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OFFENER HORIZONT

FESTSCHRIFT

FÜR

KARL JASPERS

R.PIPER & CO VERLAG


MÜNCHEN
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Herausgegeben von Klaus Piper


Satz und Druck besorgte die Hoffmannsdie Buckdruckerei Felix Krais
Stuttgart. Das Papier lieferte die Papierfabrik Sdieufelen, Oberlenningen
(Württ.). Die Bindung führte die Großbuchbinderei Grimm & Bleicher,
München, aus. Schutzumschlag und Einband; Professor Emil Preetorius.
Copyright 1953 by R. Piper & Co Verlag, München. Foto; R. Spreng, Basel.
FESTSCHRIFT

FÜR

KARL JASPERS

zum 70. Geburtstag

23. Februar 1953

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I

Albert Camus Die Gottesmörder. 13


Oskar Hammelsbedc Die theologische Bestreitung des philosophischen
Glaubens.27
Fumio Hashimoto Wesenszüge des östlichen Denkens.36
Gerhard Krüger Das Problem der Autorität.44
Ernst Mayer Philosophie und philosophische Logik bei Jaspers.
Ihr Verhältnis zueinander.63
Jose Ortega y Gasset Stücke aus einer „Geburt der Philosophie“ ... 73
Paul Ricoeur Geschichte der Philosophie als kontinuierliche
Schöpfung der Menschheit auf dem Wege der
Kommunikation.110
Kurt Rossmann Wert und Grenze der Wissenschaft.126

II

Robert Gaupp Brief an Karl Jaspers.149


Hans W. Grüble Psychopathologie und akademischer Unterricht. 155
Kurt Kolle Pathologie des sozialen Kontaktes.169
Renato de Rosa Existenzphilosophische Richtungen in der
modernen Psychopathologie.181
Friedrich Oehlkers Fünfzig Jahre Mendelforschung.192
Adolf Portmann Um ein neues Bild vom Organismus.213

III

Hannah Arendt Ideologie und Terror.229


Hans Frhr. Der Kriegsdienst der Christen in der Kirche des
V. Campenhausen Altertums.255
Jeanne Hersch Tragweite und Grenzen des politischen Handelns 265
Aldous Huxley Die zweifache Krise.278
Golo Mann Schuld und Recht.298
Helmuth Plessner Über die Menschenverachtung.319
Edgar Salin Der Gestaltwandel des europäischen Unter¬
nehmers .328
Alfred Weber Der Mensch und seine Wandlungen.340

8
IV

Stefan Andres Über die Sendung des Dichters. 557

Walter Kaufmann Philosophie, Dichtung und Humanität. 368

Ernst Beutler Das Frankfurter Goethemuseum . 33 j


Ludwig Curtius Die antike Kunst in der modernen Welt .... 393

Gerhard Nebel Das Ereignis des Schönen.403


Emil Preetorius Kunstkrise und Kunsterziehung.415
Robert Oboussier Anliegen und Gegenstand der Musik.420

Dolf Sternberger Notizen über die Prosa von Karl Jaspers . 431
Jeanne Hersch Karl Jaspers als Lehrer.44O

VI

Karl Jaspers’ Lebensdaten.445

Bibliographie der Werke und Schriften von Karl Jaspers, zusammengestellt


von Kurt Rossmann. 445

Autorenindex .... 4gQ

Nachwort .462

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Albert Camus

DIE GOTTESMÖRDER

Gereditigkeit, Vernunft und Wahrheit glänzten noch am Himmel der


Jakobiner; diese Fixsterne konnten wenigstens als Richtpunkte dienen.
Der deutsche Gedanke des 19. Jahrhunderts und insbesondere Hegel woll¬
ten das Werk der französischen Revolution (und der Reformation, die
nach Hegel die ,,Revolution der Deutsdien“ war) fortsetzen und dabei
die Ursachen ihres Mißerfolges beseitigen. Hegel glaubte bemerkt zu
haben, daß der Terror in den abstrakten jakobinischen Prinzipien von
Anfang an enthalten war. Seiner Meinung nach mußte eine absolute und
abstrakte Freiheit zum Terrorismus führen; die Herrschaft eines abstrak¬
ten Rechtes fällt zusammen mit der der Unterdrückung. Als Beispiel führt
Hegel an, daß in der Zeit von Augustus bis Alexander Severus (235
n. Chr.) die Rechtswissenschaft blühte, aber auch die unbarmherzigste
Tyrannei. Um diesen Widersprudi zu überwinden, mußte man also eine
konkrete, durch ein nidit bloß formales Prinzip bewegte Gesellschaft wol¬
len, in welcher Freiheit und Notwendigkeit zusammenpassen. An die
Stelle der allgemeinen, aber abstrakten Vernunft eines Saint-Just und
eines Rousseau hat der deutsche Gedanke also schließlich einen weniger
künstlichen, aber ebenso vieldeutigen Begriff gesetzt; das konkrete All¬
gemeine. Bis dahin schwebte die Vernunft über den Phänomenen, die sich
auf sie bezogen. Von nun an ist sie in den Fluß der geschichtlichen Er¬
eignisse einbezogen, die sie aufhellt und von denen sie verkörpert wird.
Sicherlich kann man sagen, daß Hegel das bis dahin Irrationale ratio¬
nalisiert hat. Gleichzeitig legte er der Vernunft aber eine widervernünf¬
tige innere Bewegtheit bei, er führte in diesen Begriff eine Maßlosigkeit
ein, deren Ergebnisse wir vor Augen haben. In das unbewegliche Denken
seiner Zeit hat der deutsche Gedanke mit einem Male eine unwidersteh¬
liche Bewegung eingeführt. Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wur¬
den jählings in das Werden der Welt einverleibt. Die deutsche Ideologie
verlieh ihnen eine andauernde Beschleunigung, vermischte aber gleich¬
zeitig ihr Sein mit ihrer Bewegung und setzte die Vollendung dieses
Seins auf das Ende des geschichtlichen Werdens fest, falls es ein solches
Ende gibt. Diese Werte hörten auf, Richtpunkte zu sein, und wurden
Ziele. Was die Mittel betrifft, diese Ziele - das heißt das Leben und die
Geschichte - zu erreichen, so gab es keinen vor diesen existierenden Wert,
der als Führer hätte dienen können. Im Gegenteil, ein großer Teil der
Hegel’schen Beweisführung besteht in dem Beweis, daß das banale Ge-

13
ALBERT CAMUS

wissen, das der Gerechtigkeit und der Wahrheit folgt, als ob diese Werte
außerhalb der Welt existierten, gerade das Sichtbarwerden dieser Werte
verhindere. Das Gesetz für das Handeln ist also das Handeln selbst ge¬
worden, das im Finstern ablaufen muß, während es auf die Erleuchtung
wartet, die am Ziele erfolgen soll. Die von einer solchen Romantik an¬
nektierte Vernunft ist nur noch eine starre Leidenschaft.
Die Ziele sind die gleichen geblieben, nur der Ehrgeiz, sie zu errei¬
chen, ist größer geworden; das Denken ist dynamisch, die Vernunft ist
Werden und Eroberung geworden. Das Handeln ist nur noch ein Kalkül
in Abhängigkeit von den Resultaten, nicht von den Prinzipien. Es ver¬
schmilzt infolgedessen mit einer fortwährenden Bewegung. In gleicher
Weise haben sich im 19. Jahrhundert alle Wissenschaftszweige von der
Unbeweglichkeit und Geordnetheit abgewandt, die das Denken des 18.
Jahrhunderts charakterisierten. So wie Darwin an die Stelle von Linne
getreten ist, so haben die Philosophen der dialektischen Bewegung den
Platz der ausgeglichenen und unfruchtbaren Konstrukteure der Vernunft
eingenommen. Von diesem Zeitpunkt her datiert die Idee (die dem gan¬
zen antiken Denken widerspricht, sich aber teilweise im Geiste der fran¬
zösischen Revolution vorfand), daß der Mensch keine ihm ein für allemal
verliehene menschliche Natur besitze, daß er kein fertiges Geschöpf sei,
sondern ein Abenteuer, das er zum Teil selbst hervorrufen kann. Mit
Napoleon und mit Hegel, dem napoleonischen Philosophen, beginnt die
Zeit der „Wirksamkeit“. Bis Napoleon haben die Menschen den Welten¬
raum entdeckt, seit Napoleon die Weltenzeit und die Zukunft. Der Geist
der Revolte wird dadurch tiefgehend umgewandelt.
Jedenfalls ist es seltsam, daß man das Werk Hegels gerade an dieser
neuen Etappe des Geistes der Revolte vorfindet. In gewissem Sinne ist
nämlich sein ganzes Werk erfüllt von dem Abscheu vor dem Non-Kon-
formismus: er wollte der Geist der Aussöhnung sein. Aber das ist nur
eine der vielen Seiten seines Systems, das schon auf Grund der angewand¬
ten Methode das vieldeutigste in der ganzen philosophischen Literatur ist.
Insoweit für ihn das, was wirklich ist, auch vernünftig ist, rechtfertigt er
alle Unternehmungen derer, die der Ideologie des Realen anhängen. Was
man den Panlogismus Hegels genannt hat, ist eine Rechtfertigung des
faktischen Zustandes. Aber sein Pan-Tragismus verherrlicht auch die
Zerstörung als solche. Ohne Zweifel wird in der Dialektik alles wieder
miteinander versöhnt, und man kann kein Extrem setzen, ohne daß ein
anderes auftaucht; wie bei jedem großen Denker, gibt es auch bei Hegel
etwas, womit Hegel korrigiert werden kann. Aber die Philosophen wer¬
den selten bloß mit dem Verstände gelesen, oft mit dem Herzen und des¬
sen Leidenschaften, die nichts miteinander versöhnen.

14
DIEGOTTESMDRDER

Jedenfalls haben sich die Revolutionäre des 20. Jahrhunderts aus He¬
gel die Waffen geschmiedet, die die formalen Prinzipien der Tugend end¬
gültig vernichtet haben. Zurückbehalten haben sie von ihr die Auffas¬
sung einer transzendenzfreien Geschichte, deren Kern ein fortwährendes
Bestreiten von irgend etwas und ein Kampf zwischen den Trägern des
Willens zur Macht ist. Kritisch betrachtet ist die revolutionäre Bewegung
unserer Zeit zunächst eine heftige Anprangerung der formalen Heuche¬
lei, von der die bürgerliche Gesellschaft beherrscht wird. Der zum Teil
begründete Anspruch des modernen Kommunismus und der bedeutend
leichtfertigere des Faschismus ist es, die Mystifikation aufzudecken, die die
Demokratie bürgerlichen Typs, ihre Grundsätze und ihre Tugenden
verdirbt. Die Transzendenz Gottes diente bis 1789 dazu, die Will¬
kür der Könige zu rechtfertigen. Nach der französisdien Revolution dient
die Transzendenz der formalen Prinzipien - Vernunft oder Gerechtig¬
keit - dazu, eine Herrschaftsform zu rechtfertigen, die weder gerecht noch
vernünftig ist. Diese Transzendenz ist also eine Maske, die man herunter¬
reißen muß. Gott ist tot, aber - wie Stirner es vorausgesagt hat - es ist
notwendig, die Moral der Prinzipien zu töten, in denen sich noch die Er¬
innerung an Gott erhält. Der Haß auf die formale Tugend, auf diesen
heruntergekommenen Zeugen der Gottheit, auf diesen falschen Zeugen
im Dienste der Ungerechtigkeit, ist nach wie vor eine Triebfeder der Ge¬
schichte der Gegenwart. Nichts ist sauber, dieser Ruf erschüttert das Jahr¬
hundert. Das Unsaubere, die Geschichte also, wird zum Gesetz, und die wü¬
stenhafte Erde ist der nackten Kraft ausgeliefert, die über die Göttlichkeit
des Menschen entsdieidet oder nicht entscheidet. Man tritt dann der Lüge
und der Gewalttat bei, wie man einer Religion beitritt, und auch mit der
gleidien pathetischen Bewegtheit.
Aber die erste, grundlegende Kritik am guten Gewissen, die Anpran¬
gerung der „schönen Seele“ und der unwirksamen Einstellungen ver¬
danken wir Hegel, für den die Ideologie des Wahren, Guten und Schö¬
nen die Religion derer ist, die keine haben. Während das Umsichgreifen
der Parteibildung Saint-Just befremdet, weil sie der von ihm bejahten
idealen Ordnung zuwiderläuft, ist Hegel davon nicht nur nicht befremdet,
sondern er behauptet sogar, daß die Parteibildung der Beginn des Gei¬
stes ist. Für den Jakobiner ist jedermann tugendhaft. Die von Hegel aus¬
gehende und heute siegreiche Bewegung nimmt im Gegented an, daß
niemand tugendhaft ist, daß aber jedermann es sein wird. Im Anfang
war, nach Saint-Just, alles eine einzige Idylle, nach Hegel eine einzige
Tragödie. Aber schließlich läuft das aufs Gleiche hinaus. Es gilt, dieje¬
nigen zu vernichten, die die Idylle verniditen, oder aber zu vernichten,
um die Idylle zu schaffen. In beiden Fällen deckt die Gewalttat alles.

15
ALBERT CAMUS

Das von Hegel unternommene Überschreiten des Terrors endet nur in


einer Erweiterung des Terrors.
Das ist noch nicht alles. Die Welt von heute kann offenbar nur noch
eine Welt von Herren und Knechten sein, weil die Ideologen der Gegen¬
wart, diejenigen, die das Antlitz der Welt verändern, von Hegel gelernt
haben, die Geschichte als Funktion der Dialektik von Herrschaft und
Knechtschaft zu denken. Wenn es am Morgen der Welt unter einem
wüsten Himmel nur einen Herrn und einen Knecht gab, wenn es sogar
von dem transzendenten Gotte zu den Menschen nur die Verbindung von
Herrn zu Knecht gab, dann kann es auf der Welt kein anderes Gesetz
als das der Kraft geben. Nur ein Gott oder ein Prinzip, das über Herr
und Knecht steht, hätte damals zwischen den beiden vermitteln und be¬
wirken können, daß die Geschichte der Menschen sich nicht in der Ge¬
schichte ihrer Siege und Niederlagen erschöpft. Die Bemühung Hegels
und später der Hegelianer ging aber gerade dahin, jede Transzendenz
und jede Sehnsucht nach Transzendenz immer mehr zu zerstören. Obwohl
es unendlich viel mehr Transzendentes bei Hegel gibt als bei den Links¬
hegelianern - die schließlich über ihn gesiegt haben -, lieferte er eben
doch, und zwar auf der Ebene der Dialektik von Herr und Knecht, die
entscheidende Rechtfertigung für den Machtgeist im 20. Jahrhundert. Der
Sieger hat immer recht, das ist eine der Lehren, die man aus dem be¬
deutendsten deutschen philosophischen System des 19. Jahrhunderts ab¬
leiten kann. Natürlich gibt es in dem erstaunlichen Hegel’schen Lehr¬
gebäude manches, was diesen Gegebenheiten widerspricht. Aber die Ideo¬
logie des 20. Jahrhunderts ist nicht an das gebunden, was man - ungenau -
den Idealismus des Meisters von Jena nennt. Das Gesicht Hegels, das im
russischen Kommunismus wieder auftauchte, wurde nacheinander um¬
gestaltet von David Strauss, Bruno Bauer, Feuerbach, Marx und der gan¬
zen Hegel’schen Linken. Nur er selber interessiert uns hier, denn nur er
hat auf der Geschichte unserer Zeit gelastet. Wenn Nietzsche und Hegel
den Herren von Dachau und Karaganda (die weniger philosophische
Musterbeispiele in der preußischen, napoleonischen, zaristischen Polizei
oder in den englischen „Camps“ Südafrikas gefunden haben) als Alibis
dienen, so wird dadurch nicht ihre ganze Philosophie verurteilt. Aber es
gibt doch der Vermutung Raum, daß ein gewisser Aspekt ihres Denkens
oder ihrer Logik zu jenen furchtbaren Weltverlassenheiten führen konnte.
Der Nihilismus Nietzsches ist methodisch. Die ,,Phänomenologie des
Geistes“ hat auch einen pädagogischen Charakter. An der Grenze zwi¬
schen zwei Jahrhunderten schildert sie die stufenweise Erziehung des Be¬
wußtseins, das auf dem Wege zur absoluten Wahrheit ist. Sie ist ein
metaphysischer „Emile“ h Jede Stufe bedeutet einen Irrtum und wird im

16
DIE GOTTESMÖRDER

Übrigen von der Geschichte in einer Weise sanktioniert, die fast stets ver¬
hängnisvoll war, sei es für das Bewußtsein, sei es für die Zivilisation, in
der es sich spiegelt. Hegel macht es sich zur Aufgabe, die Notwen¬
digkeit dieser schmerzvollen Stufen darzutun. Einer der Aspekte der
„Phänomenologie“ ist eine Betrachtung von Verzweiflung und Tod. Frei¬
lich will diese Verzweiflung eine methodische sein, denn am Ende der
Geschichte soll sie sich in absolute Genugtuung und Weisheit verwandeln.
Diese Pädagogik macht indessen den Fehler, nur höhere Schüler voraus¬
zusetzen; sie ist beim Worte genommen worden, während sie doch durch
das Wort nur den Geist verkünden wollte. Genau so ist es mit der be¬
rühmten Untersuchung von Herrschaft und Knechtschaft gegangen.
(Was folgt, ist eine schematische Darstellung der Dialektik Herr-Knecht.
Nur die Folgen dieser Untersuchung interessieren uns hier. Deshalb er¬
schien uns eine neue Darstellung notwendig, die gewisse Tendenzen stär¬
ker als andere hervorhebt. Zugleich sdiließt das jede kritische Darstellung
aus. Indessen wird es nicht sdiwer sein, einzusehen, daß eine Argumen¬
tation, die sich mittels einiger Kunststückchen im Bereich des Logischen
hält, nicht den Anspruch erheben kann, eine wirkliche Phänomenologie zu
sdiaffen, wenigstens insoweit nicht, als die Argumentation auf einer völlig
willkürlichen Psychologie beruht. Die Nützlidikeit und Wirksamkeit der
Kritik Kierkegaards an Hegel bestehen darin, daß sie sich oft auf die
Psychologie stützt. Das vermindert übrigens nicht den Wert gewisser be¬
wunderungswürdiger Analysen Hegels.)
Das Tier besitzt - nach Hegel - ein unmittelbares Bewußtsein der
Außenwelt, ein Gefühl seiner selbst, aber kein Bewußtsein seiner selbst, was
allein den Menschen auszeichnet. Dieser entsteht wirklich erst von dem
Augenblick an, in dem er, sofern er erkennendes Subjekt ist, Bewußtsein
seiner selbst gewinnt. Er ist also wesentlich Selbstbewußtsein. Das Selbst¬
bewußtsein muß sich, um sich bejahen zu können, von dem unterscheiden,
was es nicht ist. Der Mensch ist das Geschöpf, das, um sein Sein und seine
Unterschiedenheit bejahen zu können, verneint. Was das Selbstbewußt¬
sein von der natürlicben Welt untersdieidet, ist nicht die schlichte Be¬
trachtung, in der es sidi mit der Außenwelt identifiziert und sich selbst ver¬
gißt, sondern die Begierde, die es im Hinblick auf die Welt empfinden
kann. Diese Begierde ruft das Selbstbewußtsein zu sich selbst zurück, und
zwar während sie ihm die Außenwelt als von ihm verschieden zeigt. In
seiner Begierde ist die Außenwelt das, was es nicht hat und was „ist“,
was es aber haben möchte, um sein zu können, und was nicht mehr sein
soll. Das Selbstbewußtsein ist also notwendigerweise Begierde. Aber um
sein zu können, muß es befriedigt werden; es kann aber nur durch Stil¬
lung seiner Begierde befriedigt werden. Es handelt also, um sich zu stil-

17
ALBERT CAMUS

len, und indem es das tut, verneint und beseitigt es das, womit es sich
stillt. Es ist Verneinung. Handeln heißt zerstören, um die geistige Reali¬
tät des Bewußtseins entstehen zu lassen. Aber ein Objekt ohne Bewußt¬
sein zerstören, wie zum Beispiel Fleisch beim Akt des Essens, kommt auch
beim Tier vor. Etwas verbrauchen heißt noch nicht, bewußt sein. Die Be¬
gierde des Bewußtseins muß sich auf etwas richten, was etwas anderes
ist als Natur ohne Bewußtsein. Das einzige Ding in der Welt, das sich
von dieser Natur unterscheidet, ist eben das Selbstbewußtsein. Die Be¬
gierde muß also auf einer anderen Begierde beruhen, das Selbstbewußt¬
sein muß sich an einem anderen Selbstbewußtsein stillen. Mit einfachen
Worten; der Mensch wird nicht erkannt und erkennt sich nicht als Mensch,
solange er sich darauf beschränkt, tierhaft sich am Leben zu halten. Er
muß von den anderen Menschen erkannt werden. Jedes Bewußtsein ist
prinzipiell Begierde, um als solches erkannt und begrüßt zu werden von den
anderen Bewußtseinsindividuen. Es sind die anderen, die uns hervor¬
bringen. Nur in Gesellschaft erhalten wir einen menschlichen Wert, der
höher ist als der tierische.
Da der höchste Wert für das Tier die Erhaltung des Lebens ist, muß
das Bewußtsein sidi über diesen Instinkt erheben, um den menschlichen
Wert zu erhalten. Es muß fähig sein, sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Um von einem anderen Bewußtsein erkannt zu werden, muß der Mensch
bereit sein, sein Leben zu wagen und die Möglichkeit, zu sterben, akzep¬
tieren. Die grundlegenden menschlichen Beziehungen sind also reine
Prestigebeziehungen, ein fortwährender Kampf um das Anerkanntwer¬
den des einen durch den anderen, ein Kampf, der mit dem Tode bezahlt
wird.
Auf der ersten Stufe seiner Dialektik behauptet Hegel, daß der Tod
das für Mensch und Tier Gemeinsame ist, und der Mensch sich vom Tier
dadurch unterscheide, daß er den Tod akzeptiert und sogar will. Im In¬
neren dieses Urkampfes um das Anerkanntwerden wird der Mensch
dann mit dem gewaltsamen Tode gleichgesetzt. ,,Stirb und werde“ ist die
traditionelle, von Hegel aufgenommene Devise. Aber das „werde, was
du bist“ wird verdrängt von dem „werde, was du noch nicht bist“.
Diese primitive und wütende Begierde nach Anerkennung, die mit dem
Willen, zu sein, verschmilzt, wird nur durch eine Anerkennung befrie¬
digt, die sich immer weiter, bis zur Anerkennung durch alle, ausdehnt.
Da ohnehin jeder durch alle anerkannt werden will, hört der Kampf ums
Leben erst mit dem Anerkanntwerden aller durch alle auf, was das Ende
der Geschichte bedeuten würde. Das Wesen, das versucht, das Hegersdie
Bewußtsein zu erlangen, entsteht inmitten des - schwer genug errunge¬
nen - Ruhmes einer kollektiven Billigung. Es ist nicht uninteressant, daß

18
die GOTTESMÖRDER

in dem Denken, das unsere Revolutionen so stark beeinflußte, das höchste


Gut also nicht wirklich mit dem Sein zusammenfällt, sondern mit einem
absoluten Scheinen. Die ganze Geschichte der Menschen ist jedenfalls
weiter nichts als ein langer tödlicher Kampf um die Eroberung des all¬
gemeinen Prestiges und der absoluten Macht. Sie ist von sich aus impe¬
rialistisch. Wir sind weit weg von dem guten Willen des 18. Jahrhun¬
derts und vom „Contrat social“. In dem Lärm und der Tollheit der Jahr¬
hunderte wünscht nunmehr jedes Bewußtsein, um sein zu können, den
Tod des anderen. Obendrein ist diese unerbittliche Tragödie sinnlos,
denn wenn eins der Bewußtseinsindividuen vernichtet ist, wird das sieg¬
reiche Bewußtsein darum noch nicht anerkannt, und zwar weil es nicht
anerkannt werden kann von einem, der nicht mehr vorhanden ist. Tat¬
sächlich steht die Philosophie des Scheinens hier vor ihrer Grenze.
Keine menschliche Realität wäre also entstanden, wenn sich nicht - in¬
folge einer Anordnung, die man einen Glücksfall für das Hegel’sche Sy¬
stem nennen kann - von Anfang an zwei Arten von Bewußtseinsindivi¬
duen vorgefunden hätten, von denen die eine nicht den Mut hat, auf das
Leben zu verzichten und damit einverstanden ist, das andere Bewußtsein
anzuerkennen, ohne von ihm anerkannt zu werden. Im ganzen genom¬
men stimmt es zu, als Sache eingeschätzt zu werden. Dieses Bewußtsein,
das, um sich das animalische Leben zu erhalten, auf das unabhängige
Leben verzichtet, ist das des Knechtes. Dasjenige, was anerkannt wird
und die Unabhängigkeit erlangt, ist das des Herrn. Sie unterscheiden sich
voneinander in dem Augenblick, wo sie aufeinandertreffen und wo das
eine sich vor dem andern verneigt. Das Dilemma besteht in diesem Sta¬
dium der Entwiddung nicht mehr darin, frei zu sein oder zu sterben,
sondern zu töten oder zu unterwerfen. Dieses Dilemma findet seinen
Widerhall im Fortgang der Geschichte, obwohl die Absurdheit in jenem
Augenblick noch nicht so konzentriert gewesen sein mag.
Sicherlich ist die Freiheit des Herrn total, zunächst in Hinblick auf den
Knecht, da dieser ihn total anerkennt, dann in Hinblick auf die natürliche
Welt, da der Knecht sie durch seine Arbeit umwandelt in Gegenstände
des Genusses, die der Herr verbraucht in einer fortwährenden Bejahung
seiner selbst. Indessen ist diese Eigengesetzlichkeit keine absolute. Zu
seinem Unglück wird der Herr in seiner Eigengesetzlichkeit von einem
Bewußtsein anerkannt, das er selbst als eigengesetzlich nicht anerkennt.
Er kann davon nicht befriedigt werden und seine Eigengesetzlichkeit ist
eine bloß negative. Das Herrentum ist eine Sackgasse. Da er auch nicht
auf das Herrentum verzichten und Knecht werden kann, ist es das ewige
Schicksal der Herren, unbefriedigt zu leben oder getötet zu werden. In
der Geschichte dient der Herr zu weiter nichts, als zur Erweckung des

19
ALBERT CAMUS

Knechtsbewußtseins, des einzigen, das wirklich Geschichte macht. Denn


der Knecht ist nicht an seine Stellung gebunden, er will sie wechseln. Er
kann es also, im Gegensatz zum Herrn, weiterbringen; was man Ge¬
schichte nennt, ist nur die Folge seiner dauernden Bemühungen, die
wirkliche Freiheit zu erlangen. Schon durch die Arbeit, durch die Um¬
wandlung der natürlichen in eine technische Welt, befreit er sich von
jener Natur, die der Anfang seiner Knechtschaft war, da er es nicht ver¬
mocht hatte, sich über sie durch das Einverstandensein mit dem Tode zu
erhebend Bis hinein in die Angst vor dem Tode, die von jedem Wesen
in einem Zustande der Demütigung empfunden wird, gibt es nichts, das
den Knecht nicht auf die Ebene des Gesamtmenschlichen emporhöbe. Er
weiß fortan, daß diese Ganzheit existiert; er braucht sie nur noch zu er¬
obern im Verlauf langer Kämpfe gegen die Natur und gegen die Her¬
ren. Die Geschichte ist also identisch mit der Geschichte der Arbeit und
der Revolte. Man braucht sich nicht darüber zu wundern, daß der Marxis¬
mus-Leninismus aus dieser Dialektik das Gegenwartsideal des Arbeiter¬
soldaten abgeleitet hat.
Wir lassen die Beschreibung der Haltungen des knechtischen Bewußt¬
seins (Stoizismus, Skeptizismus, unglückliches Bewußtsein) beiseite, die nun
in der „Phänomenologie“ folgt. Aber man kann, was seine Konsequen¬
zen betrifft, einen anderen Aspekt dieser Dialektik nicht übergehen, näm¬
lich die Angleichung der Beziehung Herr-Knecht an die Beziehung zwi¬
schen dem alten Gott und dem Menschen. Ein Kommentator Hegels be¬
merkt, daß, wenn der Herr wirklich existierte, er Gott wäre. Hegel selbst
nennt den Herrn der Welt den wirklidien Gott. In seiner Beschreibung
des unglücklichen Bewußtseins zeigt er, wie sich der diristliche Knecht,
der das verneinen will, was ihn bedrückt, in das Jenseits der Welt flüch¬
tet und sich infolgedessen einen neuen Herrn in der Person Gottes gibt.
An anderer Stelle setzt Hegel den obersten Herrn mit dem absoluten
Tode gleich. Der Kampf entspinnt sich, auf höherer Ebene, von neuem,
und zwar zwischen dem versklavten Menschen und dem grausamen Gott
Abrahams. Die Auflösung dieses neuen Zerwürfnisses zwischen dem uni¬
versalen Gott und der Person wird von Christus bewirkt, der in sich
selbst das Allgemeine mit dem Besonderen versöhnt. Aber Christus ist
in gewisser Beziehung ein Teil der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Man
hat ihn sehen können, er hat gelebt und ist gestorben. Er ist also nur
eine Etappe auf dem Weg zum Allgemeinen; auch er muß dialektisch
verneint werden. Man braucht ihn nur als Gottmensch anzuerkennen,
um eine höhere Synthese zu erreichen. Man kann die Zwischenstufen
überspringen und gelangt dann zu der Aussage, daß diese Synthese sich
zunächst in der Kirche und der Vernunft verkörpert und sich dann im

20
DIE GOTTESMÖRDER

absoluten Staat vollendet, der von den Arbeitersoldaten errichtet wird


und wo der Geist der Welt als solcher sich schließlich in der g'eg’enseitig'en
Anerkennung jedes einzelnen durch alle widerspiegelt sowie in der all¬
gemeinen Aussöhnung von allem, was unter der Sonne lebt. In diesem
Augenblick, „in dem die Augen des Geistes mit denen des Leibes zu¬
sammenfallen“, ist jedes Bewußtsein nur noch ein Spiegel, der andere
Spiegel widerspiegelt und selbst sich widerspiegelt in der Unendlichkeit
der zurückgeworfenen Bilder. Der Menschenstaat fällt dann mit dem
Gottesstaat zusammen; die Universalgeschichte, das Weltgericht, verkün¬
det ihr Urteil, durch welches das Gute und das Böse gerechtfertigt wer¬
den. Der Staat wird zum Schicksal und zur Billigung jeder Realität, die
verkündet wird in „dem geistigen Tage der Gegenwart“.

Dies ist eine Zusammenfassung der wesentlichen Gedanken, die trotz


oder wegen der auf die Spitze getriebenen Abstraktheit der Darstellung
den revolutionären Geist buchstäblich aufgewühlt haben, und zwar in
anscheinend ganz verschiedenen Richtungen, die nun in der Ideologie
unserer Zeit wiederzufinden unsere Aufgabe ist. Der Immoralismus, der
wissenschaftliche Materialismus und der - den Antitheismus der früheren
Revoltierenden endgültig ablösende - Atheismus sind unter dem para¬
doxen Einfluß Hegels zusammengewachsen mit einer revolutionären Be¬
wegung, die sich bis Hegel von ihren moralischen, evangelischen und
idealistischen Ursprüngen niemals wirklich losgelöst hatte. Wenn jene
Tendenzen manchmal auch sehr weit davon entfernt sind, zum geistigen
Eigentum Hegels zu gehören, so haben sie doch ihre gemeinsame Quelle
in der Vieldeutigkeit seines Denkens und in seiner Kritik der Transzen¬
denz. Hegel hat jede senkrechte Transzendenz endgültig zerstört, vor
allem die der Prinzipien, und darin besteht seine unbestreitbare Origi¬
nalität. Gewiß stellt er die Immanenz des Geistes im Werden der Welt
wieder her. Aber diese Immanenz ist unstabil, sie hat mit dem früheren
Pantheismus nichts gemein. Der Geist ist und ist nicht in der Welt; er
bildet sich hier und ist dann hier. Der Wert wird also an das Ende der Ge¬
schichte verlegt. Bis dahin gibt es kein Kriterium, durch das ein Werturteil
begründet werden könnte. Man muß handeln und leben in Abhängigkeit
von der Zukunft. Alle Moral wird provisorisch. Das 19. und 20. Jahrhun¬
dert sind, in ihrer eigentlichsten Tendenz, Jahrhunderte, die versucht
haben, ohne Transzendenz auszukommen.
Alexandre Kojeve, ein Kommentator, der zwar der Hegel’schen Lin¬
ken angehört, aber gerade in diesem einen Punkt orthodox ist, weist auf
die Feindschaft Hegels mit den Moralisten hin und macht die Bemer¬
kung, daß es Hegels einzige Maxime sei, in Übereinstimmung mit den

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ALBERT CAMUS

Sitten und Gewohnheiten seines Volkes zu leben, eine Maxime des sozia¬
len Konformismus, für den Hegel tatsächlich die zynischsten Beweise er¬
bracht hat. Immerhin fügt Kojeve hinzu, daß dieser Konformismus nur
insoweit für berechtigt gehalten wird, als die Sitten jenes Volkes dem
Geist der Zeit entsprechen, das heißt insoweit sie gefestigt sind und den
revolutionären Kritiken und Angriffen standhalten. Aber wer entscheidet
über diese Festigkeit, wer urteilt über ihre Berechtigung? Seit hundert
Jahren hat das kapitalistische Regime des Abendlandes harten Stürmen
standgehalten. Muß man es deshalb für berechtigt halten? Müßten sich-
umgekehrt - diejenigen, die der Weimarer Republik treu geblieben wa¬
ren, 1933 von ihr abwenden und Hitler die Treue versprechen, nur weil
sie unter dessen Streichen zusammengebrochen war? Mußte die spanische
Republik in genau dem Augenblick verraten werden, an dem das Regime
des Generals Franco den Sieg errang? Das sind Schlußfolgerungen, die
das traditionelle revolutionäre Denken im Rahmen seiner eigenen Per¬
spektiven gerechtfertigt hätte. Das in seinen Konsequenzen unberechenbar
Neue ist, daß das revolutionäre Denken jene Schlußfolgerungen sich zu
eigen gemacht hat. Die Beseitigung jedes moralischen Wertes und aller
Prinzipien, ihre Ersetzung durch das Faktum, das vorläufiger aber realer
König ist, konnte nur, wie wir gesehen haben, zum politischen Zynis¬
mus führen, ob es sidi nun um das Faktum des einzelnen oder - schwer¬
wiegender - um das des Staates handelte. Die von Hegel beeinflußten
politischen oder ideologischen Bewegungen vereinigen sidi darin, daß sie
die Tugend sichtbar im Stich lassen.
In der Tat hat es Hegel nicht verhindern können, daß sidi diejenigen
in eine Welt ohne Schuldlosigkeit und ohne Prinzipien geworfen sahen,
die ihn mit einer keineswegs nur methodischen Angst gelesen hatten,
und dies in einem Europa, das von Ungerechtigkeit bereits zerrissen war:
in eben die Weit geworfen, von der Hegel sagt, sie sei an und für sich
ein Sündenfall, weil sie vom Geist geschieden ist. Zweifellos verzeiht
Hegel am Ende der Geschichte alle Sünden. Indessen wäre von hier bis
dahin jede menschliche Handlungsweise schuldhaft. „Schuldlos ist also
nur die Abwesenheit jeglichen Tuns, das Sein eines Steins, nicht einmal
das eines Kindes.“ Die Unschuld der Steine ist uns also fremd. Ohne
Schuldlosigkeit gibt es keine Beziehung zu irgend etwas, keine Vernunft.
Ohne Vernunft gibt es nur die nackte Kraft, Herren und Knechte, so lange
bis die Vernunft eines Tages herrscht. Zwischen Herrn und Knecht steht
das Leid vereinzelt da, ist die Freude ohne Wurzeln, sind beide unver¬
dient. Wie also leben, wie dies alles ertragen, wenn gegenseitige Zunei¬
gung eine Angelegenheit des Endes aller Zeiten ist? Der einzige Aus¬
weg ist, das Gesetz zu schaffen, die Waffen in der Hand. ,,Töten oder

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DIE GOTTESMÖRDER

unterwerfen“; die Hegel nur mit einer Neigung für das Schreckliche ge¬
lesen haben, konnten wirklich nur den ersten Teil des Dilemmas erfas¬
sen. Sie haben daraus eine Philosophie der Verachtung und der Ver¬
zweiflung gemacht, denn sie hielten sich für Knechte und nur für Knechte,
durch den Tod gebunden an den absoluten Herrn, durch die Peitsche an
die irdischen Herren. Diese Philosophie des schlechten Gewissens hat sie
bloß darüber belehrt, daß niemand Knecht ist ohne sein Einverständnis,
und jeder nur frei wird durch Zurückweisung der Knechtschaft, eine Zu¬
rückweisung, die mit dem Tod zusammenfällt. Die stolzesten unter ihnen
haben die Herausforderung angenommen, haben sich ganz mit jener Zu¬
rückweisung identifiziert und sich dem Tod geweiht. Alles in allem recht¬
fertigte der Satz, daß die Negation an sich ein positiver Akt sei, von
vornherein alle Arten von Negation und kündete bereits den Ausruf
Bakunins und Netschajews an: ,,Unsere Aufgabe ist es, zu zerstören,
nicht, aufzubauen.“ Für Hegel war der Nihilist bloß ein Skeptiker, der
keinen anderen Ausweg hatte als den Widerspruch oder den philosophi¬
schen Selbstmord. Er selber aber brachte eine andere Art von Nihilisten
zur Welt, die aus der Not ein Prinzip des Handelns machten und ihren
Selbstmord mit dem philosophischen Mord gleichsetzten. (Dieser Nihilis¬
mus ist, entgegen dem äußeren Anschein, noch Nihilismus im Sinne
Nietzsches, und zwar insoweit er Verleumdung des gegenwärtigen Lebens
zugunsten eines geschichtlichen Jenseits ist, an das zu glauben man sich
bemüht.) Hieraus erwacEsen die Terroristen, die entschieden haben, daß
man töten und sterben müsse, um sein zu können, denn der Mensch und
die Geschichte können sich nur durch Aufopferung und Mord erschaffen.
Der große Gedanke, daß jeder Idealismus hohl ist, wenn er nicht mit
dem Risiko, zu sterben, bezahlt wird, sollte von jenen jungen Leuten auf
die Spitze getrieben werden, die ihn nicht von der Höhe eines Universi¬
tätskatheders herab verkündeten, bevor sie in ihren Betten starben, son¬
dern mitten im Tumult der Bombenwürfe und auch noch unter den Gal¬
gen. Indem sie das taten, korrigierten sie - auch mit ihren Irrtümern -
ihren Meister und bewiesen gegen ihn, daß wenigstens eine Aristokratie
höher steht als die abscheuliche, von Hegel verherrlichte Erfolgsaristo¬
kratie: die der Aufopferung.
Eine andere Art von Erben, die Hegel ernsthafter liest, wählt den
zweiten Teil des Dilemmas und erklärt, daß der Knecht nur frei wird,
wenn er seinerseits jemanden unterwirft. Die nachhegelischen Lehr¬
gebäude vergaßen die mystische Seite gewisser Tendenzen des Meisters
und haben jene Erben zu einem absoluten Atheismus und zum wissen¬
schaftlichen Materialismus hingeführt. Aber diese Entwicklung ist nicht
vorstellbar ohne das vollständige Verschwundensein jedes transzenden-

23
ALBERT CAMUS

ten Deutungsprinzips und ohne den restlosen Zusammenbruch des


jakobinischen Ideals. Und die in Bewegung geratene Immanenz ist, wenn
man so sagen darf, vorläufiger Atheismus ^ Das verschwommene Ant¬
litz Gottes, das sich bei Hegel noch im Geist der Welt spiegelte, ist
unschwer wegzuwischen. Aus der zweideutigen Formel Hegels: „Gott
ist ohne den Menschen nicht mehr, als der Mensch ohne Gott“, lei¬
ten seine Nachfolger entscheidende Folgerungen ab. David Strauss
betrachtet in seinem „Leben Jesu“ gesondert die Theorie von Chri¬
stus als einem Gott-Menschen. Bruno Bauer („Kritik der evangeli¬
schen Geschichte der Synoptiker“) begründet eine Art von materialisti¬
schem Christentum, indem er den Nachdruck auf die Menschlichkeit Jesu
legt. Schließlich hat Feuerbach (den Marx für einen großen Geist hielt,
und als dessen kritischen Schüler er sich betrachtete) im „Wesen des Chri¬
stentums“ an die Stelle aller Theologie eine Religion des Menschen und
der Gattung gesetzt, die einen großen Teil der zeitgenössischen Intelli¬
genz für sich gewann. Ihre Aufgabe ist es, zu zeigen, daß der Unterschied
zwischen Menschlichem und Göttlichem trügerisch ist, daß er nichts an¬
deres ist als der Unterschied zwischen dem Wesen der Menschheit, das
heißt der menschlichen Natur und dem Individuum. „Das Mysterium
Gottes ist nur das Mysterium der Selbstliebe des Menschen.“ Eine neue
und merkwürdige Prophezeiung läßt ihre Stimme erschallen: „Die Indi¬
vidualität hat die Stelle des Glaubens eingenommen, die Vernunft die
der Bibel, die Politik die der Religion und der Kirche, die Erde die des
Himmels, die Arbeit die des Gebets, das Elend die der Hölle, der Mensch
diejenige Christi.“ Es gibt also nur noch eine Hölle, und die ist von die¬
ser Welt: gegen sie muß gekämpft werden. Die Politik ist Religion, das
transzendente Christentum, das des Jenseits, machte die Herren der Erde
stark durch die Entsagung des Knechtes und rief noch einen Herrn mehr
hervor in der Tiefe der Himmel. Deshalb sind Atheismus und revolutio¬
närer Geist nur die beiden Seiten ein und derselben Bewegung, die auf
Befreiung gerichtet ist. Auf die immer gestellte Frage: „Warum hat sich
die revolutionäre Bewegung mit dem Materialismus und nicht viel
mehr mit dem Idealismus identifiziert?“ lautet die Antwort: „Weil
Gott unterwerfen, ihn dienstbar machen, darauf hinausläuft, die Trans¬
zendenz zu töten, die die früheren Herren am Leben hält, und mit
dem Heraufkommen der neuen die Zeiten des Königsmenschen vorzu-
bereiten.“ Wenn das Elend vorüber ist, wenn die historischen Wider¬
sprüche aufgelöst sind, „wird der wahre Gott, der menschliche Gott der
Staat sein“. Das homo homini lupus wird dann ein homo homini dem.
Dieser Gedanke steht am Anfang unserer gegenwärtigen Welt. Mit
Feuerbach wohnt man der Geburt eines schrecklichen Optimismus bei,

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DIE GOTTESMÖRDER

den wir noch heute am Werke sehen und der der strikte Gegensatz zur nihi-
listisdien Verzweiflung zu sein sdieint. Aber das sieht nur so aus. Man
muß die letzten Schlußfolgerungen Feuerbachs in seiner „Theogonie“ ken¬
nen, um die zutiefst nihilistische Quelle dieser flammenden Gedanken
gewahr zu werden. Gegen Hegel selbst behauptet Feuerbach nämlich,
daß der Mensch nur ist, was er ißt, und faßt seinen Gedanken und die
Zukunft folgendermaßen zusammen: „Die wirkliche Philosophie ist die
Negation der Philosophie. Keine Religion ist meine Religion. Keine Phi¬
losophie ist meine Philosophie.“
Der Zynismus, die Vergöttlichung der Geschidite und der Materie, der
individuelle Terror oder das Verbrechen des Staates, alle diese maßlosen
Konsequenzen ergeben sich daraus, und alle sind gewappnet mit einer
zweideutigen Auffassung von der Welt, die der Geschichte allein die Sorge
überläßt, die Werte und die Wahrheit hervorzubringen. Wenn nichts
klar begriffen werden kann, bevor die Wahrheit - am Ende aller Zei¬
ten - ans Licht gebracht worden ist, ist jede Handlungsweise willkürlich,
und schließlich regiert die Kraft. „Wenn die Realität unbegreiflich ist“,
rief Hegel aus, „müssen wir unbegreifliche Begriffe schaffen.“ Ein Be¬
griff, den man nicht begreifen kann, hat es in der Tat nötig - so wie
der Irrtum - geschaffen zu werden. Aber um aufgenommen zu werden,
kann er nicht auf die Überzeugung zählen, die Wahrheitsrang hat, er
muß schließlich und endlich auferlegt werden. Hegels Einstellung drückt
folgendes aus: „die Wahrheit ist diejenige, die uns der Irrtum zu sein
scheint, die aber wahr ist, gerade weil es ihr geschieht, der Irrtum zu
sein. Was den Beweis betrifft, so bin nicht ich es, sondern die Geschichte,
die ihn bei ihrer Vollendung spenden wird.“ Eine solche Anmaßung
kann nur zwei Haltungen nach sich ziehen: entweder die Aufhebung
jeder Bejahung bis zur Spendung des Wahrheitsbeweises, oder die Be¬
jahung von allem, was in der Geschichte erfolgversprechend zu sein
scheint, in erster Linie Bejahung der Kraft. In beiden Fällen ein Nihi¬
lismus. Jedenfalls versteht man das revolutionäre Denken des 20. Jahr¬
hunderts nicht, wenn man die Tatsache außer acht läßt, daß es infolge
eines unglücklichen Zufalls zu einem großen Teil von einer Philosophie
des Konformismus und des Opportunismus inspiriert worden ist. Die
wirkliche Revolte wird durch die Entartungen dieses Denkens nicht in
Frage gestellt.
Schließlich ist das, was den Anspruch Hegels rechtfertigt, zugleich das,
was ihn verstandesmäßig und für alle Zeiten verdächtig macht. Er glaubte,
daß die Geschichte im Jahre 1807 mit Napoleon und mit ihm vollendet
sei, daß also die Bejahung möglich und der Nihilismus besiegt sei. Die
„Phänomenologie“, eine Bibel, die nur die Vergangenheit prophezeit

25
ALBERT CAMUS

hätte, setzte der Zeit eine Schranke. Im Jahre 1807 waren alle Sünden
vergeben, und die Zeitalter waren abgelaufen. Aber die Geschichte ist
weitergegangen. Neue Sünden schreien seither in das Angesicht der
Welt und lassen den Skandal der früheren Schandtaten, die von der
deutschen Philosophie auf ewig für straflos erklärt worden waren, wie¬
der ausbrechen. Die Vergöttlichung Hegels durch ihn selbst nach derjeni¬
gen Napoleons - der von nun an schuldlos ist, da es ihm gelungen war, die
Geschichte zu stabilisieren -, hat nur sieben Jahre gedauert. An Stelle der
totalen Bejahung hat der Nihilismus die Welt eingenommen. Auch die
Philosophie hat, selbst wenn sie lakaienhaft ist, ihre W^aterloos.
Aber nichts kann das Gelüst nach Göttlichkeit im Herzen des Menschen
entmutigen. Andere sind gekommen und kommen noch, die Waterloo
vergessen und weiter den Anspruch erheben, die Geschichte zu Ende zu
bringen. Die Göttlichkeit des Menschen ist noch immer auf dem Marsche
und wird erst am Ende aller Zeiten angebetet werden können. Man muß
ein Diener dieser Apokalypse sein und, da Gott fehlt, wenigstens eine
Kirche errichten. Alles in allem läßt die Geschichte, die immer noch nicht
stehengeblieben ist, eine Perspektive vorausahnen, die die des HegeP-
schen Systems sein könnte, aber aus dem einfachen Grunde, daß sie
vorläufig von den geistigen Fäden Hegels gezogen, wenn nicht gelenkt
wird. Wenn die Cholera den Philosophen der Schlacht bei Jena auf der
Höhe seines Ruhms dahinrafft, ist alles in bester Ordnung, nämlich für
das, was folgt. Der Himmel ist leer, die Erde ist der prinzipienlosen
Macht ausgeliefert. Die zu töten und die zu unterwerfen gewählt haben,
werden abwechselnd an der Rampe der Bühne stehen, im Namen einer
Revolte, die sich von ihrer Wahrheit abgewendet hat.

Anmerkungen
^ Hegel und Rousseau zusammen zu nennen, hat seinen guten Sinn. Das Schicksal der
„Phänomenologie“ war in seinen Konsequenzen das gleiche wie das des „Contrat
social“. Es hat das philosophische Denken seiner Zeit gestaltet. Rousseaus Theorie
vom Gesamtwillen findet sich übrigens im Hegel’schen System wieder.
- In Wirklichkeit liegt hier eine tiefreichende Doppelsinnigkeit vor, denn es handelt
sich gar nicht um die gleiche Natur. Beseitigt die Heraufkunft der technischen Welt
den Tod oder die Furcht vor dem Tode in der natürlichen Welt? Das ist die eigent¬
liche Frage, und sie hat Hegel in der Schwebe gelassen.
® Jean Hyppolite, „Genese et structure de la Phenomenologie de l’esprit“, Seite 168.
Die Kritik Kierkegaards ist in jeder Hinsicht berechtigt. Die Gottheit auf die Ge¬
schichte gründen heißt, einen absoluten Wert paradoxerweise auf eine annähernd
richtige Erkenntnis gründen. Etwas „ewig Geschichtliches“ ist ein Widerspruch in
sich selber. Übersetzt von Justus Streller

Aus: „L’Homme Revolte“ (Verlag Gallimard, Paris); die deutsche Übersetzung


erscheint im Verlag Rowohlt, Hamburg.

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Oskar Hammelsbeck

DIE THEOLOGISCHE BESTREITUNG


DES PHILOSOPHISCHEN GLAUBENS

„Zu den Sdanerzen ineines um Wahrheit bemühten Lehens


gehört, daß in der Diskussion mit 'Theologen es an entschei¬
denden Punkten aufhört, sie verstummen, sprechen einen un¬
verständlichen Satz, reden von etwas anderem, behaupten
etwas bedingungslos, reden freundlich und gut zu, ohne wirk¬
lich vergegenwärtigt zu haben, was man vorher gesagt hat.
— und haben wohl am Ende kein eigentliches Interesse.“
(Ann: Karl Jaspers, Der philosophische Glaube)

Die neutestamentliche Gemeinde steht von Anfang an bis heute in der


Auseinandersetzung mit der Philosophie. Ihre Theologie ist nicht denk¬
bar ohne Philosophie. Mit philosophischen Denkmitteln macht sie zum
Gegenstand, was sie zugleich gegen die Philosophie abgrenzen muß: die
Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Gäbe es keine Philosophie, so
braudite es keine Theologie zu geben. Im schlichten unmittelbaren Glau¬
ben an Christus braucht der einfache Mensdi weder Theologie noch Phi¬
losophie. Vor dem Sündenfall wird noch nicht philosophiert; denn Frei¬
heit und Gehorsam sind noch nicht getrennt. Religion, Philosophie und
Theologie gehören zum Menschen in der Gottlosigkeit. Dürfen wir an
Gott in seiner Offenbarung in Christus glauben, so ist dieser Glaube
kein religiöser, kein philosophischer und kein theologischer Glaube. Theo¬
logie kann der Gemeinde um ihres Glaubens willen nur Hilfsdienste tun
gegenüber Religion und Philosophie. Philosophie bekommt immer nur
„Religion“ und die religionsmäßige Spiegelung von Offenbarung in den
Blick, demgegenüber sich der philosophische Glaube am nicht religions¬
objektiven „Umgreifenden“ orientieren möchte. Alle Objektivationen,
auch die der „diristlichen“ Religion, sind aber der rechten Theologie
nicht weniger verdächtig. Dogmen und kirchliche Bekenntnisschriften
sind mit den jeweiligen philosophischen Denkmitteln erarbeitete theolo¬
gische Erkenntnisse. Sie weisen auf die Offenbarung hin, indem sie zu¬
gleich versuchen, sich gegen die ohne Rücksicht auf die christliche Offen¬
barung zur Diskussion stehende philosophische und religiöse Erkenntnis
abzugrenzen.
In dem vorhergehenden ersten Abschnitt sind wahrscheinlidi schon
mehrere „unverständliche Sätze“ gesprochen. Das kommt wohl daher,
daß die gleichen Wörter eine unterschiedliche Bedeutung haben, ob sie im

27
OSKAR HAMMELSBECK

philosophischen Denken oder im Denken von der Offenbarung her ver¬


wandt werden. Wir erleichtern die Verständigung, wenn wir die notwen¬
dig unterschiedliche Verwendung klären. Die Theologie ist für diese Auf¬
klärung verantwortlich. Eine fruchtbare Beziehung zwischen Philosophie
und Theologie ist möglich, wenn es zu einem gegenseitig bejahbaren Ver¬
ständnis ihrer Aufgaben kommt. Dieses Verständnis aber bringt es mit
sich, daß die Unterscheidung verbleibt. Sie darf nicht verwischt werden.
Philosophie darf nicht Ersatz werden, noch die Theologie verneinen.
Theologie muß achten, was sie der Philosophie verdankt. Der Theologe
muß jedem Philosophierenden - und damit sich selbst im Philosophie¬
ren - zugestehen, zu fragen und zu forschen: „etsi deus non daretur“.
Der Philosoph muß philosophierend der Theologie den Offenbarungs¬
begriff zugestehen. Gemeint ist damit die eigentliche Prämisse alles
Denkens in der Theologie, daß Gott extra nos, extra hominem, mit¬
hin souverän handelt. Rechte Theologie denkt von der Souveränität
Gottes her über Gott, vielmehr über das Handeln Gottes. Tut sie das
nicht, so ist sie Philosophie geworden, und zwar falsche Philosophie,
Philosophie im Übergriff. Dieser Übergriff geschieht dann sowohl an der
rechten Theologie der Offenbarung wie an der rechten Philosophie der
Weltweisheit. Rechte Philosophie grenzt sich gegenüber der rechten Theo¬
logie ab, oder sie wird auch falsche Philosophie im Übergriff. Schelling
sprach bei seiner Erlanger Antrittsvorlesung in der atemverhaltenden
Stille des Auditoriums aus, daß, wer Wissenschaft und Philosophie treiben
wolle, nicht nur die bürgerlichen Sicherheiten, sondern sogar Gott verlas¬
sen müsse.
Theologie in Anerkenntnis der Souveränität Gottes steht der fragenden
und zweifelnden Philosophie näher als der Religion. Sie liebt die philo¬
sophierende Redlichkeit Lessings mehr als seine Kurzschlüsse hinsicht¬
lich der verschiedenen Religionen. Wo Philosophie religiös wird, hört ihr
Ja und Verstehen beiden gegenüber, der Religion und der Theologie
gegenüber, auf.
Glaube kann religiös sein, auch der Glaube an Christus. Theologie kann
philosophieren, auch die Theologie, die von der Souveränität Gottes her
denkt. Aber der Glaube geht im Religiösen nicht auf und die Theologie
nicht in der Philosophie. Religion und Philosophie sind in der Weise,
wie sie glauben und denken, Menschenwerk. Sie sind Äußerungen der
menschlichen Seele und des menschlichen Geistes. Die Theologie kann
nur feststellen, daß Gott beide zuläßt, Religion und Philosophie, daß er
jedoch Gericht und Rechtfertigung über sie hat ergehen lassen am Ma߬
stab des Kreuzes Christi (Gal. 6,14). Religion und Weltweisheit sind in
ihren falschen Ansprüchen vom Menschen her durch Christus abgetan.

28
THEOLOGISCHE BESTREITUNG DES PHILOSOPHISCHEN GLAUBENS

Der Glaube ist von ihnen her nicht erfüllbar. Gott allein füllt und erfüllt
ihn. Die Theologie muß diesen souveränen Vorbehalt Gottes der religiö¬
sen Sucht und der Philosophie gegenüber vertreten. Indem die Philo¬
sophie auf die religiösen Ansprüche verzichtet, kann sie in der Zulassung
durch Gott wahrhaft weise, Weltweisheit, werden.
In diesem Verzicht der Philosophie gründet sich ihr Redit, gegen jede
Art von „Ausschließlichkeitsanspruch“ (Jaspers, S. 69 ff.) zu protestieren.
Sie protestiert damit als rechte Philosophie gegen die falsche, gerade
auch gegen die falsdie Philosophie in der falschen Theologie. Es ist
im Grunde der reformatorische Protest für die „Freiheit eines Christen¬
menschen“. Wir müssen wohl unterscheiden zwischen der unbestreitbaren
„Ausschließlichkeit“, die Gott zukommt, und dem Anspruch, den Men¬
schen für ihr Gottesverhältnis abzuleiten meinen. Audi im Philosophieren
steht, soll Gott als emer begriffen werden, seine Ausschließlichkeit logi¬
scherweise fest. Die Theologie in Anerkenntnis der Souveränität Gottes
kann nur von der Offenbarungsaussage her denken; „Ich, ich bin (der
Herr) und außer mir kein Befreier“ (Jes. 43,11). Das Erste Gebot mit dem
folgenden Bilderverbot und dem Gebot der Heiligung seines Namens tut
die Einzigkeit kund, die Ausschließlichkeit des Einen, der Gott ist und
uns Gott sein will als Offenbarer. Das „Ich bin“ Gottes ist die Aussage
der Aussdiließlidikeit (2. Mos. 3,14). Gott offenbart sich mit dem „Ich
bin, der ich bin“ oder dem „Ich werde sein, der ich sein werde“ und ent¬
zieht sich damit zugleich dem Zugriff des religiösen Menschen. Er ist nur
Gott für die Menschenkinder, wie er - souverän - für sie da sein will.
Der Philosoph wendet sein kritisches Unterscheidungsbewußtsein (Jas¬
pers, S. 69) gegen die neutestamentlich bezeugte Aussage Jesu (Joh. 14, 6):
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Was dem einen Gott
auch philosophisch zugestanden werden kann, also von der Vernunft her,
mit der die Kriterien für das philosophisch Mögliche festgestellt werden,
kann dem Nazarener und seinen Anhängern nicht zugestanden werden.
Hier scheint ein Ausschließlichkeitsanspruch fordernd aufzutreten, den
es außerhalb der biblischen Welt nicht gibt. „Menschen hohen Adels und
reiner Seele sind auch außerhalb des Christentums sichtbar; es wäre ab¬
surd, wenn sie verloren sein sollten, zumal im Vergleich zu menschlich
fragwürdigen, kaum liebenswerten Gestalten unter den größten histo¬
risch wirksamen Christen“ (Jaspers, S. 69/70).
Die Theologie in Anerkenntnis der Souveränität Gottes geht einen
anderen Weg der Klärung. Theologisch ist es nicht möglich, jene Aussage
Jesu aus dem Gesamtzusammenhang des Offenbarungszeugnisses zu lösen.
Schon innerhalb des Johannes-Evangeliums muß der Zusammenhang mit
seiner Einleitung, dem sogenannten Prolog, gewahrt bleiben: „Das Wort

29
OSKAR HAMMELSBECK

ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herilichkeit, eine
Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und
Wahrheit“ (Joh. 1,14). Philosophisch ist dasnur die Verschiebung auf eine
andere nicht haltbare Behauptung. Theologisch wird statt dessen der Zu¬
sammenhang des Offenbarungszeugnisses Alten und Neuen Testaments,
das Zeugnis von der Offenbarung des eine7i Gottes wichtig. Die erkannte
Herrlichkeit dieses einen Gottes ist nicht eine nach menschlicher Weis¬
heit oder Religion aufweisbare, sondern in Anerkenntnis der Souveräni¬
tät Gottes die nur im Glauben vollziehbare Erkenntnis: der eine Gott
ist dem gefallenen Menschen zugute Mensch geworden - wahrhaftiger
Gott, wahrhaftiger Mensch. Diese Menschwerdung Gottes - im An¬
nehmen der Knechtsgestalt dieser Welt - macht die religiösen Illusionen
zunichte. Im Blick auf Joh. 14, 6 heißt das: das alte, ewige „Ich bin
Gottes bleibt unvermindert, wenn der eine Gott eingeht in die menschlich-
weltliche Wirklichkeit: Weg, Leben, Wahrheit, Türe, Brot, Wein, Licht
zu sein. Wege, Leben und Wahrheit hören in Christus auf, Bemühungen
und Spekulationen religiösen und philosophischen Glaubens zu sein. Gott
kommt auf seinem Weg, der Christus heißt, mit seinem Leben, mit seiner
Wahrheit den religiösen und philosophierenden Menschen entgegen.
Die Prädikatsnomina sind die welthaften, menschlichen, „ fleischlichen
Daseinsweisen, deren sich nunmehr der eine Gott mit seinem „Ich bin“
angenommen hat. Der Philosoph würde es erträglich und dann eben nicht
mehr als intoleranten Ausschließlichkeitsanspruch finden, wenn der Christ
verbessernd sagen würde: das ist mein Weg. Er hat in der kritischen
Begrenzung des Religiösen durch philosophische Redlichkeit ganz recht.
Vom Menschen her kann es nur verschiedene, der Unbedingtheit des
einzelnen entsprechende Möglichkeiten geben. Aber von Gott her auf den
Menschen zu ist die Ausschließlichkeit gewissermaßen die Bedingung für
den unbedingten Glauben. In der Gemeinde Christi gibt es gerade nicht
einen Kollektivglauben auf Grund eines durch Menschen verkündbaren
Ausschließlichkeitsanspruchs. Es ist vielmehr das Besondere der Gemeinde,
daß jedes ihrer Glieder auf seine ihm eigene, persönliche und unbe¬
dingte Weise glaubt und zugleich jeder doch an den einen Gott in
Christus glaubt.
Indem der eine Gott mit seinem „Ich bin“ Weg, Leben, Wahrheit,
Türe, Brot, Wein, Licht - das alles sind ja Wahrzeichen der geschaffenen
Welt -, zu dem Seinen gemacht hat für die Menschen, hört die religiöse
Fanatisierung durch den gottfernen Menschen auf. Das Profane darf wie¬
der profan sein in echter Weltlichkeit. Die Ausschließlichkeit Gottes im
„Ich bin“ schließt die Ausschließlichkeitsansprüche menschlicher Wege zu
Gott aus. Gerade der Christenmensch kann einen solchen fordernden An-

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THEOLOGISCHE BESTREITUNG DES PHILOSOPHISCHEN GLAUBENS

Spruch nicht stellen. Denn in der Bibel begegnet ihm nur der Jesus
Christus, der überall solcher falschen „Christlichkeit“ wehrt. Wir müssen
also daraus folgern, daß Ausschließlichkeitsansprüche nur außerhalb der
biblischen Erkenntnis in Christus und in ihren religiösen Mißverständ¬
nissen Vorkommen. Fichtes idealistische Hybris in seinen „Reden“ ist ein
solcher Mißverstand und Ausschließlichkeitsansprudi. Aber auch die
Kirchen sind immer wieder in der Gefahr, sich in Ansprüchen zu lösen
vom Evangelium und „Religionsgemeinschaften“ zu werden. Ecclesia
semper reforrnanda.
Das „Idi bin“ Christi ist immer Anlaß zum Ärgernis gewesen, bis in
die Schar der erwählten Jünger. Die Ausschließlichkeit Gottes wird von
keinem natürlichen Menschen anerkannt, sondern nur in Gottes erschlie¬
ßendem Geist. Es ist der der Gemeinde verheißene Geist. Diese Aussage
ist der eigentlich neuralgische Punkt zwischen Theologie und Philosophie.
Gott schließt niemanden aus. Er „will, daß alle Menschen zur Erkenntnis
der Wahrheit kommen“ (l.Tim.2, 4). Er zwingt aber niemanden. Darum
gibt es nur den Auftrag Christi zur Verkündigung und Lehre. Gott, der Be¬
freier, zwingt nicht. Zwang widerspricht der Befreiung. Das Zeugnis der
Bekennenden Kirche von 1934 ist darum ein echtes biblisches Zeugnis. In
der 2. These heißt es gegen die falschen Zeugnisse der Zeit: „Durch ihn
(Christus) widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen
dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen (Gottes) Geschöpfen.“
Damit ist jede undiristliche Ausschließlichkeit ausgeschlossen. In diesem
freien, dankbaren Dienst wird nicht geschieden zwischen Gläubigen und
Ungläubigen, Christen und Nichtchristen. Die Liebe Christi dient jedem
Menschenkind.
Wenn der eine Gott des „Ich bin“ den glaubenden Jüngern zuspricht:
„Ihr seid das Licht der Welt“ oder ähnliche Zusprüche, so kann kein Glau¬
bender, von diesem unmittelbaren Zuspruch sich lösend, von sich behaup¬
ten, er sei Licht oder Salz der Erde. Immer ist nur das Wort Gottes als
Licht und Salz gemeint, das durch die Gemeinde und ihre Glieder für die
Welt aktuell wird. Von der Theologie in Anerkenntnis der Souveränität
Gottes muß deshalb dem Philosophen bestritten werden, vom Vergleich
mit „Menschen hohen Adels und reiner Seele“ her jene töricht und an¬
maßend erscheinende Qualifizierung der Christen zu entwerten. Denn sie
ist gar keine Qualifizierung im philosophisch vertretbaren Sinne. Im Offen¬
barungszeugnis darf jedoch nicht unausgesprochen bleiben, daß jene hohen
und reinen Seelen vor Gottes Augen wie jedermann ohne Verdienst und
Würdigkeit dastehen und wie jedermann der Barmherzigkeit Gottes be¬
dürftig sind. Unsere Selbsttäuschungen hinsichtlich der Verlorenheit vor
Gott sind allgemein.

31
OSKAR HAMMELSBECK

Die Selbsttäuschung des philosophisdien Glaubens an Stelle des Offen¬


barungsglaubens wehrt Paulus im Brief an die Gemeinde zu Kolossä ab
(2,8): „Gebt acht, daß eudi keiner durch die Philosophie verführe, durch
leeren Trug nach menschlicher Überlieferung, nach den Weltelementen,
und nicht nach Christus!“
Glaube und Evangelium müssen vor dem Raube durch die Philosophie
bewahrt werden. Die religiös und philosophisch erklärten „Elemente“
werden Christus gegenübergestellt. Die philosophische Frage nach den
Urbestandteilen, von denen Sokrates im Theaetet (201 d-f) wie als Traum¬
deuter erzählt, man wisse nicht, ob sie nur in den Verknüpfungen erklär¬
bar seien, nicht aber sie selbst, ferner die Frage nach der Abhängigkeit
des menschlichen Schicksals von den Gestirnen und aller Deutungswahn
über Woher und Wohin der Menschheit enden im leeren Trug, sind Nich¬
tigkeiten vor Christus. Die Warnung des Paulus, das Evangelium nicht
rauben zu lassen durch derlei Überlieferung und Menschenweisheit, gilt
heute wie damals, aber in einem bestimmten Sinne. Es gilt heute wie da¬
mals die Abwehr gegen die raubende Philosophie, die philosophische Spe¬
kulation im Übergriff gegen eine solche Menschenweisheit, die das Christ¬
liche synkretistisch zu entmächtigen sucht. Von der Gnosis über die analo-
gia entis bis zur rationalistischen Aufklärung in die idealistischen Ablei¬
tungen hinein, in Freimaurerei, Anthroposophie, Moralische Aufrüstung,
um nur ernsthafte und sittlich hodistehende MenscJienweisheiten zu nen¬
nen, brandet der in sich immer gleiche Versuch des religiösen und über
sich hinaus fragenden Menschen gegen das Evangelium, um es gefangen
zu nehmen, zu enteignen und zu verschmelzen. Die Elementenlehre mit
aller Bejahung der Religion kommt heute in der Archetypik der Jung’-
schen Psychologie wieder auf.
Im Sinne von Kol. 2,8 haben wir es hier überall, heute wie damals, mit
einer falschen, weil religiösen Philosophie zu tun. Sie ist am gefährlich¬
sten, wo sie selber-oft ehrlich gemeint-behauptet, im Einklang mit dem
Evangelium zu sein. Zwar ist eine solche Bewegung für und gegen das
Evangelium in allem Philosophieren angelegt. Wir müssen nur zu schei¬
den suchen zwischen rechter und falscher Philosophie. Gegen die rechte
Philosophie und Weltweisheit hat auch Paulus vom Evangelium her
nidits einzuwenden. Auch das gilt damals wie heute. Eher wäre zu
sprechen von einem Eintreten für die rechte Philosophie gegen eine
falsche Theologie.
In diesem Sinne schreibt Paulus an die Gemeinde in Philippi. Da scheint
die Gefahr gewesen zu sein, daß zum Glauben gekommene Griechen und
Römer sich in eine enthusiastische Frömmigkeit zurückziehen wollten, in
einer vermeintlich guten Entscheidung zwischen Christus und der Welt,

32
THEOLOGISCHE BESTREITUNG DES PHILOSOPHISCHEN GLAUBENS

zwischen Glauben und Philosophie. Da schreibt er von der allewege gel¬


tenden Freude am Evangelium und von dem Frieden in Christus, der
höher ist als alle Vernunft, unmißverständlich mahnend, gerade sie sollen
sich kümmern um die großen humanen Errungenschaften der heidnischen
Philosophie und Kultur. Was „wahr, was würdig, was gerecht, was keusch,
was liebenswert sei, was gut klinge und eine Tugend sei, ein Lob“, das
sollen sie nicht mißachten, sondern „ihm nachdenken“ (4, 8).
Im ersten Falle geht es darum, das lautere und reine Evangelium nicht
rauben zu lassen von falschen Propheten, die in der Mischung mit ihren
spekulativen Ideen Götterbilder daraus machen. Im zweiten Fall geht es
ebenfalls darum, in der Art, wie wir dem Schönen, Guten und Wahren
der Weltweisheit als in Christus Gebundene nachdenken, zu vermeiden,
daß eine Götzenreligion daraus wird. So wird spürbar, was Salz der Erde
und Licht der Welt heißt.
In den Ableitungen und Säkularisationen, die wir geschichtlich unter
dem Sammelbegriff Christentum verstehen, ist der verderbliche Synkretis¬
mus und andererseits die gesunde Polarität zwischen Glauben und Weis¬
heit, zwischen Theologie und Philosophie wirksam gewesen. Luthers Rin¬
gen um die Freiheit der Theologie von der Philosophie - Titel des guten
Buches von W. Link 1940 - erhellt, wie sehr die Theologie auf die philo¬
sophischen Denkmittel angewiesen ist. Sie dürfen nur nicht die Theologie
überwuchern. So brauchen wir auch heute die gute Philosophie. Aber die
gute Philosophie braucht den theologischen Einwand, daß sie sich von un¬
gemäßen Bemühungen um einen philosophischen Glauben freihalten möge
und freihalten darf. Es wird sonst nur die Reihe der ungemäßen Inter¬
pretationen biblischer Aussagen vermehrt, deren die Philosophiegeschichte
voll ist.
Der philosophische Glaube, der selber nicht Religion sein will, mißver¬
steht fast immer das Evangelium als Religion, sogar als „Christusreligion“.
Dann wird der von ihr bejahte „Christusgeist Sache eines jeden Men¬
schen“. „Er ist das Pneuma, das heißt der Geist eines Enthusiasmus im
Aufschwung zum Übersinnlichen“ (Jaspers, S. 81). Die Theologie in An¬
erkenntnis der Souveränität Gottes widerspricht vom Evangelium her
(Joh. 3). Sie widerspricht dem idealistischen Übergriff. Ist es richtig, daß
wir im Philosophieren eine ungeschichtlich freischwebende Aufklärungs¬
philosophie ablehnen, so muß gerade im geschichtlichen Denken scharf
unterschieden werden zwischen dem Denken in Ideen und Aufschwüngen
im Spiritus humanus griechischen Ursprungs und dem Spiritus sanctus der
biblischen Offenbarung. Vom Übersinnlichen, der zähen Sehnsucht in allem
Idealismus, sind wir durch das Evangelium befreit.
Die Theologie stimmt dagegen zu, wenn die gute Philosophie erkennt:

33
OSKAR HAMMELSBECK

„Im Verhalten zur Bibel kommt es immer darauf an, aus den Abgleitungen
wieder zu gewinnen die sich gleichbleibende Wahrheit, die doch nie ob
jektiv da ist. Wahre Verwandlung ist Rückkehr zum Ursprünglichen. ...
Das Ursprüngliche ist aber nicht das Anfängliche, sondern das Jeder¬
zeitige, das eigentlich und ewig ist“ (Jaspers, S. 79). Gute Theologie und
gute Philosophie besorgen jede auf ihre W^eise und miteinander das
immer notwendige Gesdiäft, die religiösen und die philosophischen Ob-
jektivationen um des existentiellen Wagnisses von Glauben und W^issen
willen aufzuheben. Das paulinische „Haben, als hätten wir nicht gilt
auch hier. Christlicher Glaube und philosophischer Glaube stimmen in
Wagnis und Haltung weithin überein, wie Jaspers ihn beschreibt. Die
dogmatischen und institutionellen Objektivationen sind aufhebbare ge-
sdbichtliche Formen. Gott ist ungegenständlich. Aber er neigt sich in der
Offenbarung unserem menschlichen Bedürfnis, sogar dem religiösen Be¬
dürfnis nach dem Objektivierbaren, zu. Dabei wird aber von ihm her
unser Festhalten am vergänglich Gegenständlichen aufgehoben; was der
Glaubende ergreift, ist Antwort auf das Ergriffensein durch Gott. Taufe
und Abendmahl sind die beiden einzigen über das Wort hinausgehenden
„Objektivationen“ der christlichen Offenbarung, die aber in der ausdrück¬
lichen Verbundenheit mit dem Tod Christi zugleich eschatologisch quali¬
fiziert sind.
Philosophie im philosophischen Glauben und Philosophie in der Theo¬
logie (Bultmann) versucht die übersäkularen Gehalte mit den säkularen
Kategorien aufzufangen. Das ist einesteils geschichtlich notwendig gegen
Erstarrung, für Lebendigkeit im Überliefern. Es begünstigt andernteils
die Entleerung aus den Offenbarungsgehalten. Wir dürfen Nietzsche zu¬
erkennen, daß er das Christentum als eine Fehlentwicklung widerlegt hat.
Christentum ist immer eine Fehlentwiddung vom jederzeitigen Ursprung
in Christus. Was Nietzsche nicht erkannt oder erfahren hat, ist das andere,
daß die lautere und reine Verkündigung des Evangeliums im jeweiligen
Christentum das Geschichtliche durchbricht. Die Gottesgabe des Wortes
gilt wie das Manna in der Wüste für jeden Tag neu. Jeder Vorrat wurde
wurmig und stinkend. Das muß gute Theologie beachten, und sie darf sich
darin von der kritischen Philosophie helfen lassen.
Philosophischer Glaube kann niemals die Ursprünglichkeit des Glau¬
bens in der Souveränität Gottes erreichen. Die Philosophie hat ein ganz
anderes Feld. Dieses ihr eigene Feld darf wiederum nicht durch eine fal¬
sche Theologie beschlagnahmt werden. Gott hat trotz des Sündenfalls den
gesegneten Auftrag nicht zurückgenommen, die geschaffene Welt zu er¬
forschen und dem Menschen dienstbar zu machen. Die Geschichte des
Menschen ist die Geschichte der Entfaltung des menschlichen Geistes in

34
THEOLOGISCHE BESTREITUNG DES PHILOSOPHISCHEN GLAUBENS

der fortschreitenden Entzauberung der Welt. Der Anteil der Philosophie


als weltlicher Ratgeberin aller Wissenschaften ist unbestritten. Die gute
Theologie steht als dankbare Partnerin an ihrer Seite, um falsch ver¬
standene „christliche“ Vormundschaften abzuwehren. Christus ist kein
Gegner der „mündig gewordenen Welt“ (Bonhoeffer). Gute Theologie
von Christus her macht Raum für die echte Weltlichkeit.
Unsere Aufgabe zwischen Theologie und Philosophie zeichnet sich von
neuem ab; Nicht Trennung in unverbundene Spezialformen und Eigen-
gesetzlidikeiten, wohl aber polare Förderung.

