschen im
öffentlichen Leben, die Mechanisierung, bei der der Mensch als bloßer
Funktionär im Apparat „eingesetzt“ wird, je mögliA geworden, wenn
nicht der Mensch selbst schon seine Stellung in der Öffentlichkeit zu einer
57
GERHARD KRÜGER
äußerlichen Rolle degradiert hätte? Sind also nicht die Grundübel, die das
öffentliche Leben der Gegenwart ruinieren, und die es für totalitäre Zu¬
griffe reif machen, die Kehrseite der Autonomie?
Auf der anderen Seite: Was hat der Mensch denn nun wirklich gewon¬
nen, indem er sich auf seine autonome Innerlichkeit gestellt hat? Der An¬
spruch, „Persönlichkeit“ zu sein, das heißt eine Person, die ihr Personsein
selbst konstituiert, ist unheimlich groß; er stellt die Aufgabe, daß jeder
seine Stellung zu Gott, der Welt und sich selbst absolut selbständig be¬
stimmt. Ist der moderne Mensch diesem Anspruch gewachsen? Wir haben
schon darauf geachet, daß die inhaltliche, mehr als formelle Souveränität
in Wahrheit das Privileg der „maßgebenden“ Genies (und allenfalls der
augenblicklich „führenden Persönlichkeiten“) bleibt, die von den anderen
nur „souverän“ nachgeahmt, vereinfacht und oft genug karikiert werden.
Bleibt also der „normale“ Mensch nicht mit all seiner „eigenen Weltan¬
schauung“ und „Lebensgestaltung“ ein tragikomischer Dilettant, der neben
den autoritativ geprägten Menschen anderer Zeiten und Kulturen keine
sehr gute Figur macht? Die „großen Männer“ selbst aber, die als die vor¬
bildlichen, eigentlichen Menschen dastehen, kommen, ob sie es wissen oder
nicht, in die schon erwähnte Problematik Nietzsches hinein: sie müssen es
wagen, sich von aller bisherigen, traditionellen Autorität loszureißen, allen
bisher maßgebenden Lebensinhalt kritisch zu vernichten, um selbst, unge¬
deckt durch höhere Autorität, aus dem Nichts der kritischen Vernichtung
„neue Werte“ im eigentlichen Sinne zu „schaffen“. Tatsächlich aber er¬
weist sich diese Aufgabe als so „übermenschlich“, daß auch die anerkannt
großen, „schöpferischen“ Menschen daran bisher, wie Nietzsche mit Redit
festgestellt hat, gescheitert sind. Sie haben es in Wahrheit nicht zu einer
völligen Neuschöpfung gebracht, sondern sie haben, auf Grund souveräner
Kritik, entweder eine autonome Umbildung der ‘Tradition oder eine bloße
Destruktion zuwege gebracht. Männer wie Goethe und Hegel haben sich
durch die universale autonome Aneignung von „Natur und Geschichte“ zu
„weltweiten“ Persönlichkeiten gebildet; aber sie haben allen Inhalt ihrer
Weltanschauung, wenn man von der Idee der genialen Freiheit selbst ab¬
sieht, den entmächtigten Autoritäten der Vergangenheit, insbesondere der
Antike und dem Christentum, entnommen. In Wahrheit ist also auch ihre
Autonomie bloß formal geblieben. Andere, wie Marx und Nietzsche, haben
mit Macht entlarvt und revolutioniert, aber sie haben ihr positiv ma߬
gebendes Ziel, den endgültig „freien“ oder übermenschlichen Menschen,
konkret ungestaltet, in nebelhafter Ferne lassen müssen. Die Wahrheit,
die Nietzsche erkannt hat, ist, daß der souveräne Mensch am Ende vor das
Nichts gerät, das ihn nicht zu gottgleichem Schaffen begeistert, sondern
- primär jedenfalls - in Angst versetzt. Das bisherige Ende ist die Frage,
58
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT
59
GERHARD KRÜGER
mütigkeit mit den Mitmenschen, - die „Basis“ der Verständigung, die bei
der Zersplitterung in die individuellen Standpunkte der einzelnen Per¬
sönlichkeiten verlorengeht. Die ölfentlichkeit aber würde humanisiert:
sie bekäme, statt ein zwangsläufiger Apparat zu sein, die Struktur eines
freien, vertrauensvollen Zusammenwirkens der sich willig einfügenden,
einmütig dienenden Personen, einer „lebendigen“ Einheit, die mit dem
alten, romantisch verfälschten Bilde des „organischen“ Zusammenhaltes
gar nicht zureichend gekennzeichnet ist. Dann wären zwar alle frei und als
Freie zu respektieren, aber sie wären nicht alle gleich: die doch unvermeid¬
lichen Unterschiede würden - als Unterschiede der Verantwortung, der
gewissenhaften Verpflichtung, des persönlichen Ranges und der persön¬
lichen Würde - menschlich bedeutsam und menschlich erfüllt; sie hörten
auf, bloße Unterschiede der Macht und des Erfolges im „Kampfe ums Da¬
sein“ zu sein.
Wir, die wir in einer autonomen Kultur leben, können uns allerdings
noch kaum vorstellen, was das alles im einzelnen bedeuten würde. Die Be¬
sinnung auf die natürliche Einheit von Autorität und Freiheit muß - im
Denken wie im Handeln - erst einmal beginnen. Dem modernen Menschen
muß erst - jenseits von „Reaktion“ und „Totalitarismus“ - aufgehen, was
Autorität und Freiheit eigentlich ist. Aber es handelt sich nicht um Utopie
oder auch um den „schöpferischen“ Entwurf eines „ganz“ neuen Lebens¬
systems, sondern nur um die Anainnesis der steten Urgestalt unseres Da¬
seins, die durch die geschichtliche Freiheitsleidenschaft der Neuzeit ver¬
dunkelt worden ist. Die Bejahung der Autorität durch die Freiheit ist das
Natürlichste von der Welt. Tatsächlich geschieht sie denn auch heute viel
öfter, als man denkt, und die „Kultur“ wäre wohl schon längst zugrunde
gegangen, wenn der verkarstende Boden der ölfentlichkeit nicht - dem
Prinzip der Autonomie zum Trotz - doch immer wieder durch das Ein¬
strömen der persönlichen Kräfte, durch Hingabe und Vertrauen, Dank¬
barkeit und Treue fruchtbar erhalten würde. Die philosophische Besinnung
aber steht heute unmittelbar vor diesem Problem; es ist erstaunlich, daß
gerade ein Philosoph der Freiheit und der Vernunft wie Karl Jaspers die
Autorität ausführlich zum Thema gemacht hat, und daß er ihr für den
„Durchbruch“ der Wahrheit eine hohe, unentbehrliche Bedeutung zu¬
spricht
Was unsere Einsicht hindert, und was auch Jaspers noch veranlaßt, die
Autorität wieder der autonomen Vernunft unterzuordnen, ist die Fülle
der schweren Probleme, die sich auch bei grundsätzlich „positiver“ Frage
nach der Autorität noch erheben.
Wer ist und hat eigentlich Autorität? Wer ist im Stufenbau höchste
Autorität? Was wird aus dem Staate und aus der Freiheit in Kunst und
60
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT
Wissenschaft, wenn man mit der Autorität ernst macht und doch weder
zurück ins Mittelalter kann, noch vorwärts in ein totalitäres System hin¬
ein? Wie steht das Christentum da, wenn man Autorität nicht grundsätz¬
lich ablehnt? Zu all diesen weiterführenden Fragen hinzu die kritisdie:
Wird nicht bei „realistischer“ Betrachtung von Autoritätsverhältnissen in
Staat und Kirche, oder gar in Kunst und Wissenschaft, einfach die alte
Problematik wiederkehren, und mit demselben negativen Erfolge ‘‘?
Mir scheint: etwas ist doch mit der Zeit anders geworden. Wir haben
die Erfahrung vom autonomen Leben gemacht, die unseren Blick auch für
die Fragwürdigkeit der Freiheit geschärft hat; und wir haben von der
christlichen Kultur des Mittelalters einen Abstand gewonnen, der uns er¬
laubt, iiatürliche und christliche Autorität genauer zu unterscheiden, als es
bisher geschah und audi bei Jaspers geschieht. Wenn die autonome, reli¬
giös emanzipierte Freiheit in Ermangelung alles unbedingten, maßgeben¬
den Inhalts zusammenbricht, dann werden wir mit Jaspers lernen müssen,
die freie Personalität als „Gesdienk der Transzendenz“ zu erfahren. Wir
werden es aber vielleicht erst dann in einer eindeutigen, undialektischen
Hingabe können, wenn wir - ohne den autonomen „Trotz“ - in Gott die
höchste Autorität erkennen, die den ganzen Stufenbau des autoritativen
Lebens begründet, indem sie einerseits auch die höchsten menschlichen
Autoritäten in ihrer höchsten menschlichen Freiheit verendlicht, und indem
sie andererseits durch den Stufenbau bis in die niedersten Stufen herab den
maßgebenden Gehalt des Daseins konkretisiert. Eine „natürliche“ Gottes¬
erkenntnis dieser Art bietet sich freilich ~ in Familie und Staat, „materiel¬
lem“ und „geistigem“ Leben - allen den Einwänden dar, die durch den
menschlichen Mißbrauch der Autorität entstehen. Solche Mißbräuche haben
ja die Autonomie hervorgetrieben. Aber auch hier wäre erst einmal zu fra¬
gen, ob solche Mißbräuche notwendig gegen die Autorität als solche spre¬
chen, ob sie also notwendig zur Autonomie führen, und ob sie nur im
Lichte der Autonomie erkannt und behoben werden können. Es könnte
sich herausstellen, daß die Mißstände des Mittelalters nicht auf dem Man¬
gel an Autonomie beruht haben, sondern auf einer falschen Art von Be¬
vormundung der natürlichen Autorität durch die christliche. Dann käme
es darauf an, bei der Revision des alten Prozesses zwischen Welt und
Kirche, der natürlichen Autorität zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne sich
in die Leidenschaft der Autonomie hineintreiben zu lassen. Und wenn
man auf den empörenden Druck; der natürlichen (gesellschaftlichen und
politischen) Autoritäten in der Neuzeit hinweist, dann könnte es sich er¬
geben daß dieser inhumane Druck, der im Absolutismus zur Revolution
geführt hat gar nicht im Wesen der natürlichen Autorität gelegen hat,
sondern darin, daß diese Autorität (in den zum Teil noch mittelalter-
61
GERHARD KRÜGER
Anmerkungen
' Die ausführliche Rechtfertigung für diese Darstellung der Aufgabe würde freilidi eine
ganze Erkenntnistheorie erfordern. Hier soll nur die Anlage des Folgenden einiger¬
maßen im voraus plausibel werden.
■ Vgl. auch meinen Aufsatz „Ansichsein und Geschichte“, Zeitschrift für philosophische
Forschung III/4, S. 481-500, bes. S. 493 ff.
* „Von der Wahrheit“, S. 766 ff.
* Einige andere Züge dieser Problematik (die autoritative Bedeutung von Antike und
Christentum) habe ich in meiner Schrift ,,Abendländische Humanität“ (Stuttgart 1932)
entwickelt.
62
Ernst Mayer
63
ERNST MAYER
erster Teil „Von der Wahrheit‘’ bis jetzt vorliegt, ist vom Leser nidit
immer in seiner vollen Klarheit erfaßt worden. Die Seiten des Philo-
sophierens (Wirklichkeit und Wahrheit), die in beiden Werken zum
Ausdruck gelangen, sind von dialektischer Art. Sie sind - als Vernunft
und Existenz - im Seinsursprung jedes Menschen angelegt. In unserem
Sein sind wir Wirklichkeit, die uns zugleich als Wahrheit überzeugt. Es
gibt die Wirklichkeit, die ich bin, und es gibt die Wahrheit, die ich
seiend denke. Aber der Akzent kommt auf das Sein zu liegen. Unser Ur¬
sprung ist beides: Denken und Sein, Wahrheit und Wirklichkeit.
Die „Philosophie“, aufgeteilt in „Weltorientierung“, „Existenzerhel¬
lung“, „Metaphysik“ ist überall ein um den Ursprung der Existenz krei¬
sendes Denken. Es hat keinen Gegenstand, weil wir außerstande sind, das
Selbst durch ein objektivierendes Denken zu erfassen. In dieser eigent¬
lichen Existenzphilosophie war die ihr zum philosophischen Ausdruck
verhelfende Vernunft als Logik in der Anonymität geblieben. Aus ihr
mußte sie jetzt heraustreten. Es mußte Aufgabe werden, die Wahrheit in
den Gestalten des Denkens zur Darstellung zu bringen.
Dieser Sprung zur Logik geschah bei Jaspers in den sie vorbereitenden
Schriften „Vernunft und Existenz“ (1935) und „Existenzphilosophie“
(1938). Wirklichkeit und Wahrheit, Sein und Denken sind nun ausdrück¬
lich gegeneinander abgehoben. Erstmalig ist der Gedanke vom Umgrei¬
fenden als die zentrale logische Grundoperation entwickelt. - Beinahe
ein Jahrzehnt später erscheint „Von der Wahrheit“ als der erste Teil
einer philosophischen Logik. Nicht die Existenz, sondern die Vernunft,
als das vom Seinsursprung der Existenz getragene Denken, wird zum
Thema des Gesamtwerks. Die „Philosophische Logik“ entwickelt gegen¬
über der „Philosophie“, in der es sich um das Seinsbewußtsein der Exi¬
stenz handelt, das philosophische Selbstbewußtsein.
Nur derjenige, der nicht genügend bewußt unterscheidet zwischen Wirk¬
lichkeit und Wahrheit, verfällt dem Schein, als handle es sich in beiden
philosophischen Werken um ein und dasselbe, um das Sein. Dies könnte
nur mit der entscheidenden Einschränkung gelten, daß die in den beiden
Werken ergriffenen Gehalte unter jedesmal gänzlich verschiedenen Blick¬
weisen und in gänzlich anderen Bereichen des Philosophierens zur Dar¬
stellung gelangen. Das dialektische Verhältnis von „Philosophie“ und
„Philosophischer Logik“ kann im Bilde veranschaulicht werden: „Philo¬
sophie“ und „Philosophische Logik“ durchdringen einander wie zwei
stereometrische Körper in der darstellenden Geometrie. Jeder ist für sich
ein Ganzes, und doch ist keiner der beiden Körper für sich das Ganze.
„Philosophie“ und ,,Philosophische Logik“ sind das Ganze der Philo¬
sophie erst in ihrem Sichdurchdringen.
64
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE LOGIK BEI JASPERS
Das Besondere ist hier dies: Zwar sind Sein und Denken im Ursprung
unseres Selbst notwendig eins. Doch in der Widerspiegelung dieses Ur¬
sprungs im Philosophieren kann es zu keiner Identität von Sein und Den¬
ken kommen. Sie müssen philosophisch in einer polaren Spannung bleiben.
Sie ist das einzig Mögliche, das wir zwischen zwei gleicherweise abzu¬
wehrenden Gedanken noch zu ergreifen vermögen: Da wir einerseits im
Philosophieren selbst keine Identität von Sein und Denken behaupten
können, uns aber andererseits das Philosophieren auch nicht zu nichts zer¬
stäuben darf, so bleibt nur, daß wir uns Vernunft und Existenz, Sein und
Denken als zwei Pole vorstellen, zwischen denen eine dialektische Span¬
nung herrscht, die weder die Synthese noch das völlige Zerreißen zuläßt.
Aus dieser Problematik erstehen „Philosophie“ und „Philosophische
Logik“ als jene zwei philosophischen Ganzheiten, von denen jede für sidi
keinesfalls imstande ist, das Ganze der Philosophie darzustellen. Nur
beide zusammen, in ihrem Auseinander und Ineinander bedeuten uns jenes
Ganze der Philosophie, das immer nur erstrebt, aber nie als das Eine der
Wahrheit erreicht werden kann.
II
Waren in der „Philosophie“ Vernunft und Logik die selber nicht zur
Darstellung gelangenden Antriebe, so richtet sich in der „Philosophischen
Logik“ ein erhellendes Denken andrer Art, getragen von möglicher Exi¬
stenz, auf sich selbst. Hierbei ist es zunächst einerlei, ob es um die Logik
- um das Denken des Wahren im ganzen - geht, wie im Buch „Von der
Wahrheit“, oder ob es sich mehr um die einzelnen Bereiche der Logik
handelt: um eine Kategorienlehre, um eine Lehre der philosophischen
Methoden oder schließlich um eine Wissenschaftslehre. Denn in all diesem
liegt für Jaspers die philosophische Bedeutung einzig darin, daß sich uns
an den Grenzen alles Denkens und Erlebens die Möglichkeit eines Trans-
zendierens zeigt. Wir können und müssen dieses ergreifen, um aus Frei¬
heit unserer Existenz teilhaft zu werden.
Was sich uns jeweils auf der Grenze der Immanenz des Denkens und Er-
lebens ankündigt, ist „das Umgreifende“. Die „Philosophische Logik“ hat
die Aufgabe, die Wahrheit dadurch zu entwickeln und durchsichtig werden
zu lassen, daß sie die Weisen des umgreifenden Denkens aufzeigt. Ging es
der „Philosophie“ zum Beispiel darum, die Weitorientierung nicht nur
als bloße Umschau in der Welt zu sehen, sondern aufzuzeigen wie wir
überall im Orientieren auf Grenzen stoßen - wofern wir uns für diese
als empfänglich erweisen -: ähnlich geht es der philosophischen Logik
darum, die Seinsweise, die wir Dasein nennen, durch Aufzeigen ihrer
65
ERNST MAYER
Grenzen als eine für uns umgreifende fühlbar zu machen. Sie als solche
im Denken ergreifend, hat sich an den Grenzen des Daseins ein anderes
angekündigt, das die Isolierung dieser Seinsweise durch den Verstand und
das bloße Erleben nicht mehr zuläßt. Dasein als Seinsweise weist zurück
auf das Sein, das ihm den umgreifenden Charakter verleiht.
Nicht anders liegt es mit dem Bewußtsein überhaupt und mit dem
Geist als Seinsweisen. Dasein, Bewußtsein und Geist konvergieren ihrer¬
seits zur Seinsweise der Existenz. Denn nur diese ist imstande, jeweils Da¬
sein, Bewußtsein, Geist in die Schwebe unseres Umgriffenseins zu bringen.
Haben wir es in der „Philosophie“ mit dem existentiellen Seinsbe¬
wußtsein zu tun (in „Weltorientierung“, „Existenzerhellung“, „Metaphy¬
sik“): in der,,Philosophischen Logik“ geht es überall um ein Selbstbewußt¬
sein des sich auf sich selber richtenden umgreifenden Denkens in allen
Möglichkeiten. Immer handelt es sich darum, wie das Philosophieren das
existentiell Wesentliche uns als Wahrheit, das heißt als wahre Denkform
und als ein erkennendes Nichtwissen, zuteil werden läßt.
In der „Philosophie“ war die Existenz nicht als solche auszusagen,
sondern nur indirekt, nur durch ihre Signa (Kommunikation, Freiheit,
geschichtliches Bewußtsein). Vergleichbares gilt von der Vernunft. Sie
als solche ist ungreifbar. Aber sie wird indirekt aufgewiesen durch die
Darstellung der Seinsweisen als der „Umgreifenden“. Wie die Signa der
Existenz sich in ihr gleichsam wie in einem selber im Dunkel bleibenden
Punkte kreuzen oder vereinigen: ebenso weisen die Umgreifenden auf die
sie tragende Seinsweise der Existenz, die ihrerseits die Vernunft ur¬
sprünglich in sich birgt. - Wie ferner die Signa der Existenz auf dem
Wege über diese auf die Transzendenz weisen: ebenso zielen in der
„Philosophischen Logik“ alle Seinsweisen oder Umgreifenden über die
Seinsweise der Existenz hinaus auf diejenigen von Sein und Transzen¬
denz. Das heißt, der Pluralität der Signa dort in der „Philosophie“ ent¬
spricht die Pluralität der „Umgreifenden“ hier in der ,,Philosophischen
Logik“. Dem Einen der Transzendenz in der „Philosophie“ und „Meta¬
physik“ korrespondiert in der ,,Philosophischen Logik“ das Umgreifende
der Umgreifenden.
Existenz und Vernunft sind bei Jaspers stets geschichtlich aufgefaßt.
Die Existenz ist in der „Philosophie“ niemals ohne den Zusammen¬
hang mit der zur Ewigkeit umgebrochenen Zeit. - Das gleiche gilt in der
„Philosophischen Logik“. Wie die Existenz (als Sein und Wahrheit), so ist
alle eigentliche Wahrheit geschichtlich. Weil die für alle gültige Wahrheit
uns verloren ging, gerieten wir in ein uns schwindlig machendes Stürzen,
in ein Bewußtsein der Verlorenheit im All, wofern es uns nicht gelang, uns
aufzurichten an einer Wahrheit, die für uns auch dann lebt, wenn sie nicht
66
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE LOGIK BEI JASPERS
mehr allgemein, sondern geschichtlich ist. Sagte Hamlet, die Welt sei aus
den Fugen und ihm sei auferlegt, sie wieder einzurenken: heute gilt
dies für einen jeden. Er muß im Stürzen sich auffangen, daß ihm Wahr¬
heit aus existentieller Vernunft zuteil werde. Die Gewißheit, als das
Seinsbewußtsein der Existenz, ist im vernünftigen Denken auf die Ge¬
schichtlichkeit der Wahrheit gegründet. Nur im Erfahren dieser Ge¬
schichtlichkeit bindet Vernunft, was sonst auseinanderfiele. Nicht end¬
gültig bindet sie. Aber immer wieder und stets gegenwärtig ist unsere
Freiheit der Seinsursprung, aus dem auch die Vernunft sich erneuernd ge¬
winnt. In diesem Sinne sagt Jaspers in bezug auf die „Philosophische
Logik“: „Wahrheit ist unser Weg.“
Diese Geschichtlichkeit des Denkens, die zugleich den dialektischen Be¬
zug beider aufeinander ausmacht, hat zur Folge, daß in beiden Werken
das Denken kein schlechthin allgemeines sein kann. Sondern beidemal
hat die Natur des Denkens das Wesen des Emzig-allgemeinen. Dies liegt
darin begründet, daß nicht ein Subjekt, sondern stets eine mögliche Exi¬
stenz als Trägerin des Philosophierens fungiert. Nur ein Subjekt kann
allgemein denken, nicht die Existenz. Sie ist dem paradox-dialektischen
Denken nach ihrem transzendierenden Wesen verhaftet. Weil sie nicht
allgemein zu werden vermag, ist sie dem Verstand und auch dem onto¬
logischen Denken entzogen. Daß das Einzige nicht allgemein sein kann,
das Allgemeine niemals im Einzigen aufzugehen vermag: dies weiß
allein das Transzendieren mit Sinn zu erfüllen. Das Einzig-allgemeine
ist der notwendige logische Ausdruck für die Existenz und damit für die
Geschichtlichkeit im Denken.
Nur unter der Voraussetzung geschichtlicher Wahrheit gilt der Satz,
daß die Logik ein „allumfassendes Denken“ vollziehe. Dieser auf das
Umgreifende, von Vernunft und Existenz getragene Denken, abgestellte
Ausdruck wäre mißverstanden, wenn man darunter die Universalität
im Geistigen oder gar ein enzyklopädisches Wissen sich dächte. „All¬
umfassend“: dies will sagen, daß die Seinsweisen nicht voneinander ge¬
schiedene Kreise oder Bereiche darstellen, sondern in eine zusammen¬
haltende Einheit zurückgenommen werden können. Einzig das umgrei¬
fende Denken gibt uns durch ein transzendierendes Innesein den zu¬
sammenhaltenden und darum allumfassenden Gedanken des Emen zu¬
rück der alles Umgreifende wie aus den Händen eines Allumgreifenden
empfängt. Beide Gedanken sind wahr oder dialektisch ein einziger: daß
das Sein ebenso in seine Seinsweisen zerfällt wie es diese wieder zu¬
sammenschließt zu Zeichen, die die Transzendenz künden.
Man kann das Denken sowohl in der „Philosophie“ wie in der „Philo¬
sophischen Logik“ ein perspektixnsches nennen.
67
ERNST MAYER
68
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE LOGIK BEI JASPERS
Ursprung, auf nichts anderes sich stützend, entringt sich dieser Glaube.
Auf das Verhältnis von „Philosophie“ und „Philosophischer Logik“
angewandt, bedeutet dies: Sie sind nicht schon der Glaube selbst, son¬
dern nur die Widerspiegelung dessen, was sich im Ursprung begibt.
Glaube vermag nicht in Worte überzugehen. Er bleibt die innere Tat des
sich selbst verwirklichenden Menschen. „Philosophie“ (die Lehre von
der Selbstwirklichkeit) und die „Philosophische Logik“ (die Lehre von
der Wahrheit): sie beide weisen uns je auf ihre Art auf den „Weg zum
Glauben“. Ergreift die „Philosophie“ die existentiellen Gehalte: die
„Philosophische Logik“ sudit ihnen die adäquate Form zu geben.
Es blieben die philosophischen Gehalte ohne das der „Philosophischen
Logik“ zugrunde liegende umgreifende Denken der eigentlichen Mittei¬
lungsmöglichkeit beraubt. Nur in seinen beiden Hemisphären wird das
Philosophieren ganz. Wir können von keinem Existieren und Transzen¬
dieren, nidit vom philosophischen Glauben sprechen, ohne das umgreifende
Denken überall zu vollziehen, wo es möglich wird. Wir würden uns nur an
die bloßen Kategorien binden, die uns die Erscheinungswelt aufbauen.
Aber wir würden blind dagegen bleiben, daß die Vernunft den Verstand
und unser Daseinserleben umgreift. Wir würden uns selber nichtig wer¬
den. Der Kosmos in seiner alles ertötenden Kälte ließe uns verzweifelt
verstummen, wenn uns nicht ein umgreifendes Sein durchdrungen er
schiene von den Gehalten, die uns werden, wenn wir uns existierend zu
unserer Transzendenz verhalten.
III
69
ERNST MAYER
das Prinzip der Kritiken ist zunächst darin bestimmt, die dogmatische Me¬
taphysik vernichtend zu treffen. Nur auf indirektem Wege läßt Kant die
Wahrheit, auf die es ihm ankommt, zum Ausdruck gelangen.
Der kantische Glaube einer allgemeinen reinen Vernunft, die ein
philosophisches Subjekt voraussetzt, ist uns entglitten. Den Schluß auf
das Selbst verwehrt er Descartes. Das Selbst als Ursprung wurde erst
durch Kierkegaard möglich. Dennoch ist Kants kritisches Denken in sei¬
nem dem Wesen nach transzendierenden Charakter für Jaspers’ Philo¬
sophieren ein notwendiger, stets zu wiederholender Durchgang. Das
Transzendieren Kants macht dort Halt, wo im Scheitern des Objekts das
dem wissenden Erkennen unzugängliche Ansichsein auftaucht oder der
Weg der Philosophie in die Idee einmündet. - Demgegenüber wird bei
Jaspers nicht nur, wie hier bei Kant, negativ transzendiert, sondern auch
konkret (das heißt positiv). Und hier liegt der tiefere Grund, warum
bei Jaspers infolge des das Ganze der Philosophie tragenden Grund¬
gedankens der Existenz zwei philosophische, dialektisch aufeinander be¬
zogene Ganzheiten hervorgehen müssen. Denn beide sind auf das kon¬
krete Transzendieren bezogen, das bei Kant sich nur wie von ferne an¬
zukündigen scheint.
Auch die Weise, wie Kant den Weg des Glaubens frei machen wollte,
ohne aber dazu zu schreiten, seinem philosophischen Glauben unmittelbar
Ausdruck zu geben, zeigt den Unterschied. Sie erfährt die entscheidende
Zuspitzung in der Frage, ob die Moral auf die Religion (diese gemeint
innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft) oder die Religion auf die
Moral sich gründen müsse. Kant entschied sich für den zweiten Weg,
weil wir die Freiheit nicht abhängig sein lassen dürfen von Triebfedern
wie Hoffnung oder Furcht. - Gerade hierin vollzog sich aber nun die
Wendung. Es ist nicht mehr möglich, den Glauben auf die Moral zu be¬
ziehen. War für Kant die Furcht die der Freiheit wesensfremde Trieb¬
feder, so ist sie seit Kierkegaard in ihrem tieferen Sinne kein spezifisches
Gefühl mehr. Sie ward zu der umgreifenden Angst vor dem Nichts, die
den Nihilismus herbeizwingen müßte, wenn es nicht gerade das Um¬
greifende in der Angst wäre, daß sie in den Glauben Umschlägen kann.
Heutiges Philosophieren würde in ein Moralisieren ausarten, wenn es
sich einzig auf Moralität stützen würde. Die Alternative Kants gilt heute
in umgekehrter Richtung: die Freiheit gehört dem philosophischen Glau¬
ben an, bevor wir sie von der Moral her interpretieren. Nur die Exi¬
stenz, die als Ursprung die Dialektik von Sein und Denken in sich trägt,
konnte im Gegensatz zu Kants philosophischem Subjekt dieser Umkehr
zum Durchbruch verhelfen und damit einer existentiellen Wirklichkeits¬
lehre („Philosophie“) die „Philosophische Logik“ entsprechen lassen.
70
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE LOGIK BEI JASPERS
Denn beide künden den Ursprung in seiner Einzigkeit als Existenz und
in seiner Zweiseitigkeit von Vernunft und Existenz.
Eine gänzlich andere Sicht auf das Verhältnis von „Philosophie“ und
„Philosophischer Logik“ bei Jaspers vermittelt die idealistische Philoso¬
phie, insbesondere die letzte Wendung bei Schelling und - davon wieder
grundlegend unterschieden - das Hegel’sche System: Geht man vom
Selbstverhältnis aus, das sich bei Kierkegaard und bei Jaspers nicht nur
zu sich selbst verhält, sondern außerhalb des Verhältnisses auch zum
Absoluten als dem anderen, das das Selbst nicht sein kann, so ist es in
der idealistischen Philosophie radikal anders. Hier ist es allein das Ab¬
solute, das sich zu sich selbst verhält und das nichts mehr außer sich hat,
wozu es sich verhalten könnte. Man kann daher sagen: das Selbstverhält¬
nis hat sich umgekehrt. Die Freiheit gehört dem Absoluten. Sie könnte
sich nur zu dem des Aufschwungs fähigen Menschen hin erstrecken.
Hier liegt der Grund, warum wir bei Schelling in seiner negativen und
positiven Philosophie zwar zwei philosophische Ganzheiten erblicken,
deren Aufeinanderbezogensein erst das Ganze der Philosophie darstellt.
Doch der Unterschied gegenüber Jaspers ist eben gerade dieser, daß die
beiden Philosophien Schellings dem Absoluten unterlegt werden müssen.
Um dessen Existenz zu philosophischem Ausdruck zu bringen, bedarf
Schelling der „negativen Philosophie“, deren Thema das dem Denken
Mögliche ausmacht. Sie bleibt eine abstrakte Philosophie bis zu jenem
Punkte, wo sich die negative und die positive, konkret gemeinte, ver¬
einigen. Dieser Punkt, das Absolute selbst, hält die Einheit von Denken
und Sein in sich. Das Denken in der negativen Philosophie führte hin zu
dem Absoluten, aus dem nunmehr der Glaube für Schelling deduzier¬
bar wird.
Anders Hegel. Sein Denken ist nicht von einer Art, daß es aus sich
zwei philosophische Ganze im Sinne jener dialektisch aufeinanderbezoge-
nen Ganzheiten entlassen könnte. Die Hegel’sche Dialektik ist vielmehr
konzentrisch in sich selbst. Die Zweiseitigkeit im Philosophieren ist be¬
schlossen in ihrem rein logischen Wesen, in dem Prozeß des stets wieder
Aufgehobenwerdens von Stufe zu Stufe oder vom Anfang her bis zum
krönenden Ende. Das Absolute ist das Subjekt, weil das Denken alles
ist, Gott selbst. Das Sein geht nicht vor dem Denken, sondern das Den¬
ken vor dem Sein. Bei Hegel kann es daher nicht wie bei SAelling zu
einer negativen Philosophie kommen, die das Denken
lichkeit als der anderen Seite des Philosophierens entgegensetzt. So geht
alle Dialektik auf in die Logizität von Position und Negation.
Fassen wir diese Konfrontation der Japers sehen philosophisAen
Ganzheiten, deren dialektischer Bezug den Ursprung der Existenz zurude-
71
ERNST MAYER
Anmerkung
^ Für die vorliegende Darlegung siehe auch meine „Dialektik des Nichtwissens“ (Verlag
für Recht und Gesellschaft, Basel 1950) Studia Philosophica, Supplementum V.,
insbesondere Kap. I Ursprung, Kap. IX Situationsdenken, Kap. XII Das dialektische
Ganze.
72
Jose Ortega y Gasset
73
JOSß ORTEGA Y GASSET
besteht, daß ihr Wortsdiatz ungemein kümmerlich ist. Ich habe schon
einmal auf den Nachteil hingewiesen, der daraus entsteht, daß man mit
ein und demselben Wort „Dichtung“ das bezeichnet, was Homer, und das,
was Verlaine hervorgebracht hat. Dasselbe geschieht mit Wörtern wie
„Philosophie“ und „Religion“. Es ist offensichtlich, daß man diesen Wör¬
tern eine so schwache, so formale Bedeutung geben kann, daß sie ganz
Verschiedenes und sogar Entgegengesetztes umfassen. Grundsätzlich wäre
gegen dieses Verfahren nichts einzuwenden, wenn wir nicht sofort das¬
selbe Wort zur Bezeichnung von ganz konkreten Formen menschlicher
Beschäftigung verwendet fänden. Diesem Problem kommt heute eine
gewisse unmittelbare Bedeutung für die Philosophie zu, weil das abend¬
ländische Denken - und zwar das beste - angefangen hat, unter diesem
Namen Formen anzunehmen, die als „Philosophie“ zu bezeichnen äußerst
fraglich ist. Ohne daß ich jetzt eine förmliche Meinung über diese An¬
gelegenheit ausdrücken will, möchte ich doch die Möglichkeit andeuten,
daß das, was wir uns jetzt unter der herkömmlichen Bezeichnung „Philoso¬
phie“ zu tun anschicken, nicht eine neue Philosophie ist, sondern überhaupt
etwas Neues, etwas anderes als jede Philosophie.
Wenn Dilthey nämlich genau sagen will, was er unter Philosophie ver¬
steht, sieht er sich gezwungen, eine Art zu beschreiben, sich der geistigen
Mechanismen zu bedienen, die in der Menschheit nicht permanent vor¬
handen war, sondern die eines schönen Tages in Griechenland entstan¬
den und die zwar auf uns überkommen ist, aber ohne daß wir eine Ge¬
wißheit hätten, daß sie auch fürderhin bestehen wird.
Damit wollen wir aber keinen Anspruch erheben, daß wir das Pro¬
blem gelöst hätten, ob Philosophie, Religion und Dichtung permanente
Möglichkeiten des Menschen sind oder nicht. Im Gegenteil - wir haben
nur die Frage mit einer gewissen Dringlichkeit aufgeworfen.
74
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
Aber jene ersten Denker fanden keine Philosophie vor, die sie lockte
und einlud, sie mit ihrer Religion zu verbinden, sondern sie empfanden
die tiefe Notwendigkeit von etwas noch nicht Bestehendem, was zu dem
wurde, was schließlich die seltsame Bezeichnung Philosophie erhielt. Was
suchten sie denn? Warum suchten sie es? Hat es einen Sinn anzunehmen,
daß sie, wenn sie in der traditionellen Religion zu Hause waren, sich
bemüht hätten, etwas zu finden, das ebenso umfassend wie diese, aber so
ganz verschiedenen Inhalts war?
Um diese Fragen zu beantworten, bleibt uns nichts anderes übrig, als
uns in die Fragmente zu versetzen, die wir noch von jenen ersten Den¬
kern besitzen, um von ihrem Gesichtspunkt aus den Horizont zu erfor¬
schen, der sich ihren Verfassern bot.
Im Denken eines Denkers wirken immer ein Untergrund, ein Grund
und ein Gegner mit. Der Uritergrund, den die tiefen Schichten geistiger
Traditionen bilden, die in der menschlichen Gemeinschaft bewahrt wer¬
den, wird gewöhnlich vom Denker ignoriert. Er wirkt in ihm, ist ihm
aber nicht präsent. Der Grund ist neueren Ursprungs: es sind die grund¬
sätzlichen Annahmen, deren sich der Denker bewußt ist und die er schon
vorfindet. Auf diesem Grund nimmt er Stellung und von hier aus denkt
er seine eigenen Ideen. Schließlich ist jedes Denken ein „Denken gegen ,
ob es sich nun im Worte äußert oder nicht. Unser schöpferisches Denken
bildet sich immer im Gegensatz zu einem anderen Denken, das uns vor¬
liegt und das uns irrig, fehlerhaft zu sein scheint, ein Denken, das über¬
wunden sein will. Es ist das, was ich den „Gegner“ nenne, die feindliAe
Felswand, die sich auf unserem eigenen Grund erhebt, also auch von die¬
sem ausgeht und im Gegensatz zu der wir das Bild unserer eigenen Lehre
entdecken.
Parmenides und Heraklit dürften um das Jahr 520 v. Chr. geboren sein.
Sie beginnen also um das Jahr 500 zu denkend Auf welchem geistigen
Grund befanden sie sich? Welchen geistigen Strömungen, welcher all¬
gemeinen Denkrichtung fühlten sich ihre jungen Köpfe verbunden? In
welchen anderen zeitgenössischen Tendenzen sahen sie das Profil des
Gegners? ,
Im Werke des Parmenides erscheint kein Eigenname, der uns zu orien¬
tieren vermöchte. Er „zitiert“ weder Freund noch Feind. Und das ist kein
Zufall. Parmenides gestaltet seine Ideen in der Form eines feierlichen
Gedichts^ das der literarischen Gattung angehort die für jene Zeit be¬
zeichnend ist: das theologisch-kosmogonische Gedicht der orphischen My¬
stiker. Diese Gattung ist, da mystisch, pathetisch im
eine nicht alltägliche, mythische Ausdrucksweise Obwohl clas GediAt in
der ersten Person abgefaßt ist, ist diese Person doch abstrakt - ein fung-
75
JOSfi ORTEGA Y GASSET
ling -aovQog- den, man weiß nicht warum, einige junge Göttinnen be¬
schirmen, vage weibliche Gottheiten; vielleicht sind es die Musen oder
die Horen, denn er nennt sie „Töchter der Sonne“. Diese Unklarheit der
Linien, diese Zartheit und Geisterhaftigkeit des mythologischen Bild¬
werks, das Parmenides entfaltet, erweist ohne weiteres und ohne jeden
Zweifel, daß Parmenides ganz klar und bewußt eine „archaisierende Gat¬
tung“ wählt, um seine Aussage zu machen. Mit anderen Worten: Par¬
menides bedient sich des mythologisch-mystischen Gedichts, ohne noch
daran zu glauben, als eines reinen Ausdrucksmittels, kurz als Vokabular.
Die längst abgestorbenen Glaubensgewißheiten leben, in bloße Wörter
verwandelt, noch lange weiter. Die Mythologie ist, wenn sie tot ist, von
einer schrecklichen Hartnäckigkeit. Solange eine Glaubensgewißheit, die
nicht die unsrige ist, in anderen lebendig ist, nehmen wir sie ernst und
kämpfen mit ihr, zumindest sorgen wir dafür, daß man unsere Ausdrucks¬
weise nicht mit der jener anderen verwechselt, die daran glauben. Aber
wenn wir eine Glaubensgewißheit schon für mumifiziert und der Vergan¬
genheit angehörig halten, dann wird sie für uns zur einfachen und harm¬
losen „Redensart“. So sprechen wir ruhig vom Orient, das heißt, von
einer Gegend, wo die Dinge entstehen oder geboren werden, obwohl
niemand mehr glaubt, daß es einen Ort im kosmischen Raum gibt, dessen
besondere Eigenart Geburten sind.
Parmenides spricht zu uns nidit nur von jenen göttlichen Jungfrauen,
sondern von einer gewaltigen Göttin, die ihm die Wahrheit zeigen will,
und von einem Wagen mit den „schnellsten Pferden“ - zweifellos sind
sie beflügelt -, der ihn, von den genannten Mädchen gelenkt, wie einen
Amadis auf dem „vielgepriesenen Weg“, auf der „berühmten Straße“,
die der „wissenden Kreatur“ das ganze Universum zu durchlaufen ge¬
stattet, bis zu den Toren des Himmels führt. All das ist eine feierliche
Aufmachung, die Parmenides aus den alten Truhen hervorholt und
die ihm als Verkleidung dient, gerade weil es für ihn Verkleidung
ist. Wir müssen uns jetzt nur erklären, warum dieser Mensch, um
seine Aussage zu machen, eine Verkleidung braucht, das heißt, warum
er es für angebracht hält, eine religiöse, mythologische Redeweise zu
ersinnen und seine Gedanken im pathetischen Tone einer Enthüllung,
einer Apokalypse aus dem Munde einer Göttin auf uns niederdonnern
zu lassen. Hätten wir nicht dummerweise die „Rhetorik und Poetik“ so
vernachlässigt, die sich mit den genera diceiidi befaßten, mit der Art,
wie man die Dinge sagen kann, die wir sagen wollen, dann wäre es für
uns nicht schwer zu verstehen, warum Parmenides ganz ernsthaft - bei
Parmenides ist alles furchtbar ernst - darauf verzichtet, in didaktischer
Prosa zu reden, warum er es vermeidet, einfach von sich aus zu sprechen
76
STOCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE"
und warum er all seine Beredsamkeit auf vage religiöse Personen und
Figuren überträgt. Es ist eine stilistische Notwendigkeit. Es ist keine
Laune. Stil ist die Umformung der gewöhnlichen Sprache aus besonde¬
ren Gründen, die den Sprechenden leiten. Und der häufigste Grund der
Stilisierung ist die Ergriffenheit. Sie manipuliert die laue und farblose
Alltagssprache so lange, bis sie glühend, geschmeidig, blank und leben¬
dig wird. Parmenides wird uns also nicht bloß seine Entdeckungen mit-
teilen, vielmehr hatten ihn diese - wie wir sehen werden, ganz mit
Recht - in solches Staunen und in eine übergroße Erregung versetzt, daß
sie für ihn einen mystischen Wert erhielten. Wenn man glaubt, es gebe
im Menschen geschlossene Abteile, wird man nichts vom Menschen ver¬
stehen. Es wäre naiv zu glauben, weil die Wissenschaft kalte Wissen¬
schaft, eisige Wahrheit ist, habe ihre Entdeckung keinen mystischen Cha¬
rakter und sei nicht glühend, begeisternd und leidenschaftlich. Und trotz¬
dem war, ist es und wird es unvermeidlich und glücklicherweise immer
so sein: Jede „wissenschaftliche“ Entdeckung, das heißt, jede Wahrhed
versetzt uns plötzlich in die unmittelbare Vision einer Welt, die wir bis
dahin nicht kannten und mit der wir deshalb nicht rechneten. Auf ein¬
mal, als werde ein Schleier von unseren Augen genommen^ wird sie uns
auf wunderbare Weise offenbar - und wir sind „Sehende“; iioch mehr,
es scheint, als seien wir unserer gewöhnlichen, „bürgerlichen und gar
nicht mystischen Welt durch eine seltsame Macht entrückt in eine andere,
und wir geraten in Ekstase. Es ist gleichgültig, was unsere vorherigen
Überzeugungen hinsichtlich des Wirklichen und des Göttlichen, des Vul¬
gären und des Magischen sind: die Situation, die mystische Erfahrui^
wird sich stets mit denselben Wesenszügen wiederholen. Der Mensch,
der am radikalsten die „reine Vernunft“, den „reinen Rationalismus
entdeckt, den Rationalismus, der die Religion erdrcisseln v/ird Des-
cartes - hatte, wie er als junger Mensch plötzlich die Entdedung der
Methode (der „mathesis universalis“) macht, eine ekstatische Vision dm
er immer als den höchsten Augenblick seines Lebens empfand und die
er immer als etwas ansah, an dem er selbst kaum teilhatte, als göttliches
Geschenk und transzendente Offenbarung. Zutie st erregt von dieser
besonderen, einmaligen Ergriffenheit des „Entdeckers , unen^iche
Demut ist schreibt er in seinen intimen Aufzeichnungen: „X novembns
^619, cum plenus forem Enthousiasmo, et mirahihs scientiae fundament
''PaTmTnides empfindet das, was ihm bei diesem Entdecken zuteil ge-
Hen i^t als eine gewissermaßen transzendente Tatsache, und das
Veranlaßt ihn ganz natürlich, ein religiöses Vokabular und religiöses
Bildwerk zu verenden, um sowohl Idee als seine Ergriffenheit auszu-
77
JOSE ORTEGA Y GASSET
drücken. Und zwar gerade, weil er nicht fürchtet, seine Leser könnten
seine mythologischen Ausdrücke in ihrer unmittelbaren Bedeutung auf¬
fassen. So zeigt uns Parmenides’ Stil nicht nur, daß er selbst nicht an die
Götter glaubte, sondern daß auch in den sozialen Gruppen, an die er
sich wandte, der religiöse Glaube nicht mehr lebendig war. Für einen
einwandfreien Rationalisten wie Parmenides ist es etwas Außerordent¬
liches, Erwärmendes, wenn er von Göttern, von einer Fahrt in den Him¬
mel spricht und wenig kontrollierbare Bilder gebraucht, aber es tut sei¬
nem Bedürfnis, die gefühlte Ergriffenheit auszudrücken. Genüge. Da¬
gegen würde einem, der wahrhaft an die Götter glaubt, Parmenides’
Dichtung blaß, lau und steif allegorisch erscheinen. Achtzig Jahre zuvor
hatte Anaximander die Prosa erfunden und hatte in ihr die Darstellung
seiner Physik niedergelegt. Diese Urprosa hatte sich noch nicht zur „lite¬
rarischen Gattung“ konsolidieren können, weil sie ihrer selbst noch nidit
sicher war, nämlich daß sie Prosa und nur Prosa war. Wann man es am
wenigsten erwartet, weht über der „positivistischen“ Aussage Anaximan-
ders ein fast mythologischer Sturm der Erregung, der die prosaische
Sprache aufwühlt und mit visionären Blitzen erfüllt. Parmenides hatte
also keine Wahl. Das erklärt, warum er den ganzen alten Apparat des
Deus ex machina hervorholt.
Heraklit dagegen zitiert Namen. Und zwar macht er nicht viel Um¬
stände. Homer und Archilochos sollen geprügelt werden (fr. 42). Den
Meister Hesiod schilt er einen Dummkopf, weil er nicht einmal weiß,
was Nacht und Tag sind (fr. 57), Pythagoras nennt er einen Komödian¬
ten (fr. 129, aber zweifelhaft) und wirft ihm, ebenso wie Hesiod, Xeno-
phanes und Hekataios vor, daß sie unter einem Sammelsurium von
Ideen ihre Ignoranz in dem verbergen, was allein wissenswert ist (fr. 40).
Er läßt überhaupt nur Thaies gelten, von dem er sagt; „Er war der erste
Astronom.“ Daß in diesem Fragment eine Beschimpfung fehlt, zeigt uns,,
daß seine Haltung gegenüber Thaies und dem, was er darstellt, positiv
war. Zu bemerken ist, daß alle namentlich Zitierten schon tot waren. Es
fehlen die Namen von Zeitgenossen. Man vergesse nicht, daß die bedeu¬
tendste und charakteristischste geistige Produktion des 6. Jahrhunderts
aus der Gegend kommt, zu der Ephesus gehört, von der jonischen Küste
und den benachbarten Inseln.
Im Gegensatz zu Parmenides spricht Heraklit von seiner eigenen und
unübertragbaren Person aus. Seine Sentenzen, über die sich schon so
viele die Köpfe zerbrochen haben und die so berühmt „rätselhaft“ er¬
scheinen, brechen blendend wie Blitze aus einem gewaltigen und ganz
individuellen Idi hervor, aus diesem konkreten einmaligen Menschen
Heraklit, der aus der Familie der Kodriden geboren ist, die die Stadt
78
STOCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
gegründet haben, und der selbst von „königlichem“ Range war, in der
höchsten Bedeutung, die dieses Wort je gehabt hat, in der des „geweih¬
ten“ Mannes, der allein zu „weihen“ imstande ist, da er in seinem Blut
die unveräußerliche göttliche Erbschaft des „Charisma“ trägt. Hera-
klit verzichtet zugunsten seines Bruders auf die Ausübung dieser reli¬
giösen Königswürde, denn selbst diese hindert ihn daran, das absolute
Individuum zu sein, dieser ganz einmalige Heraklit, als der er sich
fühlt.
Wenn wir, bevor wir darlegen, was diese unermeßliche Persönlichkeit
gesagt hat, ein wenig innehalten - wie es sich gebührt - um die Art zu
prüfen, wie er es gesagt hat, das formale Bild seiner Aussage, so finden
wir folgendes: Audi Parmenides stammt aus vornehmer Familie und
besitzt dieses überwältigende Selbstvertrauen, das jene ersten Denker be¬
flügelte und das von dem Bewußtsein seines Seins und seines Denkens -
seines aristokratischen Erbes und der Ursprünglichkeit seiner Gedanken
- doppelt genährt wurde. Wo er auftritt, flößt er Achtung ein. Noch bei
Platon klingt die Erinnerung an diese Achtbarkeit auf. Aber letzten En¬
des wandelt er unter den Menschen, disputiert mit ihnen - seine Schule
führt die „Diskussion“ als Lebensform ein, die Dialektik - bemüht sich,
sie zu überzeugen, er lehrt nicht nur, sondern belehrt. Parmenides hat
keine Distanz. Darum muß er seine Aussage distanzieren und seine
Lehre von dem wahren Mund der wahrhaftigen Göttin aussprechen las¬
sen. Heraklit dagegen, der „König“, fühlt sich einzigartig und ist von
vornherein unabänderlich distanziert. So ist sein Leben materiell ein
Rückzug. Er zieht sich, wie ich sagte, aus dem öffentlichen Leben zurück
und verzichtet auf sein heiliges Amt. Er empfindet eine vernichtende
Verachtung gegenüber der Masse seiner Mitbürger und betrachtet sie als
heilsunfähig, da sie nicht die grundlegende Tugend eines Menschen haben,
die darin besteht, daß man fähig ist, etwas Überlegenes anzuerkennen '’.
Heraklit zieht sich also von der Agora in den einsamen Tempel der Ar¬
temis zurück. Das genügt ihm aber auch noch nicht, und so flüchtet er in
ein wildes Gebirge, wie sich das Eisen und der Diamant im Inneren dei
Erde verbergen. Selten wird ein Mensch eine so unbeschränkte Überzeu¬
gung von seiner Überlegenheit über die anderen gehabt haben. Wir wer¬
den noch sehen, aus welchem umgekehrten Grunde; wir werden noch
sehen aus welch absoluter Demut sich dieser absolute Hochmut herleitet
und nährt Wenn Heraklit noch an die Götter glaubte, würde er glau¬
ben er sei ein Gott. Deshalb überträgt er seine Aussage auch nicht einem
würdigeren Munde. Er braucht der Distanz, die er schon ist, nicht eine
neue stilistische Distanz hinzufügen. Seine Lehre erklärt uns, warum er
sich als Gott fühlt - wie sich, seiner Auffassung nach, jeder Mensch zu
19
JOSe ORTEGA Y GASSET
fühlen das Recht hätte, wenn er nicht so dumm wäre, wie er gewöhn¬
lich ist.
Man muß sich weiter vergegenwärtigen, daß in Jonien, wo das neue
Denken, das „moderne“ Leben aufkam, die Dinge weiter fortgeschritten
sind sogar als am andern Ende der griechischen Welt, in Großgriechen¬
land und Sizilien. Die Entfernung von der Mythologie ist noch größer,
und die Prosa, die einfache didaktische Äußerung, ohne Melodramatik
und ohne Bildwerk, hat sich gefestigt. Vierzig Jahre zuvor hatte, nicht
weit von Ephesus, Hekataios seine Geographie- und Geschichtsbücher in
reiner didaktischer Prosa geschrieben, einer so prosaischen und unmittel¬
baren Prosa, wie es die irgendeines deutschen Handbuchs unserer Zeit
sein kann. Jedoch eignet sich diese Prosa nicht ganz, um dieses so selt¬
same und transzendente Denken darzulegen, das die Philosophie ist.
Deshalb kann Heraklit nicht ein Buch in fortlaufendem Text schreiben.
Er wird sein Denken in Form von Funken wiedergeben, in kurzen Sät¬
zen, die, weil sie jeweils alles auf einmal sagen sollen, wie geballte La¬
dungen der Beredsamkeit sind, eine Art dogmatisches Dynamit. Daher
seine berühmte „Dunkelheit“.
Der Stil Heraklits besteht also darin, daß er von seiner ganz indivi¬
duellen Person aus in Form von zündenden Sätzen spricht, wie sie in
einer sdiarfsinnigen, geist- und funkensprühenden Unterhaltung aufblit¬
zen können. Es sind „Sprüche“, aber immerhin findet sich in ihnen eine
Färbung, in der sich zeigt, daß sich Heraklit von einem genus dicendi
beeinflussen ließ, das damals ganz an der Tagesordnung war und das
religiösen, transzendenten Anklang hat. Und zwar sind es die Orakel¬
sprüche und die Sprüche der Sibylle. Er selbst gibt uns in zwei erhalten
gebliebenen Fragmenten zu verstehen, warum er die Literaturgattung
gewählt hat, die seine Sprüche sind. Auf Grund seiner Überzeugung,
daß es in dem Menschen, der denkt, was man denken muß, die univer¬
sale Vernunft ist, die denkt, und nicht der private Scharfsinn, wird der
passende Ausdruck so etwas sein wie die Orakelsprüche und der Hauch
der Sibylle. „Die Sibylle, die mit rasendem Munde Ungelachtes und Un¬
geschminktes und Ungesalbtes ausruft, dringt durch Jahrtausende mit
ihrer Stimme, da der Gott sie treibt“ (fr. 93). „Der Herr, dessen das
Orakel zu Delphi ist, erklärt nicht und verbirgt nicht, sondern deutet an“
(fr. 94). Es sei darauf hingewiesen, daß hier, an der ehrwürdigen schöp¬
ferischen Schwelle der Philosophie, das „andeuten“ als die der Philoso¬
phie eigene Aussageweise vorgeschlagen wird. Man vergesse aber nicht,
daß diese beiden Sprüche Heraklits von einem Manne herrühren, wel¬
cher der überlieferten Religion, den „Mysterien“, den Kulten gegenüber
radikal feindlich eingestellt ist^. Doch auch er hatte seine Erkenntnisse
80
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
81
JOSfi ORTEGA Y GASSET
leidigung, und was er von diesem sagt, ist einfach, daß er der erste
Astronom war. Heraklit schätzt also die Denkweise, die Thaies aufbringt,
aber er gibt zu erkennen, daß, im Vergleich zu seinem eigenen Wissen,
das des Thaies und seiner Nachfolger ein spezielles Wissen, daß es nur
Astronomie ist. Um das wohl zu verstehen und den tatsächlichen Grund
und Boden, auf dem diese beiden Proto-Philosophen stehen, vollständig,
das heißt ausreichend, zu erkennen, muß man daran erinnern, daß Tha¬
ies um 584 wirkte. Wir müssen uns also die tiefe Wandlung des griechi¬
schen Lebens um 600 klarmachen, die in rascher Ausdehnung und
schneller Entwicklung bis zum Jahre 500 führt, dem Zeitpunkt, zu dem
diese beiden Proto-Philosophen mit ihrem Denken einsetzen.
Wir leben jeweils nicht nur in einer räumlichen Landschaft, sondern auch
in einer zeitlichen Landschaft, die ebenfalls drei Dimensionen hat, Ver¬
gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Lassen wir zunächst einmal diese
letzte weg. Ein gewisser Horizont der Vergangenheit, der bis zu der Ge¬
genwart reicht, in der wir sind, existiert für uns,' macht einen Teil der
Struktur unseres Lebens aus und ist ein Organ dieses Lebens. Wie jede
Landschaft, so hat auch die Vergangenheit, soweit sie uns siditbar ist,
eine Perspektive, näherliegende und fernerliegende Flächen. Eine jede
dieser Flächen zeitlicher Entfernung wirkt in unserem Dasein verschie¬
den. Wenn man einen Menschen recht verstehen will, muß man sidi mit
einiger Genauigkeit die chronologische Topographie seines Horizontes
vorstellen.
An Hand der Namen, die Heraklit zitiert, vermögen wir mit ausrei¬
chender Klarheit die Perspektive zu rekonstruieren, in der sich ihm die
geistigen Tatsachen der griechischen Vergangenheit bis auf seine Zeit
herab darstellten. Und mit einer leichten Abänderung - weil die Kolo¬
nien des Westens nicht ganz so „weit“ waren wie die des Ostens - gilt
das Bild auch für Parmenides.