35
Fumio Hashimoto

WESENSZÜGE DES ÖSTLICHEN DENKENS

Vorwort

Zu den Bedingungen eines neuen und wahren Humanismus gehört ein


Gedankenaustausdi, ja eine Kommunikation zwischen Ost und West. Eine
Kommunikation ist auf versdiiedenen Gebieten möglich: auf dem Ge¬
biete der Wirtschaft, der Politik, des Sports usw. Die tiefste aller Kom¬
munikationen muß aber zwischen Seele und Seele, auf dem Gebiet des
Denkens und Wissens geschehen.
In diesem Sinne sollen im Folgenden einige Wesenszüge des östlichen
Denkens charakterisiert werden. Das östliche Denken besteht geographisch
aus dem indischen, dem chinesischen und dem japanischen Denken. In¬
haltlich aber bildet den Stamm des östlichen Denkens der Buddhismus, der,
aus Indien stammend, in China und in Japan ausgebildet wurde. Die
beiden Hauptzweige sind der Taoismus und der Konfuzianismus. Der
Shintoismus hat außerhalb Japans gar keinen Einfluß ausgeübt. Von die¬
sen drei bzw. vier Komponenten bestimmt, ist im Osten eine eigentüm¬
liche Lebensatmosphäre und ein eigentümliches Denken entstanden.
Wenn wir hier von dem östlichen Denken sprechen, so meinen wir nicht
das Durchschnittsdenken, nicht das Denken des gemeinen Volkes, sondern
das Denken der besten aller Gelehrten, der besten aller Künstler, das
Denken derjenigen, die durch unermüdliche Übung zur Großen Wahr¬
heit, zur Erleuchtung gelangt sind. Denn nur zwischen Denkern ersten
Ranges kann sich eine wahre westöstliche Kommunikation verwirklichen.

Der östliche Begriff des Wissens

Der Unterschied von Einzelwissenschaft und Philosophie ist für den


Osten nie so ausschlaggebend gewesen, er ist wenigstens bis vor Dezennien
nie so ernst und streng genommen worden. Das bedeutet aber nicht etwa,
daß man den Unterschied nicht kannte, daß man beide Wissensstufen
verwechselte. Sondern der Osten kennt allzu viele Stufen des Wissens,
als daß er geneigt wäre, die beiden mit besonderem Nachdruck heraus¬
zunehmen und als die einzigen zwei Wissensformen hervorzuheben.
Um gleich einige der dem Osten bekannten Wissensformen zu nennen,
für uns gibt es das Wissen als Kenntnisse, das Wissen als Bildung, das
Wissen als Gesinnung, das Wissen als Weg und Einsatz, das Wissen als
Erleuchtung und Verwandlung. Man würde etwa sagen, das alles sei ja

36
WESENSZÜGE DES ÖSTLICHEN DENKENS

audi dem Westen bekannt, für den Westen handle es sich aber um die
Wissenschaft, zu der Einzelwissenschaft und Philosophie als zwei von¬
einander zu unterscheidende Gebiete gehören; selbstverständlich kenne
auch der Westen, wenn es auf außerwissenschaftliches Wissen ankomme,
alle diese dem Osten bekannten Formen des Wissens.
Das ist richtig. Der Unterschied ist aber der, daß der Osten keinen so
großen Wert legt auf das wissenschaftliche Wissen mit seinen begriff¬
lichen Bestimmungen, mit seinem Anspruch auf begriffliche Exaktheit oder
Strenge, sondern auf das Wissen überhaupt mit seinem sich im einzelnen
Menschen vollziehenden Entwicklungsgang von der vorbegrifflichen durch
die begriffliche bis zur außer- und überbegrifflichen Stufe hinauf. Oder
richtiger: Die Einzelwissenschaften und die Philosophie im westlichen Sinn
gibt und gab es zwar auch im Osten; bis vor etwa einem Jahrhundert aber
wollte niemand im Osten behaupten, sein Fach sei diese oder jene Einzel¬
wissenschaft, oder aber die Philosophie. Jeder Wissenschaftler, sei er
etwa Mathematiker oder Chemiker oder Nationalökonom oder was er
sonst sei, erhob zugleich Anspruch, Philosoph zu sein, Besitzer des wahren
Wissens zu sein. Von welcher Einzelwissenschaft, von welchem Winkel
des Wissens man auch ausging, man versuchte sich immer über sein Fach
hinaus zu erheben, seine Fachkenntnisse zu einer wahren persönlich¬
menschlichen Bildung zu veredeln und durch diese Bildung hindurch zur
Einsicht in Welt und Menschsein zu gelangen, um auf diese Weise mit
unermüdlichem, ewig dauerndem Eifer immer und immer näher auf die
letzte Wahrheit hinzudrängen.
Das Wissen ist für den Osten nicht bloß Sache des Verstandes und der
- theoretischen - Vernunft, nicht bloß Sache des Theoretisierens. Es ist
vielmehr Einsatz eines ganzen Menschen. Beim Wissen kommt es nicht
sowohl auf das theoretische Vermögen, als vielmehr auf den ganzen Men¬
schen an. Das Wissen eines Menschen zeugt daher von seiner Gesinnung,
seiner Geisteshaltung, seinem Format, seiner menschlichen Reife. Subjekt
des Wissens und zum Wissen führenden Denkens ist, allen Scherz bei¬
seite, nicht der Kopf, sondern der Leib, der Bauch (japanisch: hara). Daher
die Redewendungen wie „mit dem Bauch denken“, „das will mir nicht in
die Eingeweide fallen“ (japanisch: fu ni ochinai, soviel wie: das will mir
nicht in den Kopf).
Daß das östliche Wissen ein ganzmenschliches Wissen ist, welches den
Einsatz von Leib und Seele erfordert, daraus folgt, daß das W^issen eine
mehr oder weniger tiefgreifende Verwandlung des Menschen bedeutet.
Der Mensch verwandelt sich durch das Wissen. Das Wissen ist in diesem
Sinne zum Handeln erhoben. Es ist ein inneres, aber auch äußeres Han¬
deln. Denn das Innere muß sich immer auch nach außen bekunden. Wenn

37
FUMIO HASHIMOTO

zum Beispiel jemand zu wissen glaubt, daß das Rauchen der Gesundheit
schadet, und es sich doch nicht abgewöhnt, so ist es nicht dahin zu deuten,
daß er die verderbliche Wirkung des Rauchens zwar wisse, doch nicht genug
willensstark sei, um es sich abgewöhnen zu können, sondern dahin, daß
jenes Wissen, das notwendig dieses Abgewöhnen mit sich bringen müßte,
von ihm gar nicht angeeignet worden sei. Die Übereinstimmung, die Ein¬
heit von Wissen und Handeln, von Theorie und Praxis liegt der östlichen
Auffassung des Wissens zugrunde. Die Praxis ist die letzte Instanz der
Theorie. Die Gelehrsamkeit setzt immer eine menschliche Reife voraus,
die sich in allem Tun und Lassen, ja sogar im Heben und Legen der Eß-
stäbchen bekundet.
Die Fachkenntnisse müssen der Lebensauffassung, dem Weltbild, der
Einsicht in die Große Wahrheit eingegliedert und eingewoben sein. Da das
aber eine lebenslange, ja nie endende Aufgabe ist, so ist das unermüdliche
Bemühen um die Große Wahrheit, die ins hohe Alter hinein dauernde
Suche nach dem „Weg“ das beliebteste Bild des Gelehrten. Die immer
fortschreitende, nie ruhende große C/wvollkommenheit ist uns viel sym¬
pathischer als der selbstbewußte Anspruch auf Vollkommenheit, der sich
mit einem in sich abgeschlossenen System begnügt.

Der Weg

Alle Künste, sei es nun die Kunst des Teezeremoniells (chado, Tee-Weg)
oder die des Blumenarrangements (kado, Blumen-Weg), oder die des
Bogenschießens (kyudo, Bogen-Weg) oder die des Jujitsu (richtiger: jüjut-
su oder jüdö, weiche Kunst oder Weichheits-Weg) oder die des Fechtens
(kendö, Schwert-Weg), werden im Osten „Wege“ (chinesisch: tao, chi¬
nesisch-japanisch: do, japanisch: michi) genannt. Nun handelt es sich aber
nicht um die bloße Benennung, sondern um den Inhalt, den Sinn, der den
Namen „Weg“ verdient. Was ist denn das für ein Weg?
Jede Kunst ist ein Weg zur Großen Wahrheit, zum Einswerden mit
der Großen Wahrheit. Gleichviel, ob man diesen oder jenen Weg ein¬
schlägt, immer wird man zu dieser einen Wahrheit geführt. Der Wege
gibt es viele. Doch gibt es nur eine Wahrheit. Daher ist jeder einzelne
Weg gleichwertig mit der Gesamtheit aller Wege. Eins gleich allem (ichi
soku issai).
In welcher Kunst auch immer kommt es nicht so sehr auf die Technik
an, die im Grunde in der Geschicklichkeit der Bewegung der Gliedmaßen
oder des Leibes besteht. Die Technik, die Geschicklichkeit, spielt zwar
eine wichtige Rolle, doch eine untergeordnete, die der Materie, in der
das Höhere, der Geist, sich abspielt. Jede Kunst ist ein Weg, auf dem

38
WESENSZÜGE DES ÖSTLICHEN DENKENS

sich der Geist unablässig übt, und zwar nicht in der Technik, sondern an
der Technik. An der Technik übt man sich in seiner menschlichen Aus¬
reifung, Läuterung und Freiwerdung zur Großen Wahrheit. Erst wenn
man eins geworden ist mit der Großen Wahrheit, dann hat auch seine
Kunst ihre Vollkommenheit erreicht.
Ist es aber möglich, dieses Einswerden mit der Großen Wahrheit?
Selbstverständlich ist es eine ewige Aufgabe, ein ewig dauernder Weg.
Die Übung kann also auch nie aufhören. Daher ist die Vollkommenheit
der Kunst auch eine ewige Aufgabe. Was ist nun das größte Hindernis
auf dem Wege der Übung? Wovon will der Mensch durch Übung frei
und lauter werden? Von dem Ich, dem kleinen Ich, diesem Übel aller
Übel, das uns die Große Wahrheit verdunkelt.
Nach dem Buddhismus, der dem Begriff des Wegs zugrunde liegt, be¬
wegen sich Himmel und Erde und alle Dinge nach dem Gesetz der Kau¬
salität, dem „Gesetz von Ursachen und Anlässen“. Das Weltall ist ein
Meer von Kausalitäten. Unzählige Kausalitäten überqueren und durch¬
kreuzen sich auf unzählige Weisen, und so bilden sich überall verschie¬
dene Dinge und W^esen, hier und da bilden sich auch Knoten von Kau¬
salitäten, die sich Menschen nennen. Der einzelne Mensch, das einzelne
Ich, ist ein winziges Knötchen von Kausalnexus, ein Schäumchen im gro¬
ßen Meer der Kausalität.
Die Einsicht in diese Kausalität, die Einsicht, daß jedes Ich sowohl wie
jedes Ding letzten Endes in Kausalnexus, also in das Nichts aufzulosen
sei, gehört mit zur Großen Wahrheit. Aller Streit um Mein und Dein,
alle Ichsucht, ja das liebe Ich selbst, würde verschwinden, wenn diese
Einsicht angeeignet würde. Man sagt: „Ich liebe das und das , „Ich ess^e
und trinke“ usw. Das müßte aber heißen: „Es liebt bei mir das und das“,
„Es ißt und trinkt bei mir“ usw. Dieses „bei mir“ bedeutet, daß ich der
Ort, das Gefäß, der Durchgangspunkt bin, wo das unbekannte „es sich
betätigt. In jeder Kunst muß man lernen, sein Ich zum Durchgangspunkt
zu machen, wo das „es“, wo das große Gesetz frei und ungestört durch¬
geht. Dazu muß der Eigensinn, der Widerstand des Ich, alle ichbefan-
genen Vorurteile vernichtet und zerschmettert werden. Vernichtung des
Ich zugunsten des großen Gesetzes, der Großen Wahrheit, das ist der
Sinn der ewig unablässigen Übung in der Kunst.
Da in jeder Kunst nicht die Technik, sondern das Einswerden mit der
Großen Wahrheit und die Vernichtung des Ich das Entscheidende ist,
bedeutet der Kunstweg Verwandlung des ganzen Menschen, den Star
stechen für das Aufleuchten der Großen Wahrheit. Dabei bezieht sich
also die Übung nicht nur auf das Vermögen, auf die Fertigkeiten, die die
Technik in Anspruch nimmt, sondern eher auf den ganzen Menschen, auf

39
FUMIO HASHIMOTO

das Gehen und Stehen, das Sitzen und Liegen, auf das Alltagsleben des
Übenden. Daher die Konfuzianische Behauptung, der Sinn jedes Weges
liege erstens in der Ausbildung des eigenen Charakters, zweitens in der
Übernahme der Regierung eines Landes und drittens in der Gründung
des Friedens der ganzen Welt (wobei Welt ursprünglich Ganz-China
bedeutet). Es konnte also Vorkommen, daß ein Fürst einen weit und breit
als Meister bekannten Tee-Mann besuchte und bat, für ihn Kanzler zu
werden, nicht weil dieser in der Politik bewandert, sondern eben weil
er durch den Tee-Weg eins mit der Großen Wahrheit war und so allen
politischen Schwierigkeiten gewachsen sein mußte.

Die Große Wahrheit

Wir haben schon oft von der Großen Wahrheit gesprochen und nie
gesagt, was das ist.
Die Große Wahrheit ist nicht etwa einer kleinen Wahrheit entgegen¬
gesetzt. Denn es ist kein relativer Begriff. Die Große Wahrheit ist nicht
etwa so etwas wie die absolute Wahrheit. Denn so wäre sie einer rela¬
tiven Wahrheit entgegengesetzt und selbst relativ.
Die Große Wahrheit ist unaussprechlich. Jeder Versuch, sie mit einer
Aussage zu beschreiben, scheitert. Ein Dichter, der Matsushima, eine der
„drei schönsten Landschaften Japans“, besingen wollte, konnte nur sagen:
„Matsushima! Ach, Matsushima! Matsushima!“ Ein anderer Dichter, der
das durch die Kirschblüten berühmte Yoshinoyama besichtigen wollte und
sich unterwegs auf verschiedene Möglichkeiten besann, die Schönheit der
Kirschblüten auszudrücken, etwa durch Vergleichung mit dem Schnee oder
mit sich hinziehenden Wolken oder aber mit der Haut einer schönen
Jungfrau, kam, sah und wurde besiegt. Sein Gedicht lautete nur: „Ach
nein! Das ist also Yoshinoyama mit seinen Kirschblüten.“ Das ist die
Große Wahrheit. Diese Gedichte kann nur der in ihrer vollen Wahrheit
verstehen, der Matsushima bzw. Yoshinoyama mit eigenen Augen ge¬
sehen hat. Die Große Wahrheit ist, paradoxerweise gesagt, nur dem zu¬
gänglich, der sie hat.
Die Große Wahrheit läßt sich durch keine Worte, durch keine Begriffe
vermitteln. Daher sagt der Buddhismus: „Man soll keine Buchstaben auf¬
stellen.“ Daher sagt der Shintoismus: „Man soll alle Erörterungen mei¬
den.“ „Buchstaben“ bedeutet „Begriffe“, „Theorien“, „Systeme“. Die
Große Wahrheit ist über allen Buchstaben und Erörterungen erhaben.
Wie wird sie denn also vermittelt? Wir haben eben gesagt: Sie ist nur
dem zugänglich, der sie hat. Sie wird nicht ver-mittel-t. Sie leuchtet einem
unmittelbar, also unvermittelt auf. Der Lehrer hilft dem Schüler beim

40
WESENSZÜGE DES ÖSTLICHEN DENKENS

Aufleuditen der Wahrheit. Diese Hilfe kann und muß, obwohl das Auf¬
leuchten selbst ohne jedes Mittel geschieht, nur mittelbar, unter Aufbie¬
tung aller möglichen Mittel geschehen, das heißt in der Wissenschaft
unter Aufbietung von Buchstaben, Worten, Begriffen, Theorien, Syste¬
men, in den Künsten aber wie Teezeremoniell, Blumenarrangement, Bo¬
genschießen, Fechtkunst usw. unter Aufbietung von Formen, Bildern, Far¬
ben, Bewegungen des Leibes und der Gliedmaßen. Der Lehrer hilft aber
vermöge dieser Mittel nur dann mit Erfolg, wenn der Schüler dazu bereit,
wenn dieser also schon der Großen Wahrheit trächtig ist. Das ist, wie So¬
krates sagt, die Hebammenkunst. Trächtig muß der Schüler selber werden.
Diese Mittel vermitteln die Große Wahrheit nicht. Sie sind nur Chif¬
fren, nur Zeichen, anhand deren der Sdiüler, der Übende die Große
Wahrheit aufleuchten sehen soll. Er soll die Chiffren nicht mit der Wahr¬
heit verwechseln. Er soll hinter die Chiffren sehen. Wenn der Übende
wirklich weit vorgeschritten ist, so kann ihm alles als Chiffre dienen.
_Berge und Elüsse, Gräser und Bäume, alles predigt die Wahrheit.“
Wie geht die Große Wahrheit vom Lehrer zum Schüler? Sie geht, wie
der Buddhismus sagt, „von Seele zu Seele“. Das ist die höchste Kommu¬
nikation, die unmittelbarste, köstlichste, seltenste Kommunikation, die
ohne Worte, ohne Bilder gesdiieht, in dem Augenblick, wo die Chiffren,
die der Lehrer zeigt, das Höchstmaß von katalytischer Wirkung erreichen
und der Schüler so reif und trächtig geworden ist, daß die leiseste Be¬
rührung wie ein Eünklein wirkt, das in dem Schüler die Große Wahrheit
zum Aufleuchten bringt. Dieses Aufleuchten nennen wir „Erleuchtung“
(japanisch: satori). Die Erleuchtung geschieht nun aber keineswegs nur
einmal im Leben, keineswegs ein für allemal. Die eine Erleuchtung
reicht der andern die Hand. Jedesmal leuchtet dieselbe Gioße W^ahrheit
auf. Die Erleuchtung kann nie zu oft geschehen. Sie muß sich stets er¬
neuern. Und das gehört zum Wesen der Erleuchtung und zum Wesen
der Großen Wahrheit.

Die Klumpenlosigkeit des östlichen Denkens

„Ein Weg, der als einziger Weg zu bezeichnen ist, ist kein stichhaltig
fesler Weg.“ Dieses Wort Laotses ist charakteristisch für das östliche
Denken. Den festen, einzigen, immer und überall gültigen, absoluten
Weg gibt es nicht. Jeder feste Standpunkt, alles Unauflösbare, alles, was
Bestand hat, ist dem Osten unsympathisch, weil es die Flüssigkeit des
Denkens stört, indem es dem umgreifenden Denken im Wege steht.
Der christliche Gedanke des Schöpfergottes zum Beispiel scheint dem
Osten wie ein fester Punkt, worüber das Christentum nie hinauskann und

41
FUMIO HASHIMOTO

der es trotz aller seiner guten Lehren in der Weite des Gesichtskreises
weit hinter dem Buddhismus zurückstehen läßt. Auch ist der Begriff der
Materie in der materialistischen Geschichtsauffassung ein fester Punkt,
ein unverdaulicher Klumpen, der trotz aller Dialektik der sich selbst be¬
wegenden Materie wie eine derbe Hypothese erscheint. Ein solcher un¬
verdaulicher Klumpen führt immer zu einer übereilten Verfestigung und
Verallgemeinerung dessen, was nur einen hypothetischen Wert besitzt.
Der Gedanke des vom Himmel ernannten Kaisers im alten China und
der des allein gottgleichen Tenno im Vorkriegs-Japan waren auch solche
Klumpen, die zu politischen Zwecken ausgenutzt wurden. Der Shintois-
mus, der ursprünglich in allen Menschen Gotteskinder erblickte, ist durch
den Klumpen des Gott-Tennotums entstellt worden, genau so, wie Hegels
Dialektik durch den Klumpen der Rechtfertigung des preußischen Staats¬
wesens eine verhängnisvolle Verkümmerung erfuhr. Eine solche Ent¬
stellung aber entspricht dem eigentlichen östlichen Denken überhaupt
nicht.
Der Begriff des Absoluten kann, wenn er als bloße Transzendenz jen¬
seits der Wirklichkeit, völlig abgelöst von allem Wirklichen angenom¬
men wird, ebenfalls ein unverdaulicher, fester und toter Klumpen sein.
Das wahre Absolute lebt und webt in den wirklichen Dingen und Wesen,
dergestalt, daß jedes einzelne Ding, jedes einzelne Wesen ohne weiteres
das Absolute ist, daß „Berge und Flüsse, Gräser und Bäume die Große
Wahrheit predigen.“ Das Absolute, die Große Wahrheit, die Buddha-
Natur liegt nicht im Jenseits, sie liegt im Diesseits, „unter meinen Füßen“.
Das östliche Denken kennt keinen Dualismus. Der Gegensatz von
Sein und Sollen, der Gegensatz von Idealismus und Realismus und der¬
gleichen Gegensätze sind dem Osten fremd. Wir sagen nicht, das und
das solle, weil es nicht sei, sondern es solle, weil es sei. Der Mensch soll
sich üben, um eins mit der Großen Wahrheit zu sein, weil er es schon
ist, weil er die Große Wahrheit hat. Auch ist die Frage, ob der Geist
die Materie bestimmt oder die Materie den Geist, uns völlig fremd.
Wenn der Geist die Materie bestimmt, so bleibt der Geist als hypothe¬
tischer Klumpen bestehen, und wenn die Materie den Geist bestimmt,
so muß man sich mit der klumpenhaften Hypothese der Materie be¬
gnügen. Der Geist ist ein Schaum, der sich bildet und bewegt, je nach
dem stets bewegten Nexus von unzähligen Kausalitäten. Er ist der Kirsch¬
blüte gleich, die aufblüht und bald wieder verwelkt. Niemand weiß,
woraus diese Blüte geworden ist. „Ich spalte den Kirschbaum entzwei und
finde nichts. Woraus ist ach! diese Blüte geworden?“ Dieses Gedicht will
zeigen, daß es den Geist außerhalb aller Kausalnexus gar nicht gibt, daß
der Geist kein fester Klumpen, sondern das Produkt jeweils bestehender

42
WESENSZÜGE DES ÖSTLICHEN DENKENS

und wirkender Ursachen und Anlässe ist. Das Gleiche gilt auch von der
Materie, die ebenfalls das Produkt der stets bewegten Ursachen und An¬
lässe ist.
Was sind denn die Ursachen und Anlässe? Der Begriff von Ursachen
und Anlässen ist wohl die Grundlage allen östlichen Denkens. „Anlässe
bedeutet „Nebenursachen“ oder „Begleitursachen“, „Umstände“. Auch
die eigentliche „Ursache“ zerfällt nach dem Buddhismus letzten Endes
in „Anlässe“. Sonst würde sie als plumper Klumpen bestehen bleiben.
Die Wirkung eines Anlasses ist nun im Grunde nichts anderes als die
eines Katalysators. Auf diese Weise ist der buddhistische Kausalitäts¬
begriff gar kein fester Klumpen, sondern ihm liegt nur die katalytische
Wirkung, das heißt ein wirkendes Nichts zugrunde. Kausalität gleich
Nichts, Nichts gleich Kausalität. Hier hat die Frage: Kausalität oder
Freiheit? Determinismus oder Indeterminismus? überhaupt keinen Sinn
mehr.

Ich glaube das östliche Denken, zwar bei weitem nicht erschöpfend,
doch in einigen Wesenszügen charakterisiert zu haben. Die Kommunika¬
tion zwischen Ost und West will gewiß nicht übereilt sein. Doch bin ich
fest überzeugt, daß Ost und West schon auf die Stufe gelangt sind, wo
sie sich für die Kommunikation im höchsten Sinn vorbereiten dürfen und
sollen.

43
Gerhard Krüger

DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

Es ist immer schwer, das Wesen einer Sache unverzerrt einzusehen, weil
es immer verschiedene Möglichkeiten ihrer Beurteilung gibt. Bei dem We¬
sen der Autorität aber potenziert sich diese Sdiwierigkeit; denn eben die
Autorität charakterisiert eine von zwei Grundmöglichkeiten der Beurtei¬
lung aller Dinge überhaupt: man kann alles (auch die Autorität selbst)
entweder nach Maßgabe einer Autorität beurteilen oder nach eigenem Er¬
messen; man kann „gebunden“ oder „frei“ denken. Je nachdem zeigt sich
auch das Wesen der Autorität von vornherein in einem anderen Lichte:
es wird von vornherein „positiv“ oder „negativ“ betrachtet. Und da wir
es, als Erben der modernen europäischen Kultur, zunächst einmal „negativ“
betrachten und nach unseren Erfahrungen vielerlei Grund haben, davon
nicht so leicht abzugehen, ist uns die Autorität, wo immer sie zum Pro¬
blem wird, sogleich auch „problematisch“ im negativen Sinne des Wortes.
Wenn uns dennoch die Autorität noch beschäftigt, wenn sie uns - noch
immer oder schon wieder - begegnet, uns zu denken und zu fragen gibt,
statt schlechthin abgetan zu sein, so werden wir uns vor allem einmal auf
unser ablehnendes Verständnis von Autorität und auf seine Gründe be¬
sinnen müssen. Wir werden das Problem der Autorität nicht erörtern
können, ohne das Recht der uns geläufigen Problemstellung nachzuprüfen.
Wie man aber auch urteilen, und von welcher Seite her man die Frage
stellen mag: maßgebend für die Richtigkeit der Beurteilung und für die
Lösung der Frage kann offenbar nur die Sache selbst sein, so wie sie
trotz aller Strittigkeit immer schon für alle Menschen sinnfällig und
einsichtig ist. Denn so radikal ist die Strittigkeit doch nie, daß man nicht
wenigstens das strittige Thema als solches einmütig ins Auge fassen und
eindeutig namhaft machen könnte. So gewagt und unbegründbar ist auch
die fundamentale Entscheidung zwischen Autorität und Freiheit nicht,
daß man nicht, von der gemeinsamen Sprache geleitet, diesen Streit¬
punkt wenigstens als solchen von anderen unterscheiden könnte. Denn so
weit sind wir doch alle immer schon mit den sinnfälligen Erscheinungen
und dem einsichtigen Wesen der Autorität vertraut, daß wir beim Streit
um ihre Erkenntnis (im Sinne einer bestimmten Fragestellung) stets den
Rückhalt in unserer sprachlich greifbaren, sinnlichen und einsichtigen
Kenntnis finden können. Daher werden wir uns (im Bewußtsein der
Strittigkeit der Problemstellung, der Beurteilung und des Begreifens) in
die allgemein bekannten Erscheinungen der Autorität und in ihr fest-

44
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

stehendes, von uns unabhängiges Wesen vertiefen müssen. Denn dadurch


allein kann am Ende auch über die rechte Stellungnahme zur Autorität
entschieden werden^.

Wir heutigen Europäer kennen die Autorität einerseits aus unserer


Vergangenheit und ihren Überresten, andererseits aus der jüngsten Ge¬
genwart. Sie wird uns sinnfällig und eindrucksvoll in ihren „mittel¬
alterlichen“, aber audi in ihren „totalitären“ Erscheinungen. An diesen
beiden Stellen haben wir die schlechten Erfahrungen gemacht, die uns
immer wieder von der Autorität abschrecken und zur Entscheidung für
die Freiheit führen. Dort und hier haben wir uns unser Urteil über
Autorität und Freiheit gebildet und bestätigt.
Die autoritative Lebensordnung des Mittelalters steht in unserer Er¬
innerung als das große Hemmnis der Freiheit und der freien Entwick¬
lung der Kultur. Zwar ist unser historisches Verhältnis zum Mittelalter
schon längst - seit der Romantik - nicht mehr so „verständnislos“ und
feindlich wie anfangs, - zur Zeit der Aufklärung; wir sind weit genug
von den alten Bindungen entfernt, um durchaus zu wissen, wieviel wir
mit ihnen auch verloren haben. Aber wenn man im einzelnen die Frage
stellt, ob wir uns die Abhängigkeit der Philosophie und der Physik von
Aristoteles, die Abhängigkeit der Medizin von Galenus, die Bindung der
Kunst an den Dienst der Kirche, die Hierarchie der Stände unter dem
Vorrang des Klerus und des Adels und das Königtum von Gottes Gnaden
heute noch als etwas Aktuelles, Wiederkehrendes vorstellen können, oder
wenn wir die Scheu des mittelalterlichen Menschen vor der pnester-
lichen Gewalt und vor der Kunde vom Jenseits mit dem modernen Selbst¬
vertrauen vergleichen, dann tritt doch sofort eindeutig hervor, wie un¬
möglich für uns die alten Autoritäten geworden sind. Kein romantisches
Heimweh hat etwas daran geändert, daß uns diese Autoritäten als un¬
annehmbar erscheinen, weil sie uns daran hindern, die^ Welt „unbe¬
fangen“ zu erforschen, uns in Kunstwerken „ungehemmt in wahrhaft
„schöpferischer“ Weise auszusprechen, oder auch , sachliche nur am
gleichen Rechte aller Menschen und an den Notwendigkeiten der MacH
orientierte Politik zu treiben. Kein moderner Mensch ist Ernste noch
so unselbständig, wie es der mittelalterliche Mensch war. Auch die ro¬
mantischen Freunde des Mittelalters, und gerade auch sie, sind durAaus
selbstbewußte, moderne Menschen. Es bleibt dabei: erst die Entde ung
der Welt und des Menschen“ in der Renaissance, und erst die Einübung
im autoritätslosen Leben, die durch die Aufklärung begonnen wurde, hat
uns befreit“ Freiheit ist nach unserer modernen Erfahrung das exklusive

45
GERHARD KROGER

Gegenteil von Autorität. Und wenn es ohne Freiheit kein wahres Mensch¬
sein gibt, dann ist der Protest gegen Autorität unerläßlich zur Wahrung
der Menschenwürde.
Will man aber ermessen, was diese bekannten geschichtlichen Verhält¬
nisse für unser philosophisches Denken bedeuten, so wird man genau dar¬
auf achten müssen, daß im Zentrum dieser alten Auseinandersetzung die
diristliche Kirche steht, vor allem die alte, katholische Kirche. Sie ist die
zentrale Autorität, von der alle autoritativen Verhältnisse, auch die
„weltlichen“, einst ihre Ordnung oder Sanktion bekommen haben. Antike
Philosophie oder königliche Gewalt haben ja nur insoweit gegolten, als
es von der Kirche wenigstens gutgeheißen war. In Gestalt der Kirche als
der stärksten Autorität hat sich daher die alte autoritative Lebensordnung
auch noch nach der Emanzipation der weltlichen Kultur erhalten, und
wenn es heute sogar noch im weltlichen Bereiche - in Ehe und Familie,
Schule und Wissenschaft, Politik und Moral - Überreste der alten, auto¬
ritativen Ordnung gibt, so ist es vor allem dem direkten oder indirekten
Einfluß der Kirche zuzuschreiben. Zwar hat sich auch in der Kirche selbst
der Protest gegen ihre Autorität erhoben; und selbst wo sie nicht „prote¬
stantisch“ (oder gar „liberal“) geworden ist, haben es die Christen als
moderne Menschen schwer, ihre Menschenwürde als Forscher, Künstler,
Politiker, und überhaupt als „mündig“ Gewordene, mit der alten Auto¬
rität zu vereinigen. Aber ohne diese Autorität, und sei es auch nur die
eines „Kernes“ der Bibel, ist das Christentum nie. Wenn aber die autori¬
tative Lebensordnung unserer Vergangenheit primär christlich war und
ist, dann haben wir es mit einer ganz besonderen Art von Autorität zu
tun, und dann hat wohl auch unser modernes, in der Opposition gegen
sie erwachsenes Freiheitsbewußtsein einen ganz besonderen, keineswegs
selbstverständlichen Charakter.
Christliche Autorität ist nun wirklich ein besonderer, und zwar ein
ganz extremer Fall von Autorität. Sie beruht nach ihrer eigenen Meinung
auf einer außergewöhnlichen, alle menschliche Vernunft übersteigenden
Offenbarung Gottes; und sie fordert einen außergewöhnlichen, alle Ver¬
nunft übersteigenden Gehorsam, den Glauben. Paulus pflegt sich in sei¬
nen Briefen als „Sklaven Christi“ zu bezeichnen. Hier steht die Autorität
offenbar wirklich in einem gewissen Gegensatz zur Freiheit: sie will nicht
nur Verehrung, Vorrang oder Achtung, die ihr der Mensch in freier
Würdigung ihrer Bedeutung zugestehen könnte, sondern bedingungslose
Unterwerfung; positiver gesagt: rückhaltloses Vertrauen. Allerdings sind
nicht alle Konfessionen der Meinung Kierkegaards, daß hier ein „Sprung“
und eine Leidenschaft fürs Paradox nötig sei; gerade die autoritativste
Kirche, die katholische, lehrt, daß man sich von der Glaubwürdigkeit des

46
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

Glaubens und der Offenbarung selbständig überzeugen könne. Aber das,


wovon man sich da vernünftig überzeugen soll, ist eben doch auch die
übernatürliche, alle Kompetenz der Kritik überragende Autorität und die
Notwendigkeit des übervernünftigen Glaubens, der nur eine „Zuversicht
auf Gehofftes ist“, eine „Überführung über Dinge, die man nicht sieht“
(Hebr. 11, 1, übers, v. Weizsäcker). Wenn es überhaupt möglich ist, diese
Übergehung der menschlichen Vernunft und Freiheit noch begründend zu
rechtfertigen, so kann es nur nachträglich durch die selbst schon auf Glau¬
ben beruhende theologische Überlegung geschehen, daß eine spezielle
Offenbarung Gottes, vor allem die durch seine Menschwerdung, ihrer
Natur nach ein absolutes Mysterium sein muß, und daß überdies der
Mensch, so wie er hier in Betracht kommt, ein verblendeter Sünder ist,
dem es vor Gott wirklich nicht ansteht, auf seine Würde zu pochen und
eine kritische Freiheit des Urteils zu beanspruchen. Wenn sich der all¬
mächtige Schöpfer auf so wunderbare Weise an seine verirrten, rebelli¬
schen Geschöpfe wendet, um sie gnädig zu sich zurückzuführen, dann sind
offenbar nur Demut und Dank am Platze. Freilich hat gerade solcher
Gehorsam dann auch wieder eine befreiende Wirkung; aber diese spezi¬
fisch diristliche Freiheit ist nicht die natürliche, einfach menschliche; sie
existiert selbst nur kraft Autorität und Gehorsams. Die natürliche Frei¬
heit des „Seiber-Sehens“ hört im Glauben schledithin auf. Und das gilt
nicht nur gegenüber Gott selbst, sondern im wesentlichen auch gegenüber
der Autorität seines „Wortes“ in der Bibel oder gegenüber der priester-
lichen Autorität in seiner Kirche.
Eben daran hat sich nun der Protest der natürlichen Freiheit entzündet.
Wir brauchen jetzt nicht näher nach Anlaß oder Recht dazu zu fragen.
Genug; christliche Autorität, so wie sie durch Menschen ausgeübt wurde,
hat die natürliche Selbständigkeit dazu herausgefordert, sich selbst zu
behaupten, und zwar so, daß sie sich dabei in und aus dem Gegensatz
zu ihr begriffen hat: als Freiheit, die sich von dieser Autorität zu be¬
freien hat; wenn man bedenkt, wie langwierig dieser Prozeß war und ist:
als Freiheit, die durch die Befreiung von dieser Autorität ihren gesch^icht-
lichen Grundcharakter bekommt. Da Autorität die Freiheit schlechthm
ausschloß, hat sich die Freiheit als eine solche verstanden, die ihrerseits
Autorität schlechthin ausschließt. Und da die christliche Autonta die
zentrale war, von der alle sonstige Autorität überschattet wurde, hat sich
die Freiheit auch außerhalb der christlichen Gottesbeziehung als Gegen¬
teil aller Autorität verstanden. Sie hat die Selbständigkeit, die zweite los
zum Wesen der Freiheit gehört, als eine souveräne Selbständigkeit inter¬
pretiert, das heißt als eine solche, die sich vor keiner höheren Instanz
Lugt sondern über alles, audi über Autoritäten, ausschließlich nach eige-

47
GERHARD KRÜGER

nem Ermessen urteilt. Diese „Autonomie“ braucht dabei nicht als Will¬
kür verstanden zu werden, auch nicht nur als Bindung an ein selbstge¬
gebenes Gesetz; sie kann auch noch (obwohl dies kaum ihre konsequen¬
teste Selbstauslegung ist) als Bindung an das gegebene Wesen der eigenen
Vernunft aufgefaßt werden. Auf jeden Fall aber ist die „Heteronomie“
ausgeschlossen, das heißt die Bindung an jede Instanz, die außerhalb der
freien Menschlichkeit stünde und ihr überlegen wäre. So wird denn auch
die Freiheit in Wissenschaft, Kunst, Moral und Politik, in Wirtschaft
und Technik bei uns als souveräne, autonome Freiheit verstanden. Wir
können uns unter Freiheit etwas anderes gar nicht mehr vorstellen; und
selbst wenn wir historisch bemerken, daß andere Zeiten oder Kulturen
einen anderen Begriff von Freiheit gehabt haben, können wir nicht um¬
hin, solche Freiheit an unserer Autonomie zu messen, indem wir sie un¬
vollkommen finden.
Merkwürdig nur, daß uns die autonome Kultur, die auf solcher Freiheit
beruht, keineswegs unproblematisch ist. Ihr Fortschritt, der der Aufklärung
immer als höchste Hoffnung erschienen ist und erscheint, hat schon viel
Zweifel und in der jüngsten Geschichte sogar viel Verzweiflung erregt.
Seit Rousseau haben die großen Geister des Abendlandes eine mehr oder
minder radikale Kulturkritik geübt, die zum Teil, zum Beispiel bei Kier¬
kegaard und bei Nietzsche, mit einer Rehabilitierung der Autorität ver¬
bunden ist. Seit der Romantik, mag sie auch „bloß“ romantisch geblieben
sein, hat sich in immer neuen Formen die Sehnsucht nach den verlorenen
Welten der Vergangenheit oder nach den von der modernen Kultur
noch unberührten Welten der Orientalen und der Primitiven erhoben,
und damit auch die „konservative“ Sympathie für die alten Autoritäten.
In unserem Jahrhundert ist, inmitten des Fortschritts der Wissenschaften
und der technisch-ökonomischen Kultur, die „existentielle“ Angst um den
Lebenssinn ausgebrochen, die vielfach der christlichen Autorität wieder
neues Ansehen gegeben hat. Und die Entwicklung der Wirtschaft, der
Gesellschaft und des Staates hat schon seit über 150 Jahren zu Revolutio¬
nen geführt, in denen nicht nur das Verlangen nach Freiheit zur Geltung
gekommen ist, sondern-in merkwürdigem Kontrast dazu-immer wieder
- schon seit Robespierre und Napoleon - auch ein Verlangen nach neuer
Autorität. Das Problem der Autorität ist also nicht erledigt, und wenn
wir es philosophisch in seiner Korrelation mit der Fragwürdigkeit der
modernen Kultur erkennen, dann zeigt es sich, daß der geschichtliche
Streit um die autonome Freiheit noch nicht aufhören kann. Dann wird es
aber auch bedeutsam, daß unsere Begriffe von Autorität und Freiheit
keineswegs nur der Einsicht in das Wesen dieser Dinge entstammen,
sondern zugleich der Leidenschaft eines weltgeschichtlichen Kampfes um

48
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

ihr Recht. Wir werden darum den alten, scheinbar längst entschiedenen
Prozeß zwischen Kirche und Aufklärung, der unser Urteil bestimmt hat,
revidieren müssen. Es könnte sein, daß wir dem Wesen der Autorität
nicht gerecht geworden sind.
Allerdings; was wir heute in Sachen „Autorität und Freiheit“ erleben,
mahnt zunächst einmal zur Vorsicht; ja es scheint die bisherigen Begriffe
zunächst einmal aufs erschreckendste zu bestätigen. Denn auch die poli¬
tisch-weltanschauliche Autorität, wie sie in den totalitären Systemen
ganz plötzlich - mitten in einer Zeit fast vollendeter Autonomie “ er¬
standen ist, steht zur Freiheit in einem Gegensatz, den wir schmerzlich als
exklusiv erfahren. Hier ist man zwar von der christlichen Offenbarung
und ihren Mysterien nicht minder weit entfernt wie im Reiche der auto¬
nomen Freiheit; ja es scheint, daß hier erst die noch tolerante, im Grunde
defensive Ablehnung der christlichen Autorität durch die autonome Frei¬
heit zu einer aggressiven, tödlichen Feindschaft wird: die neuen Autori¬
täten können konkurrierende alte Autoritäten ebensowenig dulden wie
die Freiheit. Die Freiheit aber wird von den diktatorischen Parteien oder
Führern bis ins Innerste hinein in Anspruch genommen, und zwar noch
viel radikaler, als es im Christentum je geschehen ist. Denn auch das
„servum arbitrium“, wie es Luther lehrt, ist nur eine totale Unfreiheit
im Verhältnis zu Gott; im Verhältnis zur Welt läßt er der vernünftigen
menschlichen Freiheit ihr Recht. Die katholische Kirche aber spricht nicht
nur im weltlichen Leben der menschlichen Freiheit ihr Recht zu, sondern
sie läßt sie sogar im geistlichen Leben der Rechtfertigung und Heiligung,
wenn auch nur durch die Gnade erhöht und getragen, „mitwirken . Alle
auffälligen Eingriffe der Kirche in Wissenschaft oder Politik haben nach
ihrer eigenen Auffassung nur den Sinn, Irrtümer, sofern sie als Wider¬
sprüche zur Offenbarung sichtbar werden, im Interesse der Offenbarung
autoritativ zu kennzeichnen; das Recht freier Forschung oder Politik soll
dadurch grundsätzlich nicht angetastet werden. Hier erheben sich freilich
alle die Probleme, von denen vorhin die Rede war. Da sie nicht geklärt
sind, kann es geschehen, daß man vielfach die katholische Kirche im Lidhte
der jüngsten Erfahrungen einfach als ein totalitäres System unter ande¬
ren anspricht. Demgegenüber ist jedoch so viel von vornherein klar: daß
das Christentum selbst in allen Konfessionen einen Unterschied zwischen
Kirche und Welt macht, und daß es Autorität primär nur in Sachen der
Offenbarung beansprucht. Die totalitären Systeme der Gegenwart aber,
die in so vieler Hinsicht auch umgekehrt als atheistische Gegenbilder der
Kirche betrachtet werden können, sind dann ganz anders geartet, da es
in ihnen nur einen einzigen Lebensbereich, den ff
ihre Autorität darum primär und unmittelbar die Totalität der nat

49
GERHARD KRÜGER

liehen menschlichen Lebensregungen betrifft. Hier ist überhaupt kein


Raum für eine Freiheit, die nicht durch Autorität geleitet wäre. Für den
modernen Begriff von der Freiheit aber bedeutet das ihren totalen Ruin,
der durch das etwaige ideologische Reden von Freiheit und durch schein¬
bare Appelle an Freiheit und Begeisterung nur höhnisch unterstrichen
wird. Es ist ja auch für Freund und Feind völlig klar, daß die autoritäts¬
los autonome (als „liberalistisch“ oder „bürgerlich“ ausdrücklich verpönte)
Kultur hier zum Untergang verurteilt wird. Bleibt etwa Freiheit in
einem anderen, uns unbegreiflichen Sinne? Wir haben, trotz aller Re¬
visionsbedürftigkeit unserer Begriffe, keinen Anlaß, das zu glauben. Denn
auch im Lichte des Begriffs der christlichen Freiheit und aller sonstigen
uns bekannten Freiheitsbegriffe aus Antike und Orient ist das, was die
totalitäre Autorität dem Menschen läßt, nur eine totale, mehr oder weni¬
ger offensichtliche Sklaverei. Nur wie sie sidi in dem Lichte revidierter
Begriffe von Autorität und Freiheit näher qualifizieren wird, bleibt etwa
noch abzuwarten.
Versuchen wir auch hier, die Art der Autorität noch näher zu be¬
stimmen, so zeigt sich als ein Grundunterschied zur christlichen Autorität,
daß sie selbst sich als eine bloß menschliche, auf kein „höheres Wesen“
zurückgehende Autorität versteht: sie ist politisch, nicht religiös. Auch
wenn sie ihre Forderungen nicht als ein reines „sic volo, sic iubeo“ dar¬
stellt, sondern sie durch die Berufung auf Rasse, Volk, Geschichte, Gesell¬
schaft, dialektische Entwicklung motiviert, so bekommen doch diese welt¬
anschaulichen Prinzipien nur darum autoritativen Charakter, weil sie
von den maßgebenden Führern und Parteien verkündet werden. Wenn
aber diese Autoritäten nur menschlich sind, dann fragt es sich, welche Art
von Freiheit die maßgebenden Menschen selbst haben. Wer selbst Auto¬
rität ist, untersteht ja insofern dieser Autorität nicht; er ist frei, und so¬
fern er maßgebend ist, sogar frei in einem eminenten Sinne. Ist er unter¬
geordnete Autorität, so untersteht er zwar insofern einer höheren Instanz;
aber dann hat er eben auch nur eine bedingte Autorität und nur insoweit
die eminente Freiheit, die zur Autoritätsausübung gehört. Die höchste
Autorität ist dagegen frei schlechthin. Was bedeutet das?
Schon bei den höchsten Herrschern der Vergangenheit - bei orientali¬
schen und hellenistischen Gottkönigen, bei Cäsaren, Päpsten und absolu¬
tistischen Fürsten - hat diese Frage den unheimlichen Reiz eines Vor¬
dringens an die vorgeschobenste Grenze menschlicher Möglichkeiten und
möglicher Überheblichkeiten. Es ist nur im Hinblick auf die allgemeine
Geistesverfassung früherer Zeiten und außereuropäischer Kulturen kaum
glaublich und kaum zu erweisen, daß nicht auch die Höchstgestellten und
die Überheblichsten noch irgendeine, wenn auch noch so frevelhaft miß-

50
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

brauchte religiöse Abhängigkeit grundsätzlich anerkannt haben: eine Gott¬


heit, als deren Sohn, - eine Fortuna, als deren Spielball sie sich wußten,
oder den christlichen Gott. Nietzsche hat fast am Menschen verzweifeln
wollen, weil der es noch nie gewagt hat, selbst letzte Autorität in An¬
spruch zu nehmen. Wenn aber umgekehrt die heutigen totalitären Sy¬
steme, auch wo sie sich religiöser Vorstellungen ideologisch und taktisch
bedienen, im Unterschied von allen Absolutismen der Vergangenheit
grundsätzlich gerade irreligiös sind, und wenn sie die bisherige tolerante
Abkehr vom Christentum in gerader Fortsetzung der ganzen modernen
Religionskritik zur echten (nur taktisch teilweise verhüllten) Todfeind¬
schaft verschärft haben, dann muß ja die Freiheit ihrer Führer einen
noch nie betretenen Gipfel erreicht haben. Als Herr über Leben, Arbeits¬
kraft, Gemeinschaftsformen, Willen, Denken und Fühlen der anderen
Menschen, mit der Hand am Hebel eines ungeheuren ideologischen, orga¬
nisatorischen und technischen Apparates, mit der Kraft begabt, unter
Umständen die ganze Erde umzuwälzen, ist ein solcher Führer offenbar,
wie es Nietzsche vom Übermenschen geträumt hat, durch eine so unge¬
heure Kluft von den Mitmenschen getrennt, wie das früher nur zwischen
Göttern und Menschen der Fall war. Daher offenbar der extreme Byzan¬
tinismus des Führerkultes, daher die mehr als päpstliche, mindestens
messianische Bedeutung des obersten Lehrers, Regenten und Führers zum
Heil der Welt. Daher der Anspruch auf theoretische und praktische Un¬
fehlbarkeit, die sich hier nicht bloß als sekundäre Autorität auf die „res
fidei et morum^, sondern als primäre Autorität auf alles, auch auf Natur¬
oder Sprachwissenschaft, auch auf politische und militärische Maßregeln
erstreckt. (Es ist bekannt, welche Opfer für die Aufrechterhaltung dieses
Anspruchs gebracht werden können.) Und doch ist diese übermenschliche
Freiheit der Autorität (wie auch sie selbst nicht bestreitet, sondern gerade
betont) bloß die Freiheit eines oder einiger Menschen, womöglich eines
„Mannes aus dem Volke“, der durch keinerlei besondere oder gar wun¬
derbare Herkunft ausgezeichnet ist; sie ist in der Höhenzone der Partei
stets durch Rivalen und Aufstrebende radikal gefährdet und umstritten;
und sie legt mit einer Zähigkeit, die sich keine Mühe der Propaganda,
der ideologischen Konstruktion und des Zwanges erspart, Wert darauf,
„demokratisch“ zu sein oder zu erscheinen. Auch die Kultur des totali¬
tären Systems ist zwar durch und durch autoritär gelenkt und dogmatisch
aber sie kann es nicht lassen, in Kunst und Wissenschaft, Justiz und
humanem Fortschritt mit der autonomen Kultur wetteifern zu wollen,
und sie kann die technischen Leistungen dieser Kultur mitsamt ihren
wissenschaftlichen Grundlagen nicht entbehren. Die autoritatsgefahrden-
den Inkonsequenzen dieses Verfahrens und die Risse, die dadurch im

51
GERHARD KRÜGER

totalitären Gebäude immer wieder entstehen, können nur durch eine


technisch vervollkommnete, extreme Gewaltausübung ausgeglichen wer¬
den. Der Grund für sie liegt aber offenbar darin, daß die graduell ins
Extrem gesteigerte Freiheit des Führers ihrem Inhalt und Charakter nach
gar nichts Neues ist; sie ist die uns längst bekannte dutonoiriß pTdihsit,
die hier nur zum Monopol eines einzigen Menschen geworden ist, an
dem er eine Parteielite abgestuft teilnehmen läßt. Die Kultur beruht
auch hier - das ist eine Aporie des Systems - auf der autoritär zuge¬
lassenen Möglichkeit autonomer Leistungen, die man, soweit die Kultur
dabei nicht ruiniert wird, durch geschickte ideologisch-sozialpolitische Or¬
ganisation zu lenken sucht.
Von hier aus fällt auf die autonome Kultur selbst ein etwas unheim¬
liches Licht zurück: wenn nämlich im totalitären System nur der auto¬
nome Führer „Subjekt“, alle anderen aber mehr oder minder „Objekt“
sind, dann macht man hier nur extremen Gebrauch von einer Möglichkeit
souveräner, schranken- und rüdcsichtsloser Freiheit, die uns in weniger
radikaler Gestalt schon längst bekannt, zum Teil auch schon problema¬
tisch war. Denn wie der Mensch durch autonome Freiheit sdion längst
dazu gekommen ist, „Subjekt“ zu sein, das die Dinge der Natur als
Objekte „beherrscht“, so hat er auch schon längst begonnen, in technischer,
wirtschaftlicher und politischer Organisation seinesgleichen als Objekt zu
gebrauchen. Die viel beklagte „Mechanisierung“ des Daseins, die Ernied¬
rigung des Menschen zum Funktionär im „Apparat“, die bedrohliche
Machtstellung der wenigen „manager“, die als Subjekte der Lebens¬
gestaltung eine „Masse“ von „entpersönlichten“ Menschen zum Objekt ha¬
ben, - das alles ist offenbar nur eine bedrohliche Vorform des totalitären
Systems, das sich seinerseits nicht ganz mit Unrecht als konsequenter
Vollstrecker der modernen „Entwicklung“ versteht. Autorität ist in diesem
System einfach die von dem Mächtigen monopolisierte Subjektivität; der
Gehorsam gegen sie bedeutet einfach, daß sich der ohnmächtige Mensch,
der als Mensch eigentlich auch Subjekt sein möchte, notgedrungen dazu
versteht, bloß Objekt zu sein (mag er sich diese Rolle auch ideologisch
verschleiern lassen).
Wenn es aber so steht, - wenn also Freiheit audi hier nur als Auto¬
nomie möglich ist, und wenn Autorität hier nichts anderes ist als die
Autonomie, die sich Machthaber Vorbehalten, dann erfahren wir hier
grundsätzlich nichts Neues über das Wesen von Autorität und Freiheit.
Wer seine Menschlichkeit nicht verlieren will, kann an dieser Stelle nur
darauf bestehen, daß die Autonomie Gemeingut bleibt, daß - politisch
gesehen - die Demokratie nicht zum ideologischen Vorwand der Diktatur
herabsinkt. Wenn aber nun doch die autonome Kultur selbst, ohne es zu

52
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

wollen, die Möglichkeiten und Versuchungen zur Monopolisierung der


Freiheit entwickelt hat, wenn also die totalitären Systeme gleichsam der
Pferdefuß und die düstere Kehrseite der souveränen Humanität der Neu¬
zeit sind, dann wird es um so nötiger sein, auf das Wesen von Autorität
und Freiheit und auf den geschichtlichen Ursprung der Autonomie zurück¬
zugehen. Wir müssen fragen; Liegt das Wesen der mensdilichen Freiheit
wirklich in der Souveränität, die dem modernen Menschen das autonome
Schaffen, aber auch die rücksichtslose Machtkonzentration ermöglicht? Und
ist das Wesen der Autorität wirklich - so oder so - das exklusive Gegen¬
teil der Freiheit?

II
Wir werden der alten Auseinandersetzung mit dem Christentum nicht
ausweichen können. Da aber die diristliche Autorität in unserer Erinne¬
rung so belastet, in unserer gegenwärtigen Erfahrung so vielfältig und.
ungeklärt ist, wird es gut sein, diesen extremen Fall zunächst einmal bei¬
seite zu lassen. Wir sind weit genug von der mittelalterlichen Leitung
der Kultur durch die Kirche entfernt, um zunächst, wie es der Philo¬
sophie ohnehin zukommt, die Erscheinungen der einfach menschlichen,
natürlidien Autorität „frei“ betrachten zu können. Freilich ein weites
Feld, dessen Breite und Tiefe wir heute noch kaum ermessen können.
Wir kennen jedenfalls auch im Bereiche der Autonomie, trotz der
weitgehenden Beseitigung „alter Bindungen , zahlreiche Lebensverhält¬
nisse, in denen wir von Autorität sprechen. Eltern und Lehrer haben noch
immer einige Autorität, erst recht Ärzte und sonstige Ratgeber in NoL
lagen, überhaupt Fachleute auf allen Gebieten, zumal wenn sie „Kapazi¬
täten“ sind. Wirtschaftsführer und erfinderische Techniker sind Autori¬
täten, in geringerem Maße auch die einfacheren Direktoren und Betriebs¬
leiter. Minister, Beamte und Richter haben kraft ihres Amtes (oft audi
kraft ihrer persönlichen Amtsführung) Autorität, nicht minder Partei¬
führer. Beim Militär spielt die Autorität ihre unvermeidliche, große Rolle.
Die autoritative Wirkung der „führenden Persönlichkeiten“ im „Kultur¬
leben“, besonders der Künstler, Dichter und Schriftsteller, ist, trotz der
betonten Freiheit, die hier herrscht, enorm. Und wenn man auch von den
religiösen Autoritäten absieht, so ist doch unser geistiger Horizont bis in
eine ziemliche Tiefe der Vergangenheit hinein von den Autoritäten um¬
stellt, die wir die „großen“, für unsere ganze Kultur „maßgebenden“
Männer nennen. In dieser Weise hat zum Beispiel Goethe eine unerme߬
liche Autorität, die zwar heute etwas erschüttert, aber keineswegs beseitigt
oder gar durch eine gleich große ersetzt ist.
Es handelt sich offenbar um sehr verschiedene Arten von Autorität; vor

53
GERHARD KRÜGER

allem drängt sich ein Unterschied zwischen „amtlicher , notfalls durch


Zwang unterstützter Autorität und „persönlicher Autorität auf. Suchen
wir aber ein ganz allgemeines Kennzeichen dafür, daß wir es überhaupt
mit Autorität zu tun haben, so wird es dieses sein: daß eine Person irgend¬
wie „maßgebend“ ist, - daß sie anderen „etwas zu sagen hat , während
sich die anderen etwas von ihr „sagen lassen“, oder doch sagen lassen
sollten, oder sagen lassen müssen.
Wie verhält sich nun dabei die Autorität zur Freiheit? Bin ich schon un¬
frei, wenn ich mir von jemandem (der mir insofern überlegen ist) etwas
sagen lasse oder sagen lassen muß? Verletzt es meine Menschenwürde,
wenn ich mich maßgebenden Personen „einfach“ füge? Ist es schon Preis¬
gabe der Freiheit (oder doch der eigentlichen Freiheit), wenn ich meine
Unterlegenheit bejahe, - mit allem, was sich von „Aufblick , Respekt, Be¬
wunderung und „kritikloser“ Verehrung, aber auch von Bescheidung, Still¬
schweigen und Resignation daran anschließen mag? - Diese Fragen sind
nicht ganz leicht zu beantworten. Bejaht man sie aber, dann fragt es sich,
was aus den vielen, alle Regionen unseres Daseins durchziehenden Lebens¬
verhältnissen werden soll, die offenbar wesenhaft mit Autorität verbun¬
den sind.
Zunächst einmal ist es klar, daß die Maßgebenden selbst - bei allen Ab¬
stufungen, die es dabei geben mag - meine Freiheit niemals lahmlegen
oder ausrotten wollen (auch die totalitären Autoritäten wollen das — auf
ihre Weise - nicht). Im Gegenteil: sie rechnen auf meine Freiheit, indem
sie sie für sich in Anspruch nehmen. Sie wollen nicht tauben Ohren predi¬
gen, sondern gehört, verstanden und bejaht werden. Auch der schroffe
militärische Befehl will Gehorsam im Sinne der frei verstehenden, ja ver¬
ständnisvollen Aufnahme in den eigenen Willen des Gehorchenden. Der
frei-willigste Gehorsam ist der beste und gründlichste. Umgekehrt: wo nur
„äußerlich“, etwa aus Furcht vor Strafe, gehorcht wird, während sich der
Wille des Untergebenen dem Inhalt des Befehls selbst versagt, da ist die
Autorität schon gefährdet. Kurz: die Maßgeblichkeit der Autorität be¬
steht in einem Anspruch, der freie Antwort erwartet und die Angeredeten
insofern „verantwortlich“ macht. Die Freiheit ist hier so wenig entbehrlich,
daß sie gerade durch das Autoritätsverhältnis in die Lage kommt, sich
durch „angemessenes“ oder „unangemessenes“ Verhalten als gut oder
schlecht zu qualifizieren. Ob ich als freies Wesen ein guter oder schlechter
Schüler, ein guter oder schlechter Staatsbürger, ein gut oder schlecht ge¬
bildeter Mensch bin, das entscheidet sich im Hinblick auf die „Anforde¬
rungen“, die von den Autoritäten geltend gemacht werden. Autorität und
Freiheit sind also so wenig voneinander zu trennen, daß die Autorität -
jedenfalls die natürliche, von der wir jetzt sprechen - geradezu sich selbst

54
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

aufheben würde, wenn sie die Freiheit nicht bejahte. Mag die christliche
Autorität der natürlichen Freiheit ein Ende machen, weil der „alte Mensch
sterben muß, um einer ganz neuen Schöpfung zu weichen, oder weil die
natürliche Freiheit erst einmal in einen übernatürlichen Gnadenstand er¬
hoben werden muß: die ?iatürliche Autorität läßt die natürliche Freiheit
bestehen und appelliert an sie. Sie will imd braucht diese Freiheit.
Eine andere Frage ist es allerdings, ob diese Freiheit auch ihrerseits die
Autorität will und braucht. Frühere Zeitalter haben diese Frage naiv be¬
jaht. Aber die Neuzeit hat sie verneint; ihr scheint die durch Autorität
gebundene, der Autorität verantwortliche Freiheit noch keine eigentliche,
volle Freiheit zu sein. Es zeigte sich schon, daß man dabei primär die
christliche Autorität ablehnen wollte. Da sie aber so eng mit der natürlichen
Autorität verquickt war, verstand sich die Freiheit im Gegenschlag grund¬
sätzlich als souveräne Autonomie, und sie hat nun, wenn auch erst im
Laufe von Jahrhunderten, auch die natürlichen Autoritäten als etwas Frei¬
heitsfeindliches immer mehr abgeschüttelt.
Was besagt das aber, wenn es doch auch weiterhin nicht zu vermeiden
ist, daß unser ganzes Leben von Autoritätsverhältnissen durchzogen ist?
Hier liegt in der Tat eine ungeheure Paradoxie, deren Bewältigung im
Denken und im Handeln fortwährend die größte Mühe macht. Denn nun
gilt es zum Beispiel, die unvermeidliche Staatsautorität so zu interpretieren
und zu handhaben, daß sie mit der Souveränität jedes ihr Unterworfenen
vereinbar ist. Es gilt, selbst beim Militär die Menschenwürde der Auto¬
nomie zu wahren, selbst dem Kinde und dem Jugendlichen das Recht der
„eigenen kleinen Persönlichkeit“ gegenüber der Autorität der Erzieher zu
geben. Solchen „Menschenrechten“, von denen seit dem 18. Jahrhundert
ausdrücklich die Rede ist, widmet sich die tiefste Sympathie aller ent¬
schieden modernen, liberalen und „fortschrittlichen“ Menschen.
Das große Mittel zur Vereinigung der autonomen Freiheit mit der un¬
vermeidlichen Autorität besteht darin, daß sich der Mensch von den Au¬
toritäten innerlich zurückzieht. Wer die Autoritäten naiv und unkritisch
gelten läßt, ist von ihnen innerlich eingenommen: er laßt sich von ihrer
maßgeblichen Überlegenheit imponieren; und das bedeutet- je nach ihrer
Art und Höhe -, daß er vor ihnen Ehrfurcht und Furcht empfinclet, daß er
-wie etwa der Diener bei seinem vornehmen Herrn, der Soldat bei seinem
General, der Schüler bei seinem Meister - stolz ist, hier dienen oder folgen
zu „dürfen“; wer sich von Grund auf für „weniger halt als die Autori¬
täten, übt eine ihn von Grund auf bestimmende Loyalität und Treue, die
unter Umständen Hingabe, Begeisterung und Opferbereitschaft einscKließt.
Im Gegensatz zu all diesen Zügen eines „mittelalterlichen , in ^^altmodi¬
schen“ und konservativen“ Menschen noch lange nachwirkenden Ethos ist

55
GERHARD KRÜGER

der autonome Mensch skeptisch: die Autorität als solche ist ihm so ver¬
dächtig und verleidet, daß er lieber manches Gute und Schöne der Ver¬
gangenheit preisgibt, als daß er sich noch naiv auf Autoritäten einließe,
Er kann zwar nicht ohne Autoritäten auskommen, aber er hält sich von
ihnen innerlich zurück und macht sie dadurch zu etwas „Äußerlichem“.
Jede heutige „Hausgehilfin“, die nicht mehr „Dienstmädchen“ sein will,
demonstriert diesen Vorgang. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen
der Stellung des Menschen in der Öffentlichkeit, die unvermeidlich eine
weite Abstufung mit sich bringt, und dem davon „selbstbewußt“ unter¬
schiedenen „Menschen“ selbst. Die Autonomie wird gewahrt, indem das
eigentlich Menschliche in der souveränen, innerlichen Persönlichkeit ge¬
sucht wird, während die Stellung des Menschen in der autoritativ-hier¬
archischen Öffentlichkeit zu der sozialen „Rolle“ herabsinkt, die er (wenn
auch vielleicht mit viel Passion und Erfolg) „spielt“. So kann auch der
„Mann von der Straße“ gegenüber dem Minister, der Primaner gegen¬
über dem Studienrat, der Arbeiter gegenüber dem Betriebsleiter „frei“
sein im Sinne der inneren Freiheit von Autorität. Und so wird die Frei¬
heit, die zum Menschen wesenhaft gehört, eo ipso zur „menschlichen“
Gleichheit. Man kann nicht gut mehr als souverän sein: wer die Autonomie
behauptet, hat damit auch schon die wesenhafte Gleichheit aller Menschen
proklamiert. Er hat alle eigentlich menschlichen Rangunterschiede bestrit¬
ten, selbst wenn er geistige „Niveauunterschiede“ anerkennt.
Soll aber das prinzipielle Bewußtsein von der gleichen Würde aller
wirksam durchgeführt werden, dann muß doch auch die Öffentlichkeit in
all ihren Ungleichheiten so umgeformt werden, daß dabei Raum für die
„Menschenrechte“ entsteht. Daher der rechtliche Schutz des Privatlebens,
in dem die Persönlichkeit als solche maßgebend ist, in dem der Mensch
„Mensch sein darf“; daher überhaupt die Ausbildung einer so betont pri¬
vaten Sphäre, abseits der Öffentlichkeit, wie es sie in vorautonomen Zeiten
nie gegeben hat. Daher ferner das gleiche Recht jedes Menschen zum sozia¬
len „Aufstieg“ und die Abschaffung aller an der Person (durch Geburt
oder sonstwie) haftenden Privilegien. Daher vor allem die moderne Form
der Demokratie, die durch allgemeines, gleiches Wahlrecht, begrenzte
Amtsgewalt der Regierung, Verwaltungsgerichtsbarkeit und ähnliche Ein¬
richtungen die drückendste, mit der obersten Zwangsgewalt verbundene
Autorität so „verantwortlich“ machen will, daß die Unterlegenheit des
Staatsangehörigen gegenüber den Behörden durch die fundamentale
Überlegenheit bei der Konstitution und Kontrolle der Staatsgewalt über¬
boten wird. Auf diese Weise wird auch der Inhaber der stärksten äußeren
Autorität genötigt, die ihm untergeordneten Menschen als „Menschen“,
nicht als „Untertanen“ zu behandeln, und selbst „Mensch“ zu bleiben.

56
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

der als solcher nicht „mehr“ ist als jeder andere, der ja im Prinzip audi
an seine Stelle treten könnte. Die Wahrung der „geistigen“ Freiheit ver¬
steht sich dann von selbst. Es ist zwar nicht jeder ein Goethe oder Hegel,
und man kann deshalb - mag es auch paradox sein - nicht ohne solche Au¬
toritäten zu einer „Weltanschauung“, das heißt einem autonomen Welt¬
bild, kommen. Aber es ist dafür gesorgt, daß keine Autorität hier „dog¬
matisch“ werden kann; man kann souverän zwischen mehreren wählen
und sie nadi Kräften modifizieren. (Die Dogmatik der Kirchen bleibt
dabei ein Ärgernis, das erträglich wird, wenn die Kirchen niemanden
zwingen können.)
So hat sich die Freiheit „befreit“ und behauptet sich gerade heute von
neuem gegen die totalitäre Autorität. Sicher mit Recht, denn diese Autori¬
tät ist ja selbst nur eine paradox mißbrauchte Autonomie. Daß aber der
Anspruch auf Autorität, der hier unecht erhoben wird, heute eine so un¬
heimliche Anziehungskraft entfaltet hat, daß er trotz seiner Unechtheit,
die sich im Wuchern von Propaganda und Zwang verrät, so viel „Boden“
findet, ist sehr merkwürdig, und um so mehr, als das heutige Bedürfnis
nach Autorität gerade in dem geschichtlichen Augenblick aufgetreten ist,
in dem mit dem ersten Weltkrieg die Reste der alten Autoritäten endgül¬
tig zu verschwinden begannen. Ist es vielleicht doch so, daß nicht nur die
Autorität eine ihr entsprechende Freiheit will und braucht, sondern auch
die Freiheit eine ihr entsprechende Autorität? Und hat vielleicht nur die
mittelalterliche Form der christlich-weltlichen Autorität, diese spezielle Art
der Verquickung von christlicher und natürlicher Autorität, der wahren
menschlichen Freiheit nicht entsprochen?
Die große Krise der heutigen Menschheit gibt uns in der Tat Anlaß,
diese Frage zu konkretisieren. Denn die autonome Lösung des Autontats-
problems steht mit der Krise in engstem Zusammenhang.
Der Mensch hat sich zur Wahrung seiner Würde als Persönlichkeit aus
der autoritativ-hierarchischen Öffentlichkeit zurückgezogen. Aber hat er
nicht eben damit die Öffentlichkeit alles persönlichen, innerlichen Lebens,
aller damit verbundenen Würde, Sittlichkeit und Schönheit beraubt? Ist
das äußere Dasein nicht eben dadurch, im Unterschied zu dem „gemüt¬
volleren“ Mittelalter, so kahl, brutal und häßlich geworden? Sind nicht
eben deshalb die unvermeidlichen Unterschiede zu rein äußerlichen Macht¬
unterschieden geworden? Und stellt nicht das Faktum von Machthabern,
die menschlich gar nicht über andere hervorragen, eine permanente Auf¬
reizung zu Revolutionen dar? Wäre jene Objektivierung des Menschen im
öffentlichen Leben, die Mechanisierung, bei der der Mensch als bloßer
Funktionär im Apparat „eingesetzt“ wird, je mögliA geworden, wenn
nicht der Mensch selbst schon seine Stellung in der Öffentlichkeit zu einer

57
GERHARD KRÜGER

äußerlichen Rolle degradiert hätte? Sind also nicht die Grundübel, die das
öffentliche Leben der Gegenwart ruinieren, und die es für totalitäre Zu¬
griffe reif machen, die Kehrseite der Autonomie?
Auf der anderen Seite: Was hat der Mensch denn nun wirklich gewon¬
nen, indem er sich auf seine autonome Innerlichkeit gestellt hat? Der An¬
spruch, „Persönlichkeit“ zu sein, das heißt eine Person, die ihr Personsein
selbst konstituiert, ist unheimlich groß; er stellt die Aufgabe, daß jeder
seine Stellung zu Gott, der Welt und sich selbst absolut selbständig be¬
stimmt. Ist der moderne Mensch diesem Anspruch gewachsen? Wir haben
schon darauf geachet, daß die inhaltliche, mehr als formelle Souveränität
in Wahrheit das Privileg der „maßgebenden“ Genies (und allenfalls der
augenblicklich „führenden Persönlichkeiten“) bleibt, die von den anderen
nur „souverän“ nachgeahmt, vereinfacht und oft genug karikiert werden.
Bleibt also der „normale“ Mensch nicht mit all seiner „eigenen Weltan¬
schauung“ und „Lebensgestaltung“ ein tragikomischer Dilettant, der neben
den autoritativ geprägten Menschen anderer Zeiten und Kulturen keine
sehr gute Figur macht? Die „großen Männer“ selbst aber, die als die vor¬
bildlichen, eigentlichen Menschen dastehen, kommen, ob sie es wissen oder
nicht, in die schon erwähnte Problematik Nietzsches hinein: sie müssen es
wagen, sich von aller bisherigen, traditionellen Autorität loszureißen, allen
bisher maßgebenden Lebensinhalt kritisch zu vernichten, um selbst, unge¬
deckt durch höhere Autorität, aus dem Nichts der kritischen Vernichtung
„neue Werte“ im eigentlichen Sinne zu „schaffen“. Tatsächlich aber er¬
weist sich diese Aufgabe als so „übermenschlich“, daß auch die anerkannt
großen, „schöpferischen“ Menschen daran bisher, wie Nietzsche mit Redit
festgestellt hat, gescheitert sind. Sie haben es in Wahrheit nicht zu einer
völligen Neuschöpfung gebracht, sondern sie haben, auf Grund souveräner
Kritik, entweder eine autonome Umbildung der ‘Tradition oder eine bloße
Destruktion zuwege gebracht. Männer wie Goethe und Hegel haben sich
durch die universale autonome Aneignung von „Natur und Geschichte“ zu
„weltweiten“ Persönlichkeiten gebildet; aber sie haben allen Inhalt ihrer
Weltanschauung, wenn man von der Idee der genialen Freiheit selbst ab¬
sieht, den entmächtigten Autoritäten der Vergangenheit, insbesondere der
Antike und dem Christentum, entnommen. In Wahrheit ist also auch ihre
Autonomie bloß formal geblieben. Andere, wie Marx und Nietzsche, haben
mit Macht entlarvt und revolutioniert, aber sie haben ihr positiv ma߬
gebendes Ziel, den endgültig „freien“ oder übermenschlichen Menschen,
konkret ungestaltet, in nebelhafter Ferne lassen müssen. Die Wahrheit,
die Nietzsche erkannt hat, ist, daß der souveräne Mensch am Ende vor das
Nichts gerät, das ihn nicht zu gottgleichem Schaffen begeistert, sondern
- primär jedenfalls - in Angst versetzt. Das bisherige Ende ist die Frage,

58
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

wie angesichts des Nichts überhaupt menschliche „Existenz“ möglich sei.


Die nihilistische Leere der privatisierten Menschlichkeit ist dabei das
Korrelat der enthumanisierten Öffentlichkeit. Beides zusammen zeugt ein¬
dringlich von der radikalen Fragwürdigkeit der modernen Lösung des
Autoritätsproblems. Sieht man das aber ein, dann verbreitet sich über das
Verhältnis von Autorität und Freiheit ein neues Licht: auch die Freiheit
als endliche, menschliche Freiheit, ist ihrerseits auf Autorität angewiesen.
Menschliche Freiheit ist in Wahrheit nicht in dem Sinne selbständig, daß
sie nicht immer bedürftig bliebe. Sie bedarf aber des Maßes, durch das sie
erst vor Aufgaben gestellt und zur Entscheidung befähigt wird. Wenn es
ihr aber in Wahrheit nicht möglich ist, sich dieses Maß selbst zu geben.
dann muß sie es von einer maß-gebenden Instanz, einer Autorität, emp¬
fangen. So wird sie durch die Autorität zwar gebunden; aber diese Bindung
ist, wenn sie sich richtig vollzieht, keine wesenswidrige Fesselung oder
Vernichtung der Freiheit, sondern gerade die Art, wie sie durch den
Appell der Autorität aufgerufen und konkret begründet wird. Solche Be¬
gründung gibt der Freiheit erst den ihr wesensnotwendigen Inhalt und
Halt, und der Mensch hat sein freies Selbstsein nicht gegen sie zu vertei¬
digen, sondern er hat es ihr im Gegenteil zu verdanken. Auf der unwill¬
kürlichen Dankbarkeit für die Ermöglichung des eigenen entscheidungs¬
fähigen Daseins als Person beruht letzten Endes die „Autorität“ der Au¬
torität^. Und nur weil der heutige Mensch durch Autorität von der un¬
erträglich werdenden metaphysischen Überlastung der Autonomie befreit
wird, weil er durch Autorität maßgeblich gesagt bekommt, wozu er da ist,
ist er den unechten totalitären Autoritäten überhaupt zugänglich. Nur so
wird auch schon der im autonomen Zeitalter paradoxe leidenschaftliche
Kult des Genies verständlich, der in dem Augenblick voll eingesetzt hat,
wo (am Ende des 18. Jahrhunderts) die Tradition des Mittelalters über¬
wunden war. Nur weil der moderne Mensch die Genies unbedingt braucht,
und weil er ihnen mit dem maßgebenden Lebensinhalt sich selbst ver¬
dankt, widmet er ihnen, oft in „Gemeinden“ versammelt eine geradezu
messianische Verehrung, die gegen jede Kritik höchst empfindlich ist
Der nihilistische Mangel an verbindlichen „Werten' wäre offensichtlich
behoben, wenn sich der Mensch nicht an seine innerliche und private Per¬
sönlichkeit klammerte, sondern seine „Rolle“ in der autoritativ geor -
neten Öffentlichkeit als etwas Wesentliches, sein "
konstituierendes bejahte. Beide Teile: die Person und die Öffentlichkeit
würden dadurch mit Gehalt erfüllt. Die freie Person gewönne dabei nicht
nur bestimmten Lebensinhalt, Ziel und Maß, nicht nur die konkrete, me r
als „bildungsmäßige“ Weltfülle, die der abstrakten In^l^^^eit mangelt,
sondern auch die fraglose, aus den gemeinsamen Maßstaben folgende Fm

59
GERHARD KRÜGER

mütigkeit mit den Mitmenschen, - die „Basis“ der Verständigung, die bei
der Zersplitterung in die individuellen Standpunkte der einzelnen Per¬
sönlichkeiten verlorengeht. Die ölfentlichkeit aber würde humanisiert:
sie bekäme, statt ein zwangsläufiger Apparat zu sein, die Struktur eines
freien, vertrauensvollen Zusammenwirkens der sich willig einfügenden,
einmütig dienenden Personen, einer „lebendigen“ Einheit, die mit dem
alten, romantisch verfälschten Bilde des „organischen“ Zusammenhaltes
gar nicht zureichend gekennzeichnet ist. Dann wären zwar alle frei und als
Freie zu respektieren, aber sie wären nicht alle gleich: die doch unvermeid¬
lichen Unterschiede würden - als Unterschiede der Verantwortung, der
gewissenhaften Verpflichtung, des persönlichen Ranges und der persön¬
lichen Würde - menschlich bedeutsam und menschlich erfüllt; sie hörten
auf, bloße Unterschiede der Macht und des Erfolges im „Kampfe ums Da¬
sein“ zu sein.
Wir, die wir in einer autonomen Kultur leben, können uns allerdings
noch kaum vorstellen, was das alles im einzelnen bedeuten würde. Die Be¬
sinnung auf die natürliche Einheit von Autorität und Freiheit muß - im
Denken wie im Handeln - erst einmal beginnen. Dem modernen Menschen
muß erst - jenseits von „Reaktion“ und „Totalitarismus“ - aufgehen, was
Autorität und Freiheit eigentlich ist. Aber es handelt sich nicht um Utopie
oder auch um den „schöpferischen“ Entwurf eines „ganz“ neuen Lebens¬
systems, sondern nur um die Anainnesis der steten Urgestalt unseres Da¬
seins, die durch die geschichtliche Freiheitsleidenschaft der Neuzeit ver¬
dunkelt worden ist. Die Bejahung der Autorität durch die Freiheit ist das
Natürlichste von der Welt. Tatsächlich geschieht sie denn auch heute viel
öfter, als man denkt, und die „Kultur“ wäre wohl schon längst zugrunde
gegangen, wenn der verkarstende Boden der ölfentlichkeit nicht - dem
Prinzip der Autonomie zum Trotz - doch immer wieder durch das Ein¬
strömen der persönlichen Kräfte, durch Hingabe und Vertrauen, Dank¬
barkeit und Treue fruchtbar erhalten würde. Die philosophische Besinnung
aber steht heute unmittelbar vor diesem Problem; es ist erstaunlich, daß
gerade ein Philosoph der Freiheit und der Vernunft wie Karl Jaspers die
Autorität ausführlich zum Thema gemacht hat, und daß er ihr für den
„Durchbruch“ der Wahrheit eine hohe, unentbehrliche Bedeutung zu¬
spricht
Was unsere Einsicht hindert, und was auch Jaspers noch veranlaßt, die
Autorität wieder der autonomen Vernunft unterzuordnen, ist die Fülle
der schweren Probleme, die sich auch bei grundsätzlich „positiver“ Frage
nach der Autorität noch erheben.
Wer ist und hat eigentlich Autorität? Wer ist im Stufenbau höchste
Autorität? Was wird aus dem Staate und aus der Freiheit in Kunst und

60
DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

Wissenschaft, wenn man mit der Autorität ernst macht und doch weder
zurück ins Mittelalter kann, noch vorwärts in ein totalitäres System hin¬
ein? Wie steht das Christentum da, wenn man Autorität nicht grundsätz¬
lich ablehnt? Zu all diesen weiterführenden Fragen hinzu die kritisdie:
Wird nicht bei „realistischer“ Betrachtung von Autoritätsverhältnissen in
Staat und Kirche, oder gar in Kunst und Wissenschaft, einfach die alte
Problematik wiederkehren, und mit demselben negativen Erfolge ‘‘?
Mir scheint: etwas ist doch mit der Zeit anders geworden. Wir haben
die Erfahrung vom autonomen Leben gemacht, die unseren Blick auch für
die Fragwürdigkeit der Freiheit geschärft hat; und wir haben von der
christlichen Kultur des Mittelalters einen Abstand gewonnen, der uns er¬
laubt, iiatürliche und christliche Autorität genauer zu unterscheiden, als es
bisher geschah und audi bei Jaspers geschieht. Wenn die autonome, reli¬
giös emanzipierte Freiheit in Ermangelung alles unbedingten, maßgeben¬
den Inhalts zusammenbricht, dann werden wir mit Jaspers lernen müssen,
die freie Personalität als „Gesdienk der Transzendenz“ zu erfahren. Wir
werden es aber vielleicht erst dann in einer eindeutigen, undialektischen
Hingabe können, wenn wir - ohne den autonomen „Trotz“ - in Gott die
höchste Autorität erkennen, die den ganzen Stufenbau des autoritativen
Lebens begründet, indem sie einerseits auch die höchsten menschlichen
Autoritäten in ihrer höchsten menschlichen Freiheit verendlicht, und indem
sie andererseits durch den Stufenbau bis in die niedersten Stufen herab den
maßgebenden Gehalt des Daseins konkretisiert. Eine „natürliche“ Gottes¬
erkenntnis dieser Art bietet sich freilich ~ in Familie und Staat, „materiel¬
lem“ und „geistigem“ Leben - allen den Einwänden dar, die durch den
menschlichen Mißbrauch der Autorität entstehen. Solche Mißbräuche haben
ja die Autonomie hervorgetrieben. Aber auch hier wäre erst einmal zu fra¬
gen, ob solche Mißbräuche notwendig gegen die Autorität als solche spre¬
chen, ob sie also notwendig zur Autonomie führen, und ob sie nur im
Lichte der Autonomie erkannt und behoben werden können. Es könnte
sich herausstellen, daß die Mißstände des Mittelalters nicht auf dem Man¬
gel an Autonomie beruht haben, sondern auf einer falschen Art von Be¬
vormundung der natürlichen Autorität durch die christliche. Dann käme
es darauf an, bei der Revision des alten Prozesses zwischen Welt und
Kirche, der natürlichen Autorität zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne sich
in die Leidenschaft der Autonomie hineintreiben zu lassen. Und wenn
man auf den empörenden Druck; der natürlichen (gesellschaftlichen und
politischen) Autoritäten in der Neuzeit hinweist, dann könnte es sich er¬
geben daß dieser inhumane Druck, der im Absolutismus zur Revolution
geführt hat gar nicht im Wesen der natürlichen Autorität gelegen hat,
sondern darin, daß diese Autorität (in den zum Teil noch mittelalter-

61
GERHARD KRÜGER

liehen Formen) auf eine unverantwortliche „gottlose“ und autonome


Weise durch schon modern gewordene Menschen gleichsam ausgebeutet
worden ist. Es könnte sein, daß die endliche, vor Gott verantwortliche
Autorität trotz allem eine unentbehrliche, natürliche Wohltat wäre. Die
unleugbare Korruption aber, an der Autorität und Freiheit beide leiden,
ist ja das eigenste Problem des Christentums, für das wir durch die
Frage nach der Autorität ein neues, von autonomen Vorurteilen freies
Verständnis gewinnen könnten.

Anmerkungen
' Die ausführliche Rechtfertigung für diese Darstellung der Aufgabe würde freilidi eine
ganze Erkenntnistheorie erfordern. Hier soll nur die Anlage des Folgenden einiger¬
maßen im voraus plausibel werden.
■ Vgl. auch meinen Aufsatz „Ansichsein und Geschichte“, Zeitschrift für philosophische
Forschung III/4, S. 481-500, bes. S. 493 ff.
* „Von der Wahrheit“, S. 766 ff.
* Einige andere Züge dieser Problematik (die autoritative Bedeutung von Antike und
Christentum) habe ich in meiner Schrift ,,Abendländische Humanität“ (Stuttgart 1932)
entwickelt.

62
Ernst Mayer

PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE LOGIK BEI JASPERS


Ihr Verhältnis zueinander

In Jaspers’ dreibändigem Werk „Philosophie“, das 1931 erschienen ist,


begegnet man kaum dem Wort Vernunft. Dem Inhaltsverzeichnis zufolge
wird es an zwei Stellen gebraucht. Doch gehören diese nicht zu den zentral
bedeutsamen. Daß der Begriff Vernunft nicht benötigt wird, ist kein Zu¬
fall. In der „Philosophie“ geht es um die Wirklichkeit der Existenz und
um die Wirklichkeit der Eranszendenz, auf die sich der Mensch in seinem
Sein bezogen weiß, - aber es ist noch nicht Sprache von Vernunft als
solcher. Zwar ist die Vernunft ständig tätig. Sie ist jedoch nicht das aus¬
drückliche Thema.
Es war unausbleiblich, daß ein Werk folgen mußte, das von der Ver-
nunft handelte, von dem Denken als demjenigen inneren Tun, das uns
das Sein sichtbar macht. Wenn aber die Vernunft in den Vordergrund
der Darlegung gestellt wird, so kreist sie - statt um die Wirklichkeit -
um die Wahrheit des Seins. Wirklichkeit und Wahrheit unterscheiden sich,
wie sie auch in eins zusammenfallen. Das Wahre soll wirklidi, das Vi^irk-
liche wahr sein.
Wenn wir die Weisen prüfen, auf welche Wahrheit für uns sein kann,
so ist jedesmal die Vernunft befragt. Wir dürfen diese Weisen keines¬
wegs mit denjenigen verwechseln, deren sich das Verstandesdenken be¬
dient. Ist das Ergebnis unseres Verstandesdenkens überall die Richtigkeit
- gleich, ob es sich um Vorstellen, Beweisen, Erklären, Verstehen handelt -,
so ist dagegen das Resultat jedes Denkens der Vernunft eine Weise der
Wahrheit. Jedoch ist es der Vernunft unmöglich, die Wahrheit überhaupt,
die eine einzige Wahrheit, zum Sprechen zu bringen.
Die folgenden Erörterungen beschränken sich auf den dialektischen Ge¬
gensatz von „Philosophie“ und „Philosophischer Logik“ und auf ihr In¬
einander. Auf die Unterscheidung dessen, was sonst unter dem Wort Logik
vorgestellt werden kann, wird hier nicht eingegangen. Hierüber verbreitet
sich Jaspers in der Einleitung zum logischen Gesamtwerk ausführlich. Fest¬
zuhalten ist, daß wir es nirgends mit Ontologie und mit formaler Logi
zu tun haben. Die philosophische Logik bei Jaspers hat zufolge des „um¬
greifenden“ Denkens durchaus einen transzendierenden Charakter.
Das Verhältnis von „Philosophie“ und „Philosophischer Logik , deren

63
ERNST MAYER

erster Teil „Von der Wahrheit‘’ bis jetzt vorliegt, ist vom Leser nidit
immer in seiner vollen Klarheit erfaßt worden. Die Seiten des Philo-
sophierens (Wirklichkeit und Wahrheit), die in beiden Werken zum
Ausdruck gelangen, sind von dialektischer Art. Sie sind - als Vernunft
und Existenz - im Seinsursprung jedes Menschen angelegt. In unserem
Sein sind wir Wirklichkeit, die uns zugleich als Wahrheit überzeugt. Es
gibt die Wirklichkeit, die ich bin, und es gibt die Wahrheit, die ich
seiend denke. Aber der Akzent kommt auf das Sein zu liegen. Unser Ur¬
sprung ist beides: Denken und Sein, Wahrheit und Wirklichkeit.
Die „Philosophie“, aufgeteilt in „Weltorientierung“, „Existenzerhel¬
lung“, „Metaphysik“ ist überall ein um den Ursprung der Existenz krei¬
sendes Denken. Es hat keinen Gegenstand, weil wir außerstande sind, das
Selbst durch ein objektivierendes Denken zu erfassen. In dieser eigent¬
lichen Existenzphilosophie war die ihr zum philosophischen Ausdruck
verhelfende Vernunft als Logik in der Anonymität geblieben. Aus ihr
mußte sie jetzt heraustreten. Es mußte Aufgabe werden, die Wahrheit in
den Gestalten des Denkens zur Darstellung zu bringen.
Dieser Sprung zur Logik geschah bei Jaspers in den sie vorbereitenden
Schriften „Vernunft und Existenz“ (1935) und „Existenzphilosophie“
(1938). Wirklichkeit und Wahrheit, Sein und Denken sind nun ausdrück¬
lich gegeneinander abgehoben. Erstmalig ist der Gedanke vom Umgrei¬
fenden als die zentrale logische Grundoperation entwickelt. - Beinahe
ein Jahrzehnt später erscheint „Von der Wahrheit“ als der erste Teil
einer philosophischen Logik. Nicht die Existenz, sondern die Vernunft,
als das vom Seinsursprung der Existenz getragene Denken, wird zum
Thema des Gesamtwerks. Die „Philosophische Logik“ entwickelt gegen¬
über der „Philosophie“, in der es sich um das Seinsbewußtsein der Exi¬
stenz handelt, das philosophische Selbstbewußtsein.
Nur derjenige, der nicht genügend bewußt unterscheidet zwischen Wirk¬
lichkeit und Wahrheit, verfällt dem Schein, als handle es sich in beiden
philosophischen Werken um ein und dasselbe, um das Sein. Dies könnte
nur mit der entscheidenden Einschränkung gelten, daß die in den beiden
Werken ergriffenen Gehalte unter jedesmal gänzlich verschiedenen Blick¬
weisen und in gänzlich anderen Bereichen des Philosophierens zur Dar¬
stellung gelangen. Das dialektische Verhältnis von „Philosophie“ und
„Philosophischer Logik“ kann im Bilde veranschaulicht werden: „Philo¬
sophie“ und „Philosophische Logik“ durchdringen einander wie zwei
stereometrische Körper in der darstellenden Geometrie. Jeder ist für sich
ein Ganzes, und doch ist keiner der beiden Körper für sich das Ganze.
„Philosophie“ und ,,Philosophische Logik“ sind das Ganze der Philo¬
sophie erst in ihrem Sichdurchdringen.

64
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE LOGIK BEI JASPERS

Das Besondere ist hier dies: Zwar sind Sein und Denken im Ursprung
unseres Selbst notwendig eins. Doch in der Widerspiegelung dieses Ur¬
sprungs im Philosophieren kann es zu keiner Identität von Sein und Den¬
ken kommen. Sie müssen philosophisch in einer polaren Spannung bleiben.
Sie ist das einzig Mögliche, das wir zwischen zwei gleicherweise abzu¬
wehrenden Gedanken noch zu ergreifen vermögen: Da wir einerseits im
Philosophieren selbst keine Identität von Sein und Denken behaupten
können, uns aber andererseits das Philosophieren auch nicht zu nichts zer¬
stäuben darf, so bleibt nur, daß wir uns Vernunft und Existenz, Sein und
Denken als zwei Pole vorstellen, zwischen denen eine dialektische Span¬
nung herrscht, die weder die Synthese noch das völlige Zerreißen zuläßt.
Aus dieser Problematik erstehen „Philosophie“ und „Philosophische
Logik“ als jene zwei philosophischen Ganzheiten, von denen jede für sidi
keinesfalls imstande ist, das Ganze der Philosophie darzustellen. Nur
beide zusammen, in ihrem Auseinander und Ineinander bedeuten uns jenes
Ganze der Philosophie, das immer nur erstrebt, aber nie als das Eine der
Wahrheit erreicht werden kann.

II

Waren in der „Philosophie“ Vernunft und Logik die selber nicht zur
Darstellung gelangenden Antriebe, so richtet sich in der „Philosophischen
Logik“ ein erhellendes Denken andrer Art, getragen von möglicher Exi¬
stenz, auf sich selbst. Hierbei ist es zunächst einerlei, ob es um die Logik
- um das Denken des Wahren im ganzen - geht, wie im Buch „Von der
Wahrheit“, oder ob es sich mehr um die einzelnen Bereiche der Logik
handelt: um eine Kategorienlehre, um eine Lehre der philosophischen
Methoden oder schließlich um eine Wissenschaftslehre. Denn in all diesem
liegt für Jaspers die philosophische Bedeutung einzig darin, daß sich uns
an den Grenzen alles Denkens und Erlebens die Möglichkeit eines Trans-
zendierens zeigt. Wir können und müssen dieses ergreifen, um aus Frei¬
heit unserer Existenz teilhaft zu werden.
Was sich uns jeweils auf der Grenze der Immanenz des Denkens und Er-
lebens ankündigt, ist „das Umgreifende“. Die „Philosophische Logik“ hat
die Aufgabe, die Wahrheit dadurch zu entwickeln und durchsichtig werden
zu lassen, daß sie die Weisen des umgreifenden Denkens aufzeigt. Ging es
der „Philosophie“ zum Beispiel darum, die Weitorientierung nicht nur
als bloße Umschau in der Welt zu sehen, sondern aufzuzeigen wie wir
überall im Orientieren auf Grenzen stoßen - wofern wir uns für diese
als empfänglich erweisen -: ähnlich geht es der philosophischen Logik
darum, die Seinsweise, die wir Dasein nennen, durch Aufzeigen ihrer

65
ERNST MAYER

Grenzen als eine für uns umgreifende fühlbar zu machen. Sie als solche
im Denken ergreifend, hat sich an den Grenzen des Daseins ein anderes
angekündigt, das die Isolierung dieser Seinsweise durch den Verstand und
das bloße Erleben nicht mehr zuläßt. Dasein als Seinsweise weist zurück
auf das Sein, das ihm den umgreifenden Charakter verleiht.
Nicht anders liegt es mit dem Bewußtsein überhaupt und mit dem
Geist als Seinsweisen. Dasein, Bewußtsein und Geist konvergieren ihrer¬
seits zur Seinsweise der Existenz. Denn nur diese ist imstande, jeweils Da¬
sein, Bewußtsein, Geist in die Schwebe unseres Umgriffenseins zu bringen.
Haben wir es in der „Philosophie“ mit dem existentiellen Seinsbe¬
wußtsein zu tun (in „Weltorientierung“, „Existenzerhellung“, „Metaphy¬
sik“): in der,,Philosophischen Logik“ geht es überall um ein Selbstbewußt¬
sein des sich auf sich selber richtenden umgreifenden Denkens in allen
Möglichkeiten. Immer handelt es sich darum, wie das Philosophieren das
existentiell Wesentliche uns als Wahrheit, das heißt als wahre Denkform
und als ein erkennendes Nichtwissen, zuteil werden läßt.
In der „Philosophie“ war die Existenz nicht als solche auszusagen,
sondern nur indirekt, nur durch ihre Signa (Kommunikation, Freiheit,
geschichtliches Bewußtsein). Vergleichbares gilt von der Vernunft. Sie
als solche ist ungreifbar. Aber sie wird indirekt aufgewiesen durch die
Darstellung der Seinsweisen als der „Umgreifenden“. Wie die Signa der
Existenz sich in ihr gleichsam wie in einem selber im Dunkel bleibenden
Punkte kreuzen oder vereinigen: ebenso weisen die Umgreifenden auf die
sie tragende Seinsweise der Existenz, die ihrerseits die Vernunft ur¬
sprünglich in sich birgt. - Wie ferner die Signa der Existenz auf dem
Wege über diese auf die Transzendenz weisen: ebenso zielen in der
„Philosophischen Logik“ alle Seinsweisen oder Umgreifenden über die
Seinsweise der Existenz hinaus auf diejenigen von Sein und Transzen¬
denz. Das heißt, der Pluralität der Signa dort in der „Philosophie“ ent¬
spricht die Pluralität der „Umgreifenden“ hier in der ,,Philosophischen
Logik“. Dem Einen der Transzendenz in der „Philosophie“ und „Meta¬
physik“ korrespondiert in der ,,Philosophischen Logik“ das Umgreifende
der Umgreifenden.
Existenz und Vernunft sind bei Jaspers stets geschichtlich aufgefaßt.
Die Existenz ist in der „Philosophie“ niemals ohne den Zusammen¬
hang mit der zur Ewigkeit umgebrochenen Zeit. - Das gleiche gilt in der
„Philosophischen Logik“. Wie die Existenz (als Sein und Wahrheit), so ist
alle eigentliche Wahrheit geschichtlich. Weil die für alle gültige Wahrheit
uns verloren ging, gerieten wir in ein uns schwindlig machendes Stürzen,
in ein Bewußtsein der Verlorenheit im All, wofern es uns nicht gelang, uns
aufzurichten an einer Wahrheit, die für uns auch dann lebt, wenn sie nicht

66
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE LOGIK BEI JASPERS

mehr allgemein, sondern geschichtlich ist. Sagte Hamlet, die Welt sei aus
den Fugen und ihm sei auferlegt, sie wieder einzurenken: heute gilt
dies für einen jeden. Er muß im Stürzen sich auffangen, daß ihm Wahr¬
heit aus existentieller Vernunft zuteil werde. Die Gewißheit, als das
Seinsbewußtsein der Existenz, ist im vernünftigen Denken auf die Ge¬
schichtlichkeit der Wahrheit gegründet. Nur im Erfahren dieser Ge¬
schichtlichkeit bindet Vernunft, was sonst auseinanderfiele. Nicht end¬
gültig bindet sie. Aber immer wieder und stets gegenwärtig ist unsere
Freiheit der Seinsursprung, aus dem auch die Vernunft sich erneuernd ge¬
winnt. In diesem Sinne sagt Jaspers in bezug auf die „Philosophische
Logik“: „Wahrheit ist unser Weg.“
Diese Geschichtlichkeit des Denkens, die zugleich den dialektischen Be¬
zug beider aufeinander ausmacht, hat zur Folge, daß in beiden Werken
das Denken kein schlechthin allgemeines sein kann. Sondern beidemal
hat die Natur des Denkens das Wesen des Emzig-allgemeinen. Dies liegt
darin begründet, daß nicht ein Subjekt, sondern stets eine mögliche Exi¬
stenz als Trägerin des Philosophierens fungiert. Nur ein Subjekt kann
allgemein denken, nicht die Existenz. Sie ist dem paradox-dialektischen
Denken nach ihrem transzendierenden Wesen verhaftet. Weil sie nicht
allgemein zu werden vermag, ist sie dem Verstand und auch dem onto¬
logischen Denken entzogen. Daß das Einzige nicht allgemein sein kann,
das Allgemeine niemals im Einzigen aufzugehen vermag: dies weiß
allein das Transzendieren mit Sinn zu erfüllen. Das Einzig-allgemeine
ist der notwendige logische Ausdruck für die Existenz und damit für die
Geschichtlichkeit im Denken.
Nur unter der Voraussetzung geschichtlicher Wahrheit gilt der Satz,
daß die Logik ein „allumfassendes Denken“ vollziehe. Dieser auf das
Umgreifende, von Vernunft und Existenz getragene Denken, abgestellte
Ausdruck wäre mißverstanden, wenn man darunter die Universalität
im Geistigen oder gar ein enzyklopädisches Wissen sich dächte. „All¬
umfassend“: dies will sagen, daß die Seinsweisen nicht voneinander ge¬
schiedene Kreise oder Bereiche darstellen, sondern in eine zusammen¬
haltende Einheit zurückgenommen werden können. Einzig das umgrei¬
fende Denken gibt uns durch ein transzendierendes Innesein den zu¬
sammenhaltenden und darum allumfassenden Gedanken des Emen zu¬
rück der alles Umgreifende wie aus den Händen eines Allumgreifenden
empfängt. Beide Gedanken sind wahr oder dialektisch ein einziger: daß
das Sein ebenso in seine Seinsweisen zerfällt wie es diese wieder zu¬
sammenschließt zu Zeichen, die die Transzendenz künden.
Man kann das Denken sowohl in der „Philosophie“ wie in der „Philo¬
sophischen Logik“ ein perspektixnsches nennen.

67
ERNST MAYER

Jedes durch ein philosophisches Subjekt getragene Denken verläuft


gleichsam nur in der Fläche. Denn es meint, ohne das Moment der Zeit
auszukommen. Allgemein gültig, zeitunabhängig will es sein. - Dem¬
gegenüber kann das Denken Jaspers’ in der „Philosophie“ ein perspek¬
tivisches - oder vierdimensionales - heißen, weil hier aus der Situation
und in der logischen Gestalt der Situation gedacht wird. Doch im Gegen¬
satz zum Situationsdenken ^ sonst wird hier die Zeit, die das für die Situa¬
tion konstituierende Moment ist, zum „Augenblick“ transzendiert. Damit
ist die Unabhängigkeit von der Zeit geschwunden. Aus dem bloßen Ich-
sein in der Situation wurde die - selber im Bilde der Situation, im
„Augenblick“, gedadite - Existenz.
Von diesem perspektivischen Denken her ist sinngemäß auch Jaspers’
„Philosophische Logik“ auszulegen. Jeder ihrer Gedanken will von der
möglichen Existenz getragen sein. Was aber in der „Philosophie“ unmit¬
telbar und konkret gilt, hat in der „Philosophischen Logik“ einen vermit¬
telten Charakter. Denn das Denken des Wahren erschließt sich immer nur
von der Existenz her. Obwohl diese sdieinbar hinter die Gestalten und
Weisen des Denkens zurücktritt, ist es dann doch wieder die Existenz, die
jeder logischen Formung ihren Stempel aufdrückt.
Dies gilt zum Beispiel auch vom Gedanken des Umgreifenden. Er
liegt der Zeidinung des Seins zugrunde, die Jaspers in „Von der Wahr¬
heit“ (S. 142) entworfen hat. Obwohl dies Bild des Seins aufgefaßt wer¬
den muß als von der möglichen Existenz her erblickt (das ist aus einer
der Seinsweisen), können wir doch die Pluralität der aus einem sich uns
aufzwingenden Zentrum aufeinander bezogenen Kreise nicht unmittel¬
bar erfassen. Denn wir können nicht in allen diesen Umgreifenden zu¬
gleich sein, die Einheit nicht ohne weiteres wie aus dem „Augenblidc“
vollziehen. Die ideale Einheit aller Seinsweisen orientiert sich am un-
enträtselten Sein des Absoluten als dem Umgreifenden aller Umgreifen¬
den.
Die Zeichnung würde entweder ein Schema darstellen für den Zerfall
des Seins in seine Weisen, wobei uns die zur Ewigkeit gewandelte
Zeit entglitte. So gesehen, bliebe das visionäre Bild unverstanden. Oder
sie will vielmehr aufgefaßt sein als ein einziger allumfassender Vollzug.
So wird es uns zum Gleichnis für die ewige Einheit im Sein. Doch die
an Existenz sich bindende Vernunft vermag diese Zeichnung des Philo¬
sophen als Chiffre zu lesen.
Die vollendete Einheit im Ineinandersein von Vernunft und Existenz
kann der „philosophische Glaube“ heißen. Die Vernunft duldet es nicht,
daß dem umgreifenden Denken, der sie tragenden Unbedingtheit der
Freiheit, aus beschränkender Enge in den Arm gefallen wird. Einzig dem

68
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE LOGIK BEI JASPERS

Ursprung, auf nichts anderes sich stützend, entringt sich dieser Glaube.
Auf das Verhältnis von „Philosophie“ und „Philosophischer Logik“
angewandt, bedeutet dies: Sie sind nicht schon der Glaube selbst, son¬
dern nur die Widerspiegelung dessen, was sich im Ursprung begibt.
Glaube vermag nicht in Worte überzugehen. Er bleibt die innere Tat des
sich selbst verwirklichenden Menschen. „Philosophie“ (die Lehre von
der Selbstwirklichkeit) und die „Philosophische Logik“ (die Lehre von
der Wahrheit): sie beide weisen uns je auf ihre Art auf den „Weg zum
Glauben“. Ergreift die „Philosophie“ die existentiellen Gehalte: die
„Philosophische Logik“ sudit ihnen die adäquate Form zu geben.
Es blieben die philosophischen Gehalte ohne das der „Philosophischen
Logik“ zugrunde liegende umgreifende Denken der eigentlichen Mittei¬
lungsmöglichkeit beraubt. Nur in seinen beiden Hemisphären wird das
Philosophieren ganz. Wir können von keinem Existieren und Transzen¬
dieren, nidit vom philosophischen Glauben sprechen, ohne das umgreifende
Denken überall zu vollziehen, wo es möglich wird. Wir würden uns nur an
die bloßen Kategorien binden, die uns die Erscheinungswelt aufbauen.
Aber wir würden blind dagegen bleiben, daß die Vernunft den Verstand
und unser Daseinserleben umgreift. Wir würden uns selber nichtig wer¬
den. Der Kosmos in seiner alles ertötenden Kälte ließe uns verzweifelt
verstummen, wenn uns nicht ein umgreifendes Sein durchdrungen er
schiene von den Gehalten, die uns werden, wenn wir uns existierend zu
unserer Transzendenz verhalten.

III

Wir konfrontieren das dialektische und transzendierende Verhältnis


von „Philosophie“ und „Philosophischer Logik“ bei Jaspers dem zweisei¬
tigen Denken bei Kant, Schelling, Hegel. Wir fragen insbesondere, wo sich
sonst zwei philosophische Ganzheiten ergeben, und welche Bedeutung
ihnen zukomme. i ,
Bei Kant stehen sieb die Kritiken der reinen und der praktischen Ver¬
nunft dialektisch gegenüber. Sie verhalten sich zueinander wie Denken
und Verwirklichen. Was wir dem reinen Denken verdanken, laßt aut
der anderen Seite unser freies, durch keine immanenten Zwecke getrüb¬
tes Handeln hervorgehen. Am theoretischen Gedanken transzendentaler
Freiheit gewinnt sich auf der andern Seite die Idee und die Verwirk¬
lichung der Freiheit. . i •
Doch verhalten sich die beiden Kritiken nicht so zueinander wie „Philo¬
sophie“ und „Philosophische Logik“ bei Jaspers. Nicht nur ist Kants trans¬
zendentale Logik in der Kritik der reinen Vernunft eine Enklave. Sondern

69
ERNST MAYER

das Prinzip der Kritiken ist zunächst darin bestimmt, die dogmatische Me¬
taphysik vernichtend zu treffen. Nur auf indirektem Wege läßt Kant die
Wahrheit, auf die es ihm ankommt, zum Ausdruck gelangen.
Der kantische Glaube einer allgemeinen reinen Vernunft, die ein
philosophisches Subjekt voraussetzt, ist uns entglitten. Den Schluß auf
das Selbst verwehrt er Descartes. Das Selbst als Ursprung wurde erst
durch Kierkegaard möglich. Dennoch ist Kants kritisches Denken in sei¬
nem dem Wesen nach transzendierenden Charakter für Jaspers’ Philo¬
sophieren ein notwendiger, stets zu wiederholender Durchgang. Das
Transzendieren Kants macht dort Halt, wo im Scheitern des Objekts das
dem wissenden Erkennen unzugängliche Ansichsein auftaucht oder der
Weg der Philosophie in die Idee einmündet. - Demgegenüber wird bei
Jaspers nicht nur, wie hier bei Kant, negativ transzendiert, sondern auch
konkret (das heißt positiv). Und hier liegt der tiefere Grund, warum
bei Jaspers infolge des das Ganze der Philosophie tragenden Grund¬
gedankens der Existenz zwei philosophische, dialektisch aufeinander be¬
zogene Ganzheiten hervorgehen müssen. Denn beide sind auf das kon¬
krete Transzendieren bezogen, das bei Kant sich nur wie von ferne an¬
zukündigen scheint.
Auch die Weise, wie Kant den Weg des Glaubens frei machen wollte,
ohne aber dazu zu schreiten, seinem philosophischen Glauben unmittelbar
Ausdruck zu geben, zeigt den Unterschied. Sie erfährt die entscheidende
Zuspitzung in der Frage, ob die Moral auf die Religion (diese gemeint
innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft) oder die Religion auf die
Moral sich gründen müsse. Kant entschied sich für den zweiten Weg,
weil wir die Freiheit nicht abhängig sein lassen dürfen von Triebfedern
wie Hoffnung oder Furcht. - Gerade hierin vollzog sich aber nun die
Wendung. Es ist nicht mehr möglich, den Glauben auf die Moral zu be¬
ziehen. War für Kant die Furcht die der Freiheit wesensfremde Trieb¬
feder, so ist sie seit Kierkegaard in ihrem tieferen Sinne kein spezifisches
Gefühl mehr. Sie ward zu der umgreifenden Angst vor dem Nichts, die
den Nihilismus herbeizwingen müßte, wenn es nicht gerade das Um¬
greifende in der Angst wäre, daß sie in den Glauben Umschlägen kann.
Heutiges Philosophieren würde in ein Moralisieren ausarten, wenn es
sich einzig auf Moralität stützen würde. Die Alternative Kants gilt heute
in umgekehrter Richtung: die Freiheit gehört dem philosophischen Glau¬
ben an, bevor wir sie von der Moral her interpretieren. Nur die Exi¬
stenz, die als Ursprung die Dialektik von Sein und Denken in sich trägt,
konnte im Gegensatz zu Kants philosophischem Subjekt dieser Umkehr
zum Durchbruch verhelfen und damit einer existentiellen Wirklichkeits¬
lehre („Philosophie“) die „Philosophische Logik“ entsprechen lassen.

70
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE LOGIK BEI JASPERS

Denn beide künden den Ursprung in seiner Einzigkeit als Existenz und
in seiner Zweiseitigkeit von Vernunft und Existenz.
Eine gänzlich andere Sicht auf das Verhältnis von „Philosophie“ und
„Philosophischer Logik“ bei Jaspers vermittelt die idealistische Philoso¬
phie, insbesondere die letzte Wendung bei Schelling und - davon wieder
grundlegend unterschieden - das Hegel’sche System: Geht man vom
Selbstverhältnis aus, das sich bei Kierkegaard und bei Jaspers nicht nur
zu sich selbst verhält, sondern außerhalb des Verhältnisses auch zum
Absoluten als dem anderen, das das Selbst nicht sein kann, so ist es in
der idealistischen Philosophie radikal anders. Hier ist es allein das Ab¬
solute, das sich zu sich selbst verhält und das nichts mehr außer sich hat,
wozu es sich verhalten könnte. Man kann daher sagen: das Selbstverhält¬
nis hat sich umgekehrt. Die Freiheit gehört dem Absoluten. Sie könnte
sich nur zu dem des Aufschwungs fähigen Menschen hin erstrecken.
Hier liegt der Grund, warum wir bei Schelling in seiner negativen und
positiven Philosophie zwar zwei philosophische Ganzheiten erblicken,
deren Aufeinanderbezogensein erst das Ganze der Philosophie darstellt.
Doch der Unterschied gegenüber Jaspers ist eben gerade dieser, daß die
beiden Philosophien Schellings dem Absoluten unterlegt werden müssen.
Um dessen Existenz zu philosophischem Ausdruck zu bringen, bedarf
Schelling der „negativen Philosophie“, deren Thema das dem Denken
Mögliche ausmacht. Sie bleibt eine abstrakte Philosophie bis zu jenem
Punkte, wo sich die negative und die positive, konkret gemeinte, ver¬
einigen. Dieser Punkt, das Absolute selbst, hält die Einheit von Denken
und Sein in sich. Das Denken in der negativen Philosophie führte hin zu
dem Absoluten, aus dem nunmehr der Glaube für Schelling deduzier¬
bar wird.
Anders Hegel. Sein Denken ist nicht von einer Art, daß es aus sich
zwei philosophische Ganze im Sinne jener dialektisch aufeinanderbezoge-
nen Ganzheiten entlassen könnte. Die Hegel’sche Dialektik ist vielmehr
konzentrisch in sich selbst. Die Zweiseitigkeit im Philosophieren ist be¬
schlossen in ihrem rein logischen Wesen, in dem Prozeß des stets wieder
Aufgehobenwerdens von Stufe zu Stufe oder vom Anfang her bis zum
krönenden Ende. Das Absolute ist das Subjekt, weil das Denken alles
ist, Gott selbst. Das Sein geht nicht vor dem Denken, sondern das Den¬
ken vor dem Sein. Bei Hegel kann es daher nicht wie bei SAelling zu
einer negativen Philosophie kommen, die das Denken
lichkeit als der anderen Seite des Philosophierens entgegensetzt. So geht
alle Dialektik auf in die Logizität von Position und Negation.
Fassen wir diese Konfrontation der Japers sehen philosophisAen
Ganzheiten, deren dialektischer Bezug den Ursprung der Existenz zurude-

71
ERNST MAYER

spiegelt, mit der Denkgestalt bei Kant, Schelling, Hegel zusammen: so


ist deutlich, daß Kant die größte Nähe offenbart, ohne daß von einer
Kongruenz die Rede sein kann. - Schellings beide Philosophien, die doch
als eine Philosophie erblickt sein wollen, zeigen zwar formal eine ent¬
schiedene Verwandtschaft, nicht aber im Wesen. - Hegel dagegen steht
in größter Ferne, da er das Sein dem Denken aufopfert.

Hätte es mit Jaspers’ „Philosophie“ sein Bewenden gehabt, so wäre es


nicht möglich gewesen, den vollen Blick zu gewinnen auf die vielleicht
nie dagewesene innere Weite eines Denkens, das allen Halt im Unend¬
lichen sucht. Wir wären nicht des periechontologischen Charakters dieses
Philosophierens hinreichend ansichtig geworden. Erst die „Philosophische
Logik“ zeigt uns den radikalen Bruch mit aller spekulativen oder son¬
stigen Ontologie, läßt den Gegensatz zwischen dieser und dem „Peri-
echein“ in voller Schärfe hervortreten.
Wir erhoffen die noch ausstehenden Teile des logischen Werkes, die
Fortführung jenes umgreifenden Denkens, das gegenüber der „Philo¬
sophie“ vom Standort der Logik aus noch einmal den Blick: auf das Sein
frei gibt.

Anmerkung
^ Für die vorliegende Darlegung siehe auch meine „Dialektik des Nichtwissens“ (Verlag
für Recht und Gesellschaft, Basel 1950) Studia Philosophica, Supplementum V.,
insbesondere Kap. I Ursprung, Kap. IX Situationsdenken, Kap. XII Das dialektische
Ganze.

72
Jose Ortega y Gasset

STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

In seiner Schrift über „Das Wesen der Philosophie“ versucht Dilthey


den Begriff der Philosophie festzulegen. Dazu bedient er sich des Ver¬
gleiches, der Verbindung und des Gegensatzes von Philosophie und Reli¬
gion und Dichtung, wobei letztere als Literatur im weiteren Sinne zu ver¬
stehen ist. Wenn wir diesen wundervollen Aufsatz lesen, überrascht uns
vor allem eines, und zwar erscheinen Religion, Philosophie und Literatur,
diese vitalen Funktionen des Verstandes, als permanente Möglichkeiten
des Menschen. Dies überrascht uns gerade bei Dilthey, der uns doch viel
radikaler als seine Vorgänger - Hegel, Gomte - die Geschichtlichkeit als
Wesenszug des menschlichen Seins lehrt. Die Geschichtlichkeit scheint es
mit sich zu bringen, daß alles eigentlich Menschliche eines schönen Tages
entsteht und dann wieder vergeht. Nichts eigentlich Menschliches kann,
wenn es etwas Wirkliches, also Konkretes ist, von Dauer sein. Damit ist
nicht gesagt, daß es im Menschen nicht etwas Konstantes gebe. Sonst
könnten wir vom Menschen, vom menschlichen Leben, vom menschlichen
Sein, gar nicht reden. Das heißt, daß der Mensch durch all seine Verän¬
derungen hindurch eine unveränderliche Struktur hat. Aber diese Struk¬
tur ist nicht wirklich, weil sie nicht konkret, sondern abstrakt ist. Sie be¬
steht aus einem System abstrakter Momente, die als solche in jedem Fall
und Augenblick mit wechselnden Bestimmungen integriert werden wol¬
len, damit die Abstraktion Wirklichkeit werde. Wenn wir sagen, daß der
Mensch immer von gewissen Glaubensgewißheiten aus lebt, so sprechen
wir eine Wahrheit aus, die ein Theorem ist in bezug auf die Theorie des
Lebens aber diese Wahrheit erklärt nidits, das wirklich wäre, sondern
zeigt vielmehr ihre eigene Unwirklichkeit, da sie die Glaubensgewißheit,
von der sie jeweils lebt, unbestimmt läßt; sie ist, wie eine algebraische
Formel, die dauernde Aufforderung an uns, ihre „leere Stelle“ auszu-

So betrachtet bekommen die Ausdrüdce „Religion“, „Philosophie“ und


Dichtung“ einen zweideutigen Sinn, weil man nicht weiß, ob man damit
Abstraktionen bezeichnen will oder wirkliche Formen, die das Leben an¬
genommen hat. Und tatsächlich steht der ganze Aufsatz Diltheys in einem
Lmantischen Zwielicht, weil jene Ausdrücke dauernd von ihrer abstrak¬
ten Bedeutung zur konkreten übergehen und umgekehrt. Diese Unklar¬
heit der Terminologie wurde gefördert durch eine allgemeine Schwache,
unter der die sogenannten „Geisteswissenschaften“ leiden, und die dann

73
JOSß ORTEGA Y GASSET

besteht, daß ihr Wortsdiatz ungemein kümmerlich ist. Ich habe schon
einmal auf den Nachteil hingewiesen, der daraus entsteht, daß man mit
ein und demselben Wort „Dichtung“ das bezeichnet, was Homer, und das,
was Verlaine hervorgebracht hat. Dasselbe geschieht mit Wörtern wie
„Philosophie“ und „Religion“. Es ist offensichtlich, daß man diesen Wör¬
tern eine so schwache, so formale Bedeutung geben kann, daß sie ganz
Verschiedenes und sogar Entgegengesetztes umfassen. Grundsätzlich wäre
gegen dieses Verfahren nichts einzuwenden, wenn wir nicht sofort das¬
selbe Wort zur Bezeichnung von ganz konkreten Formen menschlicher
Beschäftigung verwendet fänden. Diesem Problem kommt heute eine
gewisse unmittelbare Bedeutung für die Philosophie zu, weil das abend¬
ländische Denken - und zwar das beste - angefangen hat, unter diesem
Namen Formen anzunehmen, die als „Philosophie“ zu bezeichnen äußerst
fraglich ist. Ohne daß ich jetzt eine förmliche Meinung über diese An¬
gelegenheit ausdrücken will, möchte ich doch die Möglichkeit andeuten,
daß das, was wir uns jetzt unter der herkömmlichen Bezeichnung „Philoso¬
phie“ zu tun anschicken, nicht eine neue Philosophie ist, sondern überhaupt
etwas Neues, etwas anderes als jede Philosophie.
Wenn Dilthey nämlich genau sagen will, was er unter Philosophie ver¬
steht, sieht er sich gezwungen, eine Art zu beschreiben, sich der geistigen
Mechanismen zu bedienen, die in der Menschheit nicht permanent vor¬
handen war, sondern die eines schönen Tages in Griechenland entstan¬
den und die zwar auf uns überkommen ist, aber ohne daß wir eine Ge¬
wißheit hätten, daß sie auch fürderhin bestehen wird.
Damit wollen wir aber keinen Anspruch erheben, daß wir das Pro¬
blem gelöst hätten, ob Philosophie, Religion und Dichtung permanente
Möglichkeiten des Menschen sind oder nicht. Im Gegenteil - wir haben
nur die Frage mit einer gewissen Dringlichkeit aufgeworfen.

Bevor wir in systematische Erwägungen eintreten, müssen wir uns vor


Augen halten, in welcher Stellung sich wohl die ersten Philosophen ge¬
genüber der Religion befanden. Der Augenblick des griechischen Lebens,
in dem die Philosophie ins Leben tritt, hat für unsere Frage ein ganz be¬
sonderes Gewicht. Wenn die Philosophie dann einmal da ist, ist die
Situation nicht mehr so beispielhaft. Der Mensch steht dann zwei Formen
innerer Beschäftigung gegenüber - der Religion und der Philosophie -
die er nicht erst schaffen muß, sondern einfach wählen kann, und diese
Wahl kann unter den verschiedensten Gleichungen vor sich gehen. Bei
der Entwicklung unseres Problems führt dies zu der Notwendigkeit fest¬
zustellen, ob diese Religion und diese Philosophie, die ineinander ver-
widcelt sind, sensu stricto Religion und sensu stricto Philosophie sind.

74
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

Aber jene ersten Denker fanden keine Philosophie vor, die sie lockte
und einlud, sie mit ihrer Religion zu verbinden, sondern sie empfanden
die tiefe Notwendigkeit von etwas noch nicht Bestehendem, was zu dem
wurde, was schließlich die seltsame Bezeichnung Philosophie erhielt. Was
suchten sie denn? Warum suchten sie es? Hat es einen Sinn anzunehmen,
daß sie, wenn sie in der traditionellen Religion zu Hause waren, sich
bemüht hätten, etwas zu finden, das ebenso umfassend wie diese, aber so
ganz verschiedenen Inhalts war?
Um diese Fragen zu beantworten, bleibt uns nichts anderes übrig, als
uns in die Fragmente zu versetzen, die wir noch von jenen ersten Den¬
kern besitzen, um von ihrem Gesichtspunkt aus den Horizont zu erfor¬
schen, der sich ihren Verfassern bot.
Im Denken eines Denkers wirken immer ein Untergrund, ein Grund
und ein Gegner mit. Der Uritergrund, den die tiefen Schichten geistiger
Traditionen bilden, die in der menschlichen Gemeinschaft bewahrt wer¬
den, wird gewöhnlich vom Denker ignoriert. Er wirkt in ihm, ist ihm
aber nicht präsent. Der Grund ist neueren Ursprungs: es sind die grund¬
sätzlichen Annahmen, deren sich der Denker bewußt ist und die er schon
vorfindet. Auf diesem Grund nimmt er Stellung und von hier aus denkt
er seine eigenen Ideen. Schließlich ist jedes Denken ein „Denken gegen ,
ob es sich nun im Worte äußert oder nicht. Unser schöpferisches Denken
bildet sich immer im Gegensatz zu einem anderen Denken, das uns vor¬
liegt und das uns irrig, fehlerhaft zu sein scheint, ein Denken, das über¬
wunden sein will. Es ist das, was ich den „Gegner“ nenne, die feindliAe
Felswand, die sich auf unserem eigenen Grund erhebt, also auch von die¬
sem ausgeht und im Gegensatz zu der wir das Bild unserer eigenen Lehre
entdecken.
Parmenides und Heraklit dürften um das Jahr 520 v. Chr. geboren sein.
Sie beginnen also um das Jahr 500 zu denkend Auf welchem geistigen
Grund befanden sie sich? Welchen geistigen Strömungen, welcher all¬
gemeinen Denkrichtung fühlten sich ihre jungen Köpfe verbunden? In
welchen anderen zeitgenössischen Tendenzen sahen sie das Profil des
Gegners? ,
Im Werke des Parmenides erscheint kein Eigenname, der uns zu orien¬
tieren vermöchte. Er „zitiert“ weder Freund noch Feind. Und das ist kein
Zufall. Parmenides gestaltet seine Ideen in der Form eines feierlichen
Gedichts^ das der literarischen Gattung angehort die für jene Zeit be¬
zeichnend ist: das theologisch-kosmogonische Gedicht der orphischen My¬
stiker. Diese Gattung ist, da mystisch, pathetisch im
eine nicht alltägliche, mythische Ausdrucksweise Obwohl clas GediAt in
der ersten Person abgefaßt ist, ist diese Person doch abstrakt - ein fung-

75
JOSfi ORTEGA Y GASSET

ling -aovQog- den, man weiß nicht warum, einige junge Göttinnen be¬
schirmen, vage weibliche Gottheiten; vielleicht sind es die Musen oder
die Horen, denn er nennt sie „Töchter der Sonne“. Diese Unklarheit der
Linien, diese Zartheit und Geisterhaftigkeit des mythologischen Bild¬
werks, das Parmenides entfaltet, erweist ohne weiteres und ohne jeden
Zweifel, daß Parmenides ganz klar und bewußt eine „archaisierende Gat¬
tung“ wählt, um seine Aussage zu machen. Mit anderen Worten: Par¬
menides bedient sich des mythologisch-mystischen Gedichts, ohne noch
daran zu glauben, als eines reinen Ausdrucksmittels, kurz als Vokabular.
Die längst abgestorbenen Glaubensgewißheiten leben, in bloße Wörter
verwandelt, noch lange weiter. Die Mythologie ist, wenn sie tot ist, von
einer schrecklichen Hartnäckigkeit. Solange eine Glaubensgewißheit, die
nicht die unsrige ist, in anderen lebendig ist, nehmen wir sie ernst und
kämpfen mit ihr, zumindest sorgen wir dafür, daß man unsere Ausdrucks¬
weise nicht mit der jener anderen verwechselt, die daran glauben. Aber
wenn wir eine Glaubensgewißheit schon für mumifiziert und der Vergan¬
genheit angehörig halten, dann wird sie für uns zur einfachen und harm¬
losen „Redensart“. So sprechen wir ruhig vom Orient, das heißt, von
einer Gegend, wo die Dinge entstehen oder geboren werden, obwohl
niemand mehr glaubt, daß es einen Ort im kosmischen Raum gibt, dessen
besondere Eigenart Geburten sind.
Parmenides spricht zu uns nidit nur von jenen göttlichen Jungfrauen,
sondern von einer gewaltigen Göttin, die ihm die Wahrheit zeigen will,
und von einem Wagen mit den „schnellsten Pferden“ - zweifellos sind
sie beflügelt -, der ihn, von den genannten Mädchen gelenkt, wie einen
Amadis auf dem „vielgepriesenen Weg“, auf der „berühmten Straße“,
die der „wissenden Kreatur“ das ganze Universum zu durchlaufen ge¬
stattet, bis zu den Toren des Himmels führt. All das ist eine feierliche
Aufmachung, die Parmenides aus den alten Truhen hervorholt und
die ihm als Verkleidung dient, gerade weil es für ihn Verkleidung
ist. Wir müssen uns jetzt nur erklären, warum dieser Mensch, um
seine Aussage zu machen, eine Verkleidung braucht, das heißt, warum
er es für angebracht hält, eine religiöse, mythologische Redeweise zu
ersinnen und seine Gedanken im pathetischen Tone einer Enthüllung,
einer Apokalypse aus dem Munde einer Göttin auf uns niederdonnern
zu lassen. Hätten wir nicht dummerweise die „Rhetorik und Poetik“ so
vernachlässigt, die sich mit den genera diceiidi befaßten, mit der Art,
wie man die Dinge sagen kann, die wir sagen wollen, dann wäre es für
uns nicht schwer zu verstehen, warum Parmenides ganz ernsthaft - bei
Parmenides ist alles furchtbar ernst - darauf verzichtet, in didaktischer
Prosa zu reden, warum er es vermeidet, einfach von sich aus zu sprechen

76
STOCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE"

und warum er all seine Beredsamkeit auf vage religiöse Personen und
Figuren überträgt. Es ist eine stilistische Notwendigkeit. Es ist keine
Laune. Stil ist die Umformung der gewöhnlichen Sprache aus besonde¬
ren Gründen, die den Sprechenden leiten. Und der häufigste Grund der
Stilisierung ist die Ergriffenheit. Sie manipuliert die laue und farblose
Alltagssprache so lange, bis sie glühend, geschmeidig, blank und leben¬
dig wird. Parmenides wird uns also nicht bloß seine Entdeckungen mit-
teilen, vielmehr hatten ihn diese - wie wir sehen werden, ganz mit
Recht - in solches Staunen und in eine übergroße Erregung versetzt, daß
sie für ihn einen mystischen Wert erhielten. Wenn man glaubt, es gebe
im Menschen geschlossene Abteile, wird man nichts vom Menschen ver¬
stehen. Es wäre naiv zu glauben, weil die Wissenschaft kalte Wissen¬
schaft, eisige Wahrheit ist, habe ihre Entdeckung keinen mystischen Cha¬
rakter und sei nicht glühend, begeisternd und leidenschaftlich. Und trotz¬
dem war, ist es und wird es unvermeidlich und glücklicherweise immer
so sein: Jede „wissenschaftliche“ Entdeckung, das heißt, jede Wahrhed
versetzt uns plötzlich in die unmittelbare Vision einer Welt, die wir bis
dahin nicht kannten und mit der wir deshalb nicht rechneten. Auf ein¬
mal, als werde ein Schleier von unseren Augen genommen^ wird sie uns
auf wunderbare Weise offenbar - und wir sind „Sehende“; iioch mehr,
es scheint, als seien wir unserer gewöhnlichen, „bürgerlichen und gar
nicht mystischen Welt durch eine seltsame Macht entrückt in eine andere,
und wir geraten in Ekstase. Es ist gleichgültig, was unsere vorherigen
Überzeugungen hinsichtlich des Wirklichen und des Göttlichen, des Vul¬
gären und des Magischen sind: die Situation, die mystische Erfahrui^
wird sich stets mit denselben Wesenszügen wiederholen. Der Mensch,
der am radikalsten die „reine Vernunft“, den „reinen Rationalismus
entdeckt, den Rationalismus, der die Religion erdrcisseln v/ird Des-
cartes - hatte, wie er als junger Mensch plötzlich die Entdedung der
Methode (der „mathesis universalis“) macht, eine ekstatische Vision dm
er immer als den höchsten Augenblick seines Lebens empfand und die
er immer als etwas ansah, an dem er selbst kaum teilhatte, als göttliches
Geschenk und transzendente Offenbarung. Zutie st erregt von dieser
besonderen, einmaligen Ergriffenheit des „Entdeckers , unen^iche
Demut ist schreibt er in seinen intimen Aufzeichnungen: „X novembns
^619, cum plenus forem Enthousiasmo, et mirahihs scientiae fundament

''PaTmTnides empfindet das, was ihm bei diesem Entdecken zuteil ge-
Hen i^t als eine gewissermaßen transzendente Tatsache, und das
Veranlaßt ihn ganz natürlich, ein religiöses Vokabular und religiöses
Bildwerk zu verenden, um sowohl Idee als seine Ergriffenheit auszu-

77
JOSE ORTEGA Y GASSET

drücken. Und zwar gerade, weil er nicht fürchtet, seine Leser könnten
seine mythologischen Ausdrücke in ihrer unmittelbaren Bedeutung auf¬
fassen. So zeigt uns Parmenides’ Stil nicht nur, daß er selbst nicht an die
Götter glaubte, sondern daß auch in den sozialen Gruppen, an die er
sich wandte, der religiöse Glaube nicht mehr lebendig war. Für einen
einwandfreien Rationalisten wie Parmenides ist es etwas Außerordent¬
liches, Erwärmendes, wenn er von Göttern, von einer Fahrt in den Him¬
mel spricht und wenig kontrollierbare Bilder gebraucht, aber es tut sei¬
nem Bedürfnis, die gefühlte Ergriffenheit auszudrücken. Genüge. Da¬
gegen würde einem, der wahrhaft an die Götter glaubt, Parmenides’
Dichtung blaß, lau und steif allegorisch erscheinen. Achtzig Jahre zuvor
hatte Anaximander die Prosa erfunden und hatte in ihr die Darstellung
seiner Physik niedergelegt. Diese Urprosa hatte sich noch nicht zur „lite¬
rarischen Gattung“ konsolidieren können, weil sie ihrer selbst noch nidit
sicher war, nämlich daß sie Prosa und nur Prosa war. Wann man es am
wenigsten erwartet, weht über der „positivistischen“ Aussage Anaximan-
ders ein fast mythologischer Sturm der Erregung, der die prosaische
Sprache aufwühlt und mit visionären Blitzen erfüllt. Parmenides hatte
also keine Wahl. Das erklärt, warum er den ganzen alten Apparat des
Deus ex machina hervorholt.
Heraklit dagegen zitiert Namen. Und zwar macht er nicht viel Um¬
stände. Homer und Archilochos sollen geprügelt werden (fr. 42). Den
Meister Hesiod schilt er einen Dummkopf, weil er nicht einmal weiß,
was Nacht und Tag sind (fr. 57), Pythagoras nennt er einen Komödian¬
ten (fr. 129, aber zweifelhaft) und wirft ihm, ebenso wie Hesiod, Xeno-
phanes und Hekataios vor, daß sie unter einem Sammelsurium von
Ideen ihre Ignoranz in dem verbergen, was allein wissenswert ist (fr. 40).
Er läßt überhaupt nur Thaies gelten, von dem er sagt; „Er war der erste
Astronom.“ Daß in diesem Fragment eine Beschimpfung fehlt, zeigt uns,,
daß seine Haltung gegenüber Thaies und dem, was er darstellt, positiv
war. Zu bemerken ist, daß alle namentlich Zitierten schon tot waren. Es
fehlen die Namen von Zeitgenossen. Man vergesse nicht, daß die bedeu¬
tendste und charakteristischste geistige Produktion des 6. Jahrhunderts
aus der Gegend kommt, zu der Ephesus gehört, von der jonischen Küste
und den benachbarten Inseln.
Im Gegensatz zu Parmenides spricht Heraklit von seiner eigenen und
unübertragbaren Person aus. Seine Sentenzen, über die sich schon so
viele die Köpfe zerbrochen haben und die so berühmt „rätselhaft“ er¬
scheinen, brechen blendend wie Blitze aus einem gewaltigen und ganz
individuellen Idi hervor, aus diesem konkreten einmaligen Menschen
Heraklit, der aus der Familie der Kodriden geboren ist, die die Stadt

78
STOCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

gegründet haben, und der selbst von „königlichem“ Range war, in der
höchsten Bedeutung, die dieses Wort je gehabt hat, in der des „geweih¬
ten“ Mannes, der allein zu „weihen“ imstande ist, da er in seinem Blut
die unveräußerliche göttliche Erbschaft des „Charisma“ trägt. Hera-
klit verzichtet zugunsten seines Bruders auf die Ausübung dieser reli¬
giösen Königswürde, denn selbst diese hindert ihn daran, das absolute
Individuum zu sein, dieser ganz einmalige Heraklit, als der er sich
fühlt.
Wenn wir, bevor wir darlegen, was diese unermeßliche Persönlichkeit
gesagt hat, ein wenig innehalten - wie es sich gebührt - um die Art zu
prüfen, wie er es gesagt hat, das formale Bild seiner Aussage, so finden
wir folgendes: Audi Parmenides stammt aus vornehmer Familie und
besitzt dieses überwältigende Selbstvertrauen, das jene ersten Denker be¬
flügelte und das von dem Bewußtsein seines Seins und seines Denkens -
seines aristokratischen Erbes und der Ursprünglichkeit seiner Gedanken
- doppelt genährt wurde. Wo er auftritt, flößt er Achtung ein. Noch bei
Platon klingt die Erinnerung an diese Achtbarkeit auf. Aber letzten En¬
des wandelt er unter den Menschen, disputiert mit ihnen - seine Schule
führt die „Diskussion“ als Lebensform ein, die Dialektik - bemüht sich,
sie zu überzeugen, er lehrt nicht nur, sondern belehrt. Parmenides hat
keine Distanz. Darum muß er seine Aussage distanzieren und seine
Lehre von dem wahren Mund der wahrhaftigen Göttin aussprechen las¬
sen. Heraklit dagegen, der „König“, fühlt sich einzigartig und ist von
vornherein unabänderlich distanziert. So ist sein Leben materiell ein
Rückzug. Er zieht sich, wie ich sagte, aus dem öffentlichen Leben zurück
und verzichtet auf sein heiliges Amt. Er empfindet eine vernichtende
Verachtung gegenüber der Masse seiner Mitbürger und betrachtet sie als
heilsunfähig, da sie nicht die grundlegende Tugend eines Menschen haben,
die darin besteht, daß man fähig ist, etwas Überlegenes anzuerkennen '’.
Heraklit zieht sich also von der Agora in den einsamen Tempel der Ar¬
temis zurück. Das genügt ihm aber auch noch nicht, und so flüchtet er in
ein wildes Gebirge, wie sich das Eisen und der Diamant im Inneren dei
Erde verbergen. Selten wird ein Mensch eine so unbeschränkte Überzeu¬
gung von seiner Überlegenheit über die anderen gehabt haben. Wir wer¬
den noch sehen, aus welchem umgekehrten Grunde; wir werden noch
sehen aus welch absoluter Demut sich dieser absolute Hochmut herleitet
und nährt Wenn Heraklit noch an die Götter glaubte, würde er glau¬
ben er sei ein Gott. Deshalb überträgt er seine Aussage auch nicht einem
würdigeren Munde. Er braucht der Distanz, die er schon ist, nicht eine
neue stilistische Distanz hinzufügen. Seine Lehre erklärt uns, warum er
sich als Gott fühlt - wie sich, seiner Auffassung nach, jeder Mensch zu

19
JOSe ORTEGA Y GASSET

fühlen das Recht hätte, wenn er nicht so dumm wäre, wie er gewöhn¬
lich ist.
Man muß sich weiter vergegenwärtigen, daß in Jonien, wo das neue
Denken, das „moderne“ Leben aufkam, die Dinge weiter fortgeschritten
sind sogar als am andern Ende der griechischen Welt, in Großgriechen¬
land und Sizilien. Die Entfernung von der Mythologie ist noch größer,
und die Prosa, die einfache didaktische Äußerung, ohne Melodramatik
und ohne Bildwerk, hat sich gefestigt. Vierzig Jahre zuvor hatte, nicht
weit von Ephesus, Hekataios seine Geographie- und Geschichtsbücher in
reiner didaktischer Prosa geschrieben, einer so prosaischen und unmittel¬
baren Prosa, wie es die irgendeines deutschen Handbuchs unserer Zeit
sein kann. Jedoch eignet sich diese Prosa nicht ganz, um dieses so selt¬
same und transzendente Denken darzulegen, das die Philosophie ist.
Deshalb kann Heraklit nicht ein Buch in fortlaufendem Text schreiben.
Er wird sein Denken in Form von Funken wiedergeben, in kurzen Sät¬
zen, die, weil sie jeweils alles auf einmal sagen sollen, wie geballte La¬
dungen der Beredsamkeit sind, eine Art dogmatisches Dynamit. Daher
seine berühmte „Dunkelheit“.
Der Stil Heraklits besteht also darin, daß er von seiner ganz indivi¬
duellen Person aus in Form von zündenden Sätzen spricht, wie sie in
einer sdiarfsinnigen, geist- und funkensprühenden Unterhaltung aufblit¬
zen können. Es sind „Sprüche“, aber immerhin findet sich in ihnen eine
Färbung, in der sich zeigt, daß sich Heraklit von einem genus dicendi
beeinflussen ließ, das damals ganz an der Tagesordnung war und das
religiösen, transzendenten Anklang hat. Und zwar sind es die Orakel¬
sprüche und die Sprüche der Sibylle. Er selbst gibt uns in zwei erhalten
gebliebenen Fragmenten zu verstehen, warum er die Literaturgattung
gewählt hat, die seine Sprüche sind. Auf Grund seiner Überzeugung,
daß es in dem Menschen, der denkt, was man denken muß, die univer¬
sale Vernunft ist, die denkt, und nicht der private Scharfsinn, wird der
passende Ausdruck so etwas sein wie die Orakelsprüche und der Hauch
der Sibylle. „Die Sibylle, die mit rasendem Munde Ungelachtes und Un¬
geschminktes und Ungesalbtes ausruft, dringt durch Jahrtausende mit
ihrer Stimme, da der Gott sie treibt“ (fr. 93). „Der Herr, dessen das
Orakel zu Delphi ist, erklärt nicht und verbirgt nicht, sondern deutet an“
(fr. 94). Es sei darauf hingewiesen, daß hier, an der ehrwürdigen schöp¬
ferischen Schwelle der Philosophie, das „andeuten“ als die der Philoso¬
phie eigene Aussageweise vorgeschlagen wird. Man vergesse aber nicht,
daß diese beiden Sprüche Heraklits von einem Manne herrühren, wel¬
cher der überlieferten Religion, den „Mysterien“, den Kulten gegenüber
radikal feindlich eingestellt ist^. Doch auch er hatte seine Erkenntnisse

80
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

als Offenbarungen erlebt, und die mystische Rückwirkung dieser Erfah¬


rung fand ihren natürlichen Ausdruck nur in Sätzen, in denen eine quasi¬
religiöse Ergriffenheit durchschauert.

Es war wohl kaum möglich, auf solche Beobachtungen über Parmeni-


des’ und Heraklits Stil zu verzichten, denn nur so können wir uns eine
deutliche Vorstellung von der Tonart machen, die allen ihren Sentenzen
zugrunde liegt. Bald werden wir auf ein genaues Beispiel dafür stoßen.
Das richtige Verständnis des jeweiligen Stiles ist in diesem Falle von
grundlegender Bedeutung; denn da uns von ihrem Werke nur ein paar
Splitter überkommen sind und wir von der ganzen Zeit damals über nur
recht spärliche Zeugnisse verfügen, können wir nicht von dem absehen,
was uns, ohne Absicht der Verfasser, die nackte Tatsache ihres Stiles ver¬
rät. Und wirklich: wenn wir gewahr werden, daß für sie die Mythologie
zum bloßen Vokabular und modus dicendi herabgesunken war, dann er¬
kennen wir mit größerer Evidenz, als wenn sie es uns selbst wörtlich er¬
klärten, daß die Mythologie, die überlieferte Religion und alles, was da¬
zu gehört, für sie schon vergangen und abgetan war, etwas, das schon
jenseits ihres Weltbilds lag. Die heftigen Angriffe Heraklits, die auf den
Götterkult - auf die Götterbilder - gerichtet sind, wenden sich an die
Volksschichten, in denen jener archaische Glaube noch fortlebt. Aber so¬
wohl er wie Parmenides bekämpfen mehr die neuen Formen der „Reli¬
gion“, die nicht die überlieferten sind, die nicht mehr die rein mytholo¬
gischen sind und die, wie wir gleich sehen werden, zur selben Zeit
aufkamen wie die neue Denkart, in der sich Parmenides und Heraklit
bewegen: die orphische Theologie und die dionysischen ,,Mysterien . Die
Mythologie, die überlieferte Religion der griechischen Polis ist für diese
beiden Denker schon Untergrund. Sie bekümmert sie nicht, sie haben sie
nicht im Auge, sondern sie ist für sie nur ein alter, mechanischer, zur
Gewohnheit gewordener Sprachgebrauch, wie alle anderen, aus denen
jede Sprache besteht. Deshalb kommt es Heraklit nicht darauf an, wenn
es der Satz erfordert, die Erinnyen auftreten zu lassen, und noch weniger,
von Dike zu reden. Dagegen wird er in aller Form aussprechen, daß die
Gläubigen der veralteten Religion ,,keine Ahnung davon haben, was
Götter und Heroen in Wahrheit sind (fr. 5). •
Den Grund, auf dem sie aufbauen, bildet die geistige Tendenz, die ein
Jahrhundert zuvor in ganz Griechenland aufgetaucht war, vor allem in
der reinsten und deutlichsten Form dieser Tendenz, wie sie zum ersten¬
mal in Thaies von Milet in Erscheinung tritt. Kurz, eben das, was man
die jonische Naturlehre genannt hat. Packen wir den Stier gleiA bei den
Hörnern! Heraklit zitiert nur Bias und Thaies ohne anschließende Be-

81
JOSfi ORTEGA Y GASSET

leidigung, und was er von diesem sagt, ist einfach, daß er der erste
Astronom war. Heraklit schätzt also die Denkweise, die Thaies aufbringt,
aber er gibt zu erkennen, daß, im Vergleich zu seinem eigenen Wissen,
das des Thaies und seiner Nachfolger ein spezielles Wissen, daß es nur
Astronomie ist. Um das wohl zu verstehen und den tatsächlichen Grund
und Boden, auf dem diese beiden Proto-Philosophen stehen, vollständig,
das heißt ausreichend, zu erkennen, muß man daran erinnern, daß Tha¬
ies um 584 wirkte. Wir müssen uns also die tiefe Wandlung des griechi¬
schen Lebens um 600 klarmachen, die in rascher Ausdehnung und
schneller Entwicklung bis zum Jahre 500 führt, dem Zeitpunkt, zu dem
diese beiden Proto-Philosophen mit ihrem Denken einsetzen.
Wir leben jeweils nicht nur in einer räumlichen Landschaft, sondern auch
in einer zeitlichen Landschaft, die ebenfalls drei Dimensionen hat, Ver¬
gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Lassen wir zunächst einmal diese
letzte weg. Ein gewisser Horizont der Vergangenheit, der bis zu der Ge¬
genwart reicht, in der wir sind, existiert für uns,' macht einen Teil der
Struktur unseres Lebens aus und ist ein Organ dieses Lebens. Wie jede
Landschaft, so hat auch die Vergangenheit, soweit sie uns siditbar ist,
eine Perspektive, näherliegende und fernerliegende Flächen. Eine jede
dieser Flächen zeitlicher Entfernung wirkt in unserem Dasein verschie¬
den. Wenn man einen Menschen recht verstehen will, muß man sidi mit
einiger Genauigkeit die chronologische Topographie seines Horizontes
vorstellen.
An Hand der Namen, die Heraklit zitiert, vermögen wir mit ausrei¬
chender Klarheit die Perspektive zu rekonstruieren, in der sich ihm die
geistigen Tatsachen der griechischen Vergangenheit bis auf seine Zeit
herab darstellten. Und mit einer leichten Abänderung - weil die Kolo¬
nien des Westens nicht ganz so „weit“ waren wie die des Ostens - gilt
das Bild auch für Parmenides.
In einem Fragment (fr. 42) nennt Heraklit Homer und Archilodios zu¬
sammen. In einem andern, und zwar in dieser Reihenfolge, Hesiod, Py¬
thagoras, Xenophanes und Hekataios (fr. 40). Man beachte, daß die Rei¬
henfolge, in der diese Namen angeführt sind, genau der geschichtlichen
Chronologie entspricht. Heraklit schreibt seine Blitze um 475. Hekataios,
der Heraklit am nächsten ist, war gestorben, als dieser etwa 20 Jahre alt
war. Xenophanes war einige Jahre älter als Hekataios, und Pythagoras
muß um 572 geboren sein. Es sind also drei Männer, die „da waren“, als
Heraklit auf die Welt kam. Hinter ihnen erhebt sich in einer Ferne, die
schon nicht mehr greifbar ist, vollkommen der Vergangenheit angehörig,
Hesiod, der seine Theogonie um das Jahr 700 verfaßte. Fünfzig Jahre
vor ihm ist Homer, und fünfzig Jahre nach ihm Archilochos. Sie sind

82
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

also anderthalb, zwei und zweieinhalb Jahrhunderte von dem jungen


Heraklit getrennt (500). Für die zeitliche Optik des Griechen vor Aristo¬
teles sind anderthalb Jahrhunderte keine genaue Zeit mehr, sondern ein
nicht mehr zu überschauendes Hindernis und reines „Altertum“. Deshalb
sind Homer und Hesiod nicht weiter und nicht näher als Archilochos.
Das Fragment 40 ist nämlich wie ein Diptychon; auf der einen Seite
Hesiod, auf der andern Pythagoras, Xenophanes und Hekataios zusam¬
men. In Fragment 42 wird Homer mit Archilochos zusammen genannt.
Hesiod stellt das Bindeglied zwischen den beiden Namenreihen dar: den
absolut „Alten“ und den absolut „Modernen“. Das sind die beiden gro¬
ßen Begriffe der Vergangenheit für Heraklit.
Dieser nominativen Vergangenheit, die uns, wenn auch verkürzt, in
diesen Fragmenten entgegentritt, fügen wir nun die unpersönliche hin¬
zu, die wir in den anderen giftsprühenden Fragmenten zuvor festgestellt
hatten, also die religiöse Vergangenheit. Auch diese scheint uns in zwei
perspektivische Begriffe geteilt: es gibt ein religiöses „Altertum“, das
mit der für das Religiöse charakteristischen Hartnäckigkeit im Volke
weiterlebt. Das ist die homerische und vorhomerische mythologische Tra¬
dition, die uralten Volksgötter und die Götter der Stadt. Es gibt aber
außerdem eine „moderne“ Vergangenheit des Religiösen, die damals in
den mittleren sozialen Gruppen im Kurs ist: die dionysischen und orphi-
schen Mysterien. Und zwar beginnen beide die griechische Welt um 600
zu überfluten
Die Orphik im besonderen fand ihren Höhepunkt um 550 in einer
Form, die für Griechenland etwas vollkommen Neues war: der Theo¬
logie. Die mythologische Religion war immer unmittelbar gewesen. Sie
gab auch nicht den Anlaß, diese zweite Form der Religion zu schaffen,
die in der Reflexion über die erste besteht und die die Theologie ist. Die
Mythologie ist ihrer Natur nach naiv, und die Theologie ist alles an¬
dere als Naivität. Um 550 verfaßt Pherekydes von Syros seine Theo¬
logie, der andere unter den legendären Namen Epimenides und Onoma-
klitos vorausgegangen waren und folgten. Man muß sich vor Augen hal¬
ten, daß die Orphik und ihre Theologien eine geistige Tatsache von
größter Bedeutung in der öffentlichen Meinung in Griechenland sind, als
Parmenides oder Heraklit anfangen zu denken, und Pherekydes ein
Zeitgenosse Anaximanders ist und der Generation unmittelbar vor Py¬
thagoras angehört. i. -i. u“
Nun wird aber diese ganze große Masse geistiger Vergangenheit, „alt
und „modern“, persönlich und unpersönlich, bei Heraklit und Parmeni¬
des abgelehnt. Sie sind gegen all das, aber ihre Opposition zerfaUt m
zwei Stufen: gegenüber der überlieferten Religion, gegenüber der „Dich-

83
JOSß ORTEGA Y GASSET

tung“ (Homer, Archilochos) ist die Haltung Heraklits recht summarisch.