In einem Fragment (fr. 42) nennt Heraklit Homer und Archilodios zu¬
sammen. In einem andern, und zwar in dieser Reihenfolge, Hesiod, Py¬
thagoras, Xenophanes und Hekataios (fr. 40). Man beachte, daß die Rei¬
henfolge, in der diese Namen angeführt sind, genau der geschichtlichen
Chronologie entspricht. Heraklit schreibt seine Blitze um 475. Hekataios,
der Heraklit am nächsten ist, war gestorben, als dieser etwa 20 Jahre alt
war. Xenophanes war einige Jahre älter als Hekataios, und Pythagoras
muß um 572 geboren sein. Es sind also drei Männer, die „da waren“, als
Heraklit auf die Welt kam. Hinter ihnen erhebt sich in einer Ferne, die
schon nicht mehr greifbar ist, vollkommen der Vergangenheit angehörig,
Hesiod, der seine Theogonie um das Jahr 700 verfaßte. Fünfzig Jahre
vor ihm ist Homer, und fünfzig Jahre nach ihm Archilochos. Sie sind
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JOSß ORTEGA Y GASSET
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STOCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
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JOSfi ORTEGA Y GASSET
Man versteht eine Epoche, indem man von einer oder versckiiedenen -
sehr wenigen - Grundtatsachen ausgeht, die gleichsam ihren Kern bil¬
den. Was Griechenland zwischen 600 und 500 war, hat seine Wurzel in
dieser bestimmten Tatsache: daß die hellenische Kolonisation, die ja nach
allen vier Himmelsrichtungen ging, um das Jahr 650 ihre äußersten
Grenzen erreicht. Die lebendige Flut der Ausdehnung des griechischen
Volks ist an ihrem Höhepunkt angelangt*. Unmittelbar darauf - und
die Tatsache würde eine umfassendere Betrachtung verdienen - beginnt
die koloniale Peripherie auf das kontinentale und metropolitane Grie-
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STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
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JOSß ORTEGA Y GASSET
Um eine klare Vorstellung davon zu haben, was „Freiheit“ ist, muß man
mit einiger Genauigkeit die Formel dieser Gleichung definiert oder ge¬
funden haben.
Wahrscheinlich durchläuft jede Zivilisation oder jedes curriculum vitae
einer Gesamtheit von verwandten Völkern diese Form des Lebens, die die
Freiheit ist. Es ist eine leuchtende und kurze Epoche, die sich wie ein
Mittag zwischen dem Morgen der Archaik und dem abendlichen Nieder¬
gang, der Versteinerung und Nekrose seines Alters auftut. Die entschei¬
denden Epochen einer Zivilisation lassen sich als Veränderungen der
Grundbeziehung zwischen den beiden großen Komponenten des mensch¬
lichen Lebens bestimmen und unterscheiden, nämlich den Bedürfnissen
des Menschen und seinen Möglichkeiten.
In der ardiaischen oder frühesten Epoche hat der Mensch den Ein¬
druck, daß der Kreis seiner Möglichkeiten kaum den seiner Bedürfnisse
überschreitet. Was der Mensch in seinem Leben tun kann, fällt seiner
Empfindung nach fast genau mit dem zusammen, was er tun muß. Der
Spielraum, der ihm bleibt, ist sehr gering, oder anders ausgedrückt: der
Mensch hat noch sehr wenig zu tun. Das Leben stellt sich ihm nicht un¬
ter dem Charakter des „Reichtums“ dar. Dazu ist zu bemerken: wie es
ein Irrtum war, die Idee der Freiheit der Politik und dem Recht zuzu¬
ordnen, so ist es auch falsch, wenn man den Ausdrudc „Reichtum“ in
erster Linie dem Wirtschaftlichen zuweist. In beiden Fällen ist die wahre
Beziehung, daß die juridische Freiheit und der wirtschaftliche Reichtum,
wenn auch sehr wichtige und bezeichnende, so doch nur zwei Auswirkun¬
gen oder Äußerungen der allgemeinen Freiheit und des Lebensreichtums
sind. Reichtum in wirtschaftlichem Sinn bedeutet doch, daß der Mensch
über viele Möglichkeiten zu besitzen und zu erwerben verfügt, oder kon¬
kret, daß er viele Dinge haben, kaufen und verkaufen kann. Das Viel
und das Wenig ist zu verstehen im Hinblick auf das subjektive Bewußt¬
sein, das der Mensch hinsichtlich seiner Bedürfnisse hat. Verallgemeinert
man diesen Begriff auf alle anderen Ordnungen der menschlichen Exi¬
stenz, die nicht wirtschaftlicher Art sind, so ergibt sich folgendes: bis zu
einem gewissen Zeitpunkt haben die Menschen eines Kulturkreises, einer
bestimmten Völkergemeinschaft den Eindruck, daß ihnen in ihrem Leben
kaum mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen als gerade die unbedingt
von den Bedürfnissen erforderten. Leben heißt da, sich an das halten,
was es gibt, und Gott sei Dank, daß man das Nötige zum Leben hat!
Ein bißchen Essen, ein bißchen Wissen, ein bißchen Vergnügen. Leben
ist Armut. Der Mensch lebt, indem er das einfache Repertorium von in¬
tellektuellen, technischen, zeremoniellen, festlichen, politischen Verhal-
tensmöglidikeiten praktiziert, wie sie die Tradition mühsam geschaffen
88
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
und angehäuft hat. Bei dieser Lebensgleichung ist das Individuum nie
in der Lage, auswählen zu können: das würde nämlich voraussetzen, daß
der Kreis der Möglichkeiten wesentlich größer wäre als der der Bedürf¬
nisse ®.
Allmählich werden die Beziehungen zwischen den Völkern, die dieses
geschichtliche Gebilde ausmachen, zahlreicher, und auch der Umgang, die
Kenntnis und der Handel mit der Peripherie dieses Gebildes, also mit
dem „Ausland“, nimmt zu. Eine Erweiterung des Lebens, die zunächst
räumlich ist, tritt ein. Man lebt in einer größeren Welt. Damit beginnt
die Entwicklung von Handel und Gewerbe; man entdeckt Bergwerke an
fernen KüstenEs kommt wirtschaftlicher Reichtum auf. Gleichzeitig
entstehen neue Techniken, neue Künste, neue Vergnügen im Überfluß.
Der Mensch macht die Erfahrung, daß das Leben nicht nur in dem be¬
steht, was da ist, sondern daß es neue Wirklichkeiten schafft, aus sich
herausholt, daß das Leben also nicht nur durch seine Bedürfnisse defi¬
niert ist, sondern daß es dazu nodi aus überquellenden Möglichkeiten
besteht, die jene überfluten. Das Wort hat sich uns ungewollt aufge¬
drängt: das Leben ist Überfluß, ein Begriff, der das hyperbolische Ver¬
hältnis zwischen den Möglichkeiten und den Bedürfnissen ausdrückt.
Es gibt mehr Dinge, man kann mehr tun als nötig ist. Es beginnt die
Üppigkeit oder der Luxus. Ipso facto bemerkt der Mensch, daß Leben
ein ganz anderes Problem ist, als es in der archaischen Epoche war. Da¬
mals war es ein Sichhalten an das, was es gibt, und ... Gott sei Dank!
Resignation, demütige Dankbarkeit Gott gegenüber, wenn er das unbe¬
dingt Notwendige gibt. Aber jetzt ist das Problem fast umgekehrt: man
muß wählen unter vielen Möglichkeiten. Sinnbild des Lebens wird das
Füllhorn. Man muß auslesen. Das Grundgefühl, aus dem heraus man
existiert, ist das Gegenteil der Resignation, denn Leben heißt nun, daß
einem Dinge überflüssig sind. Es beginnt das Grundgefühl der An¬
spruchsfülle, des existentiellen Übergewichts, des „Humanismus“. Aus
der Erkenntnis, daß neue Dinge erfunden worden sind, wird eine Funk¬
tion, und der Mensch macht sich planmäßig daran, zu erfinden. Neues
Leben schaffen wird eine normale Lebensfunktion - etwas, was in der
archaischen Epoche niemand begriffen hätte. Es beginnen die Revolu¬
tionen.
Hand in Hand damit geht, daß der Mensch nicht mehr ganz der Tra¬
dition verschrieben ist, wie groß auch der Teil seines Lebens sei, der noch
von ihr beeinflußt ist. Er muß nun selbst, ob er will oder nicht, unter
den überschüssigen Möglichkeiten wählen. Vergessen wir unter diesen
nicht die intellektuellen! Da die Völker sich aufsuchen, da sie reisen und
sich ins Exotische versenken, hat man verschiedene Arten kennengelernt.
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JOSe ORTEGA Y GASSET
die Dinge zu sehen, modi res considerandi. Statt an ein einziges und
fragloses Repertorium von Meinungen - das ist die Tradition - gebunden
zu sein, steht der Mensch vor einer großen Auswahl und ist gezwungen,
von sich aus die Ansicht auszuwählen, die ihm am meisten einleuchtet.
Die Möglichkeit und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, die Auf¬
fassung zu wählen, die man von etwas hat, ist das Erlebnis, auf dem das
beruht, was wir „Vernunft“ nennen. Und zwar so, daß wir, ohne daß es
vielleicht der Leser bemerkt hat, diese Situation mit denselben Worten
beschreiben konnten, mit denen einst Aristoteles die Wissenschaft de¬
finierte:
„Die Wissenschaft ist die überzeugendste Mutmaßung.“
Sieht man damit klar, was „Lebensreichtum“ bedeutet? Die Existenz
des Menschen und die Welt, in der sie verläuft, sind gewaltig angewach¬
sen, haben sich über und über mit Inhalten angefüllt. Zum erstenmal
in dieser Zivilisation fühlt der Mensch, daß das Leben die Mühe lohnt,
gelebt zu werden. Das bringt aber einen Wandel in der Haltung gegen¬
über der Religion mit sich. Die Religion ist immer Transzendenz, auch im
Falle einer sehr wenig transzendenten wie der griechischen. Die Götter
sind ultra- oder überweltliche Mächte. Bei dem armen Leben bedarf der
Mensch Gottes in dem Maße, wie er aus Gott lebt. Jede Handlung, jeder
Augenblick seiner Existenz ist auf die Gottheit bezogen, mit ihr verbun¬
den. Selbst die Geräte, mit denen er lebt, sind so unbeholfen, so wenig
wirksam an sich, und als bloße Sachen so weltlich, daß der Mensch wenig
Vertrauen in ihre Hilfe hat und nur der Kraft vertraut, die ihnen der
Gott mittels eines magischen Ritus einflößt. Das heißt, daß sich das Le¬
ben selbst und diese armselige Welt kaum zwischen den Menschen und
Gott einschaltet. Aber wenn das Leben anschwillt und die Welt sich be¬
reichert, so schiebt sich das Weltliche mit wachsendem Gewicht zwischen
den Menschen und Gott und trennt sie. Man bejaht diese Welt und das
Leben in ihr als etwas an sich Wertvolles. Irreligiosität ist das Ergebnis.
Wie die obengenannten Gründe den Menschen von der Tradition los¬
lösen, so bringt ihn diese Beschäftigung mit dem weltlichen Leben von
der Religion ab. Das führt letzten Endes dazu, daß bei dem reichen Le¬
ben der Mensch nirgends mehr Wurzeln hat, daß er in der Luft hängt.
Er schwebt im luftigen Element seiner wachsenden Möglichkeiten. Das
ist die unvermeidliche Folge: die Stellung und die Sicherheit, die für die
Existenz des Menschen lebensnotwendig sind, werden ihm nicht mehr
ohne weiteres und ohne eigenes Dazutun dadurch gegeben, daß er von
Geburt an mit der unbestrittenen Tradition verhaftet ist, sondern der
Mensch selbst muß sich mit vollem Bewußtsein eine Grundlage schaffen,
einen festen Boden, auf den er sich stützen kann. Es bleibt ihm also nichts
90
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
anderes übrig, als sich mit dem flüssigen, ätherischen Material, das die
Möglichkeiten sind, selbst eine Welt und ein Leben aufzubauen. Das
heißt aber, das einfache Existieren zu „rationalisieren“, statt spontan,
auf gut Glück und ohne viel Umstände zu existieren.
Als ich weiter oben sagte, in den „Epochen der Freiheit“ lebe der
Mensch aus einem Gefühl des nie zu befriedigenden Lebensanspruchs und
des existentiellen Übergewichts heraus, so war darin nicht das Attribut der
Sicherheit enthalten. Das menschliche Leben ist immer Unsicherheit; sie ist
in jeder Lebensgleichung enthalten, wenn sie auch in jeder ein verschiede¬
nes Gesicht annimmt. Die Unsicherheit des Reichen ist eine andere als die
des Armen. So ist die Unsicherheit des „freien“ und übermächtigen Men¬
schen recht seltsam: vor lauter Vieltunkönnen weiß er nicht, was er tun soll,
er hat den Eindruck, daß er sich in bloßen Möglichkeiten verliert und
verflüchtigt. Ein konkretes Beispiel dieses Gefühls des Sichverlierens und
des Schiffbruches im Überfluß (schon das Wort „Über-fluß“ bewahrt das
lebendige Bild eines Flusses, der uns überschwemmt und mitreißt) " er¬
gibt sich in der Ordnung des Denkens, das heißt, der Meinungen, die
für diese Epochen recht bezeichnend ist: es ist der Zweifel. Der Zweifel
ist nicht einfach ein Nichtglauben. Wer gar keine Meinung über eine
Angelegenheit hat, weiß nichts, aber er zweifelt nicht. Der Zweifel setzt
voraus, daß uns mehrere positive Meinungen vorliegen, von denen es
jede verdienen würde geglaubt zu werden, aber die gerade deshalb
wechselseitig ihre Überzeugungskraft paralysieren. Der Mensch steht
zwischen den verschiedenen Meinungen, ohne eine davon unter den Fü¬
ßen zu haben, die ihn hielte - deshalb schlüpft er zwischen den vielen
möglichen „Wissen“ durch und fällt, fällt in sein unsolides, flüssiges
Element ... fällt in ein Meer von Zweifeln. Der Zweifel ist das Schwan¬
ken des Urteils, das heißt, ein verzweifeltes Umsichschlagen in den Wel¬
len Deshalb ist der Zweifel ein „Geisteszustand“, der kein Zustand ist,
der nicht beständig ist. Der Mensch kann nicht darin verweilen. Er muß
heraus aus dem Zweifel, und dazu sucht er ein Mittel. Das Mittel, das
uns aus dem Zweifel heraushilft und uns in die feste Überzeugung ver¬
setzt, ist die Methode. Jede Methode ist die Reaktion auf einen Zweifel.
Jeder Zweifel ist die Forderung nach einer Methode. Die beiden Dinge
mit der größten Einfachheit vereinigt zu haben, ist das wunderbare B^ei-
spiel geistiger Klarheit und Eleganz, das uns Descartes gab, als er den
„methodischen Zweifel“ erfand.
Welchen Sinn kann der Satz des Thaies haben: „alles ist voll von Göt-
tern“? Da in jeder Aussage einer einem andern etwas sagt, hat der binn
eines Textes zwei Dimensionen. Die eine besteht in dem, was der Text zu
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JOSfi ORTEGA Y GASSET
sagen scheint. Die andere besteht in der Tatsache, daß ein bestimmter
Mensch das, was er sagt, einem bestimmten anderen Menschen oder einer
Menschengruppe sagt. Erst die Vereinigung der beiden Dimensionen gibt
dem Text einen konkreten Sinn.
Versuchen wir, Thaies’ Worte im rein wörtlichen Sinne zu verstehen.
Das würde bedeuten, daß es ebensoviele Götter wie Dinge und Ereignisse
gibt, und daraus ergäbe sich, daß man zwischen Dingen und Göttern nicht
unterscheiden dürfte oder, noch genauer, daß es keine Dinge gibt, son¬
dern nur Götter. Die Götter und die Dinge können sich nidit gegenseitig
durchdringen, und wenn alles voll von Göttern ist, so muß es von Dingen
leer sein.
Es ist also nicht möglich, daß Thaies hier das Wort Götter in seiner
normalen und direkten Bedeutung gebraucht - der Bedeutung, die es in
der religiösen Tradition inne hat -, sondern in einer indirekten, neuen
Bedeutung. Das primäre Attribut der Götter, die Götter sensu recto sind,
war es, das Außergewöhnliche gegenüber dem Gewöhnlichen darzustel¬
len, die privilegierte und ungewohnte Wirklichkeit gegenüber der all¬
täglichen und gewohnten. In gewissen Punkten und in gewissen Momen¬
ten der Wirklichkeit wirkte der Gott im Gegensatz zu der übrigen
Wirklichkeit, wo der Gott nicht erschien. Die älteste Einteilung, die der
Menschengeist getroffen hat, ist die zwischen dem Heiligen und dem Pro¬
fanen. Es schien auf der Welt gewisse außergewöhnliche, sozusagen ari¬
stokratische Tatsachen zu geben, in denen der Gott wirkte und ersdiien.
Welchen Sinn kann diese Demokratisierung, diese Universalisierung des
Göttlichen haben, wie sie uns der Satz des Thaies vorzuschlagen scheint?
Offenbar doch, daß die Götter nicht mehr so selten und außergewöhnlich
sind, sondern allgegenwärtig und alltäglich werden, das heißt, daß bei
Thaies das, was er Götter nennt, sein primäres Attribut verloren hat, daß
sie aufgehört haben, Götter im eigentlichen Sinn zu sein, und daß sie sich
in bloße Dinge verwandelt haben, oder besser gesagt, in etwas, das
jedem Ding innewohnt und das Prinzip seiner Wirklichkeit und seiner
Verhaltensweise ist. Die Götter sind zu Ursachen erniedrigt worden.
Die Äußerung eines geometrischen Lehrsatzes ist eine Aussage, die
sich an keinen bestimmten Menschen wendet, sondern an den Menschen
im allgemeinen, an das „vernünftige Wesen“, von dem Kant mit solcher
Begeisterung spricht. Diese Unbestimmtheit des Gesprächspartners äußert
sich darin, daß das in dem Lehrsatz Gesagte sich nicht auf eine mehr oder
weniger abweichende Meinung bezieht, der gegenüber sein Inhalt sich
behaupten wollte. Deshalb erweckt der Lehrsatz auch nie den Eindruck,
als sei er ein Stüde eines Dialogs. Nun hat aber der Satz des Thaies im
wesentlichen dialoghaften Charakter. Er berichtigt und verbessert eine
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STOCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE"
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STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
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JOSE ORTEGA Y GASSET
wundern muß, daß noch keine Studie darüber erschienen ist. Warum be¬
ginnt die Philosophie mit Schmähungen? Zwischen den Joniern und He-
raklit ist viel Zeit vergangen. Der Tod des Anaximenes, des letzten der
Jonier, dürfte in die Zeit der Geburt Heraklits fallen. Das heißt, daß
sich im Laufe des 5. Jahrhunderts ein neuer Menschentyp gebildet hatte:
der „Denker“. Dieses Wort ist unbestimmt, aber das ist gut so, denn
auch die Wirklichkeit, die es bezeichnet, war unbestimmt. Was der „Den¬
ker“ eigentlich sei, wird erst ein Jahrhundert später in der platonischen
Akademie festgelegt. Die Generation Heraklits und Parmenides’ findet
diese neue Menschengestalt von typischem Charakter und als Beruf schon
vor, wenn auch von einem etwas unklaren Schimmer umgeben. Die ersten,
die diese Beschäftigung - die Theorie - ausgeübt hatten, konnten sich
selbst noch nicht als Denker sehen, so wenig wie sich Julius Caesar als
Caesar sehen konnte. Ihre Tätigkeit war das konkrete Tun eines Indivi¬
duums. Es mußte erst eine ganze Reihe von Individuen diese Tätigkeit
ausüben, bis sie ihren individuellen Charakter verlor und zum Typus
wurde, einen Menschentyp formte und so etwas wie einen Beruf oder
ein Amt. Daher der veränderte Stil. Heraklit spricht trotz seiner hyper¬
trophischen Individualität wie ein Magistrat des Denkens. Wohl ver¬
standen, sie wenden sich noch nidit ans Volk, das von diesem neuen Men¬
schentyp noch gar nichts gehört hatte. Sie sprechen zu einer Minderheit,
zu kleinen Gruppen, die den eigenartigen geistigen Erzeugnissen der
Zeit ihre Aufmerksamkeit schenken - die Homer und Hesiod kommen¬
tieren, die sich über die orphischen Theologien unterrichten, die aber zu¬
letzt doch den traditionellen Auffassungen verhaftet bleiben. Diese Grup¬
pen stellen für Heraklit und Parmenides die Menge dar, und gegen sie
entladen die beiden einen großen Teil ihrer Schmähungen. Die Be¬
schimpfung der Menge ist gewissermaßen die dem „Denker“ eigene Ton¬
art, denn seine Mission, seine berufliche Aufgabe ist es, „eigene“ Ideen
zu besitzen, die der Doxa oder öffentlichen Meinung entgegengesetzt
sind. Um mit dieser übereinzustimmen, war dieses neue Amt nicht not¬
wendig. Daher rührt bei Heraklit und Parmenides das ganz klare Be¬
wußtsein, daß ihre Auffassung, da sie im Gegensatz zur Doxa dachten,
dem Wesen nach paradox sei. Dieser paradoxe Wesenszug hat sich im
Verlaufe der ganzen philosophischen Entwicklung erhalten. Ähnlich
wird Arnos, der erste hebräische „Denker“, der ein Zeitgenosse von Tha¬
ies ist, darauf hinweisen, daß Gott, als er ihn in seinen Beruf ein¬
setzt, ihm den Auftrag gibt: „Prophezeie gegen dein Volk.“^'‘ Jeder
Prophet ist Prophet gegen und ebenso jeder „Denker“. An der Stelle
seiner Schriften, da Platon konkreter von jenen ersten „Denkern“ spricht,
unterstreicht er ganz ausdrücklich die paradoxe und daher abstruse Form
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STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
ihres Denkens, als er sagt: „Sie gehen über uns hinweg und verachten
allzusehr die einfachen Menschen, und ohne sich zu kümmern, ob wir
ihnen folgen können oder nicht, macht jeder von ihnen einfach seine
Aussage.“
Aber wenn zu Beginn des 5. Jahrhunderts der „Denker“ sich schon
seiner Eigenschaft als solcher bewußt ist und weiß, daß er eine wichtige
menschliche Tätigkeit ausübt, der eine bestimmte Mission übertragen
ist und die ein Amt darstellt, so hat sich seine berufliche Physiognomie
noch nicht genügend befestigt, so daß das Volk, das echte Volk, sie ge¬
wahr werden und ihr gegenüber eine Haltung einnehmen könnte. Daher
die unvergleichliche Freiheit, der sich die jonischen Physiologen ebenso
wie die ersten Philosophen erfreuen. Der „Denker“ ist noch keine soziale
Figur.
Die Sozialisierung des „Denkers“ findet im Laufe des 5. Jahrhunderts
statt. Aber bei der Behandlung dieses Themas macht sich sehr stark die
Entstellung bemerkbar, welche die Geschichte Griechenlands infolge der
Mangelhaftigkeit unserer Information erfährt. Es verhält sich ja so, daß
wir zwar über Athen sehr viele, aber über die übrigen Städte nur sehr
wenige Nachrichten haben. Selbst von Sparta wissen wir, trotz seiner
historischen Bedeutung, nicht genug, um uns seinen Alltag vorstellen zu
können. Aber auf Sparta könnten wir noch verzichten, wenn es, wie
jetzt, darum geht, sich klar zu machen, wie es sich mit den ersten Philo¬
sophen verhielt. Nicht verzichten können wir auf die anderen Städte,
denn dort und nicht in Athen wurden die „Denker“ in der ersten Hälfte
des 5. Jahrhunderts geboren und dort lebten sie. Dort und nicht in Athen
bildete sich dieser neue Menschentyp heraus. Wie war das Verhältnis
zwischen ihm und der Stadt, wo er wohnte? Davon können wir uns kein
Bild machen. Wir haben nur einigen Grund zu vermuten, daß es recht
verschieden war von dem Bild, wie es vom 4. Jahrhundert an das Ver¬
hältnis des „Denkers“ zu Athen bot. Anders läßt sich bei aller Spärlich¬
keit unserer Daten die Tatsache nicht erklären, daß der größte Teil
dieser Daten uns den Philosophen zeigt, wie er von einer Stadt in die
andere zieht oder in politische Kämpfe eingreift. Ganz im Gegensatz da¬
zu steht die Tatsache, daß ab 400 die Philosophen überwiegend in Athen
verweilen.
So entziehen sich also 60 Jahre unserem Blick, und zwar gerade die
Zeit, in der sich die soziale Figur des „Denkers“ herausbildete. Diese
Dunkelheit erklärt sich dadurch, daß Athen, die einzige durch das Licht
der Berichterstattung begünstigte Stadt, im Verhältnis zur Peripherie
der griechischen Welt und in bezug auf das „Denken zeitlich im Rück¬
stand ist. Seit anderthalb Jahrhunderten brachte das „Denken“ neue
97
JOSe ORTEGA Y GASSET
Lehren hervor, und noch hatten die Athener die Erfahrung des „Den¬
kers“ nicht gemacht. Dazu mußte erst Perikies mit dem Snobismus des
guten Aristokraten um das Jahr 460 Anaxagoras kommen lassen. Kurze
Zeit darauf, um 440, hellt sich unsere Sicht schon vollkommen auf, und
vor uns erscheint der „Denker“ als soziale Figur, das heißt, als ein neuer
Menschentyp, den der Demos sieht und anerkennt. Damit ist noch nicht
gesagt, daß diese Sicht richtig war. Das konnte sie nicht sein.
Es war eine überaus enttäuschende Erfahrung, die damals einem
„Volk“ wie dem Athens beschieden war, das, tief reaktionär, den tra¬
ditionellen Glaubensgewißheiten fest verschrieben war. Da der „gei¬
stige“ Rückstand, in dem es sich befand, mit seinem politischen Triumph
über Griechenland und mit dem plötzlichen und märchenhaften Anwach¬
sen seines Reichtums zusammenfiel, so kam es, daß alles, was im übrigen
Hellas in anderthalb Jahrhunderten herangereift war, auf einmal über
die Plätze und Säulenhallen Athens hereinbrach. Zum erstenmal werden
plötzlich dem Publikum von Athen, neben der traditionellen Dichtung
lind Mythologie, neue Geisteserzeugnisse in gewaltigem Überfluß und
vor allem in bunter Vielfalt geboten. Da sind die Sophisten, die aus dem
Osten kommen, die stilisierte Reden halten, die ihre „Gedankenschätze“
auskramen (Aristophanes), die die neue jonische, pythagoreische, elea-
tische Wissenschaft erklären, die - ein großartiges Schauspiel - aus ihren
Kisten die Modelle der geometrischen Körper, der aus Ringen zusam¬
mengesetzten Kugeln hervorholen, die die Eklipsen durch ganz einfache
Tatsachen ohne jedes Geheimnis erklären. Inzwischen erzählt der „So¬
phist“ Herodot exotische Geschichten, beschreibt andere Länder und
andere Völker und was sich bei ihnen zugetragen hat und was den
Griechen bei ihnen geschehen ist. Eine Lawine von Para-doxa geht über
Athen nieder. Man hört die fürchterliche Blasphemie, die Gestirne seien
keine Götter, sondern glühende Metallkugeln, zum Beispiel die Sonne,
von der Anaxagoras sagt, sie sei größer als der Peloponnes
Hier sehen wir zum erstenmal, wie der „Denker“ dem Volke gegen¬
übersteht. Es war unvermeidlich, daß sich die Leute in jenem Chaos von
Neuheiten nicht zurechtfanden und die verschiedenen Formen der Be¬
tätigung, die sie repräsentierten, nicht auseinanderhalten konnten. Selbst
auserlesene Gruppen wie die der Dichter vermochten nicht klar zu sehen,
worum es sich in jedem Falle handelte. Die soziale Figur des „Denkers“
erscheint in dieser ersten Stunde, wie es nicht anders sein kann, mit
einem unklaren Profil. Nur so läßt sich die extravagante Physiognomie
erklären, die Aristophanes in den „Wolken“ Sokrates zuweist. Selten haben
die Philologen bei einem Problem so wenig Scharfsinn bewiesen wie hier.
Bei seiner Lösung darf man nicht von der Annahme ausgehen, Aristo-
98
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
phanes wisse wohl, wer und was Sokrates sei, aber die komische Muse
zwinge ihn, das, was er vor sich habe, zu entstellen. Es ist rührend zu
sehen, was für eine Mühe sich die Philologen machen, um den Dichter
wegen dieser Entstellung zu entschuldigen, als ob es einen Sinn hätte
zu erwarten, daß uns in den Wolken überhaupt ein Bild des Philosophen
gegeben werden könnte, das mit der Wirklichkeit übereinstimmte. In
diesem Fall erübrigt es sich, von einer besonderen Entstellung zu reden,
denn diese versteht sich von selbst. Jede Entstellung läßt erkennen, in
welcher Richtung sie vor sich ging, und wie die Ausgangsform war, die
sie übertreibt und verwirrt. In den Wolken läßt sich mit vollkommener
Klarheit feststellen, welches diese Form war, und man merkt, daß es
nicht die des Individuums Sokrates war, sondern eine verworrene Figur,
nämlich das Bild, das sich damals Aristophanes und die meisten Athener
von dem „Denker“ machten. Man beachte, daß der hervorspringendste
Zug dieser Karikatur gerade am wenigsten mit dem tatsächlichen Sokra¬
tes zu tun hat, nämlich die Beschäftigung mit der „Meteorologie“, mit
den Dingen, die in der Höhe erscheinen.
Daß ein gewisser Menschentyp zur sozialen Figur wird und daß die
Gesellschaft auf ihn reagiert, ist ein und dasselbe. In der Tat: kaum
kommt der erste Philosoph - Anaxagoras - nach Athen, so beginnt
gleich das Volk mit einem Gefühl der Besorgnis zu reagieren, wie es bis
dahin unbekannt war. Die Griechen besitzen in ihrer Sprache ein Wort,
um die menschlichen Verhaltensweisen zu bezeichnen, die in ihnen diese
Besorgnis erweckten: sie nannten sie Jisgiwög. Aristoteles berichtet uns
ausdrücklich, daß die Menge Männer wie Anaxagoras und Thaies ta¬
delte, weil sie sich mit Jisgivvä befaßten Das Wort ist nicht leicht zu
übersetzen, weil sich in ihm so viele Bedeutungen widerspiegeln. Einer¬
seits bedeutet es außerordentliche Handlung oder Leistung und hat lo¬
benden Charakter, aber andrerseits bedeutet es ein übertriebenes, ver¬
messenes, ungehöriges Benehmen, besonders in religiösem Sinn, also
etwas Frevelhaftes. Pedro Simon Abril, ein spanischer Humanist des
16. Jahrhunderts, übersetzt in seiner Version der Ethik nsgivtd in die¬
sem Zusammenhang mit lo que es demasiado saber (das Zuvielwissen).
Das scheint mir die zutreffendste Übersetzung'®.
Sobald das Volk die Figur des „Denkers“ gewahr wird, ändert sich
dessen Situation von Grund auf, da die allgemeine Reaktion ihm gegen¬
über negativ ist und ihm nichts anderes übrigbleibt, als bei seinem Wir¬
ken mit gewissen Verteidigungsmaßnahmen zu rechnen. Im athenischen
Volk war die religiöse Haltung recht lebendig geblieben, und dazu ge¬
hört auch die Überzeugung, daß es auf der Welt Geheimnisse gibt, die
der Mensch unbedingt respektieren muß, denn sie zu wissen ist ein Vor-
99
JOSe ORTEGA Y GASSET
recht der Götter. Sie zu erforschen versuchen und nicht an die Götter
glauben, war für den normalen Athener ein und dasselbe. Was am Him¬
mel vor sich geht, ist göttlich, und folglich mußte die „Meteorologie“, die
in das Geheimnis seines Ursprungs, seiner Beschaffenheit und seines Ver¬
haltens einzudringen sucht, eine blasphemische Beschäftigung sein. Der
Zorn des Demos konnte nicht lange auf sich warten lassen. Im letzten
Drittel des 5. Jahrhunderts wurden die drei Philosophen, die in Athen
besonders hervorgetreten waren - Anaxagoras, Protagoras und Sokrates -
entweder vertrieben oder, wie letzterer, „liquidiert“.
In der Reaktion des athenischen Volkes sehen wir die makroskopische
Bestätigung des Atheismus, welcher der neuen Tätigkeit, wie sie die
Jonier aufgebracht hatten, zugrunde lag. In diesem ersten Augenblick
erscheinen uns also beide Lebensformen als gegensätzlich und unvereinbar.
Diese neue und schwierige Situation des „Denkers“ im Hinblick auf
die Öffentlichkeit gab den Anlaß zu der Bezeichnung „Philosophie“, die
so seltsam, so gekünstelt und so wenig ausdrucksvoll ist. Es ist nämlich
interessant zu beobachten, wie die „Denker“ schon sehr früh anfingen,
sich Gedanken zu machen, wie sie sich und ihre Beschäftigung nennen
sollten. Platon zeigt uns Protagoras, wie sich dieser eineinhalb Seiten
lang mit diesem Thema befaßt. Dort sehen wir, daß das Wort „Sophist“
schon sehr alt war und für Dichter, Musiker und Seher gebraucht wurde;
da es aber in Mißkredit gefallen war und die Feindseligkeit der Leute
erweckte, bemühte man sich, es zu vermeiden und durdi andere Wörter
zu ersetzen. Platon will uns glauben machen, dies gelte nur für das Wort
„Sophist“, so wie er es verstand, aber für die Leute bedeutete es die un¬
klare Gesamtheit all derer, die dieselben Ansichten vertraten. Das Wich¬
tige für uns ist, daß Platon uns hier die Situation des „Denkers“ an¬
gesichts der öffentlichen Meinung als gefährlich darstellt.
Der „Denker“ muß die Tätigkeit, der er sich widmet, verheimlichen
und vermeiden, daß sie schon durch die Bezeichnung geoffenbart wird.
So ist er genötigt, es mit Tarnungen und Vorsiditsmaßnahmen zu ver¬
suchen - nQÖox'r]pha noislO'&ai nal TCQOxaXvntsXod'ai, evAaßeiav^^. Wieder¬
holt spielt Platon auf die Feindseligkeit an, welcher der Philosoph in
seiner sozialen Umgebung begegnet, und noch am Ende seines Lebens,
in den Gesetzen - 821 A - hält er es für notwendig, dagegen zu protestie¬
ren, daß die wissenschaftlichen Forschungen, besonders aber die astrono¬
mischen und philosophischen, als gottlos angesehen werden - ovx öoiov.
Diese Einstellung der Öffentlichkeit war so hartnäckig, daß sich noch
Alexander von Aphrodisias förmlich damit befaßt, daß man die GO(poi
als JieQivvovg bezeichnet^®.
Es ist seltsam, daß man in jener ersten Epoche des „Denkens“ denen,
100
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STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
die sich damit befaßten, nie den Namen oocpoi gab und daß diese ihn für
sich selbst auch nicht in Anspruch nahmen. Das Wort ist uralt. Es hat
eine indogermanische Wurzel, und das lateinische sapiens entspricht ihm
ganz genau. Bei den primitiveren Völkern gibt es homologe Ausdrücke,
die das Amt bezeichnen, das wohl das älteste in der Menschheit war, und
zwar war dies der Mann, meist hohen Alters, der die Speisen zu kosten
hatte um zu entscheiden, welche für den Stamm gut und welche schädlich
waren, der also vor allem die Pflanzen kostete und sich darin geübt hatte,
den Geschmack - sapor - zu unterscheiden. Die Pflanzen haben einen Ge¬
schmack, sapor, dank ihres Saftes sind sie schmackhaft, sapientcs. Vom
Objekt geht die Bedeutung des Wortes auf das Subjekt über: „im Ge-
schmadc erfahrener“ Kenner - der sapiens, der ooq)ög. Das mußte auch
die ursprüngliche Bedeutung von Sisyphos sein. Aber diese Bedeutung
erweiterte sich, bis sie alle Dimensionen des menschlichen Lebens um¬
faßte, unter anderem alles Technische, sie bezog sich aber immer auf eine
Art des Wissens, die nicht theoretisch war, denn das gab es noch nicht.
Der „Kenner“ weiß über gewisse Dinge Bescheid, nicht weil er allgemeine
Ideen (Theorie) darüber hat, sondern weil er in einem beständigen kon¬
kreten Umgang mit ihnen lebt, sie zugleich in ihrer Einmaligkeit und
in ihrer unerschöpflichen Vielfalt und Besonderheit gegenwärtig hat.
So der „Kenner“ von Porzellan oder von „Altertümern“. Es ist ein em¬
pirisches Wissen, das kaum übertragbar ist. Nun ist aber von all diesen
Dingen, in denen man ein Kenner sein kann, das wichtigste das mensch¬
liche Leben selbst, sowohl das persönliche wie das kollektive. Den In¬
halt dieses Wissens von der Struktur des menschlichen Lebens und seinen
Wechselfällen nannte man sapientia, Weisheit, und das ist es, was man
in den „Büchern der Weisheit“ findet. So nimmt das alte Wort oo(fog
bald einen genaueren Sinn an, indem es die sieben Weisen bezeichnet,
die sämtlich Staatsmänner waren. Das beste Beispiel dafür, was ihre
Weisheit war, sind die Elegien Solons. Man vergleiche einmal, was uns
diese geben, mit den Fragmenten der „Physiologen“ oder der Proto-Phi-
losophen Parmenides und Heraklit. Solon befaßt sich nur mit dem mensch¬
lichen Leben und theorisiert nicht. Seine Lehre von den sieben Lebens¬
altern ist ein Ausfluß seiner Lebenserfahrung.
Die Idee der sieben Weisen, ihre Aussprüche und ihre Legende wurden
in Griechenland so volkstümlich, daß das Wort aoqpög nicht mehr geeignet
war, die neuen „Denker“ zu bezeichnen. Man mußte es mit einem neueren
Wort versuchen, das weniger gewichtig und bescheidener in seiner Be¬
deutung war: ao(piatni ■ Während oog^ög direkt den Menschen in seiner
Person als Weisen benennt, bezeichnet oo(piotng den Menschen aut
Grund seiner Beschäftigung mit der Dichtkunst, der Musik, der Kunst
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JOSE ORTEGA Y GASSET
des Wahrsagens usw. Da sidhi inzwischen die Arbeit der „Denker“, nidit
nur der „Physiologen“ und Philosophen, sondern der Grammatiker, Rhe¬
toriker, Reisenden usw. zu einem Wissensstoff verdichtet hatte, den zu
erwerben eine Lehre und infolgedessen Unterricht erforderlich war, schien
das Wort „Sophist“ sehr geeignet, um die neue Generation von Menschen
zu bezeichnen, die um 450 von Berufs wegen eine neue Tätigkeit aus¬
üben: das Lehramt der neuen Ideen. In dem Wort wird nicht präzi¬
siert, um welche oocpia es sich handelte; die Bedeutung beruht auf der
Tatsache der Beschäftigung mit dem Wissen und seiner Übermittlung.
Aber dies fällt, wie wir schon gesagt haben, zeitlich damit zusammen,
daß der „Denker“ zu einer sozialen Figur wird und daß die Gesellschaft
feindlich auf ihn reagiert. So bekommt die neue Bezeichnung schnell einen
abschätzigen Sinn und konnte sich nicht als Benennung des „Denkers“
halten.
Damit sind wir am Beginn des 4. Jahrhunderts angelangt. Platon be¬
gründet seine Schule neben dem Gymnasium der Akademie. Eine Schule
für was? Zehn Jahre nach Sokrates’ Tod hatte sich die Stellung des
„Denkers“ in der Öffentlichkeit ein wenig gebessert, weil schon zwei Ge¬
nerationen von Athenern - freilich nur gewisse Gruppen, die der Ober¬
schicht angehörten - die neue Erziehung oder Paideia erhalten hatten.
Trotzdem war die Feindseligkeit des Demos noch nicht verschwunden.
Vielmehr hatten sich die „Denker“ daran gewöhnt, mit dieser Feind¬
seligkeit zu rechnen. Sie wirken nicht mehr mit der vertrauensvollen Sorg¬
losigkeit, wie sie für ihre Vorgänger im 6. und in der ersten Hälfte des
5. Jahrhunderts bezeichnend gewesen war. Der Stil des „Denkens“ be¬
ginnt sich jetzt zu verschleiern, er verliert an Unmittelbarkeit, deckt sich
mehr oder weniger durch Vorbehalte, um den religiösen Glauben der
Menge nicht zu reizen. Diese hatte auf die „Denker“ mit Verärgerung
reagiert, nicht nur weil sie Atheisten waren, sondern weil sie in ihrem
Auftreten anmaßend und unverschämt wirkten. Welchen Namen wird
ein Mann wie Platon, der in der sokratischen Ironie erzogen worden war,
für seine Tätigkeit und seine Botschaft wählen? Das Problem wurde noch
komplizierter, weil der Augenblick gekommen war, um der Verwirrung
entgegenzuwirken, in der sich die so verschiedenen geistigen Tätigkeiten
dem Volk von Athen darboten. Dadurch wurde die Notwendigkeit noch
dringlicher, sich mit einem Namen zu wappnen, der gegenüber der öffent¬
lichen Meinung defensiv und gleichzeitig gegenüber den anderen Formen
des „Denkens“ offensiv wirkte. Wir sprechen ja von dem Volke, das viel¬
leicht mehr als jedes andere und mit größerer Genauigkeit die Worte
erlebt hat.
Seit etwas mehr als einem Jahrhundert gab es im Griechischen ein
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STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
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JOSfi ORTEGA Y GASSET
deren Existenz um das Jahr 500 datiert werden kann. Nach diesen Prä¬
liminarien wollen wir nun sehen, wie das Substantiv „Philosophie“ auf¬
taucht, denn darauf kommt es uns an.
Wer sich all die positiven und negativen Daten, die in Frage kommen,
vor Augen hält, wird zugeben, daß es nicht allzu gewagt ist, die Er¬
scheinung des Wortes „Philosophie“ als eines neuen, gefälligen Aus¬
drucks, dessen sich die Gruppen der „Gebildeten“ um Perikies bedienen,
in die Zeit um 440 zu legen. Zwanzig Jahre vorher war Anaxagoras
nach Athen gekommen, wo damals die neue Gattung des „Denkers“ noch
unbekannt war. Sowohl dies wie das zurückgezogene Leben, das man
Anaxagoras zuschreibt, waren die Ursache, daß die Auswirkungen seiner
Anwesenheit in der Stadt erst so spät sich geltend machten oder wenig¬
stens sichtbar wurden. In diesen Jahren gelang es ihm nicht mehr als
einen Schüler zu gewinnen, Archelaos, den ersten athenischen Philosophen,
dessen Schüler dann Sokrates wurde. Inzwischen war aber die Generation,
die fünfzehn Jahre nach Perikies geboren war, von den neuen Ideen in¬
fiziert worden und war begeistert von den Lebensformen, welche die
„Denker“ der hellenischen Peripherie eingeführt hatten. So kommt es,
daß Männer wie Zenon und vielleicht Parmenides, Prodikos und Prota-
goras Athen aufsuchen und, wenn auch nur vorübergehend, in den geistig
verfeinerten Kreisen auftreten. In diesem Milieu wurde sicher schon das
Wort „Philosophie“ gebraucht, um die Beschäftigung mit all den neuen
Disziplinen, von der Naturphilosophie bis zur Rhetorik, zu bezeichnen.
Die Medizin befand sich daneben in einer besonderen Lage.
Jedes Wort einer Sprache ist ein Brauch, der sich innerhalb eines Teils
der Gesellschaft herausbildet, um sich dann auf die Gesamtheit auszu¬
dehnen. Wenn es sich um eine sehr spezialisierte soziale Gruppe handelt,
so ergibt es sich, daß einige der Wörter, die in ihr gebraucht werden, sich
von Wörtern der normalen Sprache in Termini verwandeln. Die Sprache
ist etwas ganz anderes als eine Terminologie. Der Terminus ist ein Wort,
dessen Bedeutung durch eine vorhergehende Definition festgelegt ist und
das man nur versteht, wenn man diese kennt. Deshalb ist seine Bedeu-
tung präzis. Das Wort der gewöhnlichen Sprache dagegen übermittelt
uns seine Bedeutung ohne vorherige Definition. Deshalb ist es immer un¬
präzis. Das Wort „Philosophie“ entsteht nun nicht als Terminus, sondern
als ganz normales Wort der Gemeinsprache, und auch als solches hat es
noch ein überaus schwankendes Profil. Seine Verwandlung in einen Ter¬
minus kann die Geschichte des geistigen Lebens in Athen während des
folgenden Halbjahrhunderts symbolisieren.
Diese Verwandlung findet bei Platon statt. Sein ganzes Werk ist die
mutige Bemühung, dem Wort „Philosophie“ einen fest umrissenen Sinn
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STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
ZU geben. Aber die Tatsache, daß er schon in seinen ersten Schriften von
diesem Wort so eingenommen scheint, also noch bevor er selbst die ge¬
naue Idee von einer Disziplin hatte, auf die er später das Wort bezog,
beweist, daß er seine Vorliebe für dieses Wort von Sokrates geerbt hatte.
Bei Sokrates wurde die Notwendigkeit, eine Bezeichnung zu finden, die
seine Tätigkeit schützen sollte, zu einer Frage, die immer dringlicher
wurde und sich immer mehr zuspitzte. Er war der erste Bürger Athens,
der sich in aller öffentlidikeit mit den neuen Ideen befaßte, sei es, um
sie darzulegen, sei es, um sie zu kritisieren. Nachdem Anaxagoras und
Protagoras vertrieben worden waren, mußte er sich durchaus im klaren
sein, daß seine Tätigkeit recht gefährlich war. Andrerseits war ihm mehr
als allen andern daran gelegen, sich in der Meinung der Leute von den
Naturalisten und den Rhetorikern zu differenzieren. Es mußte ihm zu¬
wider sein, wenn er hörte, daß man ihn wie jene als Sophisten bezeich-
nete. Sogar nadi fünfzig Jahren nennt ihn noch Isokrates so. War nicht
„Philosophie“ das ideale Wort für seine Lage? Es war eine angenehme,
unklar profilierte Bezeichnung, die nichts Verletzendes an sich hatte und
den Wunsdi zu erkennen gab, nicht anmaßend zu erscheinen. Aber ge¬
rade für seine Botsdiaft konnte man diesem Wort neue Bedeutung geben,
indem man einfach die Zusammensetzung auflöste, das heißt, indem man
seine Etymologie unterstrich. Wer in einer Sprache für etwas Neues eine
Bezeichnung sucht, wird immer den Vokabeln auf eine anomale V^eise
gegenüberstehen, und diese werden dann sich selbst entfremdet, gewis¬
sermaßen als wären sie Wörter einer fremden Sprache. Wenn wir sie
von diesem anomalen Gesichtswinkel aus betrachten, dann tritt wir
alle haben eine solche Erfahrung gemacht - die Etymologie aus dem
Wort heraus, als ob ein Skelett aus seinem Körper heraustrete. Nun war
die Botschaft des Sokrates über die Maßen paradox, denn gegenüber all
dem Wissen, mit dem man sich damals in Athen brüstete, war das
Wissen, das er zu besitzen vorgab, ein „Wissen, daß man nicht weiß ,
eine docta ignorantia. Es ist die förmliche Ablehnung, sich als oogpög an¬
zusehen und noch weniger als Lehrer des Wissens oder Sophist. Gerade
weil sein Wissen negativ ist, erfüllt es ihn mit Sehnsucht nach dem, was
ihm ermangelt. Bei der Zergliederung des Wortes mußte Sokrates sehen,
daß dies der genaueste Ausdruck dessen war, als was er angesehen wer¬
den wollte: als ein sidi um das Wissen Mühender, ein das Wissen Erseh¬
nender. Damit war nichts Positives getan, um zu klaren, welcher Art die
ootpia des Philosophen war, aber es umriß mit großer Genauigkeit seine
persönliche Haltung. In dieser zergliederten Form war das Wort nicht
mehr ein Wort der gewöhnlichen Sprache. Seine Etymologie definierte
es einwandfrei und verlieh ihm den hieratischen Charakter und die
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JOSfi ORTEGA Y GASSET
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STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
107
,IOSe ORTEGA Y GASSET
spricht. Es ist nicht möglich, daß es das Sein war, was die Menschen, die
den Glauben an die Götter verloren hatten und die sich nicht mit der
q)voig begnügten, zu suchen begannen. Vielleicht war das Sein etwas, was
die ursprüngliche Frage noch gar nicht meinte. Vielleicht war das Sein
schon Antwort. Wenn man sagt, die Philosophie sei eine Frage nach dem Sein,
so ist damit gemeint, daß sie sich bemüht, die wesentlichen Attribute des
Seins oder des Seienden zu entdecken. Aber damit ist gesagt, daß man
das Sein schon vor sich hat. Wie konnte man es schon vor sich haben?
Ist es nicht wahrscheinlicher, daß die Menschen, als sie das Fundament
ihres Lebens verloren hatten, sich nach etwas fragten, das gewisse Attri¬
bute haben mußte, die schon vorher da waren - eben solche, die das
Suchen rechtfertigten?
Anmerkungen
* Die Verschiedenheit der Auffassungen bezüglich der chronologischen Beziehung zwi¬
schen den beiden Leben interessiert hier nicht. Das Entscheidende — und Über¬
raschende — für uns ist, daß die Werke der beiden Philosophen zur gleidien Zeit,
etwa um 475, entstanden sind.
- Es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, daß das Gedicht einen Titel hatte, und
vollends, daß dieser Titel „Über die Natur“ gelautet habe, wie Sextus Empiricus,
wohl etwas konventionell, behauptet. Viel wahrscheinlicher ist, daß das Gedicht,
wenn überhaupt, Aletheia benannt war.
“ Ein schrecklicher Fehler bei denen, die, wie es bei den Menschen vorkommt, nur
eine elende Herde sind, die einen Hirten braucht (vgl. fr. 11).
* Vgl. die Fragmente 5, 14 und 15.
® Der Dionysoskult hat eine dunkle Vorgeschichte. Man weiß nicht recht, wann noch wie
dieser thrazisdie Gott sich an den ganz voneinander getrennt gelegenen Punkten
der hellenisdien Welt niederließ. Tatsache ist aber, daß er erst um 600 eine ge¬
schichtlich wirksame Kraft wurde.
•’ Bekanntlich gab es Aufzählungen von „Weisen“, dodi unterschieden sie sich in der
Zahl, und audi nur einige Namen sind identisch. Die Beschränkung auf die Zahl
„sieben“ erscheint zum erstenmal bei Platon.
~ Es ist bekannt, daß Platon die geschriebenen Gesetze ironisch gern als literarisdie
Gattung betrachtet.
Die Ausweitung infolge der Feldzüge Alexanders war mehr eine Sache des Staats
als des Volks.
” Man verstehe recht, was das heißt. Tatsächlich ist der Mensch, auch bei dieser Lebens¬
gleichung, gelegentlich in der Lage zu wählen, aber das kommt so selten vor, daß
er es nicht bemerkt und es nicht als eine besondere Funktion seines Lebens ansieht.
Damit man eine Art des Lebens gewahr werde, genügt es nicht, daß sie bereitwillig
dasteht, sondern sie muß sich häufig genug zeigen, um eine Masse zu bilden und
aufzufallen.
Überraschend ist die „Regelmäßigkeit“, wir könnten audi sagen Monotonie der Ge¬
schichte. Phönizien und Karthago lösen ihre Epoche der Pleonexie durch die Ent¬
deckung der Gruben in Spanien aus, Griechenland durch die der Gruben des Pontus,
Europa mit der Entdeckung der Grube an der afrikanischen Küste durch die Portu¬
giesen, die noch heute Elmina heißt (= die Grube).
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STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“
109
Paul Ricoeur
Jeder, der Geschichte der Philosophie lehrt oder sie auch nur als eine
philosophische Disziplin studiert, wird auf das Problem der philosophi¬
schen Bedeutung der Geschichte der Philosophie stoßen. Damit wird die
Frage gestellt: welchen Sinn hat das Tun eines Philosophie-Historikers?
Aber diese Frage betrifft auch den eigentlichen Philosophen, der auf
eigene Rechnung und auf eigene Gefahr sucht, ohne sich um die Ver¬
gangenheit zu kümmern: denn auch er weiß, daß die Philosophie nur
weiterbesteht, weil es Philosophen gibt, weil die Geschichte der Philoso¬
phie uns die Philosophen fortwährend vergegenwärtigt und uns selbst
in ihren Kreis einordnet. Selbst ein ganz autodidaktischer Philosoph kann
nicht ohne Sokrates, Platon, Descartes und Kant auskommen. Also hat
die Geschichte einen Sinn für das eigentliche Suchen nach Wahrheit.
Was heißt nun, daß die Philosophie nur durch eine Geschichte, welche
die Philosophen machen, besteht und weiterbestehen wird und uns nur
durch eine Geschichte, die uns die Philosophie-Historiker berichten, zu¬
gänglich wird? - Die Beantwortung dieser Frage will ich nicht systema¬
tisch, von einer dogmatischen These aus, zu geben suchen. Ich will lieber
auf dem Wege einer Reihe von Annäherungen vorgehen, wobei die auf
einer früheren Ebene erreichte Lösung dadurch korrigiert werden soll,
daß die Anfangsfrage noch einmal gestellt wird.
110
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG
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PAUL RICOEUR
112
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG
liebe, wenn ich so sagen darf, zu unterstellen. Die Philosophen aber, die
Geschichte der Philosophie als Geschichtsphilosophen schreiben, mißachten
nicht nur die entschiedenen und ursprünglichen Intentionen der großen
Philosophen, sondern lassen die Geschichte sich an ihnen vollziehen. Die
wirklich großen philosophischen Systeme der Geschichte sind von dem
gleichen Übel wie der minderwertige Eklektizismus befallen; sie lassen
die Geschichte mit dem letzten Geschichtsphilosophen aufhören.
Die Schwierigkeit bleibt also in ihrer ganzen Größe bestehen, der Riß
zwischen der Verpflichtung zu der einen Wahrheit und der Geschichte der
vielgestaltigen Philosophie ist zu groß.
II
Aber vielleicht sollte man die Gegensätzlichkeit noch auf eine andere
Weise zu begreifen suchen, um von dem tödlichen Dilemma zu einem
lebendigen Paradoxon zu kommen. Schreiten wir jetzt zu einer zweiten
Annäherung an die Schwierigkeit, indem wir tiefer in den Begriff Philo¬
sophiegeschichte eindringen - dann zu einer dritten, indem wir unsere
Idee von der Wahrheit methodisch genau korrigieren.
Die Geschichte der Philosophie ist tatsächlich nur dann eine Vorlesung
über den Skeptizismus, wenn man in ihr eine Reihe von veränderlichen Lö¬
sungen unveränderlicher Probleme sieht, jener, die man die „ewigen Pro¬
bleme'' nennt (Freiheit, Vernunft, ^Virklichkeit, Seele, Gott usw.). \Venn
die Probleme dieselben bleiben und die Lösungen sich ändern, so hat die
W^idersprüchlichkeit der Systeme das gemeinsame Maß eines identischen
Problems zur Voraussetzung. An diese erste Voraussetzung ist eine zweite
gebunden: die veränderlichen Lösungen feststehender Probleme sind
typische Antworten: Realismus, Idealismus, Materialismus, Spiritualismus.
Diese Interpretation der Philosophien als typische Antworten auf ano¬
nyme, abstrakte Probleme - die man immer weitergibt - muß nun aufs neue
untersucht werden. Wir müssen aber den Umwegüber eine Vorfrage neh¬
men: Was heißt, eine Philosophie verstehen'^
Ich will hier von Bemerkungen Brehiers ausgehen, die den ersten zwei
Kapiteln seines Buches „La philosophie et son passe“ entnommen sind,
vor allem dem Kapitel „La causalite en histoire de la philosophie . Es ist
bekannt daß Bröhier drei Schichten der Betrachtung des Philosophie-
Historikers unterscheidet: „die äußere Geschichte“ sieht in der Philosophie
nur eine kulturelle Tatsache, eine Gesamtheit verschiedener Darstellun-
gen, die von der Soziologie, der Psychologie, sogar von der Psychoanalyse
und der Wirtschaftslehre entwickelt werden. Von dmsem Gesichtspun t
aus ist die Philosophie nur eine soziale oder psychologische Wertung unter
113
PAUL RICOEUR
anderen. Die Bindung zwischen der Philosophie und den Philosophen wird
zugunsten des historischen Zusammenhangs gelockert. Philosophie ist nur
ein Symptom.
Dieser Gesichtspunkt ist berechtigt im Rahmen einer objektiven Unter¬
suchung der Gesellschaftsformen und der psychologischen Zusammenhänge.
Er ermangelt des Eigentlichen der philosophischen Zielsetzung; der Nicht¬
philosoph wird in der Geschichte der Philosophie immer nur eine Ge¬
schichte der Ideen, eine Soziologie der Erkenntnisse sehen. Nun aber ist
die Geschichte der Philosophie in gewisser Hinsicht eine philosophische
Aktivität (beim Revidieren unseres Wahrheitsbegriffs werden wir gleich
darauf zurückkommen).