Er bekämpft sie nicht ernsthaft, weil er weiß, daß für die aufgeweckteren
Leute seiner Zeit nichts mehr davon als Glaube7isgewißheit existierte.
Es lebt nur noch im „Volk“ weiter. Dagegen nimmt er gegenüber dem
„Modernen“ eine Boxerstellung ein. Der Beweis für dieses verschiedene
Verhalten ist offensichtlich und überwältigend. Er liegt in der Tatsache,
daß gegen die Götter und den Bilderkult und gegen Homer und Archi¬
lochos nur einzelne Sätze gerichtet sind, die einigen wenigen Fragmen¬
ten entnommen sind, daß der Kampf gegen die „Modernen“ dagegen
seine ganze Lehre darstellt. Dieser Unterschied wird bestätigt, wenn wir
Parmenides betrachten. Da dieser keine Namen zitiert, fehlen in seinem
Werk gelegentliche Angriffe. Deshalb findet man bei Parmenides über¬
haupt kein Zeichen des Kampfes mit dem „Alten“. Thaies muß, wie wir
sehen werden, die noch herrschende Mythologie überwinden und stellt
sich ihr ironisch gegenüber, Parmenides nicht: er läßt sie unberührt. Da¬
gegen ist seine Lehre wie die Heraklits nach Wesen und Form ein An¬
griff auf das „Moderne“. Man muß die gelegentlichen und überflüssigen
Angriffe, in denen man mit einem Feind zu kämpfen vorgibt, den man
schon tot weiß, von den wesentlichen Angriffen unterscheiden, aus denen
eine Lehre besteht. Xenophanes ist uns ein Beispiel und ein Beweis da¬
für, daß das ganze griechische „Altertum“ in wenigen Jahren überwun¬
den worden war und nicht einmal als Gegner zum Horizont des Aktuel¬
len gehörte. Xenophanes muß um 565 geboren sein, also ein halbes
Jahrhundert vor Heraklit und Parmenides. Die Spuren, die uns noch von
seinen Gedichten geblieben sind, zeigen uns sein erbittertes Ringen mit
den Göttern und mit Homer. Das heißt, sie waren noch da, als er lebte.
Sie sind sein Gegner. Ein halbes Jahrhundert später hat sich die Sach¬
lage geändert. Die Götter und Homer stehen für die aufgeweckte Min¬
derheit nicht mehr zur Debatte. Sie sind hinter dem Horizont verschwun¬
den. Der neue Gegner wird gebildet einerseits von neuen Formen der
Religion, welche die ungeteilte Herrschaft der alten Mythologie und den
Homerismus ersetzen, andrerseits von neuen Formen nicht religiöser und
sogar antireligiöser Art, kurz, von „wissenschaftlichen“ Formen, die aber
jenen beiden Männern von Grund auf unzureichend erscheinen. Wenn
man nicht sorgfältig und gut unterscheidet, auf welchem Plan die einzel¬
nen Dinge für den Denker liegen, der in den letzten zwanzig Jahren des
6. Jahrhunderts geboren ist, wird man nicht mit letzter Klarheit die Be¬
deutung des so überraschenden geistigen Kampfes einsehen, zu dessen
Verständnis uns die Textstücke des Parmenides und des Heraklit ein-
laden.
Nun haben wir aber bis jetzt in den Texten dieser beiden Männer

84
STOCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

nur eine negative Vergangenheit gefunden. Erscheint ihnen denn von


dem, was die Vergangenheit auf geistigem Gebiet geschaffen hatte,
nichts, gar nichts gut? Zweifellos sind es zwei Giganten der Unzufrie¬
denheit und zwei fabelhafte Heroen der Verachtung. Das Gedicht des
Parmenides ist, ungeachtet seiner Feierlichkeit und Förmlichkeit, mit
Schmähungen gespicht, und Heraklit bringt kaum eine Zeile fertig, ohne
daß er ausfällig wird. Warum beide von so grimmiger Art sind, wird
später kommen. Es genüge hier festzustellen, daß es Leute sind, die kei¬
nem Kompromiß zugänglich sind und deren Denken mit einem Radika¬
lismus vorgeht, wie es etwas Ähnliches noch nicht gegeben hat.
Und doch fehlt es bei Heraklit nicht an Anzeichen einer positiven Ver¬
gangenheit. Wir sahen, daß er Bias von Priene und Thaies von Milet
lobend erwähnt. Es sind zwei der „sieben Weisen“®. Thaies hat immer
als der ältere von beiden gegolten, als der Flügelmann in der Reihe.
Ohne jetzt festlegen zu wollen, worin das „Wissen“ dieser „Weisen“
besteht, wollen wir nur zwei Seiten davon vorwegnehmen. Erstens: die
„Weisheit“ der sieben Weisen ist das erste säkularisierte Wissen, das
nach Gegenstand und Methode vollkommen verschieden ist von der frü¬
heren religiös-poetischen Tradition. Zweitens: es ist ein Wissen, das aus¬
drücklich von Individuen kommt. Alles, was vorher „Weisheit“ sein
wollte, trug einen unpersönlichen Charakter. Der Mensch spielte nur
die Rolle eines Substrats für die Äußerung eines Wissens, zu dem er
nicht von sich aus gelangt zu sein vorgab. Dagegen ist es ein wesentliches
Attribut bei der Weisheit der „sieben Weisen“, daß sie von einem be¬
stimmten hervorragenden Individuum stammt. Aus Gründen, die wir
alsbald sehen werden, ist es hier der Weise, der die Weisheit garan¬
tiert und nicht umgekehrt; er ist der Baum, der die Frucht empfiehlt.
Aber auch wenn wir jetzt nicht gleich beginnen zu erforschen, was
diese „Weisheit“ ist, so erkennen wir doch aus der einfachen Lektüre der
Namen, die sie vertreten, daß es zwei Schichten der Weisheit gibt. Da ist
zunächst die „Weisheit“, die allen gemeinsam ist, aber dann gibt es noch
andere, speziellere Formen geistigen Schaffens, deren Bahnbrecher oder
Hauptvertreter einige von ihnen sind. In der Tat ist Thaies nicht nur
einer der sieben Weisen, sondern er ist, wie Heraklit selbst sagt, der
„erste Astronom“, das heißt, der Bahnbrecher der jonischen „physikali¬
schen Physiologie“, der erste Vertreter „wissenschaftlichen“ Denkens,
den es auf unserem Planeten gegeben hat. Periander ist der Ty¬
rann. Die „Tyrannis“ ist eine Erfindung, die gleichzeitig ist mit der „Wis¬
senschaft“. Solon war der Gesetzgeber von Athen. Denn ebenfalls um
600 erfindet man diese Form geistigen Schaffens, die die Gesetzgebung
darstellt, die von einem Individuum ausgeht, und damit die literarische

85
JOSfi ORTEGA Y GASSET

Gattung des „Gesetzeschreibens“ Nun ist aber das einzige in dieser


menschlichen Welt, das Heraklit, abgesehen von der Vernunft, für schät¬
zenswert hält, eben das Gesetz, genauer, das vom Menschen geschmie¬
dete Gesetz.
So ist also die „positive Vergangenheit“ Heraklits nicht unbedeutend,
denn die jonische Physiologie und ihre Ableitungen, Tyrannis und Ge¬
setzgebung, stellen zwei Drittel der „Modernität“ dar, die das Geistes¬
leben der Griechen zwischen 600 und 500 aufzuweisen hat.
Wenn wir jetzt die Bilanz ziehen, stellen wir fest, daß der Grund,
auf dem Parmenides und Heraklit standen, von einem seltsamen Knäuel
geistiger Initiativen gebildet wurde, die plötzlich, wie eine Eruption, die
Kruste des „traditionellen“ griechischen Lebens um das Jahr 600 durchbra¬
chen. Aus diesem Knäuel lassen sich die folgenden Themen entwickeln:
dionysische Mysterien, Orphik, Proto-Geographie und Proto-Historie,
jonische Physik, Arithmetik, pythagoreische Mystik und Ethik, Tyrannis
und Gesetzgebung. Ein Teil dieses Grundes türmt sich vor Parmenides
und Heraklit als der Gegner auf, denn unser Gegner ist immer unser
Zeitgenosse, das heißt, Pflanze desselben Bodens und etwas, mit dem wir
nicht wenig gemeinsam haben. Mit dem, was uns vollkommen fremd ist,
kämpfen wir nicht.
Aber mit all dieser Suche haben wir nicht mehr erreicht als ein In¬
ventar menschlicher Formen von heterogenem Aspekt. Jetzt müssen wir
versuchen, sie zu verstehen, und wir verstehen sie erst dann, wenn wir
ihre gemeinsame Wurzel finden und damit den Schlüssel, der uns die
Gleichheit der Inspiration entdecken läßt, die sich unter ihrer offensicht¬
lichen Verschiedenheit und ihrem Auseinanderstreben birgt. Sie alle er¬
leben ihr erstes Aufblühen in den ersten zwanzig Jahren des 6. Jahr¬
hunderts. Die Proto-Philosophie ist die Frucht, die dieser Frühling genau
hundert Jahre später zeitigte, zwischen 500 und 470. Damit ist nun alles
vorbereitet, so daß wir die historiologische Operation versuchen können:
die Rekonstruktion der Entstehung.

Man versteht eine Epoche, indem man von einer oder versckiiedenen -
sehr wenigen - Grundtatsachen ausgeht, die gleichsam ihren Kern bil¬
den. Was Griechenland zwischen 600 und 500 war, hat seine Wurzel in
dieser bestimmten Tatsache: daß die hellenische Kolonisation, die ja nach
allen vier Himmelsrichtungen ging, um das Jahr 650 ihre äußersten
Grenzen erreicht. Die lebendige Flut der Ausdehnung des griechischen
Volks ist an ihrem Höhepunkt angelangt*. Unmittelbar darauf - und
die Tatsache würde eine umfassendere Betrachtung verdienen - beginnt
die koloniale Peripherie auf das kontinentale und metropolitane Grie-

86
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

dienland zu wirken. Vorausgegangen war, ein Jahrhundert vorher, Ho¬


mer, der schon ein typisches Kolonialprodukt ist.
Die griechische Kultur, wenn wir das so nennen, was dann unsere
„Klassik“ ausmacht, beginnt mit einem großen Vorsprung in den Kolo¬
nien. Vor allem Wissenschaft und Philosophie waren in ihrem Ursprung
ein koloniales Abenteuer. Nach zwei Jahrhunderten erst bekommt Athen
seinen ersten einheimischen Philosophen, deren es nie viele haben wird.
Immer wenn man von Philosophie gesprochen hat, denkt man zuerst an
Athen. In Wahrheit ist es gerade fast umgekehrt, und man müßte sich
einmal fragen, ob Athen nicht eher ein Hindernis für die Philosophie
war, denn seine hartnäckige reaktionäre Haltung, die seiner demokrati¬
schen Einstellung entspricht, war die Ursache der pathologischen Ent¬
wicklung, die das griechische Denken nahm, und ließ es nicht zu seiner
eigentlichen Reife kommen. Aber schon dieses letztere - zu vermuten,
daß das griechische Denken angekränkelt und seine Entwicklung deshalb
anormal sei - ist etwas, das nicht nur den Schwärmern des Hellenentums
wie eine Blasphemie klingt, sondern überhaupt all denen, die glauben,
man könne mit geschichtlichen Tatsachen als solchen nichts anderes an¬
fangen als sie aufschreiben. Das ist historischer Positivismus. Ich glaube
aber, daß die Geschichte ein überreiches Repertorium von möglichen
Operationen ist, die wir an den Tatsachen vornehmen müssen und die
gerade dann erst beginnen, wenn die Tatsache schon aufgezeichnet ist.
Geschichte, sagte ich, ist nicht nur, die Vergangenheit erzählen, sondern
sie verstehen, aber jetzt füge ich hinzu, sie verstehen muß auch heißen,
sie kritisieren, und infolgedessen sich begeistern, sich ängstigen und sich
darüber erzürnen, sie beanstanden, loben, verbessern, ergänzen und dar¬
über lachen. Nein, es ist keine Redensart: die Geschichte ist, ernstlich,
als Ganzes eine Lebensform, an der der geschichtsschreibende Mensch
ganz teilnimmt, wenn er wahrhaft Mensch ist - also, mit seinem Ver¬
stand, aber auch mit der ganzen Meute seiner vorzüglichsten Leiden-
sdiaften, cum ira et studio. . . i i j
Die Philosophie ist eine Frucht unter anderen, die in Griechenland
reift, als die Völker in die „Epoche der Freiheit“ eintreten.
Es ist ein Irrtum, der die gewaltige Sache trivialisiert und herabgemin¬
dert hat, das Wort „Freiheit“ so zu verstehen, daß man es in erster Lime
oder ausschließlich auf das Recht und die Politik bezieht, als seien sie die
Wurzel, aus der die Form menschlichen Lebens emporwachst, die wir
Freiheit nennen. Denn darum geht es in Wahrheit. Die Freiheit ist le
Gestalt, die das gesamte Leben des Menschen annimmt, wenn seine ver¬
schiedenen Komponenten den Punkt in ihrer Entwicklung erreichen, an
dem sich zwischen ihnen eine bestimmte dynamische Gleichung ergibt.

87
JOSß ORTEGA Y GASSET

Um eine klare Vorstellung davon zu haben, was „Freiheit“ ist, muß man
mit einiger Genauigkeit die Formel dieser Gleichung definiert oder ge¬
funden haben.
Wahrscheinlich durchläuft jede Zivilisation oder jedes curriculum vitae
einer Gesamtheit von verwandten Völkern diese Form des Lebens, die die
Freiheit ist. Es ist eine leuchtende und kurze Epoche, die sich wie ein
Mittag zwischen dem Morgen der Archaik und dem abendlichen Nieder¬
gang, der Versteinerung und Nekrose seines Alters auftut. Die entschei¬
denden Epochen einer Zivilisation lassen sich als Veränderungen der
Grundbeziehung zwischen den beiden großen Komponenten des mensch¬
lichen Lebens bestimmen und unterscheiden, nämlich den Bedürfnissen
des Menschen und seinen Möglichkeiten.
In der ardiaischen oder frühesten Epoche hat der Mensch den Ein¬
druck, daß der Kreis seiner Möglichkeiten kaum den seiner Bedürfnisse
überschreitet. Was der Mensch in seinem Leben tun kann, fällt seiner
Empfindung nach fast genau mit dem zusammen, was er tun muß. Der
Spielraum, der ihm bleibt, ist sehr gering, oder anders ausgedrückt: der
Mensch hat noch sehr wenig zu tun. Das Leben stellt sich ihm nicht un¬
ter dem Charakter des „Reichtums“ dar. Dazu ist zu bemerken: wie es
ein Irrtum war, die Idee der Freiheit der Politik und dem Recht zuzu¬
ordnen, so ist es auch falsch, wenn man den Ausdrudc „Reichtum“ in
erster Linie dem Wirtschaftlichen zuweist. In beiden Fällen ist die wahre
Beziehung, daß die juridische Freiheit und der wirtschaftliche Reichtum,
wenn auch sehr wichtige und bezeichnende, so doch nur zwei Auswirkun¬
gen oder Äußerungen der allgemeinen Freiheit und des Lebensreichtums
sind. Reichtum in wirtschaftlichem Sinn bedeutet doch, daß der Mensch
über viele Möglichkeiten zu besitzen und zu erwerben verfügt, oder kon¬
kret, daß er viele Dinge haben, kaufen und verkaufen kann. Das Viel
und das Wenig ist zu verstehen im Hinblick auf das subjektive Bewußt¬
sein, das der Mensch hinsichtlich seiner Bedürfnisse hat. Verallgemeinert
man diesen Begriff auf alle anderen Ordnungen der menschlichen Exi¬
stenz, die nicht wirtschaftlicher Art sind, so ergibt sich folgendes: bis zu
einem gewissen Zeitpunkt haben die Menschen eines Kulturkreises, einer
bestimmten Völkergemeinschaft den Eindruck, daß ihnen in ihrem Leben
kaum mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen als gerade die unbedingt
von den Bedürfnissen erforderten. Leben heißt da, sich an das halten,
was es gibt, und Gott sei Dank, daß man das Nötige zum Leben hat!
Ein bißchen Essen, ein bißchen Wissen, ein bißchen Vergnügen. Leben
ist Armut. Der Mensch lebt, indem er das einfache Repertorium von in¬
tellektuellen, technischen, zeremoniellen, festlichen, politischen Verhal-
tensmöglidikeiten praktiziert, wie sie die Tradition mühsam geschaffen

88
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

und angehäuft hat. Bei dieser Lebensgleichung ist das Individuum nie
in der Lage, auswählen zu können: das würde nämlich voraussetzen, daß
der Kreis der Möglichkeiten wesentlich größer wäre als der der Bedürf¬
nisse ®.
Allmählich werden die Beziehungen zwischen den Völkern, die dieses
geschichtliche Gebilde ausmachen, zahlreicher, und auch der Umgang, die
Kenntnis und der Handel mit der Peripherie dieses Gebildes, also mit
dem „Ausland“, nimmt zu. Eine Erweiterung des Lebens, die zunächst
räumlich ist, tritt ein. Man lebt in einer größeren Welt. Damit beginnt
die Entwicklung von Handel und Gewerbe; man entdeckt Bergwerke an
fernen KüstenEs kommt wirtschaftlicher Reichtum auf. Gleichzeitig
entstehen neue Techniken, neue Künste, neue Vergnügen im Überfluß.
Der Mensch macht die Erfahrung, daß das Leben nicht nur in dem be¬
steht, was da ist, sondern daß es neue Wirklichkeiten schafft, aus sich
herausholt, daß das Leben also nicht nur durch seine Bedürfnisse defi¬
niert ist, sondern daß es dazu nodi aus überquellenden Möglichkeiten
besteht, die jene überfluten. Das Wort hat sich uns ungewollt aufge¬
drängt: das Leben ist Überfluß, ein Begriff, der das hyperbolische Ver¬
hältnis zwischen den Möglichkeiten und den Bedürfnissen ausdrückt.
Es gibt mehr Dinge, man kann mehr tun als nötig ist. Es beginnt die
Üppigkeit oder der Luxus. Ipso facto bemerkt der Mensch, daß Leben
ein ganz anderes Problem ist, als es in der archaischen Epoche war. Da¬
mals war es ein Sichhalten an das, was es gibt, und ... Gott sei Dank!
Resignation, demütige Dankbarkeit Gott gegenüber, wenn er das unbe¬
dingt Notwendige gibt. Aber jetzt ist das Problem fast umgekehrt: man
muß wählen unter vielen Möglichkeiten. Sinnbild des Lebens wird das
Füllhorn. Man muß auslesen. Das Grundgefühl, aus dem heraus man
existiert, ist das Gegenteil der Resignation, denn Leben heißt nun, daß
einem Dinge überflüssig sind. Es beginnt das Grundgefühl der An¬
spruchsfülle, des existentiellen Übergewichts, des „Humanismus“. Aus
der Erkenntnis, daß neue Dinge erfunden worden sind, wird eine Funk¬
tion, und der Mensch macht sich planmäßig daran, zu erfinden. Neues
Leben schaffen wird eine normale Lebensfunktion - etwas, was in der
archaischen Epoche niemand begriffen hätte. Es beginnen die Revolu¬
tionen.
Hand in Hand damit geht, daß der Mensch nicht mehr ganz der Tra¬
dition verschrieben ist, wie groß auch der Teil seines Lebens sei, der noch
von ihr beeinflußt ist. Er muß nun selbst, ob er will oder nicht, unter
den überschüssigen Möglichkeiten wählen. Vergessen wir unter diesen
nicht die intellektuellen! Da die Völker sich aufsuchen, da sie reisen und
sich ins Exotische versenken, hat man verschiedene Arten kennengelernt.

89
JOSe ORTEGA Y GASSET

die Dinge zu sehen, modi res considerandi. Statt an ein einziges und
fragloses Repertorium von Meinungen - das ist die Tradition - gebunden
zu sein, steht der Mensch vor einer großen Auswahl und ist gezwungen,
von sich aus die Ansicht auszuwählen, die ihm am meisten einleuchtet.
Die Möglichkeit und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, die Auf¬
fassung zu wählen, die man von etwas hat, ist das Erlebnis, auf dem das
beruht, was wir „Vernunft“ nennen. Und zwar so, daß wir, ohne daß es
vielleicht der Leser bemerkt hat, diese Situation mit denselben Worten
beschreiben konnten, mit denen einst Aristoteles die Wissenschaft de¬
finierte:
„Die Wissenschaft ist die überzeugendste Mutmaßung.“
Sieht man damit klar, was „Lebensreichtum“ bedeutet? Die Existenz
des Menschen und die Welt, in der sie verläuft, sind gewaltig angewach¬
sen, haben sich über und über mit Inhalten angefüllt. Zum erstenmal
in dieser Zivilisation fühlt der Mensch, daß das Leben die Mühe lohnt,
gelebt zu werden. Das bringt aber einen Wandel in der Haltung gegen¬
über der Religion mit sich. Die Religion ist immer Transzendenz, auch im
Falle einer sehr wenig transzendenten wie der griechischen. Die Götter
sind ultra- oder überweltliche Mächte. Bei dem armen Leben bedarf der
Mensch Gottes in dem Maße, wie er aus Gott lebt. Jede Handlung, jeder
Augenblick seiner Existenz ist auf die Gottheit bezogen, mit ihr verbun¬
den. Selbst die Geräte, mit denen er lebt, sind so unbeholfen, so wenig
wirksam an sich, und als bloße Sachen so weltlich, daß der Mensch wenig
Vertrauen in ihre Hilfe hat und nur der Kraft vertraut, die ihnen der
Gott mittels eines magischen Ritus einflößt. Das heißt, daß sich das Le¬
ben selbst und diese armselige Welt kaum zwischen den Menschen und
Gott einschaltet. Aber wenn das Leben anschwillt und die Welt sich be¬
reichert, so schiebt sich das Weltliche mit wachsendem Gewicht zwischen
den Menschen und Gott und trennt sie. Man bejaht diese Welt und das
Leben in ihr als etwas an sich Wertvolles. Irreligiosität ist das Ergebnis.
Wie die obengenannten Gründe den Menschen von der Tradition los¬
lösen, so bringt ihn diese Beschäftigung mit dem weltlichen Leben von
der Religion ab. Das führt letzten Endes dazu, daß bei dem reichen Le¬
ben der Mensch nirgends mehr Wurzeln hat, daß er in der Luft hängt.
Er schwebt im luftigen Element seiner wachsenden Möglichkeiten. Das
ist die unvermeidliche Folge: die Stellung und die Sicherheit, die für die
Existenz des Menschen lebensnotwendig sind, werden ihm nicht mehr
ohne weiteres und ohne eigenes Dazutun dadurch gegeben, daß er von
Geburt an mit der unbestrittenen Tradition verhaftet ist, sondern der
Mensch selbst muß sich mit vollem Bewußtsein eine Grundlage schaffen,
einen festen Boden, auf den er sich stützen kann. Es bleibt ihm also nichts

90
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

anderes übrig, als sich mit dem flüssigen, ätherischen Material, das die
Möglichkeiten sind, selbst eine Welt und ein Leben aufzubauen. Das
heißt aber, das einfache Existieren zu „rationalisieren“, statt spontan,
auf gut Glück und ohne viel Umstände zu existieren.
Als ich weiter oben sagte, in den „Epochen der Freiheit“ lebe der
Mensch aus einem Gefühl des nie zu befriedigenden Lebensanspruchs und
des existentiellen Übergewichts heraus, so war darin nicht das Attribut der
Sicherheit enthalten. Das menschliche Leben ist immer Unsicherheit; sie ist
in jeder Lebensgleichung enthalten, wenn sie auch in jeder ein verschiede¬
nes Gesicht annimmt. Die Unsicherheit des Reichen ist eine andere als die
des Armen. So ist die Unsicherheit des „freien“ und übermächtigen Men¬
schen recht seltsam: vor lauter Vieltunkönnen weiß er nicht, was er tun soll,
er hat den Eindruck, daß er sich in bloßen Möglichkeiten verliert und
verflüchtigt. Ein konkretes Beispiel dieses Gefühls des Sichverlierens und
des Schiffbruches im Überfluß (schon das Wort „Über-fluß“ bewahrt das
lebendige Bild eines Flusses, der uns überschwemmt und mitreißt) " er¬
gibt sich in der Ordnung des Denkens, das heißt, der Meinungen, die
für diese Epochen recht bezeichnend ist: es ist der Zweifel. Der Zweifel
ist nicht einfach ein Nichtglauben. Wer gar keine Meinung über eine
Angelegenheit hat, weiß nichts, aber er zweifelt nicht. Der Zweifel setzt
voraus, daß uns mehrere positive Meinungen vorliegen, von denen es
jede verdienen würde geglaubt zu werden, aber die gerade deshalb
wechselseitig ihre Überzeugungskraft paralysieren. Der Mensch steht
zwischen den verschiedenen Meinungen, ohne eine davon unter den Fü¬
ßen zu haben, die ihn hielte - deshalb schlüpft er zwischen den vielen
möglichen „Wissen“ durch und fällt, fällt in sein unsolides, flüssiges
Element ... fällt in ein Meer von Zweifeln. Der Zweifel ist das Schwan¬
ken des Urteils, das heißt, ein verzweifeltes Umsichschlagen in den Wel¬
len Deshalb ist der Zweifel ein „Geisteszustand“, der kein Zustand ist,
der nicht beständig ist. Der Mensch kann nicht darin verweilen. Er muß
heraus aus dem Zweifel, und dazu sucht er ein Mittel. Das Mittel, das
uns aus dem Zweifel heraushilft und uns in die feste Überzeugung ver¬
setzt, ist die Methode. Jede Methode ist die Reaktion auf einen Zweifel.
Jeder Zweifel ist die Forderung nach einer Methode. Die beiden Dinge
mit der größten Einfachheit vereinigt zu haben, ist das wunderbare B^ei-
spiel geistiger Klarheit und Eleganz, das uns Descartes gab, als er den
„methodischen Zweifel“ erfand.

Welchen Sinn kann der Satz des Thaies haben: „alles ist voll von Göt-
tern“? Da in jeder Aussage einer einem andern etwas sagt, hat der binn
eines Textes zwei Dimensionen. Die eine besteht in dem, was der Text zu

91
JOSfi ORTEGA Y GASSET

sagen scheint. Die andere besteht in der Tatsache, daß ein bestimmter
Mensch das, was er sagt, einem bestimmten anderen Menschen oder einer
Menschengruppe sagt. Erst die Vereinigung der beiden Dimensionen gibt
dem Text einen konkreten Sinn.
Versuchen wir, Thaies’ Worte im rein wörtlichen Sinne zu verstehen.
Das würde bedeuten, daß es ebensoviele Götter wie Dinge und Ereignisse
gibt, und daraus ergäbe sich, daß man zwischen Dingen und Göttern nicht
unterscheiden dürfte oder, noch genauer, daß es keine Dinge gibt, son¬
dern nur Götter. Die Götter und die Dinge können sich nidit gegenseitig
durchdringen, und wenn alles voll von Göttern ist, so muß es von Dingen
leer sein.
Es ist also nicht möglich, daß Thaies hier das Wort Götter in seiner
normalen und direkten Bedeutung gebraucht - der Bedeutung, die es in
der religiösen Tradition inne hat -, sondern in einer indirekten, neuen
Bedeutung. Das primäre Attribut der Götter, die Götter sensu recto sind,
war es, das Außergewöhnliche gegenüber dem Gewöhnlichen darzustel¬
len, die privilegierte und ungewohnte Wirklichkeit gegenüber der all¬
täglichen und gewohnten. In gewissen Punkten und in gewissen Momen¬
ten der Wirklichkeit wirkte der Gott im Gegensatz zu der übrigen
Wirklichkeit, wo der Gott nicht erschien. Die älteste Einteilung, die der
Menschengeist getroffen hat, ist die zwischen dem Heiligen und dem Pro¬
fanen. Es schien auf der Welt gewisse außergewöhnliche, sozusagen ari¬
stokratische Tatsachen zu geben, in denen der Gott wirkte und ersdiien.
Welchen Sinn kann diese Demokratisierung, diese Universalisierung des
Göttlichen haben, wie sie uns der Satz des Thaies vorzuschlagen scheint?
Offenbar doch, daß die Götter nicht mehr so selten und außergewöhnlich
sind, sondern allgegenwärtig und alltäglich werden, das heißt, daß bei
Thaies das, was er Götter nennt, sein primäres Attribut verloren hat, daß
sie aufgehört haben, Götter im eigentlichen Sinn zu sein, und daß sie sich
in bloße Dinge verwandelt haben, oder besser gesagt, in etwas, das
jedem Ding innewohnt und das Prinzip seiner Wirklichkeit und seiner
Verhaltensweise ist. Die Götter sind zu Ursachen erniedrigt worden.
Die Äußerung eines geometrischen Lehrsatzes ist eine Aussage, die
sich an keinen bestimmten Menschen wendet, sondern an den Menschen
im allgemeinen, an das „vernünftige Wesen“, von dem Kant mit solcher
Begeisterung spricht. Diese Unbestimmtheit des Gesprächspartners äußert
sich darin, daß das in dem Lehrsatz Gesagte sich nicht auf eine mehr oder
weniger abweichende Meinung bezieht, der gegenüber sein Inhalt sich
behaupten wollte. Deshalb erweckt der Lehrsatz auch nie den Eindruck,
als sei er ein Stüde eines Dialogs. Nun hat aber der Satz des Thaies im
wesentlichen dialoghaften Charakter. Er berichtigt und verbessert eine

92
STOCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE"

zuvor bestehende Meinung, genau gesagt die „öffentliche Meinung“ oder


allgemeine Doxa, wonach nur einigen privilegierten Erscheinungen Göt¬
ter innewohnen. Nach der Form der Äußerung gehört der Satz des Tha¬
ies zu dem Stile der Sprüche der sieben Weisen. Diese waren ein Dialog
mit der öffentlichen Meinung oder mit den übrigen Weisen. XaXmbv söd'-
Xöv e/xfievag, sagt Pittakos, und Solon antwortet: XaXBJvä tä
In seinem ausgezeichneten Aufsatz „Der Glaube an die olympischen
Götter“ (in „Das neue Bild der Antike“, Bd. 1,1942) sagt Bruno Snell,
„daß der Gedanke, die Götter könnten vielleidit nicht existieren, über¬
haupt erst um die Mitte des 5. Jahrhunderts hat geäußert werden kön¬
nen“ (S. 113). Die Formulierung ist vorsichtig und deshalb unklar. Sie
enthält nämlich die Annahme, daß zwischen dem 6. Jahrhundert und
jenem Zeitpunkt der Atheismus unter den Griechen Fortschritte gemacht,
sich verbreitet und verschärft hätte. Nach Snell ist Protagoras der erste,
der klar und deutlich die Existenz der Götter leugnet. In Wahrheit sagt
Protagoras nur, man könne nicht wissen, ob es Götter gebe oder nicht,
und welches ihre Formen seien, wenn es sie gebe, eine These, die viel
von ihrer Kühnheit verliert, wenn man bedenkt, daß sie zu dem Gesamt¬
bild seines skeptischen Relativismus gehört. Aber stellen denn diese
Worte des Protagoras eine effektivere Leugnung der Götter dar als die
Heraklits und die des Xenophanes? Letzten Endes setzt Protagoras an
die Stelle der Götter keine andere Wirklidikeit, während Xenophanes
und Heraklit das Pantheon räumen und statt von der Vielheit der Göt¬
ter, die das Wesen der griechischen Religion ausmacht, von einem Gott
sprechen, dessen erstes Attribut es ist, der einzige zu sein. Dasselbe hatte
schon Anaximander getan, der natürlich als Atheist angesehen wurde.
Der Gott, der am Ende einer Überlegung erscheint, ist natürlich nicht ein
Gott der Religion, sondern ein theoretisches Prinzip. Der Mensch, der es
entdeckt, muß sich zuvor vom religiösen Glauben losgemacht haben, und
als er sidi in einer Welt verloren sah, deren traditionelle Fundamente
weggerissen worden waren, muß er das Bedürfnis empfunden haben, in
freier Wahl und Überlegung ein neues Fundament zu suchen. Diese freie
Wahl der Prinzipien ist es, was man „Rationalität“ genannt hat.
Wenn man dieser freien Wahl der Prinzipien den Namen Philosophie
gibt, so erscheint es nicht zweifelhaft, daß die Erschaffung der Philoso¬
phie eine Epoche des Atheismus voraussetzt. Im Laufe des 6. Jahrhun¬
derts hörte für gewisse Gruppen unter den Kolonialgriechen die Religion
auf, eine Form möglichen Lebens zu sein, und deshalb mußten sie gegen¬
über dem Dasein eine Haltung erfinden, die von der religiösen verschie¬
den und ihr entgegengesetzt war. Nirgends äußert sich diese gegensätz¬
liche Stellung deutlicher als in dem Brauch, mit dem Namen „Gott

93
JOSe ORTEGA Y GASSET

Wesenheiten zu benennen, deren Attribute die „Volksgötter , die die


Religion der Griechen darstellten, unmöglich machten. Wie Cicero uns
überliefert, sagte Antisthenes in seiner Naturlehre: Populäres Deos mul-
tos, naturalem unurn esse (De natura deorum I, XIII).
Seit ältester Zeit ist das Wort „Gott“ in Griechenland von einer gro-
ßen semantischen Beweglichkeit. Plutarch sagt in seiner Abhandlung „Wie
der junge Mensch das Lesen der Dichter aufzunehmen hat“: „Man muß
wissen und darf nie vergessen, daß die Wörter Zeus, Zin, bei den Dich¬
tern - er bezieht sich dabei auf Homer - manchmal den Gott selbst,
manchmal aber auch das Glück und oft auch das Schicksal bedeuten“ (§6).
Ähnlich zeigt sich Cicero im ersten Buche von De natura deorum ganz
offenbar überrascht darüber, daß die Philosophen die Wörter t^’sög, 'd'etög,
öalficov usw. auf die verschiedensten Dinge anwenden, sie also wider¬
sprüchlich gebrauchen. So findet er bei Aristoteles, daß Gott Geist ist,
aber zugleich die Gestirne, die in unaufhörlicher Bewegung kreisen. Wenn
wir den ‘Timaios lesen, fällt uns die wiederholte Berichtigung auf, zu der
sich Platon genötigt sieht, wenn er in diesem Dialog von den „Göttern“
spricht. Zuerst versteht er das Wort in seiner vollen religiösen Bedeu¬
tung, aber alsbald bemerkt er, daß dann der Satz keinen Sinn hat, weil
diese Götter nichts anderes sind als die Sterne und die Erde als Gestirn.
Dies nötigt ihn, sich zu korrigieren und den Begriff „Götter“ als physi¬
schen Begriff aufzufassen. Man beachte den klaren Unterschied und die
Komik dieser doppelten Bedeutung, wenn er unterscheidet zwischen „den
sich drehenden oder kugelförmigen Göttern und jenen, die erscheinen,
wann es ihnen beliebt“^®. Daraus ergibt sich, daß diese Wörter kaum
noch einen gewissen Wirklichkeitscharakter bezeichneten - denn dieser
müßte bestimmt sein und würde keine Widersprüchlichkeit dulden
sondern daß sie sich in Titel ontologischen Adels verwandelt hatten, die
man an die verschiedensten Wesen verleihen konnte. Burnet glaubt,
daß dieser zweideutige Gebrauch des Ausdrucks Gott durch die Philo¬
sophen - wie man in den Wolken von Aristophanes sehen kann - der
Grund der heftigen Reaktion gegen sie war, die sich in der öffentlichen
Meinung in Athen bemerkbar machte.
Aber noch stärker als in irgendeinem Satz, in dem die Existenz der
Götter der Religion ganz offen geleugnet wird, tritt der Atheismus der
jonischen Naturlehre in der Denkweise zutage, die ihr zugrunde liegt.
Diese Denkweise stellte die vollkommene Umkehrung des mythischen
Logos dar, in dem die Götter auftauchen. Die menschliche Wirklichkeit,
die „übliche Welt“ ist durch eine beschränkte, zufällige und zufalls¬
bedingte Potentialität charakterisiert. Diese Erfahrung menschlichen Un¬
vermögens - die das Leben selbst ist - erzeugt einen geistigen Rückstoß

94
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

und zwingt aus „dialektischer Notwendigkeit“ dazu, eine andere, gegen¬


sätzlich charakterisierte Wirklichkeit zu denken: eine Wirklichkeit un¬
beschränkter, selbstsicherer, nicht zufallsgebundener Potentialität. Diese
Wirklichkeit ist „das Göttliche“, die geheimnisvolle und heilige Materie,
aus der man besondere, spezielle Mächte und Götter schnitzt, von den
Augenblicksgöttern bis zu dem Gott mit ausgeprägter Biographie.
Um die menschliche Wirklichkeit zu „erklären“ oder zu begründen,
die die gegenwärtige Wirklichkeit ist, ersann also der mythische Logos
eine andere, frühere Wirklichkeit - in einem absoluten Vorher oder einer
Vorzeit, die eben deshalb da war, weil in ihr das möglich war, was in
der menschlichen Gegenwart unmöglich ist. Das jonische Denken - nicht
nur bei den „Physiologen“, sondern ebenso bei Hekataios - versucht um¬
gekehrt, das Vorher - den Ursprung der Dinge, die Physis - zu erklä¬
ren, indem es diese nach dem Gesetz der Erfahrung unseres Lebens kon¬
struiert. Es ist also die Gegenwart, welche die Vergangenheit erklärt,
die, so erklärt, zu einem effektiven Vorher wird, zu einer Vergangenheit,
die mit der Gegenwart zusammenhängt und mit ihr verbunden ist, in ihr
fortdauert und ihr so als dauerndes Fundament dient. So entsteht bei
Hekataios die historische Theorie als geistige Konstruktion der Vergan¬
genheit mittels der Gegenwart. Die traditionelle Auffassung wird für
ungültig erklärt, als Schwindel gebrandmarkt, und im Gegensatz dazu
erscheint die neue Auffassung als die feststehende, das heißt, die wahre.
Es sdieint also für die Wahrheit wesentlich zu sein, daß sie sidi über
einem Grund von Irrtümern erhebt, die als solche erkannt sind.
Die Einführung einer Denkweise, die so radikal die traditionelle um¬
kehrt und aus der Welt eine im wesentlichen profane Wirklichkeit macht,
erscheint nicht möglich, wenn wir uns jene ersten Denker nicht frei von
religiösem Glauben vorstellen, und das in höchstem M^aße. Die Tatsache,
daß bei den jonischen Physiologen nicht ein einziger Text auftaucht, in
dem den traditionellen Göttern die geringste Rolle zugewiesen wird,
müßte eine viel größere Überraschung hervorrufen, als sie gewöhnlich
zum Ausdruck gebracht wird. Deshalb darf man jenen Satz des Thaies
nicht in dem Sinne auslegen, daß seine allgegenwärtigen Götter „gött¬
lichen“ Charakter hätten, sondern ganz im Gegenteil. Der Satz ist leicht
ironisch und eher ein Euphemismus.
Es ist auch wichtig, die radikale Verschiedenheit des Stils der joni¬
schen Physiologen von dem der Denker, welche die Philosophie begrün¬
deten - Heraklit, Parmenides, Xenophanes -, zu beachten. Jene legen
gleichmütig ihre Auffassungen dar, während diese sich erzürnt gegen dm
Menge wenden und ihre Vorgänger namentlich oder generell mit Schmä¬
hungen überhäufen. Die Sache ist so offensichtlich, daß man sich nur

95
JOSE ORTEGA Y GASSET

wundern muß, daß noch keine Studie darüber erschienen ist. Warum be¬
ginnt die Philosophie mit Schmähungen? Zwischen den Joniern und He-
raklit ist viel Zeit vergangen. Der Tod des Anaximenes, des letzten der
Jonier, dürfte in die Zeit der Geburt Heraklits fallen. Das heißt, daß
sich im Laufe des 5. Jahrhunderts ein neuer Menschentyp gebildet hatte:
der „Denker“. Dieses Wort ist unbestimmt, aber das ist gut so, denn
auch die Wirklichkeit, die es bezeichnet, war unbestimmt. Was der „Den¬
ker“ eigentlich sei, wird erst ein Jahrhundert später in der platonischen
Akademie festgelegt. Die Generation Heraklits und Parmenides’ findet
diese neue Menschengestalt von typischem Charakter und als Beruf schon
vor, wenn auch von einem etwas unklaren Schimmer umgeben. Die ersten,
die diese Beschäftigung - die Theorie - ausgeübt hatten, konnten sich
selbst noch nicht als Denker sehen, so wenig wie sich Julius Caesar als
Caesar sehen konnte. Ihre Tätigkeit war das konkrete Tun eines Indivi¬
duums. Es mußte erst eine ganze Reihe von Individuen diese Tätigkeit
ausüben, bis sie ihren individuellen Charakter verlor und zum Typus
wurde, einen Menschentyp formte und so etwas wie einen Beruf oder
ein Amt. Daher der veränderte Stil. Heraklit spricht trotz seiner hyper¬
trophischen Individualität wie ein Magistrat des Denkens. Wohl ver¬
standen, sie wenden sich noch nidit ans Volk, das von diesem neuen Men¬
schentyp noch gar nichts gehört hatte. Sie sprechen zu einer Minderheit,
zu kleinen Gruppen, die den eigenartigen geistigen Erzeugnissen der
Zeit ihre Aufmerksamkeit schenken - die Homer und Hesiod kommen¬
tieren, die sich über die orphischen Theologien unterrichten, die aber zu¬
letzt doch den traditionellen Auffassungen verhaftet bleiben. Diese Grup¬
pen stellen für Heraklit und Parmenides die Menge dar, und gegen sie
entladen die beiden einen großen Teil ihrer Schmähungen. Die Be¬
schimpfung der Menge ist gewissermaßen die dem „Denker“ eigene Ton¬
art, denn seine Mission, seine berufliche Aufgabe ist es, „eigene“ Ideen
zu besitzen, die der Doxa oder öffentlichen Meinung entgegengesetzt
sind. Um mit dieser übereinzustimmen, war dieses neue Amt nicht not¬
wendig. Daher rührt bei Heraklit und Parmenides das ganz klare Be¬
wußtsein, daß ihre Auffassung, da sie im Gegensatz zur Doxa dachten,
dem Wesen nach paradox sei. Dieser paradoxe Wesenszug hat sich im
Verlaufe der ganzen philosophischen Entwicklung erhalten. Ähnlich
wird Arnos, der erste hebräische „Denker“, der ein Zeitgenosse von Tha¬
ies ist, darauf hinweisen, daß Gott, als er ihn in seinen Beruf ein¬
setzt, ihm den Auftrag gibt: „Prophezeie gegen dein Volk.“^'‘ Jeder
Prophet ist Prophet gegen und ebenso jeder „Denker“. An der Stelle
seiner Schriften, da Platon konkreter von jenen ersten „Denkern“ spricht,
unterstreicht er ganz ausdrücklich die paradoxe und daher abstruse Form

96
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

ihres Denkens, als er sagt: „Sie gehen über uns hinweg und verachten
allzusehr die einfachen Menschen, und ohne sich zu kümmern, ob wir
ihnen folgen können oder nicht, macht jeder von ihnen einfach seine
Aussage.“
Aber wenn zu Beginn des 5. Jahrhunderts der „Denker“ sich schon
seiner Eigenschaft als solcher bewußt ist und weiß, daß er eine wichtige
menschliche Tätigkeit ausübt, der eine bestimmte Mission übertragen
ist und die ein Amt darstellt, so hat sich seine berufliche Physiognomie
noch nicht genügend befestigt, so daß das Volk, das echte Volk, sie ge¬
wahr werden und ihr gegenüber eine Haltung einnehmen könnte. Daher
die unvergleichliche Freiheit, der sich die jonischen Physiologen ebenso
wie die ersten Philosophen erfreuen. Der „Denker“ ist noch keine soziale
Figur.
Die Sozialisierung des „Denkers“ findet im Laufe des 5. Jahrhunderts
statt. Aber bei der Behandlung dieses Themas macht sich sehr stark die
Entstellung bemerkbar, welche die Geschichte Griechenlands infolge der
Mangelhaftigkeit unserer Information erfährt. Es verhält sich ja so, daß
wir zwar über Athen sehr viele, aber über die übrigen Städte nur sehr
wenige Nachrichten haben. Selbst von Sparta wissen wir, trotz seiner
historischen Bedeutung, nicht genug, um uns seinen Alltag vorstellen zu
können. Aber auf Sparta könnten wir noch verzichten, wenn es, wie
jetzt, darum geht, sich klar zu machen, wie es sich mit den ersten Philo¬
sophen verhielt. Nicht verzichten können wir auf die anderen Städte,
denn dort und nicht in Athen wurden die „Denker“ in der ersten Hälfte
des 5. Jahrhunderts geboren und dort lebten sie. Dort und nicht in Athen
bildete sich dieser neue Menschentyp heraus. Wie war das Verhältnis
zwischen ihm und der Stadt, wo er wohnte? Davon können wir uns kein
Bild machen. Wir haben nur einigen Grund zu vermuten, daß es recht
verschieden war von dem Bild, wie es vom 4. Jahrhundert an das Ver¬
hältnis des „Denkers“ zu Athen bot. Anders läßt sich bei aller Spärlich¬
keit unserer Daten die Tatsache nicht erklären, daß der größte Teil
dieser Daten uns den Philosophen zeigt, wie er von einer Stadt in die
andere zieht oder in politische Kämpfe eingreift. Ganz im Gegensatz da¬
zu steht die Tatsache, daß ab 400 die Philosophen überwiegend in Athen
verweilen.
So entziehen sich also 60 Jahre unserem Blick, und zwar gerade die
Zeit, in der sich die soziale Figur des „Denkers“ herausbildete. Diese
Dunkelheit erklärt sich dadurch, daß Athen, die einzige durch das Licht
der Berichterstattung begünstigte Stadt, im Verhältnis zur Peripherie
der griechischen Welt und in bezug auf das „Denken zeitlich im Rück¬
stand ist. Seit anderthalb Jahrhunderten brachte das „Denken“ neue

97
JOSe ORTEGA Y GASSET

Lehren hervor, und noch hatten die Athener die Erfahrung des „Den¬
kers“ nicht gemacht. Dazu mußte erst Perikies mit dem Snobismus des
guten Aristokraten um das Jahr 460 Anaxagoras kommen lassen. Kurze
Zeit darauf, um 440, hellt sich unsere Sicht schon vollkommen auf, und
vor uns erscheint der „Denker“ als soziale Figur, das heißt, als ein neuer
Menschentyp, den der Demos sieht und anerkennt. Damit ist noch nicht
gesagt, daß diese Sicht richtig war. Das konnte sie nicht sein.
Es war eine überaus enttäuschende Erfahrung, die damals einem
„Volk“ wie dem Athens beschieden war, das, tief reaktionär, den tra¬
ditionellen Glaubensgewißheiten fest verschrieben war. Da der „gei¬
stige“ Rückstand, in dem es sich befand, mit seinem politischen Triumph
über Griechenland und mit dem plötzlichen und märchenhaften Anwach¬
sen seines Reichtums zusammenfiel, so kam es, daß alles, was im übrigen
Hellas in anderthalb Jahrhunderten herangereift war, auf einmal über
die Plätze und Säulenhallen Athens hereinbrach. Zum erstenmal werden
plötzlich dem Publikum von Athen, neben der traditionellen Dichtung
lind Mythologie, neue Geisteserzeugnisse in gewaltigem Überfluß und
vor allem in bunter Vielfalt geboten. Da sind die Sophisten, die aus dem
Osten kommen, die stilisierte Reden halten, die ihre „Gedankenschätze“
auskramen (Aristophanes), die die neue jonische, pythagoreische, elea-
tische Wissenschaft erklären, die - ein großartiges Schauspiel - aus ihren
Kisten die Modelle der geometrischen Körper, der aus Ringen zusam¬
mengesetzten Kugeln hervorholen, die die Eklipsen durch ganz einfache
Tatsachen ohne jedes Geheimnis erklären. Inzwischen erzählt der „So¬
phist“ Herodot exotische Geschichten, beschreibt andere Länder und
andere Völker und was sich bei ihnen zugetragen hat und was den
Griechen bei ihnen geschehen ist. Eine Lawine von Para-doxa geht über
Athen nieder. Man hört die fürchterliche Blasphemie, die Gestirne seien
keine Götter, sondern glühende Metallkugeln, zum Beispiel die Sonne,
von der Anaxagoras sagt, sie sei größer als der Peloponnes
Hier sehen wir zum erstenmal, wie der „Denker“ dem Volke gegen¬
übersteht. Es war unvermeidlich, daß sich die Leute in jenem Chaos von
Neuheiten nicht zurechtfanden und die verschiedenen Formen der Be¬
tätigung, die sie repräsentierten, nicht auseinanderhalten konnten. Selbst
auserlesene Gruppen wie die der Dichter vermochten nicht klar zu sehen,
worum es sich in jedem Falle handelte. Die soziale Figur des „Denkers“
erscheint in dieser ersten Stunde, wie es nicht anders sein kann, mit
einem unklaren Profil. Nur so läßt sich die extravagante Physiognomie
erklären, die Aristophanes in den „Wolken“ Sokrates zuweist. Selten haben
die Philologen bei einem Problem so wenig Scharfsinn bewiesen wie hier.
Bei seiner Lösung darf man nicht von der Annahme ausgehen, Aristo-

98
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

phanes wisse wohl, wer und was Sokrates sei, aber die komische Muse
zwinge ihn, das, was er vor sich habe, zu entstellen. Es ist rührend zu
sehen, was für eine Mühe sich die Philologen machen, um den Dichter
wegen dieser Entstellung zu entschuldigen, als ob es einen Sinn hätte
zu erwarten, daß uns in den Wolken überhaupt ein Bild des Philosophen
gegeben werden könnte, das mit der Wirklichkeit übereinstimmte. In
diesem Fall erübrigt es sich, von einer besonderen Entstellung zu reden,
denn diese versteht sich von selbst. Jede Entstellung läßt erkennen, in
welcher Richtung sie vor sich ging, und wie die Ausgangsform war, die
sie übertreibt und verwirrt. In den Wolken läßt sich mit vollkommener
Klarheit feststellen, welches diese Form war, und man merkt, daß es
nicht die des Individuums Sokrates war, sondern eine verworrene Figur,
nämlich das Bild, das sich damals Aristophanes und die meisten Athener
von dem „Denker“ machten. Man beachte, daß der hervorspringendste
Zug dieser Karikatur gerade am wenigsten mit dem tatsächlichen Sokra¬
tes zu tun hat, nämlich die Beschäftigung mit der „Meteorologie“, mit
den Dingen, die in der Höhe erscheinen.
Daß ein gewisser Menschentyp zur sozialen Figur wird und daß die
Gesellschaft auf ihn reagiert, ist ein und dasselbe. In der Tat: kaum
kommt der erste Philosoph - Anaxagoras - nach Athen, so beginnt
gleich das Volk mit einem Gefühl der Besorgnis zu reagieren, wie es bis
dahin unbekannt war. Die Griechen besitzen in ihrer Sprache ein Wort,
um die menschlichen Verhaltensweisen zu bezeichnen, die in ihnen diese
Besorgnis erweckten: sie nannten sie Jisgiwög. Aristoteles berichtet uns
ausdrücklich, daß die Menge Männer wie Anaxagoras und Thaies ta¬
delte, weil sie sich mit Jisgivvä befaßten Das Wort ist nicht leicht zu
übersetzen, weil sich in ihm so viele Bedeutungen widerspiegeln. Einer¬
seits bedeutet es außerordentliche Handlung oder Leistung und hat lo¬
benden Charakter, aber andrerseits bedeutet es ein übertriebenes, ver¬
messenes, ungehöriges Benehmen, besonders in religiösem Sinn, also
etwas Frevelhaftes. Pedro Simon Abril, ein spanischer Humanist des
16. Jahrhunderts, übersetzt in seiner Version der Ethik nsgivtd in die¬
sem Zusammenhang mit lo que es demasiado saber (das Zuvielwissen).
Das scheint mir die zutreffendste Übersetzung'®.
Sobald das Volk die Figur des „Denkers“ gewahr wird, ändert sich
dessen Situation von Grund auf, da die allgemeine Reaktion ihm gegen¬
über negativ ist und ihm nichts anderes übrigbleibt, als bei seinem Wir¬
ken mit gewissen Verteidigungsmaßnahmen zu rechnen. Im athenischen
Volk war die religiöse Haltung recht lebendig geblieben, und dazu ge¬
hört auch die Überzeugung, daß es auf der Welt Geheimnisse gibt, die
der Mensch unbedingt respektieren muß, denn sie zu wissen ist ein Vor-

99
JOSe ORTEGA Y GASSET

recht der Götter. Sie zu erforschen versuchen und nicht an die Götter
glauben, war für den normalen Athener ein und dasselbe. Was am Him¬
mel vor sich geht, ist göttlich, und folglich mußte die „Meteorologie“, die
in das Geheimnis seines Ursprungs, seiner Beschaffenheit und seines Ver¬
haltens einzudringen sucht, eine blasphemische Beschäftigung sein. Der
Zorn des Demos konnte nicht lange auf sich warten lassen. Im letzten
Drittel des 5. Jahrhunderts wurden die drei Philosophen, die in Athen
besonders hervorgetreten waren - Anaxagoras, Protagoras und Sokrates -
entweder vertrieben oder, wie letzterer, „liquidiert“.
In der Reaktion des athenischen Volkes sehen wir die makroskopische
Bestätigung des Atheismus, welcher der neuen Tätigkeit, wie sie die
Jonier aufgebracht hatten, zugrunde lag. In diesem ersten Augenblick
erscheinen uns also beide Lebensformen als gegensätzlich und unvereinbar.
Diese neue und schwierige Situation des „Denkers“ im Hinblick auf
die Öffentlichkeit gab den Anlaß zu der Bezeichnung „Philosophie“, die
so seltsam, so gekünstelt und so wenig ausdrucksvoll ist. Es ist nämlich
interessant zu beobachten, wie die „Denker“ schon sehr früh anfingen,
sich Gedanken zu machen, wie sie sich und ihre Beschäftigung nennen
sollten. Platon zeigt uns Protagoras, wie sich dieser eineinhalb Seiten
lang mit diesem Thema befaßt. Dort sehen wir, daß das Wort „Sophist“
schon sehr alt war und für Dichter, Musiker und Seher gebraucht wurde;
da es aber in Mißkredit gefallen war und die Feindseligkeit der Leute
erweckte, bemühte man sich, es zu vermeiden und durdi andere Wörter
zu ersetzen. Platon will uns glauben machen, dies gelte nur für das Wort
„Sophist“, so wie er es verstand, aber für die Leute bedeutete es die un¬
klare Gesamtheit all derer, die dieselben Ansichten vertraten. Das Wich¬
tige für uns ist, daß Platon uns hier die Situation des „Denkers“ an¬
gesichts der öffentlichen Meinung als gefährlich darstellt.
Der „Denker“ muß die Tätigkeit, der er sich widmet, verheimlichen
und vermeiden, daß sie schon durch die Bezeichnung geoffenbart wird.
So ist er genötigt, es mit Tarnungen und Vorsiditsmaßnahmen zu ver¬
suchen - nQÖox'r]pha noislO'&ai nal TCQOxaXvntsXod'ai, evAaßeiav^^. Wieder¬
holt spielt Platon auf die Feindseligkeit an, welcher der Philosoph in
seiner sozialen Umgebung begegnet, und noch am Ende seines Lebens,
in den Gesetzen - 821 A - hält er es für notwendig, dagegen zu protestie¬
ren, daß die wissenschaftlichen Forschungen, besonders aber die astrono¬
mischen und philosophischen, als gottlos angesehen werden - ovx öoiov.
Diese Einstellung der Öffentlichkeit war so hartnäckig, daß sich noch
Alexander von Aphrodisias förmlich damit befaßt, daß man die GO(poi
als JieQivvovg bezeichnet^®.
Es ist seltsam, daß man in jener ersten Epoche des „Denkens“ denen,

100

\
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

die sich damit befaßten, nie den Namen oocpoi gab und daß diese ihn für
sich selbst auch nicht in Anspruch nahmen. Das Wort ist uralt. Es hat
eine indogermanische Wurzel, und das lateinische sapiens entspricht ihm
ganz genau. Bei den primitiveren Völkern gibt es homologe Ausdrücke,
die das Amt bezeichnen, das wohl das älteste in der Menschheit war, und
zwar war dies der Mann, meist hohen Alters, der die Speisen zu kosten
hatte um zu entscheiden, welche für den Stamm gut und welche schädlich
waren, der also vor allem die Pflanzen kostete und sich darin geübt hatte,
den Geschmack - sapor - zu unterscheiden. Die Pflanzen haben einen Ge¬
schmack, sapor, dank ihres Saftes sind sie schmackhaft, sapientcs. Vom
Objekt geht die Bedeutung des Wortes auf das Subjekt über: „im Ge-
schmadc erfahrener“ Kenner - der sapiens, der ooq)ög. Das mußte auch
die ursprüngliche Bedeutung von Sisyphos sein. Aber diese Bedeutung
erweiterte sich, bis sie alle Dimensionen des menschlichen Lebens um¬
faßte, unter anderem alles Technische, sie bezog sich aber immer auf eine
Art des Wissens, die nicht theoretisch war, denn das gab es noch nicht.
Der „Kenner“ weiß über gewisse Dinge Bescheid, nicht weil er allgemeine
Ideen (Theorie) darüber hat, sondern weil er in einem beständigen kon¬
kreten Umgang mit ihnen lebt, sie zugleich in ihrer Einmaligkeit und
in ihrer unerschöpflichen Vielfalt und Besonderheit gegenwärtig hat.
So der „Kenner“ von Porzellan oder von „Altertümern“. Es ist ein em¬
pirisches Wissen, das kaum übertragbar ist. Nun ist aber von all diesen
Dingen, in denen man ein Kenner sein kann, das wichtigste das mensch¬
liche Leben selbst, sowohl das persönliche wie das kollektive. Den In¬
halt dieses Wissens von der Struktur des menschlichen Lebens und seinen
Wechselfällen nannte man sapientia, Weisheit, und das ist es, was man
in den „Büchern der Weisheit“ findet. So nimmt das alte Wort oo(fog
bald einen genaueren Sinn an, indem es die sieben Weisen bezeichnet,
die sämtlich Staatsmänner waren. Das beste Beispiel dafür, was ihre
Weisheit war, sind die Elegien Solons. Man vergleiche einmal, was uns
diese geben, mit den Fragmenten der „Physiologen“ oder der Proto-Phi-
losophen Parmenides und Heraklit. Solon befaßt sich nur mit dem mensch¬
lichen Leben und theorisiert nicht. Seine Lehre von den sieben Lebens¬
altern ist ein Ausfluß seiner Lebenserfahrung.
Die Idee der sieben Weisen, ihre Aussprüche und ihre Legende wurden
in Griechenland so volkstümlich, daß das Wort aoqpög nicht mehr geeignet
war, die neuen „Denker“ zu bezeichnen. Man mußte es mit einem neueren
Wort versuchen, das weniger gewichtig und bescheidener in seiner Be¬
deutung war: ao(piatni ■ Während oog^ög direkt den Menschen in seiner
Person als Weisen benennt, bezeichnet oo(piotng den Menschen aut
Grund seiner Beschäftigung mit der Dichtkunst, der Musik, der Kunst

101
JOSE ORTEGA Y GASSET

des Wahrsagens usw. Da sidhi inzwischen die Arbeit der „Denker“, nidit
nur der „Physiologen“ und Philosophen, sondern der Grammatiker, Rhe¬
toriker, Reisenden usw. zu einem Wissensstoff verdichtet hatte, den zu
erwerben eine Lehre und infolgedessen Unterricht erforderlich war, schien
das Wort „Sophist“ sehr geeignet, um die neue Generation von Menschen
zu bezeichnen, die um 450 von Berufs wegen eine neue Tätigkeit aus¬
üben: das Lehramt der neuen Ideen. In dem Wort wird nicht präzi¬
siert, um welche oocpia es sich handelte; die Bedeutung beruht auf der
Tatsache der Beschäftigung mit dem Wissen und seiner Übermittlung.
Aber dies fällt, wie wir schon gesagt haben, zeitlich damit zusammen,
daß der „Denker“ zu einer sozialen Figur wird und daß die Gesellschaft
feindlich auf ihn reagiert. So bekommt die neue Bezeichnung schnell einen
abschätzigen Sinn und konnte sich nicht als Benennung des „Denkers“
halten.
Damit sind wir am Beginn des 4. Jahrhunderts angelangt. Platon be¬
gründet seine Schule neben dem Gymnasium der Akademie. Eine Schule
für was? Zehn Jahre nach Sokrates’ Tod hatte sich die Stellung des
„Denkers“ in der Öffentlichkeit ein wenig gebessert, weil schon zwei Ge¬
nerationen von Athenern - freilich nur gewisse Gruppen, die der Ober¬
schicht angehörten - die neue Erziehung oder Paideia erhalten hatten.
Trotzdem war die Feindseligkeit des Demos noch nicht verschwunden.
Vielmehr hatten sich die „Denker“ daran gewöhnt, mit dieser Feind¬
seligkeit zu rechnen. Sie wirken nicht mehr mit der vertrauensvollen Sorg¬
losigkeit, wie sie für ihre Vorgänger im 6. und in der ersten Hälfte des
5. Jahrhunderts bezeichnend gewesen war. Der Stil des „Denkens“ be¬
ginnt sich jetzt zu verschleiern, er verliert an Unmittelbarkeit, deckt sich
mehr oder weniger durch Vorbehalte, um den religiösen Glauben der
Menge nicht zu reizen. Diese hatte auf die „Denker“ mit Verärgerung
reagiert, nicht nur weil sie Atheisten waren, sondern weil sie in ihrem
Auftreten anmaßend und unverschämt wirkten. Welchen Namen wird
ein Mann wie Platon, der in der sokratischen Ironie erzogen worden war,
für seine Tätigkeit und seine Botschaft wählen? Das Problem wurde noch
komplizierter, weil der Augenblick gekommen war, um der Verwirrung
entgegenzuwirken, in der sich die so verschiedenen geistigen Tätigkeiten
dem Volk von Athen darboten. Dadurch wurde die Notwendigkeit noch
dringlicher, sich mit einem Namen zu wappnen, der gegenüber der öffent¬
lichen Meinung defensiv und gleichzeitig gegenüber den anderen Formen
des „Denkens“ offensiv wirkte. Wir sprechen ja von dem Volke, das viel¬
leicht mehr als jedes andere und mit größerer Genauigkeit die Worte
erlebt hat.
Seit etwas mehr als einem Jahrhundert gab es im Griechischen ein

102

\
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

Wort, dessen Bedeutung äußerst vage und dabei vollkommen neutral


war - das Wort philosophieren. Zunächst handelte es sich nur um ein
Verb und ein Adjektiv. Zum erstenmal, glaube ich, erscheint das Adjek¬
tiv bei Heraklit, doch hat das Wort noch nicht die Bedeutung, die es ein
Jahrhundert später erhält^b Noch in den letzten Jahren des 5. Jahrhun¬
derts wird es von Thukydides an feierlicher Stelle gebraucht und Peri¬
kies in den Mund gelegt. Es steht dort in Verbindung mit einem anderen
vagen Wort q)iXoKaXslv, und diese Verbindung dauert lange an. Beide
Verben schließen die Bedeutung einer beruflichen Tätigkeit aus. Vielmehr
bezeichnen sie die zwanglose Art, sich mit den Künsten, mit der Dich¬
tung, mit den Ideen zu befassen, wie es bei einigen „Schöngeistern“ in
Athen um 450 aufgekommen war, und eine ähnliche Bedeutung mußten
die Wörter auch bei ihrer Entstehung, die nicht weit zurück lag, gehabt
haben.
Die mit9?U0- zusammengesetzten Wörter sind im Griechischen sehr
zahlreich. Wenn wir sie in einem historischen Wörterbuch nachschlagen,
so fällt auf, daß die meisten davon im letzten Drittel des 5. und im ersten
Drittel des 4. Jahrhunderts gebildet wurden. Selten läßt sich eine be¬
stimmte morphologische Tendenz in einer Sprache so klar als Mode¬
erscheinung feststellen. Denn es handelt sich hier nicht um volkstümliAe
Wörter, sondern fast alle erweisen ihre „vornehme“ Herkunft. Wir dür¬
fen aber unsere Einstellung zu diesen Composita nicht mit derjenigen
identifizieren, die bei den Griechen üblich war, die sie bildeten und ge¬
wöhnlich gebrauchten. Für das Griechische ist die Tendenz, zusammen¬
gesetzte Wörter zu gebrauchen, charakteristisch. Aber diese Tendenz
bringt ein entgegengesetztes und zugleich ergänzendes Phänomen mit
sich: das Volk, das viele Composita gebraucht, sieht gewöhnlich niAt
mehr die Zusammensetzung, sondern die Einheit, in der die Bestandteile
verschwinden. Dies wird ganz deutlich, wenn man das Deutsche, das so
sehr zu Wortzusammensetzungen neigt, mit den romanischen Sprachen
vergleicht. Wir Romanen hören im zusammengesetzten Wort gerade die
Einzelteile. . ,
Aber bei den Wörtern, die mit <pdo- beginnen, handelt es sich auch
im Rahmen der Composita um etwas ganz Besonderes, denn wenn auch
wdo. ein fast vollständiges Wort ist, so wurde es schließlich infolge des
allzu häufigen Gebrauchs doch nahezu so etwas wie eine Vorsilbe. Die
Bedeutung der „Zuneigung“, des „Gefallens“ fiel /«( vollkommen weg,
und es blieb nur der Wert des Häufigen, Dauernden übrig, um die Ver¬
anlagung oder Neigung auszudrücken, kurz etwas Ähnliches wie die latei-
nischen Endungen-05M5 undAj-Wr
All dies bezieht sich auf das Verb philosophieren und sein Adjektiv,

103
JOSfi ORTEGA Y GASSET

deren Existenz um das Jahr 500 datiert werden kann. Nach diesen Prä¬
liminarien wollen wir nun sehen, wie das Substantiv „Philosophie“ auf¬
taucht, denn darauf kommt es uns an.
Wer sich all die positiven und negativen Daten, die in Frage kommen,
vor Augen hält, wird zugeben, daß es nicht allzu gewagt ist, die Er¬
scheinung des Wortes „Philosophie“ als eines neuen, gefälligen Aus¬
drucks, dessen sich die Gruppen der „Gebildeten“ um Perikies bedienen,
in die Zeit um 440 zu legen. Zwanzig Jahre vorher war Anaxagoras
nach Athen gekommen, wo damals die neue Gattung des „Denkers“ noch
unbekannt war. Sowohl dies wie das zurückgezogene Leben, das man
Anaxagoras zuschreibt, waren die Ursache, daß die Auswirkungen seiner
Anwesenheit in der Stadt erst so spät sich geltend machten oder wenig¬
stens sichtbar wurden. In diesen Jahren gelang es ihm nicht mehr als
einen Schüler zu gewinnen, Archelaos, den ersten athenischen Philosophen,
dessen Schüler dann Sokrates wurde. Inzwischen war aber die Generation,
die fünfzehn Jahre nach Perikies geboren war, von den neuen Ideen in¬
fiziert worden und war begeistert von den Lebensformen, welche die
„Denker“ der hellenischen Peripherie eingeführt hatten. So kommt es,
daß Männer wie Zenon und vielleicht Parmenides, Prodikos und Prota-
goras Athen aufsuchen und, wenn auch nur vorübergehend, in den geistig
verfeinerten Kreisen auftreten. In diesem Milieu wurde sicher schon das
Wort „Philosophie“ gebraucht, um die Beschäftigung mit all den neuen
Disziplinen, von der Naturphilosophie bis zur Rhetorik, zu bezeichnen.
Die Medizin befand sich daneben in einer besonderen Lage.
Jedes Wort einer Sprache ist ein Brauch, der sich innerhalb eines Teils
der Gesellschaft herausbildet, um sich dann auf die Gesamtheit auszu¬
dehnen. Wenn es sich um eine sehr spezialisierte soziale Gruppe handelt,
so ergibt es sich, daß einige der Wörter, die in ihr gebraucht werden, sich
von Wörtern der normalen Sprache in Termini verwandeln. Die Sprache
ist etwas ganz anderes als eine Terminologie. Der Terminus ist ein Wort,
dessen Bedeutung durch eine vorhergehende Definition festgelegt ist und
das man nur versteht, wenn man diese kennt. Deshalb ist seine Bedeu-
tung präzis. Das Wort der gewöhnlichen Sprache dagegen übermittelt
uns seine Bedeutung ohne vorherige Definition. Deshalb ist es immer un¬
präzis. Das Wort „Philosophie“ entsteht nun nicht als Terminus, sondern
als ganz normales Wort der Gemeinsprache, und auch als solches hat es
noch ein überaus schwankendes Profil. Seine Verwandlung in einen Ter¬
minus kann die Geschichte des geistigen Lebens in Athen während des
folgenden Halbjahrhunderts symbolisieren.
Diese Verwandlung findet bei Platon statt. Sein ganzes Werk ist die
mutige Bemühung, dem Wort „Philosophie“ einen fest umrissenen Sinn

104
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

ZU geben. Aber die Tatsache, daß er schon in seinen ersten Schriften von
diesem Wort so eingenommen scheint, also noch bevor er selbst die ge¬
naue Idee von einer Disziplin hatte, auf die er später das Wort bezog,
beweist, daß er seine Vorliebe für dieses Wort von Sokrates geerbt hatte.
Bei Sokrates wurde die Notwendigkeit, eine Bezeichnung zu finden, die
seine Tätigkeit schützen sollte, zu einer Frage, die immer dringlicher
wurde und sich immer mehr zuspitzte. Er war der erste Bürger Athens,
der sich in aller öffentlidikeit mit den neuen Ideen befaßte, sei es, um
sie darzulegen, sei es, um sie zu kritisieren. Nachdem Anaxagoras und
Protagoras vertrieben worden waren, mußte er sich durchaus im klaren
sein, daß seine Tätigkeit recht gefährlich war. Andrerseits war ihm mehr
als allen andern daran gelegen, sich in der Meinung der Leute von den
Naturalisten und den Rhetorikern zu differenzieren. Es mußte ihm zu¬
wider sein, wenn er hörte, daß man ihn wie jene als Sophisten bezeich-
nete. Sogar nadi fünfzig Jahren nennt ihn noch Isokrates so. War nicht
„Philosophie“ das ideale Wort für seine Lage? Es war eine angenehme,
unklar profilierte Bezeichnung, die nichts Verletzendes an sich hatte und
den Wunsdi zu erkennen gab, nicht anmaßend zu erscheinen. Aber ge¬
rade für seine Botsdiaft konnte man diesem Wort neue Bedeutung geben,
indem man einfach die Zusammensetzung auflöste, das heißt, indem man
seine Etymologie unterstrich. Wer in einer Sprache für etwas Neues eine
Bezeichnung sucht, wird immer den Vokabeln auf eine anomale V^eise
gegenüberstehen, und diese werden dann sich selbst entfremdet, gewis¬
sermaßen als wären sie Wörter einer fremden Sprache. Wenn wir sie
von diesem anomalen Gesichtswinkel aus betrachten, dann tritt wir
alle haben eine solche Erfahrung gemacht - die Etymologie aus dem
Wort heraus, als ob ein Skelett aus seinem Körper heraustrete. Nun war
die Botschaft des Sokrates über die Maßen paradox, denn gegenüber all
dem Wissen, mit dem man sich damals in Athen brüstete, war das
Wissen, das er zu besitzen vorgab, ein „Wissen, daß man nicht weiß ,
eine docta ignorantia. Es ist die förmliche Ablehnung, sich als oogpög an¬
zusehen und noch weniger als Lehrer des Wissens oder Sophist. Gerade
weil sein Wissen negativ ist, erfüllt es ihn mit Sehnsucht nach dem, was
ihm ermangelt. Bei der Zergliederung des Wortes mußte Sokrates sehen,
daß dies der genaueste Ausdruck dessen war, als was er angesehen wer¬
den wollte: als ein sidi um das Wissen Mühender, ein das Wissen Erseh¬
nender. Damit war nichts Positives getan, um zu klaren, welcher Art die
ootpia des Philosophen war, aber es umriß mit großer Genauigkeit seine
persönliche Haltung. In dieser zergliederten Form war das Wort nicht
mehr ein Wort der gewöhnlichen Sprache. Seine Etymologie definierte
es einwandfrei und verlieh ihm den hieratischen Charakter und die

105
JOSfi ORTEGA Y GASSET

Asepsis, die den ,,Terminus“ vom „Wort“ unterscheiden. Schließlich war


diese Art „Taschenspielerei“ mit der üblichen Bezeichnung „Philosophie“
auch nur ein Werk der Ironie. Zweifellos gewann damit das Wort, das
wie so viele andere Zusammensetzungen mit (ptXo- schon maniriert war,
noch an Maniriertheit. Aber Ironie ist nun einmal Manier. Die sokrati-
schen Schulen sind alle maniriert und nur nach verschiedenen Richtun¬
gen orientiert. Die manchmal recht starke Maniriertheit Platons ist noch
nicht genügend beachtet worden; sie ist schuld daran, daß man Platon
nie als „attischen“ Schriftsteller ansieht. Der „Asianismus“, den man ihm
immer vorgeworfen hat, ist nichts anderes als Maniriertheit. Deshalb
kann es auch nicht überraschen, daß er vielleicht der Autor ist, der am
meisten Composita mit (pi^o- gebraucht. Es sind an die sechzig!
Diese Entwicklung läßt uns mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit erken¬
nen, daß die erlauchte Disziplin ihren Namen hauptsächlich aus Gründen
der Verteidigung erhielt und als Vorsichtsmaßnahme, die der „Denker“
treffen mußte gegenüber der Reizbarkeit seiner Mitbürger, die noch der
religiösen Haltung verhaftet waren. Bei Sokrates konnte die etymolo¬
gische Bedeutung des Worts noch das negative Wissen widerspiegeln,
das er lehren wollte, aber bei Platon verliert es völlig jeden Zusammen¬
hang mit dem Gehalt, den man ihm zuschreiben will. Der beste Beweis
dafür ist der Streit zwischen Isokrates und Platon um dieses Wort, das
die ganz verschiedene Tätigkeit bezeichnen soll, der sich jeder widmete.
Der Kampf um diesen Namen beweist zweierlei: erstens, daß das Wort
damals große Anziehungskraft besaß, zweitens, daß seine Bedeutung in
der Sprache völlig vage war, das heißt, daß das Wort kaum etwas sagte.
Sein Sinn bestand vielmehr darin, nichts Präzises zu sagen; das einzig
Präzise daran war seine ausweichende Bedeutung.
Ganz anders wäre der Name der philosophischen Tätigkeit gewesen,
wenn er nicht mit Rücksicht auf die soziale Umgebung des „Denkers“
gewählt worden wäre, sondern wenn dieser in voller Freiheit ein Wort
gesucht hätte, das so genau wie möglich ausdrückte, was in ihm
vorging, wenn er philosophierte - also ein Name, den er sich aus
seinem Innern heraus gegeben hätte. In der Tat deuten gewisse Anzei¬
chen darauf hin, daß es einige Zeit lang den Anschein hatte, als wolle
sich das Wort aX7]Tt}^sia als Name der Philosophie einbürgern. Nicht nur
hieß, Platon zufolge, das grundlegende Buch des Protagoras so, noch
interessanter ist es, bei Aristoteles ein gewisses Unbehagen hinsichtlich
des Wortes „Philosophie“ festzustellen, das ihn veranlaßt, das, was sei¬
ner Ansicht nach die eigentliche Philosophie ausmacht, als „erste Philo¬
sophie“ zu bezeichnen. Denn wenn er aufs genaueste die Denkweise un¬
terscheiden will, die zu der Wissenschaft der Prinzipien führt, das heißt.

106
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

ZU der prototypischen Wissenschaft, und wenn es ihm darauf ankommt,


sie von den anderen Denkweisen zu trennen, die man in Griechenland
pflegte - Dichtung, orphische Kosmogonie und Theologie, „Physiologie“ -,
so weist er auf die Reihe der (pdoooq)äv'VBg jvsqI rtjg dX^i-t^siag hin, der¬
jenigen, die über die Wahrheit philosophiert haben-®. Diese Version,
welche die übliche ist, hat keinen Sinn. Wahrheit bedeutet hier nicht
irgendeine Wahrheit, sondern eine Art grundlegender und felsenfester
Wahrheit, zu der man nur mittels einer gewissen Denkweise oder Me¬
thode gelangen kann. Wahrheit in diesem Sinn bedeutet gleichzeitig das
Ergebnis der Forschung und die geistige Art es zu erreichen. Das war
etwas, das man in der alten Zeit nicht kannte. Es war erst vor wenigen
Generationen aufgekommen, und daher spricht er auch in seinem Pro-
treptikos ausführlicher von der „Wissenschaft - cpQ6vr]oig - dieser Wahr¬
heit, die Anaxagoras und Parmenides eingeführt haben“ Wiederholt
bedeutet in den aristotelischen Schriften nBQl Tijg dh'i&siag förmlich den
Namen einer Wissenschaft, und zwar der Philosophie im engsten Sinn.
Obwohl die Wahrheit für Aristoteles im Urteil ruht, so ist dieses Ru¬
hen doch nur als Behausung aufzufassen, denn die Wahrheit ist nicht
ursprünglich die Wahrheit eines Urteils, sondern die Wahrheit der
Wesen selbst oder die Wesen in ihrer Wahrheit. Die Wesen an sich
erscheinen nicht in ihrer W^ahrheit, was natürlich nicht zwangsläufig be¬
deutet, daß ihre Erscheinungsweise der Irrtum sei. Sie ist einfach nicht
„wahrhaft“. Die Wahrheit der Wesen ist an sich verborgen und muß
enthüllt, entdeckt werden. Ebenso verhielt es sich bei den Göttern, nur
enthüllten sich diese nach eigenem Gutdünken, und man konnte die Echt¬
heit ihres Erscheinens nicht nachprüfen. Die Philosophie dagegen erwies
sich als das methodische Verfahren, um die Enthüllung zu erreichen -
die dh)^Bia-. Wenn man von einem Erlebnis sprechen will, so war diese
methodische Enthüllung das Grunderlebnis der ersten Philosophen, und
d/.7]&sio, war daher der Name, der im Hinblick auf ihr persönliches In¬
nerstes ihrer Tätigkeit entsprach.
Nun müssen auch wir eine radikale Scheidung zwischen der Phdoso-
phie und dem, was keine ist, vornehmen, um sehen zu können, wie sie
entstand, wobei sie sich nicht nur von der Religion, sondern auch von den
anderen Denkweisen unterschied. Das heißt, wir müssen uns in die Stunde
zurückversetzen, da Parmenides von etwas überaus Seltsamem zu spie-
chen begann, das er das Seiende nannte. Wie und warum kam es zu
einem so überraschenden Abenteuer? Man schwatzt gar zu leicht nach,
die Philosophie sei die Frage nach dem Sein. Als ob es das natürlichste
Ding der Welt sei, nach einer so fremdartigen Persönlichkeit zu fragen.
Wir müssen diese Frage anfassen, noch ein wenig bevor sie vom Sem

107
,IOSe ORTEGA Y GASSET

spricht. Es ist nicht möglich, daß es das Sein war, was die Menschen, die
den Glauben an die Götter verloren hatten und die sich nicht mit der
q)voig begnügten, zu suchen begannen. Vielleicht war das Sein etwas, was
die ursprüngliche Frage noch gar nicht meinte. Vielleicht war das Sein
schon Antwort. Wenn man sagt, die Philosophie sei eine Frage nach dem Sein,
so ist damit gemeint, daß sie sich bemüht, die wesentlichen Attribute des
Seins oder des Seienden zu entdecken. Aber damit ist gesagt, daß man
das Sein schon vor sich hat. Wie konnte man es schon vor sich haben?
Ist es nicht wahrscheinlicher, daß die Menschen, als sie das Fundament
ihres Lebens verloren hatten, sich nach etwas fragten, das gewisse Attri¬
bute haben mußte, die schon vorher da waren - eben solche, die das
Suchen rechtfertigten?
Anmerkungen
* Die Verschiedenheit der Auffassungen bezüglich der chronologischen Beziehung zwi¬
schen den beiden Leben interessiert hier nicht. Das Entscheidende — und Über¬
raschende — für uns ist, daß die Werke der beiden Philosophen zur gleidien Zeit,
etwa um 475, entstanden sind.
- Es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, daß das Gedicht einen Titel hatte, und
vollends, daß dieser Titel „Über die Natur“ gelautet habe, wie Sextus Empiricus,
wohl etwas konventionell, behauptet. Viel wahrscheinlicher ist, daß das Gedicht,
wenn überhaupt, Aletheia benannt war.
“ Ein schrecklicher Fehler bei denen, die, wie es bei den Menschen vorkommt, nur
eine elende Herde sind, die einen Hirten braucht (vgl. fr. 11).
* Vgl. die Fragmente 5, 14 und 15.
® Der Dionysoskult hat eine dunkle Vorgeschichte. Man weiß nicht recht, wann noch wie
dieser thrazisdie Gott sich an den ganz voneinander getrennt gelegenen Punkten
der hellenisdien Welt niederließ. Tatsache ist aber, daß er erst um 600 eine ge¬
schichtlich wirksame Kraft wurde.
•’ Bekanntlich gab es Aufzählungen von „Weisen“, dodi unterschieden sie sich in der
Zahl, und audi nur einige Namen sind identisch. Die Beschränkung auf die Zahl
„sieben“ erscheint zum erstenmal bei Platon.
~ Es ist bekannt, daß Platon die geschriebenen Gesetze ironisch gern als literarisdie
Gattung betrachtet.
Die Ausweitung infolge der Feldzüge Alexanders war mehr eine Sache des Staats
als des Volks.
” Man verstehe recht, was das heißt. Tatsächlich ist der Mensch, auch bei dieser Lebens¬
gleichung, gelegentlich in der Lage zu wählen, aber das kommt so selten vor, daß
er es nicht bemerkt und es nicht als eine besondere Funktion seines Lebens ansieht.
Damit man eine Art des Lebens gewahr werde, genügt es nicht, daß sie bereitwillig
dasteht, sondern sie muß sich häufig genug zeigen, um eine Masse zu bilden und
aufzufallen.
Überraschend ist die „Regelmäßigkeit“, wir könnten audi sagen Monotonie der Ge¬
schichte. Phönizien und Karthago lösen ihre Epoche der Pleonexie durch die Ent¬
deckung der Gruben in Spanien aus, Griechenland durch die der Gruben des Pontus,
Europa mit der Entdeckung der Grube an der afrikanischen Küste durch die Portu¬
giesen, die noch heute Elmina heißt (= die Grube).

108
STÜCKE AUS EINER „GEBURT DER PHILOSOPHIE“

Vgl. span, ab-undancia (Anm. d. Übersetzers).


Wilamowitz, Sappho und Simonides, 174.
« Tim. 40D—41 A.
Arnos 7, 15.
« Soph.243 A.
Siehe Wilamowitz, Platon, 1 65 ff.
Eth. Nie. 1141, 6, 3.
*** Lasson übersetzt schlecht, da die Stelle in Verbindung mit 1177, 6, 33 verstanden
werden muß.
« Prot. 316 d, 317 b.
2“ Comm. in Arist. 529 (982 b 29, 983, a. 2).
Das Fragment ist eigenartig, weil darin gefordert wird, daß der „Philosoph“ viel
wisse, während der Kampf Heraklits am häufigsten gegen die Vielwisserei geht.
Einen interessanten Hinweis auf die Zusammensetzungen mit q)do- finden wir bei
Rieth, Grundbegriffe der stoischen Ethik (S. 24, 28, 29).
-* Met. 3. 983 b 3. Er wiederholt cs in 993 a 30.
fr. 52.
Übersetzt von Gerhard Lepiorz

Aus einem unverößentlichten Buck

109
Paul Ricoeur

GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE


ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG DER MENSCHHEIT
AUF DEM WEGE DER KOMMUNIKATION

Quo magis res singuläres intelligimus,


eo magis Deum intelligimus. (Spinoza)

Jeder, der Geschichte der Philosophie lehrt oder sie auch nur als eine
philosophische Disziplin studiert, wird auf das Problem der philosophi¬
schen Bedeutung der Geschichte der Philosophie stoßen. Damit wird die
Frage gestellt: welchen Sinn hat das Tun eines Philosophie-Historikers?
Aber diese Frage betrifft auch den eigentlichen Philosophen, der auf
eigene Rechnung und auf eigene Gefahr sucht, ohne sich um die Ver¬
gangenheit zu kümmern: denn auch er weiß, daß die Philosophie nur
weiterbesteht, weil es Philosophen gibt, weil die Geschichte der Philoso¬
phie uns die Philosophen fortwährend vergegenwärtigt und uns selbst
in ihren Kreis einordnet. Selbst ein ganz autodidaktischer Philosoph kann
nicht ohne Sokrates, Platon, Descartes und Kant auskommen. Also hat
die Geschichte einen Sinn für das eigentliche Suchen nach Wahrheit.
Was heißt nun, daß die Philosophie nur durch eine Geschichte, welche
die Philosophen machen, besteht und weiterbestehen wird und uns nur
durch eine Geschichte, die uns die Philosophie-Historiker berichten, zu¬
gänglich wird? - Die Beantwortung dieser Frage will ich nicht systema¬
tisch, von einer dogmatischen These aus, zu geben suchen. Ich will lieber
auf dem Wege einer Reihe von Annäherungen vorgehen, wobei die auf
einer früheren Ebene erreichte Lösung dadurch korrigiert werden soll,
daß die Anfangsfrage noch einmal gestellt wird.

Nehmen wir als Ausgangspunkt eine Aporie, eine Schwierigkeit, in die


wir progressiv eindringen, indem wir versuchen, sie zu lösen. Die Aporie
ergibt sich bereits aus der Gegenüberstellung der historischen Situation
der Philosophie mit der Idee der Wahrheit, wie diese sich auf den ersten
Blick bei einer ersten Annäherung uns darstellt. In ihrer einfachsten
Form steht die Wahrheit als eine regulierende Idee vor uns, als die Auf¬
gabe, alles Wissen hinsichtlich des Objekts und hinsichtlich der Subjekte
zusammenzufassen - das heißt, die Vielgestaltigkeit unseres Wissensfeldes
und die Unterschiede der Ansichten zu überwinden.

110
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG

Diese Idee der Wahrheit macht - rückwirkend - unsere historische


Situation unangenehm, beunruhigend und mit Enttäuschungen verbun¬
den und läßt uns nach einem vollkommenen Wissen in der Einheit und
Unveränderlichkeit trachten.
Ich halte es für richtig, von dieser Aporie, und sogar in dieser verein¬
fachten Form, auszugehen und damit den ersten Annäherungsversuch an
das Problem zu machen. Einerseits haben wir die Reihe der philosophi¬
schen Systeme, die einander widersprechen, sich ablösen und die Wahr¬
heit vieldeutig erscheinen lassen; Philosophiegeschichte wird zu einer Vor¬
lesung über Skeptizismus; andererseits wollen wir eine Wahrheit, deren
Kennzeichen und vielleicht sogar Prüfstein die Übereinstimmung der
Geister sein sollte; ebenso wie jede Geschichtswissenschaft ein Minimum
an Skeptizismus mit sich bringt, enthält jeder Anspruch auf Wahrheit
ein Minimum an Dogmatismus: im äußersten Falle wäre dann Geschichte
nur Geschichte der Irrtümer und Wahrheit Aufhebung der Geschichte.
Die erste Annäherung an das Problem sollte man ernst nehmen, und
nicht so schnell darüber hinweggehen. Es gibt keinen Philosophie-Histo¬
riker, der nicht schon in einem Augenblich der Depression das Opfer dieser
erschreckenden Vielfalt gewesen wäre; und es gibt keinen Philosophen^
der nicht in einem Augenblidc stürmischer Begeisterung von der Allein¬
herrschaft einer neu entdeckten Wahrheit geträumt hätte, welche die Ge¬
schichte überflüssig zu machen scheint: so glaubten Descartes und Husserl
den Irrtümern der Geschichte ein Ende zu setzen; sie lehnten sie als etwas
ab, von dem sie durch die Wahrheit befreit worden wären; in der großen
Umwälzung der Epoche des Zweifels war die Geschichte untergegangen.
Diese erste Annäherung an das Problem ist nicht nur ernst zu nehmen,
die Aporie der Geschichte und der Wahrheit ist auch vor jeder übereil¬
ten Lösung zu bewahren. Die mittelmäßigste Lösung wäre die des Eklek¬
tizismus, die verlockendste die der immanenten Logik der Geschichte.
Der Eklektizismus verdient keine lange Untersuchung, obwohl er einen
verführerischen Ausweg und eine mühelose Lösung bietet, die des philo¬
sophischen Geredes. Der Eklektiker behauptet, daß alle großen Systeme
im Grunde das gleiche sagen, nur müsse man das Wesentliche vom
Nebensächlichen trennen. Die Wahrheit wäre demnach die Gesamtheit
der einzelnen, übereinstimmenden Wahrheiten. In Wirklichkeit wird die
Geschichte der Philosophie bei den Eklektikern nur durch eine unwürdige
Philosophie gerettet. Die Eklektiker suchen sich in der Geschichte zer¬
streute Einzelheiten einer Philosophie ohne Genialität zusammen. Die
Genies strömen im eklektischen Talent zusammen. Alles aber, was uns
in so vulgärer Weise nähergebracht wird, ist nur das Mangelhafte alkr
Philosophiegeschichten, die von der Geschichte nicht anerkannte phi-

111
PAUL RICOEUR

losophisdbe Systeme sind: Eine Philosophie - die persönliche des Histo¬


rikers - hat den Vorzug und wird der Geschichte vorausgestellt als das
Ziel, dem alle früheren Bemühungen zustrebten. Die Geschichte geht auf
mich zu; ich bin das Ziel der Geschichte; das Gesetz, nach dem sich der
Aufbau der Geschichte der Philosophie vollzieht, ist der Sinn meiner
Philosophie.
Dieses offensichtliche Übel des Eklektizismus finden wir auch im Hege¬
lianismus. Dieser sagt, es gebe eine innere Geschichte der Philosophie,
weil sich in ihrer Entwicklung ein einheitlicher Plan zeige. Es wäre also
möglich, das Gesetz dieses inneren Fortschritts zu finden, und selbst die
Umwege, die scheinbaren Sackgassen des Denkens wären eine Art „List
der Vernunft“, eine Schule des Geistes.
Diese Auffassung ist sehr verlockend, weil sie Geschichte und Vernunft
versöhnt, indem sie der Geschichte einen Sinn und der Vernunft Beweg¬
lichkeit zuschreibt. Gleichzeitig scheint in ihr die einzige Möglichkeit zu
liegen, sogar dem Ausdruck Philosophiegeschichte eine Bedeutung zu ge¬
ben: die Philosophie erscheint als die einzige Bewegung, die alle philo¬
sophischen Systeme durchzieht. Darüber hinaus gibt sie der „philosophi¬
schen Reihenfolge“ im sozialen Ablauf des Denkens und Handelns ihre
Eigenbedeutung, indem sie jede Phase der Geschichte der Philosophie in¬
nerlich mit der vorhergehenden verbindet, trennt die Philosophie der
Geschichte das Ganze der „philosophischen Reihe“ von anderen „Reihen“,
von denen der wirtschaftlichen, religiösen, sprachlichen usw. Darum also
ist diese Auffassung sehr verlockend. Ich glaube jedoch, daß wir den
Mut haben müssen, auf sie zu verzichten und Geschichte der Philosophie
ohne Philosophie der Geschichte zu treiben. Wenn man nämlich Philo¬
sophie als einheitliche Entwicklung rettet, geht es nur auf Kosten der
Philosophien, und zwar aus zwei Gründen: 1. Man opfert dabei die tie¬
fere Originalität, die ursprüngliche Intention, die einmalige Schau des
Wirklichen, die eine Philosophie uns gibt. Jeder Philosoph muß einen be¬
stimmten Platz einnehmen, er muß in die Fußstapfen seines Vorgängers
treten und seinen Nachfolger vorbereiten, muß vom absoluten Zentrum
einer Anschauung zum relativen Moment einer dialektischen Bewegung
werden, zum Durchgangsort einer Entwicklung, wie jene einzelnen Orga¬
nismen, von denen Bergson sagt, sie seien Durchgangsorte des Lebens¬
stroms. 2. Was vielleicht noch schwerer wiegt: der Philosoph, der sich die
Abfassung der Geschichte einer Philosophie vornimmt, übt auf alle Den¬
ker eine Gewaltherrschaft aus, welche das Gegenteil der Haltung eines
Historikers ist. Ich glaube, daß ein Historiker von Anfang an bereit sein
muß, sich selbst zu „entfremden“, sich dem Gesetz anderer zu unterwerfen
und seine Untersuchungen dem Dienst der Kommunikation, der Nächsten-

112
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG

liebe, wenn ich so sagen darf, zu unterstellen. Die Philosophen aber, die
Geschichte der Philosophie als Geschichtsphilosophen schreiben, mißachten
nicht nur die entschiedenen und ursprünglichen Intentionen der großen
Philosophen, sondern lassen die Geschichte sich an ihnen vollziehen. Die
wirklich großen philosophischen Systeme der Geschichte sind von dem
gleichen Übel wie der minderwertige Eklektizismus befallen; sie lassen
die Geschichte mit dem letzten Geschichtsphilosophen aufhören.
Die Schwierigkeit bleibt also in ihrer ganzen Größe bestehen, der Riß
zwischen der Verpflichtung zu der einen Wahrheit und der Geschichte der
vielgestaltigen Philosophie ist zu groß.

II

Aber vielleicht sollte man die Gegensätzlichkeit noch auf eine andere
Weise zu begreifen suchen, um von dem tödlichen Dilemma zu einem
lebendigen Paradoxon zu kommen. Schreiten wir jetzt zu einer zweiten
Annäherung an die Schwierigkeit, indem wir tiefer in den Begriff Philo¬
sophiegeschichte eindringen - dann zu einer dritten, indem wir unsere
Idee von der Wahrheit methodisch genau korrigieren.
Die Geschichte der Philosophie ist tatsächlich nur dann eine Vorlesung
über den Skeptizismus, wenn man in ihr eine Reihe von veränderlichen Lö¬
sungen unveränderlicher Probleme sieht, jener, die man die „ewigen Pro¬
bleme'' nennt (Freiheit, Vernunft, ^Virklichkeit, Seele, Gott usw.). \Venn
die Probleme dieselben bleiben und die Lösungen sich ändern, so hat die
W^idersprüchlichkeit der Systeme das gemeinsame Maß eines identischen
Problems zur Voraussetzung. An diese erste Voraussetzung ist eine zweite
gebunden: die veränderlichen Lösungen feststehender Probleme sind
typische Antworten: Realismus, Idealismus, Materialismus, Spiritualismus.
Diese Interpretation der Philosophien als typische Antworten auf ano¬
nyme, abstrakte Probleme - die man immer weitergibt - muß nun aufs neue
untersucht werden. Wir müssen aber den Umwegüber eine Vorfrage neh¬
men: Was heißt, eine Philosophie verstehen'^
Ich will hier von Bemerkungen Brehiers ausgehen, die den ersten zwei
Kapiteln seines Buches „La philosophie et son passe“ entnommen sind,
vor allem dem Kapitel „La causalite en histoire de la philosophie . Es ist
bekannt daß Bröhier drei Schichten der Betrachtung des Philosophie-
Historikers unterscheidet: „die äußere Geschichte“ sieht in der Philosophie
nur eine kulturelle Tatsache, eine Gesamtheit verschiedener Darstellun-
gen, die von der Soziologie, der Psychologie, sogar von der Psychoanalyse
und der Wirtschaftslehre entwickelt werden. Von dmsem Gesichtspun t
aus ist die Philosophie nur eine soziale oder psychologische Wertung unter

113
PAUL RICOEUR

anderen. Die Bindung zwischen der Philosophie und den Philosophen wird
zugunsten des historischen Zusammenhangs gelockert. Philosophie ist nur
ein Symptom.
Dieser Gesichtspunkt ist berechtigt im Rahmen einer objektiven Unter¬
suchung der Gesellschaftsformen und der psychologischen Zusammenhänge.
Er ermangelt des Eigentlichen der philosophischen Zielsetzung; der Nicht¬
philosoph wird in der Geschichte der Philosophie immer nur eine Ge¬
schichte der Ideen, eine Soziologie der Erkenntnisse sehen. Nun aber ist
die Geschichte der Philosophie in gewisser Hinsicht eine philosophische
Aktivität (beim Revidieren unseres Wahrheitsbegriffs werden wir gleich
darauf zurückkommen).
Der zweiten Schicht gehört ,,die kritische Geschichte“ an. Sie kommt
der eigentlichen philosophischen Zielsetzung schon näher: sie sucht nach
den Quellen. Man beachte: nicht die Ursachen, sondern die Quellen, das
heißt: die Einflüsse, die gewirkt haben und denen man in einem gewissen
Grade sogar freiwillig unterlegen ist. Diese kritische Geschichtsforschung
aber, die es immer geben muß und die den wissenschaftlichen Teil der
Arbeit eines Philosophie-Historikers ausmacht, kann sich nicht selbst ge¬
nügen; denn solange man nach dem Ursprung dieser oder jener Theorie
sucht, wird man ein System zerstückeln und die einzelnen Elemente der
Vergangenheit zuschreiben. Man gibt die Einheit der philosophischen Ab¬
sicht zugunsten der Vielfalt der Quellen auf. Je mehr man durch die Quel¬
len erklären will, um so weniger wird man das System verstehen. (Im
Grenzfall gäbe es gar keine Philosophie mehr, da jedes System diesem
gleichen Prozeß der Zergliederung unterzogen werden müßte und dabei
nur Gedankenfäden übrigblieben, die sich verknüpften und wieder lösen
würden, ohne daß je etwas Neues gechaffen würde.) Wie gesagt, diese
kritische Geschichte kann sich nicht selbst genügen, denn sie kann nicht die
organische Einheit erfassen, das ordnende Prinzip, das den Zusammen¬
hang einer Philosophie ausmacht. Der wahre Historiker vertraut seinem
Philosophen und versucht stets, die Einheit seines Denkens herauszustel¬
len. Verstehen heißt, die Einheit erfassen. Das Verstehen stellt also eine
zentripetale Bewegung der innersten Intuition einer zentrifugalen Bewe¬
gung des Erklärens durch Quellen gegenüber. Nach Brehier ist das Pro¬
blem der Geschichte der Philosophie das Problem der Verdichtung der
Einflüsse auf die „persönlichen Einsichten“, die gleichsam „das Absolute
der Geschichte der Philosophie“ sind. Wir müssen also in den verschiede¬
nen philosophischen Systemen die „unmittelbaren und ursprünglichen Er¬
kenntnisse“ suchen. Die Verwandtschaft dieser Ansicht mit der Bergsons
(in der Abhandlung „Philosophische Intuition“), ebenso mit der von Karl
Jaspers, den er mehrfach zitiert, ist offensichtlich.

114
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG

Sehen wir jetzt, nach welcher Richtung hin wir diese Ansichten ausbauen
können, um unsere am Anfang gestellte Aporie der Geschichte und der
Wahrheit umzugestalten. Vom Skeptizismus haben wir gesagt, daß er
erstens an die Rückführung der Philosophie auf typische Lösungen (die
berühmten Ismen der Handbücher . . .) gebunden sei, zweitens an die
Gegenüberstellung dieser typischen Lösungen und unveränderlichen Fra¬
gen. Betrachten wir nacheinander beide Punkte:
1. Es ist klar, daß das wirkliche Verstehen einer Philosophie - das
Verstehen der inneren Einheit, der zentralen Erkenntnis, der ursprüng¬
lichen Absicht jede Typologie überschreitet. Die Typologie bleibt im
Bereich des klassifizierenden Denkens; sie hat zweifellos eine pädago¬
gische Bedeutung, indem sie das Denken eines Anfängers in die Sphäre
der Probleme und der Lösungen einführt. Sie schafft eine Erwartung, die
in einem bestimmten Sinne nach dem Leitfaden einer mehr oder weniger
unpersönlichen, anonymen Weltanschauung ausgerichtet sein wird. Kurz¬
um, sie dient dazu, eine Philosophie auf den ersten Blick zu identifizieren,
sie einer bekannten Gruppe (dem Rationalismus, dem Empirismus usw.)
einzuordnen.
Das edite historische Verstehen beginnt aber genau da, wo diese Art
der Identifikation aufhört: man muß von einem rationalistischen, realisti¬
schen oder sonstigen Systemtyp auf eine einzige Philosophie übergehen.
Die Einheit einer Philosophie ist eine Einheit in der Person. Um mit
Spinoza zu sprechen, es ist kein genus commune, sondern eine essentia
singularis. Dieser Schritt vom Typus, von der Gattung zum individuellen
Wesen, ruft nun eine wahre Revolution auf dem Gebiete des Verstehens
hervor. Eben da, wo Platons Gedanken den Realismus und den Idealis¬
mus der üblidien Klassifikationen verlassen, wo Berkeley sie auf einem
anderen, nur ihm eigenen W^eg verläßt, nähern wir uns der individuellen
Eigenart einer Philosophie. Man meine jedoch nicht, daß die bedeutend¬
sten Philosophien über jede Klassifikation erhaben seien, fatalerweise
kommen sie selbst darauf zurück, da sie ein anonymes Gedankengut, das
ihnen überliefert wurde, aufnehmen und wiederholen, ohne es zu verar¬
beiten und ihrem Denken anzupassen. So war das Schema der drei Hypo¬
stasen für die ganze alexandrinische Schule eine Selbstverständlichkeit, eine
gemeinsame Methode, die Wesen zu klassifizieren, die man auch bei an¬
deren Neu-Platonikern als Plotin findet.
So ist jede Philosophie durch den Teil des anonymen Gutes, den sie
in sich trägt, der Typologie zugänglich. Man muß hinzufügen, daß das
polemische Verhältnis zu anderen Philosophien den Prozeß der Sklerose
beschleunigt, was der Typologie zum Verhängnis wird. Eine Philosophie
nimmt nicht nur das anonyme Gut auf, sondern bringt es auch hervor.

115
PAUL RICOEUR

Ein großer Teil der typologischen Begriffe waren entehrende Katego¬


rien, in die die gegnerischen Parteien ihre Rivalen einzuschließen ver¬
suchten, damit sie in diesem abstrakten Gehege an Entkräftung zu¬
grunde gehen sollten. Die Typologie ist also nicht nur ein harmloses päd¬
agogisches Mittel, das die Begegnung mit einer Philosophie vorbereitet,
indem sie in die Richtung, auf den ungefähren Ort hindeutet, wo die
Möglichkeit besteht, sie zu finden; sie begibt sich sogar auf den Abweg
der tödlichen Abstraktionen, von denen die Ideengeschichte voll ist: an
Stelle der Philosophien kennt sie nur eine Art leerer Hülle, die zum
Gemeingut gewordene Rinde der individuellen philosophischen Systeme.
Ferner muß man den Sinn der philosophischen Eigenart wohl ver¬
stehen. Man würde ganz und gar irregehen, wenn man sie auf die Sub¬
jektivität der Philosophen selbst zurückführen wollte. Das hieße, wieder
in die literarisdie Deutung, in die Psychographie oder die Psychoanalyse
der philosophischen Systeme zurückfallen. Für die Geschichte der Philo¬
sophie ist es wichtig, daß die Subjektivität eines Platon, eines Spinoza
im Werk über sich hinausgewachsen ist, in einer Gesamtheit von Deu¬
tungen, in denen sich die Biographie des Autors zwar verdedct oder offen
zeigt, in gewissem Sinne aber aufhebt. Die individuelle Eigenart, von
der hier die Rede ist, ist die, die den Sinn des Werkes umfaßt und nicht
jene des persönlichen Denk-Erlebnisses des Autors. Selbst wenn es
stimmt, daß die ,,Ethik“ die existentielle Absicht Spinozas ist, so ist es
für den Philosophie-Historiker doch nur wichtig, daß der Mensch Spinoza
seine Absicht in der „Ethik“ anders verwirklicht hat als in seinem Leben.
Der Historiker hat es nur auf den Sinn seines Werkes, auf das ,,Philo-
sophem“ abgesehen, in dem die essentia singularis liegt.
2. Wir können nunmehr unmittelbar zur Untersuchung des Begriffs
der ewigen und unveränderlichen Probleme übergehen. Wenn man ein
philosophisches System in seiner konkreten Gesamtheit betrachtet, wird
das Problem oder werden die Probleme, die es stellt, zu einem Teil seiner
individuellen Eigenart, auch dann, wenn der Autor sie aus einer alten
Überlieferung aufnimmt; sie werden einmalig wie er selbst und werden
ein Teil seiner eigenen Situation, die mit keiner anderen vergleidibar
ist. Man kann sogar sagen, daß vor allem derjenige ein großer Philosoph
ist, der die bisherige Problematik umstürzt, der die grundlegenden Fra¬
gen nach einem neuen Plan noch einmal formuliert. Weit bedeutender als
der Mensch, der antwortet, ist der Mensch, der fragt. Ein großer Philo¬
soph ist der, der zum erstenmal über das Sosein der Welt staunt, und
aus diesem Staunen entsteht eine neue Art von Philosophie. Die philo¬
sophische Vernunft, die in dieser Art am Werke ist, stellt die grund¬
sätzliche Frage in einer allgemeinen Form heraus: das kartesianische

116
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG

Problem der Gewißheit, das kantische der synthetischen Urteile a priori.


Wenn man an ein neues philosophisches System herantritt, indem man
sich mehr mit seinen Fragen als mit seinen Lösungen befaßt, hat man
die Möglichkeit, sich dem Zentrum zu nähern, in dem sich die Ein¬
flüsseverdichten. Die früheren Philosophien sind keine objektiven Gegen¬
stände mehr, sondern Aspekte ihrer grundsätzlichen Situation, Aspekte
einer ,,philosophischen Motivation“, einer völlig motivierenden Umwelt;
die Philosophie ist nicht mehr das Ergebnis einer Reihe von Ursachen,
vielmehr das Umgreifende und bis zu einem gewissen Grade ein Aus¬
wählen seiner eigenen historischen Motive.
An diesem Punkt zerstreut sich unser anfänglicher Skeptizismus - es
sei denn, daß er eine Umwandlung durchmacht, wie wir das noch sehen
werden. - Wenn man einmal das Stadium der System-Typologien über¬
wunden hat, die einzelnen Philosophien individuell betrachtet, die Lösun¬
gen auf die Probleme zurückführt, dann werde?i die Philosophien inkom¬
mensurabel. Zwei Problemstellungen sind von ihrem Urgrund her un¬
vergleichbar; zwischen zwei Philosophien besteht eine völlige Diskonti¬
nuität, die jenseits aller thematischen oder sprachlichen Bestimmungen
liegt. Man könnte dann sagen, daß jede Philosophie wahr ist, insofern
sie vollständig auf den Problemkreis antwortet, den sie selbst gestellt hat.
Die adaequatio rei et intellectus - die klassische Definition der Wahrheit
- wird hier zu einer adaequatio, einer Übereinstimmung der Fragen und
Antworten, der Probleme und der Lösungen; und ein großer Philosoph
ist der, der einerseits die Problemstellung erneuert und andererseits seine
eigene Position einnimmt, indem er dem von ihm gestellten Problem die
zusammenhängendste und umfassendste Lösung gibt. Oder, wenn man
von der Wahrheit als „adaequatio“ Wahrheit als „Entdeckung“ über¬
zur

geht, so ist die Wahrheit einer großen Philosophie mehr als die Über¬
einstimmung der Antworten mit den Fragen, sie ist Entdeckung ihrer
eigenen Situation, die in der Frage problematisch gewesen war.
Bleiben wir bei diesem Stadium stehen: Wir haben einen Skeptizismus
erster Ordnung aufgehoben, den, der auf dem Vergleich der Lösungen
unter sich nach dem Maßstab der ewigen Probleme beruht. Dieser Skep¬
tizismus ist samt allen Voraussetzungen erledigt. Ist aber nicht ein an¬
derer, subtilerer an seinen Platz getreten.'^
Es gibt Philosophien, aber gibt es noch eine Geschichte der Philosophie.^
Wir haben eine diskontinuierliche Reihe einzelner Systeme vor uns. Um
von einem zum andern zu gelangen, müssen wir jeweils einen Sprung
machen. Bergson konnte von Spinoza sagen, daß er nicht eine Zeile von
dem geschrieben hätte, was er geschrieben hat, wenn er m einer anderen
Zeit gelebt hätte, daß es aber trotzdem den gleichen Spmozismus gäbe.

117
PAUL RICOEUR

den wir kennen. Und Brehier, der ihn zustimmend zitiert, hat die Nei¬
gung, aus jeder Philosophie eine Quintessenz zu ziehen: ,,Der Philosoph
hat wohl seine Geschichte, nicht aber die Philosophie“, sagt er. Es gibt nur
eine Geschichte, weil die früheren philosophischen Systeme einen Teil
des Gedächtnisses und der Situation eines neuen Philosophen ausmachen.
Jeder enthält gewissermaßen die Geschichte der Vergangenheit in sich,
in einem historischen Moment, das eine Art Absolutum ist.
Während die Geschichte als Reihe, als Entwicklung zunichte wird, geht
auch die Wahrheit dadurch, daß sie vervielfältigt wird, verloren. Wenn
man alle Philosophien zusammen betrachtet, sind sie nicht mehr wahr oder
falsch, sondern immer andere. Ihr Anderssein ist hier gleichsam jenseits
von Wahrsein und Falschsein. Ein großer Historiker der Philosophie -
Delbos - macht den Denker, den er darstellt, unverwundbar und un¬
widerlegbar, indem er von dessen Zentrum ausgeht oder sich wenigstens
auf dieses Zentrum hin bewegt: von jetzt an ist er. Kant ist. Spinoza ist.
Das, was wir eben behauptet haben, ist keine Theorie, sondern bezeichnet
genau den Charakter des wahren Historikers: für ihn ist der Übergang
von einem Philosophen zum andern eine fortschreitende Bemühung der
Sympathie, eine philosophische Erkenntnis, die eine Art von Stillstand,
eine btzo/j) der Wahrheit bewirkt.
Das anfängliche Dilemma der sich verändernden Geschichte und der
unveränderlichen Wahrheit erhält nun eine subtilere Form: zu der Ge¬
schichte tritt die neutrale Sympathie hinzu und zu dem Suchen nach
Wahrheit die Bindung, die das Risiko der ‘Täuschung einschließt. Wir
wissen genau, daß diese Gegenüberstellung der wirklichen Situation ent¬
spricht: wenn man einmal versucht hat, Spinoza in seiner ihm angemessenen
Art zu verstehen, wird man sich nicht mehr fragen, ob er wahr oder falsch
ist. Mit der Arbeit des Historikers sind wir gleichzeitig in den Kreis einer
hypothetischen Wahrheit gelangt, einer Wahrheit ohne Glauben. So
kann die Geschichte immer zu einer Art Alibi für das Suchen nach Wahr¬
heit werden. Man kann sich immer sehr gut hinter der Geschichte ver¬
bergen, um selbst nichts behaupten zu müssen. Umgekehrt steckt der
wahre Philosoph so tief in seiner eigenen Philosophie, daß er am Ende
unfähig wird, die anderen Philosophen zu lesen. Wir wissen, wie sehr
die großen Philosophen ihre Vorgänger und ihre Zeitgenossen mißver¬
standen haben. Manche lesen sogar von einem bestimmten Augenblidc
an die anderen gar nicht mehr und sind wie eingegraben in ihr System.
Je weiter ein Philosoph in seinem eigenen System fortschreitet, um so
blinder wird er für die Geschichte, um so unzugänglicher für andere. Die
Unvereinbarkeit des Philosophen, der Geschichtsphilosophie treibt, und
des systematischen Philosophen ist in einem gewissen Grad zugleich gro-

118
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG

tesk und tragisch ... Im extremen Fall strebt der „skeptische“ Historiker
nach nichts mehr, und der „dogmatische“ Philosoph hat nur noch Feinde
oder Schüler, aber keine Freunde.

III

Sind wir in eine neue Sackgasse geraten? Ich glaube nicht: Wenn
wir jetzt den anderen Teil der Antithese in Frage stellen, wird vielleicht
auch der erste Schritt nicht vergeblich gewesen sein.
Wir haben bisher die Idee der Wahrheit als eine Abstraktion, die zu¬
gleich zeitlos und unpersönlich ist, betrachtet. Das ist die Idee der Wahr¬
heit, wie sie sich bei einer ersten Annäherung zeigt, aber sie hat diesen
abstrakten Charakter nur, weil sie der Grenzbegriff ist als Korrelat einer
bestimmten Aufgabe; sie ist der Horizont, der abstrakte, zeitlose, unper¬
sönliche Endsinn einer konkreten, zeitlichen und persönlichen Aufgabe;
die Idee der Wahrheit behauptet sich nur durch die Verpflichtung zu
denken. Nunmehr ist der andere Teil der Gegenüberstellung mit der Ge-
schidite nicht mehr die Idee der Wahrheit, sondern mein persönliches
Suchen, und die Idee der Wahrheit ist der Horizont, das angestrebte
Korrelativ dieses Suchens.
Was heißt nun die Wahrheit suchen? Vielleicht erlaubt die Antwort
auf diese Frage, die Geschichte der Philosophie nicht mehr als Gegen¬
begriff zur Wahrheit aufzufassen, sondern als ihre Ergänzung, ihren be¬
vorzugten Weg. T 1 1 • • j-
Um es ganz einfach auszudrücken, die Suche nach Wahrheit ist selbst
zwisdien zwei Pole gespannt. Einerseits eine persönliche Situation, an¬
dererseits ein Suchen nach dem Sein. Einerseits habe ich etwas ganz Eige¬
nes zu finden, das zu entdecken ausschließlich mir auferlegt ist; wenn
meine Existenz einen Sinn hat, wenn sie nicht vergeblich ist, habe idi eine
Stellung im Sein, die eine Aufforderung ist, eine bestimmte, von keinem
anderen an meiner Statt aufzuwerfende Frage zu stellen. Die Begrenzt¬
heit meiner Situation, meiner Information, meiner Begegnungen, meiner
Lektüre bestimmt die Grenze meiner Berufung zur Wahrheit.
Und doch heißt sonst nach Wahrheit suchen, daß ich nach einer a
-mein gültigen Aussage suche, die meine eigene Situation wie etwas
Universelles überwölbt. Ich möchte nichts erfinden, ni^ts sagen, was mir
gefällt, sondern was ist. Vom Grund meiner eigenen S.tuahon aus strebe
ich danach, dem Sein verbunden zu werden. Daß das Sem si* m mir
denke; das ist mein Wunsch nach Wahrheit. So ist die Suche nach Wahr¬
heit zwischen die „Begrenztheit“ und die .;^Offenheit“ des Sems gespannt.
Hier komme ich wieder auf die Geschichte der Philosophie als d e .

119
PAUL RICOEUR

innerung an einzelne große philosophische Systeme zurück: denn auf dem


Weg, der von meiner Situation zur Wahrheit hinführt, führt nur eine
Möglichkeit weiter, die Kommunikation. Es gibt nur eine Möglichkeit,
aus mir herauszukommen: mich in anderen mir selbst zu ,,entfremden“.
Die Kommunikation ist eine Form der Selbsterkenntnis. Ich sehe in der
Geschichte der Philosophie nicht nur eine irrationelle Reihe einzelner
Monographien, sondern finde gleichzeitig in ihr den ,,Sinn“ dieses histo¬
rischen Chaos für mich. Diese Geschichte ist nicht das „imaginäre Mu¬
seum“ der philosophischen Werke, sondern der Weg des Philosophen
von sich zu sich. Die Geschichte der Philosophie ist ein Werk der Philo¬
sophie, ein Umweg zur Erhellung des eigenen Seins. Der Sinn dieser
Sympathie, der Sinn dieser ino/jj, dieser Aufhebung der Bindung, der
Sinn dieser philosophischen Phantasie liegt nicht in ihr; das historisdie
Verständnis an sich hat keinen eigenen Sin7i; dieser wird erst dadurch
hineingebracht, daß es zur Kehrseite des aktuellen, gewagten, verpflich¬
tenden philosophischen Suchens wird.
So erscheint die Arbeit des Verstehens der Geschichte der Philosophie
und das ursprüngliche philosophische Schöpfertum als die beiden Aspekte
des einen Suchens nach dem Sein. Dadurch, daß sie sich der gegenwär¬
tigen schöpferischen Arbeit mitteilt, verliert die unaktuelle Geschidite ihre
Nichtigkeit, und zugleich entgeht das persönliche Suchen nach Wahrheit
der Begrenzung und dem Fanatismus. Der reine Historiker, der nicht
sucht, ist eine Abstraktion, der anderen Abstraktion entsprechend: dem
Autodidakten, der von anderen nichts lernt, der keine Überlieferung
kennt und keine philosophische Erinnerung hat.
Auf dieser Ebene unserer Überlegung ist das tödliche Dilemma zum
lebendigen Paradoxon geworden: wir müssen auf eine im gewissen Sinne
monadische Definition der Wahrheit verzichten, wonach die Wahrheit
für jeden die Übereinstimmung seiner Antwort mit seiner Problem¬
stellung wäre. Wir gelangen vielmehr zu einer kommunikativen und
polemischen Definition der Wahrheit, in der jeder seine Meinung erklärt
und seine Weltanschauung im „Kampf“ mit anderen entwickelt; das ist
der „liebende Kampf“, von dem Karl Jaspers spricht. Die Wahrheit um¬
greift das Zusammensein aller Philosophen. Die philosophia perennis
würde also bedeuten, daß es ein gemeinschaftliches Suchen gäbe, ein
„Symphilosophieren“ - ein Philosophieren in Gemeinschaft - , bei dem
alle Philosophen miteinander im Kampf liegen und deren Dolmetsch die
conscientia testimonians ist, die immer wieder sucht, hic et nunc. In
diesem Kampf bekommen die Philosophien der Vergangenheit immer
wieder einen neuen Sinn: diese Gemeinschaft rettet sie zwar vor dem
Vergessen und dem Tod, bringt sie aber in die Nähe von Zielsetzungen

120
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG

und Beantwortungsmöglichkeiten, die die Zeitgenossen nicht gesehen


hatten. Dies trifft sogar für die philosophischen Systeme zu, die sich selbst
ewig nannten; auch sie konnten diesem Gesetz nicht entgehen; sie haben
wenigstens noch die Geschichte ihrer Leser. Der Thomismus entgeht eben¬
sowenig wie der Platonismus der zwangsläufigen Tatsache, nur in der
Geschichte der neo-thomistischen Systeme weiterzuleben, ebenso wie es
in der Geschichte neuplatonisdie Systeme gab. Jede dieser erneuernden
Lesarten verschiebt unaufhörlich den Grundgedanken der ursprünglichen
Lehre.
So entsteht eine Wechselbeziehung zwischen der Geschichte und der
gegenwärtigen Forschung, und gerade durch diese Wechselbeziehung
entgehen die philosophischen Systeme nicht nur der typologischen Klassi¬
fikation, sondern auch der Starrheit der essentia singularis. Die beweg¬
liche Beziehung Platons zu einem heutigen Leser entzieht ihn jeder sy¬
stematischen Geschichtsschreibung, die ihn in der unbeweglichen Rolle
eines „Moments“ des „absoluten Wissens“ erstarren lassen möchte. So ist
Platons Philosophie durch ihre individuelle Eigenart, aber auch durch
den Dialog, der ihren Sinn wieder neu belebt, drojrog geworden.

IV

Sind wir damit am Ende unserer Untersuchung angelangt? Man möchte


diesen endlosen Prozeß des gegenwärtigen Forschens, des Verstehens dei
Vergangenheit, des Übergangs von der monadischen V^ahrheit zur Wahl
heit der Monadologie auf dem Wege einer Art von geistiger Zusammen¬
schau aller Perspektiven Wahrheit nennen.
Es ist wichtig, daß wir uns der Enttäuschung, die diese erneute An¬
näherung an das anfänglich gestellte Problem mit sich bringt, völlig be¬
wußt werden: diese zerrissene Herrschaft verschiedener Wahrheiten kön¬
nen wir aus mancherlei Gründen nicht als die Wahrheit bezeichnen.
Einmal weil die philosophischen Systeme, die ich als Historiker unter¬
suche, in den Dialog, den ich zu führen fähig bin, nur selten wirklich
hineinpassen. „Begegnungen“, die diesen Namen verdienen, sind selten.
Einen großen Teil der Geschichte der Philosophie behandle ich gewisser¬
maßen nur von Berufs wegen, ohne einzusehen, was sie mit meinen eige¬
nen Forschungen zu tun hat. In dieser Geschichte ohne Dialog bleibt das
tödliche Dilemma der Wahrheit und der Geschichte als Hintergrund des
lebendigen Paradoxons des Forschens und der Kommunikation bestehen.
Weiterhin: wenn es mir wirklich gelingt, mit dem Denker, den ich
gerade studiere, in ein richtiges Gespräch zu kommen, bleiben die beiclen
Einstellungen, die ich einmal als Philosoph, zum andern als Historiker

121
PAUL RICOEUR

habe, widersprüchlich; wenn ich Platon oder Spinoza lese, überlasse ich
mich einem bestimmten Wechsel des Standpunkts; einmal sehe ich von
meinen eigenen Fragen und meinen eigenen Entwürfen von Antworten
ab, um ein anderer zu werden, um mich dem Denker, den ich studiere,
ganz unterzuordnen; dann wieder erneuere ich den Angriff und lege an
die vertiefte Einsicht, zu der die ejtox't] mich geführt hat, den kritischen
Maßstab, um dann aber wieder meinem Denker Glauben zu schenken
und mich von ihm besiegen zu lassen. Es gibt keine vollständige Ver¬
schmelzung des „skeptischen“ und des „dogmatischen“ Moments.
Schließlich, und das ist das Wichtigste, klafft zwischen den Problemen
der verschiedenen Philosophen ein unüberbrückbarer Widerspruch, so daß
jede Gegenüberstellung von Philosophen in gewisser Hinsicht ein Mi߬
verständnis bleibt. Darin liegt die schwerste Enttäuschung. Dieses Mi߬
verständnis, diese Verschiedenartigkeit der letztlich unvereinbaren Pro¬
blemstellungen steht einer vollkommenen Kommunikation entgegen. Diese
Kommunikation wäre die Wahrheit, wenn sie vollkommen sein könnte.
Das führt mich zu einer letzten Annäherung an das Problem der Ge¬
schichte und der Wahrheit. Wir haben bisher ständig das, was wir die
Idee der Wahrheit schlechthin nannten, am Horizont dieser weitläufigen
Debatte zwischen Philosophen und philosophischen Systemen, im Auge
behalten. Wir haben sie als eine ausgleichende Idee im kantischen Sinne
aufgefaßt, das heißt als ein rationales Gebilde, das eine Einheit im Be¬
reich der Bejahung fordert. Vielleicht könnten wir aus unserer Sackgasse
herausfinden, wenn wir an dieses Gebilde am Horizont der Wahrheit
eine neue Überlegung anknüpfen. Als wir es als ein Korrelat der Ver¬
pflichtung zum Denken bezeichneten, sind wir ihm nicht ganz gerecht
geworden. Wir haben es nur von seiner subjektiven, noetischen Seite
gesehen, als eine „Aufgabe“ der Wahrheit. Dies genügte an jenem Punkt
unserer Überlegung, um die innere Dialektik der Forschung - der philo¬
sophischen „Fragestellung“ - zu verstehen, die abwechselnd auf die Ge¬
schichte hört, dann wieder eine neue Frage aufwirft.
Wir müssen jetzt den korrelativen Begriff, die noematische Seite der
„Aufgabe“ der Wahrheit prüfen, das heißt jenes Eine, das uns von Situ¬
ation zu Situation verfolgt und wieder daraus vertreibt, seitdem wir
unsere Untersuchung aufgenommen haben.
Wir ahnen bereits, daß dieses Eine die einzelnen Philosophien auf eine
Geschichte zurückführt und aus dieser einzigen Geschichte eine philo-
sophia perennis macht. Zu diesem Einen bleibt uns jedoch kein anderer
Zugang als eben die Auseinandersetzung der Philosophien miteinander.
Das, was bei jeder Frage in Frage steht, was die Frage veranlaßt - das
der Fragestellung vorausgehende Sein - ist ebenfalls dieses Eine der Ge-

122
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG

schichte; aber dieses Eine ist weder eine spezielle Philosophie, die sich als
ewig ausgibt, noch die Summe der Philosophien, noch das, worin alle
übereinstimmen, noch das Werden als immanentes Gesetz der philoso¬
phischen „Momente“, noch das „absolute Wissen“ von diesem Werden.
Was aber ist es, wenn nicht alles dies zusammen?
Vielleicht kann man die Beziehung zwischen der Geschichte der Philo¬
sophie (als Dialog von jedem mit jedem) zur Einheit der Wahrheit auf
einem Umwege erhellen. Es ist der Umweg der Beziehung zwischen der
Pflicht zu denken und einer Art ontologischer Hoffnung. Ich denke an eine
Ausdrucksweise etwa wie: „Ich hoffe, in der Wahrheit zu sein. Die
Deutung dieser Ausdrucksweise soll uns zur Beziehung der Geschichte zu
ihrer Unvergänglidikeit hinführen.
Was will ich mit der Formulierung: „ich hoffe, in der Wahrheit zu
sein“ sagen?
ln der Wahrheit! Aus der Präposition in ergibt sich eine neue Bezie¬
hung, die nicht die gleiche ist, die sich aus anderen Präpositionen ergibt,
etwa: im Hinblick auf die Wahrheit, auf dem Wege zur Wahrheit. Durch
die Präposition hi wird die Wahrheit nicht nur zu einem Ziel, einem
Horizont, sondern zu einer Umwelt, wie die Atmosphäre, oder noch
besser, wie das Licht. Ich hoffe, daß das, was ich meine Philosophie,
meinen Gedanken nenne, m einer gewissen Umwelt steht, die der Ver¬
mittlung nicht widersteht, ja sogar die Fähigkeit besitzt, jegliche Ver¬
mittlung herzustellen, so wie nachTimäus das Licht Vermittlerin zwischen
dem Feuer des Auges und dem Feuer des Objektes ist.
Indes uns die Metapher der Präposition in zu der anderen Metapher
- derjenigen der Wahrheit als Umwelt oder besser als Licht - geführt
hat, bringt sie uns zugleich auf ein Thema zurück, dem wir bereits auf
unserem Weg begegnet sind: das Sein als „Offenheit . Wir hatten dieses
Sein flüchtig meiner Situation der „Begrenztheit“ gegenübergestellt,
dann wurde es aber von der Aufgabe eines auf einen Horizont gerich¬
teten Forschens verdeckt. Was bedeutet der Begriff „Offenheit“? Er be¬
deutet daß all die einzelnen philosophischen Denkweisen - eines Haton,
Descartes, Spinoza - einander a priori zugänglich sind, daß jeder Dialog
a priori möglich ist, weil eben das Sein der Akt ist, der jeder MogliAkeit
der Fragestellung vorausgeht und zugrunde hegt und damit zugleich den
wechselseitigen Bezug der verschiedenen philosophischen Systeme au -
einander begründet. Jene „Offenheit“ ist es, jene Lichtung jenes lumen
naturale“, das die naive Phantasie in die elysischen Gefilde verlegt, in
denen die Totengespräche möglich sind. In den elysisc:hen Gefilden sind
alle Philosophen Zeitgenossen und alle Kommunikationen umkehrbar.
Platon kann dem jüngeren Descartes selbst antworten. Die elysischen

123
PAUL RICOEUR

Gefilde bilden den der Geschichte vorausgehenden Zustand der „Offen¬


heit“, der jeden Dialog in der Zeit möglich macht. Also ist die Pluralität
nicht die letzte Wirklichkeit und das Mißverständnis nicht die letzte
Möglichkeit der Kommunikation. Das Sein jeglicher Frage öffnet vor
allem jeden für jeden und begründet die historische und polemisdie
Wahrheit der Kommunikation.
Doch muß man hier achtgeben, daß man das in - in der Wahrheit -
nicht von dem ich hoffe - ich hoffe, in der Wahrheit zu sein - trennt. Ich
kann diese Einheit nicht sagen, nicht vernunftgemäß bezeichnen und aus-
drücken; es gibt keinen Aöj'og dieser Einheit. Ich kann die „Offenheit“,
die der Einheit aller Fragen zugrunde liegt, nicht in eine zusammen¬
hängende Rede aufnehmen. Sonst brauchte ich nicht mehr zu sagen; „idi
hoffe, m der Wahrheit zu sein'', sondern: „ich habe die Wahrheit“.
Diese besitzanzeigende Beziehung zur Wahrheit ist vielleicht das Geheim¬
nis der Anmaßung und der Aggressivität gegenüber jedem rebellisdien
Gedanken, der sich in jedem Eklektizismus und jeder systematischen Ge¬
schichte der Philosophie verbirgt. Denn man muß noch die Wahrheit
„haben“, um das der Geschichte innewohnende Werden in ein absolutes
Wissen umzudenken. Nein, diese Hoffnung verleiht nicht die Macht, die
Geschichte zu beherrschen, sie vernunftgemäß anzuordnen. Und doch ist
diese „Offenheit“ nicht ganz verborgen. Die ontologische Hoffnung hat
ihre Zeichen und ihr Unterpfand; je mehr man in eine Philosophie ein¬
dringt, je mehr man durch sie sidi selbst entfremdet wird, je mehr man
begreift, daß diese Philosophie nicht auf Typen zurückgeführt werden
kann, je mehr man seine eigene Autonomie gegenüber den herantreten¬
den Einflüssen behauptet, je mehr man endlich sein Anderssein im Ver¬
hältnis zu jedem anderen betont,-um so mehr wird man durch die Freude
belohnt, an das Wesentliche zu rühren: es ist, als wenn man beim Ein¬
dringen in das Dickicht einer Philosophie mit ihren Sdiwierigkeiten,
ihren Absichten, ihren Ablehnungen die eigene unaussprechliche Über¬
einstimmung mit allen anderen empfindet und zur Überzeugung gelangt,
daß Platon, Descartes und Kant von demselben Sein angesprochen werden.
Und in diesem Sinne verstehe ich auch das tiefe Wort Spinozas: Quo
magis res singuläres intelligimus, eo magis Deum intelligimus. Doch kann
diese eigene Übereinstimmung niemals zu einem System werden, sie kann
nie zum Thema erhoben werden. Deshalb gehört sie eher in die Ordnung
der Verheißung und des Erinnerns (was wohl das gleiche ist). Ich hoffe,
daß alle großen Philosophen in der gleichen Wahrheit sind, daß sie das
gleiche präontologische Verstehen ihres Verhältnisses zum Sein haben.
Und ich glaube also, daß die Aufgabe dieser Hoffnung darin liegt, daß
man den Dialog stets offenhält und eine brüderliche Haltung in die här-

124
GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS KONTINUIERLICHE SCHÖPFUNG

testen Kämpfe einführt. In diesem Sinne ist die Hoffnung wohl das Herz¬
stück der Kommunikation, das „Licht“ in allen Kämpfen. Die Geschichte
bleibt polemisch, aber gleichsam aufgehellt durch dieses ea;Karoi’, das sie in
eine Einheit zusammenfaßt und zur ewigen Gültigkeit erhebt, ohne daß
es der Geschichte koordiniert werden könnte. Ich möchte sagen, daß die
Einheit der Wahrheit nur darum eine zeitlose Aulgabe ist, weil sie in
erster Linie eine eschatologische Hoffnung ist. Sie ist nicht nur der stän¬
dige Anlaß aller meiner Enttäusdiung der Geschichte der Philosophie
gegenüber, sondern sie gibt mir den Mut, Geschichte der Philosophie ohne
Philosophie der Gesdiichte zu treiben.
Wir haben den anfänglichen Skeptizismus aus mehreren Positionen
nacheinander verdrängt, aber er hat auch uns aus unserer Position ver¬
drängt. Er ist zunächst in dem Einen besiegt; doch kenne ich dieses Eine
nicht. Auch bleibt der Skeptizismus existentiell die größte Versuchung bei
der Arbeit des Historikers. Die Gesdiichte bleibt der Ort, an dem das
Nicht-mehr-Seiende, das Entfernte, das andere liegt. Keiner kann die
Philosophia perennis schreiben.
Diese zwielichtige Natur der Geschichte der Philosophie ist die der
Kommunikation, die bald das Selbst, bald das andere verändert, bald
das Eine, bald das Vielfältige. Schließlich ist sie auch die zwielichtig
Natur der Menschheit selbst, denn die Geschichte der Philosophie erweist
sich bei einer letzten Prüfung als einer der bevorzugten Wege, auf denen
die Menschheit für ihre Einheit und ihre Dauer kämpft.

Übersetzt von Gertrud Sternpiper und Gisela von Tümpling


Kurt Rossmann

WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

Zur Symbolik von Dürers Kupferstich „Melencolia. I“

Die grundsätzliche und entscheidende Frage nach dem Sinn und Wert
von Wissenschaft für das Leben hat am eindringlichsten für unsere Zeit
Max Weber in seinem philosophischen Testament, der Rede über „Wissen¬
schaft als Beruf“, gestellt. Max Weber fragte: „Welches ist der Beruf der
Wissenschaft innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit? und welches
ihr Wert?“ Was immer in ihrer Geschichte als ihr Wert angesehen wurde,
so lautet die Antwort: der Weg zum wahren Sein, zur wahren Kunst und
Natur, zum wahren Gott oder zum wahren Glück, habe sich zuletzt als
Illusion erwiesen, „Und heute?“, fragt dann Max Weber weiter: „Wer-
außer einigen großen Kindern, wie sie sich gerade in den Naturwissenschaf¬
ten finden - glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der
Biologie oder der Physik oder der Chemie uns etwas über den Sinn der
Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Wege man
einem solchen Sinn - wenn es ihn gibt - auf die Spur kommen könnte?
Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran, daß es so
etwas wie einen ,Sinn‘ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu las¬
sen! Und vollends die Wissenschaft als Weg zu Gott? Sie, die spezifisch
gottfremde Macht? Daß sie das ist, darüber wird, mag er es sich zugestehen
oder nicht, in seinem letzten Innern heute niemand im Zweifel sein.“ Die
einfachste Antwort - so beschließt Max Weber seine Überlegungen - habe
Tolstoi mit den Worten gegeben: „Sie [die Wissenschaft] sei sinnlos, weil
sie auf die allein für uns wichtige Frage: ,Was sollen wir tun? Wie sollen
wir leben?' keine Antwort gebe.“ Die Tatsache, daß sie diese Antwort
nicht gebe, sei freilich unbestreitbar. Müsse aber die Frage nicht sinn¬
voller anders gestellt werden, nämlich so: „In welchem Sinne Wissen¬
schaft ,keine' Antwort gebe", und sei nicht dann zu erwarten, ob nicht viel¬
leicht doch Wissenschaft dem, der die Frage so stelle, etwas leisten könne*?
Die Frage nach dem Sinn und Wert von Wissenschaft für das Leben
schließt also für Max Weber in sich die weitere Frage nach der Grenze
von Wissenschaft, eben danach, „in welchem Sinne sie ,keine' Antwort
gebe“ und geben könne. Was aber Max Weber hier eigentlich zum The¬
ma wurde, ist das Ungenügen und die Verzweiflung am Erkennen und
Wissen selbst, und nicht nur in der Gestalt der heutigen unter dem Prin¬
zip der Voraussetzungslosigkeit auf Universalität intentionierten Wissen-

126

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WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

Schaft, mit deren geschichtlicher Situationsanalyse seine Überlegungen an¬


heben und mit deren Kritikern er sich auseinandersetzt. Denn dieses
Ungenügen und diese Verzweiflung sind nicht etwa aufzufassen als ne¬
gatives Resultat der Geschichte des wissentlichen Bemühens des Men¬
schen um Wahrheitserkenntnis. Sie gehören vielmehr zum Erkennen und
Wissenwollen selber in welcher Gestalt auch immer, und überkommen
den Menschen stets dann, wenn er dem Erkennen und Wissen abver¬
langt, was sie von sich aus gar nicht leisten können; nämlich mit der Er¬
kenntnis von Seiendem zugleich die Frage nach dem Sein, das alles ist,
und nach dem, was einzig not tut, zu beantworten.
Doch gerade wiederum in der Frage nach dem Sein, das alles ist, und
nach dem, was einzig not tut, besitzt unser Erkennen- und Wissenwollen
seinen eigentlichen Antrieb, gleichviel ob dieser Antrieb nun in der naiven
Neugier bloßen anschauenden Wissen- und Erfahrenwollens oder im Ver¬
langen nadi einem systematischen Begreifen und Ordnen des gegenständ¬
lich Sehbaren, Greifbaren, überhaupt des sinnlich Wahrnehmbaren, oder
im grundsätzlichen kartesianischen Zweifel, der ,more geometrico‘ zwin¬
gende Gewißheit und strikte Eindeutigkeit des Erkannten postuliert, sich
bekundet. Es ist der Antrieb für alle geschichtlichen Weisen des Erkennens.
Denn er gehört zum Menschsein als Selbstbewußtsein (ohne das es kein
Menschsein gibt) und zu dem dieses Selbstbewußtsein erst konstituieren¬
den metaphysischen Bewußtsein. Er gehört zum menschlichen Wesen, das
weder ganz Geist noch ganz Natur, weder Engel noch Tier ist, als seine
Qual und Mühe und als seine Freiheit, seine Würde, wie immer es sich
auch selbst begreift und vorstellt: ob als Auslassung göttlicher Ursubstanz
in die Welt der Maya, von der es in einer Kette von Wiedergeburten
wieder heimdrängt zur Ruhe des Urseins, das Alles und Nichts zugleich
ist; ob als vom Tao verliehenes und geprägtes Wesen, das dem Tao
gemäß sich erfüllen und vollenden soll; ob als Person und Maß und Mitte
des vom Logos beherrschten und durchwalteten Kosmos; ob als Adam des
Paradieses, dem Herrn und Namengeber der Tiere und Dinge oder ob
als der wiedergeborene Adam unseres Äons, für den das Ganze der
Welt auseinanderfällt in das Ich und das, was diesem Ich als Natur und
Geschichte, die es durchforscht um sie zu beherrschen und zu lenken, gegen¬
übersteht. Diesem Antrieb zum Erkennen des Seins, das alles ist, als dem
Antrieb des Erkennens überhaupt, korrespondiert stets auch das Unge¬
nügen und die Verzweiflung am Erkennen selber.
Nicht geht es dabei um die Bejahung oder Verwerfung des Erkennens
in Gestalt auch der heutigen Wissenschaft als Wert für das Leben im
Sinne etwa des idealistischen und positivistischen Fortschnttsgedankens
und dessen pessimistisch eschatologischer Verkehrungen, wobei unter der

127
KURT ROSSMANN

Dominante eines Panlogismus, für den das Denken und das Sein zu¬
sammenfallen, letztlich stets die Geschichte, wie immer auch interpretiert:
ob als Heilsweg oder als Weg des Unheils oder auch letztlich als Fatum
und Seinsgeschick, das wir nur bedenken können, den einzigen, jedoch wie
trügerischen, Rechtsgrund abgeben soll. Die von Max Weber, dem Uni¬
versalhistoriker, der dem Wissen des Wissens zugewandt war, an das
Erkennen und Wissen gerichtete Sinn- und Wertfrage, ist durchaus keine
auf die Geschichte als Rechtsgrund bezogene Interpretationsfrage, son¬
dern ist eine ursprüngliche philosophische Seinsfrage. Und wenn Max
Weber mit Nietzsche das, was jeweils in ihrer Geschichte als Wert von
Wissenschaft angesehen wurde: als Weg zum wahren Sein, zur wahren
Kunst und Natur, zum wahren Gott und Glück zuletzt als Illusionen des
Erkennen- und Wissenwollens begreift, so zielt diese Desillusionie¬
rung, die ja gerade selber wieder dem kritisch-wissenschaftlidien Red¬
lichkeitsanspruch, dem intellektuellen Gewissen entstammt, durchaus nicht
auf Verneinung von Wissenschaft, sondern auf den Nachweis ihrer Gren¬
zen. Im Erfahren aber dieser Grenzen überfällt uns Verzweiflung, wer¬
den wir des Ungenügens am Wissen schlechthin inne. An dieser Ver¬
zweiflung und diesem Ungenügen jedoch entzündet sich der philosophisdie
Gedanke.
Was Max Weber am Ende eines ganz der empirischen Wissenschaft
unter universalem Aspekt gewidmeten Lebens in letzter Konzentration
und radikaler Infragestellung des Sinns und Wertes des Wissens selber
derart zum philosophischen Problem, und das ist: zum eigentlichen
Problem der Vergewisserung des Menschen über sich selbst wurde, das
bildet auch den Ausgangspunkt und die Unruhe des philosophischen
Gedankens im Lebenswerk von Karl Jaspers. Denn gerade diese Ver¬
zweiflung und dieses Ungenügen am Erkennen und Wissen inmitten
einer Welt universaler Wissenschaftlichkeit, die stets in der Gefahr ist,
die Grenzen des Wissens zu verfälschen, indem sie es entweder als Macht
vergötzt und mißbraucht oder umgekehrt es als Macht verflucht oder vor
ihr resigniert, wurde ihm zu einem der zentralen Probleme seines Philo-
sophierens. Es ist das Problem der Verzweiflung und der Verlassenheit
des Menschen, dem die Grenze jedes wissentlich gesuchten Wahrheits¬
sinnes im Scheitern des Erkennens selber gewiß wird.
Für diese Verzweiflung und Verlassenheit des im Erkennen scheitern¬
den Menschen besitzen wir aus der Zeit des Beginns der heutigen Wissen¬
schaft ein mächtiges, in seinem übergeschichtlichen philosophischen Sinn¬
gehalt trotz vielfältiger und sorgsamer Deutungsversuche noch unerschlos-
sen gebliebenes Symbol, das wie ein Janusbild, doppelgesichtig in Ver¬
gangenheit und Zukunft blickend, gerade jene Wissensproblematik re-

128
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

präsentiert, die in der Folge allgemeine Wirklichkeit geworden ist; unsere


Wirklichkeit. Es ist Dürers Kupferstich „Melencolia. I“.
Unter den zuletzt versuchten Deutungen dieses Symbols — denn es ist
ein Symbol und nicht eine Allegorese, wenn es auch aus allegorisch-em-
blematischen Bestandteilen gleichsam zusammengesetzt erscheint-sind die
von Karl Giehlow, Heinrich Wölfflin und Erwin Panofsky und Fritz
Saxl als die gewichtigsten und umfassendsten zu nennen^. Diese drei
Deutungsversuche greifen ineinander und ergänzen sich. Giehlows Unter¬
suchung ist dabei als die grundlegende anzusehen. Denn Giehlow war es,
der als erster einmal auf den hieroglyphisch-emblematischen Charakter
des Blattes verwiesen und zum anderen seinen Sinngehalt auf Grund der
in Marsiglio Ficinos „De vita triplici“ getroffenen Unterscheidung einer
bösartigen, krankhaften Melancholie von einer gutartigen, die nur vor¬
übergehend den Menschen befalle und zur Wesenheit des mit hohen gei¬
stigen Dingen Beschäftigten, des Gelehrten und Philosophen, gehöre, zu
erschließen unternommen hatte. Die Unterscheidung einer krankhaften
von einer gutartigen Melancholie im Sinne einer Melancholie öid vöoovund
einer öid qjöoiv geht auf Aristoteles zurück, der auch auf den engen Zu¬
sammenhang von Melancholie und Genie verwiesen hatte. Doch gesteht
Ficino, der Platoniker, der gutartigen Melancholie divinatorische Gei¬
stestätigkeit und geniale Schöpferkraft in einem weit höheren Maße zu,
als Aristoteles es tut. Sie gilt ihm als Stigma des Genius. Es ist jene Me¬
lancholie, die Dürer selber nicht fremd war. Von der „melancolia gene-
rosissima Dureri“ hat Melanchthon gesprochen. Daß diese zum genialen
Geistwesen gehörige Melancholie und nicht die krankhafte, die wir heute
medizinisch mit dem Begriff der Zyklothymie zu bezeichnen pflegen, in Dü¬
rers Blatt gemeint sei, darin stimmen Giehlow wie Wölfflin und Panofsky
und Saxl überein, während sie sonst ganz andere Wege der Deutung be¬
schritten haben: Wölfflin den Weg der formalen Bildanalyse und Panofsky
und Saxl den einer sehr komplexen philologisch-ikonographischen Interpre¬
tation, die zumal astrologische, auf Saturn, das Gestirn der Melancholiker
bezogene Vorstellungskreise, auf die auch Giehlow aufmerksam gemacht
hatte, berücksichtigt. Es handele sich in Dürers Stich um die Veranschau¬
lichung der „natürlichen“ Melancholie, die nur „vorübergehend die Ver¬
nunft verstopfe“, meint Wölfflin. Und von der Melancholie des geisti¬
gen Menschen, „die dumpfe Trübsal und reine Schaffensfreude in sich
schließe“, sprechen Panofsky und Saxl, die darin Giehlow folgen, der
die Melancholie als „divinatorische Geistestatigkeit“ einerseits und als
,Verdüsterung des Geistes“ andererseits auffaßt. , r - •
Was aber sagt uns das Bild unmittelbar? Rechts im Vordergrund, fast ein
Drittel des Blattes einnehmend, sitzt vor einem turmartigen Gebäude, von

129
KURT ROSSMANN

dem nur das Untergeschoß sichtbar ist, auf niedriger Steinstufe eine mach
tige geflügelte Frauengestalt in bürgerlicher Tracht. An ihrem Gürtel hän¬
gen ein Schlüsselbund und ein Geldbeutel. Mit der linken zur Faust geball¬
ten Hand stützt die Frau ihren beschatteten, etwas nach vorn geneigten
sdiweren Kopf. Er trägt einen Kranz von Wasserranunkelblättern, unter
dem das Haar in Strähnen herabfällt. Die rechte Hand, auf dem Schoße über
einem Buche ruhend, hält einen Zirkel. Aber die Frau mißt nichts mit
dem Zirkel. Sie pausiert jedoch nicht etwa in ihrem Tun; auch hängt sie
nicht etwa einem fernen Gedanken nach. Sie hat vielmehr mit ihrem Tun
aufgehört und starrt gedankenverloren mit verdüstertem Blick und Ant¬
litz ins Leere. Um sie herum, wirr verstreut, liegen Meß- und Arbeitsge¬
räte: Nägel, Hobel, Säge, Lineal, eine Kugel und eine Profilleiste, ein in
einem Schmelzofen stehendes dreiwandiges Gefäß (Alchimistentiegel), ein
Schreibgerät, Hammer und Zange und ein einer Spritze oder einem
Bohrer ähnliches Gebilde. - Ebenso den Blick anziehend wie die Frau
selber, ruht im Mittelgrund links ein großer polyedrischer Steinkörper,
der der exakten geometrischen Ausmessung sich entzieht. Vor ihm schläft
zusammengerollt ein abgemagerter Hund. Rechts seitlich der Frau hockt
vor dem Turm auf einem Mühlstein ein wie die Frau mit Flügeln ver¬
sehenes Kind, das mit einem Griffel auf einer Tafel kritzelt. Über ihm
hängt von der Turmwand eine Waage mit ausgewogenen Schalen herab.
Rechts am Turm, im Rücken der Frauengestalt sind eine Sanduhr, eine
Sonnenuhr, eine Glocke und ein magisches Zahlenquadrat (Jupiterqua¬
drat) angebracht. An der Rückseite des Turms, diagonal ins Bild ragend,
lehnt, wie beiseitegestellt, eine Leiter. Den Hintergrund bildet ein abend¬
licher Himmel über einem Meer mit einer Uferlandschaft. Am Himmel
zeigt sich ein Lichtquell, der weder Sonne noch Mond, schwerlich aber
auch ein Komet ist, und das abendliche Dunkel nicht zu verscheuchen ver¬
mag. Über ihm spannt sich ein Regenbogen, unter dem eine Fledermaus
mit einem Echsenschwanz in der Blickrichtung der Frau gleichsam aus
dem Bild herausfliegt. Auf ihren weit ausgebreiteten Flügeln trägt diese
Fledermaus den Bildnamen: „Melencolia. I“.
Was sich Auge und Gefühl zunächst aufdrängt, ist das Empfinden,
daß hier nichts zusammenstimmig ist. Alle Beziehungen von Subjekt zu
Objekt haben aufgehört. Die dargestellten Dinge und Geräte sind in
ihre Selbstigkeit zurückgekehrt, und die in melancholisches Vorsichhin-
brüten verfallene Frau in ihrer Mitte drückt nicht nur Verdüsterung aus,
und, weil sie mit sich allein ist, Einsamkeit, sondern Verlassenheit und
Verzweiflung. Sie hat sich von allem abgewandt, was sie anging. An dem
Steinblock, dem Gegenstand ihres früheren Messens, sieht sie vorbei. Das
Buch in ihrem Schoß ist geschlossen. Den Himmelserscheinungen wendet

130

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WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

sie den Rücken. Der Zusammenhang von Denken und Tun ist für sie
auseinandergerissen. Was sie erheben sollte, drückt sie nieder wie ihre
Flügel, die ihr zur Last geworden scheinen. Das Sinnverquere, Zweck¬
widrige herrscht vor. Die Welt ist sinnlos geworden, weil das auf ihr
Erkennen bedachte Wesen, der Mensch, nicht mehr bei sich ist. Alle
diese Merkmale hat Wölfflin in einen den Stimmungsgehalt des Blattes
unübertrefflidi wiedergebenclen Satz zusammengefaßt; ,,Du hast mir
mein Gerät verstellt.“
Was aber bedeutet dieses Gerät, das ja kein Gerät des täglichen
Gebrauches ist wie Tisch und Stuhl oder spezifisches Arbeitsgerät wie
es zum Inventar einer Bauhütte oder des Arbeitsraumes eines Geo¬
meters gehören möchte, worauf freilich die Überzahl der Gegenstände
hinweist, vieles aber auch wieder nicht; so der Hund, der Alchi¬
mistentiegel, Schlüsselbund und Geldkatze und das Buch auf dem
Schoß der Frau. Daß zu vermuten sei, manche oder alle der dargestell¬
ten Dinge seien sinnbildlichen Charakters, erschloß man aus einem Hin¬
weis Dürers selbst. Die Schlüsseltasche und die Geldkatze bedeuten „Ge¬
walt“ und „Reichtum“, hat Dürer sich auf einer Vorzeichnung notiert.
Von hier ausgehend hat Karl Giehlow, dem die für das Verständnis der
Sinnbildsprache der Humanisten der Renaissance so wichtige Ausdeu¬
tung der Hieroglyphika des Horapollon® zu verdanken ist, unter dem
Leitmotiv von Ficinos „gutartiger“ Melancholie versucht, den Sinngehalt
des Blattes als Bilderschrift zu deuten. In diesen Hieroglyphika des Ho-
rapollon, deren Entstehung in die Zeit der römischen Herrschaft in Ägyp¬
ten fällt und die „ein Mischprodukt ägyptischen und griechischen Wissens“
darstellen, sind ägyptische Hieroglyphen in sinnbildlichen Ausdeutun¬
gen in griechischer Sprache wiedergegeben. Auf Grund einer in der Mitte
des 15. Jahrhunderts aus Byzanz nach Italien gelangten Handschrift die¬
ser Hieroglyphika vermeinten die italienischen Humanisten des Quattro-
und Cinquecento hier den Schlüssel für die ägyptische Hieroglyphik
im Sinne einer Zeichen- und Geheimsprache gefunden zu haben.
Die Hieroglyphen“ des Horapollon galten ihnen als Zeugnisse der
Ägyptii vates ac theologi“ im Sinne einer „interpretatio rerum natu-
rae“, die alle Philosophie in sich berge, ja selber die älteste Philosophie
der Menschheit darstelle, aus der auch Platon sein tiefstes Wissen ge¬
schöpft habe. Hieran anknüpfend unternahmen sie es dann eine eigene
nur den Eingeweihten zugängliche „Hieroglyphen- und Rebus-SpraAe,
später auch in Anlehnung an die christliche Symbolik zumal der Bestia-
rien und der kirchlichen und profanen Heraldik des Mittelalters auszu¬
bilden Dürer war diese Vorstellungswelt nicht fremd. Schon durA Con¬
rad Celtis war er mit ihr in Berührung gekommen. Dann aber hatte er

131
KURT ROSSMANN

für die Kaiser Maximilian gewidmete Übersetzung der Hieroglyphika des


Horapollon seines Freundes Pirckheimer Zeichnungen beigesteuert; und
sein zur gleichen Zeit wie die „Melencolia. I“ in Angriff genommener,
Kaiser Maximilian verherrlichender Holzschnitt die „Ehrenpforte“ ist
eine ganz auf die Hieroglyphik des Horapollon sich stützende Komposi¬
tion, die bis in jede Einzelheit als reine „hieroglyphische“ Bilderschrift
sich deuten läßt, wie Giehlow es nachgewiesen hat. Für den Melancholie-
Stich jedoch ist der gleiche Nachweis nicht geglückt. Denn außer „hiero-
glyphischen“ enthält er auch astrologische und alchimistische Begriffs¬
zeichen. Auch darauf war, einem Hinweis Ficinos folgend, in dem die
Bedeutung des Saturn für die Melancholiker hervorgehoben wird, schon
Giehlow gestoßen. Doch blieb Giehlows Interesse vornehmlich den
„hieroglyphischen“ Elementen des Blattes zugewandt. Erst Panofsky
und Saxl verschoben den Akzent der Untersuchung mehr und mehr auf
den zum Saturn gehörigen astrologischen Vorstellungskreis, indem sie
darauf aufmerksam machten, daß die meisten der auf dem Blatte dar¬
gestellten Gegenstände in ihrer emblematischen Bedeutsamkeit auf die
saturnische Gottheit bezogen werden könnten: die Gottheit der Arbeit,
der Mühe und Sorge, der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, aber auch
des Reichtums und der Gewalt und nicht zuletzt der Kunst allgemein
und der Kunst und Wissenschaft des Messens insbesondere, der gerade
Dürer selber als Theoretiker so viel Mühe zugewandt hatte. „Der Zirkel
in der Hand der Melancholie“, bemerken Panofsky und Saxl, „— selbst
... ein Attribut des Saturns — symbolisiere gewissermaßen die geistige
Einheit der um sie herum verstreut liegenden Dinge“. Daraus schlossen
sie dann: „die saturnische Meßkunst“ sei der eigentliche stoffliche Inhalt
des Blattes. Damit taucht auch der Gedanke auf, Dürers Absicht habe
wesentlich seinem eigenen Bemühen um die Meßkunst gegolten, mit der
er die „wahre Schönheit“ nach wißbaren und lernbaren Regeln zu ge¬
winnen hoffte, ein Anspruch, den Dürer mit Lionardo teilte. Es ist der
Anspruch, durch Wissenschaft den Weg zur wahren Kunst zu finden.
Dürer ist an diesem Bemühen nach eigenem Zeugnis gescheitert; und die
Einsicht darein gewann er gerade zu jenem Zeitpunkt als der Melan¬
cholie-Stich entstand. „Die Schönheit, was das ist, das weiß ich nit“, hat
er damals bemerkt. „Niemands weiß das, dann Gott allein ... ^“. In einem
frühen Entwurf seiner Proportionslehre heißt es dagegen: „ich will aus
Maß, Zahl und Gewicht mein Fürnehmen anfohn®“. Trotz seiner letzt-
lichen Resignation blieb ihm freilich die Meßkunst — jedoch im Sinne
der „docta ignorantia“ — unerläßliche Voraussetzung und Medium der
wahren Kunst.
Für die Wahrscheinlichkeit dieser Deutung mag mit Einschränkun-