Der zweiten Schicht gehört ,,die kritische Geschichte“ an. Sie kommt
der eigentlichen philosophischen Zielsetzung schon näher: sie sucht nach
den Quellen. Man beachte: nicht die Ursachen, sondern die Quellen, das
heißt: die Einflüsse, die gewirkt haben und denen man in einem gewissen
Grade sogar freiwillig unterlegen ist. Diese kritische Geschichtsforschung
aber, die es immer geben muß und die den wissenschaftlichen Teil der
Arbeit eines Philosophie-Historikers ausmacht, kann sich nicht selbst ge¬
nügen; denn solange man nach dem Ursprung dieser oder jener Theorie
sucht, wird man ein System zerstückeln und die einzelnen Elemente der
Vergangenheit zuschreiben. Man gibt die Einheit der philosophischen Ab¬
sicht zugunsten der Vielfalt der Quellen auf. Je mehr man durch die Quel¬
len erklären will, um so weniger wird man das System verstehen. (Im
Grenzfall gäbe es gar keine Philosophie mehr, da jedes System diesem
gleichen Prozeß der Zergliederung unterzogen werden müßte und dabei
nur Gedankenfäden übrigblieben, die sich verknüpften und wieder lösen
würden, ohne daß je etwas Neues gechaffen würde.) Wie gesagt, diese
kritische Geschichte kann sich nicht selbst genügen, denn sie kann nicht die
organische Einheit erfassen, das ordnende Prinzip, das den Zusammen¬
hang einer Philosophie ausmacht. Der wahre Historiker vertraut seinem
Philosophen und versucht stets, die Einheit seines Denkens herauszustel¬
len. Verstehen heißt, die Einheit erfassen. Das Verstehen stellt also eine
zentripetale Bewegung der innersten Intuition einer zentrifugalen Bewe¬
gung des Erklärens durch Quellen gegenüber. Nach Brehier ist das Pro¬
blem der Geschichte der Philosophie das Problem der Verdichtung der
Einflüsse auf die „persönlichen Einsichten“, die gleichsam „das Absolute
der Geschichte der Philosophie“ sind. Wir müssen also in den verschiede¬
nen philosophischen Systemen die „unmittelbaren und ursprünglichen Er¬
kenntnisse“ suchen. Die Verwandtschaft dieser Ansicht mit der Bergsons
(in der Abhandlung „Philosophische Intuition“), ebenso mit der von Karl
Jaspers, den er mehrfach zitiert, ist offensichtlich.
114
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG
Sehen wir jetzt, nach welcher Richtung hin wir diese Ansichten ausbauen
können, um unsere am Anfang gestellte Aporie der Geschichte und der
Wahrheit umzugestalten. Vom Skeptizismus haben wir gesagt, daß er
erstens an die Rückführung der Philosophie auf typische Lösungen (die
berühmten Ismen der Handbücher . . .) gebunden sei, zweitens an die
Gegenüberstellung dieser typischen Lösungen und unveränderlichen Fra¬
gen. Betrachten wir nacheinander beide Punkte:
1. Es ist klar, daß das wirkliche Verstehen einer Philosophie - das
Verstehen der inneren Einheit, der zentralen Erkenntnis, der ursprüng¬
lichen Absicht jede Typologie überschreitet. Die Typologie bleibt im
Bereich des klassifizierenden Denkens; sie hat zweifellos eine pädago¬
gische Bedeutung, indem sie das Denken eines Anfängers in die Sphäre
der Probleme und der Lösungen einführt. Sie schafft eine Erwartung, die
in einem bestimmten Sinne nach dem Leitfaden einer mehr oder weniger
unpersönlichen, anonymen Weltanschauung ausgerichtet sein wird. Kurz¬
um, sie dient dazu, eine Philosophie auf den ersten Blick zu identifizieren,
sie einer bekannten Gruppe (dem Rationalismus, dem Empirismus usw.)
einzuordnen.
Das edite historische Verstehen beginnt aber genau da, wo diese Art
der Identifikation aufhört: man muß von einem rationalistischen, realisti¬
schen oder sonstigen Systemtyp auf eine einzige Philosophie übergehen.
Die Einheit einer Philosophie ist eine Einheit in der Person. Um mit
Spinoza zu sprechen, es ist kein genus commune, sondern eine essentia
singularis. Dieser Schritt vom Typus, von der Gattung zum individuellen
Wesen, ruft nun eine wahre Revolution auf dem Gebiete des Verstehens
hervor. Eben da, wo Platons Gedanken den Realismus und den Idealis¬
mus der üblidien Klassifikationen verlassen, wo Berkeley sie auf einem
anderen, nur ihm eigenen W^eg verläßt, nähern wir uns der individuellen
Eigenart einer Philosophie. Man meine jedoch nicht, daß die bedeutend¬
sten Philosophien über jede Klassifikation erhaben seien, fatalerweise
kommen sie selbst darauf zurück, da sie ein anonymes Gedankengut, das
ihnen überliefert wurde, aufnehmen und wiederholen, ohne es zu verar¬
beiten und ihrem Denken anzupassen. So war das Schema der drei Hypo¬
stasen für die ganze alexandrinische Schule eine Selbstverständlichkeit, eine
gemeinsame Methode, die Wesen zu klassifizieren, die man auch bei an¬
deren Neu-Platonikern als Plotin findet.
So ist jede Philosophie durch den Teil des anonymen Gutes, den sie
in sich trägt, der Typologie zugänglich. Man muß hinzufügen, daß das
polemische Verhältnis zu anderen Philosophien den Prozeß der Sklerose
beschleunigt, was der Typologie zum Verhängnis wird. Eine Philosophie
nimmt nicht nur das anonyme Gut auf, sondern bringt es auch hervor.
115
PAUL RICOEUR
116
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG
geht, so ist die Wahrheit einer großen Philosophie mehr als die Über¬
einstimmung der Antworten mit den Fragen, sie ist Entdeckung ihrer
eigenen Situation, die in der Frage problematisch gewesen war.
Bleiben wir bei diesem Stadium stehen: Wir haben einen Skeptizismus
erster Ordnung aufgehoben, den, der auf dem Vergleich der Lösungen
unter sich nach dem Maßstab der ewigen Probleme beruht. Dieser Skep¬
tizismus ist samt allen Voraussetzungen erledigt. Ist aber nicht ein an¬
derer, subtilerer an seinen Platz getreten.'^
Es gibt Philosophien, aber gibt es noch eine Geschichte der Philosophie.^
Wir haben eine diskontinuierliche Reihe einzelner Systeme vor uns. Um
von einem zum andern zu gelangen, müssen wir jeweils einen Sprung
machen. Bergson konnte von Spinoza sagen, daß er nicht eine Zeile von
dem geschrieben hätte, was er geschrieben hat, wenn er m einer anderen
Zeit gelebt hätte, daß es aber trotzdem den gleichen Spmozismus gäbe.
117
PAUL RICOEUR
den wir kennen. Und Brehier, der ihn zustimmend zitiert, hat die Nei¬
gung, aus jeder Philosophie eine Quintessenz zu ziehen: ,,Der Philosoph
hat wohl seine Geschichte, nicht aber die Philosophie“, sagt er. Es gibt nur
eine Geschichte, weil die früheren philosophischen Systeme einen Teil
des Gedächtnisses und der Situation eines neuen Philosophen ausmachen.
Jeder enthält gewissermaßen die Geschichte der Vergangenheit in sich,
in einem historischen Moment, das eine Art Absolutum ist.
Während die Geschichte als Reihe, als Entwicklung zunichte wird, geht
auch die Wahrheit dadurch, daß sie vervielfältigt wird, verloren. Wenn
man alle Philosophien zusammen betrachtet, sind sie nicht mehr wahr oder
falsch, sondern immer andere. Ihr Anderssein ist hier gleichsam jenseits
von Wahrsein und Falschsein. Ein großer Historiker der Philosophie -
Delbos - macht den Denker, den er darstellt, unverwundbar und un¬
widerlegbar, indem er von dessen Zentrum ausgeht oder sich wenigstens
auf dieses Zentrum hin bewegt: von jetzt an ist er. Kant ist. Spinoza ist.
Das, was wir eben behauptet haben, ist keine Theorie, sondern bezeichnet
genau den Charakter des wahren Historikers: für ihn ist der Übergang
von einem Philosophen zum andern eine fortschreitende Bemühung der
Sympathie, eine philosophische Erkenntnis, die eine Art von Stillstand,
eine btzo/j) der Wahrheit bewirkt.
Das anfängliche Dilemma der sich verändernden Geschichte und der
unveränderlichen Wahrheit erhält nun eine subtilere Form: zu der Ge¬
schichte tritt die neutrale Sympathie hinzu und zu dem Suchen nach
Wahrheit die Bindung, die das Risiko der ‘Täuschung einschließt. Wir
wissen genau, daß diese Gegenüberstellung der wirklichen Situation ent¬
spricht: wenn man einmal versucht hat, Spinoza in seiner ihm angemessenen
Art zu verstehen, wird man sich nicht mehr fragen, ob er wahr oder falsch
ist. Mit der Arbeit des Historikers sind wir gleichzeitig in den Kreis einer
hypothetischen Wahrheit gelangt, einer Wahrheit ohne Glauben. So
kann die Geschichte immer zu einer Art Alibi für das Suchen nach Wahr¬
heit werden. Man kann sich immer sehr gut hinter der Geschichte ver¬
bergen, um selbst nichts behaupten zu müssen. Umgekehrt steckt der
wahre Philosoph so tief in seiner eigenen Philosophie, daß er am Ende
unfähig wird, die anderen Philosophen zu lesen. Wir wissen, wie sehr
die großen Philosophen ihre Vorgänger und ihre Zeitgenossen mißver¬
standen haben. Manche lesen sogar von einem bestimmten Augenblidc
an die anderen gar nicht mehr und sind wie eingegraben in ihr System.
Je weiter ein Philosoph in seinem eigenen System fortschreitet, um so
blinder wird er für die Geschichte, um so unzugänglicher für andere. Die
Unvereinbarkeit des Philosophen, der Geschichtsphilosophie treibt, und
des systematischen Philosophen ist in einem gewissen Grad zugleich gro-
118
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG
tesk und tragisch ... Im extremen Fall strebt der „skeptische“ Historiker
nach nichts mehr, und der „dogmatische“ Philosoph hat nur noch Feinde
oder Schüler, aber keine Freunde.
III
Sind wir in eine neue Sackgasse geraten? Ich glaube nicht: Wenn
wir jetzt den anderen Teil der Antithese in Frage stellen, wird vielleicht
auch der erste Schritt nicht vergeblich gewesen sein.
Wir haben bisher die Idee der Wahrheit als eine Abstraktion, die zu¬
gleich zeitlos und unpersönlich ist, betrachtet. Das ist die Idee der Wahr¬
heit, wie sie sich bei einer ersten Annäherung zeigt, aber sie hat diesen
abstrakten Charakter nur, weil sie der Grenzbegriff ist als Korrelat einer
bestimmten Aufgabe; sie ist der Horizont, der abstrakte, zeitlose, unper¬
sönliche Endsinn einer konkreten, zeitlichen und persönlichen Aufgabe;
die Idee der Wahrheit behauptet sich nur durch die Verpflichtung zu
denken. Nunmehr ist der andere Teil der Gegenüberstellung mit der Ge-
schidite nicht mehr die Idee der Wahrheit, sondern mein persönliches
Suchen, und die Idee der Wahrheit ist der Horizont, das angestrebte
Korrelativ dieses Suchens.
Was heißt nun die Wahrheit suchen? Vielleicht erlaubt die Antwort
auf diese Frage, die Geschichte der Philosophie nicht mehr als Gegen¬
begriff zur Wahrheit aufzufassen, sondern als ihre Ergänzung, ihren be¬
vorzugten Weg. T 1 1 • • j-
Um es ganz einfach auszudrücken, die Suche nach Wahrheit ist selbst
zwisdien zwei Pole gespannt. Einerseits eine persönliche Situation, an¬
dererseits ein Suchen nach dem Sein. Einerseits habe ich etwas ganz Eige¬
nes zu finden, das zu entdecken ausschließlich mir auferlegt ist; wenn
meine Existenz einen Sinn hat, wenn sie nicht vergeblich ist, habe idi eine
Stellung im Sein, die eine Aufforderung ist, eine bestimmte, von keinem
anderen an meiner Statt aufzuwerfende Frage zu stellen. Die Begrenzt¬
heit meiner Situation, meiner Information, meiner Begegnungen, meiner
Lektüre bestimmt die Grenze meiner Berufung zur Wahrheit.
Und doch heißt sonst nach Wahrheit suchen, daß ich nach einer a
-mein gültigen Aussage suche, die meine eigene Situation wie etwas
Universelles überwölbt. Ich möchte nichts erfinden, ni^ts sagen, was mir
gefällt, sondern was ist. Vom Grund meiner eigenen S.tuahon aus strebe
ich danach, dem Sein verbunden zu werden. Daß das Sem si* m mir
denke; das ist mein Wunsch nach Wahrheit. So ist die Suche nach Wahr¬
heit zwischen die „Begrenztheit“ und die .;^Offenheit“ des Sems gespannt.
Hier komme ich wieder auf die Geschichte der Philosophie als d e .
119
PAUL RICOEUR
120
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG
IV
121
PAUL RICOEUR
habe, widersprüchlich; wenn ich Platon oder Spinoza lese, überlasse ich
mich einem bestimmten Wechsel des Standpunkts; einmal sehe ich von
meinen eigenen Fragen und meinen eigenen Entwürfen von Antworten
ab, um ein anderer zu werden, um mich dem Denker, den ich studiere,
ganz unterzuordnen; dann wieder erneuere ich den Angriff und lege an
die vertiefte Einsicht, zu der die ejtox't] mich geführt hat, den kritischen
Maßstab, um dann aber wieder meinem Denker Glauben zu schenken
und mich von ihm besiegen zu lassen. Es gibt keine vollständige Ver¬
schmelzung des „skeptischen“ und des „dogmatischen“ Moments.
Schließlich, und das ist das Wichtigste, klafft zwischen den Problemen
der verschiedenen Philosophen ein unüberbrückbarer Widerspruch, so daß
jede Gegenüberstellung von Philosophen in gewisser Hinsicht ein Mi߬
verständnis bleibt. Darin liegt die schwerste Enttäuschung. Dieses Mi߬
verständnis, diese Verschiedenartigkeit der letztlich unvereinbaren Pro¬
blemstellungen steht einer vollkommenen Kommunikation entgegen. Diese
Kommunikation wäre die Wahrheit, wenn sie vollkommen sein könnte.
Das führt mich zu einer letzten Annäherung an das Problem der Ge¬
schichte und der Wahrheit. Wir haben bisher ständig das, was wir die
Idee der Wahrheit schlechthin nannten, am Horizont dieser weitläufigen
Debatte zwischen Philosophen und philosophischen Systemen, im Auge
behalten. Wir haben sie als eine ausgleichende Idee im kantischen Sinne
aufgefaßt, das heißt als ein rationales Gebilde, das eine Einheit im Be¬
reich der Bejahung fordert. Vielleicht könnten wir aus unserer Sackgasse
herausfinden, wenn wir an dieses Gebilde am Horizont der Wahrheit
eine neue Überlegung anknüpfen. Als wir es als ein Korrelat der Ver¬
pflichtung zum Denken bezeichneten, sind wir ihm nicht ganz gerecht
geworden. Wir haben es nur von seiner subjektiven, noetischen Seite
gesehen, als eine „Aufgabe“ der Wahrheit. Dies genügte an jenem Punkt
unserer Überlegung, um die innere Dialektik der Forschung - der philo¬
sophischen „Fragestellung“ - zu verstehen, die abwechselnd auf die Ge¬
schichte hört, dann wieder eine neue Frage aufwirft.
Wir müssen jetzt den korrelativen Begriff, die noematische Seite der
„Aufgabe“ der Wahrheit prüfen, das heißt jenes Eine, das uns von Situ¬
ation zu Situation verfolgt und wieder daraus vertreibt, seitdem wir
unsere Untersuchung aufgenommen haben.
Wir ahnen bereits, daß dieses Eine die einzelnen Philosophien auf eine
Geschichte zurückführt und aus dieser einzigen Geschichte eine philo-
sophia perennis macht. Zu diesem Einen bleibt uns jedoch kein anderer
Zugang als eben die Auseinandersetzung der Philosophien miteinander.
Das, was bei jeder Frage in Frage steht, was die Frage veranlaßt - das
der Fragestellung vorausgehende Sein - ist ebenfalls dieses Eine der Ge-
122
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG
schichte; aber dieses Eine ist weder eine spezielle Philosophie, die sich als
ewig ausgibt, noch die Summe der Philosophien, noch das, worin alle
übereinstimmen, noch das Werden als immanentes Gesetz der philoso¬
phischen „Momente“, noch das „absolute Wissen“ von diesem Werden.
Was aber ist es, wenn nicht alles dies zusammen?
Vielleicht kann man die Beziehung zwischen der Geschichte der Philo¬
sophie (als Dialog von jedem mit jedem) zur Einheit der Wahrheit auf
einem Umwege erhellen. Es ist der Umweg der Beziehung zwischen der
Pflicht zu denken und einer Art ontologischer Hoffnung. Ich denke an eine
Ausdrucksweise etwa wie: „Ich hoffe, in der Wahrheit zu sein. Die
Deutung dieser Ausdrucksweise soll uns zur Beziehung der Geschichte zu
ihrer Unvergänglidikeit hinführen.
Was will ich mit der Formulierung: „ich hoffe, in der Wahrheit zu
sein“ sagen?
ln der Wahrheit! Aus der Präposition in ergibt sich eine neue Bezie¬
hung, die nicht die gleiche ist, die sich aus anderen Präpositionen ergibt,
etwa: im Hinblick auf die Wahrheit, auf dem Wege zur Wahrheit. Durch
die Präposition hi wird die Wahrheit nicht nur zu einem Ziel, einem
Horizont, sondern zu einer Umwelt, wie die Atmosphäre, oder noch
besser, wie das Licht. Ich hoffe, daß das, was ich meine Philosophie,
meinen Gedanken nenne, m einer gewissen Umwelt steht, die der Ver¬
mittlung nicht widersteht, ja sogar die Fähigkeit besitzt, jegliche Ver¬
mittlung herzustellen, so wie nachTimäus das Licht Vermittlerin zwischen
dem Feuer des Auges und dem Feuer des Objektes ist.
Indes uns die Metapher der Präposition in zu der anderen Metapher
- derjenigen der Wahrheit als Umwelt oder besser als Licht - geführt
hat, bringt sie uns zugleich auf ein Thema zurück, dem wir bereits auf
unserem Weg begegnet sind: das Sein als „Offenheit . Wir hatten dieses
Sein flüchtig meiner Situation der „Begrenztheit“ gegenübergestellt,
dann wurde es aber von der Aufgabe eines auf einen Horizont gerich¬
teten Forschens verdeckt. Was bedeutet der Begriff „Offenheit“? Er be¬
deutet daß all die einzelnen philosophischen Denkweisen - eines Haton,
Descartes, Spinoza - einander a priori zugänglich sind, daß jeder Dialog
a priori möglich ist, weil eben das Sein der Akt ist, der jeder MogliAkeit
der Fragestellung vorausgeht und zugrunde hegt und damit zugleich den
wechselseitigen Bezug der verschiedenen philosophischen Systeme au -
einander begründet. Jene „Offenheit“ ist es, jene Lichtung jenes lumen
naturale“, das die naive Phantasie in die elysischen Gefilde verlegt, in
denen die Totengespräche möglich sind. In den elysisc:hen Gefilden sind
alle Philosophen Zeitgenossen und alle Kommunikationen umkehrbar.
Platon kann dem jüngeren Descartes selbst antworten. Die elysischen
123
PAUL RICOEUR
124
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG
testen Kämpfe einführt. In diesem Sinne ist die Hoffnung wohl das Herz¬
stück der Kommunikation, das „Licht“ in allen Kämpfen. Die Geschichte
bleibt polemisch, aber gleichsam aufgehellt durch dieses ea;Karoi’, das sie in
eine Einheit zusammenfaßt und zur ewigen Gültigkeit erhebt, ohne daß
es der Geschichte koordiniert werden könnte. Ich möchte sagen, daß die
Einheit der Wahrheit nur darum eine zeitlose Aulgabe ist, weil sie in
erster Linie eine eschatologische Hoffnung ist. Sie ist nicht nur der stän¬
dige Anlaß aller meiner Enttäusdiung der Geschichte der Philosophie
gegenüber, sondern sie gibt mir den Mut, Geschichte der Philosophie ohne
Philosophie der Gesdiichte zu treiben.
Wir haben den anfänglichen Skeptizismus aus mehreren Positionen
nacheinander verdrängt, aber er hat auch uns aus unserer Position ver¬
drängt. Er ist zunächst in dem Einen besiegt; doch kenne ich dieses Eine
nicht. Auch bleibt der Skeptizismus existentiell die größte Versuchung bei
der Arbeit des Historikers. Die Gesdiichte bleibt der Ort, an dem das
Nicht-mehr-Seiende, das Entfernte, das andere liegt. Keiner kann die
Philosophia perennis schreiben.
Diese zwielichtige Natur der Geschichte der Philosophie ist die der
Kommunikation, die bald das Selbst, bald das andere verändert, bald
das Eine, bald das Vielfältige. Schließlich ist sie auch die zwielichtig
Natur der Menschheit selbst, denn die Geschichte der Philosophie erweist
sich bei einer letzten Prüfung als einer der bevorzugten Wege, auf denen
die Menschheit für ihre Einheit und ihre Dauer kämpft.
Die grundsätzliche und entscheidende Frage nach dem Sinn und Wert
von Wissenschaft für das Leben hat am eindringlichsten für unsere Zeit
Max Weber in seinem philosophischen Testament, der Rede über „Wissen¬
schaft als Beruf“, gestellt. Max Weber fragte: „Welches ist der Beruf der
Wissenschaft innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit? und welches
ihr Wert?“ Was immer in ihrer Geschichte als ihr Wert angesehen wurde,
so lautet die Antwort: der Weg zum wahren Sein, zur wahren Kunst und
Natur, zum wahren Gott oder zum wahren Glück, habe sich zuletzt als
Illusion erwiesen, „Und heute?“, fragt dann Max Weber weiter: „Wer-
außer einigen großen Kindern, wie sie sich gerade in den Naturwissenschaf¬
ten finden - glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der
Biologie oder der Physik oder der Chemie uns etwas über den Sinn der
Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Wege man
einem solchen Sinn - wenn es ihn gibt - auf die Spur kommen könnte?
Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran, daß es so
etwas wie einen ,Sinn‘ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu las¬
sen! Und vollends die Wissenschaft als Weg zu Gott? Sie, die spezifisch
gottfremde Macht? Daß sie das ist, darüber wird, mag er es sich zugestehen
oder nicht, in seinem letzten Innern heute niemand im Zweifel sein.“ Die
einfachste Antwort - so beschließt Max Weber seine Überlegungen - habe
Tolstoi mit den Worten gegeben: „Sie [die Wissenschaft] sei sinnlos, weil
sie auf die allein für uns wichtige Frage: ,Was sollen wir tun? Wie sollen
wir leben?' keine Antwort gebe.“ Die Tatsache, daß sie diese Antwort
nicht gebe, sei freilich unbestreitbar. Müsse aber die Frage nicht sinn¬
voller anders gestellt werden, nämlich so: „In welchem Sinne Wissen¬
schaft ,keine' Antwort gebe", und sei nicht dann zu erwarten, ob nicht viel¬
leicht doch Wissenschaft dem, der die Frage so stelle, etwas leisten könne*?
Die Frage nach dem Sinn und Wert von Wissenschaft für das Leben
schließt also für Max Weber in sich die weitere Frage nach der Grenze
von Wissenschaft, eben danach, „in welchem Sinne sie ,keine' Antwort
gebe“ und geben könne. Was aber Max Weber hier eigentlich zum The¬
ma wurde, ist das Ungenügen und die Verzweiflung am Erkennen und
Wissen selbst, und nicht nur in der Gestalt der heutigen unter dem Prin¬
zip der Voraussetzungslosigkeit auf Universalität intentionierten Wissen-
126
\
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
127
KURT ROSSMANN
Dominante eines Panlogismus, für den das Denken und das Sein zu¬
sammenfallen, letztlich stets die Geschichte, wie immer auch interpretiert:
ob als Heilsweg oder als Weg des Unheils oder auch letztlich als Fatum
und Seinsgeschick, das wir nur bedenken können, den einzigen, jedoch wie
trügerischen, Rechtsgrund abgeben soll. Die von Max Weber, dem Uni¬
versalhistoriker, der dem Wissen des Wissens zugewandt war, an das
Erkennen und Wissen gerichtete Sinn- und Wertfrage, ist durchaus keine
auf die Geschichte als Rechtsgrund bezogene Interpretationsfrage, son¬
dern ist eine ursprüngliche philosophische Seinsfrage. Und wenn Max
Weber mit Nietzsche das, was jeweils in ihrer Geschichte als Wert von
Wissenschaft angesehen wurde: als Weg zum wahren Sein, zur wahren
Kunst und Natur, zum wahren Gott und Glück zuletzt als Illusionen des
Erkennen- und Wissenwollens begreift, so zielt diese Desillusionie¬
rung, die ja gerade selber wieder dem kritisch-wissenschaftlidien Red¬
lichkeitsanspruch, dem intellektuellen Gewissen entstammt, durchaus nicht
auf Verneinung von Wissenschaft, sondern auf den Nachweis ihrer Gren¬
zen. Im Erfahren aber dieser Grenzen überfällt uns Verzweiflung, wer¬
den wir des Ungenügens am Wissen schlechthin inne. An dieser Ver¬
zweiflung und diesem Ungenügen jedoch entzündet sich der philosophisdie
Gedanke.
Was Max Weber am Ende eines ganz der empirischen Wissenschaft
unter universalem Aspekt gewidmeten Lebens in letzter Konzentration
und radikaler Infragestellung des Sinns und Wertes des Wissens selber
derart zum philosophischen Problem, und das ist: zum eigentlichen
Problem der Vergewisserung des Menschen über sich selbst wurde, das
bildet auch den Ausgangspunkt und die Unruhe des philosophischen
Gedankens im Lebenswerk von Karl Jaspers. Denn gerade diese Ver¬
zweiflung und dieses Ungenügen am Erkennen und Wissen inmitten
einer Welt universaler Wissenschaftlichkeit, die stets in der Gefahr ist,
die Grenzen des Wissens zu verfälschen, indem sie es entweder als Macht
vergötzt und mißbraucht oder umgekehrt es als Macht verflucht oder vor
ihr resigniert, wurde ihm zu einem der zentralen Probleme seines Philo-
sophierens. Es ist das Problem der Verzweiflung und der Verlassenheit
des Menschen, dem die Grenze jedes wissentlich gesuchten Wahrheits¬
sinnes im Scheitern des Erkennens selber gewiß wird.
Für diese Verzweiflung und Verlassenheit des im Erkennen scheitern¬
den Menschen besitzen wir aus der Zeit des Beginns der heutigen Wissen¬
schaft ein mächtiges, in seinem übergeschichtlichen philosophischen Sinn¬
gehalt trotz vielfältiger und sorgsamer Deutungsversuche noch unerschlos-
sen gebliebenes Symbol, das wie ein Janusbild, doppelgesichtig in Ver¬
gangenheit und Zukunft blickend, gerade jene Wissensproblematik re-
128
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
129
KURT ROSSMANN
dem nur das Untergeschoß sichtbar ist, auf niedriger Steinstufe eine mach
tige geflügelte Frauengestalt in bürgerlicher Tracht. An ihrem Gürtel hän¬
gen ein Schlüsselbund und ein Geldbeutel. Mit der linken zur Faust geball¬
ten Hand stützt die Frau ihren beschatteten, etwas nach vorn geneigten
sdiweren Kopf. Er trägt einen Kranz von Wasserranunkelblättern, unter
dem das Haar in Strähnen herabfällt. Die rechte Hand, auf dem Schoße über
einem Buche ruhend, hält einen Zirkel. Aber die Frau mißt nichts mit
dem Zirkel. Sie pausiert jedoch nicht etwa in ihrem Tun; auch hängt sie
nicht etwa einem fernen Gedanken nach. Sie hat vielmehr mit ihrem Tun
aufgehört und starrt gedankenverloren mit verdüstertem Blick und Ant¬
litz ins Leere. Um sie herum, wirr verstreut, liegen Meß- und Arbeitsge¬
räte: Nägel, Hobel, Säge, Lineal, eine Kugel und eine Profilleiste, ein in
einem Schmelzofen stehendes dreiwandiges Gefäß (Alchimistentiegel), ein
Schreibgerät, Hammer und Zange und ein einer Spritze oder einem
Bohrer ähnliches Gebilde. - Ebenso den Blick anziehend wie die Frau
selber, ruht im Mittelgrund links ein großer polyedrischer Steinkörper,
der der exakten geometrischen Ausmessung sich entzieht. Vor ihm schläft
zusammengerollt ein abgemagerter Hund. Rechts seitlich der Frau hockt
vor dem Turm auf einem Mühlstein ein wie die Frau mit Flügeln ver¬
sehenes Kind, das mit einem Griffel auf einer Tafel kritzelt. Über ihm
hängt von der Turmwand eine Waage mit ausgewogenen Schalen herab.
Rechts am Turm, im Rücken der Frauengestalt sind eine Sanduhr, eine
Sonnenuhr, eine Glocke und ein magisches Zahlenquadrat (Jupiterqua¬
drat) angebracht. An der Rückseite des Turms, diagonal ins Bild ragend,
lehnt, wie beiseitegestellt, eine Leiter. Den Hintergrund bildet ein abend¬
licher Himmel über einem Meer mit einer Uferlandschaft. Am Himmel
zeigt sich ein Lichtquell, der weder Sonne noch Mond, schwerlich aber
auch ein Komet ist, und das abendliche Dunkel nicht zu verscheuchen ver¬
mag. Über ihm spannt sich ein Regenbogen, unter dem eine Fledermaus
mit einem Echsenschwanz in der Blickrichtung der Frau gleichsam aus
dem Bild herausfliegt. Auf ihren weit ausgebreiteten Flügeln trägt diese
Fledermaus den Bildnamen: „Melencolia. I“.
Was sich Auge und Gefühl zunächst aufdrängt, ist das Empfinden,
daß hier nichts zusammenstimmig ist. Alle Beziehungen von Subjekt zu
Objekt haben aufgehört. Die dargestellten Dinge und Geräte sind in
ihre Selbstigkeit zurückgekehrt, und die in melancholisches Vorsichhin-
brüten verfallene Frau in ihrer Mitte drückt nicht nur Verdüsterung aus,
und, weil sie mit sich allein ist, Einsamkeit, sondern Verlassenheit und
Verzweiflung. Sie hat sich von allem abgewandt, was sie anging. An dem
Steinblock, dem Gegenstand ihres früheren Messens, sieht sie vorbei. Das
Buch in ihrem Schoß ist geschlossen. Den Himmelserscheinungen wendet
130
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WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
sie den Rücken. Der Zusammenhang von Denken und Tun ist für sie
auseinandergerissen. Was sie erheben sollte, drückt sie nieder wie ihre
Flügel, die ihr zur Last geworden scheinen. Das Sinnverquere, Zweck¬
widrige herrscht vor. Die Welt ist sinnlos geworden, weil das auf ihr
Erkennen bedachte Wesen, der Mensch, nicht mehr bei sich ist. Alle
diese Merkmale hat Wölfflin in einen den Stimmungsgehalt des Blattes
unübertrefflidi wiedergebenclen Satz zusammengefaßt; ,,Du hast mir
mein Gerät verstellt.“
Was aber bedeutet dieses Gerät, das ja kein Gerät des täglichen
Gebrauches ist wie Tisch und Stuhl oder spezifisches Arbeitsgerät wie
es zum Inventar einer Bauhütte oder des Arbeitsraumes eines Geo¬
meters gehören möchte, worauf freilich die Überzahl der Gegenstände
hinweist, vieles aber auch wieder nicht; so der Hund, der Alchi¬
mistentiegel, Schlüsselbund und Geldkatze und das Buch auf dem
Schoß der Frau. Daß zu vermuten sei, manche oder alle der dargestell¬
ten Dinge seien sinnbildlichen Charakters, erschloß man aus einem Hin¬
weis Dürers selbst. Die Schlüsseltasche und die Geldkatze bedeuten „Ge¬
walt“ und „Reichtum“, hat Dürer sich auf einer Vorzeichnung notiert.
Von hier ausgehend hat Karl Giehlow, dem die für das Verständnis der
Sinnbildsprache der Humanisten der Renaissance so wichtige Ausdeu¬
tung der Hieroglyphika des Horapollon® zu verdanken ist, unter dem
Leitmotiv von Ficinos „gutartiger“ Melancholie versucht, den Sinngehalt
des Blattes als Bilderschrift zu deuten. In diesen Hieroglyphika des Ho-
rapollon, deren Entstehung in die Zeit der römischen Herrschaft in Ägyp¬
ten fällt und die „ein Mischprodukt ägyptischen und griechischen Wissens“
darstellen, sind ägyptische Hieroglyphen in sinnbildlichen Ausdeutun¬
gen in griechischer Sprache wiedergegeben. Auf Grund einer in der Mitte
des 15. Jahrhunderts aus Byzanz nach Italien gelangten Handschrift die¬
ser Hieroglyphika vermeinten die italienischen Humanisten des Quattro-
und Cinquecento hier den Schlüssel für die ägyptische Hieroglyphik
im Sinne einer Zeichen- und Geheimsprache gefunden zu haben.
Die Hieroglyphen“ des Horapollon galten ihnen als Zeugnisse der
Ägyptii vates ac theologi“ im Sinne einer „interpretatio rerum natu-
rae“, die alle Philosophie in sich berge, ja selber die älteste Philosophie
der Menschheit darstelle, aus der auch Platon sein tiefstes Wissen ge¬
schöpft habe. Hieran anknüpfend unternahmen sie es dann eine eigene
nur den Eingeweihten zugängliche „Hieroglyphen- und Rebus-SpraAe,
später auch in Anlehnung an die christliche Symbolik zumal der Bestia-
rien und der kirchlichen und profanen Heraldik des Mittelalters auszu¬
bilden Dürer war diese Vorstellungswelt nicht fremd. Schon durA Con¬
rad Celtis war er mit ihr in Berührung gekommen. Dann aber hatte er
131
KURT ROSSMANN
132
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WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
gen audi die von Giehlow bereits berücksichtigte und dann von Panofsky
besonders hervorgehobene Charakteristik der drei Weisen der Melan¬
cholie, wie sie Agrippa von Nettesheim vorgenommen hatte, sprechen®.
Im Gegensatz zu Ficinos Beschreibung der nicht krankhaften Me¬
lancholie als dem Stigma höchster Geistestätigkeit und Geistesverdüste¬
rung zugleich entfällt in Agrippas Charakteristik der dreifachen Melan-
(iiolie das Moment der Depression, der Trostlosigkeit und Verzweiflung
beinahe gänzlich. Nur vom Divinieren, von der Gabe des Wahr- und
Weissagens in dreierlei Gestalt ist bei Agrippa eigentlich noch die
Rede. Der erste „furor melancolicus“ gehört zur „imaginatio (Einbil¬
dungskraft) und bezeichnet das Divinatorische des Technikers, des Bau¬
meisters und Künstlers; der zweite „furor melancolicus ist der „ratio
(Verstand) zugehörig und, neben den Philosophen und Ärzten, zumal
den Politikern eigen; der dritte ist der „mens“ (Vernunft) zugeteilt und
bedeutet das Divinieren des Theologen.
Nacii dieser Dreiteilung des „furor melancolicus“ würde Dürers Me¬
lancholie-Stich den ersten „furor“ zum Gegenstand haben: den des Tech¬
nikers und Künstlers. Daraus möchte dann auch die dem Bildnamen bei¬
gesetzte Ziffer I erklärt sein, die man zuvor einmal als Bezeichnung für
die nicht krankhafte Melancholie nach Ficinos Charakteristik, sonst aber
auch als Kennzeichen des ersten Blattes einer von Dürer dann nicht mehr
ausgeführten Darstellungsfolge der vier Temperamente aufgefaßt hatte.
Auch hier wären die Verbildlichungen der beiden anderen Weisen des
„furor melancolicus“ dann nicht mehr zur Ausführung gekommen, es
sei denn, man möchte versucht sein (und vielleicht mit größerem Recht), au
Grund von Agrippas Dreiteilung der Melancholie den Melandiolie-Stich
mit dem Reuter- und dem Hieronymus-Stich in eine strikte Sinnfolge zu
bringen. Dafür würde sprechen, daß alle drei Blätter nicht nur m ihrer
besonderen Symbolhaftigkeit, sondern auch ihrem Format und ihrer sti¬
listischen Einheitlichkeit nach so eng zusammengehoren. Der Reuter-
Stich möchte dann als Darstellung des zweiten „furor melancoli^cus ,
der auf den Politiker sich bezieht, gelten und der Hieronymus-StiA den
,furor melancolicus“ des Theologen verbildlichen. Daß das '^i^^igste
Attribut Saturns, des Gottes der Zeitlichkeit, die Uhr, und auch daß
der Hund, der in den Hieroglyphika des Horapollon neben anderen
Bedeutungen zumal Ideogramm für die Melanchc) le ist, au a en rei
Stichen zu finden sind, könnte diese Argumentation noA unterstützen.
Der Melancholie-Stich als „Melencolia. I“ würde dann der erste dieser
mutmaßlichen Sinnfolge sein, das Titelblatt gleichsam, in dem das Ge¬
samtthema in einem sehr komplexen Sinne angesdilagen wäre In dem
I tre filosofi“ betitelten Bild Giorgiones, der Ficino so nahestand und
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KURT ROSSMANN
134
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
tionen, die gerade an die Hieroglyphika des Horapollon als einer ,,Ur-
philosophie“ und „interpretatio naturae rerum“ zu Beginn der Zeiten sich
anschlossen, wird er dabei im Sinn gehabt haben. Das wissen wir durch
Giehlows Untersuchungen. Daß er aber mit dieser Bilder- und Zeichen¬
sprache anders und freier verfuhr als die meisten seiner Zeitgenossen
(etwa als Virgil Solls oder auch als Lucas Cranach) ist ebenso gewiß.
Denn diese Freiheit gehört zum Recht des Genius, dem kraft seiner
Kunst zum Symbol ward, was diesen anderen Allegorie, begriffliches Zei¬
chen blieb. Rein allegorische Darstellungen des melancholischen Typus
gibt es aus dieser Zeit die Fülle. Mit diesen aber läßt sich Dürers Stich
weder im Blick auf seine inhaltliche Fülle und Vieldeutigkeit, noch auf
seinen künstlerischen Rang in Vergleich setzen. Bei ihnen ist der Sach¬
verhalt eindeutig. Das melancholische Temperament oder auch dm krank¬
hafte Melancholie oder beide miteinander vermischt sind bei diesen ge¬
meint. Im Anblick der Frauengestalt auf Dürers Blatt aber werden wir
geradezu zu der Frage gedrängt: Wer ist der Träger, wer ist das Subjekt
der Melancholie? Wenn es sich nun in Dürers Stich offensichtlich nicht
um die Personifizierung des melancholischen Typus der Temperamenten-
lehre handelt, wofür auch die Bildbeischrift „Melencolia. I“, statt derer
man sonst bei Darstellungen der vier Temperamente etwa die Bezeid^
nung „Melancolica“ oder „Homo melancolicus“ (darauf verweisen auch
Panofsky und Saxl) hätte erwarten können und müssen, Indiz ist wer
oder was wird dann durch die geflügelte Frauengestalt personifiziert.
Ist etwa, in bezug auf Dürer selber, die Meßkunst gemeint deren Ge-
Täte überwiegend den stoffliAen Inhalt des Blades ausmaAen? Dafür
spriAt, daß die Meßkunst als ein Saturn, dem Gestirn des MelanA
likers, zugeordneter Beruf galt. Sie. die Tätigkeit des reinen Verstandes,
ist dem troAenen, kalten. melanAolisAen Saturn besonders unterworfem
So sehen es Panofsky und Saxl, die das größte Gewicht auf ^las Sinnvo
gerade dieser Verbindung legen. Aber auA andere asdologisAe Bede -
fungszeiAen finden siA auf dem Blatt: das magisAe Zahlenquadrat
( lupiterquadrat) und der Regenbogen. Das Jupiterquadrat symbolisiere
di heilsamen Gegenkräfte Jupiters gegen die
Saturn ist gemeint worden, und der Regenbogen lasse siA als ZeiA
Ser Versöhnung deuten. Analog dazu ließe siA der AlAimjsAn-
Ueil als ZeiAen der Läuterung auffassen. AuA diese ZeiAen gehören
in das BereiA der Meßkunst, der WissensAaft des Zählens, Messens un
wLenT von hier aus gesehen aber erhält die Meßkunst, die Geome-
tria“ einen ganz anderen und viel komplexeren "
dem heutigen Wortsinn naA als Geometrie besitzt. Denn sie ist niAt nur
ial da di siAtbaren, greifbaren. irdisAen Dinge zu erforsAen. son-
135
KURT ROSSMANN
dem auch die übersinnlichen. Ja diesen ist sie letztlich überhaupt zuge¬
wandt. Mit ihr beginnt der Weg des Wissens überhaupt, der Weg der
Philosophie im Sinne des „längeren Weges“ Platons, für den Nicolaus
von Gues und Marsiglio Ficino wieder den Blick geöffnet hatten. Als der
anfängliche Weg zu den himmlischen, übersinnlichen Dingen also ist die
Meßkunst zu begreifen, wobei zu ihr eben auch die Astronomie und Meta¬
physik unter dem Siegel der Magie vermischende Astrologie gehört.
Der Himmel aber ist an Dürers Blatt ein absonderlicher Himmel voller
rätselhafter Lichtzeichen. An diesem Himmel nun fliegt die den Bild¬
namen auf ihren Flügeln so sichtbarlich tragende Fledermaus, ein spezi¬
fisch dem Saturn geweihtes Tier. Was bedeutet es, dieses rätselhafte Ge¬
schöpf, das zoologisch ein Säugetier ist und doch wie ein Vogel fliegen
kann? Kann sie, die Trägerin des Bildnamens, vielleicht ein Hinweis auf
den thematisch gemeinten Sinn des Bildes sein, wobei als besonders noch
ins Gewicht fallend zu berücksichtigen ist, daß Dürer sonst mit Bildbe¬
nennungen sehr sparsam zu sein pflegte. Erst bei den Aposteltafeln zog
er das Wort zur Unterstützung heran.
Auf die emblematische Bedeutung der Fledermaus ist bisher keiner der
Interpreten des Dürerschen Stiches eingegangen. Wölfflin begnügt sich
mit dem Hinweis: „Die Fledermaus vor schwarzgestrichenem Himmel
zeige auf eine Stunde, die nicht mehr dem lichten Tage angehöre“. Und
in Panofskys Dürer-Monographie heißt es ähnlich: „the former ... (is ...
associated with melancholy) because he emerges at dusk and lives in
lonely, dark and decaying places.“ Nur der Psychotherapeut G. R. Heyer
hat in seinem Vortrag über ,,Dürers Melancolia und ihre Symbolik®“ der
Fledermaus besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Fledermaus sei
gar keine richtige Fledermaus, bemerkt Heyer zu Recht. Denn sie habe
einen Echsenschwanz. Heyer zieht daraus den Schluß, es handle sich
(analog der mexikanischen „gefiederten Schlange“) um ein „chthonisches“
Tier, das zur „Eulenwelt“ gehöre und „Ahnung“ symbolisiere. Sie be¬
deute gleichsam den ,,Gedanken siegreicher Überwindung des mütter¬
lichen Dunkels im Sinne ,,vaterloser Geburt“. Dagegen ist zu sagen,
daß von Tieren als Sinnbildern - Heyer weist selber darauf hin - einmal
keine anatomisch richtigen Wiedergaben zu dieser Zeit verlangt und er¬
wartet wurden; zum anderen aber, daß diese Sinnbildsprache auf einer
vielschichtigen literarischen Tradition philosophischer, theologischer und
astrologisch-okkulter Herkunft beruht, die einer rationalen ,,Psychozoolo-
gie“ psychoanalytischer Prägung, für die letztlich alles Gegenständliche,
ob nun gröber oder feiner, auf stets schon vorgegebene Symbolgehalte
sich reduziert, unzugänglich bleibt.
In der Emblematik des 16. Jahrhunderts kommt nun der Fledermaus
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WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
VESPERTILIO
Die nur bei Abend fliegt und blöd bei Lichte ist.
Die wohl geflügelt ist, doch sonst wie eine Maus,
Bedeutet vielerlei: Zuerst den bösen Namen,
Was sich verborgen hält, das Licht des Urteils scheut.
Von daher auch die Philosophen, die, indem sie
Des Himmels Rätsel zu erforschen trachten
Mit düsterstarrem Blick nur trügerischen Schein erspähn.
Und endlich auch die Vielgewandten, die heimlich sich
Zu beiden Seiten halten und die Vertraun von keiner haben.
Wichtig erscheint in diesem Lemma für die Deutung von Dürers Me¬
lancholie-Stich die zweite der Fledermaus als Emblem zuerkannte Be¬
deutung: Die Philosophen, die im Erforschen der „coelestia“ dusteren
Blickes werden und nur Falsches sehen. Diese Bedeutung der Fledermaus
für die verblendeten“ Philosophen findet sich ähnlich auch in einem
zweiten Lemma, das den in hartnäckiges Studium, letztlich in gegen-
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WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
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KURT ROSSMANN
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WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
der Auslegung der Lehre, ganz hingegeben ist, eben in dieser Hingabe
vollauf bestätigt. Er ist der Antwort gewiß. Der „verkehrten“ Weltweis¬
heit bleibt die Antwort aus. Trotz dieser Antinomie, die anders nodi -
nimmt man beide Symbole zusammen - bedeuten möchte, daß Verzweif¬
lung und Glaube im Menschen zusammengehören, läßt sich jedoch der
Heilige nicht als das dialektische Gegenstück zu der Frauengestalt des Me-
landiolie-Stiches begreifen. Er erscheint vielmehr als rückwärts gewandtes
Symbol und verklärt den Frieden einer Welt, der in Dürers Zeit nur
noch Wunschbild, nicht aber mehr Wirklichkeit war.
Gewißlich war Dürer ein „Homo religiosus“ und ein mit Anfechtun-
fien und Zweifeln ringender „Homo religiosus“. Ebenso aber war er
auch wie Lionardo ein Universalverstand und ganz dem neuen Geist der
Wissenschaft und der Humaniora - das ist: mehr Mensch zu sein - zu¬
gewandt. Es wäre ihm ebensowenig wie seinem Freunde Pirckheimer,
dem Humanisten und Politiker, je beigekommen, das erkennende Be¬
mühen von Philosophie und Wissenschaft als etwas Verwerfliches an¬
zusehen oder es von der Theologie her abzuwerten. Etwas anderes lag
ihm im Sinn. Das Verquere, die Unordnung, das Untätigsein, die Ver¬
düsterung, Verlassenheit und Verzweiflung, das darzustellen Dürer im
Melancholie-Stich sichtlich so angelegen war, zielen auf die Inkongruenz
von selbsttätig gewordenem Denken und Erkennen und Wirklichkeit.
Indem es die Welt ganz nach seinem Maß haben will, wird dieses derart
„divinierende“ Denken selber maßlos und erfährt in dieser Vermessenheit
seine Grenze an einem anderen, das mit den Augen nicht zu sehen, mit
den Händen nicht zu greifen und mit allen Sinnen nicht zu fassen ist.
Darüber verfällt es in Melancholie, deren Zeichen der untreue Saturn
ist. Denn es gibt kein Genüge im Erkennen. Das Ungenugen, das zum
Erkennen antreibt, wird mit dem Erkennen nicht befriedigt. Im Erfahren
dessen wird dann auch die Welt der Erscheinunpn, die gegenständlich
wirkliche Welt, unstimmig und chaotisch. Sie verliert ihren Sinn und ihre
Ordnung, zerfällt in Stückwerk und bietet dem Menschen keine Heimat
mehr. Es ist die Welt, wie Hamlet sie sieht: „Ein wüster Garten. Und
es ist die Stunde, die nicht unter dem Aspekt des Leben fordernden Sa¬
turn des Gottes der Saat und der Erneuerung und der körperliche Ar
beit und geistige Tätigkeit belohnenden Ernte sondern ^
des unheilvollen, untreuen, Leben verniditenden Saturn steht. Es ist
Stunde der Verzweiflung des selber maßlos gewordenen messende
und planenden Denkens, das nur nod. in si* kreisend jeto
Halt verloren hat und von dem es in des Andreas Tsdnrmng Gedicht
,Melancoley redet selber“ heißt: .Ich finde nirgends Ruh / J» ^
mit mir zanken / Ich sitz /ich lieg /ich steh / Ist alles in Gedanke .
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Eine neue Erfahrung des Tragischen, die noch die unsere ist, fernab dem
Medium des tragischen Schicksalsbewußtseins der Griechen, ist in dieser
Melancholie und Verzweiflung beschlossen. Sie entstammt der Dämonie
eines Erkennen- und Wissenwollens, das darauf aus ist, sich selbst als ab¬
solut zu setzen. Es bedeutet aber diese Dämonie - nach Dürers Wort-,,die
Lügen in unserer Erkanntnuss“. Dafür ist der Stich „Melencolia. I“ viel¬
deutiges Symbol, das, obwohl der Problematik des Zeitgeistes so eng
verbunden, doch über diesen Zeitgeist hinausweist. Denn wie stets in
solchen Stunden der Geschichte, in denen eine neue Gestalt des Erken-
nens und Wissens sich ans Licht drängt, die Nöte wie die Tugenden der
sich befreienden neuen Kräfte deutlicher empfunden und gesehen wer¬
den als sie im Stadium ihres Ausgefaltetseins in der Wirklichkeit bewußt
sind, so verhält es sich auch mit diesem Symbol. Es beschwört jenes Pro¬
blem der Grenze und des Wertes von Wissenschaft, das in unserer Ge¬
genwart in neuer und umfassenderer Weise zu einem für uns lebens¬
entscheidenden Problem geworden ist. In Dürers Melancholie-Symbol
gehört freilich noch in Unschuld zusammen, was später mit der Eman¬
zipation der Wissenschaften von dem Corpus generale der Philosophie
im zeitlichen Nacheinander der Ideologisierungen des Wissens: als Weg
zur wahren Natur, zur wahren Methode, zur wahren Freiheit, zum wah¬
ren staatlichen und gesellschaftlichen Glück und Heil gegeneinander so
schuldig wurde. Schuldig aber werden für sich selbst - und gerade das
wird in Dürers Melancholie-Stich antizipiert - alle Weisen des erkennen¬
den Bemühens, die als eigenständig und absolut sich setzend, die jedem
Wahrheitssinn gezogenen Grenzen mißachten und darüber dann in Ver¬
zweiflung münden.
Diese Verzweiflung am Erkennen und Wissen selber nun ist es, die
Max Weber unter dem Anspruch universaler wissenschaftlicher Wahr¬
heitssuche zum Gegenstand der Klärung zu machen unternahm und damit
auf die Grenze allen Wissens verweisend der Philosophie ihre alte meta¬
physische Aufgabe aufs neue stellte, wie sie Karl Jaspers als Forscher und
als Philosophen dann zum Thema ward. Als Frage formuliert, lautet dieses
Thema so: Besitzt die unter dem Prinzip der Voraussetzungslosigkeit zu
unbeschränkter Freiheit gelangte und auf absolute Geltung Anspruch er¬
hebende rationale Wissenschaft unserer Zeit einen Wert für sich und
vermag sie Werte hervorzubringen? Kann sie, die Natur und Geschichte
in grenzenlosem Wissenwollen unerbittlich zur Zeugenaussage nötigt,
überhaupt einen Wert repräsentieren, wenn ihr Streben doch gerade
darin besteht, alle Werte - alles, was für wert gehalten wurde und wird-
zu desillusionieren? Und zerstört sie damit nicht gerade ihren eigenen
142
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
möglichen Sinn für das Leben? Denn offensichtlich kann sie uns ja nicht
lehren, was wir tun sollen. Will man aus Wissenschaft das richtige Han¬
deln ableiten und das Gesetz dessen, was not tut, und gibt man damit
vor, „durch Wissenschaft wissen zu können“, was in der Tat „stets nur
Glaubensinhalt ist“, dann verfällt der Mensch - so antwortet Jaspers -
dem Wissenschaftsaberglauben'^ Denn hier kommt es zur Verkehrung
des möglichen Sinns von Wissenschaft, den sie nie an sich und nie eigen¬
gesetzlich, sondern nur durch ihren Träger, den Menschen, haben kann,
und kommt es in anderer und neuer Weise zu jener auf Machtbeschwö¬
rung angelegten Philosophie, Wissenschaft und Magie, die in Dürers
Melancholie-Stich als falsches in die Irre führendes Wissen dem untreuen.
verderbenbringenden Saturn verfällt. Aus solchem Wissenschaftsaber¬
glauben resultieren die in ihrem Wesen nur auf Macht als Gewalt und da¬
mit auch auf Zerstörung intentionierten pseudowissenschaftlichen und
pseudophilosophischen Ideologien und Weltanschauungen, von denen die
Daseinsformen unserer Gegenwart so durchgängig und ausschließlich be¬
stimmt und behext sind. Wissenschaft ist hier zur Glaubenslehre, „jedoch
in bezug auf weltimmanente Dinge“ verkehrt und verfälscht worden.
Ihren dialektischen Gegensatz haben diese Ideologien des Wissen¬
schaftsaberglaubens dann in der Verwerfung von Wissenschaft als Wert
für das Leben überhaupt: in der Wissenschaftsfeindlichkeit. Beide Posi¬
tionen gehören polar zusammen. Auch bei der Wissenschaftsfeindlich¬
keit geht es um erdachte oder konstruierte Glaubensthesen. Denn die Ab¬
wendung von diesen Ideologien mit dem Sprung in das vermeintlic
Einfache und Anfängliche: in den vorgeblich alles heilenden und retten¬
den Mythos, bedeutet ja nichts anderes als die Abwendung der Sophi¬
sten aller Zeiten vom verbindlichen Wissen und die Hinwendung zum
Meinen und Überreden, nur um sich selber geltend zu machen. - BeMen
Positionen, dem Wissenschaftsaberglauben wie der Wissensdiaftsfeind-
lichkeit aber liegt jene Vertauschung und „trübe VermisAung von wis¬
senschaftlicher Sacherkenntnis und philosophischer Seinserkenntnis zu¬
grunde, die die ständige Gefahr alles erkennenden und wissensdiaft-
lichen Bemühens bildet. • a ^
Daneben aber existiert noch Wissenschaft im Sinne eines naiven Ag^no-
stizismus, die unbekümmert um die Sinn- und Wertfrage nur ihrem Tun,
dem Forschen nachgeht. Sie betreiben jene großen Kinder, von denen
Max Weber spricht, ,wie sie gerade in den Naturwissenschaften sich
finden“, die entweder nur fragen, ob ihre Rechnung stimmt oder ihr Ex¬
periment aufgeht und die Sinn- und Wertfrage ihres Tuns zumeist mit
der jeweiligen nützlidien Verwendbarkeit der Resultate ihres Forschens
beantwortet finden, es sei denn sie entwerfen sich zusätzlich harmlose.
143
KURT ROSSMANN
144
\
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT
Anmerkungen
Die folgenden Anmerkungen beschränken sich auf die Anführung nur der wichtigsten
Literaturnachweise und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
* Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 2. Aufl., München u. Leipzig 1921, S. 20 f.
^ Karl Giehlow: Dürers Stich „Melencolia. I“ und der maximilianisdie Humanistenkreis,
in Mitt. d. Ges. f. vervielfält. Kunst, Wien 1903/04; Heinrich Wölfflin: Die Kunst
Albredit Dürers, 5. Aufl., München 1926, und: Zur Interpretation von Dürers „Melan¬
cholie“ in: Gedanken zur Kunstgeschichte, 2. Aufl., Basel 1941; Erwin Panofsky/Fritz
Saxl: Dürers „Melencolia. I.“ Leipzig/Berlin 1923 f., und Erwin Panofsky: Albrecht
Dürer, Princeton, New Jersey 1948.
® Karl Giehlow: Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renais¬
sance, in: Jahrb. d. Allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. 32, Wien 1915.
* Albrecht Dürers schriftlicher Nachlaß, ed. Ernst Heidrich, Berlin 1920, S. 302 ff.
® Zitiert nach K. Giehlow: Dürers Stich „Melencolia. I“. ... , S. 66.
« Nach: Cornelius Agrippas von Nettesheim Magische Werke, 4. Aufl., Berlin 1921, 1. Bd.
60. Kap.
^ Mündlicher Hinweis von Herrn Prof. Dr. Gustav Hartlaub, Heidelberg. Auch an die
Folge von Physik, Logik und Metaphysik ließe sich denken.
* G. R. Heyer: Dürers Melencolia und ihre Symbolik, in: Eranos-Jahrbuch 1934, Zürich
1935, S. 246 ff.
» „Viri Clarissimi D. Andreae Alciati Jurisconsultiss. Mediol. Ad d. Chonradum Peu-
tingerum Augustanum, jurisconsultum emblematum über. MDXXXI. Augustae vin-
delicorum.“ . . , , r. j j
‘® In der neueren deutschen Literaturgeschichtsschreibung ist die komplexe Bedeutung der
emblematischen Vorstellungswelt für die Dichtung nur von Walter Benjamin in dem
schönen Buch: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928, vollauf gewürdigt
worden. . ..