132

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WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

gen audi die von Giehlow bereits berücksichtigte und dann von Panofsky
besonders hervorgehobene Charakteristik der drei Weisen der Melan¬
cholie, wie sie Agrippa von Nettesheim vorgenommen hatte, sprechen®.
Im Gegensatz zu Ficinos Beschreibung der nicht krankhaften Me¬
lancholie als dem Stigma höchster Geistestätigkeit und Geistesverdüste¬
rung zugleich entfällt in Agrippas Charakteristik der dreifachen Melan-
(iiolie das Moment der Depression, der Trostlosigkeit und Verzweiflung
beinahe gänzlich. Nur vom Divinieren, von der Gabe des Wahr- und
Weissagens in dreierlei Gestalt ist bei Agrippa eigentlich noch die
Rede. Der erste „furor melancolicus“ gehört zur „imaginatio (Einbil¬
dungskraft) und bezeichnet das Divinatorische des Technikers, des Bau¬
meisters und Künstlers; der zweite „furor melancolicus ist der „ratio
(Verstand) zugehörig und, neben den Philosophen und Ärzten, zumal
den Politikern eigen; der dritte ist der „mens“ (Vernunft) zugeteilt und
bedeutet das Divinieren des Theologen.
Nacii dieser Dreiteilung des „furor melancolicus“ würde Dürers Me¬
lancholie-Stich den ersten „furor“ zum Gegenstand haben: den des Tech¬
nikers und Künstlers. Daraus möchte dann auch die dem Bildnamen bei¬
gesetzte Ziffer I erklärt sein, die man zuvor einmal als Bezeichnung für
die nicht krankhafte Melancholie nach Ficinos Charakteristik, sonst aber
auch als Kennzeichen des ersten Blattes einer von Dürer dann nicht mehr
ausgeführten Darstellungsfolge der vier Temperamente aufgefaßt hatte.
Auch hier wären die Verbildlichungen der beiden anderen Weisen des
„furor melancolicus“ dann nicht mehr zur Ausführung gekommen, es
sei denn, man möchte versucht sein (und vielleicht mit größerem Recht), au
Grund von Agrippas Dreiteilung der Melancholie den Melandiolie-Stich
mit dem Reuter- und dem Hieronymus-Stich in eine strikte Sinnfolge zu
bringen. Dafür würde sprechen, daß alle drei Blätter nicht nur m ihrer
besonderen Symbolhaftigkeit, sondern auch ihrem Format und ihrer sti¬
listischen Einheitlichkeit nach so eng zusammengehoren. Der Reuter-
Stich möchte dann als Darstellung des zweiten „furor melancoli^cus ,
der auf den Politiker sich bezieht, gelten und der Hieronymus-StiA den
,furor melancolicus“ des Theologen verbildlichen. Daß das '^i^^igste
Attribut Saturns, des Gottes der Zeitlichkeit, die Uhr, und auch daß
der Hund, der in den Hieroglyphika des Horapollon neben anderen
Bedeutungen zumal Ideogramm für die Melanchc) le ist, au a en rei
Stichen zu finden sind, könnte diese Argumentation noA unterstützen.
Der Melancholie-Stich als „Melencolia. I“ würde dann der erste dieser
mutmaßlichen Sinnfolge sein, das Titelblatt gleichsam, in dem das Ge¬
samtthema in einem sehr komplexen Sinne angesdilagen wäre In dem
I tre filosofi“ betitelten Bild Giorgiones, der Ficino so nahestand und

133
KURT ROSSMANN

dem die neuplatonischen Spekulationen über die „Komplexionen“ eng


vertraut waren, ließe sich dazu vielleicht ein unterstützendes Vergleichs¬
moment finden. Es stellt einen sitzenden Jüngling mit Zirkel und Richt¬
scheit, einen Mann von Welt in orientalischer Gewandung und einen
Greis im Mönchskleid, der eine Tafel mit Himmelsbildern und Zahlen
trägt, dar. Außer an die Abwandlung der Gelehrsamkeit und Weisheit
in den drei Lebensaltern, möchte man versucht sein, auch hier an eine
Darstellung der melancholischen Komplexion nach Agrippas Dreiteilung
des divinierenden „furor melancolicus“ zu denken^. Doch ist des speku¬
lativen Auslegens letztlich kein Ende, und wie verführerisch solche Deu¬
tung auch anmutet, so sträubt sich doch gegen solche postkonstruierte
Sinnfolge der drei Stiche, für die jeder urkundliche Beweis bisher fehlt,
unser ganzes Empfinden. Und hätte auch Dürer selber wirklich eine
solche Sinnfolge vorgeschwebt, so ist ihm doch unter der Hand aus jedem
der drei Vorwürfe etwas ganz Eigenes und Besonderes geworden. Zu¬
dem hat er die drei Blätter nie zusammen genannt und verkauft. —
Es ist Wölfflins Verdienst, in Wahrung des jedem Kunstwerk von ho¬
hem Rang innewohnenden Eigenrechts gerade vor solchen rationalen
Vereinfachungen Dürerischer Bildgehalte nachdrüdclich gewarnt zu ha¬
ben. Zudem gilt unabweislich, daß die Frauengestalt auf Dürers Melan¬
cholie-Stich gerade nicht mehr diviniert, sondern mit ihrem Divinieren
aufgehört hat und in Untätigkeit und Trostlosigkeit, eben in Melancholie
versunken ist.
Der sinnbildliche Charakter des Blattes steht freilich in vielem wie¬
derum außer Zweifel und darf nicht übergangen werden, wenn Wölff¬
lins Einwände gegen allzuweit hergeholte ikonographische Erklärungen
auch zu Recht bestehen. Denn Giehlows und Panofskys und Saxls mit
exemplarischer Akribie durchgeführten Untersuchungen stoßen sichtlich
an die Grenze aller philologischen Interpretation und lassen in man¬
chem das Rätselhafte des Blattes nur noch rätselhafter erscheinen. Wölff¬
lins formale Deutung hat dagegen ihre Grenze darin, daß sie die em-
blematischen Elemente des Blattes, wenn sie auch auf sie eingeht, doch
zu gering bewertet. Es bleibt unbefriedigend, wenn Wölfflin zusammen¬
fassend bemerkt: Mit der Beischrift „Melencolia“ sei alles gesagt, und es
sei methodisch unzulässig, darüber hinaus den Grund der Melancholie in
der Verzweiflung an der Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft
zu suchen, obwohl Ficinos Meditationen über die Melancholie auch diese
Annahme nicht ganz ausschlössen. Beide so gegensätzlichen Auffassungen
aber lassen sich vielleicht doch miteinander versöhnen. Gewiß hat sich
Dürer bei der Konzeption des Melandiolie-Stiches an die humanistische
Begriffszeichensprache gehalten. Und auch die philosophischen Spekula-

134
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

tionen, die gerade an die Hieroglyphika des Horapollon als einer ,,Ur-
philosophie“ und „interpretatio naturae rerum“ zu Beginn der Zeiten sich
anschlossen, wird er dabei im Sinn gehabt haben. Das wissen wir durch
Giehlows Untersuchungen. Daß er aber mit dieser Bilder- und Zeichen¬
sprache anders und freier verfuhr als die meisten seiner Zeitgenossen
(etwa als Virgil Solls oder auch als Lucas Cranach) ist ebenso gewiß.
Denn diese Freiheit gehört zum Recht des Genius, dem kraft seiner
Kunst zum Symbol ward, was diesen anderen Allegorie, begriffliches Zei¬
chen blieb. Rein allegorische Darstellungen des melancholischen Typus
gibt es aus dieser Zeit die Fülle. Mit diesen aber läßt sich Dürers Stich
weder im Blick auf seine inhaltliche Fülle und Vieldeutigkeit, noch auf
seinen künstlerischen Rang in Vergleich setzen. Bei ihnen ist der Sach¬
verhalt eindeutig. Das melancholische Temperament oder auch dm krank¬
hafte Melancholie oder beide miteinander vermischt sind bei diesen ge¬
meint. Im Anblick der Frauengestalt auf Dürers Blatt aber werden wir
geradezu zu der Frage gedrängt: Wer ist der Träger, wer ist das Subjekt
der Melancholie? Wenn es sich nun in Dürers Stich offensichtlich nicht
um die Personifizierung des melancholischen Typus der Temperamenten-
lehre handelt, wofür auch die Bildbeischrift „Melencolia. I“, statt derer
man sonst bei Darstellungen der vier Temperamente etwa die Bezeid^
nung „Melancolica“ oder „Homo melancolicus“ (darauf verweisen auch
Panofsky und Saxl) hätte erwarten können und müssen, Indiz ist wer
oder was wird dann durch die geflügelte Frauengestalt personifiziert.
Ist etwa, in bezug auf Dürer selber, die Meßkunst gemeint deren Ge-
Täte überwiegend den stoffliAen Inhalt des Blades ausmaAen? Dafür
spriAt, daß die Meßkunst als ein Saturn, dem Gestirn des MelanA
likers, zugeordneter Beruf galt. Sie. die Tätigkeit des reinen Verstandes,
ist dem troAenen, kalten. melanAolisAen Saturn besonders unterworfem
So sehen es Panofsky und Saxl, die das größte Gewicht auf ^las Sinnvo
gerade dieser Verbindung legen. Aber auA andere asdologisAe Bede -
fungszeiAen finden siA auf dem Blatt: das magisAe Zahlenquadrat
( lupiterquadrat) und der Regenbogen. Das Jupiterquadrat symbolisiere
di heilsamen Gegenkräfte Jupiters gegen die
Saturn ist gemeint worden, und der Regenbogen lasse siA als ZeiA
Ser Versöhnung deuten. Analog dazu ließe siA der AlAimjsAn-
Ueil als ZeiAen der Läuterung auffassen. AuA diese ZeiAen gehören
in das BereiA der Meßkunst, der WissensAaft des Zählens, Messens un
wLenT von hier aus gesehen aber erhält die Meßkunst, die Geome-
tria“ einen ganz anderen und viel komplexeren "
dem heutigen Wortsinn naA als Geometrie besitzt. Denn sie ist niAt nur
ial da di siAtbaren, greifbaren. irdisAen Dinge zu erforsAen. son-

135
KURT ROSSMANN

dem auch die übersinnlichen. Ja diesen ist sie letztlich überhaupt zuge¬
wandt. Mit ihr beginnt der Weg des Wissens überhaupt, der Weg der
Philosophie im Sinne des „längeren Weges“ Platons, für den Nicolaus
von Gues und Marsiglio Ficino wieder den Blick geöffnet hatten. Als der
anfängliche Weg zu den himmlischen, übersinnlichen Dingen also ist die
Meßkunst zu begreifen, wobei zu ihr eben auch die Astronomie und Meta¬
physik unter dem Siegel der Magie vermischende Astrologie gehört.
Der Himmel aber ist an Dürers Blatt ein absonderlicher Himmel voller
rätselhafter Lichtzeichen. An diesem Himmel nun fliegt die den Bild¬
namen auf ihren Flügeln so sichtbarlich tragende Fledermaus, ein spezi¬
fisch dem Saturn geweihtes Tier. Was bedeutet es, dieses rätselhafte Ge¬
schöpf, das zoologisch ein Säugetier ist und doch wie ein Vogel fliegen
kann? Kann sie, die Trägerin des Bildnamens, vielleicht ein Hinweis auf
den thematisch gemeinten Sinn des Bildes sein, wobei als besonders noch
ins Gewicht fallend zu berücksichtigen ist, daß Dürer sonst mit Bildbe¬
nennungen sehr sparsam zu sein pflegte. Erst bei den Aposteltafeln zog
er das Wort zur Unterstützung heran.
Auf die emblematische Bedeutung der Fledermaus ist bisher keiner der
Interpreten des Dürerschen Stiches eingegangen. Wölfflin begnügt sich
mit dem Hinweis: „Die Fledermaus vor schwarzgestrichenem Himmel
zeige auf eine Stunde, die nicht mehr dem lichten Tage angehöre“. Und
in Panofskys Dürer-Monographie heißt es ähnlich: „the former ... (is ...
associated with melancholy) because he emerges at dusk and lives in
lonely, dark and decaying places.“ Nur der Psychotherapeut G. R. Heyer
hat in seinem Vortrag über ,,Dürers Melancolia und ihre Symbolik®“ der
Fledermaus besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Fledermaus sei
gar keine richtige Fledermaus, bemerkt Heyer zu Recht. Denn sie habe
einen Echsenschwanz. Heyer zieht daraus den Schluß, es handle sich
(analog der mexikanischen „gefiederten Schlange“) um ein „chthonisches“
Tier, das zur „Eulenwelt“ gehöre und „Ahnung“ symbolisiere. Sie be¬
deute gleichsam den ,,Gedanken siegreicher Überwindung des mütter¬
lichen Dunkels im Sinne ,,vaterloser Geburt“. Dagegen ist zu sagen,
daß von Tieren als Sinnbildern - Heyer weist selber darauf hin - einmal
keine anatomisch richtigen Wiedergaben zu dieser Zeit verlangt und er¬
wartet wurden; zum anderen aber, daß diese Sinnbildsprache auf einer
vielschichtigen literarischen Tradition philosophischer, theologischer und
astrologisch-okkulter Herkunft beruht, die einer rationalen ,,Psychozoolo-
gie“ psychoanalytischer Prägung, für die letztlich alles Gegenständliche,
ob nun gröber oder feiner, auf stets schon vorgegebene Symbolgehalte
sich reduziert, unzugänglich bleibt.
In der Emblematik des 16. Jahrhunderts kommt nun der Fledermaus

136
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

als Sinnbild eine in bezug auf Dürers Melancholie-Stich bisher übersehene


Bedeutung zu. Sie findet sich in der Emblemata-Sammlung des Andrea
Alciato®. Alciato darf als der Popularisator der auf Grund der Hiero-
glyphika des Horapollon entwickelten und später zu einem so beherr¬
schenden Stilmittel gewordenen humanistischen Sinnbildsprache gelten,
indem er die einzelnen „Hieroglyphen“ und Sinnbilder - er nannte sie
„Emblemata“, Eingesetztes - mit Erklärungen (Lemmata) in Versen ver¬
sah. In dieser Sinnbildfibel, von der die kaum übersehbare und in ihrer
literarischen Bedeutung bisher kaum gewürdigte Sinnbildliteratur'®, die
bis weit in das 18. Jahrhundert hinein für die bildende Kunst wie für die
Didhtung die allegorischen Stilmittel lieferte, ihren Ausgang nahm, findet
sich folgendes Lemma zum Fledermaus-Emblem":

VESPERTILIO

Vespere quae tantum volitat, quae lumine lusca est,


Quae cum alas gestet, caetera muris habet.
Ad res diversas trahitur, mala nomina primum
Signat: quae latitant, iudiciumque timent.
Inde et Philosophos, qui, dum coelestia quaerunt,
Caligant oculis, falsaque sola vident.
Tandem et versutos, cum dam sectentur utrumque
Acquirunt neutra qui sibi parte fidem.

Übersetzt lautet dieses Lemma so:


DIE FLEDERMAUS

Die nur bei Abend fliegt und blöd bei Lichte ist.
Die wohl geflügelt ist, doch sonst wie eine Maus,
Bedeutet vielerlei: Zuerst den bösen Namen,
Was sich verborgen hält, das Licht des Urteils scheut.
Von daher auch die Philosophen, die, indem sie
Des Himmels Rätsel zu erforschen trachten
Mit düsterstarrem Blick nur trügerischen Schein erspähn.
Und endlich auch die Vielgewandten, die heimlich sich
Zu beiden Seiten halten und die Vertraun von keiner haben.

Wichtig erscheint in diesem Lemma für die Deutung von Dürers Me¬
lancholie-Stich die zweite der Fledermaus als Emblem zuerkannte Be¬
deutung: Die Philosophen, die im Erforschen der „coelestia“ dusteren
Blickes werden und nur Falsches sehen. Diese Bedeutung der Fledermaus
für die verblendeten“ Philosophen findet sich ähnlich auch in einem
zweiten Lemma, das den in hartnäckiges Studium, letztlich in gegen-

137
KURT ROSSMANN

standsloses Grübeln verfallenen Philosophen gilt. Solche nehmen über


ihrem blinden, tagabgewandten Denken das Wesen einer Fledermaus an.
Ihr Antlitz färbt sich fledermäusig dunkel. Doch bleiben wir bei dem
ersten Lemma, dessen Sinn gerade auf das zu zielen scheint, was die ge¬
flügelte Frauengestalt auf Dürers Stich - wie die Fledermaus ist sie ja
ein Doppelwesen: wie diese Vogel und Maus zugleich, so ist sie Erdbe¬
wohner und zugleich wie ein Engel oder Genius geflügelt - darstellt: Die
Philosophie als ,,sapientia humana“, als Inbegriff der Wissenschaften
(oder nach dem Sprachgebrauch der Zeit als ,,Weltweisheit“) scheint ge¬
meint zu sein; jedoch in einem ganz besonderen Sinne und in einer be¬
sonderen Situation: nämlich in der Verkehrung ihres Wesens, die ,,vor
Gott eine Torheit ist“. Es ist die Weltweisheit, die mit den Mitteln des
messenden Verstandes das zu enträtseln sich anmaßt, was gerade dem
Messen sich entzieht: die „coelestia“, das Übersinnliche. Denen, die mit
den Mitteln der ,,sapientia humana“ den ,,coelestia“ nachgehen, ver¬
düstert sich der Blick. Sie geraten in die Falschheit, in die saturnische
„Untreue“, von der Dürer in seiner Proportionslehre spricht (,,untreus
saturninisch... Bild“ heißt es dort bei der Erörterung der Temperamen-
ten-Physiognomien). Diese Verdüsterung gerade zeigen das „fledermäu¬
sig“ dunkle Antlitz und der starre Blick der auf Dürers Blatt dargestell¬
ten Frauengestalt. Das wird noch deutlicher aus einem späteren französi¬
schen Kommentar zu Alciatos Fledermaus-Emblem^-. Dort heißt es: „De-
inde convertitur id nominis (vespertilio) in quosdam rigidos Philosophiae
sattelites, qui omnino caecutiunt, dum ea quae sunt abstrusa prorsus at-
que abdita, scrutantur, ac rerum caelestium naturam conquirunt, quae a
nobis longe remotae, neque oculis intueri, neque tangi manu, neque per-
cipi sensibus possunt; et tarnen sic de his disputare audent, ut quae as-
seruerunt probate certaque videri velint ... Illi enim ... contradicendi
Studio insaniunt. ...“
Ganz mit Blindheit geschlagen und unsinnig sind jene Philosophen,
die der Natur der himmlischen, übersinnlichen Dinge nachforschen, indem
sie über dieses Verborgene in der Weise zu diskutieren wagen, daß sie
verlangen, es solle das, was sie doch nur frei behaupten und geltend
machen, als gewiß und bewiesen angesehen werden. Es sind das die An¬
hänger jener „philosophia humana“, von der Sokrates gesagt habe, daß
sie nichts an Gewißheit, nichts an Wahrheit in sich habe („nihil in se
habere certi, nihil veri“).
Aber: „Nec (ut plerique censent) doctrinam ipsam dissimulavit (Socra-
tes), ut alios refelleret, sed quadam ex parte veritatem novit: humanam
enim sapientiam nullam esse fassus est, adeoque quam philosophiae sci-
entiam profitebantur, quae tum maxime in siderum inspectione, con-

138
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

tempsit, derisit, abiecit.“ Nicht die Wissensdiaft selber jedoch leugnete


Sokrates in ihrem Wert, sondern er bestritt die Wahrheitserkenntnis von
Seiten der „humana sapientia“, wenn diese auf die Erforschung des
Übersinnlichen sich wende. Die Anhänger dieser „philosophia humana“
sind „rigidi“ und ,,caeci“ (starren, doktrinären und verblendeten Geistes).
Es sind: „Uli, qui . . . nihil aliud spirarunt quam quae terrae sunt, tametsi
unum illis videretur esse Studium caelestiadivinaquecontemplandi.“ Noch
einmal: jene Philosophen sind gemeint, die mit den Mitteln der Empirie,
mit denen sich doch nur erforschen läßt, was der Erde, den Erscheinungen
zugehört, auch die „coelestia“ erkennen zu können und beides in Einem
zu wissen vorgeben. Darüber werden sie, verstrickt in ihre eigenen Vor¬
stellungen und Einbildungen: in das Denken an sich selbst, verblendet
(caeci) oder düsteren Blicks (caligant oculis), und werden sie in diesem
ihrem ,,contradicendi studio“ unsinnig (insaniunt).
Will man diesem emblematischen Hinweis folgen und dieser Interpre¬
tation recht geben, dann ist es wohl die melancholische Komplexion in
ihrer nicht krankhaften Form, die Dürer, vermutlich auch hier wieder
wie bei der „Ehrenpforte“ und anderen sinnbildlichen Vorwürfen ange¬
regt und beraten durch Pirckheimer, veranschaulichen wollte. Aber er hat
sie veransciiaulicht unter der Gestalt eben der ,,philosophia oder ,,sa¬
pientia humana“, für die die Meßkunst in ihrer komplexen Bedeutung
ihm Paradigma war, in ihrer Sinnverkehrung, die „vor Gott ein Torheit
ist“, der aber der Mensch stets dann wieder verfällt und verfallen muß,
wenn er der Anmaßlichkeit des bloßen spekulierenden Verstandesdenkens
nachgibt. Nicht die Wissenschaft überhaupt wird damit negiert, sondern
die fälschlich auf die „coelestia“ angewandte Wissenschaft des Messens,
Zählens, Wägens. Gerade dieser Problematik aber war sich Dürer selber
während seiner Bemühung um die Meßkunst, die ihm anfänglich als der
einzige, ,,wissenschaftliche“ Weg zur wahren, Gott gerechten Kunst ge
gölten hatte und eben zu dem Zeitpunkt, als der Melancholie-Stich ent¬
stand, bewußt geworden. Zu dieser Zeit heißt es in der Proportionslehre:
„... durch die Geometria magst du deins Werks viel beweisen ... Aber
unmöglich bedunkt mich, so Einer spricht, er wisse die beste Mass in
menschlicher Gestalt anzuzeigen. Denn die Lügen steckt in unserer tr-
kanntnuss, und steckt die Finsternis so hart in uns, daß auch unser mch-
tappen fehlt“; wenn auch dagegen gilt: „Welches aber^durch die Geo¬
metria sein Ding anzeigt, dem soll alle Welt glauben‘^.
Dieser Deutungsversuch steht zu keiner der drei so gewichtigen Inter¬
pretationen der „Melencolia. I“, denen Giehlows, Wöl ff lins und Panof-
kys und Saxls, auf die er weitgehend sich stutzt, in entscheidendem Wi-
dLspruch. Nur die verabsolutierenden Ansprüche dieser Interpretationen

139
KURT ROSSMANN

werden in gewissem Sinne eingeschränkt. Das geschieht dadurch, daß sie


auf eine Bedeutungsmitte bezogen werden, deren Sinnbild die Fleder¬
maus ist, die nicht ohne Absicht von Dürer zur Trägerin des Bildnamens
gemacht sein kann. Schon deshalb darf sie als das Bedeutungszeichen des
Blattes in einem ganz komplexen Sinne gelten. Dazu ist in diesem Em¬
blem ebensowohl die „hieroglyphische“ Bedeutung der Fledermaus ent¬
halten - nach den Hieroglyphika des Horapollon als Zeichen für einen
Menschen, der „blindlings“ denkt und handelt, und das ist: kritiklos und
der Grenzen seines Denkens und Handelns nicht eingedenk - wie ihre
spezifisch saturnische Bedeutung als Zeichen für Ahnung und Wahr- und
Weissagung und auch das Zwiedeutige, Düstere, Verborgene, das das
Licht des Urteils, wie die Fledermaus, das Tier der Dämmerung und des
Zwielichts, die Helligkeit des Tages scheut: die saturnische Untreue, die
Untreue des Sophisten. Sie ist Chiffre für jene trübe Vermischung von Phi¬
losophie, Wissenschaft und Magie zu einer geschichtlichen Stunde, in der
Wissenschaft und Philosophie zusammen - denn noch galt unbefragt die
Philosophie als das corpus magnum der Wissenschaften, - zur Verselb¬
ständigung drängten, - zu einer Verselbständigung, die zunächst als Sakri¬
leg gegenüber der Theologie empfunden werden mußte und empfunden
worden ist. Gerade dieses Moment ist von Dürer getroffen worden. Denn
er hat - und das Konfessionelle war ihm nicht fremd, wovon die Apoka¬
lypse und die Aposteltafeln das stärkste Zeugnis ablegen - die ihm selber
sich aufdrängende Wissensproblematik der Meßkunst als der Basis alles
Wissens im platonischen Sinne der Stimmung nach zugrunde gelegt. Doch
hat er diese Problematik als Künstler zum Ausdruck gebracht: in divinato-
rischer Antizipation, wie es nur der Genius vermag, und nicht im Sinne einer
eindeutig rational auflösbaren Rebus-Schrift. Stets wird der Melancholie-
Stich in einer nie ganz zu klärenden Vieldeutigkeit verbleiben. Auch
müssen wir uns hüten, in das Bild mehr hineinzulesen, als an wirklich
nachweisbarer Emblematik in ihm enthalten ist. Das gilt zumal auch in
bezug auf den so gern angewandten Vergleich mit dem im gleichen Jahr
entstandenen Stich vom Heiligen Hieronymus im Gehäus als seinem
symbolischen Gegenstück.
Wohl lassen sich beide Blätter inhaltlich als Antinomie von Wissen und
Glauben auffassen, wobei der Glaube über das Wissen zu stehen kommt.
Auch im Formalen ist diese Antinomie zum Ausdruck gebracht: im Vor¬
herrschen der Vertikale und Diagonale im Melancholie-Stich und der
Horizontale im Hieronymus-Blatt. Im Gegensatz zu der von der Melan¬
cholie befallenen Weltweisheit in ihrer Sinnverkehrung, die in ihrem
und an ihrem Erkennen verzweifelt, weil sie gerade in dem, worum es
ihr geht, keine Bestätigung findet, weiß sich der Heilige, der seinem Tun:

140
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

der Auslegung der Lehre, ganz hingegeben ist, eben in dieser Hingabe
vollauf bestätigt. Er ist der Antwort gewiß. Der „verkehrten“ Weltweis¬
heit bleibt die Antwort aus. Trotz dieser Antinomie, die anders nodi -
nimmt man beide Symbole zusammen - bedeuten möchte, daß Verzweif¬
lung und Glaube im Menschen zusammengehören, läßt sich jedoch der
Heilige nicht als das dialektische Gegenstück zu der Frauengestalt des Me-
landiolie-Stiches begreifen. Er erscheint vielmehr als rückwärts gewandtes
Symbol und verklärt den Frieden einer Welt, der in Dürers Zeit nur
noch Wunschbild, nicht aber mehr Wirklichkeit war.
Gewißlich war Dürer ein „Homo religiosus“ und ein mit Anfechtun-
fien und Zweifeln ringender „Homo religiosus“. Ebenso aber war er
auch wie Lionardo ein Universalverstand und ganz dem neuen Geist der
Wissenschaft und der Humaniora - das ist: mehr Mensch zu sein - zu¬
gewandt. Es wäre ihm ebensowenig wie seinem Freunde Pirckheimer,
dem Humanisten und Politiker, je beigekommen, das erkennende Be¬
mühen von Philosophie und Wissenschaft als etwas Verwerfliches an¬
zusehen oder es von der Theologie her abzuwerten. Etwas anderes lag
ihm im Sinn. Das Verquere, die Unordnung, das Untätigsein, die Ver¬
düsterung, Verlassenheit und Verzweiflung, das darzustellen Dürer im
Melancholie-Stich sichtlich so angelegen war, zielen auf die Inkongruenz
von selbsttätig gewordenem Denken und Erkennen und Wirklichkeit.
Indem es die Welt ganz nach seinem Maß haben will, wird dieses derart
„divinierende“ Denken selber maßlos und erfährt in dieser Vermessenheit
seine Grenze an einem anderen, das mit den Augen nicht zu sehen, mit
den Händen nicht zu greifen und mit allen Sinnen nicht zu fassen ist.
Darüber verfällt es in Melancholie, deren Zeichen der untreue Saturn
ist. Denn es gibt kein Genüge im Erkennen. Das Ungenugen, das zum
Erkennen antreibt, wird mit dem Erkennen nicht befriedigt. Im Erfahren
dessen wird dann auch die Welt der Erscheinunpn, die gegenständlich
wirkliche Welt, unstimmig und chaotisch. Sie verliert ihren Sinn und ihre
Ordnung, zerfällt in Stückwerk und bietet dem Menschen keine Heimat
mehr. Es ist die Welt, wie Hamlet sie sieht: „Ein wüster Garten. Und
es ist die Stunde, die nicht unter dem Aspekt des Leben fordernden Sa¬
turn des Gottes der Saat und der Erneuerung und der körperliche Ar
beit und geistige Tätigkeit belohnenden Ernte sondern ^
des unheilvollen, untreuen, Leben verniditenden Saturn steht. Es ist
Stunde der Verzweiflung des selber maßlos gewordenen messende
und planenden Denkens, das nur nod. in si* kreisend jeto
Halt verloren hat und von dem es in des Andreas Tsdnrmng Gedicht
,Melancoley redet selber“ heißt: .Ich finde nirgends Ruh / J» ^
mit mir zanken / Ich sitz /ich lieg /ich steh / Ist alles in Gedanke .

141
KURT ROSSMANN

Eine neue Erfahrung des Tragischen, die noch die unsere ist, fernab dem
Medium des tragischen Schicksalsbewußtseins der Griechen, ist in dieser
Melancholie und Verzweiflung beschlossen. Sie entstammt der Dämonie
eines Erkennen- und Wissenwollens, das darauf aus ist, sich selbst als ab¬
solut zu setzen. Es bedeutet aber diese Dämonie - nach Dürers Wort-,,die
Lügen in unserer Erkanntnuss“. Dafür ist der Stich „Melencolia. I“ viel¬
deutiges Symbol, das, obwohl der Problematik des Zeitgeistes so eng
verbunden, doch über diesen Zeitgeist hinausweist. Denn wie stets in
solchen Stunden der Geschichte, in denen eine neue Gestalt des Erken-
nens und Wissens sich ans Licht drängt, die Nöte wie die Tugenden der
sich befreienden neuen Kräfte deutlicher empfunden und gesehen wer¬
den als sie im Stadium ihres Ausgefaltetseins in der Wirklichkeit bewußt
sind, so verhält es sich auch mit diesem Symbol. Es beschwört jenes Pro¬
blem der Grenze und des Wertes von Wissenschaft, das in unserer Ge¬
genwart in neuer und umfassenderer Weise zu einem für uns lebens¬
entscheidenden Problem geworden ist. In Dürers Melancholie-Symbol
gehört freilich noch in Unschuld zusammen, was später mit der Eman¬
zipation der Wissenschaften von dem Corpus generale der Philosophie
im zeitlichen Nacheinander der Ideologisierungen des Wissens: als Weg
zur wahren Natur, zur wahren Methode, zur wahren Freiheit, zum wah¬
ren staatlichen und gesellschaftlichen Glück und Heil gegeneinander so
schuldig wurde. Schuldig aber werden für sich selbst - und gerade das
wird in Dürers Melancholie-Stich antizipiert - alle Weisen des erkennen¬
den Bemühens, die als eigenständig und absolut sich setzend, die jedem
Wahrheitssinn gezogenen Grenzen mißachten und darüber dann in Ver¬
zweiflung münden.

Diese Verzweiflung am Erkennen und Wissen selber nun ist es, die
Max Weber unter dem Anspruch universaler wissenschaftlicher Wahr¬
heitssuche zum Gegenstand der Klärung zu machen unternahm und damit
auf die Grenze allen Wissens verweisend der Philosophie ihre alte meta¬
physische Aufgabe aufs neue stellte, wie sie Karl Jaspers als Forscher und
als Philosophen dann zum Thema ward. Als Frage formuliert, lautet dieses
Thema so: Besitzt die unter dem Prinzip der Voraussetzungslosigkeit zu
unbeschränkter Freiheit gelangte und auf absolute Geltung Anspruch er¬
hebende rationale Wissenschaft unserer Zeit einen Wert für sich und
vermag sie Werte hervorzubringen? Kann sie, die Natur und Geschichte
in grenzenlosem Wissenwollen unerbittlich zur Zeugenaussage nötigt,
überhaupt einen Wert repräsentieren, wenn ihr Streben doch gerade
darin besteht, alle Werte - alles, was für wert gehalten wurde und wird-
zu desillusionieren? Und zerstört sie damit nicht gerade ihren eigenen

142
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

möglichen Sinn für das Leben? Denn offensichtlich kann sie uns ja nicht
lehren, was wir tun sollen. Will man aus Wissenschaft das richtige Han¬
deln ableiten und das Gesetz dessen, was not tut, und gibt man damit
vor, „durch Wissenschaft wissen zu können“, was in der Tat „stets nur
Glaubensinhalt ist“, dann verfällt der Mensch - so antwortet Jaspers -
dem Wissenschaftsaberglauben'^ Denn hier kommt es zur Verkehrung
des möglichen Sinns von Wissenschaft, den sie nie an sich und nie eigen¬
gesetzlich, sondern nur durch ihren Träger, den Menschen, haben kann,
und kommt es in anderer und neuer Weise zu jener auf Machtbeschwö¬
rung angelegten Philosophie, Wissenschaft und Magie, die in Dürers
Melancholie-Stich als falsches in die Irre führendes Wissen dem untreuen.
verderbenbringenden Saturn verfällt. Aus solchem Wissenschaftsaber¬
glauben resultieren die in ihrem Wesen nur auf Macht als Gewalt und da¬
mit auch auf Zerstörung intentionierten pseudowissenschaftlichen und
pseudophilosophischen Ideologien und Weltanschauungen, von denen die
Daseinsformen unserer Gegenwart so durchgängig und ausschließlich be¬
stimmt und behext sind. Wissenschaft ist hier zur Glaubenslehre, „jedoch
in bezug auf weltimmanente Dinge“ verkehrt und verfälscht worden.
Ihren dialektischen Gegensatz haben diese Ideologien des Wissen¬
schaftsaberglaubens dann in der Verwerfung von Wissenschaft als Wert
für das Leben überhaupt: in der Wissenschaftsfeindlichkeit. Beide Posi¬
tionen gehören polar zusammen. Auch bei der Wissenschaftsfeindlich¬
keit geht es um erdachte oder konstruierte Glaubensthesen. Denn die Ab¬
wendung von diesen Ideologien mit dem Sprung in das vermeintlic
Einfache und Anfängliche: in den vorgeblich alles heilenden und retten¬
den Mythos, bedeutet ja nichts anderes als die Abwendung der Sophi¬
sten aller Zeiten vom verbindlichen Wissen und die Hinwendung zum
Meinen und Überreden, nur um sich selber geltend zu machen. - BeMen
Positionen, dem Wissenschaftsaberglauben wie der Wissensdiaftsfeind-
lichkeit aber liegt jene Vertauschung und „trübe VermisAung von wis¬
senschaftlicher Sacherkenntnis und philosophischer Seinserkenntnis zu¬
grunde, die die ständige Gefahr alles erkennenden und wissensdiaft-
lichen Bemühens bildet. • a ^
Daneben aber existiert noch Wissenschaft im Sinne eines naiven Ag^no-
stizismus, die unbekümmert um die Sinn- und Wertfrage nur ihrem Tun,
dem Forschen nachgeht. Sie betreiben jene großen Kinder, von denen
Max Weber spricht, ,wie sie gerade in den Naturwissenschaften sich
finden“, die entweder nur fragen, ob ihre Rechnung stimmt oder ihr Ex¬
periment aufgeht und die Sinn- und Wertfrage ihres Tuns zumeist mit
der jeweiligen nützlidien Verwendbarkeit der Resultate ihres Forschens
beantwortet finden, es sei denn sie entwerfen sich zusätzlich harmlose.

143
KURT ROSSMANN

kontemplative naturphilosophische Weltbilder. Diese sind vergleichbar


in ihrem Tun dem geflügelten Kind auf Dürers Stich, das von neuem mit
dem beginnt, woran die von der Melancholie befallene Frau gescheitert
ist. Sie stehen noch gar nicht vor den entscheidenden Fragen, auf die
jedoch Wissenschaft, ist sie echte Wissenschaft, im Scheitern an den
Grenzen des Erkennens stets wieder stößt, wenn im Forschen selber be¬
wußt wird, daß „das Weltsein im Ganzen kein Gegenstand des Erkennens
ist“.
Wirklich erfahren aber wird diese Grenze nur im unbedingten Wahr-
heitsansprudi, im Kampf gegen alle Illusionen, der „ein Ringen mit der
Gottheit“ ist. Denn: „Wie Gott nicht wahrhaft geglaubt wird, wenn er
nicht die Fragen erträgt, die aus den Tatbeständen der Wirklichkeit er¬
wachsen ..., so ist der echte Forschungswille das Ringen mit den eigenen
Wünschen und Erwartungen^^“, ein Ringen des Forschers auch gegen
seine eigenen Thesen. Nur unter diesem Postulat kann die Verzweiflung
über das Scheitern des Erkennens an seiner Grenze positiv werden. Sel¬
ten freilich wird Wissenschaft so begriffen: „Selbst Philosophen von der
Größe Hegels wissen kaum etwas von dieser Wissenschaft^®“, bemerkt
Jaspers. Unter diesem Anspruch aber, wenn ihm Genüge geschieht, be¬
wirkt Wissenschaft „philosophisch [dann] gerade durch das Wissen das
entschiedenste Wissen um das Nichtwissen, nämlich das Nichtwissen dessen,
was das Sein selbst ist“. Daraus folgt für Jaspers: wohl vermag „wis¬
senschaftliche Erkenntnis keinerlei Ziele für das Leben zu geben. Sie
stellt keine gültigen Werte auf“. Aber: „sie verweist durch ihre Klar¬
heit und Entschiedenheit auf einen anderen Ursprung unseres Lebens^®“.
Und darin ist sie unerläßliches Medium auch der Seinserkenntnis. So er¬
gänzen sich und gehören zusammen wissenschaftliche und philosophische
Weltorientierung. Aber nur in der strikten Trennung ihrer beider Wege
beweist sich ihre wirkliche Einheit.
Von hier aus bestimmt sich das Verhältnis von Philosophie und Wis¬
senschaft in einem neuen Sinne. Wohl ist Philosophie nicht identisch mit
dem wissenschaftlichen Denken. Sie ist das ebensowenig wie die Kunst
mit der tsxvr). Doch ist sie ihm auch nicht entgegengesetzt. Denn: „Alles
wirkt zusammen, daß Philosophie sich an Wissenschaft bindet. Doch
ergreift Philosophie die Wissenschaften so, daß deren eigener Sinn
wirklich gegenwärtig ist. In den Wissenschaften mitlebend zersetzt
Philosophie den in den Wissenschaften immer wieder wachsenden
Dogmatismus“ (diese unklare Ersatzphilosophie) Und ebenso drängt
Wissenschaft an der Grenze des Erkennens und im Scheitern an ihr zur
Philosophie, es sei denn, sie verrate ihr eigenes Wesen, indem sie ent¬
weder ihre Erkenntnisse zu eigenen Philosophemen als weltanschau-

144

\
WERT UND GRENZE DER WISSENSCHAFT

liehen Ideologien hypostasiert oder in Wissenschaftsfeindlichkeit um¬


schlägt. Dann freilich ist sie der Verzweiflung im Scheitern des Erken-
nens ausgewidien: doch um den Preis der Redlichkeit des Denkens und
Forschens und der Würde des Menschseins. Denn das Verzweifeln am
Erkennen gehört zum Erkennen, indem es den Menschen auf ein anderes
verweist, das mehr ist als er von sich weiß und wissen kann, und ihm
Bescheidung abverlangt, ohne das Erkennen selber zu negieren und zu
verwerfen und ohne dem falschen Lockruf in die vermeintliche Unschuld
der Natur und des Mythos nadizugeben. Und entsteht die Verzweiflung
aus der Einsicht, daß „die Lügen in unserer Erkanntnuss steckt“, wie es
Dürers Melancholie-Symbol bedeutet, nur auf dem Grund echter Ver¬
zweiflung gewinnen sich Glauben und Vertrauen. ,,Wer nicht verzweifeln
kann“ - so bezeugt es ein Mahnwort des achtzigjährigen Goethe -, „der
muß nicht leben.“

Anmerkungen
Die folgenden Anmerkungen beschränken sich auf die Anführung nur der wichtigsten
Literaturnachweise und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
* Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 2. Aufl., München u. Leipzig 1921, S. 20 f.
^ Karl Giehlow: Dürers Stich „Melencolia. I“ und der maximilianisdie Humanistenkreis,
in Mitt. d. Ges. f. vervielfält. Kunst, Wien 1903/04; Heinrich Wölfflin: Die Kunst
Albredit Dürers, 5. Aufl., München 1926, und: Zur Interpretation von Dürers „Melan¬
cholie“ in: Gedanken zur Kunstgeschichte, 2. Aufl., Basel 1941; Erwin Panofsky/Fritz
Saxl: Dürers „Melencolia. I.“ Leipzig/Berlin 1923 f., und Erwin Panofsky: Albrecht
Dürer, Princeton, New Jersey 1948.
® Karl Giehlow: Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renais¬
sance, in: Jahrb. d. Allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. 32, Wien 1915.
* Albrecht Dürers schriftlicher Nachlaß, ed. Ernst Heidrich, Berlin 1920, S. 302 ff.
® Zitiert nach K. Giehlow: Dürers Stich „Melencolia. I“. ... , S. 66.
« Nach: Cornelius Agrippas von Nettesheim Magische Werke, 4. Aufl., Berlin 1921, 1. Bd.
60. Kap.
^ Mündlicher Hinweis von Herrn Prof. Dr. Gustav Hartlaub, Heidelberg. Auch an die
Folge von Physik, Logik und Metaphysik ließe sich denken.
* G. R. Heyer: Dürers Melencolia und ihre Symbolik, in: Eranos-Jahrbuch 1934, Zürich
1935, S. 246 ff.
» „Viri Clarissimi D. Andreae Alciati Jurisconsultiss. Mediol. Ad d. Chonradum Peu-
tingerum Augustanum, jurisconsultum emblematum über. MDXXXI. Augustae vin-
delicorum.“ . . , , r. j j
‘® In der neueren deutschen Literaturgeschichtsschreibung ist die komplexe Bedeutung der
emblematischen Vorstellungswelt für die Dichtung nur von Walter Benjamin in dem
schönen Buch: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928, vollauf gewürdigt
worden. . ..
« Zitiert nach der Ausgabe: Liber Emblematum Andreae Alciati, Frandefurt am Mayn
1566 fol 112 Die Anfänge der Sammlung gehen in das Jahr 1521 zurude (vgl.
M Rubensohn: Griechische Epigramme, Weimar 1897, S. LIV ff.), liegen also sieben
Jahre später als Dürers Stich. Doch waren Alciatos „Lemmata“ literarisches Gemein-

145
KURT ROSSMANN

gut. Alciato hat nur bereits Vorhandenes an Deutungen der „Hieroglyphika“ zu¬
sammengetragen. Pirckheimer, dem Übersetzer und Kommentator der Hieroglyphika
des Horapollon, werden die sinnbildlichen Bedeutungen der „Fledermaus“, die Alciato
anführt, vertraut gewesen sein. Vgl. dazu den späteren Kommentar von Claud.
Minoes (Anm. 12).
Omnia Andreae Alciati Emblemata Cum Commentariis ... editae per Claud. Minoem
Juriscons., Parisiis 1602, S. 321 ff. und S. 64 f.
Albrecht Dürers sdiriftlicher Nachlaß a. a. 0., S. 270.
Zitiert nach: Walter Benjamin, o. c., S. 134.
Karl Jaspers: Existenzphilosophie, Berlin u. Leipzig 1938, S. 4.
Ebd., S. 8.
Karl Jaspers: Nietzsche und das Christentum, München 1952, S. 51.
Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1952, S. 127.
Karl Jaspers: Existenzphilosophie a. a. 0., S. 7 f.
Ebd., S. 9.

146
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Robert Gaupp

BRIEF AN KARL JASPERS

Sehr verehrter Herr Kollege!


Als ältester Psychiater der Hochschulen des deutschen Sprachgebietes
möchte ich Ihnen den Dank der deutschen Psychiatrie für alles überbringen,
was Sie uns an wissenschaftlicher Forscherarbeit schenkten, und Ihnen bei
Vollendung Ihres 70. Lebensjahres unsere herzlichsten Glückwünsche
übermitteln. Wohl waren Sie schon 1919, also mit 36 Jahren, in die Hei¬
delberger philosophische Fakultät ganz übergetreten, und der größere
Teil Ihrer Lebensarbeit galt der Philosophie, die Sie als Existenzphilo¬
sophie in vielen großen und kleinen Werken in der schicksalsschweren
Zeit der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in tiefer innerer Bewegung
dem deutschen Volke gesdienkt haben. Den äußeren Gang Ihres Lebens
schilderten Sie uns selbst in Ihren Aufsätzen: „Mein Weg zur Philo¬
sophie“ und „Über meine Philosophie“ in den Jahren 1949 und 1951.
Wir gewinnen aus ihnen einen tiefen Einblick in den Gang Ihres Lebens,
in Ihr Streben nach Erkenntnis der Wahrheit. Ihre von Anfang an schöp¬
ferische, klärende und mahnende, von hohem Idealismus und edelster
Menschlichkeit getragene Forsdierarbeit hatte einst (1908) zuerst in der
„Heidelberger Irrenklinik“ ihren Anfang genommen, der Klinik, die ich
wenige Jahre vorher zusammen mit Kraepelin verlassen hatte. Etwa
sechs Jahre lang haben Sie in jener Klinik am Bette der Kranken mit
offener Seele die gewaltigen Eindrücke in sich aufgenommen und in
Franz Nissl, meinem unvergeßlichen Freunde, einen ethisch hochstehen¬
den, als Forscher bahnbrechenden Chef von hoher Menschlichkeit gehabt.
Wilmanns, der damalige Oberarzt der Klinik, gab Ihnen das Thema
Ihrer ersten wissenschaftlichen Arbeit („Heimweh und Verbrechen“), die
mit großer Gründlichkeit bei sorgfältiger Berücksichtigung der alten und
neuen Literatur eine vorbildliche klinische Studie wurde (Inauguraldis¬
sertation). Es herrschte an der Heidelberger Klinik ein geistiges Leben
von großer Vielseitigkeit. Wer sich in ihr wohlfühlen sollte, wurde mit¬
gerissen in den stets kritischen Eifer echter Wahrheitserforschung. Die
verschiedensten menschlichen Anlagen und Begabungen fanden siA in
den Ärzten der Klinik zusammen, die Kraepelin und Nissl zur wohl be¬
deutendsten psychiatrischen Forschungsstätte Deutschlands gemacht hat¬
ten. Und da erkannte nun Ihr systematischer Geist mit einer gewissen
Verwunderung die Unreinheit der erkenntnistheoretischen und psycho¬
logischen Methoden, die mir schon 1903 Anlaß zu meinem Vortrag über

149
ROBERT GAUPP

„die Grenzen psychiatrischer Erkenntnis“ gegeben hatte. Bald darauf


traten Sie mit einer Reihe ausgezeichneter selbständiger Arbeiten von
grundsätzlicher Bedeutung hervor. Ex ungue leonem! Ihr scharfer Ver¬
stand, Ihre weite Bildung, Ihre einfühlende Psychologie, Ihr lebhaftes
Bedürfnis nach völliger Reinheit und Klarheit der Forschungsmethoden
gab sich im Unterschied von Kraepelins Art lebensvoller Schilderung des
unmittelbar klinisch Beobachteten mit der Unvollständigkeit der damit
erzielten Erkenntnisse nicht zufrieden. Das Ergebnis waren die bahn¬
brechenden Arbeiten „ Üher die phänomenologische Forschungsrichtung in
der Psychiatrie“, über den „Eifersuchtswahn“, in dem die Grundfrage
„Entwicklung einer Persönlichkeit oder Prozeß“ erstmals erörtert wurde,
um seither nie mehr als Problem zu verschwinden. Dabei kamen Ihre
wertvollen Studien über die „Frugwahrnehmungen“ zur vollen Auswir¬
kung, und endlich ist hier jener historisch bedeutungsvollen Arbeit be¬
sonders zu gedenken, die 1913 unter dem Titel erschien: „Kausale und
verständliche Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose bei der
Dementia praecox (Schizophrenie)“. Wir erkannten sofort, daß hier ein
philosophisch geschulter, psychologisch an Dilthey orientierter Forscher
mit Klarheit und Energie neue Forschungsmethoden zur Geltung brachte
und in die Ratlosigkeit unserer damaligen Kämpfe um die „Krankheits¬
einheit“ ordnende Gesichtspunkte hineintrug. Sie stellten in klassischer
Formulierung „Krankheitsgattung“ und „Krankheitstypus“ einander ge¬
genüber.
Und dann kam noch im gleichen Jahre Ihre „Allgemeine Psychopatho¬
logie“ heraus. Darf ich hier in aller Bescheidenheit einem Irrtum ent¬
gegentreten, der vielleicht - ich weiß es nicht - auf Sie selber zurückgeht:
Daß Ihre Zeitgenossen der Psychiatrie Sie „nicht gewollt haben“. Lud¬
wig Binswanger, der geistvolle Würdiger Ihrer psychiatrischen Lebens¬
arbeit, schrieb 1943, daß durch die Unterbrechung Ihrer psychiatrischen
Laufbahn eine der größten verpaßten Möglichkeiten der Geschidite der
Psychiatrie entstanden sei. In Wirklichkeit lagen die Dinge doch damals
so: Ihr Buch erschien 1913, ein Jahr vor Ausbruch des ersten Weltkriegs,
der unsere akademische Jugend auf 4 bis 5 Jahre zu den Waffen rief
und uns alle mit schweren Sorgen um des Vaterlandes Zukunft be¬
lastete. „Inter arma silent leges.“ Dieses Wort Ciceros dürfen wir mutatis
mutandis wohl auf alle theoretisch-wissenschaftlichen Werke anwenden,
die damals entstanden. Doch wir brauchen dies nicht einmal zu tun. Der
kritische Referent der damals bedeutendsten psychiatrischen Fachzeit-
sdirift, Oswald Bumke, schrieb über die ,,Allgemeine Psychopathologie“,
sie sei ein ungewöhnliches Buch, das sich und seinem Verfasser mit einem
Schlage einen dauernden Platz in der Geschichte unserer Wissenschaft

150

1
BRIEF AN KARL JASPERS

erobere, ein Abschluß und ein Anfang zugleich. Der Referent betonte
den großen Vorzug, den Sie durch Ihren besonderen Bildungsgang vor
den Fachgenossen gewonnen haben. „Philosophische Schulung und ins¬
besondere begriffliche Klarheit vereinigen sich mit einem unbeugsamen
Respekt vor den Tatsachen und mit der grundsätzlichen Verleugnung
aller Spekulation. Die psychologischen Kenntnisse oder vielleicht noch
ridätiger gesagt: die psychologische Begabung des Autors hat ihn in dem
Abschnitt über die subjektiven Erscheinungen des kranken Seelenlebens
(Kap. 1) und in dem über die verständlichen Zusammenhänge (Kap. 3,1)
Darstellungen schaffen lassen, denen ich aus der neueren psychiatrischen
Literatur nichts an die Seite zu stellen wülke.“ Sieht das nach „nicht ge¬
wollt haben“ aus? Wenn Bumke dann am Schluß seines Referates zweifelt,
ob die Studenten, Ärzte und Psychologen das seelische Niveau hätten, das
Buch zum Leitfaden bei ihrem Studium zu nehmen, so hat die Folgezeit
ihm nidit recht gegeben. Überall, wo unter Medizinern genügende psy¬
chologische Begabung vorhanden war, hatte die faszinierende Kraft des
Buches, seine kristallklare Gedankenführung und die packende Darstel¬
lungskunst starke Wirkung gehabt und die Einsicht in Ihre wissenschaft-
lichie und allgemein menschliche Bedeutung für ein reineres und edleres
Arzttum vertieft. Wir haben überall da, wo es eine psychiatrische For¬
schung gab, sehr viel „von Ihnen gewollt“. Das Buch erschien nach
Kriegsschluß in zweiter, bald darauf (1922) in dritter Auflage und, wer
in der Forschung stand und von seinem Denkorgan rechten Gebrauch
machte, war begeistert. Und wie selten ist es wohl vorgekommen, daß
das Buch eines lebenden Autors einem Fachgenossen Anlaß gab, das
25jährige Jubiläum seines Erscheinens mit einem Festartikel zu be¬
grüßen? Im „Nervenarzt“ 1938 lesen wir aus der Feder eines unserer
gebildetsten und bedeutendsten Psychiater, Kurt Schneider: ,,Erst von
diesem Buche an gibt es eine wissenschaftlich befriedigende Psychopatho¬
logie“ und weiter: „Erst durch dieses Buch fanden auch die mannigfachen
früheren Erfahrungen und Tatsachen ihre klare Einordnung, ihren ge¬
hörigen Ort“; und endlich: „Während die Psychiater vor Jaspers meist
eine Sprache redeten, die anatomische, physiologische und psychologische
Begriffe durcheinandermengte, hat dem Jaspers für jeden Denkenden
ein Ende gemacht. Die psychologische Sprache der Psychiatrie vor Jas¬
pers war bald anatomisch oder physiologisch verunreinigt, teils stammte
sie von einer theoretisierenden Psychologie, teils war sie ein begrifflich
verschwommener vulgärer Dilettantismus; man sang, ,wie der Vogel
singt, der in den Zweigen wohnetj dagegen hat Jaspers nur die sdilidite
Selbstverständlichkeit gelehrt, daß die Psychopathologie die Sprache der
Normalpsychologie zu reden hat“. Sie werden entgegnen: Das schrieb

151
ROBERT GAUPP

Schneider 1938, aber jene Äußerung, man habe Sie nicht gewollt, sei
zwei Jahrzehnte früher gefallen. Zugegeben; aber wollen Sie mir glau¬
ben, daß Schneiders Urteil schon 1913 auch das meine und das vieler
Fadigenossen war!
Ich kann hier nicht die Wandlungen genauer erörtern, die das Budi
in dem Zeitraum von 1913 bis 1948 erfuhr, also in dem Zeitraum von
fünfunddreißig Jahren, in dem der junge Psychologe und Psychopatho-
loge in seiner philosophischen Weiterentwicklung unter dem Einfluß der
großen Forschergestalt Max Webers seine auf Kierkegaard und Nietzsche
fundierte Existenzphilosophie ausgestaltete, den Begriff der philosophi¬
schen ,,Wahrheit“ und ihrer tiefen Wirkung auf den Menschen, auf sein
geistiges Wesen, auf seine Einmaligkeit, seine Heimat in der Ewigkeit,
zu immer größerer Klarheit entwickelte. Aber Ihrer pathographischen
Werke habe ich als Psychiater noch zu gedenken. Die „Pathographien“
waren lange Zeit Schmerzenskinder unserer Wissenschaft gewesen. Seit
der hochgebildete Möbius einst um die Jahrhundertwende große Geistes¬
kranke (Rousseau, Nietzsche) und berühmte Sonderlinge (Schopenhauer,
Fedhner, Gail) psychopathologisch beleuchtete (wie manche Auseinander¬
setzung habe ich mit dem trefflichen Manne vor 50 Jahren gehabt!) sind
Pathographien in großer Zahl erschienen. Wilhelm Eichbaum-Lange
schrieb in meiner Klinik seine gute Arbeit über ,.Hölderlin“ und stellte
später dort sein bekanntes großes Sammelwerk über ,.Genie, Irrsinn und
Ruhm“ fertig. Die Bewertung solcher pathographischer Studien schwankte
bekanntlich sehr, bis dann Ihre wertvollen Arbeiten über Strindberg
und van Gogh, auch über Hölderlin und Swedenborg klare Gesichts¬
punkte schufen, die der ganzen Forschungsrichtung das Bürgerrecht brach¬
ten, so daß sie heute nicht mehr brüsk abgelehnt oder hochmütig belächelt
wird. Wie sehr Sie bis in die letzten Jahre hinein bei allen diesen Pro¬
blemen mittätig waren, als Psychiater modernster Richtung, beweist uns
Ihre Studie über den Propheten Ezechiel (1947), bei dessen Beurteilung
Sie es riskierten, die Sprache des Alten Testaments für die wissenschaft¬
liche Beurteilung der abnormen Erlebnisse des Propheten heranzuziehen.
In der Kritik der psychoanalytischen Ansprüche haben wir Psychiater
uns auf Ihre Seite gestellt, dankbar für Ihre wegweisenden Worte.
Vieles möchte ich noch sagen zur vierten und fünften Auflage Ihrer
„Allgemeinen Psychopathologie“, die als ein Band von 748 Seiten vor mir
liegt. Als Philosoph von selbständigem Gepräge haben Sie in langen
Jahren unfreiwilliger, äußerer Passivität mit der Ihnen eigenen Forscher¬
gewissenhaftigkeit den Gang und die Literatur der Psychiatrie verfolgt
und die Jugendarbeit des Dreißigjährigen in ein reifes Spätwerk des
über Sechzigjährigen umgewandelt. Es ist unvermeidlich, daß der schöp-

152
BRIEF AN KARL JASPERS

ferisdie Geist des Philosophen das Buch immer mehr durchtränkte und
vieles in der Jugend Gesdiaute in eine etwas andere neue Beleuchtung
rüdcte und ergänzte. Wohl ist das Budi jetzt kein „Leitfaden für Stu¬
dierende“ mehr, sondern ein imposanter Rechensdiaftsbericht über alles,
was Ihre immer wachen Augen im Reiche psychiatrischer Forschung zwar
weniger aus eigenem Erleben als durch sorgfältige Berücksichtigung der
psychiatrischen Literatur zu erfassen, festzuhalten und klarer auszu¬
gestalten vermochten. Nachdem das Buch 1946 als monumentales W^erk
erschienen war, mußte es schon im darauffolgenden Jahr neu aufgelegt
werden.
Es liegt vor uns als ein neues vertieftes Werk, als das Werk eines
Mannes, der alle Höhen und Tiefen ernstester Wahrheitsforschung in
sich erlebte, im eigenen Schicksal die stählende W^irkung solcher Wahr-
heitserforsdiung erfuhr und in fast prophetischem, von wahrem Ethos
erfülltem Geiste unserem Volke in seiner schwersten Not den Weg nach
oben, zur inneren Freiheit, zeigt: „Pectus facit professorem“. Wem ist
dieses Wort nicht auf die Lippen gekommen, wenn er Ihr Buch über „Die
Sdiuldfrage“ und das andere über „Die Idee der Universität“ las - demü¬
tig und im aufrichtigen Wunsche nach Selbstreinigung und Selbstbefrei-
ung? Sollte aber aus dem ärztlichen Lager einer nach dem Studium der
4. Auflage Ihrer „Allgemeinen Psychopathologie“ die Sorge haben, daß
der Philosoph, der Erkenntnistheoretiker und Ethiker dem Arzte Jaspers
die psychiatrisch-ärztliche Arbeit aus der Hand genommen habe, sollte
er fürchten, daß wir Psychiater unseren Jaspers ganz der Philosophie
überlassen müssen, so daß wir führerlos im Chaos derzeitiger Wissen¬
schaft in Theorie und Praxis durch die unruhvolle Zeit gehen, so mochte
ich einem solchen Pessimismus die Rede verwehren; ich verweise noch
einmal auf den klinisch-psychiatrischen Aufsatz über Ezechiel 1947) und
vor allem auf Ihre ausgezeichneten Darlegungen „Zur Kritik der Psycho-

^""wohl haben wir ja Freud, Jung, von Weizsäcker und manchem ande¬
ren „Psychotherapeuten“ viel Gutes zu verdanken, und es mag auch
die modische Bezeichnung „psychosomatische“ Medizin für eine alte, uns
längst vertraute Tatsachengruppe weitere Verbreitung finden, solange
sie nicht die Klarheit des wissenschaftlichen Denkens und die Sauber ei
ärztlichen Handelns gefährdet. Ihr überlegener "f;
liehe Wahrheitsliebe und Ihr hohes Ethos, das sich nur dem Ge^te '
pflichtet fühlt, möge unseren Ärzten, denen kranke Menschen ihre See
anvertrauen, als Führer vorangehen. n l* * +
Lassen Sie mich schließen, verehrter Herr Kollege! Wir Psychiater en -
lassen Sie nicht aus unseren ärztlichen Reihen, m denen wir Sie mit Stolz

153
ROBERT GAUPP

erblicken. Mag der Ruhm Ihrer Philosophie heute manchen leuchtender


erscheinen als Ihre Lebensarbeit im psychiatrischen Bereiche - uns sind
Sie und bleiben Sie der kristallklare ärztliche Denker, der überlegene
Ordner in der Forschung beim Gesunden und Kranken und der Mann
unerbittlicher Wahrheitsliebe und tiefster Menschlichkeit; und so erlau¬
ben Sie mir, dem um zwölf Jahre älteren Vertreter unserer psychiatri¬
schen Wissenschaft die herzliche Bitte: Behalten Sie die Führung in der
exakten, unergründlichen und höchst verantwortungsvollen Erkenntnis¬
arbeit der allgemeinen Psychopathologie! Möge Ihnen in Basel an der
Stätte, wo Jakob Burckhardt und Friedrich Nietzsche den Geist akade¬
mischer Jugend erhellten und formten, ein schönes Alter in voller Frei¬
heit und Klarheit des Geistes beschieden sein.
In kollegialer Verbundenheit
Ihr
Gaupp

154
Hans W. Gruhle

PSYCHOPATHOLOGIE
UND AKADEMISCHER UNTERRICHT

Als Karl Jaspers nach seinem medizinischen Staatsexamen sidi der


Heidelberger psychiatrischen Klinik als Lernender und Mitarbeiter an¬
schloß, fand er dort einen Kreis junger Wissenschaftler, die, ganz in den
Gedanken Emil Kraepelins aufgewachsen, vorwiegend diagnostisch in¬
teressiert waren. Ob Fall X dieser oder jener Krankheit angehöre, war
das Thema zahlreicher temperamentvoll geführter Diskussionen. Wenn
ein Teilnehmer behauptete, X sei doch kein Hebephrener, das sei doch
„etwas ganz anderes”, stellte es sich oft heraus, daß manche Symptome
des gleichen Falls in der einen, andere in einer anderen diagnostischen
Richtung zu liegen schienen. Es war die Zeit, in der Karl Wilmanns
zum Beispiel die These verteidigte, subjektive Hemmung beweise stets
eine zyklothyme Depression. Wenn aber ein Kranker Knöpfe auf seine
geschlossenen Augen lege, so sei das eine derartige Verschrobenheit, daß
man daraus auf eine Dementia praecox schließen könne. Die Verfol¬
gung der weiteren Schicksale dieser Kranken bewies oft den Irrtum und
führte so immer wieder von neuem auf die Kraepelin sehe Hauptthese,
daß nicht das Zustandsbild, sondern der Verlauf die Diagnose ent¬
scheide. Aber in diesen lebhaften Diskussionen stellte sich auch schon
oft heraus, daß man über die Abgrenzung der Symptome nicht einig
war. Das ganz gleiche Symptom schien bei verschiedenen Fallen aus ganz
anderer Herkunft zu stammen, und aus der gleichen Herkunft gingen
zuweilen ganz verschiedene Symptome hervor. Die Verwirrungen die
aus solchen Erkenntnissen entsprangen, erforderten nach zwei Richtun¬
gen Klärung: Einmal mußten die subjektiven Symptome besser beschrie¬
ben, in ihrer phänomenalen Gegebenheit klarer erfaßt werden, sodann
verlangte das „Auseinanderhervorgehen“ sorgfältigere Einfühlung. Or¬
ganischer, nicht einfühlbarer Krankheitsprozeß oder verstehbare Ent¬
wicklung war einer der immer wieder erörterten Diskussionsgegenstande.
Jaspers beteiligte sich daran in beiden Hinsichten. Seme ersten Arbei
ten^betrafen die Methoden der Intelligenzprufung und den Begriff d
Demenz (1910), den Eifersuchtswahn (1910) T
rw 9Hl u"d
Wahrnehmungen („Leibhaftigkeit und Reahtatsurte.l ) <'9'')
mals die Trugwahrnehmungen (1911). Seme med.zm.sdre Doktorarbert
■mit den HeiLehkindern, jenen Pubertierenden, die aus J
Sehnsucht heraus ernste Verbredren begehen („Heimweh und Verbre-

155
HANS W. GRUHLE

dien“) (1909). Es folgten Studien über „die phänomenologische For¬


schungsrichtung in der Psychiatrie“ (1912), über „kausale und verständ¬
liche Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose bei der Dementia
praecox“ (1913), über „leibhaftige Bewußtheiten“ (1913).
Während die meisten seiner damaligen Mitarbeiter kaum von den
Krankenstationen wegzubringen waren und sich leidenschaftlich in die
einzelnen Menschen vertieften, immer neue Erfahrungen etwas verwor¬
ren sammelnd, war die stille Beobachtung von Jaspers mehr auf das
Verfahren gerichtet. Was macht ihr denn eigentlich bei der Sammlung
eurer Erfahrungen, was habt ihr für Einteilungen, was für Gesichts¬
punkte? Der einzelne, ganz in der Erfahrung, im Dienst und in der
Hilfe aufgehende junge Facharzt hatte dazu keine Zeit. Die Selbst¬
besinnung auf den derzeitigen Forschungsstand und die verwendeten
Methoden waren sehr selten Anliegen der tätigen Ärzte. Diesen Fehler
erkannte Jaspers. Er schrieb seine „Psychopathologie“ (1913). Grund¬
begriffe und Methoden zu erkennen war sein Hauptanliegen. Er unter¬
schied die Beschreibung der subjektiven Erscheinungen als Phänomeno¬
logie von der objektiven Psychopathologie, die die Symptome und Lei¬
stungen des Seelenlebens festlege. Dann widmete er sich der Unter¬
scheidung von kausalen und verständlichen Zusammenhängen und gab
gerade hiermit seinen bisherigen Mitarbeitern Neues: darüber hatten
sie noch nie nachgedacht. Daß er schließlich noch ein Kapitel über die
soziologischen Beziehungen des abnormen Seelenlebens anfügte, ent¬
sprang wieder der Heidelberger Tradition; hatte doch Wilmanns über
die Landstreicher, ich selbst über die männlichen Fürsorgezöglinge,
Albrecht Wetzel über die weibliche verwahrloste Jugend, August Hom-
burger und Eduard Reis über die schweren Verbrecher und Kurt Schnei¬
der über die eingeschriebenen Prostituierten gearbeitet. Das oben er¬
wähnte Thema „Entwidklung oder Prozeß“ wurde unter der Überschrift
der Persönlichkeit behandelt. Jaspers’ Buch war also im wesentlichen eine
Methodologie der Psychiatrie und blieb es durch alle Auflagen hindurch,
bis es in der vierten eine gewaltige Bereicherung des Stoffes erhielt.
Mit dieser Methodenlehre war Jaspers’ Tätigkeit für die Psychiatrie im
wesentlichen beendet. Auch spätere Arbeiten und Aufsätze, außer der
kleinen schönen Studie über Strindberg und van Gogh (1922) und dem
Krankheitskapitel im Nietzschebuch (1936), führten ihn nicht mehr in die
empirische psychiatrische Arbeit zurück.
Jaspers’ Psychopathologie war etwas durchaus Neues. Die reine Be¬
schreibung abnormer psychischer Phänomene und ihr Zustandekommen
lag, wie erwähnt, den aufs Praktische gerichteten Psychiatern nicht. Seit
der anders orientierten „Allgemeinen Psychopathologie“ von Ebbing-

156
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT

haus (Leipzig 1878) waren 35 Jahre vergangen. Adolf Wadismuths „All¬


gemeine Pathologie der Seele“ (Frankfurt a. M. 1859) lag gar 54 Jahre
zurück. Die älteren Psychiater, bis etwa zu Bumm und Specht, waren
vielseitig gebildete Männer, die durchaus in Fühlung mit den Natur-
imd Geisteswissenschaften ihrer Zeit standen. Ihre psychiatrische Ter¬
minologie unterschied sich kaum wesentlich von derjenigen in der all¬
gemeinen Wissenschaft ihrer Zeit. Aber diese Zeit kannte noch kaum
eine Psychologie als Wissenschaft mit eigener Terminologie. Die Psycho¬
logie, soweit sie überhaupt an Universitäten gelehrt wurde, wurde von
Philosophen gelesen, die der Empirie fernstanden. Der erste Psychiater,
der (als Sdiüler W. Wundts) von der Psychologie her kam, Emil Krae-
pelin, versuchte, die Grundsätze der experimentell-psychologischen For¬
schung, die er in Leipzig gelernt hatte, auf die Psychiatrie zu übertragen.
Sofern es sich nidit um Arbeits-, Ermüdungs- und Vergiftungsversuche
an Normalen handelte, schlug sein Verfahren fehl. Gerade die Konzen¬
tration, die allgemein zur Erfassung und Durchführung einer psycho¬
logischen „Aufgabe“ im Laboratorium nötig war, war bei der sehr gro¬
ßen Mehrzahl der eigentlichen Geisteskranken nicht zu erreichen. Man
kann im Laboratorium nicht ein psychologisches Experiment durchfüh¬
ren, wenn der Kranke die Stellung der Aufgabe mit ideenflüchtigem Da-
hergerede oder schizophrenen Scherzen beantwortet. Allenfalls vermag
man Wesen und Grad des angeborenen oder früh erworbenen Schwach¬
sinns mit Tests einzufangen, aber dies entbehrt, wenn es praktisch auch
zuweilen wichtig und nötig ist, eines tieferen Interesses.
Kraepelin selbst, noch ganz in der materialistischen Medizin herangewach¬
sen, hielt bei den seelischen Erkrankungen die Inhalte der Vorstellungen
und Gedanken für sehr wichtig und füllte damit in seinem großen Lehrbuch
viele Seiten. Für die psychologische Phänomenologie fehlte ihm jedes Ver¬
ständnis. Kraepelin sagte zum Beispiel von den Sinnestäuschungen aus,
sie seien durch krankhafte Vorgänge im Gebiete der Sinnesbahn des
Hirns bedingt. Es werde dadurch „eine inhaltliche Veränderung, eine
Verfälschung derselben, erzeugt“. Dadurch könne eine Sinnesvorstellung
in das Bewußtsein eintreten, die durch „krankhafte Erregungszustände
in den höheren Abschnitten des betreffenden Sinnesgebietes hervorgeru¬
fen würde“. Kraepelin versucht also, physiologische Ursachen des Ge¬
hirngeschehens für das Phänomen verantwortlich zu machen. Jaspers
definiert in seiner ersten Auflage: „Halluzinationen seien leibhaftige
Triebwahrnehmungen, die nicht aus realen Wahrnehmungen durch Um¬
bildung, sondern völlig neu entstanden sind“ und von Nachbildern, Jo¬
hannes Müllers phantastischen Gesichtserscheinungen und den Pseudo¬
halluzinationen Kandinskys zu trennen seien. Jaspers stellt dann eine

157
HANS W. GRUHLE

Tabelle auf, in der er die subjektiven Merkmale von Wahrnehmungen


und Vorstellungen gegenüberstellt. Beide seien „absolute Gegensätze,
übergangslos verschieden, durch einen Abgrund getrennt“. In der 4. Auf¬
lage wählt Jaspers fast die gleichen Formulierungen. Im Gegensatz zu
Kraepelin wird hier die Tendenz deutlich, die subjektiven Phänomene
möglichst sorgsam zu beschreiben und voneinander zu sondern. Der Be¬
ginn jeder Ordnung ist die Beschreibung, wobei freilich in der Wahl der
Gesichtspunkte der Beschreibung die vorausgenommene Ordnung meist
schon darinstedct.
Diese Beschreibung der Methode, an der es auch in der normalen
Psychologie noch vielfach fehlt, ist die Grundlage der Psychopathologie.
Aber diese Beschreibung krankt, wie überall, an der Unbestimmtheit
der Begriffe. Überall bemüht sich Jaspers um Klarstellung. Erinnert
sei an das Beispiel der Verschrobenheit, die dem Psychiater ein gängiger
Terminus für eine bestimmte Weise schizophrener Haltung, Geste,
Zweckbewegung ist. Aber wie will man sie definieren, wie will man sie
etwa ins Französische übersetzen? Erinnert sei an das weitere Beispiel
des Gedankenmachens und Gedankenabziehens. Nicht die Inhalte der
Gedanken erscheinen dem Schizophrenen dabei fremd, sondern die
Funktion des Denkens entbehrt hier einiger Merkmale, die dem Norma¬
len schlechtweg gegeben sind und daher nicht von ihm beachtet werden.
Wenn der Normale denkt oder handelt, so ist es für ihn selbstverständ¬
lich, daß eben er es ist, der denkt oder handelt. Wenn der Besessene dies
tut, so weiß er genau, er spürt es direkt, daß nicht er es tut, sondern der
Teufel. So weiß der Inspirierte, daß er diese Inspiration einem Jemand
verdankt. So handelt das Medium nicht aus seiner Initiative, sondern
aus der „des andern“ heraus. Alle drei wissen sich in der Gewalt einer
Macht. Es fehlt ihren Erlebnissen in diesem Augenblick zweierlei: die
Ichqualität und die Impulsqualität. Dies sind zwei verschiedene Phäno¬
mene. Das erste ist das „mir zugehörig sein“. An meinen Gedanken er¬
kenne ich die Qualität meines Denkens, die Vertrautheit mit dieser mei¬
ner Art des Denkens. An den eingegebenen Gedanken — und zwar an
ihrem Ablauf, nicht an ihrem Inhalt — erkenne ich ihre Fremdartigkeit,
das Unvertrautsein mit ihnen. Dies ist keineswegs gleich dem Unter¬
schied von Bekannt oder Unbekannt. Dieser Gegensatz bezieht sich auf
das Wiedererkennen des Inhalts, den Bekanntheitscharakter. Hier aber
ist von der Unvertrautheit der Funktion die Rede, für die sich, so scheint
mir, kein Wort kennzeichnender findet als das der Ichstörung. Wenn ich
handle, so weiß ich nicht nur, daß es mein Handeln ist, sondern daß sein
Beginn von mir ausgeht. Ich bin es, der beginnt, ich setze den Anfang.
Dieses Erlebnis, das meist mit dem Bewußtsein der subjektiven Freiheit

158
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT

einhergeht, leidet schon ein wenig Not beim Einfall. Mir fällt etwas ein.
Dabei bin ich Schauplatz. Aber ich erkenne den Einfall meinerseits als
meinen Einfall an. Er hat Ichqualität. Frau de la Motte-Guyon wußte bei
ihrem automatischen Schreiben aber deutlich, nicht nur, daß die sich
überstürzenden Worte, die ihrer Feder entflossen, nicht ihrer Initiative
entstammten, sondern ihr auch fremd, unvertraut waren — sie hatten
nicht die Idiqualität. Sollte man meinen, mit diesen zwei Begriffen der
Ichqualiät und der Initiativqualität die erwähnten Phänomene der Be¬
sessenheit, der Inspiration, der Medialität, oft auch der Ekstase, der
Verzüdkung, der Erleuchtung, der unio mystica kennzeichnen zu können,
so reichen sie natürlich noch JxicJit aus, um ihre Fülle zu treffen. Aber es
entsteht noch eine weitere phänomenologische, terminologische Schwie¬
rigkeit. Zwischen der Rolle des Mediums, das nur ausführendes Organ
eines andern ist, und der Lage des Schizophrenen, dem die Gedanken
gemacht werden, ist ein tiefgreifender Unterschied. Beide sind empört,
Werkzeug einer andern Macht zu sein, der Besessene ist entsetzt über die
Vergewaltigung durch den Teufel, dem er sich stöhnend fügt. Der Schi¬
zophrene hat Tausende von Malen zum Rasierzeug gegriffen, aber heute
weiß er urplötzlich, daß es nicht aus seiner Regie erfolgte, sondern ihm
gemadit worden ist. Viele Male hat ein Mann beim Warten oder im
Gesprädi von selbst die Arme gekreuzt, heute weiß er es, daß dieses eine
Mal ihm das angetan worden ist. Im Trancezustand wird der Ergriffene
von einer andern Person ergriffen, deren Persönlichkeit in gewissen
Grundzügen für ihn feststeht; die Handlungen und Äußerungen, zu
denen er veranlaßt wird, haben einen gewissen, wenn auch zuweilen
kuriosen Zusammenhang. Beim Schizophrenen fehlt für diese Beeinflus¬
sungen jedes geistige Band. Einzelne Regungen des Denkens oder Han¬
delns werden ihm „gemacht“, ohne Sinn und Verstand. Diese gemachten
Regungen sind ihm auch ichfremd und bar seiner Initiative. Und dennoch
ist jeder Kenner dieser Phänomene davon überzeugt, daß diese schizo¬
phrene Ich- oder Initiativstörung phänomenal und genetisch etwas ganz
anderes ist als der mediale Zustand. Die gleichen Worte decken ganz
Verschiedenes. Man kann sich nur dürftig helfen, indem man eine me¬
diale, gedanklidi gesteuerte, von einer schizophrenen sinnlosen Ich- und
Initiativstörung oder -lähmung abgrenzt.
Oben fiel der Ausdruck des Automatismus. Dieses Wort wird leider
in der Psychopathologie verschieden verwandt. Die Franzosen rechnen
zum Beispiel die Halluzinationen zu den Automatismen, weil sie sich an
den Kranken automatisch, das heißt selbständig vollziehen, ohne daß
diese es hindern können. In der deutschen Psychopathologie meint man
mit Automatismus eine erworbene (also keinen Instinkt!), eingelernte.

159
HANS W. GRUHLE

selbständige Folge von Gedanken oder Handlungen, zum Beispiel den


aufrechten Gang oder gewisse Gewohnheitshandlungen oder festste¬
hende gedankliche Operationen. Die Erziehung, auch die Selbsterzie¬
hung des Menschen besteht zu einem erheblichen Teil darin, ursprüng¬
lich erlernte, oft mühsam, oft mit Einsicht, oft ohne Einsicht erlernte
eigene Mechanismen in sich so geschlossen, so selbständig zu machen, daß
eine bewußte „Weisung“ genügt, sie in Tätigkeit zu versetzen, so daß
sie dann unbewußt ablaufen. Man wäre geneigt, sie mit einem Schie߬
budenmechanismus zu vergleichen, wenn nicht hierbei das eine hinderte,
daß sie keineswegs unabänderlich verlaufen, sondern sich wiederum
„automatisch“ der gegebenen Situation anpassen, ohne daß eine Auf¬
merksamkeitszuwendung erforderlich ist. Man denke an die automa¬
tische Anpassung an den immer wechselnden Straßenverkehr der Gro߬
stadt. Hier ist ein Punkt, von dem man in die Tätigkeit des Unter¬
bewußtseins ohne alle Magie hineinleuchten kann.
Noch ein weiteres Beispiel sei erwähnt. Es ist üblich, die Aphasie in
drei Formen zu teilen, die motorische, sensorische und amnestische Apha¬
sie. Diese Dreiteilung ist ganz verfehlt. Sie wurde nicht von Psychologen
gemacht. Sie entbehrt ganz eines gemeinsamen Gesichtspunktes der Ein¬
teilung. Unter der amnestischen Aphasie, die ich hier allein herausgreife,
versteht man die Tatsache, daß dem Kranken die Sprachbezeichnung für
einen vorgezeigten Gegenstand nicht einfällt. Es ist keine Agnosie. Denn
er erkennt Bedeutung und Zweck des Gegenstandes. Er ist vielleicht im¬
stande, beides zu erläutern. Er hat also auch nicht schlechtweg eine
Sprachstörung, denn er spricht korrekt. Aber den Namen für Gegen¬
stände vermag er nicht zu finden, zuweilen nur nicht für die Gegen¬
stände, die er sieht, zuweilen auch nicht für jene, die man ihm beschreibt
(zum Beispiel: aus was ist der Glühfaden in der Glühbirne gemacht?).
Was fehlt diesem Kranken eigentlich? Er versichert oft, er wisse ganz
genau, wie das Ding heiße, aber er könne es nicht nennen. Zuweilen:
er glaube zu wissen, wie es heiße. Gelegentlich: er wisse es ganz bestimmt
nicht, wie es heiße, also könne er es natürlich auch nicht nennen. Er
selbst unterscheidet also in seiner Störung genau die gleichen Bewußt¬
heiten, die der Normale unterscheidet, wenn er nach einem Personen¬
namen sucht. Wie hießen die kaiserlichen Räte, die man im Beginn des
30jährigen Krieges aus dem Hradschin geworfen hat? Der erste: das
weiß ich nicht, weil ich es nie gewußt habe. — Der zweite: das habe ich
mal gelernt, aber ich komme bestimmt nicht mehr darauf. — Der dritte:
es waren zwei, der eine hatte einen deutschen, der andere einen tsche¬
chischen Namen, aber ich finde sie nicht mehr. — Der vierte: o, die weiß
ich, aber ich muß mich besinnen, der eine ist etwas mit „witz“ und der

160
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT

andere, ich glaube mit a. Es war so: lang kurz kurz und kurz lang kurz.
Nach einem Augenblick des Besinnens richtig: Martinitz und Slawata. —
Der Normale kann bei Namenssuche also unterscheiden: ich weiß be¬
stimmt, daß ich ihn nicht weiß, — ich weiß, daß ich es einmal gewußt, aber
vergessen habe, — ich weiß, daß ich es weiß und doch im Augenblick nicht
„habe“, — ich weiß, daß ich es weiß, es wird sofort kommen. Dies sind
einerseits also Bewußtseinsstufen der Bereitschaft und andererseits Stu¬
fen der Fähigkeit zur Aktivierung. Die amnestische Aphasie ist also
offenbar eine stark gesteigerte Bereitschaftsstörung, die sich nicht nur
auf Namen im engeren Sinne, sondern auf Ding- und Sadiverhaltsbe-
zeidinungen bezieht. Man hat sie früher unter „vergessen“ eingeordnet,
während sie nur eine Zugangsstörung zu nicht Vergessenem darstellt.
Man findet — häufiger —, daß es eine Zugangsstörung zum Seltenen,
wenig Eingeübten ist, aber es gibt — selten — auch Zugangsstörungen
zum Geübten, zum Beispiel zur Muttersprache, während Fremdsprachen¬
worte erhalten sind. Daraus ergeben sidi Ausblicke auf Sprachtheorien,
die bei solchen Fällen um so interessanter werden, bei denen es sich nicht
nur um Geübtes und Ungeübtes, sondern um Sachbereiche, Sinnbereiche,
Kulturbereiche handelt —, Fälle, bei denen man sich verwundert, daß
die organische körperliche Erkrankung auf die Kultur gleichsam Rück¬
sicht nimmt. Hier ergeben sich weitere Ausblicke in das große inter¬
essante Gebiet der Beziehungen zwischen Gehirn und Seele.
In diesem Aufsatz handelt es sich nicht darum, eine Psychopathologie
zu skizzieren. Diese Beispiele sollten nur klären, um was es sich dabei han¬
delt, und welche wissenschaftliche Bedeutung ein solches Fach überhaupt
besitzt. L. Binswanger hat zum 60. Geburtstag von Jaspers das gute Wort
geprägt, Jaspers habe die Psychopathologie auf das Niveau der Wissen¬
schaftlichkeit gehoben. Jaspers tat dies 1913. Diese Wissenschaft hat sich
seitdem bescheiden, allzu bescheiden weiterentwickelt. W^arum war der
Fortschritt so dürftig? Die obigen Beispiele sollten dartun, daß die all¬
gemeine wissenschaftliche Bedeutung der Psychopathologie nicht gering
ist. Eine der Seiten dieser Bedeutung liegt darin, daß die „normale“
Psychologie auf viele Probleme aufmerksam gemacht wird, die sie bis¬
her überhaupt nicht sah. Die alte philosophische Psychologie, so klug
sie zuweilen gelehrt wurde, war ganz erfahrungsfremd. Die Psycho¬
pathologie baut ganz auf der Empirie auf. Aber als die heutige experi¬
mentelle Psychologie die Erfahrung heranzog, lag es an den wissenschafts¬
technischen Umständen der psychologischen Institute, daß diese kein pa¬
thologisches Erfahrungsmaterial besaßen. Die Psychiater, die darüber
verfügten, standen der Psychologie meistens fern. Bemühten sie sich dar¬
um, so bemächtigten sie sich allenfalls einiger Tests, zogen Kraepelin sehe

161
HANS W. GRUHLE

Additionshefte, Buchstabendurchstreichversuche, einige Ermüdungsmes¬


sungen (Arbeitskurve) und andere ähnliche Leistungsprüfungen etwas
dilettantisch und meist auch nur dann heran, wenn es sich nicht um Psy¬
chosen, sondern um Feststellungen des Grades des Schwachsinns oder um
Vergiftungen handelte. Jene wenigen Psychiater hatten jedoch äußerst
selten eine psychologische Grundausbildung. Sie beherrschten kaum die
Terminologie der jeweiligen psychologischen Schulen und machten sich
meist eine eigenständige, sehr populäre psychologische Ausdrucksweise
zurecht. Besonders betrübte dies auf dem Gebiet des Zusammenhangs
von Gehirn und Seele. Hier waren die Forscher zwar meist gute Ken¬
ner der Topologie des Gehirns und seiner Zerstörungen, blieben jedoch
in der psychischen Deutung (Theorienbildung) ihrer pathologischen Be¬
funde so primitiv, daß leider ein sehr großer Teil dieser immensen wis¬
senschaftlichen Arbeitsleistung vergeblich war. Insbesondere blieb diesen
Autoren die heutige psychologische Phänomenologie vollkommen fremd.
Kurt Schneider hat schon einmal mit Recht darüber geklagt, daß der Ein¬
fluß der Jaspers’schen Psychopathologie auf die Psychiatrie bescheiden
blieb.
Es ist technisch sehr schwer, den Einfluß der Psychopathologie auf die
Psychiatrie zu verstärken. Noch immer bedient sich die Mehrzahl der
psychiatrischen Autoren der alten Terminologie der Assoziationspsycho¬
logie. Da die Psychiatrie nun einmal ein Fach der Medizin ist, ist es
durchaus erforderlich, daß der „Nerven“arzt sowohl die seelischen als
die körperlichen (neurologischen) Symptome der Erkrankungen kennt.
Fast alle Sachkenner sind sich heute darüber einig, daß Psychiatrie und
Neurologie für Erkenntnis und Praxis eng zusammengehören. Könnte
es scheinen, als sei eine genauere Vertrautheit mit psychopathologischer
Phänomenologie für den „Nerven“arzt überflüssig, so ergibt ein aber¬
maliger Hinweis auf die Fragen des Zusammenhanges von Gehirn und
Seele klar, daß hier die Wissenschaft nicht fortschreiten kann, wenn die
seelischen Symptome, die an partielle Hirnstörungen oder -Zerstörungen
gebunden sind, wie bisher in vollkommen populären, verschwommenen
psychologischen Ausdrücken geschildert werden. Auch in Zukunft werden
gelegentlich auf die psychiatrischen Lehrstühle reine Neurologen kom¬
men, denen das psychiatrische, erst recht das psychopathologische Denk¬
feld ganz fremd ist. Als Flechsig seinerzeit den Leipziger Lehrstuhl
übernahm, mußte er erst anfangen, sich in die Psychiatrie hineinzuarbei¬
ten. Noch heute gibt es Lehrstuhlinhaber, die der Psychologie fast feind¬
lich gegenüberstehen. Will man es bessern, so darf man sich nicht scheuen,
die praktischen Fragen des psychiatrischen Unterrichts zu besprechen.
Jaspers hat sich an ihm leider kaum beteiligen können. Ludwig Bins-

162

\
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT

wanger hat bei Gelegenheit von Jaspers’ 60. Geburtstag bedauert, „daß
die Psychiatrie ihn ,nicht gewollt“‘ habe. Jaspers wurde in jenen jungen
Jahren als wissenschaftlicher Assistent der psychiatrischen Klinik Heidel-
berg geführt. Das geschah auf seinen eigenen Wunsch und war dem In¬
teresse der Wissenschaft vorteilhaft. Er war nicht gebunden an den da¬
mals viel stärker anstrengenden Tag- und Nachtdienst in der altmodi¬
schen Klinik. Er begleitete die Diskussionen, Arbeiten, Erkenntnisse,
Fehler der Klinikassistenten — wie erwähnt — mit lebhafter, aber di¬
stanzierter Teilnahme. Die unendliche Mannigfaltigkeit der seelischen
Abläufe verleitet die Aufmerksamkeit der Ärzte, sich vorwiegend den
Inhalten der Psychosen zuzuwenden. Warum bringen Halluzinationen
gerade diesem Kranken diese quälenden beschimpfenden Inhalte? Warum
richtet sich der Wahn dieses paranoiden Schizophrenen gerade auf die
spezielle Idee, von Eisenbahnbeamten verfolgt zu werden? Solche Fra¬
gen hatten noch die Arbeitsweise von Kraepelin weitgehend beherrscht,
dessen Tradition die Heidelberger Klinik noch durchaus erfüllte, als
Jaspers sich ihr anschloß. Jaspers verstand es, von den Konkretissima
abzusehen, sich auf die allgemeinen Gesichtspunkte und Verfahren
zu konzentrieren und so die Heidelberger klinische Arbeit intensiv zu
fördern. Das hat diese Klinik stets dankbar anerkannt. Es fand seinen
Ausdrude auch darin, daß Karl Wilmanns jenen Band des Bumke’schen
Handbuchs, in dem 1932 alle Kenntnisse und Theorien über die Schizo¬
phrenie von dem Heidelberger Forscherkreis vereinigt wurden, Karl
Jaspers widmete, der inzwischen längst seine Hauptarbeit auf das Feld
der Philosophie verlegt hatte. Seine Vorlesungen in den ersten drei Jah¬
ren nach seiner Niederlassung als philosophischer Dozent an der Heidel¬
berger Universität betrafen: Sommersemester 1914: Psychologie der Cha¬
raktere und Begabungen. Wintersemester 1914/15: Allgemeine Psycholo¬
gie. S.S. 1915: Verstehende Psychologie. W.S. 1915/16: Sozial-und Völker¬
psychologie. S.S. 1916: Nietzsche als Psychologe. W.S. 1916/17: Religions¬
psychologie.
Dann verband sich Jaspers immer inniger mit der philosophischen
Fakultät, der er angehörte. Aber selbst wenn er als philosophi¬
scher Dozent einmal eine Vorlesung über Psychopathologie angekündigt
hätte, würde selbst seine große Lehrbegabung nur wenige Mediziner
veranlaßt haben, ihn zu hören. Der Medizinstudent ist heute bedauer¬
licherweise immer mehr gehalten und daher auch bestrebt, sich auf seine
medizinischen Vorlesungen zu beschränken. Deren Fächer haben sich im
Lauf der Jahre immer vermehrt. Es wurden dieselben hehler begangen
wie im Gymnasium. Die Erkenntnis, daß die Schüler ohne alle Kennt¬
nisse vomStaatund seinen Einrichtungen in das Leben hinaustraten, führte

163
HANS W. GRUHLE

dort vielfach zu einer Einführung des neuen Faches der Bürgerkunde


oder dergleichen, anstatt daß man Bürgerkunde zum Beispiel im Latein
bei der Besprechung des römischen Bürgers oder allenthalben im Ge¬
schichtsunterricht usw. getrieben hätte. Dieser Fehler sollte davor warnen,
Versicherungsmedizin, Staatsmedizin, Unfallmedizin usw. neu in das
medizinische Studium einzuführen, anstatt deren Gesichtspunkte und
Theorien in die großen klinischen Vorlesungen und in die Seminare ein¬
zubauen. Das Gleiche gilt für die Psychopathologie. An der doch nicht
kleinen Universität Bonn — im Sommersemester 1952 waren 964 Medi¬
ziner eingeschrieben — wird die zweistündige seminaristische Vorlesung
über Psychopathologie (abends 6—8) durchschnittlich von 8—10 Studen¬
ten besucht, von denen etwa 4 Mediziner sind (dazu kommen etwa 6 Kli¬
nikassistenten). Dabei wird diese Vorlesung in der Klinik gehalten. In
das Universitätshauptgebäude sind Mediziner überhaupt schwer hinein¬
zubringen. Dies zeigten auch die Erfahrungen im Studium Generale. Also
bleibt nichts übrig, als diese psychopathologische Vorlesung mit gestei¬
gerten Ansprüchen für eine solche kleine Hörerschaft speziell Interessier¬
ter weiter zu halten, den Schwerpunkt der allgemein nützlichen psycho-
pathologischen Gedankengänge aber in die große klinische Vorlesung zu
verlegen. Hier gibt jeder Fall Anlaß zu sorgfältigen psychologischen Be¬
griff sabgrenzungen und zu dem Nachweis der Beziehungen normaler
psychischer Vorgänge zu den variationsmäßig andersartigen und zu den
eigentlich krankhaften Abläufen. Hier in der großen Vorlesung ist auch
der Ort zur kritischen Auseinandersetzung mit der Psychotherapie, ins¬
besondere der Psychanalyse und den modernen Bestrebungen der Psy¬
chosomatik. Hier ist auch der Ort zur Schärfung der Kritik der Hörer
an der Begriffsverwirrung des Alltags, der Zeitungsartikel, mancher psy¬
chotherapeutischen Sekten und dergleichen. Dies alles ist nur in sorgfäl¬
tiger Darlegung psychopathologischer Erkenntnisse, jeweils angewendet
auf den einzelnen klinisch vorzustellenden Fall, möglich. Im Winter¬
semester 1951/52 wurden an der Bonner psychiatrischen Klinik (neben
der neurologischen Klinik und dem forensischen Praktikum) 25 Doppel¬
stunden psychiatrisch-klinische Vorlesungen gehalten. In diesen wurden
vorgestellt: 3 Debile, 1 Kretin, 9 Psychopathen, 3 Morphinisten, 3 Alko¬
holiker, 2 genuine Epileptiker, 5 symptomatische Epileptiker, 2 trauma¬
tische Psychosen, 1 postenzephalitische Psychose, 1 Huntington, 4 senile
und arteriosklerotische Kranke, 3 Manisch-Depressive, 4 Paralysen,
13 Schizophrenien — zusammen 54 Fälle. Bei allen diesen so verschie¬
denartigen Kranken ließen sich die mannigfachsten psychopathologischen
Phänomene aufzeigen. Aber wie wenig psychiatrische Dozenten vermö¬
gen diese Forderungen zu erfüllen. Wie wenige davon sind einst selbst

164

\
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT

in normaler Psychologie und Psychopathologie ausgebildet worden. Auch


im forensischen Praktikum, ja auch in der theoretischen Vorlesung über
den Verbrecher sind psychologische und psychopathologische Ausführun¬
gen dringend erforderlich, zumal die wenig glückliche psychologische
Terminologie der Gesetzbücher und Kommentatoren allerlei Mißver¬
ständnisse immer erneut veranlaßt. Endlich sollten auch die großen
psychologischen Vorlesungen innerhalb der philosophischen Fakultät
weitgehend Psychopathologie berücksichtigen. Jenen psychologischen Do¬
zenten, die von der sogenannten Kulturpsychologie herkommen, ist es
kaum möglich, praktisch Erfahrungen zu sammeln. Die andern, die ihre
Ausbildung in der experimentellen Psychologie erhalten haben, finden
sich eher hinein.
Dieser Zustand bessert sich dadurch, daß in das Programm der psy¬
chologischen Vor- und Haupt-Diplom-Prüfung die Psychopathologie auf¬
genommen worden ist. Bonn erfreut sich zur Zeit des Umstands, daß je¬
weils etwa 10 junge Wissenschaftler vorhanden sind, die sowohl als
Psychologen diplomiert wie als Ärzte approbiert sind. Die erfreuliche
Vielseitigkeit der Ausbildung dieser Assistenten verspricht für die Zu¬
kunft Gutes. Jeder Chef einer psychiatrischen Klinik sollte unter seinen
Assistenten wenigstens einen besitzen, der in Normalpsychologie und
Psychopathologie gründlich ausgebildet ist und auch die modernen Test¬
prüfungen beherrscht. Jeder Leiter eines psychologischen Institutes sollte
wenigstens einen Mitarbeiter haben, der nicht nur in Psychopathologie
Erfahrungen und Erkenntnisse sammelte, sondern der auch mit dem mo¬
dernen Fürsorgewesen vertraut ist. Das ist um so notwendiger, weil die
theoretischen psychologischen Institute neuerdings zum Beispiel auch
Sprechstunden für schwer erziehbare Kinder und dergleichen übernom¬
men haben. Niemand wird leugnen wollen, daß zu solchen Aufgaben
psychopathologische Kenntnisse (Heilpädagogik) dringend erforderlich
sind. Andererseits sollte in den poliklinischen Sprechstunden einer Nerven-
klinik wenigstens einer der beteiligten Ärzte imstande sein, sich der mo¬
dernen Tests zu bedienen. Der zuweilen aktuelle Streit, ob der Psych¬
iater der Tests bedürfe, ist nichtig: für gewöhnlich wird ein erfahrener
Psychiater ohne Tests auskommen, ohne daß dadurch die Gründlichkeit
seiner Untersuchungen leidet. In bestimmten Fällen, zum Beispiel bei
der seelischen Entwicklung Jugendlicher wie in manchem Gutachtenfall
(traumatische Hirnleistungsschwäche, Berufseignung bei seelischem Ab¬
bau und dergleichen), werden auch für den Psychiater Tests nötig sein.
Die heute von den Gerichten immer öfter verlangte Begutachtung der
Glaubwürdigkeit eines Zeugen bedarf ebenfalls sowohl psychopatholo-
gischer als normalpsychologischer als speziell testpsychologischer Fähig-

165
HANS W. GRUHLE

keiten und Kenntnisse. Der Psychiater hat vor dem theoretischen Nor¬
malpsychologen voraus, daß er mit seinen Kranken wochen- und monate¬
lang engste Fühlung hat und so allmählich einen großen Schatz prak¬
tischer Menschenkenntnis erwirbt. Er ist keineswegs nur auf die krank¬
haften Phänomene eingestellt. Die Frage, ob ein Symptom als normal
oder als abnorm oder gar krankhaft eingestuft werden soll, tritt im Ein¬
zelfall stark zurück vor dem Wunsche nach einem Verständnis für die
inneren Zusammenhänge des Individuums. Der Normalpsychologe er¬
wirbt seine Menschenkenntnis vorwiegend an den Versuchspersonen sei¬
ner Laboratorien oder an den Kindern der Schulen. Die Ergänzung sei¬
ner Erfahrungen durch die Psychopathologie ist erforderlich. Es wäre
sehr erwünscht, wenn jede Universität wenigstens einen Psychopathologen
besäße, der durch Vorlesungen, Seminare und Raterteilung seine Fach¬
kenntnisse nutzbar machen könnte. Wir sind heute noch nicht so weit.
Beim 70. Geburtstag von Karl Jaspers, dem Begründer der Psycho¬
pathologie als Wissenschaft, ist es ganz interessant festzustellen, wel¬
chen Nachklang seine Initiative heute in den Vorlesungen der westdeut¬
schen Universitäten hat. Die Vorlesungsverzeichnisse kündigen an (11 für
das Wintersemester 1952/53, 5 für das Sommersemester 1952; Vorlesun¬
gen und Übungen nicht unterschieden): Allgemeine Psychopathologie in
Hamburg sechsstündig, Göttingen dreistündig; zweistündig in Würzburg,
Bonn, München; einstündig in Mainz, Tübingen, Freiburg, Heidelberg,
Münster, Berlin W — also in 11 von 16 Universitäten. — Psychopatho¬
logie des Kindes vierstündig in München; zweistündig in Münster, Ham¬
burg, Freiburg; einstündig in Würzburg, Tübingen, Frankfurt. — Mehr
ins Praktische gewendete heilpädagogische Vorlesungen: Münster vier¬
stündig, Freiburg und Berlin W je zweistündig; München und Hamburg
je einstündig. — Beziehungen zur Psychopathologie haben die als „kli¬
nische“ oder „medizinische“ Psychologie angekündigten Vorlesungen;
Bonn vierstündig; Münster und München je zweistündig; Göttingen und
Frankfurt je einstündig. — An den vier Universitäten Marburg, Erlan¬
gen, Köln, Kiel werden keine psychopathologischen Vorlesungen ange-
boten.
Das Fehlen der Vertrautheit mit dem abnormen Seelenleben macht
sich auch in mancher Geisteswissenschaft besonders dort bemerkbar, wo
es sich um Biographik handelt. Das Verstehen einer Persönlichkeit ist oft
nur demjenigen möglich, der abnorme Zusammenhänge kennt. Beson¬
ders, wenn bei einem zu schildernden „Helden“ sich ein Stilwechsel, eine
Gharakterwandlung, eine Bekehrung oder Erleuchtung einstellt, stößt
man bisher bei Historikern, Literar- und Kunstwissenschaftlern auf be¬
trüblichste Fehlurteile oder völlige Hilflosigkeit. Die anfängliche Ab-

166
PSYCHOPATHOLOGIE UND AKADEMISCHER UNTERRICHT

neigung gegen die Pathographie war — mit Recht — darauf begründet,


daß der erste Vertreter dieser Richtung, P.J. Möbius, und die meisten
seiner ärztlichen Nachfolger ihren Feststellungen über die Person unbe¬
sonnen und oft ungebildet apodiktische Werturteile über die Werke ein¬
flochten. Jaspers erkannte diese Fehler und hat in seiner Studie über
Strindberg und van Gogh 1922 — also 9 Jahre nach seiner Psychopatho¬
logie (2. Aufl. 1926) — ein Musterbeispiel für eine Pathographie gege¬
ben und damit den Nachweis erbracht, daß manche Persönlichkeiten psy¬
chologisch historisch nur mit Hilfe psychopathologischer Kenntnisse zu
verstehen sind. Auch Swedenborg und Hölderlin werden dort mit ge¬
streift. Über Nietzsches Erkrankung in ihrer Beziehung zu seinem Werk
berichtet Jaspers im ersten Kapitel seiner Monographie („Nietzsche . De
Gruyter, 1936). Dort finden sich auch alle jene allgemeinen Gedanken
über das Wesen der Pathographie, die jedem Biographen zu wissen not¬
wendig sind. Wie oft bemüht sich ein Biograph vergeblich, bestimmte
Entwicklungen seines Helden aus normalen verständlichen Zusammen¬
hängen abzuleiten, und wagt doch nicht, das Eingreifen eines somatischen
Umstandes anzunehmen. „Es bleibt vielmehr, wenn ein Krankheitsprozeß
oder irgend ein biologischer Faktor auf das geistige Geschehen einen
Einfluß hat, die Frage, ob dieser Einfluß fördernd, vernichtend, gleich¬
gültig sei, oder ob eine geistige Möglichkeit unter den neuen Bedingungen
eine eigentümliche Gestalt annehme, und wenn ja, in welchen bestimm¬
baren Richtungen. Diese Fragen sind nicht durch Überlegungen apriori¬
scher Art zu beantworten, sondern allein empirisch, vor allem durch ver¬
gleichende Beobachtungen von Kranken.“ (Jaspers, „Nietzsche , S. 85.)
Bei der in Deutschland etwas dürftigen Möglichkeit, sich an Univer¬
sitäten in Psychopathologie auszubilden — in andere Kulturstaaten habe
ich in dieser Hinsicht keinen Einblick —, steht nur die Jaspers sehe „All¬
gemeine Psychopathologie“ zur Unterrichtung zur Verfügung. Der Um¬
fang des Buches hat sich bis zur 4. Aufl. (1946) von 338 auf 748 Seiten ver¬
mehrt. Diese 4. Auflage war eigentlich ein neues Buch. Jaspers hat sich
bemüht, die in diesen 33 Jahren erwachsenen Früchte psychiatrischer For¬
schung zu verwerten, sofern sie in seinen Bereich gehören. Allem die
Ausführungen über die verstehende Psychologie sind von 44 auf 106
Seiten gewachsen. — In jenen Jahren, in denen Jaspers seine psychiatri¬
schen Studien in Heidelberg begann, kannte man natürlich Freud und
seine psychoanalytische Therapie (1895 Breuer-Freud, 1908 Freuds
Schriften“, 1909 Freuds Jahrbücher für psychoanalytische Forschung,
1910 Zentrklblatt für Psychoanalyse). Aber man sah noch nicht den Um¬
fang voraus, den diese Lehre allmählich gewann. In den 33 Jahren, die
zwihen der 1. und 4. Auflage seiner Psychopathologie verstrichen, um

167
HANS W. GRUHLE

terlag Jaspers keineswegs der Suggestion dieser welterobernden Bewe¬


gung. Er blieb der Wissenschaftlichkeit treu und sprach sich in dieser
4. Auflage und neuerdings in einem Aufsatz im „Nervenarzt“ vom
20. November 1950 und an anderen Orten nicht nur zurückhaltend, son¬
dern grundsätzlich ablehnend über die Psychoanalyse aus. Im Aufsatz
von 1950 heißt es: „Freud nimmt nicht teil am Sinne moderner Wissen¬
schaft“, und: „die psychanalytischen Grundanschauungen darf man Glau¬
ben nennen“. — Die 4. Auflage der Psychopathologie bringt nicht nur
Wissensbestand und Methodenlehre dieser Wissenschaft, sondern Jaspers
durchtränkt alle seine Darlegungen mit seiner Philosophie. Dies er¬
schwert manchem Leser zweifellos das Studium des großen Buches, zu¬
mal Jaspers sich einer selbstgeschaffenen philosophischen Fachsprache be¬
dient. Aber für jeden, der Fühlung mit der modernen Philosophie hat,
ist es natürlich reizvoll, die Psychopathologie in der Beleuchtung der
Jaspers’schen Philosophie zu sehen. Im akademischen Unterricht wird man
dem Mediziner nur jene Teile des Buches zugänglich machen können, die
die anschauliche Vergegenwärtigung und das Verstehen der seelischen
Zusammenhänge umfassen. Derjenige Lernende, der von den Geistes¬
wissenschaften kommt, wird sich gerade diesen Teil des Inhalts um so
leichter aneignen können, wenn er von den philosophischen Gedanken
aus die Orientierung gewinnt. Er wird sich weiterhin bereichern, wenn
er dem Studium der Psychopathologie noch die Lektüre jener acht Seiten
hinzufügt, die im Rahmen von Jaspers’ „Philosophie I“ (Berlin, Sprin¬
ger 1932, S. 121—129) vom Verhältnis von Arzt und Krankem handelt.
Überblickt man das ganze Lebenswerk von Jaspers zu seinem 70. Ge¬
burtstage, so steht seine Psychopathologie sicher nicht zentral. Dennoch
schien es mir reizvoll, die Gedanken zurückzulenken zu jenem psychiatri¬
schen Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit.

168
Kurt Kolle

PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES

Was ist sozialer Kontakt? Socialis heißt gesellig, und zwar in bezug auf
einen socius (oder mehrere socii), also einen Gesellschafter, einen Ge¬
nossen, Gefährten, Kameraden, Teilnehmer an einem Bund, daher auch
einen Verwandten, einen Ehegatten. Und Kontakt kommt von contagio,
der Berührung im guten und schlechten Sinne.
Eine Krankheitslehre der „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (Ferdinand
Tönnies) aus der Sicht des mit allen Lebensbezügen des Menschen ver¬
trauten Psychiaters zu schreiben, das wäre dringende Aufgabe. Doch die
Gefahr, sich dabei im undurchsichtigen Grenzland der Soziologie zu ver¬
irren, ist zu groß. Also muß das Vorhaben eingeengt werden. Die eigent¬
lichen soziologischen Fragen können nur gestreift werden; wir werden
die Probleme des sozialen Kontaktes im wesentlichen vom Individuum
her anschauen.
Wir fragen L, was der Arzt als Krankheitsforscher (Pathologe) weiß
von den Kräften, die im Menschen als Person enthalten sind und den
Einzelnen beschränken (oder fördern, wovon hier nicht gehandelt wird),
2., ob der Arzt, besonders der Psychiater, der Seelenarzt, angesichts der
noch zu schildernden Situation des Menschen überhaupt mit konkreten
Vorschlägen aufwarten kann, die geeignet sind, den sozialen Kontakt
neu, also besser als bisher, zu ordnen.
Das menschliche Dasein wird auch von der Mütuv dßs Menschen be¬
stimmt. Die Natur stattet den Menschen mit einem Vermögen aus, das
er hinnehmen muß, nur in engen Grenzen verändern kann. Der Mensch
gehört zum Beispiel einer Rasse an, die uns hier nicht wegen der mit ihr
verknüpften körperlichen und seelischen Wesensmerkmale interessiert,
sondern wegen der Stellung, die der Einzelne innerhalb einer bestimm¬
ten societas einnimmt. Uns Deutsche bewegt das tragische Schicksal der
Juden, die ausschließlich ihrer rassischen Herkunft wegen gehindert
wurden, sich in ihrer deutschen societas, in der sie größtenteils seit Jahr¬
hunderten als hochwertige Kulturträger ihren Platz gefunden hatten, zu
behaupten. Normale Erbanlagen, wie die zu Breit- oder Schmalwuchs
(Eury- oder Leptosomie), sind, wenn auch nicht gesetzmäßig, so doch häu-
hg gekoppelt mit seelischen Dispositionen, die zu weltfreundlichen, welt¬
verhaltenen oder gar weltverschlossenen Daseinsformen den Grundstock
bilden L Rothaarigkeit, eine bei Frauen anziehende Variante, kann bei
Männern absondernde, wenn nicht abstoßende Wirkungen auslösen. Der

169
KURT KOLLE

soeben nach Deutschland zurückgekehrte Kriminalist Hans von Hentig


hat unlängst in einer wertvollen Studie den Zusammenhang zwischen
Rothaarigkeit und Verbrechen dargelegt
Wenn schon die in den Bereich der Norm zu verweisenden Wechsel¬
fälle der Körpergestalt sich so tiefgreifend auf das gesellige Verhalten
auswirken können, um wieviel mehr werden wir das von den abnormen
Abarten der körperlichen Konstitution erwarten müssen. Zwerg- und
Riesenwuchs drängen den Menschen beinahe zwangsläufig in vorgezeich¬
nete soziale Bahnen. Eine gute Anthropologie (die wir nicht besitzen)
müßte von solchen Extremen, die uns hier als Modell für sozialbiologi¬
sche Korrelationen dienen, zu feineren Forschungsaufgaben vorstoßen:
also mit biologischen und psychologischen Methoden das Sozialverhalten
in Beziehung setzen zu den von Medizin und Psychologie gefundenen
normalen und abnormen Spielarten menschlicher Wesen. Wie verhält
sich ein Mensch, der zu übermäßiger Tätigkeit der Schilddrüse neigt
(basedowoider Typ), ein motorisch Geschickter, ein Zuckerkranker, ein
an Lungentuberkulose oder Magengeschwür Erkrankter, ein Asthmati¬
ker sozial? Wir wissen fast gar nichts darüber, wie denn überhaupt die
Klinik noch immer zu einseitig an die experimentelle Medizin angelehnt
ist, während uns sorgfältige, unvoreingenommene kritische Untersuchun¬
gen über die Psychologie aller Kranken so dringend not täten. Einzig
jene kleine Gruppe von Forschern, die sich der sogenannten Psycho¬
somatik widmet, wartet mit psychologischen Ergebnissen auf, die aller¬
dings den kritischen Beobachter noch wenig befriedigen. Es erscheint be¬
denklich, mit so einfachen psychologischen Formeln, wie „soziales und
karrieremäßiges Vorwärtsstreben“, „latenter Neid auf sozial Besser¬
gestellte“, „Kontaktschwäche“, zu arbeiten und in solchen schlechtweg zum
Menschsein gehörigen Verhaltensweisen gar die Wurzel bestimmter
Krankheiten (etwa Magengeschwür, Asthma) zu sehen.
Bei der Krankheitslehre angekommen, fragen wir nach dem Einfluß
körperlichen Krankseins auf das soziale Verhalten. Alle schweren Krank¬
heiten, die den Patienten ans Bett fesseln, schränken seinen äußeren
Kontakt mit der Welt ein. Aber vermindern sie generell die Fähigkeit
des Kranken, mit der Welt in Berührung zu bleiben? Nein. Der Kranke
ist gezwungen, sich von der Welt zu distanzieren; sie ist ihm ferngerückt
und tritt nur durch Besucher, Bücher, Zeitungen, Radio ihm nahe. Da sind
aber auch viele Stunden der Einsamkeit, schlaflose Nächte, in denen der
Mensch, soeben noch dem Daseinskampf, der Unrast des modernen
Lebens hingegeben, ausschließlich auf sich selbst angewiesen ist. Der
französische Philosoph Maine de Biran sagt: ,,. . . Krankheit bringt uns
heim, zu uns selbst-“.“ Von dieser äußersten Grenzsituation seines Da-

170
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES

seins aus gewinnt der Kranke nun ein neues Verhältnis zur Welt: die
Welt als Wille wird abgelöst durch die Welt als Vorstellung (frei nach
Schopenhauer). Ein konkretes Beispiel verdeutliche das Gesagte: ein
hochbegabter junger Student erkrankt an einer schweren Nervenkrank¬
heit (multiple Sklerose), die ihn dauernd bettlägerig macht. In schwerem
Ringen mit sich selbst hat er sich mit seinem Schicksal ausgesöhnt und
erklärt, er habe erst jetzt den Sinn seines Daseins erfaßt. Sein früheres
umtriebiges Leben sei zu seinem Vorteil abgelöst worden durch die ihn
lähmende Krankheit, die ihm erst zur wahren Innerlichkeit verhelfen
habe.
Von den Schäden, die die Leistungen der Simiesorgane ausschalten,
mindern oder qualitativ verändern, sind für die sozial-psychologische
Sicht Blindheit und Taubheit wichtig. Wie schwer angeborene, aber auch
im reiferen Alter erworbene Blindheit und Taubheit sich auf die mit¬
menschlichen Beziehungen auswirken, ist nicht zu erörtern. Die medizi¬
nisch geläufige Betraditungsweise, in der Krankheit vor allem etwas
Negatives zu sehen, muß ergänzt werden durch die Frage, ob dieses Er¬
leiden des Abgesperrtseins von der anschaulichen Welt - wie beim Blin¬
den — nur Kontaktverlust und nicht auch Kontaktgewinn bringen kann.
Zum Beweise dessen möchte auf den Fall der blind und taub geborenen
Helen Keller verwiesen sein (die es verdiente, viel mehr beachtet zu wer¬
den). Ein weniger berühmter, deswegen aber nicht weniger bedeutsamei
Fall, der leider bereits der Geschichte angehört, sei kurz beleuchtet. Jüngst
erschien ein kleines Buch: „Tymbos für Wilhelm Ahlmann , herausge¬
geben von seinen Freunden, die dem Toten ein fürwahr einmaliges Denk¬
mal gesetzt habend Wilhelm Ahlmann, Sohn eines begüterten Bankiers,
erblindete im ersten Weltkrieg als junger Offizier, kämpfte sich danach
mühsam und tapfer zum Doktor der Jurisprudenz durch und war trotzdem
der Verzweiflung nahe. Aber dann gelang es meinem verehrten Kollegen
Julius Wittmann, dem Kieler Psychologen, in dem Verzagenden neue
Lebensimpulse zu wecken, indem er ihn anregte, das Erlebnis seiner Ei -
blindung zu objektivieren. Eine glänzende Doktorarbeit^ krönte dieses
Werk. Ahlmann hatte mit Hilfe der res cogitans die res extensa sich
wieder einverleibt und entwickelte sich zu einer Persönlichkeit, die reich¬
sten Kontakt mit der Welt gewann. Davon legt der Tymbos beredtes
Zeugnis ab, das uns kundtut, wie der Blinde von der abgeschiedenen Stille
seines Studierzimmers aus sich die Welt eroberte. Nicht nur, daß er mit
vielen hochgearteten Menschen geistige Kameradschaft pflegte, er trat als
Handelnder in der realen geschichtlichen Welt auf. Diese politische Akti¬
vität wurde ihm zum Verhängnis; er entzog sich den irdischen Richtern des
Hitlerregimes durch Selbstmord. Viele unbeantwortbare Fragen knüpfen
KURT KOLLE

sich an dieses seltsame Schicksal eines Menschen. Eine sei wenigstens ge¬
stellt: würde der junge Husarenleutnant, in bürgerlichem Glanze erzogen,
eine so umfassende gesellige Wirksamkeit entfaltet haben, wenn er ein
Sehender geblieben wäre? Eine Psychologie der Blinden und Tauben, die
sich nicht auf Sinnespsychologie beschränkt, sondern echte Daseinsanalyse
ist, liegt noch sehr im argen.
Die Psychopathologie, deren Wirklichkeit wieder nur durch skizzenhafte
Beispiele anschaulich gemacht werden kann, gibt uns reichen Stoff für un¬
seren sozialpsychologischen Exkurs an die Hand. In dem kleinen Ort, in
dessen Gemarkung ich jahrelang die Jagd ausgeübt habe, lebt ein mikro¬
zephaler Schwachsinniger, der mir mit seiner sozialen Enthemmtheit
immer viel Vergnügen bereitet hat. Kaum wurde er meiner ansichtig, über¬
fiel er mich mit seinem munteren Geschwätz, mit dem neuesten Dorfklatsch,
mit waidmännischen Beobachtungen aus Wald und Feld. Kurt Schneider
hat bei seinen Kölner Prostituiertenuntersuchungen ^ festgestellt, daß viele
dieser Dirnen, zu deren Beruf ein, wenn auch eingeschränkter, sozialer
Kontakt unerläßlich ist, schwachsinnig waren. Schwachsinn als angeborene
oder früh erworbene Minusvariante zeigt uns seine soziale Visitenkarte in
doppelter Ausfertigung: einmal, wohl die Regel, in der Form hochgra¬
diger Kontaktarmut; zweitens als Distanzverlust in der Form oft gefähr¬
licher Hypersozialität.
Ein ähnliches Vexierbild begegnet uns beim epileptischen Charakter:
Enge der seelischen Horizonte koppelt sich mit jener „Klebrigkeit“ genann¬
ten Anschlußbedürftigkeit an andere Menschen, an Gemeinschaften. Daß
die krankhafte Übererregbarkeit der Epileptiker sich eigentlich nur an
der mitmenschlichen Beziehung verhängnisvoll entzünden kann, zeigt ein¬
dringlich die Notwendigkeit, auch die Pathologie des Einzelnen nie ohne
das Welt-Sein des Menschen anzuschauen.
Alle schizophrenen Kranken, die von den deletären Verlaufsformen be¬
fallen werden, versinken mehr oder weniger in Autismus und verlieren
damit beinahe jede Welthaftigkeit, weswegen die meisten asyliert werden
müssen. Die paranoiden Kranken sind jedoch geradezu extrem weltzuge-
wandt. Kehrer® stellte die fast naive Frage, ob sich bei einem einsam auf
einer Insel lebenden Menschen überhaupt ein Beziehungswahn entwickeln
könnte. Der Wahnkranke ist in pathologisch gesteigertem Ausmaß welt¬
offen; gerade wie bei manchen Schwachsinnigen und Epileptikern ist das
für unsere Betrachtungsweise führende Symptom nicht Kontaktarmut, son¬
dern Distanzlosigkeit. Besonders im Beginn solcher Wahnpsychosen leiden
die Kranken unsäglich darunter, daß sie im Mittelpunkt der Welt, die
ihnen so bedrohlich entgegenkommt, stehen. Gaupps berühmter Parano¬
iker, der Massenmörder Wagner, kam darüber ein ganzes Leben lang

172
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES

nicht zur Ruhe Auch die Zyklothymie (die melancholischen und mani¬
schen Psychosen) soll nur mit wenigen Worten gestreift werden. Melan¬
cholie sperrt den Menschen von der Welt ab. Die Kranken sind ausschlie߬
lich ihrer vitalen Grundstörung zugewandt, die sie seelisch intensiv ver¬
arbeiten. Bei den leichten und mittelscKweren Formen zeigt sich allerdings
ein lebhaftes Verlangen nach Kommunikation; geselliger Umgang mit
Menschen und das ärztliche Gespräch sind in der Lage, die nach heutiger
Auffassung somatisdi fundierte schwere Gehemmtheit wirkungsvoll zu
durchbrechen.
Ganz anders die manischen Kranken, die, ohne Krankheitserlebnis,
ohne Leiden, nur als Störenfriede der Gemeinschaft erscheinen. Tritt die
Krankheit nur in der leichten Form der Hypomanie auf, hat sie vielfach
durchaus sozialpositiven Charakter; ohne die freundlich-heiter gestimm¬
ten Optimisten, die Spaßmacher, die Betriebsnudeln, die harmlosen Ver¬
einsbrüder, die Bonvivants wäre die Welt recht arm.
Nock ein Wort über die Zwangskranke7i. In den schweren Fällen, die
man wirklich am besten als Zwangsirresein bezeichnet, leben die Kran¬
ken völlig asozial. Die Anankasten mit den leichten bis mittelschweren
Krankheitsformen befinden sich in einer spannungsreichen Dissoziation
zur Welt. Einerseits kommt von daher aller Unrat, den sie zu ihrem Selbst¬
schutz beständig abwehren müssen und der sie - andererseits hindert,
ihren sozialpositiven Regungen, die in ihrer Wesensart begründet sind,
so naciizukommen, wie sie eigentlich möchten. Durchweg wirkt sich also
die Zwangskrankheit, von jenen Schwerkranken abgesehen, kaum stö¬
rend auf die Gemeinschaftsbeziehungen aus.
Bezüglidi der abnormen Persönlichkeiten ist auf die führende Mono¬
graphie von Kurt Schneider ^ zu verweisen. Dort ist jeder Typenschil¬
derung audi eine Rubrik „soziale Bedeutung“ angefügt. Schneider hat
sorgsam darauf geachtet, die unmittelbar oder mittelbar sich äußernde
soziale Produktivität der Psychopathen nicht zu kurz kommen zu lassen.
Die stillen, passiven, selbstunsicheren, depressiven, asthenischen Naturen
stören das Leben ihrer Mitmenschen nicht oder nur wenig; um so mehr
fällt es ihnen zur Last, das Fordern der Welt zu bewältigen. Aber die
lebhaften, aktiven, überschäumenden, von einer Idee besessenen, rec -
haberischen Menschen - in der Psychiatrie werden sie „hyperthymisch
genannt - stellen selbst in ihren ausgeprägtesten Daseinsformen, etwa
als Fanatiker oder Querulanten, nicht nur eine Belastung für die Ge^
meinschaftsbeziehungen dar. Mit Mayer-Groß • sind wir der Meinung, daß
die meisten Hyperthymen sich durch ihre Strebsamkeit und Anpassungs¬
fähigkeit sozial bis ins höchste Alter bewähren als erMgreiche GesAafts-
leute WissensAaftler, Beamte, Offiziere. Mäzene, Pioniere neuer Ideen.

173
KURT KOLLE

Auch die geltungsbedürftigen Persönlichkeiten, die uns als Schwindler,


Renommisten, als Urheber fingierter Verbrechen, als sogenannte hyste¬
rische Charaktere so viel zu schaffen machen, stehen, sozial gesehen, nicht
nur im Soll zu Buche. Kurt Schneider, der den Wert der reinen Phan¬
tasten für die Künste rühmt, bemerkt dazu: „Gewisse Geltungsbedürftige,
die durch Vorbild und Aufopferung glänzen wollen, leisten damit als
Nebenprodukt natürlich unter Umständen auch Außerordentliches, na¬
mentlich in charitativen Berufen.“
Wir werfen noch einen kurzen Blick auf die seelischen Krisen, die die
moderne Medizin mit dem sprachlich und sachlich schlechten Namen
„Neurose“ belegt. Wir setzen bei diesen Patienten, also den in eine Krise
geratenen Menschen, die den Weg in die ärztliche Sprechstunde finden,
den Akzent nicht auf die abnorme Anlage oder andere auslösende kör¬
perliche Vorgänge, sondern auf den lebensgeschichtlichen Untergrund.
In dieser Sicht finden wir bei allen Patienten, daß sie in ihrem sozialen
Raum nicht angepaßt sind. Der soziale Raum, in den wir hineingeboren
werden, wird von Elternhaus, Schule, von den politischen und kulturel¬
len Realitäten des Zeitgeistes und allen anderen soziologischen Gegeben¬
heiten bestimmt und modelt frühzeitig den Menschen, gerade in bezug
auf sein späteres Sozialverhalten. Auch wenn man sich gar nicht mit
der Sexualtheorie von Freud zu befreunden vermag, wird man den Er¬
lebnissen der frühen Kindheit bis zur Pubertät einen großen, im einzelnen
noch immer viel zu wenig erforschten Einfluß einräumen müssen. Eigene
Erfahrungen die bei der Behandlung Erwachsener gewonnen wurden,
lassen erkennen, daß das Dasein vieler Menschen, die einer seelischen
Krise verfallen sind, sich in einem abgesperrten Lebensraum bewegt.
Darin, daß die Patienten in einer von Mauern, Zäunen, Gittern umgebe¬
nen Welt leben, zeigt sich (so erweist vor allem die Traumanalyse), daß
sie ihrer Freiheit beraubt sind. Solche Einsichten liegen auch der von
Schultz-Hencke “ auf seine Weise formulierten Lehre vom gehemmten
Menschen, der Desmologie, und der von Speer inaugurierten Kontakt-
psychologie^- zugrunde. Auch die ältere Lehre von Alfred Adler, der aus
Organminderwertigkeit Gemeinschaftsunfähigkeit hervorgehen sah, darf
nicht vergessen werden.
Diese dem Menschen aufgenötigte Enge, deren Ursprung nicht eine
wie immer geartete psychophysische Desintegration, sondern seine Welt-
haftigkeit ist, hat eine soziale, eine kommunikative Desintegration zur
Folge. Das bedeutet auch ein mit dem allerbesten Vermögen der Seele
und des Leibes begabter Mensch kann unter bestimmten Umständen,
wenn ihm nämlich früher oder später seine Welt ihre je besonderen
Widerstände entgegensetzt, mit eben dieser Welt nicht fertig werden.

174

\
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES

Die Weltoffenheit, ein Spezifikum des Menschen, das ihn scharf vom
Tier absondert (Portmann) wird ihm zum Verhängnis; er rutscht zu¬
rück in die Animalität, die Triebgebundenheit, die Abhängigkeit von
seinen (allerdings immer noch spezifisch menschlichen) Leistungen, wie
Handeln, Sprechen usw. Das Ur-Anliegen des Menschen, sich im sozialen
Raum, das heißt in seiner Eigenständigkeit in der Welt, zu behaupten,
den ihm aus der Welt entgegenschallenden Anruf des Du zu hören, kann
der in sich selbst verstrickte Mensch nicht verwirklichen. Die Neurose
spricht uns, anthropologisch gesehen, als ein Sonderfall des Mensch¬
seins an. Doch bevor die Weisen des Menschseins, soweit sie grundlegend
für das Dasein im sozialen Raum sind, kurz skizziert werden, muß das
Problem des sozialen Kontakts rein soziologisch, also von der Seite der
objektiven Gebilde der Gemeinschaft und Gesellschaft her, betrachtet
werden.
Der Mensch als Einzelner ist eine kühne Abstraktion. Die moderne
Medizin macht viel zu wenig Gebrauch von dieser „Idee“; sie sieht den
einzelnen Kranken vorzugsweise als Fall, den sie mit anderen Fällen
vergleicht und einem allgemein gültigen Gesetz des Lebens unterordnet.
Medizin und Gesellschaftslehre, die bisher ziemlich getrennt marschierten,
haben sich, stillschweigend und ohne gegenseitige Übereinkunft, auf das
Ziel geeinigt, den je Einzelnen mit einer je einmaligen Lebensgeschichte
für tot zu erklären. Gegen die Entrechtung des Einzelnen wäre nichts
einzuwenden, wenn sie zugunsten der Begegnung mit einem anderen,
des dualen Modus als der wahren Wirklichkeit des Seins erfolgte. Aber
nein: nicht nur, daß der Typus den Einzelnen verdrängt; der Mensch ver¬
schwindet als Gestalt in der Masse und erscheint nur noch als Glied eines
Kollektivs {der Deutsche, der Parteigenosse, der Psychiater oder, noch
schlimmer, der Freudianer usf.), das ihn nicht nur hindert, seine Indivi¬
dualität und sein Wir zu entfalten, sondern auch als Partner in eben
diesem Kollektiv sich zu bewähren. (Der in einer echten Gemeinschaft,
Ehe Kirche, verwurzelte Mensch ist viel weniger gefährdet, vom Kollek¬
tiv verschlungen oder angenagt zu werden; gelegentlich, wenn er näm¬
lich nicht als Du im Wir aufgeht, zahlt er dafür den Preis einer Entper¬
sönlichung, die aber niemals alle Schichten der Person durchdringt.)
Der Soziologe Theodor Geiger hat das Problem, das hier wenigstens
angeschnitten werden muß, bereits in einer ausgezeichneten Studie For¬
men der Vereinsamung“ gesehen. In neuester Zeit hat Arnold Gehlen
treffliche Bemerkungen zu unserem Thema gemacht. Gehlen sagt: In
einer rationalistisch organisierten Gesellschaft ist man sicher, die groß e
Chance der allgemeinen Zustimmung zu haben, wenn man ein Verha -
ten findet, das zugleich sachgemäß und konventionell, das heißt wedei

175
KURT KOLLE

neuartig noch persönlich ist“, und fährt etwas später fort: „Daß nun die
moderne hochrationalisierte und durch und durch bürokratisierte Gesell¬
schaft die Verwandlung der Person in einen Funktionsträger in einem
bedeutenden Grade verlangt und eine Annäherung an diesen unter an¬
deren Ansprüchen farblosen Typus nahelegt, darüber kann kein Zweifel
sein. Diejenigen Eigenschaften, die dies erschweren, erscheinen dann zu¬
nächst einmal als unerwünscht, gleichgültig, ob es sich um asoziale oder
geniale handelt.“
Das Kollektiv, sei es nun die amorphe, anonyme Masse, seien es or¬
ganisierte Gruppen oder nur ideologisch zusammengehaltene Institu¬
tionen, fordert von dem Einzelnen, sich anzupassen. Folgt er dieser un¬
ausgesprochenen Einladung nicht, wird er ausgestoßen, diffamiert, auf
die ungeschriebene Cavete-Tafel gesetzt oder zur Anpassung, zum Wider¬
ruf gezwungen. Der verfügbare Raum erlaubt es leider nicht, ausführliche
Belege aus Geschichte und Gegenwart zu bringen. Geniale, von denen
hier als seltene Ausnahmen eigentlich nicht zu handeln ist, haben ge¬
legentlich die Chance, sich noch zu ihren Lebzeiten zu behaupten. Immer¬
hin zeigen die Beispiele Galilei, Giordano Bruno, Mozart, Beethoven,
Semmelweis (der Retter der Mütter), Bruckner, Korbinian Brodmann
(Psychiater, der den ersten Atlas der Großhirnrinde schuf) wie schwer
es ihnen gemacht wurde, in ihrer Welt Anerkennung zu erringen. Aber
was uns mehr bewegt, ist das Schicksal des guten Durchschnitts, in den
wir auch die Hochbegabten einschließen wollen.
Wir brauchen nur einen kurzen Blich in die heutige Welt zu werfen,
um uns die Frage zu eigen zu machen, die einer der gründlichsten und
produktivsten Denker, Eugen Rosenstock, jüngst in seinem wahrhaft
atemberaubenden Buch „Der Atem des Geistes“ aufgeworfen hat:
„Weshalb ist drei Viertel dessen, was gesagt wird, zwar nicht Lüge, aber
verlogen, kraftlos oder unlebendig, erstickend oder mörderisch?“ Rosen¬
stock, der leidenschaftlich für ein neues Sprachdenken kämpft, von dem
er sich auch eine Erneuerung der menschlichen Gemeinschaft verspricht,
kennt vier Grunderkrankungen der Gemeinschaft, nämlich Krieg, Deka¬
denz, Wirtschaftskrisis und Revolution, die er zugleich als extreme Fälle
der Spracherkrankung auffaßt. Rosenstock, selbst Protestant, beruft sich
auf Kronzeugen der Erschütterung, die die Menschheit seit geraumer
Zeit durchbebt, auf Feuerbach, Kierkegaard, Nietzsche, aus der Gegen¬
wart zum Beispiel auf den Katholiken Ernst Michel, den Juden Martin
Buber.
Unsere Untersuchung ist bereits, seitdem ich meinen Standpunkt als
empirischer Psychopathologe verlassen mußte, an einem kritischen Punkt
angelangt. Die extremen Grenzsituationen der Menschen, die durch

176
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES

einen Einbruch in ihr Lebensgefüge sich neu im sozialen Raum einrichten


müssen, sind uns lehrreiche Modelle für die Weisen des In-der-Welt-Seins
unter außergewöhnlichen Bedingungen. Einsamkeit und Vielsamkeit,
biologisch überhaupt nicht zu fassen, psychologisch nur zu registrieren,
sind keine zuverlässigen Kriterien für das Fehlen oder Vorhandensein
echter Kommunikation. Das unbefangene Ansdiauen der Menschen, die
die Krise ihrer Existenz in der Form der sogenannten Neurose darstellen,
eröffnet einen schmalen Zugang zum Problem „Der Mensch mit dem
Menschen“. Aber die Maßstäbe der Biologie, der Psychologie, der Psy-
diopathologie, reichen sie aus, uns dem „Problem des Menschen“ (so
nennt Buber sein wichtiges Buch) auch nur zu nähern? Eine gültige
Lehre vom Menschen (Anthropologie) gibt es nicht. Fruchtbare Ansätze
finden sich vor allem bei solchen Denkern, deren Glaube ihnen die Vor¬
wegnahme eines fertigen Menschenbildes gestattet, wie bei Buber, V. E.
von GebsatteP®, Ernst MicheP® und Rosenstock. Aber wo sollen sich die
Ungläubigen Rat holen? Von weltlichen Lehren, die ein geschlossenes
System des Menschen in der Welt anbieten, kämen in Betracht der
Marxismus und die Psychoanalyse; die ihnen zugrunde liegenden Ideen
vom Wesen des Menschen sind von Jaspers so gründlich untersucht
worden, daß kein „Vernünftiger“ sich seiner Kritik entziehen kann. Die
von Ludwig Binswanger^“ im Anschluß an Heidegger entwickelte Da¬
seinsanalyse, deren eigentliches Thema der duale Modus der Liebe ist,
befruchtet unser Mühen um eine verbindliche Lehre vom Menschen außer¬
ordentlich, will und kann aber ein Ersatz für die Idee des von Gott ge¬
schaffenen Mensdien ebensowenig sein wie Jaspers’ Idee von der Kom¬
munikation, also vom Glauben-® „an die Möglichkeit in uns Menschen,
wirklich miteinander zu leben, miteinander zu reden, durch dieses Mit¬
einander in die Wahrheit zu finden und erst auf diesem W'ege eigentlich
selbst zu werden“.
Mit den kurzen Anmerkungen zum Proble^n des Menschen sollte deut¬
lich werden, daß wir mit unserer aus recht verschiedenen Quellen gespei¬
sten ärztlichenPathologie immer nur Xeilansichten des Menschen gewinnen
können. Der Arzt, besonders der Psychiater, muß einsehen, daß der Mensch
nicht nur im Raume seines Bios, sondern zugleich im religiösen, sozialen,
ästhetischen Raum da ist. Nur wenn wir Ernst machen mit dieser alles
„umgreifenden“ Wirklichkeit, dürfen wir hoffen, dem Menschen ein wenig
lu helfen; dies bleibt glücklicherweise, der Wirrnis der Welt zum Trotz,
das unverlierbare und unverrückbare Ziel jeder ärztlichen Arbeit. Doch
bevor auf die Möglichkeiten der Hilfe mit einigen Worten eingegangen
werden kann, ist zusammenzufassen, zu welchen Ergebnissen uns unsere
Überlegungen geführt haben.

177
KURT KOLLE

Erstens:
Krankheit des Leibes oder der Seele, natur- oder lebensgeschiditlidi
begründet, setzt neue Bedingungen, die den Standort des Patienten im
sozialen Raum verändern. Der so oder so behinderte Mensch wird durch
sein Leiden belastet, aber auch entlastet: ihm auferlegte Hemmungen
seiner Kontaktfähigkeit machen ihn frei für verfeinerte Formen seines
geselligen Menschseins. Das nur dem Menschen eigene weltoffene Ver¬
halten feiert seine Triumphe in Gestalten wie der der Helen Keller oder
des Wilhelm Ahlmann. Selbst in der Psychose kann die schöpferische Welt-
haftigkeit erhalten bleiben; in der manischen Daseinsform tritt sie ge¬
legentlich sogar gesteigert hervor. Mithin kein Anlaß, den aus seiner je
und je einmaligen Situationsgebundenheit gerissenen Menschen schlecht¬
hin des Kontaktverlustes zu bezichtigen.
Zweitens:
Das anonyme Kollektiv der modernen technisierten, bürokratisierten
Welt bedrängt den Einzelnen unerhört. Nicht nur, daß er, um seine pri¬
mitivsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen, sich äußerlich zum jeweiligen
Kollektiv bekennen muß, nicht nur, daß er sich innerlich den von ihm ab¬
gelehnten Ideologien beugen muß. Nein, er verwandelt sich von Kopf bis
Fuß; unversehens spricht er in zwei Sprachen, seiner eigenen, für ihn
wahren, und der ihm vom Kollektiv aufgezwungenen, verlogenen. Seine
Ausdrucksgebärden erstarren in den Konventionen vorgeschriebener
Formen. Das nichtssagende Lächeln hat die echte Zuwendung des Men¬
schen zum Menschen, von Antlitz zu Antlitz, verfälscht. Persönliches Aus¬
drucksgebaren wird dem Einzelnen bereits gefährlich. Nur kein indi¬
vidueller Lebensstil, keine eigene Sprache und Schreibe - immer „mit vor¬
züglicher Hochachtung“ unterschreiben - oder, Rosenstock zu zitieren: „Ja,
das weiß man doch ... immer fein vorsichtig.“ Diese trübsinnige Auswahl
aus dem Katalog der aufs Konfektionsniveau - jedem Menschen paßt der
Anzug von der Stange! - abgesunkenen mitmenschlichen Beziehungen
bekräftigt uns, was Buber („Urdistanz und Beziehung“) überzeugend
ausführt: daß nämlich die Fähigkeit des Menschen, von Mensch zu Mensch
bestätigt zu werden und seine Mitmenschen ebenso zu bestätigen, so un¬
ermeßlich brachliegt.
Was tun in dieser Situation des Menschen? Der Druck des Kollektivs
wird noch zu unseren Lebzeiten enorm zunehmen. (Nach zuverlässigen
statistischen Untersuchungen nimmt die Menschheit gegenwärtig um 30
Millionen pro Jahr zu, wird die Erde in 100 Jahren vielleicht 10 Milliar¬
den Seelen zählen.) Der Einzelne hat, auch als Bürger demokratischer
Staaten, nur verschwindend geringen Einfluß auf den Ablauf der Ge¬
schichte. Aber wir als Ärzte, als weltliche Seelsorger, haben es immer nur

178
PATHOLOGIE DES SOZIALEN KONTAKTES

mit Einzelnen zu tun. Wir können gar nichts anderes tun, als uns dem Ein¬
zelnen vorbehaltlos zuzuwenden und ihm zu helfen, sich selbst zu be¬
stätigen, daß er nicht nur Teilhaber an biologischen und soziologischen
Kollektiv-Normen, sondern zuerst ein Mensch von einmaliger Herkunft
und mit einer einmaligen Lebens ge schichte ist. Damit ist der erste Schritt
zu einer sachgerechten und lebensnahen Psychotherapie getan. Wendet
sich der Arzt hilfreich dem Einzelnen zu, so beherzige er die Mahnworte,
die Karl Jaspers einst aus besonderem Anlaß dem Verfasser mit auf den
Weg gab; „Was geht uns im Verkehr mit Patienten als unbemerkt vor¬
über an Tiefe und Schwierigkeiten, von denen wir nichts ahnen, wenn wir
alles in unseren Kategorien auffassen, subsumieren und mehr oder weni¬
ger darüber Bescheid zu wissen meinen! Nicht nur Nietzsche und Kierke¬
gaard konnten für ihre Person keinen entsprechenden Arzt finden. Es ge¬
hört zu meinen schmerzlichsten Erinnerungen, was ich nicht bemerkt habe
und nicht gefragt habe, weil mir im Augenblick die volle menschliche
Gegenwärtigkeit fehlte. Diese bleibt ja doch die Hauptsache und all das
dürftige Wissen nur ein Mittel-^.“
Von den technischen Maßnahmen (dem Rüstzeug der modernen wis-
senschaftliciien Medizin), die den Einzelnen lebensfähig, das heißt welt-
haftig, machen wollen, ist hier nicht zu reden. Medizin und Psychologie
müssen sich in vielen Fällen darauf beschränken, den Leidenden leibliche
und seelische „Stützkorsetts“ zu verpassen. Darüber hinaus zeichnet sich
als Aufgabe ab, vielen Einzelnen, die mit sich und damit mit der Welt in
Feindschaft leben, zur Freundschaft mit sich selbst zu verhelfen. So hat
Ludwig Binswanger-® einmal das Ziel der Psychotherapie umrissen. Uns
besonders solcher Einzelner anzunehmen, die sich vor dem Moloch des
Kollektivs in die innere Einsamkeit geflüchtet haben, ist eines der dring¬
lichsten Anliegen. Unweigerlich stoßen wir dabei auf die Sinn- und Wert¬
probleme des menschlichen Daseins. Die uns bedrängende Frage „Was ist
der Mensch?“ kann nicht beiseite geschoben werden, sie zwingt uns zum
Philosophieren. Dieses Philosophieren - in der heutigen Welt hauptsäch¬
lich durch Karl Jaspers repräsentiert - macht uns kritisch gegen alle Theo¬
rien, macht uns hellsichtig für alle besonderen Weisen des Menschseins
und hindert uns am vorschnellen Urteil über die nicht ihrer Quantität,
wohl aber ihrer Qualität nach wichtigen Menschen, die als Weltverlorene
erscheinen, jedoch Weltgewinner sind.

Anmerkungen
Der wesentliche Inhalt dieser Arbeit wurde auf Tagungen der Studiengesellschaft für
praktische Psychologie, Bad Pyrmont, und der Nervenärztlidien Gesellschaft in München
vorgetragen.
‘ z. B. Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter, 20. Aufl. Berlin 1950.

179
KURT KOLLE

- Hans von Hentig; Redhead and Outlaw. Journ. of criminal law and Criminologie ot
Northwestern University, Vol. 38, 1947.
-aZit. nach Aldous Huxley: Themen und Variationen, R. Piper & Co. Verlag, Mün¬
chen 1952.
® Tymbos für Wilhelm Ahlmann, Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1951.
Wilhelm Ahlmann: Zur Analysis des optischen Vorstellungslebens, Arch. f. d. ges.
Psychol., Bd. 46.
® Kurt Schneider; Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschriebener Prosti¬
tuierter, 2. Aufl., Berlin 1926.
® Ferdinand Kehrer: Paranoische Zustände, Handbuch der Geisteskrankheiten v. Bumke,
Bd. 6, Berlin 1928.
" Robert Gaupp: Krankheit und Tod des paranoischen Massenmörders Hauptlehrer
Wagner. Eine Epikrise, Z. f. Neurol. 163, 1938.
® Kurt Schneider: Die psychopathischen Persönlichkeiten, 6. Aufl., Wien 1943.
* Wilhelm Mayer-Groß; Bemerkungen... Der Nervenarzt 22, 1951.
Kurt Kolle: a) Daseinsformen seelischer Krisen; b) Bildnerei in der Psychotherapie.
Wanderversammlung südwestdeutscher Psychiater 1949 und 2. Lindauer Psychothera¬
piewoche, Georg Thieme, Stuttgart 1952.
^ Harald Schultz-Hencke: Der gehemmte Mensch, Leipzig 1940.
Ernst Speer: Die Liebesfähigkeit, München 1935.
Adolf Portmann: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944.
Theodor Geiger; Formen der Vereinsamung, Kölner Vierteljahrsh. für Soziologie
Jahrg. X, 1931.
Arnold Gehlen: Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Tü¬
bingen 1949. (Schriftenreihe der Akademie Speyer, H. 2.)
Walter Spielmeyer: Korbinian Brodmann, Dtsch. Irrenärzte, Berlin 1922.
Eugen Rosenstock; Der Atem des Geistes, Frankfurt 1950.
Martin Buber; Das Problem des Menschen, Heidelberg 1948.
“ Viktor Emil v. Gebsattel: Christentum und Humanismus, Stuttgart 1947.
Emst Michel, z. B. in: Der Partner Gottes, Heidelberg 1946.
Karl Jaspers: Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit, München 1950.
Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Zürich 1942.
Karl Jaspers; Der philosophische Glaube, München 1951.
Martin Buber; Urdistanz und Beziehung, Heidelberg 1951.
Friedrich Burgdörfer: Bevölkerungsdynamik und Bevölkerungsbilanz, München 1951.
Wilhelm Fucks: Die Technik und die physische Zukunft des Menschen, Studium
Generale 4, 1951.
Handschreiben vom 21. Nov. 1943.
Ludwig Binswanger: Über Psychotherapie, Nervenarzt 8, 1935.
Im vorstehenden Verzeichnis ist nicht besonders angeführt das für jeden Psychiater
grundlegende Werk von Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 1. Aufl., Berlin
1913, 4. Aufl., Berlin und Heidelberg 1946. Dieses epochale Werk enthält bereits in
seiner 1. Aufl. ein Kapitel: Die soziologischen Beziehungen des abnormen Seelenlebens.
In der 4. Aufl., die zu großen Teilen ganz neu geschrieben wurde, wird im 5. Teil; Die
abnorme Seele in Gesellschaft und Geschichte (Soziologie und Historie der Psychosen
und Psychopathien) geschildert.

180
Renato de Rosa

EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN
IN DER MODERNEN PSYCHOPATHOLOGIE

Das Wort Existenz scheint heute überall das äußerliche Merkmal jeder
philosophischen und geisteswissenschaftlichen Bemühung geworden zu sein.
In Deutschland erscheint es in vielen Wortkombinationen wie: Existenz¬
philosophie, Existenzialanalyse, Existenzerhellung usw., in denen der Ver¬
such einer jeweiligen Begriffsklärung noch spürbar ist. In den romanischen
Ländern hat man dagegen das mysteriöse Wort rezipiert und sich über die
Anstrengung jeglichen Nachdenkens mit Hilfe eines griechischen Suffixes
hinweggesetzt. Man spricht von Existenzialismus. Nun aber haben sowohl
dieses romanische Derivat wie die vielen deutschen Wortzusammensetzun¬
gen zu einer ungeheuren Konfusion geführt, die hier und da in der zeit¬
genössischen Kultur zu einer willkommenen Tarnung der Gedankenlosig¬
keit geworden ist. Es ist für die Besinnung wissenschaftlicher Methodo¬
logie vielleidit von Wert festzustellen, auf welche Weise eine solche viel¬
deutige philosophische Bewegung auf partikulare Wissenschaften wirken
kann. Da nun die Probleme und die Interpretationsweisen der Psycho¬
pathologie gegenüber den Voraussetzungen philosophischen und meta¬
physischen Charakters ganz besonders empfindlich zu sein pflegen, sei hier
die Psychopathologie als das wissenschaftliche Substrat gewählt, an dem
eine solche Besinnung versucht werden soll.
Eine kurze Übersicht über die existenzphilosophischen Richtungen in der
modernen Psychopathologie müßte zwei verschiedenen Ansprüchen ge¬
nügen. Der eine zielt auf Information und besteht darin, gewisse theore¬
tische Tendenzen und Prinzipien der Psychopathologie festzuhalten, um
den Sinn und die Möglichkeit einer solchen Theoretisierung besser zu er¬
hellen. Der andere entspringt einem Redlichkeitsbedürfnis und besteht
darin, das Problem des Verhältnisses zwischen Psychopathologie und Phi¬
losophie grundsätzlich zu prüfen, um die Frage nach dem Wesen des
Menschen zu ihrer philosophischen Ursprünglichkeit Zurückzufuhren.
Eine allgemeine Orientierung in der Sphäre der existenzphilosophischen
Bemühungen unserer Zeit wird dabei vorausgesetzt. Sie ist unerläßlich
zum Verständnis der psychologischen Literatur dieser Richtung und kann
am besten erworben werden durch die Lektüre der Hauptwerke L
In zwei grundsätzlich verschiedenen Weisen scheint die Existenzphilo-
sophie auf die Bemühungen der modernen Psychopathologie zu wirken.
Einmal als philosophische Grundhaltung der psychopathologischen For-

181
RENATO DE ROSA

sdiung, wie bei Jaspers, und zum andern als philosophisch-wissenschaft¬


liche Methode der psychopathologischen Forschung, wie bei Binswanger,
Storch, Boss usw. Wir wollen diese zwei verschiedenen Wirkungsformen
getrennt betrachten.
Existenzphilosophie als philosophische Grundhaltung der psychopatho¬
logischen Forschung stellt das Fundament der Jaspers’schen Methodologie
dar. Um den Geist und die Bedeutung dieser Methodologie zu verstehen,
muß man also bestimmen, welche Eigenschaften und Eigentümlichkeiten
nach Jaspers der psychopathologischen Forschung einerseits und der philo¬
sophischen Grundhaltung andererseits zuzusdireiben sind.