« Zitiert nach der Ausgabe: Liber Emblematum Andreae Alciati, Frandefurt am Mayn
1566 fol 112 Die Anfänge der Sammlung gehen in das Jahr 1521 zurude (vgl.
M Rubensohn: Griechische Epigramme, Weimar 1897, S. LIV ff.), liegen also sieben
Jahre später als Dürers Stich. Doch waren Alciatos „Lemmata“ literarisches Gemein-
145
KURT ROSSMANN
gut. Alciato hat nur bereits Vorhandenes an Deutungen der „Hieroglyphika“ zu¬
sammengetragen. Pirckheimer, dem Übersetzer und Kommentator der Hieroglyphika
des Horapollon, werden die sinnbildlichen Bedeutungen der „Fledermaus“, die Alciato
anführt, vertraut gewesen sein. Vgl. dazu den späteren Kommentar von Claud.
Minoes (Anm. 12).
Omnia Andreae Alciati Emblemata Cum Commentariis ... editae per Claud. Minoem
Juriscons., Parisiis 1602, S. 321 ff. und S. 64 f.
Albrecht Dürers sdiriftlicher Nachlaß a. a. 0., S. 270.
Zitiert nach: Walter Benjamin, o. c., S. 134.
Karl Jaspers: Existenzphilosophie, Berlin u. Leipzig 1938, S. 4.
Ebd., S. 8.
Karl Jaspers: Nietzsche und das Christentum, München 1952, S. 51.
Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1952, S. 127.
Karl Jaspers: Existenzphilosophie a. a. 0., S. 7 f.
Ebd., S. 9.
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Robert Gaupp
149
ROBERT GAUPP
150
1
BRIEF AN KARL JASPERS
erobere, ein Abschluß und ein Anfang zugleich. Der Referent betonte
den großen Vorzug, den Sie durch Ihren besonderen Bildungsgang vor
den Fachgenossen gewonnen haben. „Philosophische Schulung und ins¬
besondere begriffliche Klarheit vereinigen sich mit einem unbeugsamen
Respekt vor den Tatsachen und mit der grundsätzlichen Verleugnung
aller Spekulation. Die psychologischen Kenntnisse oder vielleicht noch
ridätiger gesagt: die psychologische Begabung des Autors hat ihn in dem
Abschnitt über die subjektiven Erscheinungen des kranken Seelenlebens
(Kap. 1) und in dem über die verständlichen Zusammenhänge (Kap. 3,1)
Darstellungen schaffen lassen, denen ich aus der neueren psychiatrischen
Literatur nichts an die Seite zu stellen wülke.“ Sieht das nach „nicht ge¬
wollt haben“ aus? Wenn Bumke dann am Schluß seines Referates zweifelt,
ob die Studenten, Ärzte und Psychologen das seelische Niveau hätten, das
Buch zum Leitfaden bei ihrem Studium zu nehmen, so hat die Folgezeit
ihm nidit recht gegeben. Überall, wo unter Medizinern genügende psy¬
chologische Begabung vorhanden war, hatte die faszinierende Kraft des
Buches, seine kristallklare Gedankenführung und die packende Darstel¬
lungskunst starke Wirkung gehabt und die Einsicht in Ihre wissenschaft-
lichie und allgemein menschliche Bedeutung für ein reineres und edleres
Arzttum vertieft. Wir haben überall da, wo es eine psychiatrische For¬
schung gab, sehr viel „von Ihnen gewollt“. Das Buch erschien nach
Kriegsschluß in zweiter, bald darauf (1922) in dritter Auflage und, wer
in der Forschung stand und von seinem Denkorgan rechten Gebrauch
machte, war begeistert. Und wie selten ist es wohl vorgekommen, daß
das Buch eines lebenden Autors einem Fachgenossen Anlaß gab, das
25jährige Jubiläum seines Erscheinens mit einem Festartikel zu be¬
grüßen? Im „Nervenarzt“ 1938 lesen wir aus der Feder eines unserer
gebildetsten und bedeutendsten Psychiater, Kurt Schneider: ,,Erst von
diesem Buche an gibt es eine wissenschaftlich befriedigende Psychopatho¬
logie“ und weiter: „Erst durch dieses Buch fanden auch die mannigfachen
früheren Erfahrungen und Tatsachen ihre klare Einordnung, ihren ge¬
hörigen Ort“; und endlich: „Während die Psychiater vor Jaspers meist
eine Sprache redeten, die anatomische, physiologische und psychologische
Begriffe durcheinandermengte, hat dem Jaspers für jeden Denkenden
ein Ende gemacht. Die psychologische Sprache der Psychiatrie vor Jas¬
pers war bald anatomisch oder physiologisch verunreinigt, teils stammte
sie von einer theoretisierenden Psychologie, teils war sie ein begrifflich
verschwommener vulgärer Dilettantismus; man sang, ,wie der Vogel
singt, der in den Zweigen wohnetj dagegen hat Jaspers nur die sdilidite
Selbstverständlichkeit gelehrt, daß die Psychopathologie die Sprache der
Normalpsychologie zu reden hat“. Sie werden entgegnen: Das schrieb
151
ROBERT GAUPP
Schneider 1938, aber jene Äußerung, man habe Sie nicht gewollt, sei
zwei Jahrzehnte früher gefallen. Zugegeben; aber wollen Sie mir glau¬
ben, daß Schneiders Urteil schon 1913 auch das meine und das vieler
Fadigenossen war!
Ich kann hier nicht die Wandlungen genauer erörtern, die das Budi
in dem Zeitraum von 1913 bis 1948 erfuhr, also in dem Zeitraum von
fünfunddreißig Jahren, in dem der junge Psychologe und Psychopatho-
loge in seiner philosophischen Weiterentwicklung unter dem Einfluß der
großen Forschergestalt Max Webers seine auf Kierkegaard und Nietzsche
fundierte Existenzphilosophie ausgestaltete, den Begriff der philosophi¬
schen ,,Wahrheit“ und ihrer tiefen Wirkung auf den Menschen, auf sein
geistiges Wesen, auf seine Einmaligkeit, seine Heimat in der Ewigkeit,
zu immer größerer Klarheit entwickelte. Aber Ihrer pathographischen
Werke habe ich als Psychiater noch zu gedenken. Die „Pathographien“
waren lange Zeit Schmerzenskinder unserer Wissenschaft gewesen. Seit
der hochgebildete Möbius einst um die Jahrhundertwende große Geistes¬
kranke (Rousseau, Nietzsche) und berühmte Sonderlinge (Schopenhauer,
Fedhner, Gail) psychopathologisch beleuchtete (wie manche Auseinander¬
setzung habe ich mit dem trefflichen Manne vor 50 Jahren gehabt!) sind
Pathographien in großer Zahl erschienen. Wilhelm Eichbaum-Lange
schrieb in meiner Klinik seine gute Arbeit über ,.Hölderlin“ und stellte
später dort sein bekanntes großes Sammelwerk über ,.Genie, Irrsinn und
Ruhm“ fertig. Die Bewertung solcher pathographischer Studien schwankte
bekanntlich sehr, bis dann Ihre wertvollen Arbeiten über Strindberg
und van Gogh, auch über Hölderlin und Swedenborg klare Gesichts¬
punkte schufen, die der ganzen Forschungsrichtung das Bürgerrecht brach¬
ten, so daß sie heute nicht mehr brüsk abgelehnt oder hochmütig belächelt
wird. Wie sehr Sie bis in die letzten Jahre hinein bei allen diesen Pro¬
blemen mittätig waren, als Psychiater modernster Richtung, beweist uns
Ihre Studie über den Propheten Ezechiel (1947), bei dessen Beurteilung
Sie es riskierten, die Sprache des Alten Testaments für die wissenschaft¬
liche Beurteilung der abnormen Erlebnisse des Propheten heranzuziehen.
In der Kritik der psychoanalytischen Ansprüche haben wir Psychiater
uns auf Ihre Seite gestellt, dankbar für Ihre wegweisenden Worte.
Vieles möchte ich noch sagen zur vierten und fünften Auflage Ihrer
„Allgemeinen Psychopathologie“, die als ein Band von 748 Seiten vor mir
liegt. Als Philosoph von selbständigem Gepräge haben Sie in langen
Jahren unfreiwilliger, äußerer Passivität mit der Ihnen eigenen Forscher¬
gewissenhaftigkeit den Gang und die Literatur der Psychiatrie verfolgt
und die Jugendarbeit des Dreißigjährigen in ein reifes Spätwerk des
über Sechzigjährigen umgewandelt. Es ist unvermeidlich, daß der schöp-
152
BRIEF AN KARL JASPERS
ferisdie Geist des Philosophen das Buch immer mehr durchtränkte und
vieles in der Jugend Gesdiaute in eine etwas andere neue Beleuchtung
rüdcte und ergänzte. Wohl ist das Budi jetzt kein „Leitfaden für Stu¬
dierende“ mehr, sondern ein imposanter Rechensdiaftsbericht über alles,
was Ihre immer wachen Augen im Reiche psychiatrischer Forschung zwar
weniger aus eigenem Erleben als durch sorgfältige Berücksichtigung der
psychiatrischen Literatur zu erfassen, festzuhalten und klarer auszu¬
gestalten vermochten. Nachdem das Buch 1946 als monumentales W^erk
erschienen war, mußte es schon im darauffolgenden Jahr neu aufgelegt
werden.
Es liegt vor uns als ein neues vertieftes Werk, als das Werk eines
Mannes, der alle Höhen und Tiefen ernstester Wahrheitsforschung in
sich erlebte, im eigenen Schicksal die stählende W^irkung solcher Wahr-
heitserforsdiung erfuhr und in fast prophetischem, von wahrem Ethos
erfülltem Geiste unserem Volke in seiner schwersten Not den Weg nach
oben, zur inneren Freiheit, zeigt: „Pectus facit professorem“. Wem ist
dieses Wort nicht auf die Lippen gekommen, wenn er Ihr Buch über „Die
Sdiuldfrage“ und das andere über „Die Idee der Universität“ las - demü¬
tig und im aufrichtigen Wunsche nach Selbstreinigung und Selbstbefrei-
ung? Sollte aber aus dem ärztlichen Lager einer nach dem Studium der
4. Auflage Ihrer „Allgemeinen Psychopathologie“ die Sorge haben, daß
der Philosoph, der Erkenntnistheoretiker und Ethiker dem Arzte Jaspers
die psychiatrisch-ärztliche Arbeit aus der Hand genommen habe, sollte
er fürchten, daß wir Psychiater unseren Jaspers ganz der Philosophie
überlassen müssen, so daß wir führerlos im Chaos derzeitiger Wissen¬
schaft in Theorie und Praxis durch die unruhvolle Zeit gehen, so mochte
ich einem solchen Pessimismus die Rede verwehren; ich verweise noch
einmal auf den klinisch-psychiatrischen Aufsatz über Ezechiel 1947) und
vor allem auf Ihre ausgezeichneten Darlegungen „Zur Kritik der Psycho-
^""wohl haben wir ja Freud, Jung, von Weizsäcker und manchem ande¬
ren „Psychotherapeuten“ viel Gutes zu verdanken, und es mag auch
die modische Bezeichnung „psychosomatische“ Medizin für eine alte, uns
längst vertraute Tatsachengruppe weitere Verbreitung finden, solange
sie nicht die Klarheit des wissenschaftlichen Denkens und die Sauber ei
ärztlichen Handelns gefährdet. Ihr überlegener "f;
liehe Wahrheitsliebe und Ihr hohes Ethos, das sich nur dem Ge^te '
pflichtet fühlt, möge unseren Ärzten, denen kranke Menschen ihre See
anvertrauen, als Führer vorangehen. n l* * +
Lassen Sie mich schließen, verehrter Herr Kollege! Wir Psychiater en -
lassen Sie nicht aus unseren ärztlichen Reihen, m denen wir Sie mit Stolz
153
ROBERT GAUPP
154
Hans W. Gruhle
PSYCHOPATHOLOGIE
UND AKADEMISCHER UNTERRICHT
155
HANS W. GRUHLE
156
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT
157
HANS W. GRUHLE
158
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT
einhergeht, leidet schon ein wenig Not beim Einfall. Mir fällt etwas ein.
Dabei bin ich Schauplatz. Aber ich erkenne den Einfall meinerseits als
meinen Einfall an. Er hat Ichqualität. Frau de la Motte-Guyon wußte bei
ihrem automatischen Schreiben aber deutlich, nicht nur, daß die sich
überstürzenden Worte, die ihrer Feder entflossen, nicht ihrer Initiative
entstammten, sondern ihr auch fremd, unvertraut waren — sie hatten
nicht die Idiqualität. Sollte man meinen, mit diesen zwei Begriffen der
Ichqualiät und der Initiativqualität die erwähnten Phänomene der Be¬
sessenheit, der Inspiration, der Medialität, oft auch der Ekstase, der
Verzüdkung, der Erleuchtung, der unio mystica kennzeichnen zu können,
so reichen sie natürlich noch JxicJit aus, um ihre Fülle zu treffen. Aber es
entsteht noch eine weitere phänomenologische, terminologische Schwie¬
rigkeit. Zwischen der Rolle des Mediums, das nur ausführendes Organ
eines andern ist, und der Lage des Schizophrenen, dem die Gedanken
gemacht werden, ist ein tiefgreifender Unterschied. Beide sind empört,
Werkzeug einer andern Macht zu sein, der Besessene ist entsetzt über die
Vergewaltigung durch den Teufel, dem er sich stöhnend fügt. Der Schi¬
zophrene hat Tausende von Malen zum Rasierzeug gegriffen, aber heute
weiß er urplötzlich, daß es nicht aus seiner Regie erfolgte, sondern ihm
gemadit worden ist. Viele Male hat ein Mann beim Warten oder im
Gesprädi von selbst die Arme gekreuzt, heute weiß er es, daß dieses eine
Mal ihm das angetan worden ist. Im Trancezustand wird der Ergriffene
von einer andern Person ergriffen, deren Persönlichkeit in gewissen
Grundzügen für ihn feststeht; die Handlungen und Äußerungen, zu
denen er veranlaßt wird, haben einen gewissen, wenn auch zuweilen
kuriosen Zusammenhang. Beim Schizophrenen fehlt für diese Beeinflus¬
sungen jedes geistige Band. Einzelne Regungen des Denkens oder Han¬
delns werden ihm „gemacht“, ohne Sinn und Verstand. Diese gemachten
Regungen sind ihm auch ichfremd und bar seiner Initiative. Und dennoch
ist jeder Kenner dieser Phänomene davon überzeugt, daß diese schizo¬
phrene Ich- oder Initiativstörung phänomenal und genetisch etwas ganz
anderes ist als der mediale Zustand. Die gleichen Worte decken ganz
Verschiedenes. Man kann sich nur dürftig helfen, indem man eine me¬
diale, gedanklidi gesteuerte, von einer schizophrenen sinnlosen Ich- und
Initiativstörung oder -lähmung abgrenzt.
Oben fiel der Ausdruck des Automatismus. Dieses Wort wird leider
in der Psychopathologie verschieden verwandt. Die Franzosen rechnen
zum Beispiel die Halluzinationen zu den Automatismen, weil sie sich an
den Kranken automatisch, das heißt selbständig vollziehen, ohne daß
diese es hindern können. In der deutschen Psychopathologie meint man
mit Automatismus eine erworbene (also keinen Instinkt!), eingelernte.
159
HANS W. GRUHLE
160
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT
andere, ich glaube mit a. Es war so: lang kurz kurz und kurz lang kurz.
Nach einem Augenblick des Besinnens richtig: Martinitz und Slawata. —
Der Normale kann bei Namenssuche also unterscheiden: ich weiß be¬
stimmt, daß ich ihn nicht weiß, — ich weiß, daß ich es einmal gewußt, aber
vergessen habe, — ich weiß, daß ich es weiß und doch im Augenblick nicht
„habe“, — ich weiß, daß ich es weiß, es wird sofort kommen. Dies sind
einerseits also Bewußtseinsstufen der Bereitschaft und andererseits Stu¬
fen der Fähigkeit zur Aktivierung. Die amnestische Aphasie ist also
offenbar eine stark gesteigerte Bereitschaftsstörung, die sich nicht nur
auf Namen im engeren Sinne, sondern auf Ding- und Sadiverhaltsbe-
zeidinungen bezieht. Man hat sie früher unter „vergessen“ eingeordnet,
während sie nur eine Zugangsstörung zu nicht Vergessenem darstellt.
Man findet — häufiger —, daß es eine Zugangsstörung zum Seltenen,
wenig Eingeübten ist, aber es gibt — selten — auch Zugangsstörungen
zum Geübten, zum Beispiel zur Muttersprache, während Fremdsprachen¬
worte erhalten sind. Daraus ergeben sidi Ausblicke auf Sprachtheorien,
die bei solchen Fällen um so interessanter werden, bei denen es sich nicht
nur um Geübtes und Ungeübtes, sondern um Sachbereiche, Sinnbereiche,
Kulturbereiche handelt —, Fälle, bei denen man sich verwundert, daß
die organische körperliche Erkrankung auf die Kultur gleichsam Rück¬
sicht nimmt. Hier ergeben sich weitere Ausblicke in das große inter¬
essante Gebiet der Beziehungen zwischen Gehirn und Seele.
In diesem Aufsatz handelt es sich nicht darum, eine Psychopathologie
zu skizzieren. Diese Beispiele sollten nur klären, um was es sich dabei han¬
delt, und welche wissenschaftliche Bedeutung ein solches Fach überhaupt
besitzt. L. Binswanger hat zum 60. Geburtstag von Jaspers das gute Wort
geprägt, Jaspers habe die Psychopathologie auf das Niveau der Wissen¬
schaftlichkeit gehoben. Jaspers tat dies 1913. Diese Wissenschaft hat sich
seitdem bescheiden, allzu bescheiden weiterentwickelt. W^arum war der
Fortschritt so dürftig? Die obigen Beispiele sollten dartun, daß die all¬
gemeine wissenschaftliche Bedeutung der Psychopathologie nicht gering
ist. Eine der Seiten dieser Bedeutung liegt darin, daß die „normale“
Psychologie auf viele Probleme aufmerksam gemacht wird, die sie bis¬
her überhaupt nicht sah. Die alte philosophische Psychologie, so klug
sie zuweilen gelehrt wurde, war ganz erfahrungsfremd. Die Psycho¬
pathologie baut ganz auf der Empirie auf. Aber als die heutige experi¬
mentelle Psychologie die Erfahrung heranzog, lag es an den wissenschafts¬
technischen Umständen der psychologischen Institute, daß diese kein pa¬
thologisches Erfahrungsmaterial besaßen. Die Psychiater, die darüber
verfügten, standen der Psychologie meistens fern. Bemühten sie sich dar¬
um, so bemächtigten sie sich allenfalls einiger Tests, zogen Kraepelin sehe
161
HANS W. GRUHLE
162
\
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT
wanger hat bei Gelegenheit von Jaspers’ 60. Geburtstag bedauert, „daß
die Psychiatrie ihn ,nicht gewollt“‘ habe. Jaspers wurde in jenen jungen
Jahren als wissenschaftlicher Assistent der psychiatrischen Klinik Heidel-
berg geführt. Das geschah auf seinen eigenen Wunsch und war dem In¬
teresse der Wissenschaft vorteilhaft. Er war nicht gebunden an den da¬
mals viel stärker anstrengenden Tag- und Nachtdienst in der altmodi¬
schen Klinik. Er begleitete die Diskussionen, Arbeiten, Erkenntnisse,
Fehler der Klinikassistenten — wie erwähnt — mit lebhafter, aber di¬
stanzierter Teilnahme. Die unendliche Mannigfaltigkeit der seelischen
Abläufe verleitet die Aufmerksamkeit der Ärzte, sich vorwiegend den
Inhalten der Psychosen zuzuwenden. Warum bringen Halluzinationen
gerade diesem Kranken diese quälenden beschimpfenden Inhalte? Warum
richtet sich der Wahn dieses paranoiden Schizophrenen gerade auf die
spezielle Idee, von Eisenbahnbeamten verfolgt zu werden? Solche Fra¬
gen hatten noch die Arbeitsweise von Kraepelin weitgehend beherrscht,
dessen Tradition die Heidelberger Klinik noch durchaus erfüllte, als
Jaspers sich ihr anschloß. Jaspers verstand es, von den Konkretissima
abzusehen, sich auf die allgemeinen Gesichtspunkte und Verfahren
zu konzentrieren und so die Heidelberger klinische Arbeit intensiv zu
fördern. Das hat diese Klinik stets dankbar anerkannt. Es fand seinen
Ausdrude auch darin, daß Karl Wilmanns jenen Band des Bumke’schen
Handbuchs, in dem 1932 alle Kenntnisse und Theorien über die Schizo¬
phrenie von dem Heidelberger Forscherkreis vereinigt wurden, Karl
Jaspers widmete, der inzwischen längst seine Hauptarbeit auf das Feld
der Philosophie verlegt hatte. Seine Vorlesungen in den ersten drei Jah¬
ren nach seiner Niederlassung als philosophischer Dozent an der Heidel¬
berger Universität betrafen: Sommersemester 1914: Psychologie der Cha¬
raktere und Begabungen. Wintersemester 1914/15: Allgemeine Psycholo¬
gie. S.S. 1915: Verstehende Psychologie. W.S. 1915/16: Sozial-und Völker¬
psychologie. S.S. 1916: Nietzsche als Psychologe. W.S. 1916/17: Religions¬
psychologie.
Dann verband sich Jaspers immer inniger mit der philosophischen
Fakultät, der er angehörte. Aber selbst wenn er als philosophi¬
scher Dozent einmal eine Vorlesung über Psychopathologie angekündigt
hätte, würde selbst seine große Lehrbegabung nur wenige Mediziner
veranlaßt haben, ihn zu hören. Der Medizinstudent ist heute bedauer¬
licherweise immer mehr gehalten und daher auch bestrebt, sich auf seine
medizinischen Vorlesungen zu beschränken. Deren Fächer haben sich im
Lauf der Jahre immer vermehrt. Es wurden dieselben hehler begangen
wie im Gymnasium. Die Erkenntnis, daß die Schüler ohne alle Kennt¬
nisse vomStaatund seinen Einrichtungen in das Leben hinaustraten, führte
163
HANS W. GRUHLE
164
\
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT
165
HANS W. GRUHLE
keiten und Kenntnisse. Der Psychiater hat vor dem theoretischen Nor¬
malpsychologen voraus, daß er mit seinen Kranken wochen- und monate¬
lang engste Fühlung hat und so allmählich einen großen Schatz prak¬
tischer Menschenkenntnis erwirbt. Er ist keineswegs nur auf die krank¬
haften Phänomene eingestellt. Die Frage, ob ein Symptom als normal
oder als abnorm oder gar krankhaft eingestuft werden soll, tritt im Ein¬
zelfall stark zurück vor dem Wunsche nach einem Verständnis für die
inneren Zusammenhänge des Individuums. Der Normalpsychologe er¬
wirbt seine Menschenkenntnis vorwiegend an den Versuchspersonen sei¬
ner Laboratorien oder an den Kindern der Schulen. Die Ergänzung sei¬
ner Erfahrungen durch die Psychopathologie ist erforderlich. Es wäre
sehr erwünscht, wenn jede Universität wenigstens einen Psychopathologen
besäße, der durch Vorlesungen, Seminare und Raterteilung seine Fach¬
kenntnisse nutzbar machen könnte. Wir sind heute noch nicht so weit.
Beim 70. Geburtstag von Karl Jaspers, dem Begründer der Psycho¬
pathologie als Wissenschaft, ist es ganz interessant festzustellen, wel¬
chen Nachklang seine Initiative heute in den Vorlesungen der westdeut¬
schen Universitäten hat. Die Vorlesungsverzeichnisse kündigen an (11 für
das Wintersemester 1952/53, 5 für das Sommersemester 1952; Vorlesun¬
gen und Übungen nicht unterschieden): Allgemeine Psychopathologie in
Hamburg sechsstündig, Göttingen dreistündig; zweistündig in Würzburg,
Bonn, München; einstündig in Mainz, Tübingen, Freiburg, Heidelberg,
Münster, Berlin W — also in 11 von 16 Universitäten. — Psychopatho¬
logie des Kindes vierstündig in München; zweistündig in Münster, Ham¬
burg, Freiburg; einstündig in Würzburg, Tübingen, Frankfurt. — Mehr
ins Praktische gewendete heilpädagogische Vorlesungen: Münster vier¬
stündig, Freiburg und Berlin W je zweistündig; München und Hamburg
je einstündig. — Beziehungen zur Psychopathologie haben die als „kli¬
nische“ oder „medizinische“ Psychologie angekündigten Vorlesungen;
Bonn vierstündig; Münster und München je zweistündig; Göttingen und
Frankfurt je einstündig. — An den vier Universitäten Marburg, Erlan¬
gen, Köln, Kiel werden keine psychopathologischen Vorlesungen ange-
boten.
Das Fehlen der Vertrautheit mit dem abnormen Seelenleben macht
sich auch in mancher Geisteswissenschaft besonders dort bemerkbar, wo
es sich um Biographik handelt. Das Verstehen einer Persönlichkeit ist oft
nur demjenigen möglich, der abnorme Zusammenhänge kennt. Beson¬
ders, wenn bei einem zu schildernden „Helden“ sich ein Stilwechsel, eine
Gharakterwandlung, eine Bekehrung oder Erleuchtung einstellt, stößt
man bisher bei Historikern, Literar- und Kunstwissenschaftlern auf be¬
trüblichste Fehlurteile oder völlige Hilflosigkeit. Die anfängliche Ab-
166
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT
167
HANS W. GRUHLE
168
Kurt Kolle
Was ist sozialer Kontakt? Socialis heißt gesellig, und zwar in bezug auf
einen socius (oder mehrere socii), also einen Gesellschafter, einen Ge¬
nossen, Gefährten, Kameraden, Teilnehmer an einem Bund, daher auch
einen Verwandten, einen Ehegatten. Und Kontakt kommt von contagio,
der Berührung im guten und schlechten Sinne.
Eine Krankheitslehre der „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (Ferdinand
Tönnies) aus der Sicht des mit allen Lebensbezügen des Menschen ver¬
trauten Psychiaters zu schreiben, das wäre dringende Aufgabe. Doch die
Gefahr, sich dabei im undurchsichtigen Grenzland der Soziologie zu ver¬
irren, ist zu groß. Also muß das Vorhaben eingeengt werden. Die eigent¬
lichen soziologischen Fragen können nur gestreift werden; wir werden
die Probleme des sozialen Kontaktes im wesentlichen vom Individuum
her anschauen.
Wir fragen L, was der Arzt als Krankheitsforscher (Pathologe) weiß
von den Kräften, die im Menschen als Person enthalten sind und den
Einzelnen beschränken (oder fördern, wovon hier nicht gehandelt wird),
2., ob der Arzt, besonders der Psychiater, der Seelenarzt, angesichts der
noch zu schildernden Situation des Menschen überhaupt mit konkreten
Vorschlägen aufwarten kann, die geeignet sind, den sozialen Kontakt
neu, also besser als bisher, zu ordnen.
Das menschliche Dasein wird auch von der Mütuv dßs Menschen be¬
stimmt. Die Natur stattet den Menschen mit einem Vermögen aus, das
er hinnehmen muß, nur in engen Grenzen verändern kann. Der Mensch
gehört zum Beispiel einer Rasse an, die uns hier nicht wegen der mit ihr
verknüpften körperlichen und seelischen Wesensmerkmale interessiert,
sondern wegen der Stellung, die der Einzelne innerhalb einer bestimm¬
ten societas einnimmt. Uns Deutsche bewegt das tragische Schicksal der
Juden, die ausschließlich ihrer rassischen Herkunft wegen gehindert
wurden, sich in ihrer deutschen societas, in der sie größtenteils seit Jahr¬
hunderten als hochwertige Kulturträger ihren Platz gefunden hatten, zu
behaupten. Normale Erbanlagen, wie die zu Breit- oder Schmalwuchs
(Eury- oder Leptosomie), sind, wenn auch nicht gesetzmäßig, so doch häu-
hg gekoppelt mit seelischen Dispositionen, die zu weltfreundlichen, welt¬
verhaltenen oder gar weltverschlossenen Daseinsformen den Grundstock
bilden L Rothaarigkeit, eine bei Frauen anziehende Variante, kann bei
Männern absondernde, wenn nicht abstoßende Wirkungen auslösen. Der
169
KURT KOLLE
170
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES
seins aus gewinnt der Kranke nun ein neues Verhältnis zur Welt: die
Welt als Wille wird abgelöst durch die Welt als Vorstellung (frei nach
Schopenhauer). Ein konkretes Beispiel verdeutliche das Gesagte: ein
hochbegabter junger Student erkrankt an einer schweren Nervenkrank¬
heit (multiple Sklerose), die ihn dauernd bettlägerig macht. In schwerem
Ringen mit sich selbst hat er sich mit seinem Schicksal ausgesöhnt und
erklärt, er habe erst jetzt den Sinn seines Daseins erfaßt. Sein früheres
umtriebiges Leben sei zu seinem Vorteil abgelöst worden durch die ihn
lähmende Krankheit, die ihm erst zur wahren Innerlichkeit verhelfen
habe.
Von den Schäden, die die Leistungen der Simiesorgane ausschalten,
mindern oder qualitativ verändern, sind für die sozial-psychologische
Sicht Blindheit und Taubheit wichtig. Wie schwer angeborene, aber auch
im reiferen Alter erworbene Blindheit und Taubheit sich auf die mit¬
menschlichen Beziehungen auswirken, ist nicht zu erörtern. Die medizi¬
nisch geläufige Betraditungsweise, in der Krankheit vor allem etwas
Negatives zu sehen, muß ergänzt werden durch die Frage, ob dieses Er¬
leiden des Abgesperrtseins von der anschaulichen Welt - wie beim Blin¬
den — nur Kontaktverlust und nicht auch Kontaktgewinn bringen kann.
Zum Beweise dessen möchte auf den Fall der blind und taub geborenen
Helen Keller verwiesen sein (die es verdiente, viel mehr beachtet zu wer¬
den). Ein weniger berühmter, deswegen aber nicht weniger bedeutsamei
Fall, der leider bereits der Geschichte angehört, sei kurz beleuchtet. Jüngst
erschien ein kleines Buch: „Tymbos für Wilhelm Ahlmann , herausge¬
geben von seinen Freunden, die dem Toten ein fürwahr einmaliges Denk¬
mal gesetzt habend Wilhelm Ahlmann, Sohn eines begüterten Bankiers,
erblindete im ersten Weltkrieg als junger Offizier, kämpfte sich danach
mühsam und tapfer zum Doktor der Jurisprudenz durch und war trotzdem
der Verzweiflung nahe. Aber dann gelang es meinem verehrten Kollegen
Julius Wittmann, dem Kieler Psychologen, in dem Verzagenden neue
Lebensimpulse zu wecken, indem er ihn anregte, das Erlebnis seiner Ei -
blindung zu objektivieren. Eine glänzende Doktorarbeit^ krönte dieses
Werk. Ahlmann hatte mit Hilfe der res cogitans die res extensa sich
wieder einverleibt und entwickelte sich zu einer Persönlichkeit, die reich¬
sten Kontakt mit der Welt gewann. Davon legt der Tymbos beredtes
Zeugnis ab, das uns kundtut, wie der Blinde von der abgeschiedenen Stille
seines Studierzimmers aus sich die Welt eroberte. Nicht nur, daß er mit
vielen hochgearteten Menschen geistige Kameradschaft pflegte, er trat als
Handelnder in der realen geschichtlichen Welt auf. Diese politische Akti¬
vität wurde ihm zum Verhängnis; er entzog sich den irdischen Richtern des
Hitlerregimes durch Selbstmord. Viele unbeantwortbare Fragen knüpfen
KURT KOLLE
sich an dieses seltsame Schicksal eines Menschen. Eine sei wenigstens ge¬
stellt: würde der junge Husarenleutnant, in bürgerlichem Glanze erzogen,
eine so umfassende gesellige Wirksamkeit entfaltet haben, wenn er ein
Sehender geblieben wäre? Eine Psychologie der Blinden und Tauben, die
sich nicht auf Sinnespsychologie beschränkt, sondern echte Daseinsanalyse
ist, liegt noch sehr im argen.
Die Psychopathologie, deren Wirklichkeit wieder nur durch skizzenhafte
Beispiele anschaulich gemacht werden kann, gibt uns reichen Stoff für un¬
seren sozialpsychologischen Exkurs an die Hand. In dem kleinen Ort, in
dessen Gemarkung ich jahrelang die Jagd ausgeübt habe, lebt ein mikro¬
zephaler Schwachsinniger, der mir mit seiner sozialen Enthemmtheit
immer viel Vergnügen bereitet hat. Kaum wurde er meiner ansichtig, über¬
fiel er mich mit seinem munteren Geschwätz, mit dem neuesten Dorfklatsch,
mit waidmännischen Beobachtungen aus Wald und Feld. Kurt Schneider
hat bei seinen Kölner Prostituiertenuntersuchungen ^ festgestellt, daß viele
dieser Dirnen, zu deren Beruf ein, wenn auch eingeschränkter, sozialer
Kontakt unerläßlich ist, schwachsinnig waren. Schwachsinn als angeborene
oder früh erworbene Minusvariante zeigt uns seine soziale Visitenkarte in
doppelter Ausfertigung: einmal, wohl die Regel, in der Form hochgra¬
diger Kontaktarmut; zweitens als Distanzverlust in der Form oft gefähr¬
licher Hypersozialität.
Ein ähnliches Vexierbild begegnet uns beim epileptischen Charakter:
Enge der seelischen Horizonte koppelt sich mit jener „Klebrigkeit“ genann¬
ten Anschlußbedürftigkeit an andere Menschen, an Gemeinschaften. Daß
die krankhafte Übererregbarkeit der Epileptiker sich eigentlich nur an
der mitmenschlichen Beziehung verhängnisvoll entzünden kann, zeigt ein¬
dringlich die Notwendigkeit, auch die Pathologie des Einzelnen nie ohne
das Welt-Sein des Menschen anzuschauen.
Alle schizophrenen Kranken, die von den deletären Verlaufsformen be¬
fallen werden, versinken mehr oder weniger in Autismus und verlieren
damit beinahe jede Welthaftigkeit, weswegen die meisten asyliert werden
müssen. Die paranoiden Kranken sind jedoch geradezu extrem weltzuge-
wandt. Kehrer® stellte die fast naive Frage, ob sich bei einem einsam auf
einer Insel lebenden Menschen überhaupt ein Beziehungswahn entwickeln
könnte. Der Wahnkranke ist in pathologisch gesteigertem Ausmaß welt¬
offen; gerade wie bei manchen Schwachsinnigen und Epileptikern ist das
für unsere Betrachtungsweise führende Symptom nicht Kontaktarmut, son¬
dern Distanzlosigkeit. Besonders im Beginn solcher Wahnpsychosen leiden
die Kranken unsäglich darunter, daß sie im Mittelpunkt der Welt, die
ihnen so bedrohlich entgegenkommt, stehen. Gaupps berühmter Parano¬
iker, der Massenmörder Wagner, kam darüber ein ganzes Leben lang
172
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES
nicht zur Ruhe Auch die Zyklothymie (die melancholischen und mani¬
schen Psychosen) soll nur mit wenigen Worten gestreift werden. Melan¬
cholie sperrt den Menschen von der Welt ab. Die Kranken sind ausschlie߬
lich ihrer vitalen Grundstörung zugewandt, die sie seelisch intensiv ver¬
arbeiten. Bei den leichten und mittelscKweren Formen zeigt sich allerdings
ein lebhaftes Verlangen nach Kommunikation; geselliger Umgang mit
Menschen und das ärztliche Gespräch sind in der Lage, die nach heutiger
Auffassung somatisdi fundierte schwere Gehemmtheit wirkungsvoll zu
durchbrechen.
Ganz anders die manischen Kranken, die, ohne Krankheitserlebnis,
ohne Leiden, nur als Störenfriede der Gemeinschaft erscheinen. Tritt die
Krankheit nur in der leichten Form der Hypomanie auf, hat sie vielfach
durchaus sozialpositiven Charakter; ohne die freundlich-heiter gestimm¬
ten Optimisten, die Spaßmacher, die Betriebsnudeln, die harmlosen Ver¬
einsbrüder, die Bonvivants wäre die Welt recht arm.
Nock ein Wort über die Zwangskranke7i. In den schweren Fällen, die
man wirklich am besten als Zwangsirresein bezeichnet, leben die Kran¬
ken völlig asozial. Die Anankasten mit den leichten bis mittelschweren
Krankheitsformen befinden sich in einer spannungsreichen Dissoziation
zur Welt. Einerseits kommt von daher aller Unrat, den sie zu ihrem Selbst¬
schutz beständig abwehren müssen und der sie - andererseits hindert,
ihren sozialpositiven Regungen, die in ihrer Wesensart begründet sind,
so naciizukommen, wie sie eigentlich möchten. Durchweg wirkt sich also
die Zwangskrankheit, von jenen Schwerkranken abgesehen, kaum stö¬
rend auf die Gemeinschaftsbeziehungen aus.
Bezüglidi der abnormen Persönlichkeiten ist auf die führende Mono¬
graphie von Kurt Schneider ^ zu verweisen. Dort ist jeder Typenschil¬
derung audi eine Rubrik „soziale Bedeutung“ angefügt. Schneider hat
sorgsam darauf geachtet, die unmittelbar oder mittelbar sich äußernde
soziale Produktivität der Psychopathen nicht zu kurz kommen zu lassen.
Die stillen, passiven, selbstunsicheren, depressiven, asthenischen Naturen
stören das Leben ihrer Mitmenschen nicht oder nur wenig; um so mehr
fällt es ihnen zur Last, das Fordern der Welt zu bewältigen. Aber die
lebhaften, aktiven, überschäumenden, von einer Idee besessenen, rec -
haberischen Menschen - in der Psychiatrie werden sie „hyperthymisch
genannt - stellen selbst in ihren ausgeprägtesten Daseinsformen, etwa
als Fanatiker oder Querulanten, nicht nur eine Belastung für die Ge^
meinschaftsbeziehungen dar. Mit Mayer-Groß • sind wir der Meinung, daß
die meisten Hyperthymen sich durch ihre Strebsamkeit und Anpassungs¬
fähigkeit sozial bis ins höchste Alter bewähren als erMgreiche GesAafts-
leute WissensAaftler, Beamte, Offiziere. Mäzene, Pioniere neuer Ideen.
173
KURT KOLLE
174
\
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES
Die Weltoffenheit, ein Spezifikum des Menschen, das ihn scharf vom
Tier absondert (Portmann) wird ihm zum Verhängnis; er rutscht zu¬
rück in die Animalität, die Triebgebundenheit, die Abhängigkeit von
seinen (allerdings immer noch spezifisch menschlichen) Leistungen, wie
Handeln, Sprechen usw. Das Ur-Anliegen des Menschen, sich im sozialen
Raum, das heißt in seiner Eigenständigkeit in der Welt, zu behaupten,
den ihm aus der Welt entgegenschallenden Anruf des Du zu hören, kann
der in sich selbst verstrickte Mensch nicht verwirklichen. Die Neurose
spricht uns, anthropologisch gesehen, als ein Sonderfall des Mensch¬
seins an. Doch bevor die Weisen des Menschseins, soweit sie grundlegend
für das Dasein im sozialen Raum sind, kurz skizziert werden, muß das
Problem des sozialen Kontakts rein soziologisch, also von der Seite der
objektiven Gebilde der Gemeinschaft und Gesellschaft her, betrachtet
werden.
Der Mensch als Einzelner ist eine kühne Abstraktion. Die moderne
Medizin macht viel zu wenig Gebrauch von dieser „Idee“; sie sieht den
einzelnen Kranken vorzugsweise als Fall, den sie mit anderen Fällen
vergleicht und einem allgemein gültigen Gesetz des Lebens unterordnet.
Medizin und Gesellschaftslehre, die bisher ziemlich getrennt marschierten,
haben sich, stillschweigend und ohne gegenseitige Übereinkunft, auf das
Ziel geeinigt, den je Einzelnen mit einer je einmaligen Lebensgeschichte
für tot zu erklären. Gegen die Entrechtung des Einzelnen wäre nichts
einzuwenden, wenn sie zugunsten der Begegnung mit einem anderen,
des dualen Modus als der wahren Wirklichkeit des Seins erfolgte. Aber
nein: nicht nur, daß der Typus den Einzelnen verdrängt; der Mensch ver¬
schwindet als Gestalt in der Masse und erscheint nur noch als Glied eines
Kollektivs {der Deutsche, der Parteigenosse, der Psychiater oder, noch
schlimmer, der Freudianer usf.), das ihn nicht nur hindert, seine Indivi¬
dualität und sein Wir zu entfalten, sondern auch als Partner in eben
diesem Kollektiv sich zu bewähren. (Der in einer echten Gemeinschaft,
Ehe Kirche, verwurzelte Mensch ist viel weniger gefährdet, vom Kollek¬
tiv verschlungen oder angenagt zu werden; gelegentlich, wenn er näm¬
lich nicht als Du im Wir aufgeht, zahlt er dafür den Preis einer Entper¬
sönlichung, die aber niemals alle Schichten der Person durchdringt.)
Der Soziologe Theodor Geiger hat das Problem, das hier wenigstens
angeschnitten werden muß, bereits in einer ausgezeichneten Studie For¬
men der Vereinsamung“ gesehen. In neuester Zeit hat Arnold Gehlen
treffliche Bemerkungen zu unserem Thema gemacht. Gehlen sagt: In
einer rationalistisch organisierten Gesellschaft ist man sicher, die groß e
Chance der allgemeinen Zustimmung zu haben, wenn man ein Verha -
ten findet, das zugleich sachgemäß und konventionell, das heißt wedei
175
KURT KOLLE
neuartig noch persönlich ist“, und fährt etwas später fort: „Daß nun die
moderne hochrationalisierte und durch und durch bürokratisierte Gesell¬
schaft die Verwandlung der Person in einen Funktionsträger in einem
bedeutenden Grade verlangt und eine Annäherung an diesen unter an¬
deren Ansprüchen farblosen Typus nahelegt, darüber kann kein Zweifel
sein. Diejenigen Eigenschaften, die dies erschweren, erscheinen dann zu¬
nächst einmal als unerwünscht, gleichgültig, ob es sich um asoziale oder
geniale handelt.“
Das Kollektiv, sei es nun die amorphe, anonyme Masse, seien es or¬
ganisierte Gruppen oder nur ideologisch zusammengehaltene Institu¬
tionen, fordert von dem Einzelnen, sich anzupassen. Folgt er dieser un¬
ausgesprochenen Einladung nicht, wird er ausgestoßen, diffamiert, auf
die ungeschriebene Cavete-Tafel gesetzt oder zur Anpassung, zum Wider¬
ruf gezwungen. Der verfügbare Raum erlaubt es leider nicht, ausführliche
Belege aus Geschichte und Gegenwart zu bringen. Geniale, von denen
hier als seltene Ausnahmen eigentlich nicht zu handeln ist, haben ge¬
legentlich die Chance, sich noch zu ihren Lebzeiten zu behaupten. Immer¬
hin zeigen die Beispiele Galilei, Giordano Bruno, Mozart, Beethoven,
Semmelweis (der Retter der Mütter), Bruckner, Korbinian Brodmann
(Psychiater, der den ersten Atlas der Großhirnrinde schuf) wie schwer
es ihnen gemacht wurde, in ihrer Welt Anerkennung zu erringen. Aber
was uns mehr bewegt, ist das Schicksal des guten Durchschnitts, in den
wir auch die Hochbegabten einschließen wollen.
Wir brauchen nur einen kurzen Blich in die heutige Welt zu werfen,
um uns die Frage zu eigen zu machen, die einer der gründlichsten und
produktivsten Denker, Eugen Rosenstock, jüngst in seinem wahrhaft
atemberaubenden Buch „Der Atem des Geistes“ aufgeworfen hat:
„Weshalb ist drei Viertel dessen, was gesagt wird, zwar nicht Lüge, aber
verlogen, kraftlos oder unlebendig, erstickend oder mörderisch?“ Rosen¬
stock, der leidenschaftlich für ein neues Sprachdenken kämpft, von dem
er sich auch eine Erneuerung der menschlichen Gemeinschaft verspricht,
kennt vier Grunderkrankungen der Gemeinschaft, nämlich Krieg, Deka¬
denz, Wirtschaftskrisis und Revolution, die er zugleich als extreme Fälle
der Spracherkrankung auffaßt. Rosenstock, selbst Protestant, beruft sich
auf Kronzeugen der Erschütterung, die die Menschheit seit geraumer
Zeit durchbebt, auf Feuerbach, Kierkegaard, Nietzsche, aus der Gegen¬
wart zum Beispiel auf den Katholiken Ernst Michel, den Juden Martin
Buber.
Unsere Untersuchung ist bereits, seitdem ich meinen Standpunkt als
empirischer Psychopathologe verlassen mußte, an einem kritischen Punkt
angelangt. Die extremen Grenzsituationen der Menschen, die durch
176
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES
177
KURT KOLLE
Erstens:
Krankheit des Leibes oder der Seele, natur- oder lebensgeschiditlidi
begründet, setzt neue Bedingungen, die den Standort des Patienten im
sozialen Raum verändern. Der so oder so behinderte Mensch wird durch
sein Leiden belastet, aber auch entlastet: ihm auferlegte Hemmungen
seiner Kontaktfähigkeit machen ihn frei für verfeinerte Formen seines
geselligen Menschseins. Das nur dem Menschen eigene weltoffene Ver¬
halten feiert seine Triumphe in Gestalten wie der der Helen Keller oder
des Wilhelm Ahlmann. Selbst in der Psychose kann die schöpferische Welt-
haftigkeit erhalten bleiben; in der manischen Daseinsform tritt sie ge¬
legentlich sogar gesteigert hervor. Mithin kein Anlaß, den aus seiner je
und je einmaligen Situationsgebundenheit gerissenen Menschen schlecht¬
hin des Kontaktverlustes zu bezichtigen.
Zweitens:
Das anonyme Kollektiv der modernen technisierten, bürokratisierten
Welt bedrängt den Einzelnen unerhört. Nicht nur, daß er, um seine pri¬
mitivsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen, sich äußerlich zum jeweiligen
Kollektiv bekennen muß, nicht nur, daß er sich innerlich den von ihm ab¬
gelehnten Ideologien beugen muß. Nein, er verwandelt sich von Kopf bis
Fuß; unversehens spricht er in zwei Sprachen, seiner eigenen, für ihn
wahren, und der ihm vom Kollektiv aufgezwungenen, verlogenen. Seine
Ausdrucksgebärden erstarren in den Konventionen vorgeschriebener
Formen. Das nichtssagende Lächeln hat die echte Zuwendung des Men¬
schen zum Menschen, von Antlitz zu Antlitz, verfälscht. Persönliches Aus¬
drucksgebaren wird dem Einzelnen bereits gefährlich. Nur kein indi¬
vidueller Lebensstil, keine eigene Sprache und Schreibe - immer „mit vor¬
züglicher Hochachtung“ unterschreiben - oder, Rosenstock zu zitieren: „Ja,
das weiß man doch ... immer fein vorsichtig.“ Diese trübsinnige Auswahl
aus dem Katalog der aufs Konfektionsniveau - jedem Menschen paßt der
Anzug von der Stange! - abgesunkenen mitmenschlichen Beziehungen
bekräftigt uns, was Buber („Urdistanz und Beziehung“) überzeugend
ausführt: daß nämlich die Fähigkeit des Menschen, von Mensch zu Mensch
bestätigt zu werden und seine Mitmenschen ebenso zu bestätigen, so un¬
ermeßlich brachliegt.
Was tun in dieser Situation des Menschen? Der Druck des Kollektivs
wird noch zu unseren Lebzeiten enorm zunehmen. (Nach zuverlässigen
statistischen Untersuchungen nimmt die Menschheit gegenwärtig um 30
Millionen pro Jahr zu, wird die Erde in 100 Jahren vielleicht 10 Milliar¬
den Seelen zählen.) Der Einzelne hat, auch als Bürger demokratischer
Staaten, nur verschwindend geringen Einfluß auf den Ablauf der Ge¬
schichte. Aber wir als Ärzte, als weltliche Seelsorger, haben es immer nur
178
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES
mit Einzelnen zu tun. Wir können gar nichts anderes tun, als uns dem Ein¬
zelnen vorbehaltlos zuzuwenden und ihm zu helfen, sich selbst zu be¬
stätigen, daß er nicht nur Teilhaber an biologischen und soziologischen
Kollektiv-Normen, sondern zuerst ein Mensch von einmaliger Herkunft
und mit einer einmaligen Lebens ge schichte ist. Damit ist der erste Schritt
zu einer sachgerechten und lebensnahen Psychotherapie getan. Wendet
sich der Arzt hilfreich dem Einzelnen zu, so beherzige er die Mahnworte,
die Karl Jaspers einst aus besonderem Anlaß dem Verfasser mit auf den
Weg gab; „Was geht uns im Verkehr mit Patienten als unbemerkt vor¬
über an Tiefe und Schwierigkeiten, von denen wir nichts ahnen, wenn wir
alles in unseren Kategorien auffassen, subsumieren und mehr oder weni¬
ger darüber Bescheid zu wissen meinen! Nicht nur Nietzsche und Kierke¬
gaard konnten für ihre Person keinen entsprechenden Arzt finden. Es ge¬
hört zu meinen schmerzlichsten Erinnerungen, was ich nicht bemerkt habe
und nicht gefragt habe, weil mir im Augenblick die volle menschliche
Gegenwärtigkeit fehlte. Diese bleibt ja doch die Hauptsache und all das
dürftige Wissen nur ein Mittel-^.“
Von den technischen Maßnahmen (dem Rüstzeug der modernen wis-
senschaftliciien Medizin), die den Einzelnen lebensfähig, das heißt welt-
haftig, machen wollen, ist hier nicht zu reden. Medizin und Psychologie
müssen sich in vielen Fällen darauf beschränken, den Leidenden leibliche
und seelische „Stützkorsetts“ zu verpassen. Darüber hinaus zeichnet sich
als Aufgabe ab, vielen Einzelnen, die mit sich und damit mit der Welt in
Feindschaft leben, zur Freundschaft mit sich selbst zu verhelfen. So hat
Ludwig Binswanger-® einmal das Ziel der Psychotherapie umrissen. Uns
besonders solcher Einzelner anzunehmen, die sich vor dem Moloch des
Kollektivs in die innere Einsamkeit geflüchtet haben, ist eines der dring¬
lichsten Anliegen. Unweigerlich stoßen wir dabei auf die Sinn- und Wert¬
probleme des menschlichen Daseins. Die uns bedrängende Frage „Was ist
der Mensch?“ kann nicht beiseite geschoben werden, sie zwingt uns zum
Philosophieren. Dieses Philosophieren - in der heutigen Welt hauptsäch¬
lich durch Karl Jaspers repräsentiert - macht uns kritisch gegen alle Theo¬
rien, macht uns hellsichtig für alle besonderen Weisen des Menschseins
und hindert uns am vorschnellen Urteil über die nicht ihrer Quantität,
wohl aber ihrer Qualität nach wichtigen Menschen, die als Weltverlorene
erscheinen, jedoch Weltgewinner sind.
Anmerkungen
Der wesentliche Inhalt dieser Arbeit wurde auf Tagungen der Studiengesellschaft für
praktische Psychologie, Bad Pyrmont, und der Nervenärztlidien Gesellschaft in München
vorgetragen.
‘ z. B. Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter, 20. Aufl. Berlin 1950.
179
KURT KOLLE
- Hans von Hentig; Redhead and Outlaw. Journ. of criminal law and Criminologie ot
Northwestern University, Vol. 38, 1947.
-aZit. nach Aldous Huxley: Themen und Variationen, R. Piper & Co. Verlag, Mün¬
chen 1952.
® Tymbos für Wilhelm Ahlmann, Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1951.
Wilhelm Ahlmann: Zur Analysis des optischen Vorstellungslebens, Arch. f. d. ges.
Psychol., Bd. 46.
® Kurt Schneider; Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschriebener Prosti¬
tuierter, 2. Aufl., Berlin 1926.
® Ferdinand Kehrer: Paranoische Zustände, Handbuch der Geisteskrankheiten v. Bumke,
Bd. 6, Berlin 1928.
" Robert Gaupp: Krankheit und Tod des paranoischen Massenmörders Hauptlehrer
Wagner. Eine Epikrise, Z. f. Neurol. 163, 1938.
® Kurt Schneider: Die psychopathischen Persönlichkeiten, 6. Aufl., Wien 1943.
* Wilhelm Mayer-Groß; Bemerkungen... Der Nervenarzt 22, 1951.
Kurt Kolle: a) Daseinsformen seelischer Krisen; b) Bildnerei in der Psychotherapie.
Wanderversammlung südwestdeutscher Psychiater 1949 und 2. Lindauer Psychothera¬
piewoche, Georg Thieme, Stuttgart 1952.
^ Harald Schultz-Hencke: Der gehemmte Mensch, Leipzig 1940.
Ernst Speer: Die Liebesfähigkeit, München 1935.
Adolf Portmann: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944.
Theodor Geiger; Formen der Vereinsamung, Kölner Vierteljahrsh. für Soziologie
Jahrg. X, 1931.
Arnold Gehlen: Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Tü¬
bingen 1949. (Schriftenreihe der Akademie Speyer, H. 2.)
Walter Spielmeyer: Korbinian Brodmann, Dtsch. Irrenärzte, Berlin 1922.
Eugen Rosenstock; Der Atem des Geistes, Frankfurt 1950.
Martin Buber; Das Problem des Menschen, Heidelberg 1948.
“ Viktor Emil v. Gebsattel: Christentum und Humanismus, Stuttgart 1947.
Emst Michel, z. B. in: Der Partner Gottes, Heidelberg 1946.
Karl Jaspers: Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit, München 1950.
Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Zürich 1942.
Karl Jaspers; Der philosophische Glaube, München 1951.
Martin Buber; Urdistanz und Beziehung, Heidelberg 1951.
Friedrich Burgdörfer: Bevölkerungsdynamik und Bevölkerungsbilanz, München 1951.
Wilhelm Fucks: Die Technik und die physische Zukunft des Menschen, Studium
Generale 4, 1951.
Handschreiben vom 21. Nov. 1943.
Ludwig Binswanger: Über Psychotherapie, Nervenarzt 8, 1935.
Im vorstehenden Verzeichnis ist nicht besonders angeführt das für jeden Psychiater
grundlegende Werk von Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 1. Aufl., Berlin
1913, 4. Aufl., Berlin und Heidelberg 1946. Dieses epochale Werk enthält bereits in
seiner 1. Aufl. ein Kapitel: Die soziologischen Beziehungen des abnormen Seelenlebens.
In der 4. Aufl., die zu großen Teilen ganz neu geschrieben wurde, wird im 5. Teil; Die
abnorme Seele in Gesellschaft und Geschichte (Soziologie und Historie der Psychosen
und Psychopathien) geschildert.
180
Renato de Rosa
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN
IN DER MODERNEN PSYCHOPATHOLOGIE
Das Wort Existenz scheint heute überall das äußerliche Merkmal jeder
philosophischen und geisteswissenschaftlichen Bemühung geworden zu sein.
In Deutschland erscheint es in vielen Wortkombinationen wie: Existenz¬
philosophie, Existenzialanalyse, Existenzerhellung usw., in denen der Ver¬
such einer jeweiligen Begriffsklärung noch spürbar ist. In den romanischen
Ländern hat man dagegen das mysteriöse Wort rezipiert und sich über die
Anstrengung jeglichen Nachdenkens mit Hilfe eines griechischen Suffixes
hinweggesetzt. Man spricht von Existenzialismus. Nun aber haben sowohl
dieses romanische Derivat wie die vielen deutschen Wortzusammensetzun¬
gen zu einer ungeheuren Konfusion geführt, die hier und da in der zeit¬
genössischen Kultur zu einer willkommenen Tarnung der Gedankenlosig¬
keit geworden ist. Es ist für die Besinnung wissenschaftlicher Methodo¬
logie vielleidit von Wert festzustellen, auf welche Weise eine solche viel¬
deutige philosophische Bewegung auf partikulare Wissenschaften wirken
kann. Da nun die Probleme und die Interpretationsweisen der Psycho¬
pathologie gegenüber den Voraussetzungen philosophischen und meta¬
physischen Charakters ganz besonders empfindlich zu sein pflegen, sei hier
die Psychopathologie als das wissenschaftliche Substrat gewählt, an dem
eine solche Besinnung versucht werden soll.
Eine kurze Übersicht über die existenzphilosophischen Richtungen in der
modernen Psychopathologie müßte zwei verschiedenen Ansprüchen ge¬
nügen. Der eine zielt auf Information und besteht darin, gewisse theore¬
tische Tendenzen und Prinzipien der Psychopathologie festzuhalten, um
den Sinn und die Möglichkeit einer solchen Theoretisierung besser zu er¬
hellen. Der andere entspringt einem Redlichkeitsbedürfnis und besteht
darin, das Problem des Verhältnisses zwischen Psychopathologie und Phi¬
losophie grundsätzlich zu prüfen, um die Frage nach dem Wesen des
Menschen zu ihrer philosophischen Ursprünglichkeit Zurückzufuhren.
Eine allgemeine Orientierung in der Sphäre der existenzphilosophischen
Bemühungen unserer Zeit wird dabei vorausgesetzt. Sie ist unerläßlich
zum Verständnis der psychologischen Literatur dieser Richtung und kann
am besten erworben werden durch die Lektüre der Hauptwerke L
In zwei grundsätzlich verschiedenen Weisen scheint die Existenzphilo-
sophie auf die Bemühungen der modernen Psychopathologie zu wirken.
Einmal als philosophische Grundhaltung der psychopathologischen For-
181
RENATO DE ROSA
182
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE
etwa negiert und ist die Frage nach ihm keineswegs abgeschalft: Die Seins¬
frage wurde vielmehr bewußt und gleichsam provisorisch im Bereich des
Nichtwissens belassen, eben um die empirische Forschung zu ermöglichen.
Derart können wir von einem wissenschaftlichen Agnostizismus als dem
Stigma wissenschaftlicher Redlichkeit sprechen.
Es ist selbstverständlich, daß in jedem Forschungsgebiete die Nachteile
und die Begrenztheiten eines solchen Agnostizismus empfunden werden
und daß man auf ihn entweder mit Verallgemeinerungen oder Integra¬
tionen reagiert, die mehr oder weniger phantastisch die partikularen Er¬
kenntnisse vervollkommnen sollen. Solche Integrationen sind aber immer
und in allen Bereichen der Wissenschaft Zeichen einer unwürdigen Labi¬
lität der wissenschaftlichen Haltung; Sie tragen dazu bei, nicht nur die
Reinheit der Wissenschaft zu trüben, sondern sind zugleich auch mythen¬
bildend, und die von ihnen dependierenden Mythen zeigen eine um so
verderblichere Auswirkung, je inniger ihre Verbundenheit mit partiku¬
laren wissensdiaftlichen Erkenntnissen zu sein scheint. Das Gebiet der
psychopathologischen Forschung ist mehr als jedes andere Forschungs¬
gebiet solchen Gefahren ausgesetzt, da hier die Bemühungen, die parti¬
kulare Wahrheit zu erfassen, durch die Begegnung mit der menschlichen
Existenz ständig untergraben zu werden drohen. Die Existenz beansprucht
doch mit Recht die Anerkennung ihres Subjektseins und bekundet immer
wieder auf unmißverständliche Weise (durch ihre Unendlichkeit und
wesentliche Unzulänglichkeit), daß die Enge der partikularen Forschung
ihr nicht Genüge tut. Diese Eigentümlichkeit des psychopathologischen
Forschungsgebietes darf nun aber nach Jaspers nicht Veranlassung werden,
den Weg der Erforschung des Partikularen zu verlassen, um die müh¬
same Feststellung der singulären Tatsachen durch ein billiges Spiel der
Phantasie zu ersetzen oder sie ideologisch zu komplettieren. Sie muß viel¬
mehr derart im Bewußtsein des Psydiopathologen Geltung gewinnen,
daß er sich durdi dieses Gefühl des Ungenügens zu einer immer kritisie¬
ren, verfeinerten und komplexeren partikularen Forschung getrieben fühlt.
2. Die Kriterien der wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit. Dm Ergebnisse
der Forschung müssen immer Erkenntnisse sein, welchen wir auf Grund
ihrer Evidenz niemals die Eigenschaft des Wahrseins absprechen können
und deren Bestimmung ist: eine absolute Allgemeingultigkeit auf Grund
von Beweisbarkeit zu erlangen. Evidenz und Beweisbarkeit stellen die un¬
ersetzlichen Eigenschaften jeder wissenschaftlichen Erkenntnis dar. ^e
bedeuten gleichsam den Test für die Reinheit der Wissenschaft. Für alle
wissenschaftlichen Bemühungen aber besteht der Zwang, mit unvollkom¬
menen Begriffen und Urteilen zu operieren, und daraus folgt, daß sie stets
dahin tendieren, mehr oder weniger begründete Antizipationen über die
183
RENATO DE ROSA
184
\
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE
185
RENATO DE ROSA
ten entspringen können. Der zweite hat positiven Charakter und be¬
steht in der echten Beziehung, die sidi durch die philosophische Grund¬
haltung in der konkreten Begegnung der Existenzen von Arzt und Patient
herstellt. Hier, in dieser Begegnung, muß der Psychopathologe das Be¬
wußtsein des Umgreifenden des Menschseins, nämlich der Existenz, be¬
wahren können, welches sich als solches jeder empirischen Analyse, auch
der umfassendsten und tiefsten, entzieht, um als philosophisches Problem
und intelligible Wahrheit über die Psychopathologie und über die Wissen-
sdiaft hinaus zu transzendieren. Das Wesen des Menschen ist ein Medium
metaphysischer Interpretation und führt früher oder später, in unmerk¬
licher Weise, immer zu den Problemen der Existenz und der Transzen¬
denz. Deshalb gerät der Psychopathologe ohne philosophische Grundhaltung
in die Gefahr, den eigentlichen Sinn solcher Problematik mißzuverstehen
und Positionen einzunehmen, die sich sowohl in der Praxis als auch in der
Forschung dann als unhaltbar erweisen. Für die Forschung ist die Gefahr
bedrohlich, weil ohne kritisches Bewußtsein der philosophischen Proble¬
matik gewisse irreparable Verzerrungen der theoretischen Lenkung statt¬
finden können, die jeden wissenschaftlichen Erfolg unmöglich machen; und
in der Praxis, weil, ignoriert man die fundamentale Unzulänglichkeit der
wissenschaftlichen Forschung für die Gewinnung der eigentlichen Ur¬
sprünge des Menschen, die Möglichkeit einer wirklichen Kommunikation
mit den Patienten verlorengeht, wodurch auch der Sinn der Therapie
selber vernichtet wird. Die Wirkungsform der Existenzphilosophie in der
Psychopathologie von Jaspers erschöpft sich in dieser philosophischen
Grundhaltung. Scharf von dieser Grundhaltung zu trennen ist die Wir¬
kungsform der Existenzphilosophie bei den Daseinsanalytikern, deren
Tendenz und Absicht es ist, bestimmte philosophische Interpretationen als
Instrument der wissenschaftlichen Forschung und psychotherapeutischen
Methodik zu benutzen.
186
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE
und trotz der großen Anzahl von Variationen und Abweichungen, die sich
in den einzelnen Arbeiten dieser Richtung bemerkbar machen, lassen sich
einige Charakteristika festhalten.
Die Daseinsanalytiker - so nennen sich die Vertreter dieser Bewegung-
haben zu ihrem geistigen Stifter den Philosophen Martin Heidegger ge-
gemacht und knüpfen an dessen Fundamentalontologie an. Sie versuchen,
in einer mehr oder minder verbalen Analogie eine psychische Fundamen¬
talstruktur zu bestimmen. Das Heidegger’sche Unternehmen besteht dar¬
in, die ontischen Voraussetzungen des Daseins, die Existenzialien, fest¬
zustellen. Das Unternehmen der Daseinsanalytiker besteht dagegen darin,
die psychopathischen und psychotischen Erscheinungen als empirische
Manifestation irgendeiner Modifikation aufzufassen, die in der psychischen
Fundamentalstruktur des Daseins stattgefunden hat. Wenn wir über einen
solchen Versuch zunächst rein logisch nachdenken, so läßt sich eine Reihe
von Postulaten und Schwierigkeiten voraussehen, die diesen Versuch selbst
zum Mißerfolg verurteilen müßten. Hier sind die Postulate:
1. Man muß annehmen, daß es möglich sei, die ontologischen Elemente des
Daseins zu erkennen und zu bestimmen (Angst, In-der-Welt-Sein, usw.).
2. Man muß annehmen, daß solche Elemente oder Existenzialien sich zu
einer normalen Fundamentalstruktur konstituieren können, auf die durch
die Beobachtung der empirischen Manifestationen eines normalen Indi¬
viduums geschlossen werden kann.
3. Man muß annehmen, daß durch die Festhaltung bestimmter Sym¬
ptome abnormer Natur die eventuellen entsprechenden Modifikationen der
Fundamentalstruktur aufgedeckt werden können, die den psychopathischen
und psychotischen Erscheinungen zugrunde liegen (das wäre eigentlich
daseinsanalytische Psychopathologie).
4. Man muß letztlich annehmen, daß wir über Mittel verfugen, die
solche Modifikationen beeinflussen und die Normalität der psychischen
Fundamentalstruktur wiederherstellen können, wovon die Gesundheit des
Patienten abhängig ist (das wäre die einzig mögliche daseinsanalytische
Psychotherapie). Soweit von den Postulaten. ... . ,
Die Schwierigkeiten sind dieselben Schwierigkeiten wie die eines jeden
ontologischen Dualismus. Wenn wir die Existenzialien als ontische Voraus¬
setzung der psychischen Erscheinungswelt postulieren und auch alle übri¬
gen Postulate akzeptieren, die unmittelbar mit einem solchen Denkakt
Zusammenhängen, wie sollen wir dann eine Interferenz zwischen dmsen
zwei Welten, zwischen der Welt der Existenzialien und der Welt der em¬
pirischen Manifestationen, bestimmen können, wodurch zu verstehen wäre
wie die Modifikationen der einen den Modifikationen der anderen Wel
korrespondieren? Und außerdem, wie können wir auf diese Weise mit
187
RENATO DE ROSA
188
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE
stellen der dem Dasein immanenten Angst.“ Das heißt also, daß die Angst,
diese metaphysisdie Macht, die Liebestransparenz auf die Weise beein¬
trächtigt, daß sie besondere Durchbruchsstellen bildet, damit sie selber
hierdurch in Erscheinung trete: ein dramatisches Spiel der Angst mit sich
selber!
In der Tat sind sich die Daseinsanalytiker weder der Postulate noch der
Schwierigkeiten vollkommen bewußt, die ihren Versuchen zugrunde lie¬
gen. Als ein gemeinsames Charakteristikum ihrer Bemühungen läßt sich
deshalb weiter feststellen: eine ungeordnete Mischung von theoretischen,
empirischen und philosophischen Elementen. Nur mit Hinblick auf eine
solche Mischung, die aus einem Mißverständnis der Philosophie erfolgt,
erklären sich die Genese und die Entfaltung der daseinsanalytischen Psy¬
chopathologie. Was ihre Vertreter vereinigt, muß also mehr einen formalen
als substanziellen Charakter haben. So klärte sich auch die Tatsache, daß,
abgesehen vom Jargon und von den hier und da verstreuten Äußerungen
theoretischer Art, jeder Daseinsanalytiker in der Weise, wie er tatsächlich
verfährt und zu konkreten Ergebnissen der Untersuchung strebt, eine
eigene Singularität zeigt, die von den theoretischen Prinzipien völlig un¬
abhängig ist und in der jeweiligen individuellen Begabung des Diagnosti¬
kers und Therapeuten beruht.
Versuchen wir nunmehr, auch auf die Gefahr einer gewissen Verein¬
fachung hin, die einzelnen Vertreter der Daseinsanalyse unter den Psycho-
pathologen in aller Kürze zu charakterisieren:
Boss bedient sich der bekannten Terminologie (Angst, ontischer Fluß,
Liebestransparenz der Daseinsfülle usw.) und theoretisiert nach der Art
von Binswanger. Eines seiner grundsätzlichen Postulate ist die Dialektik
von Liebe und Welt. Die Liebe als ontischer Fluß ist dialektisch mit der
Welt verbunden. Die Welt, die Hindernis und Sorge ist, wird von der
hindurchziehenden Liebe transparent gemacht. Eine Modifikation des dia¬
lektischen Mechanismus von Liebe und Welt manifestiert sich als sexuelle
Perversion: Die Liebe gerät in ein jeweils typisches „Zuhause“. So hören
wir von einem Koprophilen: „Der Mastdarm allein war ihm in seinem zur
Wurmexistenz eingeschrumpften Dasein als Eintrittspforte zum zeit¬
vergessenen Glück und zum Zuhause der Liebe geblieben.“ Aber trotz der
daseinsanalytischen Theorie ist es Boss gelungen, die Perversionen mei¬
sterhaft zu beschreiben und zum Teil auch sehr gute therapeutische Er¬
gebnisse zu verzeichnen. Wo ihm aber das gelang, da hat der durch einen
verworrenen Verbalismus vollkommen verharmloste Existenzialismus ihm
die Möglichkeit gegeben, mit offenem und vorurteilslosem Verstände die
189
RENATO DE ROSA
Zusammenfassung
190
1
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE
i"indl!e,8 und van Gogh. Berlin, Springer 1926. - Nervenarzt Bd.21, 465 (1950).
Minkowski, E.: Evolut. Psy^hi^atr^Bd 4 (1948)
Schneider Kurt: Nervenarzt Bd. 21, lyo t /* ^ ^ o2a /lQil7^
Stordi A.’: Z. Neur. Bd. 127, 799 (1930). - Schweiz. Ardi. Neur. Bd. 59, 330 (1947).
Erste VeröfferttUdrun, im „NervenarU’’, 23. Jahr,an,, S.236ff. (Sprin,er.Verla,, Berlin, Götün,en, Heidelher,).
191
Friedrich Oehlkers
ZVenn idi Karl Jaspers zu seinem 70. Geburtstag eine Arbeit aus dem Gebiete der
Vererbungslehre widme, so bedarf das der Erläuterung. Es war im Jahre 1942,
während des Krieges, zugleich in der Zeit steigender Gefahr für seine verehrte Gattin
wie für ihn selbst, als Jaspers das Manuskript der völlig umgearbeiteten 4. Auflage
seiner Allgemeinen Psychopathologie fertigstellte. In diesem Rahmen hatte er sich auch
zu den Problemen der menschlichen Genetik zu äußern. Das geschah, wie nicht anders
zu erwarten, mit dem Interesse, das seiner profunden naturwissenschaftlich-medi¬
zinischen Grundausbildung entsprach, und mit der Reserve, die den Geisteswissen¬
schaftler und Philosophen jede Überwertung hierher gehöriger Begriffe und An¬
schauungen vermeiden ließ. So waren unsere Unterhaltungen im Sommer des Jahres
1942 in der Plöck in Heidelberg - die letzten relativ unbeschwerten vor späterem
schweren Geschehen - nun auch von meinem Arbeitsgebiet erfüllt. Möge dem Jubi¬
lar dieser Beitrag die damaligen Gespräche in freundliche Erinnerung bringen.
192
\
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
er und was überlegte er dabei? Dann werden wir sehen, daß er mit seiner
Entdeckung in seiner Zeit völlig isoliert dasteht und daß die eigentliche
„Mendelforschung“ tatsächlich doch erst 1900 begann.
Zugleidi sollte man sich von vornherein nodi etwas anderes klarmachen, was für
die richtige Beurteilung unbedingt notwendig ist. Bei der oft wiederholten Erzählung von
dem Sdiicicsal der Mendel’schen Gesetze kommt leicht der Eindruck zustande, daß das
„Vergessen“ der Gesetze eigentlich ganz zufällig gewesen sei. Mendel hatte über seine
Forschungen im Naturforschenden Verein in Brünn berichtet, und in dessen Berichten
ist seine Abhandlung publiziert worden. Selbstverständlich ist das eine ganz entlegene
Zeitschrift, die selten jemand in der zünftigen Wissenschaft in die Hand nimmt. Es kam
hinzu, daß Mendel selbst später aus äußeren Gründen für die Wissenschaft verstummte;
so konnte man meinen, alles sei übersehen und vergessen worden. In Wirklichkeit war
das aber durchaus nicht so, und auch das hat Correns ans Licht gebracht. In der Familie
des Münchener Botanikers Naegeli, mit der Correns verwandt war, hatte sich der um¬
fangreiche Briefwechsel erhalten, den Mendel mit letzterem über seine neuen Befunde
geführt hatte; Correns gab ihn heraus. Damit zeigte sich nun, daß die Entdeckungen
Mendels durchaus vor das Forum der Wissenschaft gebracht und zugleich dem sach¬
kundigsten Mann vorgelegt worden waren, der sich damals auffinden ließ.
193
FRIEDRICH OEHLKERS
aus abgeleiteten Fragen: Welches ist die Ursache für diese Inkonstanz?
und: Wie kann aus einer gegebenen Art eine andere, neue entstehen? ent¬
halten überhaupt Möglichkeiten genauerer experimenteller Prüfung. So
angesehen ist Mendels Ausgangsposition: „Wie verhalten sich zwei mit
verschiedenen Merkmalen versehene Pflanzen bei Kreuzung unter sich
und in ihrer Nachkommenschaft“ einer der möglichen Ansätze zur ex¬
perimentellen Prüfung der Darwin’schen Lehre. Vorgearbeitet wurde
dem schon in Immanuel Kants Anthropologie. Dort ist das Prinzip der
„Halbschlächtigkeit“, die Kreuzung von Menschenrassen, entscheidend
für die Entstehung neuer Typen, eine Auffassung, die vielfach verall¬
gemeinert wurde.
Weiterhin: Wenn wir die besondere Leistung Mendels charakterisieren wollen,
müssen wir uns klarmachen, daß dieser experimentelle Vorsatz keineswegs etwas Neues
war. Kreuzungsversuche, ,,künstliche Bestäubung“, ,,Hybridisation“, ,,experimentelle
Bastarderzeugung“ waren längst geübte Praktiken, und es lagen zu Mendels Zeit be¬
reits umfangreiche Werke über soldie Experimente vor: es seien allein die Namen
Koelreuter, Gärtner, Wichura und Naudin genannt, denen noch eine ganze Reihe weni¬
ger bedeutender angeschlossen werden könnten. Warum aber haben diese seine Vor¬
gänger die so berühmt gewordenen Bastardgesetze nicht gefunden? Worin lagen die
Unterschiede zwisdien ihm und den früheren Forschern?
An dem Beispiel Mendels läßt sich zeigen, eine wie ungeheure Bedeu¬
tung die Methode und vor allem die exakte methodische Vorbereitung
eines Experimentes besitzt. Experimentelles Arbeiten im Sinne eines
bloßen Herumprobierens braucht durchaus nicht zu einer Klärung des
aufgegebenen Sachverhaltes zu führen. Dann nämlich nicht, wenn die
experimentell herbeigeführten Bedingungen mehrdeutig sind. Gerade
hierdurch unterscheidet sich Mendels Arbeitsweise von der seiner Vor¬
gänger, und das sei im folgenden genauer geklärt.
Die sexuelle Fortpflanzung der höheren Pflanzen wird dadurdh eingeleitet, daß der
Blütenstaub, die Pollenkörner, auf die Narbe des Griffels gelangt. Im Zuge redit kom¬
plizierter Vorgänge erfolgt dann die Befruchtung des Eies durch einen männlichen Ga¬
meten im Inneren des Fruchtknotens, und aus einem befruchteten Ei geht wieder eine
neue Pflanze hervor. Es ist nun sehr einfach, in dieses äußere Gefüge des Befruchtungs¬
vorganges experimentell einzugreifen. Man kann bei einigermaßen großen Blüten leicht
den Griffel davor schützen, daß unbeabsichtigt Pollenkörner, eigene oder fremde, dar¬
aufgelangen, und man kann schließlich die erwünschten Pollen künstlich daraufbrin¬
gen. Dann freilich muß man es der Natur selbst überlassen, ob der eingeleitete Sexual¬
vorgang überhaupt zum Ziele kommt, und wenn, ob die daraus entstandene Pflanze
noch normal ist. Daß in der Natur hier von selbst Grenzen gesetzt sind, bedarf kaum
einer besonderen Erläuterung. Wenn im Frühsommer die Tannen blühen, dann wer¬
den ihre Pollenkörner dem Winde anvertraut. Das geschieht zuweilen in solchen Men¬
gen, daß sie in weiter Entfernung von ihrem Ausgangsorte bei Niederschlägen als
Schwefelregen zu Boden geschwemmt werden. Es ist also ganz sicher, daß es dann,
wenn weit und breit alles blüht, in einer an einem Tannenwald gelegenen Wiese wohl
194
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
keine Blüte gibt, deren Griffel nicht mit Tannenpollen bedeckt wäre. Und trotzdem
findet man dort nichts von Bastarden zwischen Tannen und Hahnenfuß oder zwischen
Tannen und Sauerampfer oder Heckenrosen! Diesen natürlichen Verhältnissen nun
sind die älteren Bastardforscher in ihren Experimenten nachgegangen. Sie glaubten
dann auch, bestimmte Gesetzmäßigkeiten gefunden zu haben, etwa solcher Art, daß
Bastarde zwischen Angehörigen zweier Gattungen unmöglich seien, daß Bastarde zwi¬
schen Angehörigen zweier Arten meistens zwar möglich, diese selbst aber steril seien,
und endlich, daß die Bastarde zwischen Varietäten zweier Arten zustande kämen und
auch fruchtbar seien. Den breitesten Raum nehmen die beschreibenden Darstellungen
von artifiziellen und natürlichen Bastarden zwischen Arten ein und die Frage, wie sich
die Nachkommenschaften derartiger Bastarde verhalten, blieb meistens unklar.
Hier griff nun Mendel mit seinen Vorbereitungen ein. Einmal wandte
er sich in seinen Hauptversuchen mit den Erbsen allein der Bastardie¬
rung von Varietäten („Sorten“) zu, er blieb also innerhalb der Art Pisum
sativum, der gewöhnlichen Erbse, und überzeugte sich davon, daß die
Bastardierung keine Anomalien im Fortpflanzungsverhalten zur Folge
habe. Sodann wählte er als Bastardeltern solche Typen aus, die sich in
möglichst einfachen, genau konstatierbaren und leicht abzugrenzenden
Merkmalen unterschieden. Gelbe und grüne Samenfarbe, runde und
kantige Samenform, violette und weiße Blüten, lange und kurze Inter¬
nodien. Er kreuzte diese zunädist untereinander und dann zog er Nach¬
kommenschaften von diesen Bastarden dadurch auf, daß er sie selbst
bestäubte. Bei der Beurteilung der Resultate seiner Versuche führte er
wiederum eine ganz und gar entscheidende neue Arbeitsweise ein, die
keiner seiner Vorgänger verwandt hatte; er arbeitete mit großen Men¬
gen von Nachkommen und zählte die 7ypen, die in den Nachkommen¬
schaften auftauchten, genau aus.
Das waren Mendels Methoden, und das Resultat waren die nach ihm
benannten Gesetze. Wie grundstürzend diese methodische Neuerung des
Auszählens war, zeigt sich darin, daß einer von seinen Vorgängern, Nau-
din, höchstwahrscheinlich die empirischen Befunde der Spaltungsgesetze
bereits besaß; er hat sie indessen nie exakt ausformulieren können, weil
er nicht auf die entscheidende Idee gekommen war, zu zahlen. Den
Inhalt der Gesetze muß ich hier im wesentlichen als bekannt voraussetzen,
wir können sie nur in ganz knapper Form in die Erinnerung zuruckrufen.
Von den vier sogenannten Mendel’schen Regeln können drei als allgemeingultige
Gesetze bezeichnet werden. Mendels Regel der Dominanz, die in ihrer ursprünglichen
Form nidr. allgemein gill, nehmen »ir vorweg Sie bez.ehl auf
ersten Filialgeneration einer Bastardierung und sagt aus, daß in dieser stets alle n
das MeLmaf eines Elters, das dominante, sichtbar sei, während das des anderen, das
teshve, verschwinde. Heute wissen wir, daß es alle Übergänge zwischen dominanter
und intermediärer Ausbildung der Merkmale gibt. , , r ,i r j- t
Das erste Gesetz ist das der Uniformität. Es bezieht sich ebenfalls auf die erste
Generation der Bastarde und sagt aus, daß die aus einer Kreuzung hervorgegangenen
195
FRIEDRICH OEHLKERS
Hybriden untereinander „uniform“, also völlig gleichförmig sind. Von besonderer Be¬
deutung \vird das Gesetz, wenn es unter Einsdiluß der Reziprozität ausgesagt wird.
Das heißt, wenn auch die Bastarde der Kreuzung A9 X B(J und B^ X gleichförmig
sind, also unabhängig davon, ob die Merkmale durch die Mutter oder den Vater über¬
tragen werden.
Das zweite Gesetz ist das der Spaltung. Es bezieht sich auf die zweite Filialgenera-
tion eines Bastardes von Eltern, die sich in einem Merkmalspaar unterscheiden. Diese
Generation wird durch Selbstbestäubung oder Geschwisterkreuzung der Bastardgenera¬
tion gewonnen. In diesem Gesetz wird ausgesagt, daß die Merkmale der Eltern in
voller Reinheit wieder auftreten, und zwar werden sie die des einen Elters, die des
Bastardes und diejenigen des anderen Elters in Zahlenverhältnissen reproduzieren, die
dem theoretischen Wert von 1:2:1 entsprechen. Dabei ist weiterhin bemerkenswert,
daß die Nachkommen der den Eltern gleichenden Pflanzen nicht mehr spalten, sondern
konstant sind. Wird also von der Nachkommenschaft eines Bastardes eine ganze Popu¬
lation aufgezogen, dann muß danach der Gehalt an Bastardpflanzen im Laufe der
Generationen ständig zurückgehen.
Das dritte Gesetz ist das der unabhängigen Kombination. Es bezieht sich auf Bastard¬
nachkommenschaften, deren Eltern sich in mehr als einem Merkmalspaar unterscheiden.
Es zeigt sich, daß die in den Eltern gegebene Kombination von Eigenschaften nicht ge¬
meinsam, sondern unabhängig voneinander dem Gesetz der Spaltung folgen, so daß
neue, in den Eltern nicht vorhandene Zusammenstellungen von Eigenschaften mög¬
lich sind.
196
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
Mendels eigenes Werk schließt damit ab. Er hat es bis in eine Tiefe der Erkenntnis
vorgetrieben, die in seiner Zeit nicht verstanden werden und die er selbst auch mit
noch so viel Arbeit nicht überschreiten und erweitern konnte. Das einzige, was er allen¬
falls noch hätte leisten können, wäre der Nachweis für die Allgemeingültigkeit seiner
Gesetze gewesen, aber prinzipiell Neues über seine Einsichten hinaus hätte er bei dem
Stande der damaligen Biologie gar nicht erwerben können! Mendel schwieg in der Tat
auch als Forscher nach 1867. Äußerlich angesehen war es ein Zufall; er wurde zum Abt
seines Klosters gewählt, und die Verwaltungsarbeit, vor allem ständige Mißhelligkeiten
mit der österreichischen Regierung, nahmen seine Arbeitskraft völlig in Anspruch. Sehen
wir aber genauer zu, so hat ihm sein Geschieh alles zu sagen vergönnt, was er über¬
haupt sagen konnte, und die eine kurze Abhandlune: aus dem Jahre 1866 in der Knapp¬
heit von 44 Seiten hat den einsamen Augustinerpater unter die größten Entdecker in
der Geschichte der Biologie eingereiht.
1900 war eine völlig andere Situation in der Biologie als 1865/66. Ge¬
wiß war die Abstammungstheorie, die Frage nach der Artbildung, nicht
weniger aktuell wie zu Mendels Zeit, und es ist typisch, daß die Wieder¬
entdeckung der Mendel’schen Gesetze bei einem der drei Wieder-
entdecker,^ bei dem Holländer de Vries, aus Fragestellungen heraus¬
gewachsen ist, die sich auf eine experimentelle Bearbeitung der Artbil¬
dung erstreckten. Carl Erich Correns hingegen hatte in seinen Experi¬
menten mit völliger Präzision die Vererbungsfrage gestellt. Das lag
1900 wesentlich näher als 1860 und war auch schon mehrfach aus¬
gesprochen worden. Ich erinnere nur an die 'Arbeiten der Zoologen Weis-
mann und Boveri. Man hatte inzwischen eine umfassendere Kenntnis der
Entwicklungsgeschichte, vor allem der Zytologie und Fortpflanzungs¬
lehre gewonnen. Daraus ließ sicJi der Zusammenhang zwisdien Fort¬
pflanzung und Vererbung ungleich viel klarer formulieren. Fortpflanzung
ist die Fähigkeit der Lebewesen, Keime von ihrem Körper abzustoßen,
aus denen neue Organismen, ihnen gleich, heranwachsen können. Daß es
Keime gibt, war seit dem Altertum bekannt, was sie sind, wurde erst im
197
FRIEDRICH OEHLKERS
198
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
höheren Pflanzen und Tiere tritt eine besondere Teilung ein, bei welcher die beiden
Homologen voneinander getrennt werden, so daß dann in den Gameten nur noch die
Anzahl n vorhanden ist. Konjugieren dann die meist als Eier und Spcrmatozoiden aus¬
gebildeten Gameten in einem Sexualvorgang, dann verschmelzen zunächst die Zell¬
körper, sodann auch die beiden Kerne. Dabei verschmelzen die Chromosomen nicht mit¬
einander, sie bleiben in dem neuen Konjugationskern voneinander getrennt. Dieser
besitzt also wieder die Anzahl 2 ti. Ein Ei ist mit der Konjugation entwicklungsfähig,
und der neue Organismus hat wieder von jeder Chromosomensorte ein Paar.
Wir gehen nun dazu über, die eigentliche exakte Beweisführung dieser
vorerst als Hypothese gedachten Beziehung zu schildern. Sie laßt sich
dadurch erreichen, daß sich auf Grund der Chromosomentheorie ganz
bestimmte Aussagen über den Geltungsbereich der Gesetze -achen las¬
sen Diese Aussagen ergeben überall einen experimentellen Ansatz. Wii
können das Ganze in 5 klaren Thesen zusammenfa^en:
1 Der Primat des Kernes bei der Vererbung. Dieser Satz setzt vor¬
aus’ daß das Gesetz der Uniformität in der Erweiterung der Rezipro¬
zität unbegrenzt gilt. Ich möchte zu dieser ersten These hier sogleich die
199
FRIEDRICH OEHLKERS
200
\
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
ein Bastard ist, gilt der Satz: Bei vegetativer Fortpflanzung gibt es keine
Mendelspaltung.
5. Das Gesetz der unabhängigen Kombination kann unter dem Ge¬
sichtspunkt der Chromosomentheorie durch die Lagerung je zweier ein¬
ander entsprechender Erbanlagen auf verschiedenen Paaren von homo¬
logen Chromosomen und deren Verteilung in der Meiosis verständlich
gemacht werden. Damit ist aber zugleich eine bestimmt definierbare
Grenze für das Gesetz gegeben: Es können nur so viele Paare von Erb¬
faktoren unabhängig voneinander umkombinieren, als die haploide Zahl
der Chromosomen beträgt. Das Gesetz der unabhängigen Kombination
ist also durch die Zahl der haploiden Chromosomen begrenzt.
Der in diesen 5 Thesen zusammengefaßte Ansatz, unmittelbar experimentell angreif¬
bar, erlaubte eine exakte Beweisführung für oder gegen die Chromosomentheorie. Es
ist leicht begreiflich, daß man diese Thesen hier im Rüdcblidc aus dem Ablauf der
Forschung klar und schematisch ableiten kann. Allein Correns hat es vermocht, die
These 3 sdion in der Voraussicht in voller Ausführlichkeit bereits 1902 exakt zu formu¬
lieren. Im übrigen ist in diesen Thesen keineswegs alles beschlossen, was im Rahmen
der ,,Mendelforschung“ gesdiehen ist. Vielmehr sind sehr vielfältige Arbeitsvorhaben
gleichzeitig verfolgt worden. Die Chromosomentheorie der Vererbung stellt nur einen
einzelnen, freilich besonders konsequenten und in seiner Architektur ganz klar über¬
sehbaren Teil dar.
Im folgenden soll an einzelnen Beispielen gezeigt werden, welche Bahnen die Be¬
weisführung einsdilug und welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden waren. Daß es
solche gab, geht schon daraus hervor, daß bis zum Ende der zwanziger Jahre dieses
Jahrhunderts Widersprüche gegen die Chromosomentheorie geäußert wurden, und erst
etwa 10 Jahre später konnte man sie in ihren Grundzügen als bewiesen ansehen.
Über den in der ersten These enthaltenen Geltungsbereich des Gesetzes der Uni¬
formität habe ich schon bei der Formulierung gesprochen. Ich habe sie vorangestellt;
die Einsicht in dieses Gesetz war einer der Anstöße zur Aufstellung der Chromosomen¬
theorie und anfänglich wurden auch keine Ausnahmen davon bekannt. Als diese den¬
noch später auftauchten, war die Chromosomentheorie als solche bereits so gefestigt,
daß hieraus keine prinzipiellen Zweifel mehr erwachsen konnten. Die Ausnahmen konn¬
ten zusammengefaßt einer anderen Interpretation zugeführt werden.
201
FRIEDRICH OEHLKERS
In dem Weizenbeispiel lag also der Fall so, daß die Unstimmigkeit
nur eine scheinbare war, das Gesetz also gilt. Das zweite Beispiel, das
sehr viel von sich reden machte, bezieht sieht auf einen anderen Fall, in
welchem die Bastardspaltung tatsächlich aufgehoben wurde, der aber
ebensowenig als Gegenbeweis für die These von der unbegrenzten Gül¬
tigkeit angesehen werden kann.
Zum Zwecke gärtnerischer Züchtungen waren in dem wohlbekannten Botanischen
Garten in Kew in England zwei Primelarten: Primula floribunda und Primula verti-
cillata miteinander gekreuzt worden. Das Resultat war ein Bastard, der ein ungefähr
intermediäres Aussehen zwischen den beiden Elternarten besaß, sich aber, wie so häu¬
fig die Artbastarde, als steril durch untaugliche Keimzellen erwies. Nach vielen ver¬
geblichen Versuchen bekam man doch einige wenige Nachkommen aus Selbstbestäu¬
bungen des Bastardes; diese glichen aber dem Elternbastard durchaus, waren erstaun¬
licherweise vollfertil und reproduzierten von da ab wie eine normale Pflanze ständig
den Bastardtypus, dazu noch schön ansehnlich und besonders kräftig. Die neue Primel,
die heute in allen Gewächshäusern gezogen wird, erhielt den Namen Primula Kewen-
sis. Was war da geschehen? Ist wirklich aus zwei Arten eine dritte neue konstante gewon¬
nen? Und nichts mehr von dem Gesetz der Spaltung? Besteht wirklich ein grundsätzlicher
Unterschied zwischen Rassen- und Artbastarden, wie schon Naegeli annahm? Nun, hier war
wirklich etwas geschehen! Als man die drei Formen, die beiden Elternarten und den neuen
Typ, die Primula Kewensis, genauer untersuchte, stellte sich heraus, daß letztere die
doppelte Chromosomenzahl gegenüber den Elternarten besaß. Als man den ursprünglich
sterilen Bastard noch einmal wiederholte und ebenfalls untersuchte, stellte sich heraus,
daß dieser die gleiche Chromosomenzahl besaß wie die Ausgangsformen. Doch vertragen
sich die Erbelemente der beiden Typen Pr. floribunda und Pr. verticillata nicht mit¬
einander. Sie geben zwar einen Bastard, doch ist in diesem Bastard die Meiosis ge¬
stört, die Chromosomen paaren sich nicht und die Gonen, die Keimzellen, sterben nach
einer unregelmäßigen Meiosis ab. Wenn nun dabei die Meiosis jedoch einmal so un¬
regelmäßig ist, daß überhaupt keine Reduktion der Chromosomenzahl mehr erfolgt,
dann können die Keimzellen wieder funktionieren; und wenn dann zufällig zwei
202
>
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
gelungen.
203
FRIEDRICH OEHLKERS
Die vierte These ist leicht zu beantworten: es gibt keine vegetative Spal¬
tung! Alle Bastarde sind in ihrem vegetativen Habitus völlig einheitlich,
genau so wie eine Ausgangsform. Alle Einzelteile eines vielzelligen Or¬
ganismus entstehen aus Zellteilungen, die alle mit mitotischen Kern¬
teilungen verbunden sind. Würde irgendwie bei einer mitotischen Tei¬
lung eine Spaltung im Sinne der Mendel’schen Gesetze entstehen können,
dann müßten sich diese an dem vegetativen Körper eines Bastardes auf¬
finden lassen. Das ist nun nicht der Fall. Anschaulicher freilich ist es,
wenn eine vegetative Fortpflanzung eingeschaltet ist, wie bei unzähligen
unserer Garten- und Kulturpflanzen. Alle Tulpen, Hyazinthen, Geor¬
ginen, Rosen, Äpfel, Birnen sind hoch-heterozygot, sie werden stets vege¬
tativ vermehrt, und nie in unzähligen Generationen kommt eine Spal¬
tung vor.
Die fünfte These, von der begrenzten Gültigkeit des Gesetzes der unab¬
hängigen Kombination, ist absichtlich an das Ende dieser Erörterung gestellt
worden. Das Zutreffen der in den anderen vier Thesen geforderten ex¬
perimentell aufweisbaren Ereignisse war eine erwünschte Bestätigung
für die Chromosomentheorie. Man konnte also danach beruhigt sagen:
Nun gut, es ist so, die Chromosomen sind die Träger der Erbanlagen.
Neues indessen über diese Einsicht hinaus wurde damit nicht gewonnen.
Das geschah tatsächlich erst, als man das Gesetz der unabhängigen Kom¬
bination einer näheren Betrachtung seines Geltungsbereiches unterwarf.
Es war zu erwarten, daß nicht alle erblich gesteuerten Merkmale einer
Pflanze oder eines Tieres unabhängig voneinander kombiniert werden
können, daß vielmehr dann, wenn die Zahl der Anlagen die Zahl der
Chromosomen übersteigt, auch je zwei oder mehr auf einem Chromosom
liegen müssen. Es ist anzunehmen, daß diese dann völlig gemeinsam in
jedem Versuch manövrieren und sidi wie eine Erbanlage verhalten. Der
erste, der ein solches Verhältnis faktisch auffand, war Correns bei seinen
Levkojenkreuzungen. Dabei stellte sich dann freilich sogleich eine be¬
sondere Schwierigkeit ein: Wie kann man entscheiden, ob solche - wie
man sie später nannte - gekoppelten Erbanlagen wirklich isoliert auf
einem Chromosom liegen, oder ob es nicht doch nur ein und dieselbe An¬
lage ist, die nur die Eigenschaft hat, eine größere Anzahl von Außen¬
merkmalen gleichzeitig zu beeinflussen. Erst als Bateson und Punnet bei
Lathyrus odoratus und dann anschließend Morgan bei Drosophila das
Phänomen der partiellen Koppelung entdedct hatten und vor allem, als
Morgan eine beweisbare Interpretation dafür gefunden hatte, glückte ein
entscheidender neuer Schritt. In diesen Versuchen stellte sich heraus, daß
eine Koppelung nur in dem Sinne besteht, daß die zufallsmäßige Um¬
kombination weitgehend eingeschränkt ist, aber dennoch zustande kommt.
204
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
Die beste Methode, eine freie Kombination aufzuzeigen, ist der Nadiweis, daß die
vier Gametenklassen eines in zwei Merkmalen heterozygotisdien Bastardes im Verhält¬
nis von 1 : 1 : 1 : 1 auftreten. Ein Beispiel; Eine Antirrhinumpflanze von der Konsti¬
tution Del del E e besitzt die Gametensorten Del E, del e, del E und del e. Wird sie
mit der doppelt rezessiven Form del del e e rüdegekreuzt, dann müssen die vier
Gametenklassen phänotypisch sichtbar und in gleicher Anzahl auftreten; wir finden
hier 216 : 216 ; 206 : 212. Für diesen Fall trifft also das Gesetz der unabhängigen Kom¬
bination in vollem Umfang zu. Ein völlig anderes Ergebnis erhält man bei gekoppelten
Erbfaktoren. Das sei am Mais klargestellt. Eine ebenfalls doppelt heterozygotische
Pflanze von der Konstitution C c Sh sh zeigt nach der Rückkreuzung mit dem doppelt
rezessiven Vater die Klassen
^_h Csh c Sh c sh
c sh c sh c sh c sh
im Verhältnis 4032 : 149 ; 152 : 4035. Das heißt aber, daß die Faktorenkombination, die
derjenigen der Eltern unserer Bastardpflanzen entspricht, in der Fa bevorzugt wird,
daß die Austauschklassen zwar auch auftreten, aber in verminderter Anzahl.
Wollte und mußte man annehmen, daß diese partiell gekoppelten Erb¬
anlagen auf ein und demselben Chromosom gelagert sind, dann bedurfte
es weiter einer Vorstellung, auf welche Weise sie von einem zum anderen
Chromosom hinübergelangen können. Und dafür entwickelte Morgan
seine Hypothese von dem Segmentaustausch zwischen den homologen
Chromosomen. Dieses Phänomen wurde zunächst mit einem Laborato-
riumsausdruck als .Crossing over“ bezeichnet, der sich spater überall ein-
bürgerte, und erklärte den wechselnden Prozentsatz solcher Koppelungen
als Effekt der Entfernung der Erbanlagen voneinander auf den einze -
nen Chromosomen. So wurde die Theorie von der linearen Anordnung
der Erbanlagen auf den Chromosomen begründet, und die ersten Ghro-
mosomenkarin konstruiert. Zur endgültigen Sicherung dieser Konzeption
mußte nun rückwärts wieder die allein auf genetische Experimente begrün¬
dete Morgan’sche Hypothese vom „Crossing over in '''t ^'".omosomen
morphologie nachgewiesen werden! Das hat lange gedauert und war
dnerder schwierigsten für den Abschluß der Chromosomentheorie not¬
wendigen NachweL, ist aber heute ebenfalls erreicht. So g=lnng bei den
■■ fLten Obiekten vorweg bei Drosophila, und unter den Pflanzen
guns lg Nachweis daß sich alle bekannten Erbanlagen in eben
L^deHn^Gruppentlerbringen ließen, als der betreffende OrganUmus
■ Chromosomen Ltte. Man konstruierte die so berühmt gewordenen C
205
FRIEDRICH OEHLKERS
ließ sich erkennen, daß die Beweisführung doch mit sehr großen expe¬
rimentellen Schwierigkeiten verbunden war, ja daß sie in Wirklichkeit
nur für zwei oder drei Objekte mit Sicherheit galt. Nichts schien aber so
dringend erforderlich, wie ein möglichst breiter Nachweis der Allgemein¬
gültigkeit. Auf dem Wege über die Konstruktion der Chromosomen¬
karten war sie nicht zu gewinnen. Die ganze Breite und Fülle der Er¬
scheinungen wurde erst dann erkennbar, als man in der sich nach und
nach ausbildenden Zytogenetik, dem Gebiet in der Erblichkeitsforschung,
in welchem unmittelbar genetische und chromosomenmorphologische Ge¬
gebenheiten aufeinander bezogen werden, ein neues Prinzip zur Anwen¬
dung brachte. Als Lehrsatz formuliert wurde es erst in meinen Arbeiten
von 1937, nachdem schon seit 1920 damit gearbeitet worden war. „Trifft
es zu, daß Struktur und Verhalten der Chromosomen in ursächlicher Be¬
ziehung zum Vererbungsgeschehen stehen, dann muß sich zeigen lassen,
daß jede morphologisch und physiologisch feststellbare Abweichung vom
Normalgeschehen im Chromosomenapparat, insbesondere in der Reduk¬
tionsteilung, zu ganz bestimmten Änderungen im genetischen Verhalten
der betreffenden Form führt.“
Durch diese experimentelle Ausweitung hat die Chromosomentheorie
der Vererbung erst wirklich ihre allgemeingültige Form erreicht. Es gibt
eine ganze Reihe ebenso eleganter wie anschaulicher Beweisführungen für
den eben angeführten Satz in unserer Wissenschaft, doch würde es zu
weit führen, noch auf weitere, wenn auch noch so interessante Einzel¬
heiten einzugehen.
Mit diesen Ausführungen ist der Chromosomentheorie der Vererbung
in der hier gegebenen Darstellung ein relativ breiter Raum gewährt
worden, obwohl sie der ohnehin am weitesten bekanntgewordene Teil
der allgemeinen Erblehre ist. Angesichts der Tatsache jedoch, daß dieser
zentrale Blöde der modernen Erblichkeitsforschung heute wieder ange¬
griffen ist, scheint es mir wertvoll, eine etwas eingehendere Einsicht in
die Art der Beweisführung zu vermitteln. Um unsere Übersicht nun noch=
zu vervollständigen, müssen wir im folgenden freilich etwas summari¬
scher verfahren.
Wir haben nun weiter zu fragen: ist das alles? Ist damit wirklich die
Ausgangsfrage nach der Zelle als Vererbungsträger endgültig und hin¬
reichend beantwortet? Ist alles Erbmaterial wirklich allein im Zellkern,
lokalisiert? Diese Frage verneint die sogenannte nicht-mendelnde Ver¬
erbung, wonach es in der Zelle noch außerkaryotisches Erbmaterial gibt..
Aber fällt das nicht mit Deutlichkeit aus dem Thema unseres Aufsatzes her¬
aus: es sollte doch von der Mendelforschung die Rede sein? Darauf ist zu
antworten: einmal läßt sich der Inhalt der nicht-mendelnden Vererbung;
206
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
nur mit Hilfe eines der Menderschen Gesetze aufweisen, und zum an¬
deren läßt sich zeigen, daß im Organismus eine enge Zusammenarbeit
zwischen den „mendelnden“ Genen und dem außerkaryotischen Erbmate¬
rial besteht. Der Bereich der nicht-mendelnden Vererbung gehört also
auch hierher. Um ihn zu charakterisieren, müssen wir zu der Geltung des
Gesetzes der Uniformität in dem vorhin definierten Sinne der Reziprozi¬
tät zurückkehren; es gibt nämlich hierbei besonders unter den Pflanzen
exakt konstatierbare Ausnahmen. Die beiden Reziproken einer Kreuzung
sind nicht immer gleich ausgebildet.
Man muß freilich bei der Interpretation solcher Fälle, in denen das Reziprozitäts¬
gesetz nicht zutrifft, sehr vorsichtig sein. Es besteht die Möglichkeit, daß selbst
bei ein und derselben zwittrigen Pflanze durch die männlichen und die weiblichen Ga¬
meten verschiedenartige Kerne übertragen werden. Erst wenn das ausgeschlossen ist und
man dennoch bei völlig gleichartigen Genomen Verschiedenheiten in den Bastarden er¬
kennt, je nachdem, ob die Form A Mutter und B Vater oder ob die Form B Mutter und
A Vater ist, erst dann können wir schließen, daß noch ein anderes Zellelement daran
beteiligt ist und diese Verschiedenheiten hervorruft.
Auf diese Weise haben Correns, Renner und manche andere den Nach¬
weis führen können, daß bei den Pflanzen die Plastiden an der Ver¬
erbung beteiligt sind und im Anschluß ebenfalls wieder an Correns und
.. Wf.ttstpin haben zahlreiche Forscher den Nachweis für die Mitwirkung
Entfaltung.
207
FRIEDRICH OEHLKERS
Wollen wir diese Hypothese auf Grund dessen, was wir bisher wissen,
verallgemeinern, so kann man sagen, die Manifestation eines Erbfaktors
wird durch das Plasma erlaubt, gefördert, verändert oder unterdrückt.
Und diese Eigenschaft des Plasmas ist ebenso stabil wie die Erbanlagen
im Kern. Damit ist der Zusammenhang eines heute ungemein aktuellen
Forschungsgebietes mit der eigentlichen und ursprünglichen Mendelfor¬
schung gegeben. Jeder Kenner der Verhältnisse weiß, daß hinter diesen
Fragen das ungemein reizvolle Gebiet der Genstoffe auftaucht, das aber
nun einwandfrei aus der Mendelforschung in das der Entwid^lungs-
physiologie hinüberführt.
Ein drittes Gebiet hat nun eine ebenso unlösliche Verknüpfung mit
der Mendelforschung erfahren wie das vorhergehende; das ist die
Mutationsforschung. Ich wies schon eingangs darauf hin, daß der eine
der drei Wiederentdecker der Mendel’schen Gesetze, Hugo de Vries, in
seiner Arbeit völlig von dem Mutationsproblem in Anspruch genommen
war. Die Frage nach den Mutationen stammt direkt aus dem Artbil¬
dungsproblem. Wie, unter welchen Bedingungen ändern sich die Arten
so, daß neue erbliche Merkmale auftreten und konstant erhalten bleiben?
ist die Grundfrage. Die Bearbeitung ging mit der Mendelforschung zu¬
nächst parallel. In dem Maße, als sich letztere ausdehnte und auf eine
große Anzahl von Objekten übertragen wurde, wurde es immer deut¬
licher, daß das Vorhandensein einzelner Typen, die sich von einer Aus¬
gangsform in einer einfachen Erbanlage unterscheiden, wie man sie
immerwährend brauchte, um überhaupt Mendelexperimente zu machen,
eben gerade das ist, was man in seinem Neuauftreten in der Mutations¬
forschung suchte, und eines der besten Demonstrationsobjekte war dann
bei den Pflanzen Antirrhinum, das Löwenmäulchen, und natürlich wie¬
der Drosophila. Daß die Forschungen von de Vries, der als einer der
ganz großen Anreger gewirkt hatte, nicht sogleich den Anschluß an die
exakten Methoden der Mendelforschung fanden, lag an dessen Objekt,
Ber Gattung Ocnothera; erst auf umständlichen Umwegen konnte das
geschehen. Heute ist auch gerade im Zusammenhang damit eine vollstän-
dige Klassifikation aller Mutationen nach ihrer genetisdien Grundlage
durchgeführt. Den ersten Schritt wiederum in das Artbildungsproblem
hinein tat Erwin Bauer, welcher bei Antirrhinum nachwies, daß sich
spontan bei reinen Formen solche erblichen, im Mendelexperiment nach¬
weisbaren Abänderungen stets auch in genügender Menge dann auf¬
linden lassen, wenn man auf hinreichend geringfügige Merkmale achtet.
Die weitere Frage war nun: Kann man solche Mutationen artifiziell
herbeiführen? Und die bedeutende Entdeckung, die hier wiederum ein
ganzes Forschungsgebiet erschloß, war diejenige von Müller 1927, daß
208
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
aufweisen.
Die hier geleistete Arbeit, die parallel mit allgemeinen Erblidikeitsforsdiungen ver¬
lief begann mit der Entdeckung von Correns, daß die Sexualität getrenntgesiilecht-
lidier Organismen auf das Schema einer Mendelvererbung zu ‘“ JÜl
ieniee der Rüdekreuzung einer Heterozygote mit dem rezessiven Elter. Daran ansdilie
ßend ist diese merkwürdigste alle, Eigensdiaften. die von den Emzellern aus b|s zu
dem Menschen quer durch die lebende Welt gebt, überall untersudit worden, und sie
209
FRIEDRICH OEHLKERS
Eine letzte Arbeitsrichtung sei noch genannt, das ist die Beziehung der
Mendelforschung auf das Artbildungsproblem und die immer wieder er¬
neute Prüfung, ob die aus allen diesen Versuchen erkennbaren geneti¬
schen Grundlagen der Organismen in ihrer ebenfalls mitstudierten Ver¬
änderungsweise eine Artbildung erlauben. In dieser Arbeitsrichtung be¬
sonders wird die Mendelforsdbung wiederum mit ihrer ersten Ausgangs¬
fragestellung aus den Zeiten Mendels und des Darwinismus verknüpft.
Genannt sei hier lediglich die Darstellung von Dobszhansky „Die gene¬
tischen Grundlagen der Artbildung“, in deren verschiedenen Auflagen
er stets von neuem alles Geleistete zusammenfaßte.
210
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG
ben, hoffen kann, ist das entscheidende Phänomen für das „Menschsein“,
und dem gegenüber ist es völlig gleichgültig, wie nahe die Phylogenie den
Menschen an die anderen Säugetiere heranführt oder ob sie ihn doch
noch irgendwo davon separiert. Hier hat nun - und das ist das seltsame
Schicksal der Erblichkeitsforschung, das ich vorhin meinte - die Politik
eingegriffen, eine Politik, die den Menschen als nichts anderes denn als
Lebewesen ansah! Der Mensch als Lebewesen, das gezüchtet, veiwen¬
det oder bekämpft werden kann wie Getreide, wie ein Baum, oder wie
Ungeziefer, das sollte die Grundlage der Rassenpolitik des Dritten
Reiches sein.
Zunächst einmal wurden die Menschenrassen neu abgegrenzt und wdlkürlich nach
einzelnen, relativ häufig vorkommenden Merkmalen aufgegliedert; sodann wurde er¬
klärt, die „Reinerhaltung“ eben dieser „Rasse“ sei biologisch bedeutungsvoll. Diese
Tendenz wurde nun besonders bedrohlich, als man damit eine Wertung verband, einige
sogenannte Rassen, zum Beispiel die „nordische“, sind besonders hochwertig, andere,
zum Beispiel die „jüdische“, sind besonders minderwertig, und aus dieser schauerlichen
Grundtendenz erwuchs für Deutschland die Schande der Nürnberger Gesetze. Nadi
und nach freilich merkten selbst die nationalsozialistischen Rassentheoretiker, daß sie
sich damit auch noch lächerlich gemacht hatten: man wollte „biologisch“ sein und war
doch nur gehässig. Die Natur legt ja bekanntlich alles darauf an, möglichst die Limen
und Varietäten untereinander zu kreuzen; wozu ist sonst die Sexualität mit der Fort¬
pflanzung verbunden? Um nun dennoch eine biologische Begründung zur Vernichtung
unerwünschter Menschen zu haben, tauchte plötzlich in allen rassetheoretischen Ve^
lautbarungen der Begriff der „Artfremdheit“ auf. Die an sich schon völlig willkürlich
ausgesonderten „Rassen“ wurden plötzlich auch noch zu verschiedenen „Arten und
damit sickerte alles, was man über Artbastardierungen und deren biologische Unzu¬
länglichkeit und Unbrauchbarkeit wußte, mit in diese Beurteilung hinein. Es hat selten
eine so skrupellose Verdrehung und Vertauschung der wissenschaftlich erkennbaren
Wahrheit um der politischen Zwecksetzung willen gegeben, wie im Dritten Reich.
Und heute? Heute ist die Erblichkeitsforschung wieder unter die Räder
einer anderen Politik gekommen. Heute wird vom Osten her die gesamte
Chromosomentheorie der Vererbung als Weismannismus, Morganisrnus
und westlicher Kapitalismus in Acht und Bann getan, ist eine Lehre, die
man dort gehalten ist, als verhängnisvollen Irrtum abzuschworen! Der
Züchtungsnutzen und die Verfahren zu seiner geschwindesten Erreichung
stehen im Vordergrund des Interesses, und merkwürdigerweise wird der
Name Charles Darwin von dieser Seite in die Diskussion - die keine ist -
*'und wir, was sollen wir angesichts alles dessen tun? Wir sollen uns
an den Mann, an Gregor Mendel, erinnern, dessen kluges Gesicht und kla¬
rer Geist die ersten Schritte unserer Wissenschaft lenkten und dessen
Namen sie heute noch trägt. Wir sollen arbeiten, solange wir können so
wie er das tat. Wir sollen unsere Experimente sauber ansetzen, wir sollen
211
FRIEDRICH OEHLKERS
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212
Adolf Portmann
Das Denken an die lebendigen Gestalten ist in einem Stillstand, der zum
Fortschreiten der biologischen Einzelforschung einen seltsamen Gegensatz
bildet. Wohl hat sich die Idee von der Selbständigkeit der Lebenssphäre
weithin durchgesetzt, doch äußert sich die Gewißheit von der Autonomie
des Lebendigen nur selten in entsprechenden Auffassungen vom Ganzen
der lebendigen Gestalt. Das Denken an die Organismen nährt sich meist
von den Resten einer überlebten Zellenstaatsidee, die zwar von der Ent¬
wicklungsphysiologie seit langem widerlegt, aber im vagen Meinen der
Zeitgenossen noch immer wirksam ist. Als wesentliches Glied der allge¬
meinen Evolutionstheorie, in der sie den sonst rätselvollen Übergang von
einzelligen Urwesen zu vielzelligen verständlich zu machen hatte, ist diese
Lehre vor Jahrzehnten dem allgemeinen Denken aufgedrängt und vom
politischen Darwinismus ausgebeutet worden. So hilft sie heute noch sozio¬
logische Theorien stützen-sie, die dodi ihre erklärende Wirkung aus dem
Vergleich mit unserem Zusammenleben bezogen hat!
Weithin lebt man heute in der Überzeugung, durch diese Idee von der
Zelle als Elementarorganismus und der höheren Organisation als einem
Zellenstaat im Besitze einer biologischen Grundauffassung zu sein, die
wesentliche Züge des Lebendigen in faßbarer Form einprägsam formu¬
liere. Daß die experimentelle entwicklungsphysiologische Arbeit wie auch
die genetische Forschung gegen diese Grundidee zeugen, das hat noch
lange nicht zu der heilsamen Unruhe geführt, die der Verlust einer tragen¬
den Idee eigentlich auslösen müßte.
Es ist darum notwendig, das Denken um den Organismus wieder zu be¬
ginnen und es aus der Wirklichkeit der heute bekannten Tatsachen neu zu
leisten. In diesem Sinne wird im folgenden auf Aspekte der Lebensfor¬
schung hingewiesen, die beim Suchen nach neuen Bildern bedeutsam und
hilfreich erscheinen. Ich spreche von den Gestalten, deren Leben ich selber
zu erforschen suche, und gehe darum von den höheren Tieren aus. Es wird
nicht schwer sein, das allgemein Gültige in seiner besonderen Abwandlung
bei Pflanzen ebenfalls zu sehen.
Wir wollen im Denken vom Tier bei einem Umstand ansetzen, der meist
gerade darum kaum beachtet wird, weil er so zentral und wesentlich ist: es
ist die Tatsache, daß alle Tiere Zentren von vielseitigem Tun sind, das
von einer besonderen Seinsweise zeugt. Diese ist das Sein mit Innerlichkeit,
213
ADOLF PORTMANN
das Sein in einer „Dimension ohne Ausdehnung“, wie etwa in der Ver¬
legenheit der Sprache gesagt wird. Wenn die Entwiddungsphysiologie
heute von Selbstgliederung des Keims spricht, so ist dieses Selbst, von dem
weiter keine Aussage gemacht wird, als daß „es“ sicii „selber gliedert,
eben dieses besondere Zentrum vielseitiger Aktivität, diese Gestalt, die in
Innerlichkeit ist, der also die Voraussetzungen für alle jene Eigenschaften
innewohnen, die als Merkmale des Lebendigen gelten: Selbstgliederung in
der Entwicklung, Seibstregulation in der Selbstbewahrung, Selbstvermeh¬
rung in der Fortpflanzung. Die erstaunliche Eigenheit der Reizbeantwor¬
tung durch artgemäßes Handeln gehört mit zu diesen Zeugen der Inner¬
lichkeit. Die entwerfenden Vorstellungen, mit denen wir das Entwicklungs¬
geschehen im stummen tierischen Keim zu verstehen versuchen, sind da¬
rum der zu erhellenden Verborgenheit gemäßer, wenn sie aus einer Stim¬
mung heraus geformt werden, die eine besondere Seinsweise am Werke
ahnt, deren erste Äußerung die Selbstgestaltung in der Entwicklung ist.
Wir wissen maximal um Innerlichkeit von unserem eigenen Erleben und
Dasein. Wir erfahren von ihr, wenn auch in viel geringerem Maße bei allen
gestaltverwandten Tieren, denen ja nicht umsonst das naive Denken und
Zögern so viel von unserem menschlichen Erleben zuschreibt. Der notwen¬
dige Widerstand gegen vermenschlichende Deutung des höheren Tier¬
lebens in der Forsdiung muß uns doch auch an eine gewaltige Naturmacht
mahnen, die aus dem Reich der Innerlichkeit stammt: an den Drang zur
Verähnlichung fremder Gestalten, den die Verhaltensforscher heute auch
beim höheren Tier in deutlichen Zeugnissen am Werke finden. Objektive
Verhaltensforschung stellt heute unserem anthropomorphen Deuten eine
entsprechende Tendenz zum Zoomorphen im Erleben beim Tier entgegen^.
Was wir bei uns als Widerstand gegen eine objektive Erkenntnis erfahren,
ist zugleich selber eine der wichtigsten natürlichen Weisen alles Erfahrens
überhaupt.
Die Zeugnisse von Innerlichkeit werden um so dürftiger sein, je wei¬
ter wir uns vom eigenen Typus der Wirbeltierstruktur entfernen. Trotz¬
dem wird der Bereitschaftszustand, in dem ein Denken um solche fernere
Tiergestalten anheben und sich entfalten soll, dem zu Erfahrenden noch
immer gemäßer sein, wenn eine allgemeine Vorstellung von Innerlichkeit
im Sinne eigenen Inneseins am Werke ist und an der Ergründung tieri¬
scher Lebensart mitgestaltet.
Es ist eine der bedeutsamsten Wandlungen der neuen Verhaltensfor¬
schung, daß sie trotz des steten und klaren Kampfes gegen anthropomorphe
Mißdeutung heute doch das höhere Tierleben aus einer Einstellung heraus
erforscht, die im Faktum der „Begegnung“ und alles „Verhaltens“ etwas
ganz Besonderes, dem höheren Leben Eigenes erkennt und in der darum
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UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS
215
ADOLF PORTMANN
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UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS
logie verborgen bleiben müssen. Wie fern die Sprache des Lebensdramas
uns liegt, wie unbekannt das Sein ist, von dem dieses Drama kündet, das
mag durch eine Gruppe von Erscheinungen illustriert werden, deren Zu¬
sammenhang die vergleichende Morphologie aufzuzeigen und zu verstehen
trachtet und deren Meditation uns geeignet erscheint, von der neuen Phase
im Denken um den Organismus zu zeugen.
Wir untersuchen das komplexe Phänomen, das in der Biologie unter
dem Stichwort „Abstieg der Keimdrüsen“ bekannt ist; jene rätselhafte Er¬
scheinung bei vielen männlichen Säugetieren, daß die Hoden noch in der
Embryonalzeit oder erst später die Geborgenheit der Leibeshohle ver¬
lassen und zu äußeren sichtbaren Organen werden. Die verschiedensten
cntwicklungsgeschichtlichen und physiologischen Erwägungen suchen nach
einem Verständnis für diesen Vorgang. So machen Physiologen darauf
aufmerksam, daß die Temperatur im äußeren Hodensack etwas tiefer hege
als die des Körperinnern. Manche schlossen daraus auf ein tieferes Tem¬
peraturoptimum der Spermienbildung und sahen im Abstieg der Hoden
daher die Verwirklichung optimaler Lebensbedingungen für die männ¬
lichen Zeugungsstoffe. Verfolgt man indessen die vergleichend-biologi¬
schen Aspekte, so stellt man fest, daß bei vielen Säugern, deren Hoden in
der Leibeshöhle bleibt, die Spermabildung trotzdem völlig normal ver¬
läuft und daß bei Vögeln das eben diskutierte Temperaturoptimum der
Spermien gar bei 42-43° liegen muß. Das Optimum der Temperatur für
Spermienbildung ist der jeweiligen Lage des Hodens angepaßß und diese
Lage ist nicht eine Folge solcher Temperaturbedürfnisse. Die Physmlogie
hat denn auch nie die Faktorenkette zeigen können, die
im Körperinnern liegenden Hoden aus dieser Lage herausfuhrt. Auch die
Entwicklungsphysiologie kann den Vorgang wohl darstellen, ihn aber
nicht erklären. Daß eine direkte Selektionswirkung den Hoden im Laufe
vieler Generationen allmählich aus der Verborgenheit m ein neu gebilde¬
tes Skrotum hinausgelockt habe, nehmen auch
Selektionswirkungen im Ernst nicht an. Sie denken eher, daß der Hoden
a^tieg vielleicht eine im einzelnen völlig unbekannte Korrelation dar¬
stelle zu der Ausbildung anderer äußerer Merkmale, d^^^J^^^ds sicher
durch Selektionswirkung gesteigert werden können. Nehmen wir aber
dieses Verstehensprinzip an, so sind wir im Reich der Korrelationen die
einer bereits vorgegebenen Ordnung angeboren, und werden damit au
das umfLsenderf unbekannte,^ zu erforsd.ende Ganze verwesen, das sr*
21T
ADOLF PORTMANN
erfahren. Wir müssen zu diesem Zweck doch wirklich versuchen, das Stück
zu erfassen, das da gespielt wird, und den besonderen Standpunkt zu fin¬
den, der diese Sicht ermöglicht. Der Abstieg der Keimdrüsen muß in einem
anderen Felde des Verstehens untersucht werden als dem rein physiolo¬
gischen: in dem des Formenvergleichs. Da begegnen wir dann der für
eine physiologische Untersuchung belanglosen Tatsache, daß in der Reihe
steigender Differenzierungshöhe der Wirbeltiere vom Fisch zum Säuger,
die Keimdrüsen allmählich im Innern des Körpers aus der Rumpfmitte
nach der Beckenzone verlagert werden. Das Geschehen bei den Säugern,
wo der Hoden durch einen Leistenkanal in eine an die Peripherie ver¬
lagerte Tasche der Leibeshöhle und schließlich in einen auffällig sicht¬
baren Hautsack einzieht - dieser auffällige Vorgang erscheint in diesem
Lichte als die Fortsetzung einer Wandlung, die sich im Laufe der Um¬
gestaltung archaischer Wirbeltiere seit undenklichen Zeiten in vielen
Schritten vollzogen hat, deren Ursachen wir nicht kennen. Die Unter¬
suchung in diesem Felde zwingt aber auch zur Beachtung von weiteren
Tatsachen. In derselben Reihe von Rangstufen vollzieht sich eine Fron¬
talwanderung der höchsten nervösen Integrationsorte des Gehirns, ein
Prozeß, der schon seit Jahrzehnten bekannt ist und der schließlich zu
einer auffälligen Steigerung der Hemisphärenanteile im Gehirn der
Vögel und der Säuger führt. Der kaudalen Verlagerung der Hoden ent¬
spricht eine frontale wichtiger Gehirnzentren. Diesen beiden Vorgängen
geht aber ferner auch eine formale Gestaltung der beiden Körperpole, des
Kopfes und der Analregion parallel, eine gestaltliche Erhöhung, die sich
in der Differenzierung farbiger Muster, verschiedener Haarlänge und be¬
sonderer Disposition der Haarwirbel, in der Ausgestaltung von Stirn¬
organen oder Schwanzbildungen äußert. Die menschliche Sitte, welche durch
konventionelle Regeln die Akzente der Beachtung zu lenken versucht,
führt zu einer geringeren wissenschaftlichen Beachtung der Analregion
(selbst im Zeitalter der Psychoanalyse). Daher finden wir viele Darstel¬
lungen der Kopforgane, aber wenig Entsprechendes über die ornamentale
Umformung des anderen Körperpols, wo zuweilen geradezu ein Anal¬
gesicht dem Kopfe polar entgegengestellt ist.
Dem Hodenabstieg formal Vergleichbares geschieht auch am Kopfpol
in der Evolution des Säugergebisses, wie die paläontologische Forschung
sie uns darstellt. Die vordersten Zahnbildungen, Eck- oder Schneidezähne,
deren primäre Rolle im Dienst der Ernährung steht, können durch Lage-
anderung und Vergrößerung aus der Mundhöhle austreten und folgen
dann als sichtbare Bildungen neuen Formgesetzen. Ob wir die zu ge¬
waltigen Stoßzähnen verwandelten Schneidezähne der Elefanten, die
Hauer der Schweine oder den einzelnen Riesenzahn des Narwals prüfen.
218
UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS
219
ADOLF PORTMANN
dem Nachweis einer Rolle, die wir solchen Organen im Sozialleben einer
Art zuordnen können, immer nur ein Teil der Eigenart des Erscheinungs¬
bildes durch eine funktionelle Bestimmung erklärt ist. Jede vertiefte
Untersuchung von Merkmalen der Erscheinung, der sinnlich erfahrenen
lebendigen Gestalt, führt dazu, neben den Rollen der elementaren Er¬
haltung oder der Stiftung von sozialen Beziehungen in der Ausgestaltung
der erscheinenden Glieder auch einen besonderen Formwert zu erkennen,
für dessen Verständnis das Erfassen noch wenig beachteter Zuordnungen
notwendig ist. Um diese Beziehungen klarer zu sehen, muß man sich der
Frage nach der Bestimmung der allgemeinen Organisationshöhe eines tie¬
rischen Typus zuwenden.
Jeder Versuch, die Tiergestalten in natürliche Zusammenhänge zu
ordnen, führt zur Beachtung ihrer verschiedenen Organisationshöhe, die
im Tiersystem bereits in gewissen Grenzen zum Ausdruck kommt. Doch
ist der Begriff der Ranghöhe heute verpönt; er ist unzeitgemäß geworden,
sei es, weil er zu sehr an die hierarchischen Gesellschaftsordnungen er¬
innert, von denen man heute nicht gern spricht - sei es, weil er an unzu¬
längliche Anordnungen der Tiere nach dem Grad von „Intelligenz“ mahnt,
die man mit Recht aufgegeben hat. Diese Flucht vor dem Begriff der Dif-
ferenzierungs- oder Ranghöhe ist aber auch eines der vielen Zeichen des
Zerfalls allen Wertens, zeugt sie doch vor allem davon, daß man objektive
Unterschiede der Gestaltung von Wertungen aus der Freiheit der mensch¬
lichen Entscheidung nicht zu sondern vermag. Die Verfemung solcher Be¬
griffe aus Verlegenheit führt schließlich zum Vergessen der Sache selber.
Die Unterschiede in der Organisation der lebenden Gestalten sind aber
eine bedeutsame Realität: der Rabe ist wirklich komplexer organisiert und
hat ein reicheres Feld des Erlebens als ein Molch; dasselbe gilt beim Ver¬
gleich des Makaken mit einer Spitzmaus, dem einer Biene mit dem Glet¬
scherfloh. Der Physiologe spricht mit Recht vom niederen und höherea
Organismus, und wenn es sich um Versuche am Lebenden handelt, so
dient gerade dieser Unterschied als gewichtiges Argument in der Dis¬
kussion um die Rechtfertigung solcher Eingriffe. Alle Neurologen sind
sich darin einig, daß die zentrale Nervenorganisation bei den verschie¬
denen Gruppen von Tieren ein verschiedenes Niveau der Integration von
Verhaltensweisen leistet und im Zusammenhang mit der Sinnesorgani¬
sation viele Stufen der Innerlichkeit ermöglicht. Wo aber Stufen der Dif¬
ferenzierung von Gestalten bestehen, da muß der Ordnungsversuch, der
die Beziehungen zwischen Formverwandten darstellen will, auch eine
Rangordnung durchführen. Ranghöhe der Organismen ist eine Grund¬
tatsache. Aus dieser Einsicht erwächst die Notwendigkeit des objektiven
wissenschaftlichen Erfassens dieses Stücks der lebendigen Wirklichkeit.
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ADOLF PORTMANN
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ADOLF PORTMANN
So muß denn der Biologe neben den von der Forschung längst beach¬
teten Merkmalen des Lebendigen, neben Selbsterhaltung, Selbstvermeh¬
rung, Selbstregulation ein weniger beachtetes zu vermehrter Geltung brin¬
gen; die Selbstdarstellung des Organismus.
Die ganze Ontogenese ist unter anderem auch solche Selbstdarstellung
des bereits im Bereich des Unsichtbaren charakteristischen Artplasmas. Nicht
umsonst hat sich bei der Erforschung der Entwicklungsvorgänge die Not¬
wendigkeit ergeben, mit Begriffen zu interpretieren, die sonst auf den
reifen Organismus angewendet worden sind: von Entwicklungsinstinkten
mußte doch gesprochen werden und auch davon, daß nur der Vergleich
mit psychischen Phänomenen das adäquate Bild für das ontogenetische
Geschehen biete.
Von Selbstdarstellung sprechen, heißt nicht, eine neue Wirkweise ein¬
führen, einen „Faktor“, der als Glied in der physiologischen Erläuterung
des lebendigen Geschehens eingesetzt werden könnte. Selbstdarstellung
des Organismus ist ein beschreibender Ausdruck, der beobachtbare Eigen¬
heiten eines lebendigen Ganzen erfaßt, die im Versuch des Verstehens
einer organischen Erscheinung eine zentrale Stelle einnehmen müssen.
Das Wort mahnt zur Beachtung von Eigenheiten, die von einer physio¬
logischen Zuordnung ungenügend bewertet sind, die durch die Betrachtung
von abstrakten, alles Eigenartigen entblößten Typen in Vergessenheit
geraten sind, und die durch die Bagatellisierung vieler Merkmale als
bloß „taxonomischen Wertes“ oder durch deren Klassierung als „Luxus¬
gebilde“ eine abwegige Beurteilung gefunden haben, ja, die oft als ober¬
flächlicher Schein einem verborgeneren Kern der Sache gegenübergestellt
worden sind und so mißachtet werden mußten.
Der Nachweis von Auslöserfunktionen, die vielen Merkmalen der Er¬
scheinung im sozialen Leben einer Tierart zukommen, bringt mit neuen
Einsichten auch eine neue Gefahr. Das Erscheinungsmerkmal gilt nun
durch den Nachweis einer physiologischen Rolle in lebenswichtigen Funk¬
tionen als erklärt, indem seine Signalwirkung erkannt ist. Natürlich sind
die Merkmale auch das - aber sie sind stets auch viel mehr, sind stets in
erster Linie Glied des alles überragenden Geschehens der Selbstdarstellung
einer ranghohen und darum echt sozialen Lebensform, in deren Leben
Begegnungen möglich sind. Gerade jene Eigenheiten, welche die Ver¬
haltensforschung an solchen auslösenden Signalen betont — unverwechsel¬
bare Prägnanz und Unwahrscheinlichkeit der Form-gerade dies sind ja die
Eigenschaften, welche auch der Selbstdarstellung dienen. Solche Erschei-
nung in ihrer höchsten Ausprägung kann geradezu als Voraussetzung
aufgefaßt werden für das Indienstnehmen unverwechselbarer prägnanter
Artmerkmale durch die Vorgänge der Arterhaltung.
224
UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS
225
ADOLF PORTMANN
Anmerkungen
^ Hcdiger, H.: Wildtiere in Gefangenschaft. Basel 1942.
■ Müller, A.; Individualität und Fortpflanzung als Polaritätserscheinung. Jena 1938.
^ Portmann, A.: Die Tiergestalt. Basel 1948.
^ Portmann, A.: Etudes sur la Cerebralisation chez les Oiseaux, »Alauda«, Bd. 14
(1946), Bd. 15 (1947). - Wirz, K.: Zur quantitativen Bestimmung der Rangordnung bei
Säugetieren. Acta Anatomica, Bd. 9, 1950.
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HANNAH ARENDT
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IDEOLOGIE UND TERROR
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HANNAH ARENDT
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IDEOLOGIE UND TERROR
die in sich selbst nur der Exponent der Gesetze ist, die in ihr verwirklicht
wurden. Hinter dem Anspruch auf Weltherrschaft, die alle totalitären
Bewegungen stellen, liegt immer der Anspruch, ein Menschengeschlecht
herzustellen, das aktiv handelnd Gesetze verkörpert, die es sonst nur
passiv, voller Widerstände und niemals vollkommen erleiden würde.
An dieser Stelle kommt bereits der grundsätzliche Unterschied zwischen
dem totalitären und allen anderen Begriffen von Gesetz und Recht ans
Licht. Zwar ist es richtig, daß Natur oder Geschichte als die Quellen der
Autorität für alles positive Recht sich auch nach nicht-totalitärer An-
sdiauung im Menschen kund tun - sei es als das lumen naturale des Natur¬
rechts oder die Stimme des Gewissens alles historisch-religiös fundierten
Rechts. Diese Kundgebung der Autorität im Menschen heißt ihn etwas tun,
aber sie macht ihn nicht zu einer wandelnden Verkörperung von Gesetzen;
gerade weil das lumen naturale Einsicht oder die Stimme des Gewissens
Gehorsam fordern, sind sie deutlich von dem einsehenden oder gehor¬
chenden Menschen als seine Autorität geschieden. Die Autorität des Ge¬
setzes regelt die Handlungen der Menschen, sie ist keineswegs und nie¬
mals mit ihnen identisch. Das positive Recht ist im Vergleich mit der Quelle
der Autorität, auf die es sich beruft, zeitgebunden, veränderlich, abander¬
bar je nach Umständen. Aber die Handlungen der Menschen, denen das
positive Recht bestimmte Regeln vorschreibt, sind noch zeitgebundener,
noch abhängiger von Umständen, so daß ihnen gegenüber das positive
Recht eine relative Permanenz behauptet und den dauernd sich ändernden
Umständen der Menschen eine relative Stabilität verleiht. Diese relative
Permanenz ist gleichsam der in die Menschenwelt fallende Schein der
- nach menschlichen Maßstäben geurteilten - ewigen Gegenwart der
Quellen der Autorität und Legitimität aller positiven Gesetze, des jus
naturale oder des offenbarten Wortes Gottes. Alle Gesetze im Sinne des
positiven Redits sind stabilisierende Faktoren für die ewig sich ändernden
Umstände, für die notwendige Unbeständigkeit menschliAer Angelegen¬
heiten, in denen menschliches Handeln sich in einer ständigen Bewegung
hält und ständig neue Bewegung hervorruft. r' i
Im Gegensatz zu dieser Funktion der Stabilisierung, die Gesetze in
allen normal funktionierenden Gemeinschaften haben, sind die totalitären
Gesetze von vornherein als Bewegungsgesetze, als Gesetze, die einer Be
wegung immanent sind, bestimmt. Positives Recht wird verletzt, weil es
in eine dauernde Veränderung hineingerissen ist: was pstern Recht war,
ist heute überholt und Unrecht geworden. (Juristisch gesprodien. au
jedem Gesetz ist eine Verordnung geworden.) Natur und GeschiAte sind
niAt mehr die stabilisierenden Quellen der Autorität für das Hände n
sterblicher Menschen, sondern in sich selbst Prozesse, deren inhärente Be-
233
HANNAH ARENDT
234
IDEOLOGIE UND TERROR
zen Erde verwirklicht oder die Herrenrasse über die ganze Welt zur Herr-
sdiaft gekommen ist.
Totalitäre Politik, die daran ging, die Rezepte von Ideologien zu be¬
folgen, hat das wahre Wesen dieser Bewegungen insofern entlarvt, als
sie deutlich machte, daß es ein Ende des Prozesses nicht geben könne. Wenn
es das Gesetz der Natur ist. Schädliches und Lebensuntaugliches zu eli¬
minieren, so wäre es das Ende der Natur überhaupt, wenn neue Katego¬
rien von Schädlichen und Lebensuntauglichen nicht gefunden würden;
wenn es das Gesetz der Geschichte ist, daß in einem Kampf der Klassen
bestimmte Klassen „absterben“, so wäre das Ende menschlicher Geschichte
gekommen, wenn nicht neue Klassen sich ansatzweise bildeten, um dann
von den totalitären Machthabern zum „Absterben“ gebracht zu werden.
Mit anderen Worten, das Gesetz des Tötens, wonach totalitäre Bewegun¬
gen die Macht antreten, bleibt bestehen als ein Gesetz der Bewegung, selbst
wenn es ihnen je gelingen sollte, die ganze Menschheit unter ihre Herr¬
schaft zu zwingen. Die Menschheit selbst wird die Verkörperung des Pro¬
zesses, also ein ständig sich in seiner Gesamtheit Veränderndes und Be¬
wegendes, in welchem die permanente Ausscheidung der Überflüssigen
und Schädlichen nun gleichsam automatisch vor sich geht. Die Friedhofs¬
ruhe, die nach klassischer Theorie die Tyrannis über das Land legt - und
die in Wahrheit auch immer die Stille war, welche dem Entstehen eines
neuen Anfangs günstig sein konnte - bleibt dem totalitär regierten Land
so verwehrt wie Ruhe überhaupt. Zwar sind seine Bewohner alles in freier
Spontaneität entspringenden Handelns oder auch nur Tätigseins beraubt;
dennoch werden sie in dauernder Bewegung gehalten als Exponenten des
gigantisch übermenschlichen Prozesses von Natur oder Geschichte, der
durch sie hindurchrast. •• j t i.
Wie der Gesetzesstaat positives Recht benötigt, um das unveränderliche
ins naturale oder die ewigen Gebote Gottes oder die aus unvordenk-
lidien Zeiten stammenden und darum geheiligten GebrauAe und Tradi¬
tionen zu verwirkliAen, so brauAt totalitäre HerrsAaft den Terror, um
die Prozesse von GesAiAte oder Natur loszulassen und ihre Bewegungs¬
gesetze in der mensAliAen GesellsAaft durAzusetzem Wie positives
ReAt das Vergehen und das VerbreAen in einer GesellsAaft jeweils fest¬
legt aber für seine Gültigkeit von Übertretungen ganz unabhängig ist -
Gesetze werden niAt überflüssig, wenn siA niemand gegen sie verge ,
so wird auA totalitärer Terror (im Gegensatz zu den EinsAuAter^gs-
methoden in allen Tyranneien und Diktaturen) niAt dann Überfluss g,
wenn es keine Opposition mehr gibt, gegen die er siA wenden konnte,
235
HANNAH ARENDT
haben uns gelehrt, daß wir diesen Vergleich noch einen Schritt weiter
treiben dürfen: wie das Gesetz in den uns bekannten Staatsgebilden
desto vollkommener herrscht, je weniger Verbrechen es durchbrechen, so
wird die vollkommene Herrschaft des Terrors erst dann losgelassen, wenn
jegliche Opposition, gegen die er sich wenden könnte (und in den ersten
Stadien der Diktatur auch faktisch wendet), erloschen ist.
Wenn wir also in Übereinstimmung mit der klassischen Theorie in der
Gesetzesherrschaft das eigentliche W^esen einer verfassungsmäßigen Re¬
gierung sehen, dann können wir Terror als das eigentliche Wesen der
totalitären Herrschaft bestimmen.
II
Wenn hier vom Wesen einer Staatsform die Rede ist, so in der bewußten
Nachfolge Montesquieus, der in der abendländischen Tradition politischen
Denkens Unterschied und Beziehung zwischen dem Wesen einer Regierung
und ihrem Prinzip fand und bestimmte, daß das Wesen der Staatsform
(oder auch seine Struktur) das ist, was macht, daß der Staat so und nicht
anders ist (eine Republik und keine Monarchie etwa), während das Prin¬
zip einer jeden Regierung das ist, was bewirkt, daß in ihr gehandelt wer¬
den kann. (II y a cette difference entre la nature du gouvernement et son
principe, que sa nature est ce qui le fait etre tel; et son principe ce qui
le fait agir. „Esprit des Lois , Livre III, chap. 1.) So hat die Monarchie ihr
Wesen in gesetzlicher Regierung, in der die Macht in den Händen eines
einzigen liegt; gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Ehre, das auf
dem Wunsch nach Auszeichnung beruht. Die Republik hat ihr Wesen in
verfassungsmäßiger Regierung, in der die Macht in den Händen des Vol¬
kes liegt, gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Tugend, das auf der
Liebe zur Gleichheit beruht. Die Tyrannis hat ihr Wesen in gesetzloser
Herrschaft, in der Macht von der Willkür eines einzelnen ausgeübt wird;
ihr Prinzip des Handelns ist die Furcht; worauf diese Furcht beruht, sagt
uns Montesquieu nicht.
Das Wesen totalitärer Herrschaft in diesem Sinne ist der Terror, der
aber nicht willkürlich und nicht nach den Regeln des Machthungers eines
einzelnen (wie in der Tyrannis), sondern in Übereinstimmung mit außer-
menschlidien Prozessen und ihren natürlichen oder geschichtlichen Ge¬
setzen vollzogen wird. Als solcher ersetzt er den Zaun des Gesetzes in
dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen können, durch ein ei¬
sernes Band, das die Menschen so stabilisiert, daß jede freie, unvorherseh¬
bare Handlung ausgeschlossen wird. Terror in diesem Sinne ist gleichsam
das „Gesetz“, das nicht mehr übertreten werden kann. Diese terroristisdbe
Stabilisierung soll der Befreiung der sich bewegenden Geschichte oder
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IDEOLOGIE UND TERROR
237
HANNAH ARENDT
238
IDEOLOGIE UND TERROR
einzelnen über die ihres Schutzes beraubten und zur Ohnmacht ver¬
dammten Menschen loslassen will, noch die despotische Macht eines ein¬
zigen gegen alle anderen, noch, und am allerwenigsten, die Anarchie eines
Krieges aller gegen alle. Die Tyrannis begnügt sich mit der Gesetzlosig¬
keit; der totale Terror setzt an die Stelle der Zäune des Gesetzes und
der gesetzmäßig etablierten und geregelten Kanäle menschlicher Kom¬
munikation sein eisernes Band, das alle so eng aneinanderschließt, daß
nicht nur der Raum der Freiheit, wie er in verfassungsmäßigen Staaten
zwischen den Bürgern existiert, sondern auch die Wüste der Nachbar-
losigkeit und des gegenseitigen Mißtrauens, die der Tyrannis eigentüm¬
lich ist, verschwindet, und es ist, als seien alle zusammengeschmolzen in
ein einziges Wesen von gigantischen Ausmaßen. Auch dies drückt der
auf totalitäre Verhältnisse so trefflich vorbereitete Volksmund auf seine
Weise aus, wenn er nicht mehr von „den“ Russen oder „den“ Franzosen
spricht, sondern uns neuerdings erzählt, was der Russe will oder
der Franzose sei. Terror, als der folgsame Vollstrecker natürlicher oder
geschichtlicher Prozesse, fabriziert dies Einssein von Menschen, indem er
den Lebensraum zwischen Menschen, der der Raum der Freiheit ist, radi¬
kal vernichtet. Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also nidit
darin, daß sie bestimmte Freiheiten beschneidet oder beseitigt, noch dann,
daß sie die Liebe zur Freiheit aus dem menschlichen Herzen ausrottet;
sondern einzig darin, daß sie Menschen, so wie sie sind, mit solcher Ge¬
walt in das eiserne Band des Terrors schließt, daß der Raum des Han¬
delns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet.
Das eiserne Band des Terrors konstituiert den totalitären politischen
Körper, um ein Instrument zu gewinnen, mit dem die Bewegung des Na¬
tur- oder des Geschichtsprozesses beschleunigt werden kann. Dem Terror
gelingt es, Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural,
sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Men¬
schen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automa¬
tisch notwendigen Natur- oder Geschichtsprozesses mit absoluter SiAer-
heit und Berechenbarkeit einfallen. Diese an sich notwendig ablau¬
fenden Prozesse will der Terror auf eine Geschwindigkeit, gleichsam auf
eine Tourenzahl bringen, die sie ohne die Mithilfe der zu einem Men¬
schen organisierten Menschheit nie erreichen konnten. Praktisch heißt
dies daß Terror die Todesurteile, welche die Natur angebliA über, min¬
derwertige Rassen“ und „lebensunfähige Individuen“ oder die GeschiAte
über „absterbende Klassen“ und „dekadente Völker“ gesprochen hat,
auf der Stelle vollstreckt, ohne den langsameren und unsicheren Ver¬
nichtungsprozeß von Natur oder Geschichte selbst abzuwarten.
Wir kennen keinen vollkommenen totalitären Herrschaftsapparat, denn
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HANNAH ARENDT
240
IDEOLOGIE UND TERROR
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gesetze liegt es, daß die, welche heute die Vollstrecker sind und „minder¬
wertige Rassen und lebensunfähige Individuen“ oder ,,absterbende Klas¬
sen und dekadente Völker“ liquidieren, morgen diejenigen sein können,
an denen dieser Ausscheidungsprozeß vollzogen werden muß. Das Ver¬
langen nach Einsicht in diesen Prozeß mobilisiert die totalitäre Herr¬
schaft, um beide, Vollstrecker wie Opfer, auf diesen Prozeß vorzuberei¬
ten. An die Stelle des Prinzips des Handelns tritt die Präparierung der
Opfer, welche Natur- oder Geschichtsprozeß fordern werden, und zwar
eine Präparierung, die gegebenenfalls den einzelnen gleich gut für die
Rolle des Vollstreckers wie für die Rolle des Opfers vorbereiten kann.
Diese Präparierung leistet in der totalitären Herrschaft die Ideologie,
und sie entspricht Montesquieus Prinzip des öffentlichen Handelns, in¬
sofern auch sie für beide, Herrscher und Beherrschte, Vollstrecker und
Opfer, gleichermaßen gültig und zwingend ist.
III
Der Gebrauch der Ideologien als politische Waffe ist so wenig auf tota¬
litäre Bewegungen beschränkt, wie der Gebrauch des Terrors zum Zwecke
der Einschüchterung auf totalitäre Herrschaft beschränkt ist. Auf dem
uralten Gebiet der Grausamkeit haben sich die totalitären Gewalthaber
etwas Neues weder ausdenken können noch wollen; die fabrikmäßig be¬
triebene Vernichtung von Menschen wird oft sogar mit einem Minimum
an Grausamkeit ins Werk gesetzt. So haben die totalitären Bewegungen
auch den von ihnen übernommenen Ideologien, dem Kommunismus oder
dem Rassismus, der Lehre vom Kampf der Klassen oder der Lehre vom
Recht des Stärkeren, nicht einen einzigen neuen Gedanken, ja nicht ein¬
mal ein einziges neues Propagandaschlagwort hinzugefügt.
Obwohl weder Kommunismus noch Rassismus an sich totalitär sind,
enthalten sie doch wie nahezu alle Ismen, gewisse totalitäre Elemente,
die sie zu so eminent geeigneten Werkzeugen in der Hand totalitärer
Bewegungen gemacht haben, daß man meinen möchte, erst in diesem
Gebrauch sei das wahre Wesen der Ideologien ans Licht getreten. Sol¬
cher Elemente im ideologischen Denken gibt es drei, und sie hängen aufs
engste miteinander zusammen:
Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung haben es er¬
stens an sich, nicht das, was ist, sondern nur das, was wird, was entsteht
und vergeht, zu erklären. Sie haben ein Element der Bewegung von
vornherein in sich, weil sie sich überhaupt nur mit dem sich Bewegenden
befassen, also mit Geschichte im gewöhnlichen Verstände des Wortes.
Ideologien sind auch dann nur auf Geschichte gerichtet, wenn sie, wie
im Falle des Rassismus, scheinbar von der Natur ausgehen; Natur dient
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IDEOLOGIE UND TERROR
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HANNAH ARENDT
244
IDEOLOGIE UND TERROR
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HANNAH ARENDT
tischen Handelns ersetzt, ist also noch nicht einmal die Ideologie selbst,
sondern vielmehr die jeder Ideologie inhärente Logik des Deduzierens.
Auch hier hat es sich erwiesen, daß der Volksmund auf seine Weise vor¬
züglich auf diese neue Art von Politik vorbereitet war. Hitler wie Stalin
hatten immer eine besondere Vorliebe dafür, ihre Argumentationen mit
dem: „Wer A gesagt hat, muß auch B sagen“, zu unterbauen, und es ist
kein Zweifel, daß dieses Argument moderne Menschen auf ganz ähnliche
Weise überzeugt wie das „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“.
Der Selbstzwang des deduzierenden Denkens, der Ideologien zu so vor¬
züglichen Präparationsmitteln für den Zwang von Terrorregimen macht,
kommt in dem „Wer A gesagt hat, muß auch B sagen“ vorzüglich zum
Ausdruck, weil er hier ganz offenbar identisch ist mit unserer Angst, uns
in Widersprüche zu verwickeln und durch solche Widersprüche uns selbst
zu verlieren. Von diesem Selbstzwang haben die Bolschewisten, wenn
sie von ihren eigenen Anhängern Geständnisse verlangten, einen äußerst
ausgiebigen Gebrauch gemacht und vielfach demonstriert, daß die dem
Selbstzwang zugrunde liegende Angst, mit sich selbst und seinem gan¬
zen Leben in Widerspruch zu geraten, es mit der Todesangst an Inten¬
sität durchaus aufnehmen kann. Das Argument, mit dem man überzeugte
und loyale Parteianhänger zu Geständnissen zwingt, ist in vielen Ab¬
wandlungen grundsätzlich immer das gleiche: Da du ein überzeugter
Bolschewist bist, weißt du, daß die Partei immer recht hat. (Trotzki hat
einmal in einer Variation des ,,right or wrong, my country“ gemeint:
„Wir können nur mit und durch die Partei recht haben, denn die Ge¬
schichte kennt keinen anderen Weg, recht zu haben.“) Aus Gründen des
objektiven geschichtlichen Prozesses muß die Partei in diesem Augenblick
bestimmte Verbrechen bestrafen, welche historisch sich unausweichlich in
diesem Zeitpunkt ereignen müssen. Für diese Verbrechen braucht sie Ver¬
brecher. Entweder hast du im Zug der historischen Notwendigkeit die
Verbrechen, die wir dir zur Last legen, wirklich begangen, und dann bist
du ein Feind der historischen Entwicklung (und das heißt der Partei als
dem Exponenten dieser Entwicklung), oder du hast sie nicht begangen
und weigerst dich, die historisch notwendige Rolle des Verbrechers zu
spielen; dann begehst du das Verbrechen, das wir dir zur Last legen,
eben durch deine Weigerung, es zu bekennen. — Das Zwingende des
Arguments liegt in dem: Du darfst dir nicht selbst widersprechen, weil
dann dein ganzes Leben sinnlos würde. Das A, das du einmal sagtest,
hat absolute Herrschaft über dich um deiner selbst willen.
Worauf die totalitären Herrschaftssysteme sich verlassen für die be¬
grenzte Mobilisierung sich verhaltender Menschen, deren selbst sie nicht,
oder noch nicht, entraten können, ist dieser Zwang, durch den wir uns
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IDEOLOGIE UND TERROR
selbst zwingen, weil wir uns fürchten, uns sonst selbst in Widersprüchen
zu verlieren. Die Tyrannei des zwangsläufigen Schlußfolgerns, die unser
Verstand jederzeit über uns selbst loslassen kann, ist der innere Zwang,
mit dem wir uns selbst in den äußeren Zwang des Terrors einschalten
und uns an ihn gleidischalten. Das einzige Gegenprinzip gegen diesen
Zwang und gegen die Angst, sich selbst im Widersprechen zu verlieren,
liegt in der menschlichen Spontaneität, in unserer Fähigkeit, „eine Reihe
von vorne anfangen“ zu können. Alle Freiheit liegt in diesem Anfangen¬
können beschlossen. Über den Anfang hat keine zwangsläufige Argumen¬
tation je Gewalt, weil er aus keiner logischen Kette je ableitbar ist, ja
von allem deduzierenden Denken immer schon vorausgesetzt werden
muß, um das Zwangsläufige zum Funktionieren zu bringen. Darum be¬
ruht die Argumentation des ,,Wer A gesagt hat, muß auch B sagen“, auf
der rücksichtslosen Ausschaltung aller Erfahrung und alles Denkens, das
von sich aus irgendwo von neuem zu erfahren und zu denken anhebt.
Wie das eiserne Band des Terrors, der aus vielen Menschen Einen
Menschen machen will, verhindern muß, daß mit der Geburt eines jeden
MenscKen ein neuer Anfang in die Welt kommt, eine neue Welt anhebt,
so soll der Selbstzwang der Logik verhüten, daß jemand irgendeinmal
neu anfängt zu denken, also anstatt B und C zu sagen, und so weiter bis
zum Ende des mörderischen Alphabets, von sich aus A sagt. Der Zwang
des totalen Terrors, der Menschen in Massen zusammenpreßt und so den
Raum der Freiheit zwischen ihnen vernichtet, und der Zwang des logi¬
schen Deduzierens, der jeden einzelnen auf den durch Terror organi¬
sierten Marsch präpariert und ihn in die gehörige Bewegung versetzt,
gehören zusammen, entsprechen und bedürfen einander, um die totali¬
täre Bewegung ständig in Bewegung zu halten. Der äußere Zwang des
Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums der Freiheit alle Be¬
ziehungen zwischen Menschen; zusammengepreßt mit allen andern ist
ein jeder ganz und gar von allen anderen isoliert. Der innere Zwang des
konsequent ideologischen Denkens sichert diesem Zwang seine Wirk¬
samkeit, indem er die also isolierten Individuen in einen permanenten,
jederzeit übersehbaren, weil konsequent logischen Prozeß hineinreißt, in
welchem ihnen jene Ruhe niemals gegönnt ist, in der sie allem der Wirk¬
lichkeit einer erfahrbaren Welt begegnen können.
Die große Anziehungskraft, die das dem Terror entsprechende, sich
selbst zwingende Denken auf moderne Menschen ausubt, liegt in seiner
Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung^ Je weniger die moder¬
nen Massen in dieser Welt noch wirklich zu Hause sein können, desto
geneigter werden sie sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oc^er eine
Lrrenhölle abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und
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HANNAH ARENDT
IV
Wir sagten zu Beginn dieser Ausführungen, daß wir nicht nur ver¬
suchen wollten, das Wesen totalitärer Herrschaft zu verstehen, sondern
in ihm auch die Grundzüge jener Krise zu entdecken hofften, in der wir
heute alle und überall leben. Für Montesquieu, dem wir auch in dieser
abschließenden Betrachtung zu folgen gedenken, hieß dies, die Frage nach
der eigentümlichen, geschichtlichen Einheitlichkeit von Kulturen stellen,
die ihn ursprünglich zu der Suche nach dem „esprit des lois“ veranlaßte,
dem Geist, der je verschieden die in allen Ländern verschieden auftre¬
tenden Regierungsformen und ihre Gesetze beseelte.
Dasjenige, was nach Montesquieu diesen einheitlichen Geist in einer
jeden politischen Formation garantiert, ist die Grunderfahrung, aus der
das jeweils verschiedene Prinzip öffentlichen Handelns entspringt und
die als solche das Gemeinsame ist, was Struktur der Staatsform und Prin¬
zip des ihr angemessenen Handelns verbindet. Solch eine Grunderfah¬
rung menschlichen Lebens, die zu ausschlaggebender politiscLer Bedeu-
tung in einer Republik gelangt, ist die Erfahrung, daß alle Menschen gleich
sind; dieser Gleichheit entsprechen republikanische Gesetze und aus der
Liebe zu ihr, die Tugend ist, entspringt republikanisches Handeln. Die
politisch ausschlaggebende Grunderfahrung, die einer Monarchie - und
eigentlich allen hierarchisch geordneten Staatsformen - zugrunde liegt,
ist die Erfahrung, daß wir durch Geburt einer vom andern verschieden
und auf eine natürliche Weise voneinander und voreinander ausgezeich¬
net sind. Der Liebe zur Auszeichnung, die Ehre ist, muß die monarchische
Gesetzgebung gerecht werden, denn sie bestimmt das Handeln in einer
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IDEOLOGIE UND TERROR
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rors, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisier¬
ten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt, erscheint so als ein letz¬
ter Halt und die „eiskalte Logik“, mit der totalitäre Gewalthaber ihre
Anhänger auf das Ärgste vorbereiten, als das einzige, worauf wenigstens
noch Verlaß ist. Vergleicht man diese Praxis mit der Praxis der Tyran¬
nis, so ist es, als sei das Mittel gefunden worden, die Wüste selbst in
Bewegung zu setzen, den Sandsturm loszulassen, daß er sich auf alle
Teile der bewohnten Erde lege.
Die Bedingungen, unter denen wir uns heute im politischen Feld be¬
wegen, stehen unter der Bedrohung dieser verwüstenden Sandstürme.
Ihre Gefahr ist nicht, daß sie etwas Bleibendes errichten können. Tota¬
litäre Herrschaft gleich der Tyrannis trägt den Kern ihres Verderbens
in sich. So wie die Furcht und die Ohnmacht, aus der sie entspringt, ein
antipolitisches Prinzip und eine dem politischen Handeln konträre Situa¬
tion darstellen, so sind die Verlassenheit und das ihr entspringende logisch¬
ideologische Deduzieren zum Ärgsten hin eine antisoziale Situation und
ein alles menschliche Zusammensein ruinierendes Prinzip. Dennoch ist
organisierte Verlassenheit erheblich bedrohlicher als die unorganisierte
Ohnmacht aller, über die der tyrannisch-willkürliche Wille eines ein¬
zelnen herrscht. Ihre Gefahr ist, daß sie die uns bekannte Welt, die über¬
all an ein Ende geraten scheint, zu verwüsten droht, bevor wir die Zeit
gehabt haben, aus diesem Ende einen neuen Anfang erstehen zu sehen,
der an sich in jedem Ende liegt, ja der das eigentliche Versprechen des
Endes an uns ist. Initium ut esset, creatus est homo - „damit ein Anfang
sei, wurde der Mensch geschaffen.“ Dieser Anfang ist immer und über¬
all da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden,
denn sie ist garantiert durch die Geburt jedes Menschen.
254
Hans Frhr. v. Campenhausen
Noch immer wird die Frag'e, wie das frühe Christentum zum Kriege
gestanden habe, erstaunlich verschieden beantwortet. Das liegt nicht an
den Quellen, die längst gesammelt und oft besprochen worden sind’,
sondern das liegt an der modernen Fragestellung, die das Problem in
einer undialektischen Allgemeinheit so stellt, wie es für die alte Kirche -
und für die Kirche überhaupt - niemals gegeben sein kann. Die frühe
Kirche kennt zunächst überhaupt keine Erwägungen über das, was in der
außerchristlichen Welt geschehen oder unterbleiben sollte, und hat auch
nicht die Absicht, die Ordnung dieser vergehenden Welt im Sinne des
Christentums zu verändern. Was sie an konkreter Weisung und Forde¬
rung vorbringt, ist nur für die Christen gedacht. Freilich, es ist die W^ahr-
heit, die immer nur eine sein kann und einmal allein herrschen wird.
Aber diese Welt ist nicht aus der Wahrheit, zu der sich die Christen be¬
kennen, auch wenn sie als Wahrheit der göttlichen Liebe jedermann heil¬
sam wäre. Die Christen sind „Fremdlinge“ in der Welt, die sie nicht zer¬
stören, sondern heilen wollen, die sie aber gleichwohl stören, weil sie
sich ihren chaotischen Gesetzen nicht einfügen lassen, und insofern
bleiben sie in der Welt eine „Ausnahme“. Christentum und Heiden¬
tum lassen sidi ethisch nicht auf einen gemeinsamen Nenner brin¬
gen; das will auch bei den grundsätzlichen Erklärungen der Christen
wohl beachtet sein. Wenn sie in der Welt etwas hinnehmen und bestehen
lassen, so heißt das noch nicht, daß sie es in jedem Sinne anerkennen; sie
können nur die Welt nicht wandeln und zur Kirche machen. Wenn sie
andererseits für die Christen bestimmte Forderungen aufstellen und als
selbstverständlich behandeln, so heißt das noch nicht, daß sie sie als
zip einer allgemeinen Gesetzgebung“ durchsetzen wollten oder mußten;
sie können sich nur nicht an das Gesetz dieser Welt verkaufen.
Von hier aus ist die scheinbar zwiespältige Beurteilung zu verstehen, die
die alte Kirche dem Krieg und konkret; dem Kriegsdienst zuteil 'werden
läßt. Kein einziger Kirchenvater hat daran gezweifelt, daß in der Welt
so wie sie ist, Kriege geführt werden müssen, und sie finden demgemäß
auch keine Veranlassung, den Soldatenstand besonders zu veruHeilen.
Es gehört zum Wesen der Welt, daß sie Blut vergießen muß sei es im
Kriege, sei es auch vor Gericht (Justiz und Krieg werden unter diesem
Gesichtspunkt fast immer zusammengefaßt). Nur mit Gewalt laßt sich der
255
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN
äußere Frieden erhalten, für den auch die Christen dankbar sind. Darum
beten sie nicht allein für den Herrscher, sondern auch für das Heer und
für seine kriegerische Leistungskraft Aber sie selbst wollen mit dem
Kriegsdienst gleichwohl nicht das geringste zu tun haben. Wenn auch
die Welt ihre Cäsaren nötig hat, so kann der Kaiser^ doch kein Christ
und ein Christ niemals ein Kaiser sein. Die Kirche kennt keinen Kriegt;
um ihretwillen wären die kriegerischen Veranstaltungen in der Welt nicht
erforderlich®. Die Christen sind Friedestifter und halten sich an die Gebote
der Bergpredigt. Sie sind bereit, zum Zeugnis ihrer Wahrheit zu leiden
und zu sterben; aber sie morden nicht mehr*". Die militärischen Forde¬
rungen der Tapferkeit, der Mäßigkeit und des Gehorsams werden von
ihnen nur im bildlichen Sinne in einem Kampfe geübt, bei dem Gott
selber den Oberbefehl führtsie sind zu „geistlichen“ Tugenden ge¬
worden.
Die naive Selbstverständlichkeit, mit der in der Frühzeit der Kirche
das Ausnahmerecht der Christen proklamiert und praktiziert wird, ist
nur auf dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse verständlich. Für
kleine, mehr oder weniger kleinbürgerlidie Enklaven in den friedlichen
Binnengebieten eines wohlgeordneten Reiches, das praktisch keinen Wehr¬
zwang kennt, ist die Zurückhaltung von allen militärischen Dingen leicht,
und man stößt dabei weder von außen noch von innen her auf Schwierig¬
keiten. Die Christen stehen noch außerhalb der politischen Verantwortung,
und die staatsphilosophische Reflexion der Antike hat sie noch nicht in der
Tiefe berührt. Aber dabei kann es nicht bleiben. Die Entwicklung schreitet
fort, und mit dem Wachstum der Kirche muß ihre Verantwortung über
den innersten geistlichen Bereich hinauswachsen. Eine glatte soziologische
Ausgrenzung der Kirche erweist sich der Welt gegenüber äußerlich und
innerlich als unmöglidi. Denn ein „absichtliches Sichausschließen vom
Ganzen kann nur äußerlich gelingen“ und die Ausnahmestellung der
Kirche war im Grunde nicht äußerlich-soziologisch, sondern geistlich ge¬
meint. Man kann der „Welt“, der Wirtschaft, der Politik und auch der
militärischen Welt gegenüber nicht einfach negativ bleiben; aber man
darf sie andererseits auch nicht unmittelbar gutheißen und auf die Kirche
übernehmen. Die eigentümliche, innere Dialektik von Kirche und Welt
beginnt sich zu entfalten und verlangt konkrete, geschichtliche Stellung¬
nahmen, die als solche doch niemals endgültig sein können; sie müssen in
Bewegung bleiben. Die folgende Skizze möchte nur die Anfänge dieser
Entwicklung, das Auftauchen und allmähliche Bewußtwerden des hier
vorliegenden Problems am Beispiel des Kriegsdienstes vor Augen führen.
Sie verzichtet darauf, die Erage in ihrer vollen geschichtlichen und theo¬
logischen Weite zu entfalten und zu beantworten. Möchte die begrenzte
256
DER KRIEGSDIENST DER CHRISTEN
Bis etwa 175 n. Chr. hat es, soweit wir sehen können, noch keine christ¬
lichen Soldaten gegeben und dementsprechend auch keine aktuelle „Solda¬
tenfrage“. Der Kriegsdienst ist zunächst kein Problem, das für die Christen
zur Diskussion stünde ®. Alle Versuche, aus den frühen Quellen und beson¬
ders aus dem Neuen Testament selbst, hierzu konkrete Antworten zu
erhalten, sind zur Unfruchtbarkeit verurteilt^®. Seit dem Ende des zweiten
Jahrhunderts kommt es jedoch immer häufiger vor, daß Soldaten von der
christlichen Mission erreicht werden und sich bekehren. Dürfen sie dann,
als Christen, noch in ihrem früheren Beruf bleiben? Nur in dieser Form
ist die Frage gestellt; von einem freiwilligen Eintritt geborener Christen
ist zunächst noch nicht die Rede^^. Tertullian hat sie auch so noch mit
aller Entschiedenheit verneint; „Der göttliche und der menschliche
Fahneneid, das Feldzeichen Christi und das Feldzeichen des Teufels, das
Lager des Lichts und das Lager der Finsternis sind unverträglich ... Jede
Uniform ist bei uns verboten, weil sie das Abzeichen eines unerlaubten
Berufes ist“ Dabei ist aber nicht in erster Linie an das Töten und Blut¬
vergießen der Soldaten gedacht^®. Was Tertullian fürchtet, ist vielmehr
die Verleugnung des Bekenntnisses und eine kultische Befleckung, die bei
der Strenge der militärischen Disziplin und bei der Rolle, die die heidnische
Religion im ganzen militärischen Zeremoniell und Leben innehat, ge¬
radezu unvermeidlich erscheinen.
Andere denken weniger radikal. Es erscheint keineswegs wünschens¬
wert, die christliche Propaganda im Militär mit so starken Hemmnissen
zu bdasten und Konflikte zu provozieren, indem man jeden gewonnenen
Soldaten zur sofortigen Aufgabe seines Dienstes nötigt. Man beruft sich
zur Rechtfertigung auf allerlei biblische Vorbilder, von Moses und Josua
bis zum Hauptmann von Kapernaum^L Auch Klemens von Alexandrien
- seiner Art nach alles andere eher als ein „Militarist“ - kehrt sich gegen ein
„äußerliches“ Verständnis des neuen, christlichen Lebens. Nicht umsonst
habe Paulus jedem Christen geboten, in dem Stande zu bleiben, in weitem
er berufen sei. Das gilt auch für den Soldaten i®. Nur muß dieser als Christ
bereit sein, hinfort auf die Stimme des einen gerechten Feldherrn, Christus,
zu hören, dessen Schalmei nicht von wilder Kriegsmusik tont und der die
Seinen zum Frieden erzogen hat-. Im ganzen ist der theologische Wider¬
stand gegen den Kriegsdienst der Christen Laufe des drdten Jahr¬
hunderts weithin erlahmt. In diokletianischer Zeit bilden die Christen
im römischen Heer einen erheblichen Prozentsatz, und offenbar handelt es
257
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN
258
DER KRIEGSDIENST DER CHRISTEN
259
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN
260
DER KRIEGSDIENST DER CHRISTEN
haben sich damit geholfen, daß sie gleich die ganze Welt christlich werden
und so dann ohne Schwierigkeiten den ewigen Frieden genießen lassen
Die endgültige Wendung beginnt mit Konstantin. Die Tatsache, daß
der oberste Kriegsherr selbst Christ geworden war, enthüllte die Un¬
durchführbarkeit der idealistischen Spekulationen. Man konnte die Ver¬
antwortung und die Führung der Kriege jetzt schlechterdings nicht mehr
allein auf die heidnische Bevölkerung abschieben. Die Christen mußten
selber ins Glied treten - nicht mehr einzeln und konzessionsweise, son¬
dern grundsätzlich und allgemein. Der Entschluß hierzu ist der Kirche
nicht leicht gefallen.
Gerade die Greuel der vorangegangenen Verfolgungen und Bürger¬
kriege hatten den allgemeinen, bürgerlichen Abscheu vor dem Kriege, den
Eindruck der Ruchlosigkeit des Soldatenberufs in der Kirche noch einmal
mächtig verstärkt. Es hatte Christen gegeben, die schon bei der Einbe¬
rufung zu Märtyrern wurden, weil sie es ablehnten, ein christliches Leben
in diesem Haufen auch nur zu versuchen ^ . „Der gerechte Mann darf
2
nicht Soldat sein; denn die Gerechtigkeit selbst ist sein Kriegerstand“ 3*.
So kommt es auch nach der Überwindung des Heidentums im Reiche und
in der Armee noch zu einer Reihe von seltsamen Übergangsregelungen.
Nicht umsonst hatte Kaiser Konstantin selbst solange gezögert, die christ¬
liche Taufe zu empfangen. Es wird vielfach üblich, den Christen den Ein¬
tritt in die Armee zu gestatten, ja die Desertion in Friedenszeiten sogar
unter schwere kirchliche Strafen zu stellen®^, das Töten aber nach wie vor
zu verbieten. „Personen, die Vollmacht zum Töten besitzen (das heißt die
christlichen Richter), „und Soldaten sollen überhaupt nicht töten, selbst
wenn es ihnen befohlen wird.“ Ist das im Ernstfall schwer Vermeidliche
aber dennoch geschehen, so sollen die Betreffenden von den Sakramenten
ausgeschlossen werden, bis sie Buße getan haben Ein Theologe wie der
große Basileios hat noch gegen Ende des Jahrhunderts diesen Standpunkt
festgehalten Auf die Dauer war das natürlich eine Unmöglichkeit.
Schon Athanasios erklärt gelegentlich, das sonst verbotene Toten der Feinde
sei im Kriege nicht nur erlaubt, sondern sogar lobenswert, und Ambrosius
feiert in der Nachfolge Ciceros unbefangen die soldatische Tapferkeit, die
das Vaterland gegen die Barbaren schirmt»». Nach einem Eriaß Theodo-
sius II. vom Jahre 416 dürfen überhaupt nur noch Christen in die Armee
auf genommen werden; und zweihundert Jahre spater fallt es schwer, den
Kaiser Phokas von der Meinung abzubringen, all seine im Krieg gefalle¬
nen Helden müßten als Märtyrer verehrt werden. Es ist von hier aus nur
noch ein kleiner Schritt bis zu der Idee des heiligen, kirchlich-christlichen
Kriegs im Sinne der Kreuzzüge. - . 1 . j
Überblickt man die durchlaufene Entwicklung, so wird man trotzdem
261
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN
nicht sagen dürfen, die Kirche habe seit dem vermeintlichen „Abfall“
unter Konstantin den ursprünglichen christlichen Ausnahmegedanken
einfach preisgegeben. Eine dogmatisch unbedingte, anarchische Wider¬
standslosigkeit hat die Kirche, wie wir sahen, niemals politisch gefordert.
Sie konnte sie auch dann nicht zum Gesetz erheben, als die Christen es
nicht länger vermeiden durften, staatliche Stellungen und politische Ver¬
antwortung mit zu übernehmen - ohne daß die Welt darum aufgehört
hätte, im biblischen Sinne immer noch „Welt“ zu sein. Aber die Kirche
hat vor der Welt und ihrem weltlichen Kriegsrecht darum nicht einfach
kapituliert. Wir sahen, wie schon Origenes mit seiner Forderung der Ge¬
rechtigkeit die christliche Freiheit der Entscheidung wenigstens grund¬
sätzlich zu wahren sucht, und diese Entwicklung setzt sich bis zu Augustin
und über Augustin hinaus bedeutsam fort. Die Kirche überläßt die Welt
nicht einfach ihrem eigenen Urteil, sondern wagt es, in ihrer Mitte kon¬
kret für das Rechte einzutreten und damit auch für die eigene Wahrheit zu
zeugen. Und noch immer möchte sie selbst eine Stätte des unbedingten
Friedens bleiben. Die aktuelle Abgrenzung wird freilich schwer und müßte
eigentlich immer von neuem gefunden werden. Aber es hat doch seinen
tiefen und nicht nur symbolischen Sinn, wenn vor den Toren der Kirche
und des Klosters dem Krieg und der Blutjustiz grundsätzlich Halt ge¬
boten wird.
Ähnliches läßt sich, freilich weniger deutlich, auch auf dem Gebiet der
individuellen Entscheidung feststellen. Bei aller grundsätzlichen Bejahung
der staatlichen und militärischen Pflichten für alle Bürger, auch wenn sie
Christen sind, wird der Kriegsdienst doch nicht einfach zum absoluten
Gesetz erhoben. Ausnahmen sind möglich und sind gerade als christliche
Ausnahme notwendig. Mönche, Kleriker und „Geistliche“ aller Art
brauchen nicht zu kämpfen, sondern dürfen sich noch immer darauf be¬
schränken zu opfern und zu leiden. In ständischer Verhärtung und Stabi¬
lisierung wird eine Erinnerung an die Möglichkeit der lebendigen Aus¬
nahme immer noch zeichenhaft festgehalten.
Denn auf die Freiheit solcher „Ausnahmen“, die in der Öffentlichkeit
der W^elt stehenbleiben, kommt es in der Tat an. Die christliche Bereit¬
schaft, alle bürgerlichen Lasten und Verantwortungen mitzutragen, wird
damit nicht etwa widerrufen. Sie besteht unbedingt und gilt auch dort, wo
es sich - wie im Fall des unvermeidlich gewordenen Krieges - offensichtlich
um Folgen menschlicher Sünde handelt. Dabei ist es auch ganz gleichgül¬
tig, ob und wieweit sich die Christen unmittelbar mitschuldig gemacht
haben oder nicht. Aber es darf auf der anderen Seite doch niemals der An¬
schein entstehen, als sei die Sünde selbst noch eine Macht, deren Herrschaft
die Christen hinnehmen müßten, statt sie zu bekämpfen. Die Christen ord-
262
DER KRIEGSDIENST DER CHRISTEN
nen sich den politischen und militärischen Fronten darum niemals so ein,
als ob der Krieg eine letzte Wahrheit und Wirklichkeit bestätigte, die keine
Durchbrechung duldet. Die Wahrheit, die wirklich gilt, ist vielmehr die
Wahrheit des der Welt geschenkten Friedens, und diese Wahrheit muß
überall bezeugt werden. Die Front der Feindschaft muß geistlich sein und
sie darf des zum Zeichen auch ganz äußerlich immer wieder durchbrochen
werden. Kriegsdienst und Kriegsverzicht der Christen gehören also in ge¬
wisser Weise zusammen. Die recht verstandene „Ausnahme ist in diesem
Falle die notwendige Auslegung und Bestätigung einer richtig verstan¬
denen „Regel“.
Anmerkungen
Idi verweise ein für allemal auf die bekannte und in der Hauptsache noch immer
ausreichende Zusammenstellung bei A. v. Harnack, „Militia Christi“. Die christlidie
Religion und der Soldatenstand in den ersten drei Jahrhunderten. 1905. Einige
neue Insdiriften, die seitdem hinzugetreten sind, findet man z. B. bei Cabrol-Leclercq,
Dict. d’archeol. diret. et de liturgie XI, 1 (1933) Art. „Militarisme“. Die grundsätz¬
lichen Probleme sind besonders im angelsächsischen Raum diskutiert worden; vg .
namentlich C. J. Cadoux, „The Early Christian Attitüde to War“ (1919) und die
ausgezeichnete Erörterung durch Roland H. Bainton, „The Early Churdi and War ,
Harv. Theol. Rev. 39 (1946) 189 ff. Die römisch-katholischen Erörterungen im bti e
O Schillings, „Naturrecht und Staat nach der Lehre der alten Kirche“ (1914), leiden
fast durchweg unter einer vorzeitigen Einspannung und Erledigung der Frage nach
naturrechtlichen Gesichtspunxten.
Tert., apol. 30; Cypr., ad Demetr. 20; Arnob., adv. nat. IV 36.
Tert., apol. 21.
Just., dial. 110.
Clem. Al., protr., 116; paed. I 12. . t , Ar- v \ n.f cm
Just, apol. I 39; dial. 110; Iren., haer. IV 34; Tert., adv. Jud. 3; Minuc. Fel., Oct. 30.
So z. B. I. Clem. 37.
K. Jaspers, „Von der Wahrheit“ (1947) 749. , t- r « T uk 3 14
Er wird ein einziger Mal, nänrlid, in der sog. Standespredigt des Täufers Luk. 3,14,
wenigsten, gestreift: inden. die Soldaten eu suchtvoller und geordnete, CAenswe se
ermahnt werden, ist ihr Stand als soldter jedenfalls n.At verworfen
gewissen Voraussetsungen anerkannt. Das haben sid, schon zu r)*, hervor-
Verfedrler eines christlichen Kriegsdienstes zunutze gemacht "
hnhfn Allein es ist zu beachten, daß der Text noch nicht von christlichen Soldaten
Sndelt und daß er bei Lukas (der ihn allein bringt) wahrsAeinlich nicht ohne eme
gelse apologetische Absicht geboten wird, um staatspolitische Bedenken gegen die
iiinß-e Bewegung von dieser Seite her zu zerstreuen.
. Das haVz B W Bi.nort, „Krieg, Kriegsdienst und Kriegsd.enstverwe.gerung nad, de,
Botschaft de. Neuen Testaments“ (1952) nicht genügend erwogen, wenn er nicht weni¬
ger als 38 Thesen zum Thema exegetisch zu erheben ^
zeige Für Arbeit und Besinnung“, Beilage f. Baden 6 (1932) 247
11
Vgl. besonders Can. Hipp. XIV 74: christianus ne fiat propria voluntate miles.
12
13
A^ch’dle PoleL\k gegen die Übernahme öffentlicher Ämter und Richterstellen er-
263
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN
wähnt dies Moment nur am Rande und zum Überfluß: de idol. 17 f.; vgl. de cor. 11.
Tert., de idol. 19.
Giern. Al., protr. 10, 100.
Giern. Al., paed. I 12; vgl. protr. 116; Strom. IV 61 f.
Euseb., hist. eccl. VII 30, 8.
Orig., contra Gels. VIII 55.
« ebd. VIII 68.
ebd. VIII 69.
2» ebd. IV 81.
** ebd. IV 82.
Orig., Mt. comm. ser. 36.
Orig., contr. Gels. VIII 73.
ebd. V 33. Bezeichnend ist die allegorische Ausweitung des Gedankens.
Orig., Num. hom. 26.
” Orig., contra Gels. VIII 73.
Mt. 24, 12.
Orig., Mt. comm. ser. 37.
Orig., contr. Gels. VIII, 70.
So Arnob., adv. nat. I 6.
^ Vgl. besonders das Martyrium des Maximilianus, der allem Zureden zum Trotz bei
seinem „non possum militare, non possum malefacere — Ghristianus sum“ verharrt. In
der Frage des Bekenntnisses und der gottesdienstlichen Teilnahme ist man den Ghristen
während der letzten Zeit offenbar auch in der Armee weit entgegengekommen.
Lact., inst. VI 20, 16.
So ist wohl insbesondere der can. 3 des Arier Konzils von 314 zu verstehen: de bis qui
arma proiiciunt in pace placuit abstineri eos a communione.
Gan. Hipp. 13 f.
Basil., ep. 188, 13. Das geschieht, obgleich auch er den Krieg, d. h. den gerechten Krieg,
der -önsg amcpQoa'övrtg Kai siaeßsCag geführt wird, ausdrücklich für erlaubt erklärt.
Atiian., ep. ad Amunem, wo die Bemerkung allerdings nur vergleichsweise und nicht
speziell für den Ghristen gemacht wird. Doch wird die veränderte Stimmung sofort
deutlich, wenn man die verwandte Aussage Gyprians, ad Donat. 6, daneben hält:
hier erscheint gerade empörend, daß das Verbrechen des Mordes ,,virtus vocatur,
cum publice geritur“.
Ambr., de off. I 129.
264
Jeanne Hersch
Ich weiß noch, mit welcher Empörung ich als junge Studentin den Ge¬
danken zurüdtwies, daß die Machtübernahme Hitlers irgendeinen Einfluß
auf den Lauf meiner Studien haben könnte - daß sie mich zum Beispiel
hätte davon abhalten können, meinen Philosophiestudien an einer deut¬
schen Universität weiterhin zu folgen. Mit welchem Recht wollte dieser
Herr, den ich gar nicht kannte, in meine Entscheidungen eingreifen? Mit
welchem Recht durfte sich die Politik in meine Angelegenheiten mischen?
Ich glaube, daß bei den jungen Leuten von heute eine solche individua¬
listische Auflehnung nicht einmal mehr vorstellbar wäre. Sie werden - mit
Recht - sagen, daß meine damalige geistige Verfassung noch dem 19. Jahr¬
hundert angehörte.
Einige Monate später wußte man, daß dieser „indiskrete Herr , der so
in mein Studium eingriff, schon dabei war, noch etwas entscheidender in
das Schicksal von Millionen Menschen einzugreifen - indem er sie vom
Leben zum Tode beförderte. Einige Jahre später wußte man, daß von
seinem Erfolg oder Mißerfolg alles abhinge, das Schicksal Europas, Leben
oder Tod und das Verhalten aller Europäer - vielleicht der ganzen
Menschheit. . j j n
Ich muß dazu sagen, daß ich in der Schweiz aufgewachsen bin, und daß
dort der Lauf der Geschichte seit geraumer Zeit fürs nächste ziemlich harm¬
los erschien.
Als ich in diesem Jahr 1933 Deutschland verließ - eine kleine Jüdin, die
man mit besonderer Rücksicht behandelt hatte, weil sie Ausländerin war,
während andere, kompromittierte oder verdächtige Studenten lautlos am
Schluß einer Vorlesung verschwanden, Männer in braunen Hemden die
265
JEANNE HERSCH
266
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS
Seitdem ist, weit über mein eigenes Leben hinaus, alles, was ich liebe,
bedroht. Nicht einmal die Toten sind sidier. Die Vergangenheit bietet
keine Zuflucht mehr. Eine furchtbare Gleichzeitigkeit der Gefahr hängt
über der ganzen Dauer der menschlichen Geschichte, die als Ganzes unter
der Bedrohung des kommenden Augenblicks steht. Das Leben und Sterben
des Sokrates kann man heute noch sinnlos machen. Oder wenigstens kann
der ewige Ort, an dem ihr Sinn aufgeschrieben wurde, jetzt und auf immer
ganz von der Welt der Menschen abgeschnitten werden. Auch Sokrates
kann noch in einen Verbrennungsofen geworfen werden. Er kann in Ver¬
gessenheit geraten. Der in Armut lebende Spinoza, der es vorzog, Brillen¬
gläser zu schleifen und den Lehrstuhl einer Universität ausschlug, um un¬
abhängig und frei über die Notwendigkeit nachzudenken, kann dazu
dienen, den Geist zu knechten. Die Toten sind allem und jedem preis¬
gegeben. Man kann Tatsachen völlig aus dem Gedächtnis der Menschen
auslöschen und ihre Spuren aus allen Dokumenten tilgen, man kann sie
soweit entstellen, daß ihre wahre Bedeutung ins genaue Gegenteil ver¬
kehrt wird. Diese vollendeten Verbrechen haben in der Welt der Menschen
eine Art ontologische Macht. Die Vergangenheit ruht und kann sich nicht
wehren, und das vergossene Blut ist Wachs in den Händen der Macher ge¬
worden Und doch hängt die Zukunft, die Zukunft der Kinder von heute
und von morgen, die des menschlichen Geistes, den die Welt braucht, um
Gestalt anzunehmen, von dieser Vergangenheit ab.
Die Geschichte will es, daß Vergangenheit und Zukunft von uns, die wir
für einige Jahre die Lebenden sind, abhängen. Im gewissen Sinne han-
gen sie sogar nur von uns ab, und vor uns ist alles mögh* - vom Besten
bis zum Schlimmsten, Wir selbst können übrigens Vergangenheit und Zu¬
kunft nie endgültig sichern, sondern nur wenn es gut geht, von Auge»-
blick zu Augenblick. Die drohende Gefahr besteht, solange die Zeit be
steht. Und selbst der Gedanke, daß, wenn wir etwas hatten zugrunde ge¬
hen lassen, es noch durch eine andere Hilfe gerettet werden könne, ist uns
fast verboten.
267
JEANNE HERSCH
Zwischen dem täglichen Leben und der werdenden Geschichte kann man
keine Grenze ziehen. Mit oder ohne unseren Willen machen wir Geschichte,
sogar ohne es zu wissen, durch Lebensführung und bloßes Dasein. Die Ge¬
samtheit jener Handlungen, die nicht nur zufällig eine historische Rück¬
wirkung haben, sondern deren ausgesprochener Sinn es ist, in den Lauf der
Geschichte einzugreifen und das Ihre dazu beizutragen, sie zu formen,
nennen wir Politik. Die Politik ist also Geschichte, insofern sie sich bewußt
und willentlich entwickelt.
Eine politische Existenz enthält meines Erachtens nach das Postulat, daß
der Mensch die Macht hat, in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Weder
in der fatalistischen noch in der deterministischen Weltanschauung hat
eigentliche Politik ihren Raum. In beiden Systemen ist alles vorgegeben,
sei es zum Guten oder zum Bösen, sei es, daß das Gute und das Böse vor
der majestätischen Notwendigkeit zunichte werden. Die Zukunft ist nur
unbekannt, weil der Mensch unwissend ist. Selbst wenn man dem politi¬
schen Handeln innerhalb des Determinismus eine Möglichkeit einzuräu¬
men versucht, indem man aus ihm eines seiner konstituierenden Elemente
macht, bleibt die Alternative in ihrer ganzen Schroffheit bestehen. Hat die
Politik den Einsatzwert, von dem wir oben sprachen, oder gibt es über¬
haupt keinen solchen? Im Falle des Determinismus wird er hinfällig. Es
gibt keine Verantwortlichkeit mehr, nur noch einen mechanischen Ab¬
lauf. Man mache nicht den Einwand, daß der Determinismus zwar im
großen ganzen zu Recht bestehe, daß jedoch die Geschwindigkeit, mit der
sich alles abwickle, von der politischen Tätigkeit der Menschen abhänge.
Damit diese Hypothese gültig wäre, müßte man eine gleichzeitige Ver¬
langsamung oder Beschleunigung aller Vorgänge annehmen; das hieße je¬
doch, sie so zu lassen, wie sie eben sind. Denn wären nur einige mehr oder
weniger beschleunigt als andere, entstünden im Determinismus nicht vor¬
hergesehene Gleichzeitigkeiten, und die Linien der kausalen Zusammen¬
hänge würden sich anders durchkreuzen; es entstünden also andere Phä¬
nomene. Damit wäre es um den Determinismus geschehen. Er gilt ent¬
weder uneingeschränkt oder gar nicht.
Der uneingeschränkte Determinismus - der einzig wirkliche - schließt
also politische Existenz aus. Das heißt, daß jeder, der eine politische Wir-
kung zu erzielen versucht, sich nicht konsecjuent auf den Determinismus
berufen kann. Gleichzeitig wird jene Auffassung hinfällig, derzufolge der
Mensch sein Eingreifen in den Lauf der Geschichte von den Gegebenheiten
bestimmen lassen muß, indem er versucht, die Entwicklung der Ereignisse
zu erraten. Das hieße dieser „wahrscheinlichen Entwicklung“ einen wirk¬
lichen Wert beimessen, vom Faktischen auf das Rechtmäßige schließen, in
eine monistische Philosophie zurückfallen, für die empirische Wirklichkeit,
268
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS
Logik und Werte in eins zusammenfallen. Es handelt sich dann aber nicht
mehr um eine wahrscheinliche Entwicklung, sondern um eine Notwendig¬
keit. Das, was ist, ist das, was sein soll. Die Tatsache, daß es ist, genügt
als Rechtfertigung. Der Erfolg wird zum Kriterium der Rechtmäßigkeit.
Die empirische Wirklichkeit wird keiner Beurteilung mehr unterworfen,
sondern ist die Norm eines jeden Urteils. Dann gibt es keine Politik mehr.
Allerdings gibt es auch für den keine Politik, der nicht an gewisse kon¬
stant bleibende Beziehungen zwischen sozial bedingten Erscheinungen
glaubt und an die Möglichkeit einer gewissen historischen Voraussicht. Auch
in der physikalischen Welt kann man nur eine Wirkung erzielen, wenn
man einen hypothetischen Determinismus annimmt, auf dem alle Gesetze
beruhen. Auf dem historischen und sozialen Gebiet aber besteht der Irr¬
tum, der Aberglaube, der sowohl Freiheit wie Strenge der Wissenschaft
zerstört, darin, daß Mittel und Ziel verwechselt werden, oder in einem
unstatthaften Übergang zur Totalität.
Mittel und Ziel werden verwechselt: wie wir eben gesehen haben, kann
die Wirklichkeit mir mein Ziel nicht vorschreiben, ohne dem Begriff „Ziel“
den eigentlichen Sinn zu nehmen. Es genügt jedoch nicht, ein Ziel anzu¬
streben, so schön es auch immer sein mag, man muß es auch erreichen.
W^enn mein politisches Handeln einen Sinn haben soll, muß ich das, was
ist, und das, was sich wahrscheinlich daraus ergeben wird, in Betracht
ziehen. Ich muß die Wirklichkeit verstehen, um die Mittel, die ein Ein¬
greifen wirksam machen, wählen zu können. Bei einem verschiedenen
Prozentsatz des Möglichen und des Gewissen gilt das Gleiche für die Welt
der Physik: die Gesetze der Physik sagen mir nicht, ob ich einen Radio¬
apparat oder ein Grammophon bauen soll; erst wenn ich gewählt habe,
sagen sie mir, welches Material ich verwenden und wie ich es gebrauchen
soll.
Bleibt noch die Wahl des Ziels: sie ist natürlich nicht ganz unbegrenzt.
Nicht alles ist dem Menschen möglich, da das Wirkliche für ihn auf allen
Gebieten der unvermeidliche, begrenzende und schöpferische Widerstand,
das Hindernis, die Materie und das Sprungbrett seiner Schöpfung ist.
Nichtsdestoweniger ist der Verzicht auf ein politisches Ziel wegen irgend¬
welcher Vorausberechnungen, „die sich auf Fakten gründen , viel frag¬
würdiger als ein derartiger Verzicht auf dem Gebiete der Physik. Die
historische Voraussicht ist unvergleichlich ungewisser als die physikalische:
man kann keine Versuche und Proben machen, und dazu kommt noch die
nie voraussehbare Freiheit. Aber gerade aus dieser Unzulänglichkeit der
Voraussicht, die jeder historischen Erkenntnis inhärent ist, ergibt sim der
zweite Mißbrauch, von dem wir sprachen: der Übergang zur Totalität
Anstatt die Tragweite des Wissens in den historischen und sozialen
269
JEANNE HERSCH
Es gehört also zum Wesen der Politik, daß sie auf Werte zurückgreift,
die nicht festgestellt, sondern anerkannt werden von einem Subjekt, das
glaubt, in Anbetracht der gegebenen Situation mit einem gewissen Erfolg
in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können. Damit wird die Politik
an die Ethik gebunden. Das Subjekt, das sich politisch betätigt, will sich
nicht vollkommen in das Netz der Ereignisse einschalten, will sich ihnen
nicht aussetzen - im Gegenteil, es will eine Kausalreihe, die ethischen
und nicht empirischen Ursprungs ist, in dieses Netz einführen. Damit hat
es in die historische Kausalität eingegriffen.
Wenn man mir sagte, daß sogar der Wille des Subjekts und die Werte,
die es bestimmen, soweit sie ethisch sind, ein Bestandteil der sozialen Welt
sind und auf diesem Umweg wiederum zur empirischen Realität gehören,
hielte ich trotzdem die oben gestellte Alternative aufrecht. Entweder führt
man Wille und Werte ganz auf ein monistisch determiniertes System
zurück - dann aber gibt es keinen Einsatz und keine Politik, - oder aber
der Wille ist fähig, einen „Anfang“ zu machen, den man den freien
Willensakt nennt, und Werte sind etwas anderes als Tatsachen - dann
gibt es wieder alles; das Mögliche, die Gefahr, den Einsatz, die Politik.
Hier stoßen wir jedoch auf ein fundamentales Paradox. Wir haben
eben gesehen, daß die Politik, wenn sie einen Sinn hat, sich nach ethischen
Werten richtet. Das entspricht übrigens ganz der banalen Auffassung des
gesunden Menschenverstandes, auf die auch die Theoretiker des Determi¬
nismus in der Praxis zurückkommen, wenn sie ihrer Begeisterung oder
Empörung freien Lauf lassen. Daher kommt es auch, daß die gewöhn¬
liche Sprache beharrlich - manchmal in gefährlicher Weise - politische
Entitäten personifiziert, einer Nation, einem Staat, einer Regierung, einer
Klasse, einem ganzen Land eine einzige Seele zuspricht, die mit morali¬
schem Sinn und persönlicher Gefühlsfähigkeit begabt ist, und deren Ent¬
scheidungen man dann mit Begriffen der Psychologie analysiert und einem
ethischen Kriterium unterwirft. Selbst Gelehrte, die „ökonomische Fak-
270
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS
Wie immer, müssen wir auf Kant zurückkommen. In der „Kritik der
praktischen Vernunft“ hat Kant das reine Wesen des Ethischen heraus¬
kristallisiert. Was man bei ihm oft für eine unmenschliche Forderung
hielt, praktisch unwirksam, weil es übertrieben sei und aus einer Unkennt¬
nis des Menschen, wie er ist, komme, hat gerade auf dieser Ebene der
Vorschriften, auf der man es zu Unrecht beurteilt, gar keinen Sinn. Kants
Gedanken liegen in Wirklichkeit über oder unter dieser Ebene. Unter ihr:
er schreibt noch nichts vor, er stellt nur die Theorie möglicher moralischer
Vorschriften auf, er erforsdit formal deren Bedingungen und Tragweite;
sein Formalismus ist keineswegs eine Schwäche, ein Mangel an Verständ¬
nis, ein Verkennen des Konkreten, er ist beabsichtigt: durch ihn gerade be¬
kommt dieses Denken seine theoretische Gültigkeit und die moralische
Kraft einer absoluten, vollkommen unbestimmten Forderung. Über ihr:
Kant — wie wir es eben angedeutet haben — appelliert an die moralische
Instanz, die er rein und von allem anderen frei haben will, an keine dem
Erfolg oder dem Glück dienenden Überlegung gebunden, nicht etwa, damit
der Mensch sieb nur an eine abstrakte Vorschriftsregel halte, sondern, ge¬
rade im Gegenteil, damit — da diese Regel nicht gegeben wird, - das mo¬
ralische Gewissen gezwungen werde, sich voll und ganz vor das Konkrete
zu stellen. Es handelt sidi darum, die Ausfluchtswege zu versperren, den
billigen Kompromiß und die moralische Genugtuung, die nichts kostet,
Leidenschaften, die unter dem Deckmantel der Pflicht herumlaufen, auf¬
zuhalten, damit die reine ethische Forderung als solche allem, was ihr
fremd ist, gegenübertritt, und der Mensch weiß, was er wählt Die Uni¬
versalität Kants, die schon durch die Terminologie, deren er sich bedient, zu
implizieren scheint, daß seine Ethik eine politische Bedeutung hat hat riur
durch das Ausschließen jeglicher Erfolgserwägung aus dem Gebiete der
Moral Bestand.
Ein anderer Denker jedoch ist mit seiner Analyse den umgekehrten
Weg gegangen. Wenn Kant aus der Vieldeutigkeit des Konkreten das
271
JEANNE HERSCH
reine ethische Gesetz entwickelt hat, so hat jener Denker daraus das reine
politische Gesetz entwickelt. Ich meine Madhiavelli. Und das politische
Gesetz heißt Erfolg haben. Auch Machiavelli scheint mir mißverstanden
worden zu sein. Denn die Menschen, selbst unter dem Zwang der Ent¬
scheidungen stehend, die das Leben von ihnen erwartet, haben nichts
Eiligeres zu tun, als, was in Wirklichkeit nur Theorie ist, in Gebote zu ver¬
wandeln. Im „Fürsten“ zeichnet Machiavelli kein Vorbild, das nachge¬
ahmt werden soll. Er stellt ein theoretisches Muster hin, ein reines poli¬
tisches Subjekt. Ich möchte hier die Gültigkeit der von Machiavelli auf¬
gestellten These untersuchen, derzufolge das formale Gesetz dieses reinen
Subjekts ist, Erfolg zu haben. Danach werden wir sehen, ob das moralisdie
Subjekt einerseits und das politische Subjekt andererseits sich selbst ge¬
nügen können.
Politik treiben heißt: in den Lauf der Geschichte eingreifen - oder den
Versuch machen, einzugreifen, das heißt also, Handlungen vollziehen, die
nicht nur auf mein eigenes Schicksal, sondern auf das Schicksal zahlloser
menschlicher Wesen zielen. Je nach dem, ob nun mein Handeln Resultate
zeitigt oder nicht, ob diese Resultate gewollte oder unvorhergesehene sein
werden, wird die ganze Vergangenheit, werden Leben und Tod der Toten,
ihre Werke und die Werte, die sie hinterlassen haben, diesen Sinn haben
oder jenen, werden sie einen Sinn haben oder keinen. Von allen Seiten, von
allen Dimensionen der Zeit her wird von mir Rechenschaft verlangt. Idi
habe nicht das Recht, etwas zu opfern, denn es gibt hier nichts, das mir
gehört. Ich habe die Güter anderer zu verwalten. Immer am Rande des
Bankrotts muß ich in tiefer Unwissenheit die Bedeutung der Toten, die
Welt der Lebenden und die Möglichkeiten derer verwalten, die noch ge¬
boren werden. Ich verwalte auch noch ewige Werte, die doch beinahe schutz¬
los der Geschichte der Menschen ausgeliefert sind. Nunmehr ist Erfolg
haben zur Pflicht geworden. Ich habe den mir verliehenen Teil der Macht
dazu erhalten, damit ich bestimmte definierte Resultate erziele, und ich habe
nicht das Recht, Bankrott zu machen. In meinem Privatleben kann von mir
die Hingabe meines Besitzes, meiner Pläne, meines Glücks, meines Lebens
verlangt werden zugunsten der sich daraus ergebenden Vorteile für eine
größere Anzahl von Menschen, oder auch nur für eine einzige Person, oder
gar nur zugunsten eines Werts, dessen Achtung wichtiger als alles ist. In
meinem Privatleben darf ich auf einen Vorteil verzichten, selbst wenn idb
glaube, darauf ein Anrecht zu haben, um einen Streit, einen Prozeß zu
vermeiden. Ich darf auch aus Nächstenliebe verzichten - oder einfach aus
Entsagung und Gleichgültigkeit. Entsagung scheint immer etwas Gutes zu
sein, während Forderung etwas Schlechtes sein kann. Mit einem Opfer
lädt man kaum eine Schuld auf sich, es sei denn, man bringt es unwillig
272
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS
273
JEANNE HERSCH
274
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS
Daraus ergibt sich, daß der politische Mensch - und damit meine ich
nicht nur den Berufspolitiker, obwohl für ihn und besonders für den
Staatsmann die Spannungen, von denen hier die Rede ist, am größten
sind, sondern jeden Menschen, insoweit auch er eine politische Tätigkeit
ausübt - sich in einer eigenartigen Situation befindet. Er untersteht der
unbedingten Forderuiig des Erfolgs, hat aber nicht das Recht, diesen Er¬
folg um jeden Preis zu erkaufen. Wenn er scheitert, hat er keine Entschuldi¬
gung, am wenigsten die, auf gewisse Mittel verzichtet zu haben. Aber er
kann sich auch wieder nicht aller Mittel bedienen, ohne Gefahr zu laufen,
seinem Erfolg jeglichen Sinn zu nehmen.
Dieser Widerspruch, wie so viele andere, wirft den Menschen auf sich
selbst und seine Situation zurück. Er zeigt ihm, daß in dem vieldimensio¬
nalen Raum, in dem er lebt, der sein Schicksal und sein Wesen gestaltet,
die Ebenen der Politik und die der Ethik sich nicht schneiden, sondern
beide ihre Forderungen und ihre Unbedingtheiten getrennt aufrechter¬
halten. Sie stoßen nur in ihm selbst zusammen. Durch seine Existenz
treten sie einander gegenüber, und nur in ihm ist eine gegenseitige An¬
sprache möglich. Ihr Konflikt ist also ein unüberwindbarer und läßt nur
subjektive, vorübergehende, historische und konkrete Lösungen zu, die in
Wirklichkeit keine Lösungen, sondern Entscheidungen sind. Jeder Ver¬
such, objektiv und ein für allemal eine Ebene der andern unterzuordnen,
aus der moralischen Ordnung politische Vorschriften zu entwickeln oder
aus politischen Notwendigkeiten eine ethische Hierarchie abzuleiten, zer¬
stört nicht nur den Sinn der untergeordneten Ebene, sondern den beider
Ebenen und damit das gesamte menschliche Schicksal.
275
JEANNE HERSCH
daß er ein für allemal gewonnen werde. Es gehört nur wenig dazu, dieses
Ziel zu erreichen. Man braucht nur einige Risse zuzustopfen und einige
Spalten zu füllen. Auch der Mensch kennt den horror vacui. Man braucht
nur eine objektive Kontinuität zu schaffen, und alles wird endgültig. Die
Sicherheit ist erreichbar und alle sind nunmehr zu jedem Einsatz bereit,
um sie zu gewinnen.
Man braucht zum Beispiel nur zu behaupten, daß das, was sein soll, sich
aus dem, was ist, ableiten läßt. Und sofort werden konkrete Forderungen
zum Inhalt von Kants kategorischem Imperativ, der trotzdem absolut
bleibt. Sofort macht sich der Erfolg mit Sicherheit und mit Recht alle Mittel
zunutze. Sofort wird die Politik eine Technik derer, die wissen, und poli¬
tische Existenz ist dann nichts weiter als Verstehen und Sichunterwerfen.
Es handelt sich um eine Lüge, aber um eine geräumige, in der es lebhaft
und bewegt zugeht. Sie würde zur Wahrheit, wenn sie alles umfaßte und
es nichts außer ihr gäbe. Sie nennt sich Wahrheit, um Wahrheit zu werden.
Sie sucht, alles was außerhalb von ihr liegt, zu erobern, um Wahrheit zu
sein. Es handelt sich also darum, den Einsatz der Geschichte ein für alle¬
mal zu gewinnen.
Im allgemeinen ist es ziemlich leicht, Wahrheit gegen Lüge zu ver¬
teidigen, denn die Wahrheit hat, wie man sagt, Substanz, und die Lüge
ist nichts. Hier aber, gerade wegen der Unvereinbarkeit von Politik und
Ethik, hat man den gegenteiligen Eindruck: die Lüge scheint eine Sub¬
stanz zu haben; dank der Politik gibt sie der moralischen Forderung kon¬
krete Gehalte, sie gibt genaue Antworten, die, wie sie behauptet, sogar
wissenschaftlich begründet sind, auf ängstliche Fragen der Menschen. Sie
kennt Gut und Böse, das Notwendige und die Zukunft, die gegenwärtige
Forderung der Werte. Ihre Politik bringt die wahre Freiheit, da sie ihr
einen Inhalt gibt.
Unsere Zeit verlangt dringend, daß die Probleme der materiellen
Sicherheit und der geistigen Möglichkeiten für alle Menschen gelöst wer¬
den. Jenseits aber jener Aufgaben liegt das tiefste Problem: Wie kann
man den Menschen verständlich machen, daß das wertvollste Gut, das
die Politik zu verteidigen hat, eine Leere ist?
276
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS
277
Aldous Huxley
Die Menschheit durchlebt eine Zeit der Krise, und diese Krise ist so¬
zusagen auf zwei Ebenen vorhanden - einer oberen, der politischen und
wirtschaftlichen, und einer unteren, der demographischen und ekologischen.
Was auf internationalen Konferenzen und in den Zeitungen besprochen
wird, ist nur die Krise an der Oberfläche - die Krise, deren unmittel¬
bare Gründe der durch den Krieg hervorgerufene wirtschaftliche Zu¬
sammenbruch und der Machtkampf zwischen nationalen Gruppen sind,
welche die Mittel zur Massenvernichtung besitzen oder bald besitzen
werden. Von der Krise in der Tiefe, der Bevölkerungs-, Nahrungsmittel¬
und Rohstoffkrise der Welt, erfährt man fast gar nichts. Und doch ist die
Krise auf der unteren Ebene mindestens so ernst wie die Krise auf politi¬
schem und wirtschaftlichem Gebiet. Überdies lassen sich die Probleme auf
diesem nicht lösen, ohne daß man sie auf Probleme bezieht, welche sich im
kosmischen und biologischen Tiefgeschoß herausbilden. Wird die tiefere
Krise nicht beachtet, so kann sie die Krise auf der Ebene der Politik und
der Wirtschaft nur verschärfen. Obendrein wird eine Konzentrierung
der Aufmerksamkeit und Energie auf Machtpolitik und Machtwirtschaft
eine Lösung der Probleme auf der unteren Ebene nicht nur schwierig,
sondern unmöglich machen.
Es ist seit einiger Zeit Mode, von „Armut inmitten von Überfluß“ zu
reden. Die Phrase impliziert, daß unser Planet reichliche Mittel besitze,
um seine gegenwärtige Bevölkerung und auch jeden für die nahe Zu¬
kunft vorhersehbaren Zuwachs derselben zu ernähren, zu kleiden, zu be¬
hausen und mit Behaglichkeit auszustatten, und daß alle die gegenwär¬
tigen Nöte der Menschheit einzig durch fehlerhafte Methoden der
Erzeugung und vor allem der Verteilung verschuldet seien. Werde ihr
nur erst einmal Währungsreform, Sozialismus, Kommunismus, unein¬
geschränkter Kapitalismus, Distributismus oder, was immer die bevor¬
zugte Medizin sein mag, verabreicht, so werde die Menschheit wie der
Prinz und die Prinzessin im Märchen glücklich und zufrieden bis ans
Ende aller ihrer Tage leben. Not und Hunger werden in Überfluß ver¬
wandelt und die ganze Erde ein einziges riesiges Schlaraffenland sein.
Solcherart sind die Wunder, die durch politische und wirtschaftliche
Planung erzielt werden sollen. Wenn wir uns aber von diesen Hoch¬
gedanken einem Studium dessen zuwenden, was in der biologischen und
ekologischen Tiefe vorgeht, erscheint uns unser Optimismus, um es nicht
278
DIE ZWEIFACHE KRISE
stärker auszudrücken, doch ein wenig verfrüht. Statt Armut inmitten von
Überfluß finden wir da Armut inmitten von Armut. Die Naturprodukte
und Bodenschätze der Erde sind für die Erdbevölkerung unzulänglich.
Gegenwärtig ernährt unser Planet etwas weniger als zweieinviertel Mil¬
liarden Menschen, und die Nahrungsmittel hervorbringende Bodenfläche
beträgt annähernd zwei Milliarden Hektar. Man hat berechnet, daß ein-
und einviertel Hektar Bodens nötig sind, um einen Menschen mit einer
Diät zu versehen, welche Ernährungswissenschaftler als hinreichend be¬
trachten würden. Demnach könnte, auch wenn alles verfügbare produk¬
tive Land guter Boden wäre - und viel davon ist recht schlecht - die
gegenwärtige Bevölkerung einer hinreichenden Ernährung nicht sicher
sein. Tatsächlich müßte, um den ganzen zweieinviertel Milliarden eine
ausreichende Ernährung zu gewährleisten, die gegenwärtige Nahrungs¬
mittelerzeugung verdoppelt werden. Dies läßt sich aber nicht über Nacht
erzielen. Und inzwischen nimmt die Bevölkerung der Erde zu. Die Stei¬
gerung beträgt gegenwärtig etwa zweihundert Millionen alle zehn Jahre.
Dies bedeutet, daß es zu der Zeit, wo die Nahrungsmittelerzeugung ver¬
doppelt sein wird, nicht zweieinviertel Milliarden Mäuler zu füttern
geben wird, sondern gut über drei Milliarden. Trotz allem, was in der
Zwischenzeit vielleicht zu erreichen wäre, wird die Unterernährung ge¬
nau so ernst und weitverbreitet sein wie heute.
Überdies sinkt, während die Bevölkerung steigt, die Ertragfähigkeit
des immer rücksidhtsloser ausgebeuteten Bodens. Es herrscht um sich
greifende und immer tiefere mensdiliche Armut inmitten um sich grei¬
fender und immer tieferer natürlicher Armut. Von den zwei die Mensch¬
heit bedrohenden Hauptgefahren, Atomkrieg und Bodenerosion, ist
diese die größere. Der Atomkrieg wird vielleicht eine bestimmte Zivi i-
sation zerstören - die westlich-industrielle Abart zum Beispiel; die Bo¬
denauswaschung kann, wenn ungehemmt, der Möglichkeit jeglicher Zivi¬
lisation ein Ende machen. j -r
Seit 1800 hat Westeuropa seine Bevölkerung mehr als verdreifaAt.
Diese gewaltige Zunahme wurde durch elementare Hygmne und die
Ausbeutung jungfräulicher Gebiete der Neuen Welt ermöglicht. Heut¬
zutage erhalten Gesundheitspflege und Heilkunde mehr Europäer am
Leben- aber die Neue Welt hat ihre eigene große und rasch zunehmende
Bevölkerung, und nach einem Jahrhundert des f ßbraudis hat
wenig ihres Bodens seine Fruchtbarkeit verloren oder ist im Begriff,
zu verlieren. In guten Jahren gibt es noch immer einen sehr großen aus¬
fuhrfähigen Überschuß. Aber nicht jedes Jahr ist ein gutes Jahr.
Bisher hat Westeuropa es zuwege gebraAt, für die aus ^
Welt eingeführten Nahrungsmittel zu bezahlen, indem es ihr Fabrik-
279
ALDOUS HUXLEY
280
DIE ZWEIFACHE KRISE
der stark gesunkenen Sterblichkeit und der relativ großen Zahl von
Menschen innerhalb der fortpflanzungsfähigen Altersgruppen hat sich
das Fallen der Geburtenzahlen noch nicht in einem Nettorückgang der
Bevölkerung kundgetan. Aber das Einsetzen eines solchen Abstiegs steht
unmittelbar bevor. Zum Beispiel wird bis zum Jahre 1970 die Bevölke¬
rung von Frankreich und Großbritannien um je etwa vier Millionen ge¬
fallen sein. Und die Zahl der Menschen über fünfundsechzig wird un¬
gefähr der Zahl derjenigen unter fünfzehn Jahren gleichen. Ähnliche
Abstiege sind zu einer späteren Zeit in den andern Ländern West¬
europas und in der Neuen Welt (mit Ausnahme Südamerikas) zu er¬
warten. Unterdessen muß trotz viel höheren Sterblichkeitszahlen die
Bevölkerung Osteuropas und Asiens weiter anwachsen. Bis zum Ende
des gegenwärtigen Jahrhunderts wird Asien allein eine Bevölkerung
von ungefähr zwei Milliarden haben. Und im Jahre 1970, wo West¬
europa um ungefähr neun Millionen weniger Einwohner haben wird als
heute, wird Rußland einen Zuwachs von mehr als fünfzig Millionen
aufweisen.
In jedem Volk, dessen Geburtenzahl sinkt, zeigt dieses Sinken eine
Neigung, am schnellsten unter den Tüchtigsten und Begabtesten der
Bevölkerung und am langsamsten unter denen zu sein, deren erbliche
und anerzogene Begabung am geringsten ist. Je höher der Intelligenz¬
quotient und das Maß der Bildung, desto kleiner die Familie, und um¬
gekehrt. Die künftige Bevölkerung Westeuropas und Nordamerikas wird
hauptsädilich aus den Nachkommen der am wenigsten intelligenten Men¬
schen, die gegenwärtig in diesen Gebieten leben, bestehen. Unter den
niederen Tieren ist biologische Degeneration, welche die erblichen Eigen¬
schaften ganzer Bevölkerungen betrifft, ein langsamer und allmählichei
Vorgang. Die Menschen aber unterscheiden sich von anderen Tieren
darin, daß sie ein Bewußtsein ihrer selbst und ein gewisses Maß an
freiem Willen besitzen und Einwohner einer von Menschen geschaffenen
Welt innerhalb der größeren Weltordnung sind. Indem sie darauf
reagieren, was in dieser menschengeschaffenen Welt vorpht, gebrauchen
sie ihren freien Willen, um ihre ursprüngliche tierische Verhaltunpweise
zu modifizieren. Und wenn diese menschliche Welt so besAaffen ist, daß
sie die feinnervigeren, intelligenteren und umsichtigeren Individuen da¬
von abschreckt, ihre Art fortzupllanzen, tritt der Niedergang ganzer
Gemeinschaften mit fast explosiver Schnelligkeit ein. In ganz Westeu^^^^^
und, ein wenig später, in Nordamerika wird der zahlenmäßige Abstieg
von einem schnellen qualitätsmäßigen Niedergang der Bevölkerung
281
ALDOUS HUXLEY
282
DIE ZWEIFACHE KRISE
lisierter Nationen sich so verändern, daß die eine eine wachsende und
vorwiegend jugendliche Bevölkerung hat, die andre dagegen eine klei¬
ner, älter und vielleicht auch weniger intelligent werdende.
Bevölkerungen wachsen und schwinden relativ nicht nur zueinander,
sondern auch zu ihren Ressourcen. Steigende Armut inmitten steigender
Armut stellt eine dauernde Bedrohung des Friedens dar, und nicht nur
des Friedens, sondern auch der demokratischen Einrichtungen und der
persönlichen Freiheit. Denn Übervölkerung verträgt sich nicht mit Frei¬
heit. Ein ungünstiges Verhältnis zwischen Bevölkerungszahl und Res¬
sourcen läßt den Erwerb eines Lebensunterhalts fast unerträglich schwer
werden. Arbeitskräfte sind dann reichlicher vorhanden als Güter, und der
einzelne ist gezwungen, lange Stunden um wenig Lohn zu arbeiten. Kein
Überschuß aufgespeicherter Kaufkraft steht zwischen ihm und der Ty¬
rannei der feindseligen Natur oder des ebenso feindseligen politischen
oder wirtschaftlichen Machthabers. Demokratie ist unter anderm die
Fähigkeit, dem Machthaber nein zu sagen. Ein Mensch kann aber dem
Machthaber nicht nein sagen, wenn er nicht sicher ist, etwas zu essen zu
haben, sobald ihm die Gunst des Machthabers entzogen wird. Und er
kann seiner nächsten Mahlzeit nicht sicher sein, wenn er nicht die Mittel
besitzt, genug zum Lebensunterhalt seiner Familie zu erwerben, oder
imstande war, einen Überschuß aus früheren Löhnen aufzuspeichern,
oder die Möglichkeit hat, in unberührte Gebiete wegzuziehen, wo er von
neuem beginnen kann. In einem dicht bevölkerten Land besitzen die
wenigsten Menschen genug, um geldlich unabhängig zu sein; sehr wenige
sind in der Lage, Kaufkraft aufzuspeichern; und jedes Fleckchen Bodens
kostet viel Geld. Überdies neigt in einem Land, wo die Beanspruchung
der natürlichen Mittel durch die Bevölkerung sehr groß ist, die all¬
gemeine wirtschaftliche Lage dazu, so unsicher zu sein, daß die Kontrolle
von Kapital und Arbeitskräften, von Gütererzeugung und -verbrauch
durch die Regierung unvermeidlich wird. Es ist kein Zufall, daß das
zwanzigste das Jahrhundert hochzentralisierter Regierungen und totali¬
tärer Diktaturen ist. Es muß das sein, aus dem einfachen Grund, daß
das zwanzigste Jahrhundert das Jahrhundert der Überfullung des Pla¬
neten ist. Es ist kindisch, sich einzubilden, wir könnten „demokratische
Institutionen in Indien oder China pflanzen“ oder „die Deutschen an¬
leiten, ihren Platz unter den demokratischen Nationen der Welt ein¬
zunehmen“. Solange das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Ressour¬
cen so hoffnungslos ungünstig bleibt, wie es jetzt in ganz Asien un im
größeren Teil Europas und vor allem im besiegten Deutschlancl ist, wir
es demokratischen Institutionen praktisch unmöglich sein, Wurzel zu
Auf dem Gebiet der Politik ist der größte Feind der Freiheit der Krieg.
Darum haben seit undenklichen Zeiten alle Tyrannen den Krieg so ge¬
liebt, oder zumindest die Vorbereitungen zum Krieg. Allgemeine Militär¬
dienstpflicht liefert jeden einzelnen der Gewalt der Zentralregierung aus.
Eine aggressive Außenpolitik ruft gleichartige Gegenwirkungen hervor,
und diese Gegenwirkungen werden dann als Vorwand für noch mehr
Militarismus und ein stärkeres Beschneiden bürgerlicher und persön¬
licher Freiheiten benützt. Diktatoren können ihre Tyrannei stets durch
einen Appell an den Patriotismus festigen. Dabei wird die Kriegsgefahr
zum Vorwand einer Politik nicht der Verminderung, sondern tatsächlich
der Erhöhung der Geburtenzahl gemacht - einer Politik, die energisch
von Hitler und Mussolini betrieben wurde und heute viel energischer
noch von den Beherrschern Sowjetrußlands. Übervölkerung und Mili¬
tarismus sind die Garanten der Diktatur.
In der internationalen Politik ist Einigkeit an der einen Stelle stets
das Ergebnis von Uneinigkeit an einer andern; da gibt es keine unein¬
geschränkte gegenseitige Hilfe, es sei denn gegen einen Dritten. Daher
der alte verzweifelte Witz, daß diejenigen, die Frieden auf Erden wol¬
len, um eine Invasion vom Mars beten sollen. Wir brauchen aber in
einer Hinsicht zum Glück, in anderer zum Unglück, nicht auf einen An¬
griff aus dem interplanetaren Raum zu warten. Der Mensch ist sein
eigener Marsbewohner und liegt stets im Krieg mit sich selbst. Über¬
mäßige Fortpflanzung und extraktive Landwirtschaft sind seine Waffen,
und wenngleich er es auch nicht wissen mag, sind seine Kriegsziele die
Vervmstung seines Planeten, die Vernichtung seiner Zivilisation und die
Verschlechterung seiner eigenen Spezies.
Daß die Völker sich noch nicht gegen diesen gemeinsamen Feind in
ihren eigenen Reihen verbündet haben, hat seinen Grund teils in dem
ablenkenden Einfluß nationalistischen Götzendienstes, teils in Unwissen
und teils in der menschlichen Gewohnheit, über das Problem in völlig
ungeeigneten Begriffen nachzudenken. Zeit, Energie und Geld, welche
zu Besserem verwendet werden könnten, werden überall der Machtpolitik
und Kriegsvorbereitungen gewidmet. Und mittlerweile sind in den vom
Glück begünstigteren Gebieten der Erde die meisten Menschen noch
ahnungslos, daß der allgemeine Zustand der Menschheit ein Zustand
der Armut inmitten wachsender Armut ist; und in den weniger glück¬
begünstigten Gebieten, wo die harten Tatsachen unausweidibar sind,
herrscht die Neigung zu glauben, die Medizin für eine solche Armut sei
ein gewaltsamer und radikaler Regierungswechsel. Die Bewohner von
Ländern, in denen das Verhältnis von Bevölkerung zu natürlichen Hilfs¬
quellen ungünstig ist, lassen sidi leicht einreden, daß die Ursachen ihres
284
DIE ZWEIFACHE KRISE
Elends politischer Natur seien und daß, sobald ihre gegenwärtigen Be¬
herrscher durch andere, in Moskau gedrillte, ersetzt wären, alles schön
und gut sein würde. Aber das Einparteisystem ist kein Heilmittel für
Übervölkerung, und die Kollektivisierung der Landwirtschaft vermehrt
die ertragfähige Bodenfläche nicht.
Es ist seit langer Zeit Mode zu behaupten, daß sich der Sozialreformer
vor allem mit Fragen des Eigentums und der Verteilung zu befassen
habe. Und tatsächlich ist die Verteilung oft ungeschickt und ungerecht,
und es kann keine moralische oder utilitarische Rechtfertigung für die
Art von absolutem und verantwortungslosem Landbesitz geben, die
einem Menschen erlaubt, nach seinem Belieben Naturprodukte, von
denen das Leben einer ganzen Gemeinschaft abhängt, andern vorzuent¬
halten oder zu vernichten.
Wir brauchen ein neues Geldsystem, das uns von der Versklavung an
die Banken erlösen und den Menschen gestatten würde, das, was sie zu
erzeugen vermögen, auch zu kaufen. Und wir brauchen ein neues System
des Eigentums, das dem Zug zur Monopolisierung des Bodens Einhalt
täte und es einzelnen unmöglich machen würde, planetarische Hilfsquel¬
len zu verwüsten, die der ganzen Menschheit gehören. Aber Verände¬
rungen an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur genügen
selbst noch nicht, um unser Problem zu lösen. Eine Abänderung der das
Eigentumsrecht an Grund und Boden regelnden Gesetze wird Ausmaß
und Güte desselben nicht verändern. Die gerechte Verteilung von etwas,
das in zu geringen Mengen vorhanden ist, befriedigt vielleicht das Ver¬
langen der Menschen nach Gerechtigkeit; sie wird nicht ihren Hunger
stillen In einer Welt, in der sich die Bevölkerung täglich urn etwa sechs¬
undfünfzigtausend Köpfe vermehrt und die Bodenauswaschung täglich
eine gleich große oder vielleicht größere Zahl ertragfähiger Morgen
Bodens ruiniert, müssen wir vor allem dafür sorgen, die Bevolkerungs-
zahl zu verringern und mehr Nahrungsmittel bei weniger Schädigung
des Bodens zu erzeugen. ,,
Früher oder später wird die Menschheit durch den Druck der Uni-
stände gezwungen sein, einmütig etwas gegen ihre ergenen
sehen und selbstmörderischen Neigungen zu unternehmen.
solches Unternehmen aufgeschoben wird, desto s*I.mmer '
troffenen. Verzug bedeutet die Gefahr weiterer Ausbreitung und Ver¬
schärfung des Elends, eines Hervorrufens von Revolutionen, riegen
285
ALDOUS HUXLEY
286
DIE ZWEIFACHE KRISE
Das bloße Verstreichen der Zeit kann die Unvernunft jeder besonderen
Anwendung von Grundprinzipien dartun. Politische Notbehelfe zu be¬
handeln, als wären sie geheiligt und unverletzlich, heißt eine Götzen¬
verehrung treiben, die nur in totalitärem Zwang enden kann. So wissen
wir in unserer Ignoranz nicht, ob Sidney und Beatrice Webb recht hat¬
ten, für zentralisierte Planung als das beste Mittel zum erstrebten Ende
einzutreten, oder ob Hilaire Belloc recht hatte, als er uns vor den Übeln
des „Sklavenstaates“ warnte. Die Zeit allein wird es erweisen; und wenn
sie es zu erweisen beginnt, müssen wir bereit sein, im Namen unserer
Grundsätze die Politik abzuändern, die wir einst in unserer Unwis¬
senheit für die wirksamste Anwendung dieser Grundsätze hielten.
Daß die Russen „den Frieden gewannen“, hat seinen Grund, zumin¬
dest zum Teil, darin, daß sie sich zu einer klar umrissenen Philosophie
des Menschen und der Natur als einer absolut wahren bekennen und sie
lehren. Diese Philosophie erlaubt ihnen, die Zukunft vorherzusagen und
(mit einer Zuversicht, die, obgleich ungerechtfertigt und grundlos, dar¬
um nicht weniger eindrucksvoll ist) zu behaupten, es werde, wenn eine
gewisse Art politischer und wirtsdiaftlicher Revolution gemacht würde,
allgemeines Wohlergehen die unvermeidliche Folge sein. Im Westen
haben wir irgendeine zusammenhängende Weltanschauung weder an¬
dern aufgezwungen noch freiwillig uns zu eigen gemacht; wir behaupten
nicht, die Geschichte von innen her zu verstehen; wir maßen uns nicht an
vorauszuwissen, was in fünfzig oder hundert Jahren geschehen wird; und
wenn die Notwendigkeit an uns herantritt, eine Weltpolitik zu entwer¬
fen, fällt es uns bei unserem Mangel an einer Philosophie leichter, gegen
die Russen zu sein, als für irgend etwas, das die großen Massen der
leidenden Menschheit wahrscheinlich einleuchtend oder anziehend fänden.
Die Weigerung des Westens, Unfehlbarkeit zu behaupten oder Ortho¬
doxie aufzuzwingen, ist etwas, dessen wir uns nicht zu schämen brauchen.
Weniger gereicht uns jedoch zur Ehre, daß wir es unterlassen haben,
eine allgemein annehmbare Philosophie für uns und diejenigen zu ent-
widceln, die wir gern auf unsere Seite zögen; und noch weniger rühmens¬
wert ist es, daß es uns nicht gelungen ist, irgendeine Politik zu formu¬
lieren, die vernünftig und zuträglich genug wäre, um anziehender zu er¬
scheinen als die politischen Richtlinien des Kommunismus. Am nächsten
kam einer solchen positiven Politik der Marshall-Plan. Aber dieser Plan
ist bereits von einem militärischen Bündnis überlagert, und militärische
Bündnisse erscheinen nur den unmittelbar Beteiligten anziehend und
(angesichts der Geschichte militärischer Bündnisse in der Vergangenheit)
nicht einmal diesen unwiderstehlich anziehend. i- -i
Die positive, realistische und allgemein ansprechende Politik, deren
287
ALDOUS HUXLEY
288
DIE ZWEIFACHE KRISE
289
ALDOUS HUXLEY
zeit eintritt, wohl noch viele Jahre danach weiterbestehn. Soweit wir es
jetzt beurteilen können, wird mindestens zwei Generationen lang die
Lage der Menschheit mehr als gewöhnlich schwierig und gefährdet sein,
und vielleicht noch viel länger. Je eher wir die Adoptierung einer ver¬
nünftigen Bevölkerungspolitik und ihre Durchführung erzielen können,
desto kürzer wird der Zeitraum besonderer Gefahr sein, durch den, so
will es scheinen, die Menschheit unvermeidlich hindurch muß.
Hier ist eine kurze Nebenbemerkung am Platz. Bei der Bevölkerungs¬
regelung stehen wir einem Dilemma gegenüber. Was da für uns in einer
Hinsicht gut ist, ist schlecht in einer andern, und umgekehrt. Biologisch
und historisch gesehn, ist eine große Kinderzahl normaler als eine
kleine. Eine Frau mit fünf oder sechs Kindern ist „naturnäher“ als
eine, die die Kinderzahl künstlich auf eins oder zwei beschränkt hat. In
Ländern, wo die Geburtenzahl jäh fällt, hat sich während der letzten
vierzig Jahre eine deutliche Zunahme der Neurosen und sogar der Geistes¬
krankheiten gezeigt. Zum Teil läßt sich diese Zunahme der Industriali¬
sierung und Verstädterung zuschreiben, mit der in neuester Zeit stets
auch eine fallende Geburtenzahl verbunden war; zum andern Teil aber
der Tatsache, daß Geburtenbeschränkung bestimmte Ersdieinungen im
Sexual- und Familienleben geschaffen hat, die auf gewisse Weise für
Erwachsene wie für Kinder äußerst unbefriedigend sind. Wo immer der
modernen Zivilisation ein biologisch normales Verhalten aufgeopfert
wurde, neigen wir dazu, schlecht angepaßt zu sein und aus dem Gleich¬
gewicht zu geraten. Wo immer jedoch der modernen Zivilisation biolo¬
gisch normale Verhaltungsweisen nicht geopfert wurden, sehen wir uns
hungriger und weniger frei werden und in akuter Gefahr, uns in Kriege
und Revolutionen zu verwickeln. Welche dieser zwei Alternativen sollen
wir auf uns nehmen? Nach meiner Meinung ist die erste das kleinere
Übel. Übervölkerung mit ihren Begleiterscheinungen: extraktiver Land¬
wirtschaft, Tyrannei und Massenmord kann nichtwiedergutzumachende
Katastrophen verursachen. Von den schlechten psychologischen Folgen der
Geburtenbeschränkung werden manche vielleicht einer geeigneten Be¬
handlung weichen, die Entstehung andrer wird sich wohl durch ge¬
eignete soziale Einrichtungen verhüten lassen. Ein Abweichen vom bio¬
logisch normalen Verhalten ist immer gefährlich; aber die mit Geburten¬
beschränkung verbundenen Gefahren sind nicht so groß wie diejenigen,
die entstehen, wenn die Menschen ihre natürlichen Fortpflanzungsgewohn¬
heiten in einer Welt beibehalten, in welcher Gesundheitspflege, insekten¬
tötende Mittel, antibiotische Medikamente und falsche Zähne ihre natür¬
lichen Sterbegewohnheiten von Grund auf verändert haben. Wenn wir
in die Kräfte, die den Tod bringen, eingreifen, müssen wir auch in die
290
DIE ZWEIFACHE KRISE
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ALDOUS HUXLEY
292
DIE ZWEIFACHE KRISE
werden kann. . i • j j-
In einer Welt, in welcher der Nationalismus axiomatisch ist und die
Gegensätze zwischen politisch-religiösen Ideologien so unversöhnlich sind
wie in den Tagen der Kreuzzüge, scheint ein internationales Proje^ zur
Linderung des Hungers und zur Erhaltung unserer planetarischen Hilfs-
293
ALDOUS HUXLEY
quellen die beste und vielleicht einzige Hoffnung auf Frieden und inter¬
nationale Zusammenarbeit zu bieten. An diesem Punkt werden die Be¬
fürworter eines Weltbundes einwenden, daß sich unser Projekt einzig
und allein durch eine Weltregierung lösen läßt. Zuerst, so werden sie
sagen, muß eine politische Union kommen; wirtschaftliche und technische
Zusammenarbeit werden dann als eine Selbstverständlichkeit folgen.
Gegenwärtig aber wollen unglücklicherweise die Regierungen der mei¬
sten Nationen keine Vereinigung. Oder, um genau zu sein, sie wollen
Vereinigung, aber nicht die Mittel zur Vereinigung. Denn die Mittel zu
politischer Vereinigung bedingen unmittelbare Opfer, die zu bringen
nicht angenehm wäre. Es würden sich, zum Beispiel in einem politisch
föderierten Europa, viele örtliche Industrien, die durch nationale Zoll¬
tarife großgezogen und geschützt wurden, als überflüssig erweisen und
müßten entweder durch Regierungsbeschlüsse unterdrückt werden oder
sähen sich durch die Konkurrenz von Industrien ruiniert, die leistungs¬
fähiger betrieben werden oder hinsichtlich Rohstoffen und Märkten gün¬
stiger gelegen sind. Die Unterdrückung überzähliger Industrien würde
unter Eigentümern, Betriebsleitern und Arbeitern gleichermaßen großen
Notstand verursachen. Und dies ist bloß eine Art der Kosten politischer
Vereinigung. Ungeheure Vorteile auf lange Sicht lassen sich nur durch
eine Anzahl recht schmerzhafter Opfer auf kurze Sicht erlangen. Politi¬
scher Zusammenschluß läßt sich durch Gewalt unter einer Militärdiktatur
erzwingen; oder unter dem Druck der Verhältnisse. In Zeiten der „Nor¬
malität“ ist die politische Vereinigung souveräner demokratischer Staa¬
ten viel schwerer zu erzielen. Die Menschen wollen nicht für eine Politik
stimmen, die den unmittelbaren Verlust ihrer Arbeitsplätze und einen
verstörenden Wechsel in ihren Gewohnheiten mit sich bringt. In der
Regel sind die Menschen nur in Zeiten einer Krise bereit, heute um eines
künftigen Guten willen Opfer zu bringen. Alle höheren Religionen sind
unter anderm Mittel, um Menschen zu überzeugen, daß jeder Augenblick
ihres Lebens ein Augenblick der Krise ist, bei der es in spirituellen Din¬
gen um Leben und Tod geht, und daß es daher so vernünftig wie recht
ist, gewisse Opfer zu bringen. In ganz andrer Hinsicht ist jeder Augen¬
blick im Leben der Menschen auf einem übervölkerten und erodierten
Planeten ebenfalls ein Augenblick der Krise. Das Wesen des martiani-
sdhen Angriffs der Menschen auf sich selbst zu erklären und die Massen
von der Notwendigkeit einer gemeinsamen, koordinierten Abwehr der
Invasion zu überzeugen, sollte nicht allzu schwierig sein, um so weniger,
als die sogleich erforderlichen Opfer nicht übermäßig und die zu erwar¬
tenden Vorteile auf kurze und mittlere Sicht so greifbar, einleuchtend und
anziehend sind. Ist dieses vor allem technische Bündnis gegen die
294
DIE ZWEIFACHE KRISE
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ALDOUS HUXLEY
296
DIE ZWEIFACHE KRISE
den, als wären sie Teile eines vielfältigen und wunderschön koordinier¬
ten lebenden Organismus. Wir beginnen zu entdecken, daß, sie auf
irgendeine andere Weise zu behandeln, das ganze menschliche Experi¬
ment zum Mißerfolg verurteilen kann. „Was du nicht willst...“ ist auf
die belebte und unbelebte Natur ebenso anzuwenden wie auf unsere
Mitmenschen. Behandle die Natur mit Barmherzigkeit und Verständnis,
und sie wird es dir mit unausbleiblichen Gaben vergelten. Behandle sie
angreiferisch, mit Habgier, Gewalttätigkeit und Unverstand, und die
verwundete Natur wird sich und dich vernichten. Zumindest theoretisch
begriff das Altertum diese Wahrheiten besser als wir selbst. Die Grie¬
chen, zum Beispiel, wußten sehr gut, daß Hybris gegen die in ihrem
Wesen göttliche Ordnung der Natur ihre entsprechende Nemesis nach
sich zöge. Die Chinesen lehrten, daß das Tao oder der innewohnende
Logos auf jeder Ebene, von der physischen und biologischen bis zur spiri¬
tuellen, gegenwärtig ist; und sie wußten, daß am Tao in der Natur zu
freveln nicht weniger als sich gegen das Tao im Menschen zu vergehen
verhängnisvolle Folgen hat. Wir müssen etwas von dieser verloren¬
gegangenen Weisheit wiedererlangen. Gelingt uns das nicht - bilden wir
uns vermessen ein, daß wir die Natur „besiegen“ können, so leben wir
auf unserem Planeten wie ein Schwarm schädlicher Parasiten — wir ver
urteilen uns selbst und unsere Kinder zu Elend und stets tieferer Not
und einer Verzweiflung, welche ihren Ausdruck in rasenden Ausbrüchen
kollektiver Gewalttätigkeit findet.
Übersetzt von Herberth E. Herhtschka
Das Fragment „Schuld und Recht“ hätte nicht geschrieben werden können ohne
das Studium der ZJUerke von Karl Jaspers, besonders jener, die von Geschichte und
Gegenwart handeln. Keiner hat klarer als er die Aufgabe der Kommunikation als
die menschlichste aller menschlichen Aufgaben herausgearbeitet; keiner auch unab¬
weisbarer die Grenzen alles politischen Trachtens und Höffens, das Unmögliche
einer vollendeten Gerechtigkeit auf Erden, das Unvermeidliche sich immer erneuern¬
der Konflikte dargestellt, ohne doch je den Versuchungen eines geschichtsverneinen¬
den Pessimismus nachzugeben.
298
SCHULD UND RECHT
Liehe L
Tn der Gesellschaft der öffentlichen Moral aller europäischen Staaten,
Mlhärwesen, die ständige Vorbereitung des Krieges, eine posr-
üve führende, prachtvolle Rolle; daß so lange keiner gewesen war, maAte
299
GOLO MANN
sprechen. Selbst wenn sie aufgepeitscht waren durch die Agitation kleiner
Gruppen, durch die gelbe Presse, durch die nationalistischen Verbände
und Parteien, so kann doch der Demagoge nur an die bösen Instinkte
appellieren, die es gibt; die Sensationslust, die Mordlust, den dummen
Stolz, die dumme Haßlust. Hiervon haben in den letzten Tagen des Juli die
Bevölkerungen aller Hauptstädte Beispiele gegeben. Der Nationalismus
als aufgeregter Kult des eigenen Wesens, der an illegitimen, fiktiven Zie¬
len sich erhitzende Geist der Völker ist schuldig und ist seither immer
schuldig gewesen.
Die Regierungen fanden, wie dies immer der Fall ist, Pflichten und Tra¬
ditionen, Bedingungen, vergiftete Gegensätze vor, die sie nicht geschaffen
hatten. Allgemein wurde angenommen; daß die Regenten eines Staates
ihn zwar nicht um jeden Preis zu mehren haben, daß sie ihn aber wenig¬
stens in so viel Ansehen und Sicherheit und in den Grenzen hinterlassen
müssen, in welchen sie ihn übernahmen; Churchills Wort, er sei nicht des
Königs Erster Minister geworden, um der Auflösung des britischen Welt¬
reiches zu präsidieren, gälte für alle Minister der Zeit. Wenn wir neuer¬
dings freiwillige Abdankungen von Schönheit und Eleganz erlebt haben,
so wird man sagen, daß, wenigstens hier und dort, die politische Weis¬
heit seit dem Beginn des Jahrhunderts etwas vorgerückt ist; 1914 wäre
auch Indien nicht kampflos aufgegeben worden. Dazu kommt, daß es sich
im Falle Englands nur um das Aufgeben hinzugekommener Stücke han¬
delt, sodaß die Fortexistenz des Aufgebenden selbst nicht zur Frage steht;
während in der Logik von Konzessionen an teils innerhalb, teils außerhalb
der Habsburg-Monarchie lebende slawische Völker die endliche Auflösung
der Monarchie selber lag. Daß Österreich, vertreten durch seine herrschen¬
den Klassen, seinen Adel, seine Beamten, um einen hohen Preis fort¬
zuexistieren wünschte, müssen wir als legitim ansehen.
Auf der anderen Seite hören wir, daß das Volk der Serben auf eine
ausgedehntere nationale Existenz, als die, die ihm bis dahin, zuletzt noch
1913, zuteil geworden war, Anspruch erheben durfte, daß also die ser¬
bische Agitation wegen Bosnien legitim war. Trifft das zu, so stünde hier
Recht gegen Recht; und Schuld gegen Schuld, insofern beide Seiten ihr
Redit auf ruchlos ausschließliche Weise wahrnahmen. Hinter dem einen
Recht stand die Vergangenheit, hinter dem andern die Zukunft. Ein
Staatswesen, das wie Österreich so lange eine geschichtliche Rolle gespielt
hat, stirbt nicht freiwillig. Noch während des ersten Weltkrieges gab die
Monarchie stärkere Proben ihrer Widerstandskraft als gemeinhin ange¬
nommen wird - und wie sehr hat sie uns gefehlt, seit sie zu existieren
aufhörte! Die Serben haben besser als andere Völker, die ihren Staat auf
den Trümmern des alten Österreich errichteten, gezeigt, daß sie einer
300
SCHULD UND RECHT
301
GOLO MANN
Was für den österreichischen Staat Lebensfragen waren, waren für den
russischen Randfragen zweiter Ordnung, Prestigefragen, fiktive Ziele,
denen man sich erst neuerdings, nach der mandschurischen Niederlage,
wieder zugewandt hatte, da man doch irgendwo außerhalb des Reiches
erfolgreich tätig sein mußte. Wäre selbst das ganze Serbien vorüber¬
gehend von den Österreichern besetzt worden, so hätte dies das legitime
russische Interesse, die russische Sicherheit, nicht gefährdet. Der fiktive
Charakter der russischen „Freundschaften auf der Balkanhalbinsel wird
durch das Beispiel Bulgariens dargetan, für dessen Gründung, Bestand
und Erweiterung sich Rußland einst so leidenschaftlich, fast bis zum Krieg
mit England, eingesetzt hatte, nur um dann sehr bald in Bulgarien sei¬
nen eigentlichen Balkangegner zu entdecken und Serbien zu umarmen.
Solche Freundschaft wäre einen großen Krieg wert gewesen?
Obgleich im Labyrinth der Kausalketten nicht so primär wie die öster¬
reichische Initiative, wäre daher die russische Intervention nicht weniger
schuldhaft. Es ist geistige Schuld, Schuld der Politik, die nicht auf Wirk¬
liches - was hatte Rußland auf dem Balkan zu gewinnen? - sondern auf
Prestige und fiktive Triumphe ausging; die Schuld unsolider, unwahrer
Ideen von slawischer Brüderschaft, die die Leidenschaften erhitzte; die
Schuld falscher militärischer Kalkulationen.
Das politische Deutschland war besser intakt als das politische Ru߬
land. Der Zar handelte, kläglich widerstehend, unter dem Zwang der
Stimmungen des Landes, der Pläne und Willensentschlüsse seiner Um¬
gebung. Der Kaiser war sein eigener Herr, aber, nur zu bald, der Gefan¬
gene dessen, was er im ersten Augenblick leichtsinnig entsciiieden hatte.
Er nahm das Risiko des Krieges prahlerisch an, weil und solange es ihm
ein geringes sdiien; als die Reaktionen nicht so waren, wie er erwartet
hatte, das Unwahrscheinliche wahrscheinlich wurde, der eine des anderen
kriegerische Beschlüsse antizipierte und das Gewicht der militäriscken
Plan-Maschinerie die matteren und matteren diplomatischen Versuche zu
erdrücken begann, fand er nicht Kraft und Mut zum Zurück; heimlich
überzeugt wie alle die anderen, daß das Gefürchtete ja doch einmal kom¬
men mußte, und ebensogut jetzt wie später kam. Daß er nicht glücklich
bei der Sache war, über den Ausgang die düstersten Ahnungen hatte,
daß er, vor allen Dingen, nicht das Gefühl einer deutschen Initiative
hatte, ist reichlich zu belegen. Tatsächlich hatte ja Deutschland die Initia¬
tive sehr früh aus der Hand gegeben. Seitdem bestand sein, negatives.
Tun nur noch darin, daß es sich weigerte, das zu mäßigen oder rückgän¬
gig zu machen, was es zuerst mit veranlaßt hatte, während ringsumher
Reaktionen stattfanden, in denen die Deutschen ihrerseits Initiativen
302
SCHULD UND RECHT
sahen. Hieraus erklärt sich ihr Gefühl, daß sie angegriffen seien und zur
Entstehung des Krieges nichts Aktives beigetragen hätten.
Schuld des unwissenden Auftrumpfens, der mangelnden Bereitschaft,
sich selbst mit den Augen anderer zu sehen, sich in die Lage anderer zu
versetzen; des nationalen Solipsismus; der Verwöhntheit durch frühere
Erfolge; der Gier nach immer neuem Erfolg aus heimlidier Unsicherheit,
Schuld der Schwäche, der Verwirrung, des Fatalismus; Schuld des heim¬
lichen Lüsterns nach dem, wovor man sich fürchtete. Sie wußten nicht,
was sie wollten; sie wollten, wollten nicht, wollten letzthin doch.
Sollen wir gestehen, daß auch die eisige Korrektheit der französischen
Politik uns schuldig erscheint, und zwar eben darin, daß sie nichts an¬
deres erreichen und bewahren wollte als Unschuld an dem, was zu hin¬
dern sie keine ernste Anstrengung machte? Die französischen Staats¬
männer zogen den Krieg einer diplomatischen Niederlage ihres Blockes
vor. Sie taten nichts, um eine solche Niederlage beizeiten zu mäßigen,
zu bagatellisieren und annehmbar zu machen. Sie wußten, daß das von
ihnen gedeckte russische „Nein“ gegenüber der österreichischen Aktion
den Krieg bedeutete, wofür nichts bezeichnender ist als das zufrieden
blinzelnde „Cette fois c’est la guerre“, mit dem sie sich in Petersburg ver¬
abschiedeten, noch bevor das Ultimatum bekannt war. Das ist eines der
Paradoxa der Krise von 1914: daß jene, die die Angegriffenen waren,
insofern die ursprüngliche Initiative nicht bei ihnen lag, früher und kla¬
rer wußten, daß Krieg sein werde, als die Angreifer; denn jene kannten
ihre Reaktion auf die Initiative der anderen.
In England gab es keine vergleichbaren Stimmungen. Wenn irgendwo,
so war dort der öffentliche Geist dem Frieden zugetan; und würdig ver¬
treten durch die reine, kluge, traurige Gestalt des Außenministers. Er
ist ein Beispiel dafür, wie der Unschuldige sich unter Schuldigen bewegt
und sich von ihnen zwingen läßt. Wozu der insuläre Hochmut kam, der
ungebührliche, ungenaue Optimismus; die Gebundenheit an konstitutio¬
nelle Traditionen, die, an sich sehr schön, im ernstesten Augenblick nicht
weltgerecht waren; das Hinausschieben der Entscheidung und Hinneh¬
men des Laufes der Dinge, von dem man heimlich wohl wußte, wie er
entscheiden würde; das endliche, hastige Ergreifen des moralisch-recht¬
lichen Arguments, das die Gelegenheit zum Tun dessen bot, was man
nun auch ohne es hätte tun müssen. Die von Lloyd George so dramatisch
geschilderte Nachtsitzung des britischen Kabinetts vom dritten August
hat etwas Geisterhaftes. Hier wurde mit bangem Ernst erwogen und
entschieden, was längst entschieden war.
Einmal engagiert, brachte England die ganze Intaktheit seines natio¬
nalen Charakters, die ganze Macht seiner Welt-Organisationen und Be-
303
GOLO MANN
Ziehungen mit ins Spiel. Wenn es daher am Kriege selbst weniger schuld
ist als alle andern, so ist es in gewissem Sinn an seiner Ausweitung und
Entartung schuldiger als alle andern. Die englische Flotte machte den
Krieg, den die Deutschen als Kontinentalkrieg im Napoleon-Moltke-Stil
konzipiert hatten, zum Weltkrieg; die englische Moral hielt, wo die rus¬
sische brach und die französische schwankte. England raubte den deut¬
schen Kontinentalsiegen ihre Bedeutung, indem es sie isolierte und ab¬
riegelte. Über England wurde die amerikanische Intervention ins Werk
gesetzt. In alledem muß man ein Verdienst sehen, wenn man den Aus¬
gang des ersten Krieges für das Wünschenswerte hält. Wir wissen aber
jetzt, daß die totale deutsche Niederlage der deutschen Leistung und den
dauernden europäischen Kräfteverhältnissen nicht entsprach; und daß
es damals eben noch um europäische Kräfteverhältnisse, nicht, wie 1944,
um einen Vergleich zwischen Deutschland und Amerika, ging. Daß der
erste Weltkrieg nicht mit einem Kompromiß, einem durch angelsäch¬
sische Diplomatie zu mäßigenden deutschen Sieg endete, ist Englands
Verdienst oder Schuld mehr als irgendeines anderen Staates. Es ist die
Schuld der englischen Tugenden. Wie denn überhaupt gezeigt werden
könnte, daß jedes große europäische Land das Schicksal Europas war, in
besonderen Augenblicken und immer; und zwar kraft seiner Tugenden
so sehr wie kraft seiner Laster. Jede starke Stellungnahme ist einseitig
und irrig. Jedes bestimmte politische Sein ist fragmentarisch, aber spreizt
sich ohne Rüdesicht auf das echte Ganze zum Ganzen auf. Es gibt in der
Politik keinen frömmeren Akt als den Kompromiß; durch ihn räumen
zwei Fragmente in gleicher Weise ein, daß sie nicht das Ganze sind.
Die Männer von 1914 sind unschuldiger und unbedeutender als die
der späteren Perioden. Es war eine intakte Welt, die 1914 zu den Waf¬
fen eilte, mit Lust, mit Zuversicht auf alle die gesammelte Kraft. Daher
die furchtbaren Zusammenstöße der ersten Wochen. Daher die un¬
geheuerliche Hinopferung von Menschen und Dingen vier Jahre lang.
Der Krieg aber veränderte Gesicht und Herz der europäischen Welt. Die
Machthaber, die 1919 zusammenkamen-und noch mehr jene, die fern blie¬
ben - waren nicht die Durchschnittspotentaten und unschuldigen Durch¬
schnittsdiplomaten der Vorkriegszeit. Sie wußten ungleich mehr, denn
der Krieg reift und verändert die Menschen wie eine schwere Krankheit.
Der Vertrag von Versailles beruhte auf Kompromissen, nicht so sehr
zwischen territorialen Herrschaftsforderungen wie die Wiener Verträge
von 1815, sondern zwischen Prinzipien und Zielen. Damit hat man lange
Zeit sein Versagen in der Geschichte begründet; es hätte ein machtpoli¬
tischer Friede nach dem Sinne Clemenceaus sein müssen oder ein ideali-
304
SCHULD UND RECHT
stisdier Friede nadb dem Sinne Wilsons, aber nicht eine Diagonale zwi¬
schen beiden. Ist das, heute noch, wahr? Was hätte der berühmte Cle-
menceau’sche Maditfriede eigentlich sein können, wenn Clemenceau
allein zu diktieren gehabt hätte? Wie lange hätte so ein elender Rhein¬
landstaat gehalten? Wie lange hätten die Alliierten den Mut gehabt, im
verzweifelten Paris des Winters 1919 allenfalls beschlossene drakonische
Maßnahmen unter veränderten Stimmungen aufrechtzuerhalten? Un¬
sere Erfahrungen machen uns sehr skeptisch gegenüber solchen Fragen.
Es hält sich nichts, das gegen die Natur der Dinge ist. Um der Macht,
der einschränkenden, vernichtenden Macht das letzte Wort zu geben,
hätte nicht bloß der Vertrag anders geschrieben, sondern die geschicht¬
liche Welt, die westlidie Zivilisation anders konstituiert sein müssen;
worüber zu spekulieren keinen Sinn hat. Audi als Alleinherren der Situa¬
tion hätten Clemenceau und Foch Kompromisse mit den Tatsachen schlie¬
ßen müssen, auch mit ihrem Gewissen; denn sie waren keine Barbaren
und hätten ihr „Vingt millions de trop“ nie durchgeführt. Das Gerede
über die verfehlte Chance des Machtfriedens, des Clemenceaufriedens,
vor zehn Jahren die große Mode, kann heute nicht mehr ernst genom¬
men werden.
Aber wenn die andere in Paris vertretene Haupttendenz nirgends
kapituliert hätte, wenn Woodrow Wilson allein hätte diktieren können?
Der verfehlte Wilsonfriede ist ebensosehr Legende wie der verfehlte
Clemenceaufriede. Er ist es allein darum, weil Wilson das, was man sich
gemeinhin unter einem Wilsonfrieden vorstellt, gar nicht wollte; weil
er viel zu sehr Amerikaner und Mann des neunzehnten Jahrhunderts
war, um ihn ausdenken zu können. Wer, vor allem, der Prophet des
souveränen demokratischen Nationalstaates war, konnte nur sehr neben¬
bei der Prophet eines reichlich windigen Völkerbundes sein; und mehr
ist Wilson in Paris nicht gewesen. Wie leer, wie undurchdacht und in¬
konsequent sind die „Vierzehn Punkte“ und ihr offizieller Kommentar;
welch eine Sammlung wohlgemeinter Fadaisen, die nie den Mut zu sich
selber haben, die immer im zweiten Satz zurücknehmen, was sie im ersten
versprechen. Nur Demagogen konnten Wilson vorwerfen, daß er in Paris
den Japanern konzedierte, worauf sie keinen Anspruch besaßen, daß er
den territorialen Forderungen Australiens nicht noch zäheren Wider¬
stand leistete, und so fort. Nicht auf diese Bagatellen kam es an. Aber
Wilson traute sich zuviel zu, versprach zu viel. Er überschätzte die Rein¬
heit und machtpolitische Unbeflecktheit des Staates, den er vertrat, im
Vergleich mit anderen Staaten. Sein ungares Gedankenwerk für ein
weltveränderndes, die Realitäten wirklidi ergreifendes, neuartiges Pro¬
gramm zu halten, zu glauben, daß es Patentlösungen gebe und daß er
305
GOLO MANN
sie gefunden habe - das ist die Unbescheidenheit, die Schuld Präsident
Wilsons, und daran hätte sich nichts geändert, auch wenn er anstatt mit
Clemenceau und Lloyd George mit Edouard Herriot und Ramsay Mac¬
donald zu tun gehabt hätte.
W^enn aber der Vertrag von Versailles nicht darin fehlte, daß er ein
Kompromiß war, wenn er ein Kompromiß in jedem Fall sein mußte und
in diesem Fall der Kompromiß zwischen zwei angeblich logischen, an und
für sich richtigen, sich gegenseitig zerstörenden Tendenzen gar nicht war-
worin fehlte er dann? Wir wissen es nicht und wir können es nicht wis¬
sen. Um zu zeigen, worin er fehlte, müßte man auch zeigen, wie es statt
dessen eigentlich hätte gemacht werden müssen, und müßte die Wahr¬
scheinlichkeit eines besseren Erfolges bei anders gewählten Mitteln auf¬
zeigen können. Das hat noch niemand getan. Aus solchen vier Jahren,
aus Lenins „Machtergreifung“ und dem Chaos im Osten, aus der Auf¬
lösung Österreichs, den Wirren in Deutschland, der bitteren Heimsuchung
und Erschöpfung Europas war nicht durch ein Papierwerk etwas Gutes
zu machen. „Hier können wir zunächst nicht viel helfen“, hätten die Mi¬
nister ihren Völkern sagen können. Aber das verboten ihnen die Illu¬
sionen und konventionellen Posen des Sieges.
Es ist alte Weisheit; daß man dem eigenen Recht, der eigenen Macht
und ihrer Dauer nie weniger trauen soll, als wenn man oben ist und den
Gegner unter sich hat; daß dann der Augenblick zur Demut, zu Zwei¬
feln am eigenen Verdienst gekommen ist. Im Siege ist immer etwas,
dessen man sich schämen sollte. Die Schuld der Friedensmacher von 1919
liegt in der moralistischen Überheblichkeit, mit der sie den Besiegten
behandelten; da sie doch selber alle während der Kriegsjahre tüchtig
gesündigt hatten, allenfalls mit Gradunterschieden; da sie auch eben jetzt
noch tüchtig zu sündigen im Begriff waren. Sie hatten ein Recht, dem Be¬
siegten diese oder jene Bedingung aufzuerlegen, aber nicht seine Allein¬
schuld am Ausbruch des Krieges zu dekretieren und so der Geschichts¬
forschung vorzugreifen. Sie hätten übrigens keinen Völkerbund gründen
sollen, an den sie nicht glaubten und für dessen Verwirklichung sie kein
Opfer zu bringen, keine große moralische Anstrengung zu machen bereit
waren; wodurch sie die schöne Idee für absehbare Zeit beschmutzten und
verdarben. Es ist eine böse Sache: Mit unreinem Herzen nach dem Höch¬
sten zu greifen.
306
SCHULD UND RECHT
lösung der „Monarchie" ist ein Ereignis, auf das der geschichtlich Den¬
kende immer wieder zurückgetrieben wird. In Österreich, durch Österreich
fing der erste Weltkrieg an. Um das Schicksal der ehemals österreichischen
Völker entbrannte der zweite sowohl wie der gegenwärtige russisch-ame¬
rikanische Konflikt. Die Geschichte dieser Völker seit 1919 ist eine sehr
lehrreiche, ziemlich elende. Sie war vor 1914 nicht ganz so elend.
Nun kann man gegen Churchill argumentieren, daß die Zerstörung
der Monarchie kein Akt war, der sich in den letzten Monaten des Jahres
1918 spontan und willkürlich vollzog. Man kann, wie gewöhnlich, an
ältere Schuld erinnern, an Gelegenheiten zur Reform, die siebzig Jahre
früher versäumt worden waren; an den unbeirrbaren Herrschaftswillen
der Magyaren; an den Nationalismus der Deutschen, besonders der
Deutsch-Böhmen, auf den der Nationalismus der Slawen nur eine, nicht
eben originelle Replik war. Man kann an die Situation des Krieges selbst
erinnern, der Österreich zum Gefangenen des deutschen Reiches, der
deutschen Armee machte, und so der Monarchie eben die Funktion raubte,
die sie bis 1914 im Interesse der kleinen slawischen Völker schlecht und
reckt ausgeübt hatte. Daß ein tschechischer Politiker einen totalen Sieg
des deutschen Reiches zu fürchten Ursache hatte, muß eingeräumt werden;
und hieraus ergeben sich schwerwiegende Folgerungen. Aber alte Schuld
ist immer da und kann sich ihrerseits auf noch ältere beziehen. Sie macht
die neue möglich, verständlich; nicht unvermeidlich. Geschichtliche Situa¬
tionen sind immer schwierig; besonders für Völker, die das Unglück
haben, so situiert zu sein, wie Polen, Tschechen, Südslawen es sind.
Es ist wenig Heroisches in der Entstehung dieser Staaten, wenig, was
sich mit dem Kampf um die schweizerische, die holländische, die ameri¬
kanische Unabhängigkeit vergleichen ließe. Die Abenteuer der tschechi¬
schen Legion sind respektabel; Masaryk und Pilsudski achtenswert durch
ihre konsequente Zielstrebigkeit und ihre Integrität; Eduard Benes war
ein geschickter Unterhändler. Sieht man aber näher hin: Wieviel seichter
Optimismus in dem Ganzen; wieviel Schwindel; wieviel Großmannssucht
und Gier. Die Polen, die den Litauern ihre alte Hauptstadt nahmen; die
im Westen sich auf Kosten der Deutschen ausbreiteten, im Osten die
Früchte des deutschen Sieges genossen und ihnen noch eigene hinzuzu¬
fügen gedachten, alles, was in grauer Vorzeit einmal zu ihrem Reich ge¬
hört hatte, bis zum Schwarzen Meer hinunter; die Tschechen, die histo¬
rische, strategische, ökonomische, linguistische Argumente auswechselten
und mischten, je nachdem sie einer Erweiterung ihres Territoriums gün¬
stig waren; die von einer Herstellung „Schweizerischer Verhältnisse“
sprachen, als ob es das gewesen wäre, was sie wollten, als ob das, selbst
wenn sie es wollten, sich dort und damals hätte herstellen lassen; die
307
GOLO MANN
308
SCHULD UND RECHT
nun fehlte ihnen vollends der Schutz, den ihnen zeitweise der Umstand
gewährt hatte, daß Deutschland und Rußland sich das Gleichgewicht
hielten.
Vielleicht ist wirklich Nemesis die Göttin der Geschichte. Vielleicht
müssen alle Sünden, auch die der Mächtigen, früher oder später bezahlt
werden. Das Schicksal Deutschlands spricht dafür; was mit dem Siege,
was mit den Siegern von 1945 geschah und geschieht, spricht auch dafür.
Man tut nicht ungestraft, was die Deutschen getan haben; man tut auch
Dresden, Hiroshima, Potsdam nicht ungestraft. Aber-und dies ist nicht
schön, aber wahr: In unserer Welt wird die Schuld der Schwachen schnel¬
ler und direkter bestraft als die Schuld der Mächtigen. Das soll nicht
heißen, daß Unschuld ein sicherer Schutz gegen Unbill wäre. Leider
nein; das kann es nicht heißen.
309
GOLO MANN
ger von 1918, Herr über Mitteleuropa, die Großmacht Europas, ein Gi¬
gant in der Welt. Es blieb ihm nichts, als sich in dieser Stellung zu be¬
währen und legitim zu machen.
Der zweite Weltkrieg war nicht eine Wiederholung des ersten; die
Welt von 1939 grundverschieden von der von 1914. Er war nidit eine
Fortsetzung des ersten, so als ob Deutschland 1939 die Bewegung dort
wieder aufgenommen hätte, wo es 1918 plötzlich stehengeblieben war.
Er war am allerwenigsten ein Krieg, um wiederzugewinnen, was
Deutschland 1918 verloren hatte und so die Normalität von 1914 wie¬
derherzustellen. Der zweite Krieg war eher der, den Ludendorff von
Ferne ins Auge gefaßt hatte für den Fall, daß Deutsdbland den ersten
gewinnen würde. Schon die deutschen Friedensplaner von 1917 hatten
weder in Brest-Litowsk noch in den damals einem besiegten Westeuropa
aufzuerlegenden Bedingungen das Endgültige gesehen. Sie hatten das
Bewußtsein, jedenfalls das vage Gefühl, daß es im ersten Krieg nur
um Provisorisches, um nur europäische Herrschaft, um Ausgangspositionen
ging, und daß es in einem zweiten um anderes gehen werde. Diesem
anderen, weiteren ging Hitler jetzt nach.
Das Verhältnis des zweiten Weltkrieges zum ersten ist sonach ein viel¬
deutiges. Damit, daß er ohne den ersten nidit gekommen wäre, mit ihm
kausal verknüpft ist, ohne ihn jedenfalls nicht der zweite gewesen wäre,
ist nur das Triviale gesagt. Darüber hinaus ist alles fraglich. Zum zwei¬
ten Weltkrieg wäre es möglicherweise selbst dann gekommen, wenn die
Deutschen den ersten gewonnen hätten. Die Frage wäre hier, unter ande¬
ren, wann sie ihn gewonnen hätten. Hätten sie ihn 1914 gewonnen, als
das zivilisierte Regime Wilhelms II. noch intakt und Krieg und Krieger
noch nicht entartet waren, so wäre eine lange Friedensperiode, wie nach
1871, denkbar gewesen. Hätten sie ihn im Jahre 1917 im Geiste Luden¬
dorffs und der Alldeutschen gewonnen, so würde ein deutscher Sieg
kaum die Basis eines dauerhaften Universalfriedens gewesen sein.
Ebenso wenig eindeutig ist das Verhältnis des zweiten Krieges zum
Versailler Vertrag. Dieser konnte den Deutschen allerdings nicht ange¬
nehm sein. Man sieht aber nicht, wie, nachdem sie einmal verloren hatten,
ein ihnen auf die Dauer akzeptabler Friede eigentlich hätte zustande
kommen können und wie er hätte aussehen sollen. Was wir mit Be¬
stimmtheit wissen, ist nur dies: Daß sie sich 1939 nicht mit solchen Be¬
dingungen zufrieden gaben, wie auch die generösesten, weisesten Sieger
sie ihnen 1919 nimmermehr hätten gewähren können.
Der erste Krieg schuf eine Ordnung, die weder gerecht noch macht¬
logisch solide war. Nicht gerecht, weil sie es so oder so nicht sein konnte;
gerecht heißt hier nichts anderes als allen Beteiligten lieb, und terri-
310
SCHULD UND RECHT
Von den Siegern von 1945 durfte man zuviel nicht verlangen. Wenn
nur nicht sie selber so viel von sich verlangt hätten. W^enn sie nur nicht,
durch frühere Erfahrungen unbelehrt, abermals geglaubt hätten, daß
der Krieg die Menschen besser mache und daß nachher die Welt schöner
aussehen werde als vorher; da doch das Bild vor ihren Augen düsterer
und düsterer wurde. W^ahr, der Gegner war diesmal so bösartig, wie ein
menschlicher Gegner sein kann, die Versuchung stark, sich, im Vergleich
mit ihm, im Kampf gegen ihn, als gut zu empfinden. Europa mußte
befreit werden; aber die menschlichen Befreier durften dies Amt, zum
Schaden ihrer Seele, nur übernehmen, weil sie es nicht Engeln über¬
geben konnten. Die Besiegten verdienten Strafe viel mehr, als die Be¬
strafenden ein Recht zum Strafen hatten; wenn es während der Nürn¬
berger Prozesse nicht zu sehr peinlichen Fragen an die Ankläger kam,
so war das der Unbegabtheit der Verteidigung mehr als der tatsächlichen
Situation zuzuschreiben. Wir konnten nicht umhin, gegen Hitler zu sein,
aber wir hätten das bloße Gegen-ihn oder Gegen-irgend-etwas-Sein nicht
an sich schon für eine Leistung halten dürfen. Das bloße Anti ist gar
nichts, eine Bequemlichkeit, die immer wenigstens die Gefahr mit sich
bringt, uns auf das Niveau dessen, wogegen wir sind, hinunterzuziehen.
Es kommt darauf an, wer gegen etwas ist, womit er gegen etwas ist,
wofür er ist und was er tut. Übrigens waren ja nur einige Schriftsteller
wirklich gegen Hitler, und die konnten nichts gegen ihn ausrichten. Um
311
GOLO MANN
312
SCHULD UND RECHT
Unter sich taten die Sieger das billig zu Prophezeiende. Sie wollten es
beide nicht; sie taten es, weil jeder es zwar nicht sich selber, aber dem
anderen mit fast zur Gewißheit gehendem Verdacht zutraute. Daß sie es,
ohne viel Überzeugung, bis zum Ende des Krieges hinausschoben, hielten
sie für Koalitionsweisheit und Disziplin, da in Wahrheit eben diese Ver¬
schiebung der Politik auf die Nachkriegsperiode ihre Chance, friedlich
miteinander zu existieren, entscheidend verschledhterte. Der Mechanis¬
mus, dessen Wirken man nun Platz gab, war überaus einfach. Hier war
nidits von dem reichen Spiel der Allianzen und Konterallianzen, der
Querverbindungen und Neutralitäten, wie es 1914 gewesen war; nichts
auch nur von den verwegenen, rasenden Herrschaftsprojekten von 1939.
Wenn es noch einer gewissen Phantasie bedurft hatte, den zweiten Welt¬
krieg nach dem ersten zu konzipieren, so war jetzt das Herannahen des
dritten eine Spekulation für Schuljungen, schamlos in ihrer Trivialität.
Man gibt dem speziellen Charakter des russischen Regimes schuld an
der Entwicklung seit 1945; der terroristischen Diktatur, der falsdien
Philosophie. Die Diktatur ist grausam, die Philosophie schlecht; sie tut
uns so viel Schaden, wie die schlechteste Philosophie tun kann. Fraglich
bleibt, ob ohne sie, ohne das menschenvergötternde Terrorregime, aber bei
selbständiger eigenartiger Existenz Rußlands, die Dinge wesentlich anders
gekommen wären. Es heißt, die Russen wollten den Rest der Erde erobern
und kommunistisch machen, weil ihre Ideologie es ihnen so vorschreibe.
Das ist wahr; aber weder Lenin noch Stalin haben große Opfer gebracht,
um Wirklichkeit und Ideologie zusammenzuzwingen, wenn sie sich nicht
entsprachen. Vor 1939 war kaum ernsthaft von einer Expansion des
Kommunismus die Rede; während des zweiten Krieges überhaupt nicht.
Es hätte damals nicht in die politische Wirklichkeit gepaßt. Seit 1945
paßte es hinein, fügte sich in den Mechanismus der Mächte, des Mi߬
trauens, des Wettrüstens, des Kampfes um das europäische Niemands¬
land, der in jedem Fall gegeben war. Diesen zu überwinden hätte es nicht
nur einer liberaleren Regierungsform in Rußland bedurft, sondern einer
großen Anstrengung des Geistes und Herzens überall.
Das Vokabular, mit dem das offizielle Amerika den zweiten Weltkrieg
interpretierte, war pazifistisch und idealistisch. Es waren die Ideen Wood-
row Wilsons, korrigiert durch einen vagen Zusatz von praktischem Sinn.
Der Bund aller friedliebenden Nationen sollte diesmal die Macht haben.
313
GOLO MANN
jedem Friedensbrecher das Rechte und Gute mit den Waffen zu demon¬
strieren; er sollte ferner - dies wenigstens war die Konzeption Franklin
Roosevelts - nicht nur auf einer internationalen Demokratie aller Staa¬
ten, sondern auf dem kombinierten Willen der wirklichen Großmächte
beruhen. Was eine ungenaue Publizistik sich nicht eingestand, war,
daß beide Zusätze sich widersprachen. Der zweite bedeutete das Veto¬
recht der Großmächte, bedeutete, daß den Vereinten Nationen überhaupt
nichts vorgeschlagen werden würde, von dem man wußte, daß eine der
verbleibenden Großmächte dagegen wäre, bedeutete, daß die Großmächte,
jede in ihrer Sphäre, wohl oder übel nebeneinander hausen würden. Der
erste bedeutete die Urgierung des selben universalen Rechtes überall,
die Majorisierung der Minorität. Da die Russen sich zum Protagonisten
des zweiten Prinzips machten, machten die Amerikaner sich zu dem des
ersten. Die Dialektik beider Prinzipien verwandelte die Vereinten Na¬
tionen rasch in ein ihrem ursprünglichen Sinn Entgegengesetztes, in eine
militante Teilorganisation, eine antirussische Allianz. Dies ist die Folge,
die der universale Anspruch in einer nichtuniversalen Welt noch immer
gehabt hat.
Sie fand die Herzen nicht unvorbereitet. Wir glaubten wohl an eine
Welt der internationalen Harmonie und Unschuld nach dem Krieg, aber
wir hielten auch eine ganz anders geartete Welt für möglich und hielten
sie im Grund für wahrscheinlicher. Wir waren nicht mehr naiv wie das
vorige Mal, mit weniger Enthusiasmus und mehr dauerndem Ernst bei
der Sache. Der Krieg selber, die Art, in der er geführt worden war, und
der Sieg hatten den utopisch-milden Zug in unserem Wesen nicht ge¬
stärkt. Wir waren wohl bereit, auf das ideale Ziel hin etwas zu wagen,
aber keine sehr großen Wagnisse und hauptsächlich verbale; die andere
Möglichkeit, jene, wonach die Dinge, anstatt des gewünschten schönen,
den menschlichen Verlauf nehmen konnten, war gleichzeitig mit hand¬
festerer Sorge zu bedenken. Als sie diesen Verlauf wirklich nahmen,
verstanden wir es schnell und waren mehr entrüstet als unglücklich dar¬
über.
Mit jedem Krieg wurden die Pläne generöser, hoffnungsvoller, end¬
gültiger, mit jedem Krieg wurde die Wirklichkeit mörderischer - die
Wirklichkeit, die in uns sowohl wie außer uns ist. Daher der Wider¬
spruch zwischen dem Geist und den Institutionen. Als wir in vergleichs¬
weise friedlichen Zeiten lebten, als die Staatsmänner sich verstanden, der
Zusammenbruch einer Verhandlung die seltene Ausnahme war, hatten
wir gar keine internationale Organisation. Der erste Weltkrieg brachte
die Liga, der zweite die Vereinten Nationen; gute unkräftige Vorsätze aus
der Kriegszeit, als Einrichtungen verharrend, nachdem sie als Vorsätze
314
SCHULD UND RECHT
315
GOLO MANN
aber auch selten etwa die Frage gestellt, wie die Vereinigten Staaten
reagieren würden, wenn das kommunistische China eine amerikanische
kommunistische Gegenregierung, mit zahlreichen Truppen und allem Zu¬
behör aggressiver Macht, auf der Insel Puerto Rico organisierte und dort
um hohen Preis aufrecht erhielte.
Jedes Fragment muß zunächst und vor allem für sich selber sorgen,
und man kann von ihm nicht verlangen, daß es den Vorteil anderer
Fragmente zu seinem hauptsächlichen Anliegen mache. Das ist die banale
Wahrheit des Satzes von der Priorität des nationalen Interesses, von
dem heute wieder so viel die Rede ist. Aber vieles, was man ehedem
zum „nationalen Interesse“ rechnete, hat eine reifere Zivilisation als fiktiv
erkannt; anderes wird noch als fiktiv erkannt werden. Wieder anderes war
interessant nur im negativen Sinn und hörte auf, es zu sein, sobald gewisse
übergreifende Besorgnisse entfielen. Frankreich wünschte die Niederlande
zu kontrollieren, nicht, jedenfalls nicht nur, wegen des absoluten Wertes
dieser Provinzen, sondern damit Spanien oder England sie nicht kontrol¬
lierten. England wünschte sie der Kontrolle Frankreichs zu entziehen. Da¬
her die englisch-französischen Kriege durch die Jahrhunderte, deren ande¬
ren, tieferen Ursachen zu verdankende Beendigung die Neutralisierung
der Niederlande ermöglichte. Zuerst prekär, weil nur auf dem englisch¬
französischen Gleichgewicht beruhend, ist die Existenz der Niederlande
heute nach beiden Seiten völlig gesichert, da beide Seiten den Gedanken
einer politischen Kontrolle der Niederlande längst aufgegeben und buch¬
stäblich vergessen haben.
Selbst da, wo das gemeinsame Aufgeben eines wechselseitig begehrten
und nun, kraft dieses Verzichtes, gar nicht mehr begehrenswerten Zieles
nicht möglich ist, wird ein Teilen, ein Kompromiß im nationalen Inter¬
esse, dem Kriege vorzuziehen sein; es sei denn, das Objekt des Konfliktes
wäre ein so vitales, daß sein Gewinn den Krieg lohnt. Von solcher Wich¬
tigkeit ist heutzutage nichts mehr als die Existenz der Gemeinschaft
selbst in Würde und - jedoch allemal eingeschränkter - Freiheit. Alle
anderen Streit-Objekte müssen Gegenstand von Kompromissen sein. Ein
Kompromiß findet auch dann statt, wenn eine Seite in einer Sache ganz
verzichtet, gleichzeitig oder später aber ihren Standpunkt in einer ande¬
ren Sache durchsetzt, so daß eine friedliche Koexistenz beider Partner auf
absehbare Zeit erreicht wird.
Im nationalen Interesse liegt, daß den vitalen Interessen aller Mächte
Genüge getan wird; wobei, leider, das Gewicht auf das Wort Mächte zu
legen ist. Denn nur die Großen und Größten können Krieg machen und
werden Krieg machen, wenn man das bedroht, was sie für ihr vitales
Interesse halten. Es ist nicht Zynismus, das zu sagen. Gerechtigkeit auf
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SCHULD UND RECHT
Erden ist allemal eine relative, für Engel höchst verächtliche Sache. Was
soll uns eine Gerechtigkeit, die auf dem Recht aller, auch der schwächsten,
insistiert und um ihretwillen die Welt in Kriege zu stürzen bereit ist,
aus denen kein Recht, am wenigsten das Recht der Schwachen, heil her¬
vorgehen kann? Was zwischen Staaten vermittelt und ihre Koexistenz
ermöglidit, ist nicht lex und auch nicht jus, sondern das do ut des, der
Kompromiß. Eine Welt von Staaten, die unter keinem gemeinsamen
Gesetz leben, zu behandeln, als lebten sie unter einem einzigen gemein¬
samen Gesetz, bedeutet, noch schlimmere Gesetzlosigkeit herbeizuführen.
Gerecht zu sein heißt in der internationalen Sphäre zwischen dem, was
billig ist, und dem, was die Realität und Machtverteilung als ratsam er¬
scheinen läßt, die Mitte zu finden. Die Verträge von 1919 waren nicht
darum ungerecht, weil sie den Japanern gewisse unbedeutende Konzes¬
sionen machten, die den Forderungen des chinesischen Nationalismus zu¬
widerliefen. Sie - wir rechnen die teilweise späteren Grenzziehungen in
Osteuropa dazu - waren ungerecht, weil sie die Aspirationen der beiden
größten Mächte Europas ignorierten und die Realität des Mächtever¬
gleiches selbst verfälschten; nicht die Westmächte, viel weniger die Polen,
sondern Deutschland hatte Rußland besiegt, und man konnte nicht die
Früchte des deutschen Sieges über Rußland verteilen, indem man gleich¬
zeitig Deutschland reduzierte, einengte, demütigte. Das Recht, das einige
kleine Völker auf Kosten dieser großen gewannen - wir haben gesehen,
wie zweifelhaft es in vielen Stücken war. Dies ist eine der großen Lehren
von 1919: Es gibt nicht, unabhängig von den wirklichen Machtverhält-
nissen, eine reine Forderung der Gerechtigkeit, an deren Verwirklichung
wir nur durch die großen, mächtigen Sünder verhindert würden. 1919
waren in Europa beide großen mächtigen Sünder vorübergehend in Ohn¬
macht. Man nahm ihnen alles, was ihnen nicht gebührte, und einiges, was
ihnen gebührte, aber man war nicht imstande, es gerecht zu verteilen. Da
nun reine Gerechtigkeit nicht hergestellt werden kann - selbst wenn ein
Gott allen Mächtigen ihre Macht nähme und die Erde neu verteilte -,
um wieviel weniger haben wir Grund, wenn es zu Friedens Verträgen
kommt, die Tatsachen der Macht zu unterschätzen.
Im nationalen Interesse liegt es, die Machtverhältnisse in Rechnung
zu ziehen, nicht nur wie sie heute sind, sondern wie sie in absehbarer
Zeit wahrscheinlich sein werden. Es war schuldhaft, das 1919 nicht zu
tun, Staaten zu bilden und Grenzen zu ziehen so, als ob Deutschland und
Rußland für immer Niemandsland bleiben würden. Es war schuldhaft,
während des zweiten Krieges nicht zu fragen, was an Stelle der deutschen
Präponderanz in Osteuropa, an Stelle der japanischen Präponderanz in
Ostasien eigentlich treten wurde. Die Politik ist die Politik, ein Spiel mit
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GOLO MANN
Macht, ein Spiel der Mächte. Man darf nicht Politik treiben, selber als
Macht agieren, plötzlich aber so tun, als seien die Grundsätze der Macht¬
mechanik durch etwas nicht recht zu Definierendes überwunden.
Die Macht, so hören wir, ist böse. Große Männer - in der politischen
Sphäre - sind immer schlechte Menschen (Lord Acton). Auf unserm Jahr¬
hundert lastet ein Fluch; was immer wir versuchen, wird übel ausgehen.
Die Politik ist das Reich, nicht bloß des Irrtums, sondern der untermensch¬
lichen Infamie und Dummheit und wird es immer bleiben. (Aldous Hux-
ley.) Und so fort. Solche Thesen mögen uns ansprechen; was sollen sie
uns helfen? Die Politik bleibt eine Aufgabe, solange Menschen in un¬
heiliger Gemeinschaft leben. In der Politik hilft nicht keine Politik, son¬
dern bessere, da, wo die ganz gute nicht zu haben ist.
Den guten Willen setzen wir voraus. Es kam uns auf die Schuld der
Wohlmeinenden an, der Amerikaner, die wohlmeinend waren von Wil¬
sons „Force, force to the uttermost!“ bis zum Korea-Krieg und darüber
hinaus, der westlichen Politik überhaupt, insofern sie in universalisti¬
schen Begriffen dachte. Bei jenen, die gar nichts ernsthaft wollten, bei
denen es kein Ziel, nur Mittel und Genuß gab, erübrigt es sich, von Schuld
zu spredien. Die Wohlmeinenden hätten weniger Schaden gestiftet, wenn
sie das Vielfältige nicht so sehr vereinfacht hätten; wenn sie vorsichtiger,
skeptischer, bescheidener gewesen wären. Wenn sie, mit einem Wort,
mehr aus der Geschichte gelernt hätten; da sie nun uns so viele enttäu-
sdiende Erfahrungen hinterlassen haben, aus denen wir lernen können.
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Helmuth Plessner
319
HELMUTH PLESSNER
angesehen werde, wenn sie auf Ideen beruht, welche über alles sinnliche
Interesse hinwegsehen. Sich selbst genug zu sein, mithin Gesellschaft nicht
zu bedürfen, ohne doch ungesellig zu sein, das ist, sie zu fliehen, ist etwas
dem Erhabenen sich Näherndes, so wie jede Überhebung von Bedürfnissen.
Dagegen ist Menschen zu fliehen aus Misanthropie, weil man sie anfein¬
det, oder aus Anthropophobie (Menschenscheu), weil man sie als seine
Feinde fürchtet, teils häßlich, teils verächtlich. Gleichwohl gibt es eine (sehr
uneigentlidi sogenannte) Misanthropie, wozu die Anlage sich mit dem
Alter in vieler wohldenkender Menschen Gemüt einzufinden pflegt, welche
zwar, was das Wohlwollen betrifft, philanthropisch genug ist, aber vom
Wohlgefallen an Menschen durch eine lange traurige Erfahrung weit ab¬
gebracht ist; wovon der Hang zur Eingezogenheit, der phantastisdie
Wunsch, auf einem entlegenen Landsitze oder audi (bei jungen Personen)
die erträumte Glückseligkeit, auf einem der übrigen Welt unbekannten
Eilande, mit einer kleinen Familie, seine Lebenszeit zubringen zu kön¬
nen, welche die Romanschreiber oder Dichter der Robinsonaden so gut
zu nutzen wissen, Zeugnis gibt. Falschheit, Undankbarkeit, Ungerechtig¬
keit, das Kindische in den von uns selbst für wichtig und groß gehaltenen
Zwecken, in deren Verfolgung sich Menschen selbst untereinander alle
erdenklichen Übel antun, stehen mit der Idee dessen, was sie sein könn¬
ten, wenn sie wollten, so im Widerspruch, und sind dem lebhaften
Wunsche, sie besser zu sehen, so sehr entgegen, daß, um sie nicht zu
hassen, da man sie nicht lieben kann, die Verzichttuung auf alle gesell¬
schaftlichen Freuden nur ein kleines Opfer zu sein scheint. Diese Traurig¬
keit, nicht aber die Übel, welche das Schicksal über andere Menschen ver¬
hängt (wovon die Sympathie Ursache ist), sondern die sie sich selbst
antun (welche auf der Antipathie in Grundsätzen beruht), ist, weil sie
auf Ideen beruht, erhaben...“
Kant stellt der eigentlichen, minderwertigen Form der Misanthropie,
der Menschenfeindschaft und Menschenfurcht, die zusammengehören,
eine uneigentliche Form aus Enttäuschung und Ressentiment gegenüber,
welche der Erfahrung des Widerspruchs entstammt, in dem das wirkliche
Leben zur Idee dessen steht, was Menschen sein könnten, wenn sie woll¬
ten. Während die von ihm für eigentlich gehaltenen Formen in der Linie
der Feindseligkeit und Furchtsamkeit liegen, welche das Mit- und Gegen¬
einander der Gesellschaft aus den verschiedensten Gründen und bei tau¬
send Gelegenheiten beherrschen können, und nur ihre Verfestigung zu
einem Habitus darstellen, der die ganze Skala bis zum Menschenhaß
durchlaufen kann, liegt die Quelle der uneigentlich genannten Misan¬
thropie tiefer. Sie entspringt einer Reflexion auf die Größe und Würde
menschlichen Wesens und die an ihr zutage tretende Ohnmacht seiner
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ÜBER DIE MENSCHENVERACHTUNG
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HELMUTH PLESSNER
erreicht. „Dadurch, daß dieser Haß gegen jedermann und doch gegen
niemand persönlich zielt, wird der Konflikt mit den sozialen Strebungen
auf ein Minimum zurückgeführt. Die Verschiebung des Hasses in die
Sphäre des Abstrakten ist ein Kunstgriff, der es dem Misanthropen mög¬
lich macht, auf der Ebene der konkreten lebendigen Beziehungen in der
Hingabe an den einzelnen oder auch an eine größere Gemeinschaft auf¬
zugehen h“ Wie Jonathan Swift, der Autor von Gullivers Reisen, sagt:
„Die Satire aber, die sich gegen alle richtet, wird nie von einzelnen als
Schimpf empfunden, da jeder einzelne sich erkühnt, sie nur auf andere
zu beziehen und seinen eigenen Anteil der Last auf die Schultern dei
Welt abwälzt, die breit und stark genug sind, sie zu tragen.“
Misanthropie lebt von der Verallgemeinerung, die ihr Objekt in die
Sphäre des Abstrakten stellt. Darum wandelt sidb ihr feindseliger Affekt
von Haß in Verachtung und verliert mit wachsendem Grade der Abstrak¬
tion ihre Emotion an Hitze. ,,Der Haß, sonst eine Quelle von Intentionen,
die auf Schmerz, Schaden und Vernichtung des gehaßten Gegenstandes
gerichtet sind, wirkt sich hier im Falle des Menschenhasses praktisch so
gut wie gar nidit aus. W^eder die persönlichen Beziehungen zu einzel¬
nen Individuen, noch die Beziehungen zu einer weiteren, lebendigen kon¬
kreten Umwelt sind durch ihn irgendwie gefärbt. Lediglich in der Form
rein theoretischer Äußerung, in der literarischen Produktion und ge¬
sprächsweise oder in Briefen vorgetragen als Hintergrund weltanschau¬
licher Überzeugungen findet der Menschenhaß seinen Ausdruck Diese
Eigentümlichkeit des Menschenhasses, der nicht auf die Menschheit als
Summe einzelner Individuen, sondern auf das Abstraktum Menschheit
zielt und ganz auf eine Sphäre abstrakter Allgemeinheit beschränkt bleibt,
vielleicht sogar an Gruppen geringeren Allgemeinheitsgrades, wie „den
Weibern“, „den Juden“, „den Engländern“, „den Negern“, „den Ju¬
risten“, „den Theologen“, „den Generälen“, „den Unternehmern“, halt¬
macht - und es bleibt Ihrer Phantasie und Ihrer Verärgerung überlassen,
die Zahl der Beispiele zu vergrößern -, ich sage, diese Eigentümlichkeit
hat Swift in einem Brief an Pope vom 29. September 1725 sehr klar mit
den Worten gekennzeichnet: ,,Ich habe stets alle Nationen, alle Berufe
und jegliche Gemeinschaft gehaßt. Alle meine Liebe hat stets den ein¬
zelnen gehört. Zum Beispiel hasse ich die Zunft der Juristen, aber ich
liebe den Anwalt so und so und den Richter so und so; gerade so geht
es mir mit den Ärzten - von meinem eigenen Handwerk will ich nicht
sprechen Soldaten, Engländern, Schotten, Franzosen und dem Rest. Vor
allem aber hasse und verachte ich das Tier, das Mensch genannt wird,
obwohl ich den Peter, Thomas usw. herzlich liebe. Dies ist das System,
nach dem ich mich viele Jahre gerichtet habeb“
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ÜBER DIE MENSCHENVERACHTUNG