I. Existenzphilosophie als philosophische Grundhaltung


in ihrem Verhältnis zur Psychopathologie

A. Die psychopathologische Forschung

Die psychopathologische Forschung muß nach Jaspers eine wissenschaft¬


liche Forschung sein und als solche den Ansprüchen und den Eigenschaften
der Wissenschaft überhaupt entsprechen. Die Wissenschaft, um rein zu
sein, muß 1. das Partikulare allein ins Auge fassen; 2. zwingende und
allgemeingültige Erkenntnisse erzeugen; 3. ein klares Bewußtsein ihrer
Methoden besitzen. Wenn wir jede dieser Eigenschaften genau betrachten
und sie jeweils in Beziehung zur Psychopathologie setzen, so werden sich
deutlich die Attribute ergeben, welche die Psychopathologie besitzen muß,
um dem Anspruch wissenschaftlicher Forschung entsprechen zu können.
1. Das Bekenntnis zum Partikularen. Der Mensch neigt dazu, das Ganze
und das Absolute erfahren und wissen zu wollen. Mit Hilfe der Phantasie
und unter dem Stachel des Übermutes hat der Mensch auch in der Tat
immer wieder versucht, die ihm eigenen Grenzen seines Erkennens zu
überschreiten, um die ganze Wahrheit in vollendeter und definitiver Weise
zu besitzen. Die verschiedenen, in sich abgeschlossenen, philosophischen
Systeme, die vielfältigen pseudophilosophischen Visionen und viele Ge¬
schichtsutopien dürfen als Beweisstücke dafür gelten. Nachdem aber der
Mensch immer wieder feststellen mußte, daß jede seiner Wahrheiten nur
partikulare Wahrheit sein kann, konnte die moderne Wissenschaft nur
mit einem Akt der Bescheidenheit und der Ergebenheit seitens des Men¬
schen beginnen, des Menschen, der, ohne damit die Sehnsucht nach dem
Ganzen aus seiner Brust zu vertreiben, sich anschickt, seine wissenschaft¬
liche Erkenntnis auf die Erkenntnis des Partikularen zu beschränken. Nur
auf diese Weise konnte das Wissen mit immer neuen und umfassenderen
Kenntnissen bereichert werden, die zugleich auch das Bewußtsein des Men¬
schen vertieften. Damit ist das grundsätzliche Geheimnis des Seins nicht

182
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE

etwa negiert und ist die Frage nach ihm keineswegs abgeschalft: Die Seins¬
frage wurde vielmehr bewußt und gleichsam provisorisch im Bereich des
Nichtwissens belassen, eben um die empirische Forschung zu ermöglichen.
Derart können wir von einem wissenschaftlichen Agnostizismus als dem
Stigma wissenschaftlicher Redlichkeit sprechen.
Es ist selbstverständlich, daß in jedem Forschungsgebiete die Nachteile
und die Begrenztheiten eines solchen Agnostizismus empfunden werden
und daß man auf ihn entweder mit Verallgemeinerungen oder Integra¬
tionen reagiert, die mehr oder weniger phantastisch die partikularen Er¬
kenntnisse vervollkommnen sollen. Solche Integrationen sind aber immer
und in allen Bereichen der Wissenschaft Zeichen einer unwürdigen Labi¬
lität der wissenschaftlichen Haltung; Sie tragen dazu bei, nicht nur die
Reinheit der Wissenschaft zu trüben, sondern sind zugleich auch mythen¬
bildend, und die von ihnen dependierenden Mythen zeigen eine um so
verderblichere Auswirkung, je inniger ihre Verbundenheit mit partiku¬
laren wissensdiaftlichen Erkenntnissen zu sein scheint. Das Gebiet der
psychopathologischen Forschung ist mehr als jedes andere Forschungs¬
gebiet solchen Gefahren ausgesetzt, da hier die Bemühungen, die parti¬
kulare Wahrheit zu erfassen, durch die Begegnung mit der menschlichen
Existenz ständig untergraben zu werden drohen. Die Existenz beansprucht
doch mit Recht die Anerkennung ihres Subjektseins und bekundet immer
wieder auf unmißverständliche Weise (durch ihre Unendlichkeit und
wesentliche Unzulänglichkeit), daß die Enge der partikularen Forschung
ihr nicht Genüge tut. Diese Eigentümlichkeit des psychopathologischen
Forschungsgebietes darf nun aber nach Jaspers nicht Veranlassung werden,
den Weg der Erforschung des Partikularen zu verlassen, um die müh¬
same Feststellung der singulären Tatsachen durch ein billiges Spiel der
Phantasie zu ersetzen oder sie ideologisch zu komplettieren. Sie muß viel¬
mehr derart im Bewußtsein des Psydiopathologen Geltung gewinnen,
daß er sich durdi dieses Gefühl des Ungenügens zu einer immer kritisie¬
ren, verfeinerten und komplexeren partikularen Forschung getrieben fühlt.
2. Die Kriterien der wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit. Dm Ergebnisse
der Forschung müssen immer Erkenntnisse sein, welchen wir auf Grund
ihrer Evidenz niemals die Eigenschaft des Wahrseins absprechen können
und deren Bestimmung ist: eine absolute Allgemeingultigkeit auf Grund
von Beweisbarkeit zu erlangen. Evidenz und Beweisbarkeit stellen die un¬
ersetzlichen Eigenschaften jeder wissenschaftlichen Erkenntnis dar. ^e
bedeuten gleichsam den Test für die Reinheit der Wissenschaft. Für alle
wissenschaftlichen Bemühungen aber besteht der Zwang, mit unvollkom¬
menen Begriffen und Urteilen zu operieren, und daraus folgt, daß sie stets
dahin tendieren, mehr oder weniger begründete Antizipationen über die

183
RENATO DE ROSA

Resultate jeder einzelnen Forschung aufzustellen. In der Psydiopathologie,


in der sich die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften ständig
derart berühren und überschneiden, daß der Forschende gezwungen wird,
jeden Begriff und jede Betraditungsweise immer von neuem wieder vor¬
sichtig zu prüfen, ist nun die Gefahr solcher Antizipationen augenscheinlidi
größer als in jeder anderen Wissensdiaft. Jede anatomisch-histologische,
physiologische, biologische oder psychologische Betrachtung kann, auch
wenn sie in sich selber richtig ist, in der Psychopathologie sehr leicht zu
theoretischen Konstruktionen verführen, die sich in ihrer Konsequenz letzt¬
lich als falsch, als ganz und gar nicht evident und als völlig unbeweisbar
entpuppen. Diese fast unvermeidliche Gefahr darf aber nicht zu einem
Verzicht auf die wissenschaftliche Strenge, zu einem „laissez faire, laissez
passer“ führen. Auch darf man darin nicht einen Prätext suchen, um die
psychopathologische Forschung etwa auf die Phänomenologie, und das ist:
auf die Beschreibung der unmittelbaren psychischen Tatsachen, zu be¬
schränken. Vielmehr muß gerade darin die wissenschaftliche Forderung
spürbar werden, die Forschungsmöglichkeiten durch die Bildung und An¬
wendung immer neuer Methoden in jeder Richtung unaufhaltsam zu
erweitern.
3. Das Bewußtsein der Methoden. Erst ein klares Bewußtsein der Me¬
thoden macht das wissenschaftliche Wissen und die Wissenschaft selbst¬
bewußt. Der Methoden bewußt zu sein und die Methoden für die je¬
weilige Wirklichkeit konform den Forderungen der Forschung zu ent¬
wickeln, heißt: den Ausgangspunkt und die Grenzen des Wissens zu ken¬
nen. Dieses kritische Bewußtsein über die Weise, wie man jeweils in den
verschiedenen Forschungsgebieten verfährt, bedeutet: die Möglichkeit zu
haben und offenzuhalten, um die auf jedem einzelnen Gebiet errungenen
Erkenntnisse miteinander in Beziehung setzen zu können. Ein theoretisches
System durch ein methodologisches System zu ersetzen, heißt: alle Wege
für die Wissenschaft zu öffnen und auf ihre äußersten Möglichkeiten hin¬
zuweisen.
In der Psychopathologie, in der die Methoden so vieler Wissenschaften
Zusammenwirken, kommt diesem methodischen Bewußtsein ein besonderes
Gewicht zu. Die Psychopathologie von Jaspers ist in diesem Sinne eine
psychopathologische Methodologie. Nicht die Phänomenologie bedeutet
das Charakteristikum seiner Betrachtungsweise. Diese ist für ihn vielmehr
nur eine der vielen Methoden, die, je nach den Zielen und der Problem¬
lage der Forschung, jeweils entwickelt und angewandt werden. Die Me¬
thoden stehen hier in funktioneller Beziehung zu den Problemen und Tat¬
sachen. Es ist selbstverständlich, daß man von der Phänomenologie Ge¬
brauch macht, wenn die empirischen Gegebenheiten der Subjektivität in

184

\
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE

ihrer elementaren Unmittelbarkeit erfaßt werden sollen, und ebenso selbst¬


verständlich ist es, daß nur die empirischen, unmittelbaren Gegebenheiten
der Subjektivität erfaßt werden können, wenn man sich der Phänomeno¬
logie bedient. Die gleiche funktionelle Reziprozität gilt jedoch für die
somatischen Befunde, die ohne Anwendung physiologischer und klinischer
Methoden gar nicht konstituiert werden können. Die Betrachtung von
objektiven Erscheinungen, die parallel den subjektiven psychischen Tat¬
sachen laufen, kann, ohne Anwendung der somatischen Psychologie oder
der Werkpsychologie, nicht vollzogen werden. Die Erforschung der ver¬
schiedenen Mechanismen und psychischen Reaktionen in ihrer normalen
oder pathologischen Form kann, ohne die Entwicklung einer verstehenden
Psychologie, gar nicht stattfinden usw. Der Psychopathologe Jaspers ist
nicht ein Phänomenologist, wie Minkowski behauptet, sondern ist der
radikale Empiriker, als den er sich selber bezeichnet. Dank dem uner¬
schöpflichen Reichtum heuristischer Ideen und der methodologischen Rein¬
heit der Forschung widerspricht Jaspers in keinem Punkte der streng wis¬
senschaftlichen Logik.

B. Die philosophische Grundhaltung

Die philosophische Grundhaltung stellt für Jaspers keine tatsächliche


Notwendigkeit für den Psychopathologen dar, denn dieser kann von der
Philosophie außer einer kritischen Disziplinierung der Methoden nichts
Positives erwarten, was etwa die Quantität seiner konkreten Erkenntnisse
vermehren oder die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Bemühungen in¬
tensivieren könnte. Daß diese Überzeugung nicht aus Prinzipien, sondern
direkt aus dem Gebrauch der Vernunft stammt, läßt sich vielleicht auch
daran noch erhellen, daß selbst ein Giordano Bruno, ein Pantheist spino-
zistischer Prägung, dieselbe Meinung in seinem Dialog „Von der Ursache,
Prinzip und dem Einen“ vertritt. Ich zitiere (nach der vortrefflichen Über¬
setzung von Lasson); „Es gibt wirklich Leute von so wenig Einsicht, daß
sie den Unterschied nicht beachten, ob man die natürlichen Ursachen ab¬
solut nach dem ganzen Umfange ihres Wesens nimmt, wie sie von den
Philosophen betrachtet werden, oder ob man sie in einem eingeschränkten
und besonderen Sinne auffaßt. Jene erste Art ist für den Arzt als solchen
allerdings überflüssig und wertlos, die zweite dagegen für den Philosophen
als solchen höchst mangelhaft und unzulänglich.“ Und trotzdem entsprin¬
gen nach Jaspers der philosophischen Grundhaltung zwei unzweifelhafte
Vorteile für den Psychopathologen. Der erste hat negativen Charakter und
besteht in der von der philosophischen Grundhaltung gestützten Abwehr
gegen alle pseudophilosophischen Infiltrierungen und gegen alle verwor¬
renen Konstruktionsversuche, die philosophisch nichtgebildeten Intellek-

185
RENATO DE ROSA

ten entspringen können. Der zweite hat positiven Charakter und be¬
steht in der echten Beziehung, die sidi durch die philosophische Grund¬
haltung in der konkreten Begegnung der Existenzen von Arzt und Patient
herstellt. Hier, in dieser Begegnung, muß der Psychopathologe das Be¬
wußtsein des Umgreifenden des Menschseins, nämlich der Existenz, be¬
wahren können, welches sich als solches jeder empirischen Analyse, auch
der umfassendsten und tiefsten, entzieht, um als philosophisches Problem
und intelligible Wahrheit über die Psychopathologie und über die Wissen-
sdiaft hinaus zu transzendieren. Das Wesen des Menschen ist ein Medium
metaphysischer Interpretation und führt früher oder später, in unmerk¬
licher Weise, immer zu den Problemen der Existenz und der Transzen¬
denz. Deshalb gerät der Psychopathologe ohne philosophische Grundhaltung
in die Gefahr, den eigentlichen Sinn solcher Problematik mißzuverstehen
und Positionen einzunehmen, die sich sowohl in der Praxis als auch in der
Forschung dann als unhaltbar erweisen. Für die Forschung ist die Gefahr
bedrohlich, weil ohne kritisches Bewußtsein der philosophischen Proble¬
matik gewisse irreparable Verzerrungen der theoretischen Lenkung statt¬
finden können, die jeden wissenschaftlichen Erfolg unmöglich machen; und
in der Praxis, weil, ignoriert man die fundamentale Unzulänglichkeit der
wissenschaftlichen Forschung für die Gewinnung der eigentlichen Ur¬
sprünge des Menschen, die Möglichkeit einer wirklichen Kommunikation
mit den Patienten verlorengeht, wodurch auch der Sinn der Therapie
selber vernichtet wird. Die Wirkungsform der Existenzphilosophie in der
Psychopathologie von Jaspers erschöpft sich in dieser philosophischen
Grundhaltung. Scharf von dieser Grundhaltung zu trennen ist die Wir¬
kungsform der Existenzphilosophie bei den Daseinsanalytikern, deren
Tendenz und Absicht es ist, bestimmte philosophische Interpretationen als
Instrument der wissenschaftlichen Forschung und psychotherapeutischen
Methodik zu benutzen.

II. E X i s t enzp hi 1 os op h i e als p h i 1 o s op h i s ch - wi s s e n s ch af t-


liche Methode der Psychopathologie

A. Die daseinsanalytischen Postulate und ihre Problematik

Die Existenzphilosophie als philosophisch-wissenschaftliche Methode der


psychopathologischen Forschung zeigt heute als „Richtung“ eine große
Anzahl von Anhängern. Binswanger, Storch, Kuhn, Boss, van der Bergh
zumal, aber auch andere, die wie Minkowski und Gebsattel mehr an der
Peripherie dieser Bewegung stehen, veranlassen mit ihren Arbeiten, daß
diese Wirkungsform der Existenzphilosophie in der Psychopathologie sehr
ernst genommen wird. Trotz der Konfusion, die in diesem Lager herrscht.

186
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE

und trotz der großen Anzahl von Variationen und Abweichungen, die sich
in den einzelnen Arbeiten dieser Richtung bemerkbar machen, lassen sich
einige Charakteristika festhalten.
Die Daseinsanalytiker - so nennen sich die Vertreter dieser Bewegung-
haben zu ihrem geistigen Stifter den Philosophen Martin Heidegger ge-
gemacht und knüpfen an dessen Fundamentalontologie an. Sie versuchen,
in einer mehr oder minder verbalen Analogie eine psychische Fundamen¬
talstruktur zu bestimmen. Das Heidegger’sche Unternehmen besteht dar¬
in, die ontischen Voraussetzungen des Daseins, die Existenzialien, fest¬
zustellen. Das Unternehmen der Daseinsanalytiker besteht dagegen darin,
die psychopathischen und psychotischen Erscheinungen als empirische
Manifestation irgendeiner Modifikation aufzufassen, die in der psychischen
Fundamentalstruktur des Daseins stattgefunden hat. Wenn wir über einen
solchen Versuch zunächst rein logisch nachdenken, so läßt sich eine Reihe
von Postulaten und Schwierigkeiten voraussehen, die diesen Versuch selbst
zum Mißerfolg verurteilen müßten. Hier sind die Postulate:
1. Man muß annehmen, daß es möglich sei, die ontologischen Elemente des
Daseins zu erkennen und zu bestimmen (Angst, In-der-Welt-Sein, usw.).
2. Man muß annehmen, daß solche Elemente oder Existenzialien sich zu
einer normalen Fundamentalstruktur konstituieren können, auf die durch
die Beobachtung der empirischen Manifestationen eines normalen Indi¬
viduums geschlossen werden kann.
3. Man muß annehmen, daß durch die Festhaltung bestimmter Sym¬
ptome abnormer Natur die eventuellen entsprechenden Modifikationen der
Fundamentalstruktur aufgedeckt werden können, die den psychopathischen
und psychotischen Erscheinungen zugrunde liegen (das wäre eigentlich
daseinsanalytische Psychopathologie).
4. Man muß letztlich annehmen, daß wir über Mittel verfugen, die
solche Modifikationen beeinflussen und die Normalität der psychischen
Fundamentalstruktur wiederherstellen können, wovon die Gesundheit des
Patienten abhängig ist (das wäre die einzig mögliche daseinsanalytische
Psychotherapie). Soweit von den Postulaten. ... . ,
Die Schwierigkeiten sind dieselben Schwierigkeiten wie die eines jeden
ontologischen Dualismus. Wenn wir die Existenzialien als ontische Voraus¬
setzung der psychischen Erscheinungswelt postulieren und auch alle übri¬
gen Postulate akzeptieren, die unmittelbar mit einem solchen Denkakt
Zusammenhängen, wie sollen wir dann eine Interferenz zwischen dmsen
zwei Welten, zwischen der Welt der Existenzialien und der Welt der em¬
pirischen Manifestationen, bestimmen können, wodurch zu verstehen wäre
wie die Modifikationen der einen den Modifikationen der anderen Wel
korrespondieren? Und außerdem, wie können wir auf diese Weise mit

187
RENATO DE ROSA

Sicherheit die Lokalisation der Grundstörung bestimmen? Erfolgt diese


Grundstörung innerhalb des Komplexes der empirischen Erscheinungen,
dann hat die ganze Daseinsanalyse keinen Sinn. Erfolgt sie dagegen tat¬
sächlich in der psychischen Fundamentalstruktur, welcher Ursache ist sie
zuzuschreiben? Liegt die Ursache in der Auswirkung der psychischen Tat¬
sachen, dann ist das ein Zeichen dafür, daß diese gar nicht eine bloße
Erscheinung der psychischen Fundamentalstruktur sind, sondern Auto¬
nomie besitzen. Wozu dann die Postulierung der Existenzialien? Liegt
dagegen die Ursache in den Existenzialien selber - das wäre eine Art
Ideopathia existencialis -, dann hat der Patient und seine Anamnese gar
keinen Sinn. Einige Daseinsanalytiker scheinen solchen Schwierigkeiten
Rechenschaft tragen zu wollen. Medard Boss zum Beispiel, der mit großer
Begabung die sexuellen Perversionen untersucht hat, versucht die Grund¬
störung in einer Art Neutralzone zwischen ontischen Ideen und psychi¬
schen Tatsachen zu lokalisieren, indem er von einer Eintrittspforte der
Existenzialien in die psychische Erscheinungswelt spricht. Aber auf diese
Weise wird die Schwierigkeit nicht überwunden, sondern nur verlagert und
verschoben. Denn; welche Ursache ist für die Bildung dieser oder jener
Eintrittspforte verantwortlich?
Binswanger dagegen, indem er unmerklicherweise dem typischen Me¬
chanismus folgt, der aus jedem ontologischen Dualismus zwangsläufig
entsteht, geht bis zur letzten Konsequenz und eliminiert vollkommen den
empirischen Faktor: er spricht von dem dramatischen Spiel der Existenz
mit sich selber. Wir können hier von einer Art Panexistenzialismus reden,
der als eine in gewissem Sinne geschmacklose Imitation des Hegel’schen
Panlogismus betrachtet werden kann.
Medard Boss zieht diese letzte Konsequenz des Panexistenzialismus des¬
halb nicht, weil er gegenüber dem eigentlichen philosophischen Zwang der
Logizität weniger empfindlich ist. Freilich liegt es bei allen seinen Studien
über die Perversen nahe, diesen letzten Schritt doch zu machen. Boss ver¬
tritt zum Beispiel folgende allgemeine Auslegung der Perversion: „Ist...
die Liebestransparenz der Daseinsfülle in der geistigen Persönlichkeits¬
sphäre mehr oder weniger beeinträchtigt durch weltbedingte Enge oder
Angst-so treten die zu einem leiblich-triebhaften Sexualakt einge¬
schränkten und verstümmelten Liebesformen in Erscheinung.“ Aber: durch
die Postulierung einer solchen ontischen Ätiologie wird die Angst als dem
Dasein immanente, gegenüber den psychischen Formen transzendente
Macht angesehen. Boss sagt nämlich an anderer Stelle: „Der daseinsanaly¬
tischen Betrachtungsweise bedeutet vielmehr die Angst eine ganz primäre
Grundempfindlichkeit des Daseins überhaupt. ... Inzest, Ödipus und Ka¬
strationsangst sind uns darum nur gleichsam Durchbruchs- und Eintritts-

188
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE

stellen der dem Dasein immanenten Angst.“ Das heißt also, daß die Angst,
diese metaphysisdie Macht, die Liebestransparenz auf die Weise beein¬
trächtigt, daß sie besondere Durchbruchsstellen bildet, damit sie selber
hierdurch in Erscheinung trete: ein dramatisches Spiel der Angst mit sich
selber!
In der Tat sind sich die Daseinsanalytiker weder der Postulate noch der
Schwierigkeiten vollkommen bewußt, die ihren Versuchen zugrunde lie¬
gen. Als ein gemeinsames Charakteristikum ihrer Bemühungen läßt sich
deshalb weiter feststellen: eine ungeordnete Mischung von theoretischen,
empirischen und philosophischen Elementen. Nur mit Hinblick auf eine
solche Mischung, die aus einem Mißverständnis der Philosophie erfolgt,
erklären sich die Genese und die Entfaltung der daseinsanalytischen Psy¬
chopathologie. Was ihre Vertreter vereinigt, muß also mehr einen formalen
als substanziellen Charakter haben. So klärte sich auch die Tatsache, daß,
abgesehen vom Jargon und von den hier und da verstreuten Äußerungen
theoretischer Art, jeder Daseinsanalytiker in der Weise, wie er tatsächlich
verfährt und zu konkreten Ergebnissen der Untersuchung strebt, eine
eigene Singularität zeigt, die von den theoretischen Prinzipien völlig un¬
abhängig ist und in der jeweiligen individuellen Begabung des Diagnosti¬
kers und Therapeuten beruht.

B. Die Wirkungsformen der Daseinsanalyse in der Psychopathologie

Versuchen wir nunmehr, auch auf die Gefahr einer gewissen Verein¬
fachung hin, die einzelnen Vertreter der Daseinsanalyse unter den Psycho-
pathologen in aller Kürze zu charakterisieren:
Boss bedient sich der bekannten Terminologie (Angst, ontischer Fluß,
Liebestransparenz der Daseinsfülle usw.) und theoretisiert nach der Art
von Binswanger. Eines seiner grundsätzlichen Postulate ist die Dialektik
von Liebe und Welt. Die Liebe als ontischer Fluß ist dialektisch mit der
Welt verbunden. Die Welt, die Hindernis und Sorge ist, wird von der
hindurchziehenden Liebe transparent gemacht. Eine Modifikation des dia¬
lektischen Mechanismus von Liebe und Welt manifestiert sich als sexuelle
Perversion: Die Liebe gerät in ein jeweils typisches „Zuhause“. So hören
wir von einem Koprophilen: „Der Mastdarm allein war ihm in seinem zur
Wurmexistenz eingeschrumpften Dasein als Eintrittspforte zum zeit¬
vergessenen Glück und zum Zuhause der Liebe geblieben.“ Aber trotz der
daseinsanalytischen Theorie ist es Boss gelungen, die Perversionen mei¬
sterhaft zu beschreiben und zum Teil auch sehr gute therapeutische Er¬
gebnisse zu verzeichnen. Wo ihm aber das gelang, da hat der durch einen
verworrenen Verbalismus vollkommen verharmloste Existenzialismus ihm
die Möglichkeit gegeben, mit offenem und vorurteilslosem Verstände die

189
RENATO DE ROSA

empirischen Untersuchungen durchzuführen. Der Existenzialismus hat bei


ihm nämlich als Theorie die Psychoanalyse verdrängt und dadurch seine
Fähigkeit zu einem unmittelbaren Kontakt mit den Perversen gesteigert.
Wir möchten also behaupten, daß nicht der Existenzialismus als Theorie
diese Ergebnisse zeitigte, sondern die Verdrängung einer anderen Theorie,
der Psychoanalyse nämlich, die durchaus nicht so harmlos und unverbind¬
lich ist.
Storch dagegen scheint sich in einer bloßen Interpretation der psycho¬
tischen Welt zu erschöpfen und bleibt vollkommen verstrickt in der termi¬
nologischen Konfusion. Er erzeugt eine Phantasmagorie gnostischer Prä¬
gung, um dann zu sehr banalen Ergebnissen zu gelangen, wie jenem zum
Beispiel: daß die Schizophrenen das Mit-den-andern-Sein verloren haben.
Binswanger ist der bekannteste Vertreter dieser Richtung. Die Sprache
gilt ihm als das einzige Medium der existentiellen Interpretation. Die
Kenntnis der psychischen Fundamentalstruktur stellt für ihn das norma¬
tive Instrument des analytischen Urteils dar. Die Analyse selber erfolgt
nach einem Paradigma, dessen Hauptbegriffe das In-der-Welt-Sein, das
Über-die-Welt-Sein, das Selbst und die Zeitigung sind. Die Ursache der
verschiedensten psychotischen Manifestationen ist stets auf eine Grund¬
modifikation der psychischen Fundamentalstruktur zurückzuführen. Diese
Modifikation bestimmt die Form des Daseins, wie zum Beispiel das
„Lochsein“ manches Schizophrenen. Sämtliche Weltregionen des psycho¬
tischen Erlebens und Denkens werden dadurch charakteristischerweise
beeinflußt. Das Selbst des Lochdaseins oder der Lochexistenz wird zum
Beispiel zur verdorrten Pflanze in der Welt der Vegetation, zur wegge¬
worfenen Schale in der Dingwelt, zum Wurm in der Tierwelt, zum bloßen
Schlauch, zur materiellen Ausfüllung und Wiederentleerung in der Leib¬
welt usw. Binswanger als Kulturhistoriker und als Psychopathologe ist ein
Eklektiker. Das erlaubt ihm, eine gewisse Autonomie auch gegenüber der
daseinsanalytischen Richtung zu bewahren. In einigen Arbeiten (wie zum
Beispiel in seiner Vorlesung „Über die manische Lebensform“, Zürich
1944) scheint er den Weg der Jaspers’schen Methodologie zu gehen. Von
Jaspers hat er auch den Begriff des Über-die-Welt-Seins übernommen, den
er neben den des In-der-Welt-Seins Heidegger’schen Ursprungs als zwei¬
tes ontisches Element der psychischen Fundamentalstruktur setzt.

Zusammenfassung

Wenn wir von hier zurückblickend die zwei verschiedenen Wirkungs¬


formen der Existenzphilosophie in der Psychopathologie im Zusammen¬
hang und auf ihr Fruchtbarwerden hin betrachten, so scheint sich die
Frage, ob und inwieweit Philosophie und Psychopathologie sich gegen-

190

1
EXISTENZPHILOSOPHISCHE RICHTUNGEN DER PSYCHOPATHOLOGIE

seitig ausschließen oder ergänzen, mit der Selbstcharakteristik beider


Positionen zu beantworten. Zusammenfassend läßt sich diese Antwort
dahin formulieren; Obwohl auch das unbeirrbarste Festhalten an der
empirischen Methodik allein schon für die Konsolidierung der Mitteilungs¬
formen einer gewissen Fixierung der Ideen und der Prinzipien bedarf,
so hat jedoch keinerlei Seinsdogmatik in der Wissenschaft Platz. Philo¬
sophie zeigt und begrenzt lediglich den Raum, in dem empirische For¬
schung Freiheit besitzt. Eine falsche Vermischung von Philosophie und
Wissenschaft aber ist stets verderblich. Mit Brunos Worten: „Ihr habt da
den Punkt berührt, in welchem Paracelsus zu loben ist, weil er eine auf
Arzneikunde beruhende Philosophie getrieben hat, und in welchem Ga-
lenus zu tadeln ist, weil er eine auf Philosophie beruhende Arzneiwissen¬
schaft aufgebracht hat, um eine widerliche Mischung und ein so verwickel¬
tes Gewebe herzustellen, daß er schließlich einen ziemlich wertlosen Arzt
und einen sehr verworrenen Philosophen abgibt.“
Selbstverständlich hat jeder Forscher als menschlidie Existenz eine Phi¬
losophie, die persönlich, und das ist: optimistisch, pessimistisch, melaniEo-
lisch gefärbt sein mag. Das sind persönliche Nuancen, echte persönliche
Voraussetzungen. Sie liegen, wie Jaspers betont, „im Sein des Forschers als
Bedingungen seines Sehen- und Verstehenkönnens; sie werden durch Er¬
hellung eigentlidi ergriffen.“

Anmerkungen und Literatur

> Ich verweise auf folgende bibliographisdie Anhaltspunkte: Das »»L*


Heides-e-er Sein und Zeit“, 1. Teil, Halle 1926, zusammen mit seiner Vorlesung „Was
S 5. Aufl.,’Frankfurt a. M.. J950, führen in d-e ontologisAe
Existenzphüosophie ein. Die 3 Bände „Philosophie von 94/
zusammen mit den 5 Vorlesungen „Vernunft und ^; 2. Auü Bremen 1947,
führen in die appellierende Existenzphilosophie ”V j^rften ge-
iq43’) und Gabriel Marcels „Journal metaphysique (Paris 1927) durtten g
Se” im die üsonde« Wesensart dis fransösisch.n Ex.s«ns.al smu. kennenrulera m
Abbagnanos „La struttura dell’esistenza“ (Torino 1939) darf als Hauptwerk des .ta-
lienisdien Esistenzialismo gel^n_ -Grundformen und Erkenntnis mensdi-
i^wegÄur. Bd. ^3 935, Bd 54 69,
Bd. 53, 16 (1945). - Ausgewählte Vortrage und Aufsatze. Bern. Francke 19 .
Nervenarzt Bd. 22, 1 (1951). . u=rn. LTnKpr 1Q47
Boss, M., Sinn -d Gehau Rahmen psyAia-
Ertinku'g» ta Gegeta^^^^ der psyehiatr,sd.-neurolog.sd.en For-
sdiunfi!' Berlin: Ferdinand Enke 1938. ino*?

ji'sperrK:, zV S “b"! U,“l5M.‘9 XÜg.mXi Psydropathologie. Berlin, Sprin-

i"indl!e,8 und van Gogh. Berlin, Springer 1926. - Nervenarzt Bd.21, 465 (1950).
Minkowski, E.: Evolut. Psy^hi^atr^Bd 4 (1948)
Schneider Kurt: Nervenarzt Bd. 21, lyo t /* ^ ^ o2a /lQil7^
Stordi A.’: Z. Neur. Bd. 127, 799 (1930). - Schweiz. Ardi. Neur. Bd. 59, 330 (1947).
Erste VeröfferttUdrun, im „NervenarU’’, 23. Jahr,an,, S.236ff. (Sprin,er.Verla,, Berlin, Götün,en, Heidelher,).

191
Friedrich Oehlkers

FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

ZVenn idi Karl Jaspers zu seinem 70. Geburtstag eine Arbeit aus dem Gebiete der
Vererbungslehre widme, so bedarf das der Erläuterung. Es war im Jahre 1942,
während des Krieges, zugleich in der Zeit steigender Gefahr für seine verehrte Gattin
wie für ihn selbst, als Jaspers das Manuskript der völlig umgearbeiteten 4. Auflage
seiner Allgemeinen Psychopathologie fertigstellte. In diesem Rahmen hatte er sich auch
zu den Problemen der menschlichen Genetik zu äußern. Das geschah, wie nicht anders
zu erwarten, mit dem Interesse, das seiner profunden naturwissenschaftlich-medi¬
zinischen Grundausbildung entsprach, und mit der Reserve, die den Geisteswissen¬
schaftler und Philosophen jede Überwertung hierher gehöriger Begriffe und An¬
schauungen vermeiden ließ. So waren unsere Unterhaltungen im Sommer des Jahres
1942 in der Plöck in Heidelberg - die letzten relativ unbeschwerten vor späterem
schweren Geschehen - nun auch von meinem Arbeitsgebiet erfüllt. Möge dem Jubi¬
lar dieser Beitrag die damaligen Gespräche in freundliche Erinnerung bringen.

Das Jahr 1950 bot der gegenwärtigen Erblichkeitsforschung besonderen


Anlaß zu Rückschau und Selbstbesinnung; waren doch 50 Jahre seit der
Wiederentdeckung der Mendel’schen Gesetze vergangen. Dieses Ereignis
war der Impuls für die Entwicklung eines neuen Wissenschaftszweiges in
der Biologie, der nach Breite und Höhe mit einer so überwältigenden
Geschwindigkeit heranwuchs, wie man es auch in der modernen Natur¬
wissenschaft nur selten erlebt hat.
Das merkwürdige Schicksal dieser Mendel’schen Gesetze ist sehr bekannt
geworden und auch in populären Schriften vielfach erörtert. Sie wurden
zweimal entdeckt: zuerst 1865 von dem Augustinerpater Gregor Mendel
in Brünn; dann, völlig vergessen, wurden sie von drei Forschem, de Vries,
Correns und Tschermak, unabhängig voneinander 1900 wiederentdeckt.
Und von diesen dreien hat Correns sogleich in seiner ersten Publikation
auf Mendel als den eigentlichen Autor hingewiesen. Man brauchte also
kaum auf diese Geschehnisse einzugehen, wenn es hier nur auf die äuße¬
ren Zusammenhänge ankäme. Indessen, ich möchte das, was ich eben die
„Selbstbesinnung der modernen Erblichkeitsforschung“ nannte, nun doch
etwas weiter treiben und nicht bei dem Jahr 1900 stehen bleiben. Wir
sollten versuchen, den Zusammenhang zwischen der ersten Entdeckung im
Jahre 1865 und jener Anno 1900 etwas genauer zu klären, auch auf die
Gefahr hin, daß man mir den Vorwurf einer ungenauen Themastellung
macht, mich korrigiert und meint, es müsse ja dann eigentlich heißen:
„85 Jahre Mendelforschung“! Es sei damit begonnen, daß wir fragen,
was beabsichtigte und was unternahm Gregor Mendel? Sodann, was fand

192

\
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

er und was überlegte er dabei? Dann werden wir sehen, daß er mit seiner
Entdeckung in seiner Zeit völlig isoliert dasteht und daß die eigentliche
„Mendelforschung“ tatsächlich doch erst 1900 begann.
Zugleidi sollte man sich von vornherein nodi etwas anderes klarmachen, was für
die richtige Beurteilung unbedingt notwendig ist. Bei der oft wiederholten Erzählung von
dem Sdiicicsal der Mendel’schen Gesetze kommt leicht der Eindruck zustande, daß das
„Vergessen“ der Gesetze eigentlich ganz zufällig gewesen sei. Mendel hatte über seine
Forschungen im Naturforschenden Verein in Brünn berichtet, und in dessen Berichten
ist seine Abhandlung publiziert worden. Selbstverständlich ist das eine ganz entlegene
Zeitschrift, die selten jemand in der zünftigen Wissenschaft in die Hand nimmt. Es kam
hinzu, daß Mendel selbst später aus äußeren Gründen für die Wissenschaft verstummte;
so konnte man meinen, alles sei übersehen und vergessen worden. In Wirklichkeit war
das aber durchaus nicht so, und auch das hat Correns ans Licht gebracht. In der Familie
des Münchener Botanikers Naegeli, mit der Correns verwandt war, hatte sich der um¬
fangreiche Briefwechsel erhalten, den Mendel mit letzterem über seine neuen Befunde
geführt hatte; Correns gab ihn heraus. Damit zeigte sich nun, daß die Entdeckungen
Mendels durchaus vor das Forum der Wissenschaft gebracht und zugleich dem sach¬
kundigsten Mann vorgelegt worden waren, der sich damals auffinden ließ.

So haben wir die vorhin gestellten Fragen noch um einige zu vermehren.


Wie kam es, daß dieselben Entdeckungen, die 35 Jahre früher auf Naegeli
keinen besonderen Eindruck machten, im Jahre 1900 eine Sensation be¬
deuteten? Welches ist der Ansatz 1860 und derjenige nach 1900? Ich
denke: Mit diesen beiden Gruppen von Fragen haben wir die Position
gewonnen, die uns den Standort unserer Wissenschaft damals und heute
angeben wird.
Mendel begann nach seinen Angaben in den Briefen an Naegeli mit seinen Versuchen
um das Jahr 1856. Das Jahr 1859 ist wiederum eines der entscheidenden in der Biologie
des 19. Jahrhunderts, es ist das Erscheinungsjahr von Darwins Buch „On the origin of
species by means of natural selection“, und damit war die Diskussion um die Entstehung
der Arten wieder einmal in lebhafte Bewegung gebracht. Mendel stand also in der
ersten Phase seiner Arbeiten ganz entscheidend unter dem Einfluß eben dieser Fragen
nach den Ursachen der Artentstehung, und es ist nicht zu bezweifeln, daß darin einer
der Impulse zu erblicken ist, der seinem Unternehmen in der damaligen Zeit den
eigentlichen Rahmen verlieh. Das muß noch etwas genauer erläutert werden. Wenn
von der ,,Deszendenztheorie“ die Rede ist, vom ,,Darwinismus , von der ,,Abstam¬
mungslehre“, oder wie immer die Bezeichnungen sein mögen, dann sieht der „natur¬
wissenschaftlich gebildete Laie“, wenn man sich kraß ausdrücken will, eine Amöbe vor
sich, die sich in ihren Nachkommenschaften über Jahrmillionen hinweg zum höheren
Organismus und gar zum Menschen entwickelt. Wir wollen uns nichts darüber vor¬
machen, daß alle solche Stammbäume, die derartig weite Gattungsdifferenzen ein¬
schließen, reine Spekulationen sind, die jenseits jeden naturwissenschaftlichen Experi¬
mentes stehen.

Betrachtet man die Dinge nüchtern vom Standpunkt experimenteller


Möglichkeiten aus, dann enthält Darwins Theorie als entscheidenden In¬
halt die Vorstellung von der „Inkonstanz der Arten“. Und nur die dar-

193
FRIEDRICH OEHLKERS

aus abgeleiteten Fragen: Welches ist die Ursache für diese Inkonstanz?
und: Wie kann aus einer gegebenen Art eine andere, neue entstehen? ent¬
halten überhaupt Möglichkeiten genauerer experimenteller Prüfung. So
angesehen ist Mendels Ausgangsposition: „Wie verhalten sich zwei mit
verschiedenen Merkmalen versehene Pflanzen bei Kreuzung unter sich
und in ihrer Nachkommenschaft“ einer der möglichen Ansätze zur ex¬
perimentellen Prüfung der Darwin’schen Lehre. Vorgearbeitet wurde
dem schon in Immanuel Kants Anthropologie. Dort ist das Prinzip der
„Halbschlächtigkeit“, die Kreuzung von Menschenrassen, entscheidend
für die Entstehung neuer Typen, eine Auffassung, die vielfach verall¬
gemeinert wurde.
Weiterhin: Wenn wir die besondere Leistung Mendels charakterisieren wollen,
müssen wir uns klarmachen, daß dieser experimentelle Vorsatz keineswegs etwas Neues
war. Kreuzungsversuche, ,,künstliche Bestäubung“, ,,Hybridisation“, ,,experimentelle
Bastarderzeugung“ waren längst geübte Praktiken, und es lagen zu Mendels Zeit be¬
reits umfangreiche Werke über soldie Experimente vor: es seien allein die Namen
Koelreuter, Gärtner, Wichura und Naudin genannt, denen noch eine ganze Reihe weni¬
ger bedeutender angeschlossen werden könnten. Warum aber haben diese seine Vor¬
gänger die so berühmt gewordenen Bastardgesetze nicht gefunden? Worin lagen die
Unterschiede zwisdien ihm und den früheren Forschern?

An dem Beispiel Mendels läßt sich zeigen, eine wie ungeheure Bedeu¬
tung die Methode und vor allem die exakte methodische Vorbereitung
eines Experimentes besitzt. Experimentelles Arbeiten im Sinne eines
bloßen Herumprobierens braucht durchaus nicht zu einer Klärung des
aufgegebenen Sachverhaltes zu führen. Dann nämlich nicht, wenn die
experimentell herbeigeführten Bedingungen mehrdeutig sind. Gerade
hierdurch unterscheidet sich Mendels Arbeitsweise von der seiner Vor¬
gänger, und das sei im folgenden genauer geklärt.
Die sexuelle Fortpflanzung der höheren Pflanzen wird dadurdh eingeleitet, daß der
Blütenstaub, die Pollenkörner, auf die Narbe des Griffels gelangt. Im Zuge redit kom¬
plizierter Vorgänge erfolgt dann die Befruchtung des Eies durch einen männlichen Ga¬
meten im Inneren des Fruchtknotens, und aus einem befruchteten Ei geht wieder eine
neue Pflanze hervor. Es ist nun sehr einfach, in dieses äußere Gefüge des Befruchtungs¬
vorganges experimentell einzugreifen. Man kann bei einigermaßen großen Blüten leicht
den Griffel davor schützen, daß unbeabsichtigt Pollenkörner, eigene oder fremde, dar¬
aufgelangen, und man kann schließlich die erwünschten Pollen künstlich daraufbrin¬
gen. Dann freilich muß man es der Natur selbst überlassen, ob der eingeleitete Sexual¬
vorgang überhaupt zum Ziele kommt, und wenn, ob die daraus entstandene Pflanze
noch normal ist. Daß in der Natur hier von selbst Grenzen gesetzt sind, bedarf kaum
einer besonderen Erläuterung. Wenn im Frühsommer die Tannen blühen, dann wer¬
den ihre Pollenkörner dem Winde anvertraut. Das geschieht zuweilen in solchen Men¬
gen, daß sie in weiter Entfernung von ihrem Ausgangsorte bei Niederschlägen als
Schwefelregen zu Boden geschwemmt werden. Es ist also ganz sicher, daß es dann,
wenn weit und breit alles blüht, in einer an einem Tannenwald gelegenen Wiese wohl

194
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

keine Blüte gibt, deren Griffel nicht mit Tannenpollen bedeckt wäre. Und trotzdem
findet man dort nichts von Bastarden zwischen Tannen und Hahnenfuß oder zwischen
Tannen und Sauerampfer oder Heckenrosen! Diesen natürlichen Verhältnissen nun
sind die älteren Bastardforscher in ihren Experimenten nachgegangen. Sie glaubten
dann auch, bestimmte Gesetzmäßigkeiten gefunden zu haben, etwa solcher Art, daß
Bastarde zwischen Angehörigen zweier Gattungen unmöglich seien, daß Bastarde zwi¬
schen Angehörigen zweier Arten meistens zwar möglich, diese selbst aber steril seien,
und endlich, daß die Bastarde zwischen Varietäten zweier Arten zustande kämen und
auch fruchtbar seien. Den breitesten Raum nehmen die beschreibenden Darstellungen
von artifiziellen und natürlichen Bastarden zwischen Arten ein und die Frage, wie sich
die Nachkommenschaften derartiger Bastarde verhalten, blieb meistens unklar.

Hier griff nun Mendel mit seinen Vorbereitungen ein. Einmal wandte
er sich in seinen Hauptversuchen mit den Erbsen allein der Bastardie¬
rung von Varietäten („Sorten“) zu, er blieb also innerhalb der Art Pisum
sativum, der gewöhnlichen Erbse, und überzeugte sich davon, daß die
Bastardierung keine Anomalien im Fortpflanzungsverhalten zur Folge
habe. Sodann wählte er als Bastardeltern solche Typen aus, die sich in
möglichst einfachen, genau konstatierbaren und leicht abzugrenzenden
Merkmalen unterschieden. Gelbe und grüne Samenfarbe, runde und
kantige Samenform, violette und weiße Blüten, lange und kurze Inter¬
nodien. Er kreuzte diese zunädist untereinander und dann zog er Nach¬
kommenschaften von diesen Bastarden dadurch auf, daß er sie selbst
bestäubte. Bei der Beurteilung der Resultate seiner Versuche führte er
wiederum eine ganz und gar entscheidende neue Arbeitsweise ein, die
keiner seiner Vorgänger verwandt hatte; er arbeitete mit großen Men¬
gen von Nachkommen und zählte die 7ypen, die in den Nachkommen¬
schaften auftauchten, genau aus.
Das waren Mendels Methoden, und das Resultat waren die nach ihm
benannten Gesetze. Wie grundstürzend diese methodische Neuerung des
Auszählens war, zeigt sich darin, daß einer von seinen Vorgängern, Nau-
din, höchstwahrscheinlich die empirischen Befunde der Spaltungsgesetze
bereits besaß; er hat sie indessen nie exakt ausformulieren können, weil
er nicht auf die entscheidende Idee gekommen war, zu zahlen. Den
Inhalt der Gesetze muß ich hier im wesentlichen als bekannt voraussetzen,
wir können sie nur in ganz knapper Form in die Erinnerung zuruckrufen.
Von den vier sogenannten Mendel’schen Regeln können drei als allgemeingultige
Gesetze bezeichnet werden. Mendels Regel der Dominanz, die in ihrer ursprünglichen
Form nidr. allgemein gill, nehmen »ir vorweg Sie bez.ehl auf
ersten Filialgeneration einer Bastardierung und sagt aus, daß in dieser stets alle n
das MeLmaf eines Elters, das dominante, sichtbar sei, während das des anderen, das
teshve, verschwinde. Heute wissen wir, daß es alle Übergänge zwischen dominanter
und intermediärer Ausbildung der Merkmale gibt. , , r ,i r j- t
Das erste Gesetz ist das der Uniformität. Es bezieht sich ebenfalls auf die erste
Generation der Bastarde und sagt aus, daß die aus einer Kreuzung hervorgegangenen

195
FRIEDRICH OEHLKERS

Hybriden untereinander „uniform“, also völlig gleichförmig sind. Von besonderer Be¬
deutung \vird das Gesetz, wenn es unter Einsdiluß der Reziprozität ausgesagt wird.
Das heißt, wenn auch die Bastarde der Kreuzung A9 X B(J und B^ X gleichförmig
sind, also unabhängig davon, ob die Merkmale durch die Mutter oder den Vater über¬
tragen werden.
Das zweite Gesetz ist das der Spaltung. Es bezieht sich auf die zweite Filialgenera-
tion eines Bastardes von Eltern, die sich in einem Merkmalspaar unterscheiden. Diese
Generation wird durch Selbstbestäubung oder Geschwisterkreuzung der Bastardgenera¬
tion gewonnen. In diesem Gesetz wird ausgesagt, daß die Merkmale der Eltern in
voller Reinheit wieder auftreten, und zwar werden sie die des einen Elters, die des
Bastardes und diejenigen des anderen Elters in Zahlenverhältnissen reproduzieren, die
dem theoretischen Wert von 1:2:1 entsprechen. Dabei ist weiterhin bemerkenswert,
daß die Nachkommen der den Eltern gleichenden Pflanzen nicht mehr spalten, sondern
konstant sind. Wird also von der Nachkommenschaft eines Bastardes eine ganze Popu¬
lation aufgezogen, dann muß danach der Gehalt an Bastardpflanzen im Laufe der
Generationen ständig zurückgehen.
Das dritte Gesetz ist das der unabhängigen Kombination. Es bezieht sich auf Bastard¬
nachkommenschaften, deren Eltern sich in mehr als einem Merkmalspaar unterscheiden.
Es zeigt sich, daß die in den Eltern gegebene Kombination von Eigenschaften nicht ge¬
meinsam, sondern unabhängig voneinander dem Gesetz der Spaltung folgen, so daß
neue, in den Eltern nicht vorhandene Zusammenstellungen von Eigenschaften mög¬
lich sind.

Wenn man nun diese Resultate auf das Artbildungsgeschehen an¬


wendet, dann zeigen sie eindeutig, daß durch bloße Bastardierung keine
neuen konstanten Typen erzeugt werden können, sondern höchstens neue
Kombinationen. Es spalten die spaltenden ständig zugunsten der nicht¬
spaltenden neue nichtspaltende oder Elterntypen ab. Darauf hinzuwei¬
sen war auch die erste Reaktion von Naegeli, der sofort einen noch nach
vielen Jahrzehnten wiederholten Einwand machte: Varietätsbastarde
sagen in ihrem Verhalten nichts über Artbastarde aus, bei diesen liegen
seiner Meinung nach völlig andere Verhältnisse vor. Er beurteilte die
Spezieshybriden freilich nach einem - wie er damals nicht wissen konnte-
ganz anormalen Objekt, der Gattung Hieracium. Sofern man indessen
die Artbastarde unter dem Gesichtspunkt der Mendel’schen Gesetze an¬
sah, was Mendel tat, dann kann auch daraus kein neuer konstanter Typ
erwachsen.
Waren nun alle diese Versuche negativ ausgelaufen? Im Sinne des
Darwinismus durchaus! Es war ein Kennzeichen für das Genie Mendels,
daß er merkte, daß er ein ganz anderes Wissenschaftsgebiet neu erschlos¬
sen hatte. In der Interpretation seiner Versuche spridit er dem Sinn nach
deutlich folgendes aus: Jedes Außenmerkmal, das in einem Versuch fa߬
bar ist, wird von einer Anlage hervorgerufen, die sich in den Zellen des
Organismus befindet. In der Befruchtung werden die Anlagen beider
Eltern vereinigt, um vor der Bildung der Gameten des Bastardes wieder

196
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

getrennt und im Verhältnis von 1 ; 1 auf die Gameten verteilt zu werden.


Durch die zufällige Kombination von Gameten mit verschiedenen An¬
lagen wird das in dem Spaltungsgesetz konstatierte Zahlenverhältnis
unter den Nachkommen erzeugt. Das ist eine Theorie, die um eine Gene¬
ration, um mehr als 30 Jahre, über seine Zeit hinausgriff. Es ist die erste
großartige Antwort, aus exakten Experimenten gewonnen, auf die Frage
nach der Vererbung. Damit hat Mendel selbst die Schwelle des 20. Jahr¬
hunderts erreicht. Das, was man die „Mendelforschung“ nennt, die Aus¬
wertung der Gesetze, begann erst 1900. Damit haben wir zugleich auch
nun unsere eingangs gestellte Frage beantwortet, welches der Ansatz im
Jahre 1860 war, und ebenso, was fand und was überlegte Mendel bei
seinen Experimenten.

Mendels eigenes Werk schließt damit ab. Er hat es bis in eine Tiefe der Erkenntnis
vorgetrieben, die in seiner Zeit nicht verstanden werden und die er selbst auch mit
noch so viel Arbeit nicht überschreiten und erweitern konnte. Das einzige, was er allen¬
falls noch hätte leisten können, wäre der Nachweis für die Allgemeingültigkeit seiner
Gesetze gewesen, aber prinzipiell Neues über seine Einsichten hinaus hätte er bei dem
Stande der damaligen Biologie gar nicht erwerben können! Mendel schwieg in der Tat
auch als Forscher nach 1867. Äußerlich angesehen war es ein Zufall; er wurde zum Abt
seines Klosters gewählt, und die Verwaltungsarbeit, vor allem ständige Mißhelligkeiten
mit der österreichischen Regierung, nahmen seine Arbeitskraft völlig in Anspruch. Sehen
wir aber genauer zu, so hat ihm sein Geschieh alles zu sagen vergönnt, was er über¬
haupt sagen konnte, und die eine kurze Abhandlune: aus dem Jahre 1866 in der Knapp¬
heit von 44 Seiten hat den einsamen Augustinerpater unter die größten Entdecker in
der Geschichte der Biologie eingereiht.

1900 war eine völlig andere Situation in der Biologie als 1865/66. Ge¬
wiß war die Abstammungstheorie, die Frage nach der Artbildung, nicht
weniger aktuell wie zu Mendels Zeit, und es ist typisch, daß die Wieder¬
entdeckung der Mendel’schen Gesetze bei einem der drei Wieder-
entdecker,^ bei dem Holländer de Vries, aus Fragestellungen heraus¬
gewachsen ist, die sich auf eine experimentelle Bearbeitung der Artbil¬
dung erstreckten. Carl Erich Correns hingegen hatte in seinen Experi¬
menten mit völliger Präzision die Vererbungsfrage gestellt. Das lag
1900 wesentlich näher als 1860 und war auch schon mehrfach aus¬
gesprochen worden. Ich erinnere nur an die 'Arbeiten der Zoologen Weis-
mann und Boveri. Man hatte inzwischen eine umfassendere Kenntnis der
Entwicklungsgeschichte, vor allem der Zytologie und Fortpflanzungs¬
lehre gewonnen. Daraus ließ sicJi der Zusammenhang zwisdien Fort¬
pflanzung und Vererbung ungleich viel klarer formulieren. Fortpflanzung
ist die Fähigkeit der Lebewesen, Keime von ihrem Körper abzustoßen,
aus denen neue Organismen, ihnen gleich, heranwachsen können. Daß es
Keime gibt, war seit dem Altertum bekannt, was sie sind, wurde erst im

197
FRIEDRICH OEHLKERS

letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts deutlich. Damals lernte man:


Keime bestehen aus Zellen, und bei allen Fortpflanzungsvorgängen, bei
denen ein Sexualvorgang mitwirkt, müssen es sogar einzelne Zellen sein,
die dabei im Spiele sind. Und diese Keimzellen sind demnach die Ver¬
bindung zwischen den beiden Generationen, zwischen den Eltern und
den Kindern.
Als nun 1900 die Mendel’schen Gesetze wiederentdeckt waren und als
auch Mendels genau durchdachte Erklärung der Gesetzmäßigkeiten akzep¬
tiert war, lag die weitere Forschungsarbeit klar vor Augen. Es war die
Frage nach der Zelle als dem Vererbungsträger, die nun gestellt und so¬
gleich spezifiziert wurde. Schon längst hatte der Zoologe Boveri die
Theorie formuliert, daß dafür als Zellanteil im wesentlichen der Zell¬
kern in Frage käme, und bereits 1903 zielten der Amerikaner Sutton und
auch Boveri auf die Chromosomen im Kern als auf die Mechanismen der
Mendel’schen Gesetze. Das war die Grundposition nach dem Jahre 1900,
und wir müssen nun Zusehen, wie sich damit die Arbeit veränderte und
welche Schlüsse man dann aus den neuen empirischen Befunden ziehen
konnte. Was also geschah nach 1900?
Eine im ersten Jahrzehnt nach 1900 dringende Aufgabe war es, fest¬
zustellen, daß den Mendel’schen Gesetzen tatsächlich eine ganz breite All¬
gemeingültigkeit zukommt: vom Infusor bis zu den Blütenpflanzen und
Wirbeltieren. Das ist freilich noch nichts Neues und Entscheidendes. Für
die eigentlich neue Grundfrage der Vererbungsforschung des 20. Jahr¬
hunderts ist es durchaus nicht allein wichtig, daß die Gesetze überhaupt
gelten, sondern darüber hinaus noch, wie sie gelten, das heißt, es wurde
notwendig, ihren Geltungsbereich nach allen Seiten hin abzugrenzen.
Die aus diesem Bestreben entstehenden Fragen werden freilich nur dann
sinnvoll, wenn man ein Bezugssystem hat, in das sich die Antworten
einordnen lassen. Dieses Bezugssystem ist in der Tat vorhanden: es ist
der Chromosomenmechanismus, so wie er sich in jedem Entwicklungs¬
ablauf vollzieht. Auf diesen bezogen wird die Frage nach der Geltungs¬
weise der Mendel’schen Gesetze, also auch diese selbst, zum methodischen
Mittel. Die Auskunft, die wir auf so gestellte Fragen erhalten, vermag
einen Beweis der Chromosomentheorie der Vererbung zu liefern.
Um das näher zu erläutern, ein paar Worte über den Chromosomenmechanismus.
Chromosomen sind Fäden, die sidi in den Zellkernen vorfinden, stets in ein und der¬
selben konstanten Zahl, je nach den Arten verschieden. Diese feste Anzahl besteht aus
je zwei einander gleidienden Paaren von - wie man sich ausdrückt - homologen Chro¬
mosomen. Ein solches Chromosomenarrangement wird nun dadurch, daß jedes einzelne
sich der Länge nach teilt, völlig unverändert bei jeder Zellteilung an die Tochterzellen
weitergegeben, so daß es bei dem vegetativen Wadistum und bei jeder vegetativen
Fortpflanzung in allen Zellen identisch bleibt. Allein bei der Gametenbildung der

198
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

höheren Pflanzen und Tiere tritt eine besondere Teilung ein, bei welcher die beiden
Homologen voneinander getrennt werden, so daß dann in den Gameten nur noch die
Anzahl n vorhanden ist. Konjugieren dann die meist als Eier und Spcrmatozoiden aus¬
gebildeten Gameten in einem Sexualvorgang, dann verschmelzen zunächst die Zell¬
körper, sodann auch die beiden Kerne. Dabei verschmelzen die Chromosomen nicht mit¬
einander, sie bleiben in dem neuen Konjugationskern voneinander getrennt. Dieser
besitzt also wieder die Anzahl 2 ti. Ein Ei ist mit der Konjugation entwicklungsfähig,
und der neue Organismus hat wieder von jeder Chromosomensorte ein Paar.

Auf dieses Widerspiel von Gametenkonjugation und Meiosis im Ent¬


wicklungsablauf der Organismen läßt sich der Ablauf der Mendel sehen
Gesetze zunächst als Hypothese beziehen. Mendel sowohl wie die Wie¬
derentdecker hatten angenommen, daß in der Zelle „Anlagen für die
Außenmerkmale vorhanden sind. Nimmt man an, daß je zwei einander
entsprechende Anlagen, so wie die für die rote und weiße Blüte, auf
einem Paar homologer Chromosomen liegen und irgendein anderes
Paar von Anlagen, Samenfarbe oder Internodienlänge, auf einem an¬
deren Paar von Chromosomen, so läßt sich der Ablauf der Mendel sehen
Gesetze aus dem Verhalten der Chromosomen erklären.
Hier sei eine kurze wissenschaftstheoretische Überlegung eingeschaltet; mit der
Chromosomentheorie der Vererbung ist eine äußerst interessante methodische Erwei¬
terung vollzogen. Der Mendel’sche Kreuzungsversuch benutzt einen funktionellen Ab¬
lauf, um eine bestimmte Bedingung experimentell zu setzen und im Anschluß daran die
Folgen zahlenmäßig festzustellen. Die Chromosomenhypothese versucht, diesen Ablau
mit einer Zellstruktur und deren morphologisch erkennbaren Veränderungen in ursa
liehen Zusammenhang zu bringen. Sie bezieht also das physiologische Experiment un¬
mittelbar auf anschauliche Gegebenheiten. Darin haben wir
methodischen Erweiterungen in der Biologie des ausgehenden 19. und des -0. Jahr¬
hunderts zu erblidcen, die nirgends mit solcher Eleganz gehandhabt wurde wie in c^er
Erblichkeitsforschung und dort besonders in einem ihrer f^
genetik. Und für denjenigen, der diese Wechselbeziehung grundsätzlich erfaßt hat, daß
Ls dem Formablauf des Chromosomensystems auf die Geltungsweise der Mendel sehen
Gesetze geschlossen werden kann und daß umgekehrt beobachtete Anomalien in den
Nachkommenschaftszahlen wiederum bestimmte Unregelmäßigkeiten in den C ro
somenbildem erwarten lassen, für den ist dieser Teil der Mendelforschung des letzten
Halbjahrhunderts ein einheitliches und leicht übersehbares Gefüge.

Wir gehen nun dazu über, die eigentliche exakte Beweisführung dieser
vorerst als Hypothese gedachten Beziehung zu schildern. Sie laßt sich
dadurch erreichen, daß sich auf Grund der Chromosomentheorie ganz
bestimmte Aussagen über den Geltungsbereich der Gesetze -achen las¬
sen Diese Aussagen ergeben überall einen experimentellen Ansatz. Wii
können das Ganze in 5 klaren Thesen zusammenfa^en:
1 Der Primat des Kernes bei der Vererbung. Dieser Satz setzt vor¬
aus’ daß das Gesetz der Uniformität in der Erweiterung der Rezipro¬
zität unbegrenzt gilt. Ich möchte zu dieser ersten These hier sogleich die

199
FRIEDRICH OEHLKERS

Erläuterung geben. Dieses Uniformitätsgesetz war faktisch vor der


eigentlichen Wiederentdeckung schon wieder einsichtig geworden und
bildete die Grundlage für Boveris Annahme der karyotisdhen - der
Kern-Vererbung.
Der Grundgedanke dabei war folgendermaßen. Eine normale Zelle
hat als lebende Bestandteile das Plasma, den Kern und die Pflanzen¬
zellen, dazu noch die Plastiden. Von den Gameten sind in diesem Sinn
als normale Zellen allein die Eizellen aufzufassen: sie besitzen alle drei
Bestandteile. Die Spermatozoiden hingegen bestehen nur aus einem
Kern. Daraus folgt, daß überall dort, wo das Gesetz der Uniformität,
und zwar in der Erweiterung als Reziprozitätsgesetz gilt, allein der in
beiden Gameten vorhandene Zellanteil die Erbanlagen enthalten kann,
und das ist der Kern! Wir können nun für die erste Zeit der Mendel¬
forschung wenigstens eine weitgehend allgemeine Geltung des Gesetzes
auch durchaus unterstellen. Erst sehr viel später haben sich klare Aus¬
nahmen konstatieren lassen, die dann ganz und gar anderer Interpreta¬
tion bedurften. Dort aber, wo es gilt, ist nun weiter nach Beweisen nun¬
mehr für die Chromosomentheorie zu suchen.
2. Sofern die Chromosomentheorie zutrifft und man also je zwei ein¬
ander entsprechende Erbanlagen auf homologen Chromosomen lokali¬
siert anzunehmen hat, muß das Gesetz der Spaltung unbegrenzte Gül¬
tigkeit haben. Die Spaltung beruht auf dem Widerspiel der homologen
Chromosomen, die bei jeder Meiosis getrennt werden.
3. Nimmt man an, daß die Reduktionsteilung der Mechanismus ist,
wodurch die Spaltung der Anlagen und ihre Verteilung im Zahlenver¬
hältnis von 1 : 1 auf die Keimzellen erfolgen, dann muß sich diese 1:1-
Spaltung unmittelbar an erblichen Merkmalen der Keimzellen kennzeich¬
nen, beziehungsweise, sofern sie ohne erneute Konjugation zu neuen Or¬
ganismen heranwachsen, auch an den Merkmalen dieser in demselben
Verhältnis konstatieren lassen. Insbesondere muß sich zeigen lassen, daß
auf die vier aus einer einzelnen Meiosis hervorgehenden Gonenzellen
die Anlagen in je 2 und 2 aufgeteilt sind. Damit wäre die erste Teilung
der Meiosis als Ort der Anlagenspaltung eindeutig festgelegt, wie Cor-
rens schon 1902 mit voller Klarheit formulierte.
4. Die Geltung des Gesetzes der Spaltung ist mit These 2 und 3 auf
das Widerspiel von Konjugation und Meiosis beschränkt, das heißt auf
die Sexualität und sexuelle Fortpflanzung. Bei vegetativer Fortpflanzung
werden die Keime durch eine gewöhnliche Zellteilung mit mitotischem
Kernverhalten abgegrenzt. Dabei werden sämtliche Chromosomen der
Länge nach gespalten, und es erhält jeder Tochterkern genau den iden¬
tischen Chromosomensatz wie die Ausgangsform. Auch sofern der Elter

200

\
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

ein Bastard ist, gilt der Satz: Bei vegetativer Fortpflanzung gibt es keine
Mendelspaltung.
5. Das Gesetz der unabhängigen Kombination kann unter dem Ge¬
sichtspunkt der Chromosomentheorie durch die Lagerung je zweier ein¬
ander entsprechender Erbanlagen auf verschiedenen Paaren von homo¬
logen Chromosomen und deren Verteilung in der Meiosis verständlich
gemacht werden. Damit ist aber zugleich eine bestimmt definierbare
Grenze für das Gesetz gegeben: Es können nur so viele Paare von Erb¬
faktoren unabhängig voneinander umkombinieren, als die haploide Zahl
der Chromosomen beträgt. Das Gesetz der unabhängigen Kombination
ist also durch die Zahl der haploiden Chromosomen begrenzt.
Der in diesen 5 Thesen zusammengefaßte Ansatz, unmittelbar experimentell angreif¬
bar, erlaubte eine exakte Beweisführung für oder gegen die Chromosomentheorie. Es
ist leicht begreiflich, daß man diese Thesen hier im Rüdcblidc aus dem Ablauf der
Forschung klar und schematisch ableiten kann. Allein Correns hat es vermocht, die
These 3 sdion in der Voraussicht in voller Ausführlichkeit bereits 1902 exakt zu formu¬
lieren. Im übrigen ist in diesen Thesen keineswegs alles beschlossen, was im Rahmen
der ,,Mendelforschung“ gesdiehen ist. Vielmehr sind sehr vielfältige Arbeitsvorhaben
gleichzeitig verfolgt worden. Die Chromosomentheorie der Vererbung stellt nur einen
einzelnen, freilich besonders konsequenten und in seiner Architektur ganz klar über¬
sehbaren Teil dar.
Im folgenden soll an einzelnen Beispielen gezeigt werden, welche Bahnen die Be¬
weisführung einsdilug und welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden waren. Daß es
solche gab, geht schon daraus hervor, daß bis zum Ende der zwanziger Jahre dieses
Jahrhunderts Widersprüche gegen die Chromosomentheorie geäußert wurden, und erst
etwa 10 Jahre später konnte man sie in ihren Grundzügen als bewiesen ansehen.
Über den in der ersten These enthaltenen Geltungsbereich des Gesetzes der Uni¬
formität habe ich schon bei der Formulierung gesprochen. Ich habe sie vorangestellt;
die Einsicht in dieses Gesetz war einer der Anstöße zur Aufstellung der Chromosomen¬
theorie und anfänglich wurden auch keine Ausnahmen davon bekannt. Als diese den¬
noch später auftauchten, war die Chromosomentheorie als solche bereits so gefestigt,
daß hieraus keine prinzipiellen Zweifel mehr erwachsen konnten. Die Ausnahmen konn¬
ten zusammengefaßt einer anderen Interpretation zugeführt werden.

Anders war es mit dem in den Thesen 2—4 eingefangenen Geltungs¬


bereich des Gesetzes der Spaltung. Hier ist erst nach langer und mühe¬
voller Arbeit endgültige Klarheit geschaffen worden; denn anfänglich
wurden sehr viele Fälle bekannt, in denen das Gesetz der Spaltung an¬
scheinend nicht zutrifft. Einer nach dem anderen wurde aufgearbeitet.
Und dabei war es typisch, daß alle diese Fälle, nachdem man die Ur¬
sache der Abweichung von dem erwarteten Spaltungseffekt geklärt hatte,
nunmehr rückwärts die Geltung des Gesetzes um so deutlicher bestätigen.
Gleichzeitig wurden im Zuge aller dieser Untersuchungen auch neue
Phänomene entdeckt.

201
FRIEDRICH OEHLKERS

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel erarbeitete der dänische Forscher Nilsson-


Ehle. Er stellte fest, daß bei Kreuzung von rot- und weißkörnigem Weizen in der
Nachkommenschaft des Bastardes anscheinend die Spaltung ausblieb, mindestens so
sehr von viel zu vielen rotkörnigen Pflanzen gestört war, daß von einer einfachen
3 : 1-Spaltung keine Rede sein konnte. Nach sorgfältiger Arbeit ließ sich erkennen,
daß die rot- und weißkörnigen Weizenrassen, die rein äußerlich betrachtet nur durch
ein Merkmalspaar unterschieden sind, im genetischen Gefüge diese Diö’erenz durch drei
Anlagenpaare vererben, so daß in der Nachkommenschaft eines Bastardes überhaupt
erst auf 63 rotkörnige Pflanzen 1 mit weißen Früchten zu erwarten war. Tatsädilich
wurden die entsprechenden Pflanzen bei hinreichend großer Nachkommenschaftszahl
auch gefunden. Damit war geklärt, daß in diesem Falle das Gesetz der Spaltung völlig
exakt zutrifft und zugleich dabei die neue Einsicht erworben, daß einem anscheinend
einfachen Unterschied in den Außenmerkmalen keineswegs auch immer eine einfache
Differenz in den Anlagen zu entsprechen braucht. Es ist von besonderem Interesse, daß
es schon Mendel selbst in seiner Abhandlung von 1868 klar ausspricht, er erwarte
scheinbare Unstimmigkeiten für sein Spaltungsgesetz aus zu geringen Nachkommen¬
schaften polyfaktoriell spaltender Bastarde.

In dem Weizenbeispiel lag also der Fall so, daß die Unstimmigkeit
nur eine scheinbare war, das Gesetz also gilt. Das zweite Beispiel, das
sehr viel von sich reden machte, bezieht sieht auf einen anderen Fall, in
welchem die Bastardspaltung tatsächlich aufgehoben wurde, der aber
ebensowenig als Gegenbeweis für die These von der unbegrenzten Gül¬
tigkeit angesehen werden kann.
Zum Zwecke gärtnerischer Züchtungen waren in dem wohlbekannten Botanischen
Garten in Kew in England zwei Primelarten: Primula floribunda und Primula verti-
cillata miteinander gekreuzt worden. Das Resultat war ein Bastard, der ein ungefähr
intermediäres Aussehen zwischen den beiden Elternarten besaß, sich aber, wie so häu¬
fig die Artbastarde, als steril durch untaugliche Keimzellen erwies. Nach vielen ver¬
geblichen Versuchen bekam man doch einige wenige Nachkommen aus Selbstbestäu¬
bungen des Bastardes; diese glichen aber dem Elternbastard durchaus, waren erstaun¬
licherweise vollfertil und reproduzierten von da ab wie eine normale Pflanze ständig
den Bastardtypus, dazu noch schön ansehnlich und besonders kräftig. Die neue Primel,
die heute in allen Gewächshäusern gezogen wird, erhielt den Namen Primula Kewen-
sis. Was war da geschehen? Ist wirklich aus zwei Arten eine dritte neue konstante gewon¬
nen? Und nichts mehr von dem Gesetz der Spaltung? Besteht wirklich ein grundsätzlicher
Unterschied zwischen Rassen- und Artbastarden, wie schon Naegeli annahm? Nun, hier war
wirklich etwas geschehen! Als man die drei Formen, die beiden Elternarten und den neuen
Typ, die Primula Kewensis, genauer untersuchte, stellte sich heraus, daß letztere die
doppelte Chromosomenzahl gegenüber den Elternarten besaß. Als man den ursprünglich
sterilen Bastard noch einmal wiederholte und ebenfalls untersuchte, stellte sich heraus,
daß dieser die gleiche Chromosomenzahl besaß wie die Ausgangsformen. Doch vertragen
sich die Erbelemente der beiden Typen Pr. floribunda und Pr. verticillata nicht mit¬
einander. Sie geben zwar einen Bastard, doch ist in diesem Bastard die Meiosis ge¬
stört, die Chromosomen paaren sich nicht und die Gonen, die Keimzellen, sterben nach
einer unregelmäßigen Meiosis ab. Wenn nun dabei die Meiosis jedoch einmal so un¬
regelmäßig ist, daß überhaupt keine Reduktion der Chromosomenzahl mehr erfolgt,
dann können die Keimzellen wieder funktionieren; und wenn dann zufällig zwei

202

>
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

solche und ^-Keimzellen Zusammentreffen, dann wird in den Nachkommen die


Chromosomenzahl verdoppelt. Damit besitzt zugleich jedes floribunda-Chromosom
ein zweites ihm gleiches, und jedes verticillata-ChTomosom ebenfalls ein zweites ihm
gleiches. So können diese identischen Paare miteinander konjugieren, und mit einem
Schlage ist die Meiosis wieder normal durchführbar. Daß nun keine Spaltung mehr
zustande kommt, ist selbstverständlich; denn jeder Gamet enthält nun exakt alle
beiden Genome, deren Auseinanderweichen in einem normalchromosomigen Bastard
gerade das Gesetz der Spaltung hätte in Erscheinung treten lassen müssen. Also weil
im Zuge der Bastardierung eine Neuregulation der chromosomalen Verhältnisse statt¬
gefunden hat derart, daß die chromosomale Heterozygotie aufgehoben ist, obwohl die
Heterozygotie der Genome bleibt, darf gerade nadi der Chromosomentheorie keiner¬
lei Spaltung auf treten. Das PriTwii/a-Beispiel, das zunächst ein Einwand schien, ist nach
seiner Aufklärung eine um so deutlichere Bestätigung geworden.

Es sind im Laufe der 50 Jahre viele solcher Beispiele bearbeitet worden,


und es haben sich stets analoge Antworten ergeben. So können wir nun die
empirischen Befunde zur Verifikation der These 2 folgendermaßen zu¬
sammenfassen; Das Gesetz der Spaltung gilt überall dort unbegrenzt,
wo im Zuge der Bastardierung keine Veränderungen im entwicklungs-
geschiditlichen Ablauf des Chromosomenmechanismus erfolgt. Geschieht
das dennoch, so läßt sich aus der Art der Abweichung im Chromosomen¬
verhalten zugleich auch die Weise der Veränderung im Verhalten des
Spaltungsgesetzes vorausberechnen. Dieser Satz enthält im Grunde mehr
als eine Bestätigung des Gesetzes der Spaltung. Wir werden spätersehen,
daß wir mit dieser Konstatierung schon den Grund zum zweiten Teil der
Chromosomentheorie gelegt haben.
Die dritte These, welche den Ort der Spaltung festlegt und erwarten
läßt, daß die Gameten für ein einfaches Anlagenpaar das Zahlenverhält¬
nis von 1 : 1 aufweisen, hat im Laufe der Zeit eine besonders klare und
schöne Bestätigung gefunden. Correns hatte, wie oben schon erwähnt, die
Frage bereits 1902 in genauester Formulierung gestellt, doch selbst nicht
experimentell aufgelöst. Bei Mais und Oenothera findet sich faktisch eine
1 : 1-Spaltung unter der Voraussetzung, daß man innere Merkmale be¬
achtet.
Widitiger vielleicht noch als der unmittelbare Nachweis der 1 • 1-Spaltung is die
von Correns stets angemeldete Forderung nach einer Tetradenanalyse, das heißt de
Nachweis des Spaltungsverhältnisses in den vier Zellen, die als Abkömmlinge einer
172 entstanLn waren. Correns selbst hat es mit Blutenpflanzen versuAt Es
gibt eine südamerikanische Pflanze, Salpiglossis mit Namen, bei der die '^'^r Po
Lrner die aus einer Pollenmutterzelle entstanden sind, aneinander hangen bleibe
Wenn man diese zu einer isolierten Bestäubung verwendet und dabei ein Spaltu g
^rhältnis von 2 : 2 feststellt, dann ist als Ort der Spaltung die erste meiotische TeG
lung genau festgelegt. Der Anregung von Correns folgend haben es Freunde und Schu^
1er von ihm mit voLr Präzision bei Pilzen und Moosen erreicht, und neuerdings nach
dem Tode von Correns ist es auch mit dem von ihm gewählten Objekt Salptglossis

gelungen.

203
FRIEDRICH OEHLKERS

Die vierte These ist leicht zu beantworten: es gibt keine vegetative Spal¬
tung! Alle Bastarde sind in ihrem vegetativen Habitus völlig einheitlich,
genau so wie eine Ausgangsform. Alle Einzelteile eines vielzelligen Or¬
ganismus entstehen aus Zellteilungen, die alle mit mitotischen Kern¬
teilungen verbunden sind. Würde irgendwie bei einer mitotischen Tei¬
lung eine Spaltung im Sinne der Mendel’schen Gesetze entstehen können,
dann müßten sich diese an dem vegetativen Körper eines Bastardes auf¬
finden lassen. Das ist nun nicht der Fall. Anschaulicher freilich ist es,
wenn eine vegetative Fortpflanzung eingeschaltet ist, wie bei unzähligen
unserer Garten- und Kulturpflanzen. Alle Tulpen, Hyazinthen, Geor¬
ginen, Rosen, Äpfel, Birnen sind hoch-heterozygot, sie werden stets vege¬
tativ vermehrt, und nie in unzähligen Generationen kommt eine Spal¬
tung vor.
Die fünfte These, von der begrenzten Gültigkeit des Gesetzes der unab¬
hängigen Kombination, ist absichtlich an das Ende dieser Erörterung gestellt
worden. Das Zutreffen der in den anderen vier Thesen geforderten ex¬
perimentell aufweisbaren Ereignisse war eine erwünschte Bestätigung
für die Chromosomentheorie. Man konnte also danach beruhigt sagen:
Nun gut, es ist so, die Chromosomen sind die Träger der Erbanlagen.
Neues indessen über diese Einsicht hinaus wurde damit nicht gewonnen.
Das geschah tatsächlich erst, als man das Gesetz der unabhängigen Kom¬
bination einer näheren Betrachtung seines Geltungsbereiches unterwarf.
Es war zu erwarten, daß nicht alle erblich gesteuerten Merkmale einer
Pflanze oder eines Tieres unabhängig voneinander kombiniert werden
können, daß vielmehr dann, wenn die Zahl der Anlagen die Zahl der
Chromosomen übersteigt, auch je zwei oder mehr auf einem Chromosom
liegen müssen. Es ist anzunehmen, daß diese dann völlig gemeinsam in
jedem Versuch manövrieren und sidi wie eine Erbanlage verhalten. Der
erste, der ein solches Verhältnis faktisch auffand, war Correns bei seinen
Levkojenkreuzungen. Dabei stellte sich dann freilich sogleich eine be¬
sondere Schwierigkeit ein: Wie kann man entscheiden, ob solche - wie
man sie später nannte - gekoppelten Erbanlagen wirklich isoliert auf
einem Chromosom liegen, oder ob es nicht doch nur ein und dieselbe An¬
lage ist, die nur die Eigenschaft hat, eine größere Anzahl von Außen¬
merkmalen gleichzeitig zu beeinflussen. Erst als Bateson und Punnet bei
Lathyrus odoratus und dann anschließend Morgan bei Drosophila das
Phänomen der partiellen Koppelung entdedct hatten und vor allem, als
Morgan eine beweisbare Interpretation dafür gefunden hatte, glückte ein
entscheidender neuer Schritt. In diesen Versuchen stellte sich heraus, daß
eine Koppelung nur in dem Sinne besteht, daß die zufallsmäßige Um¬
kombination weitgehend eingeschränkt ist, aber dennoch zustande kommt.

204
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

und zwar in Zahlenverhältnissen, die genau so festliegen und innerhalb


der Fehlergrenzen reproduzierbar sind wie die Mendelzahlen. Wegen
der besonderen Aktualität sei ein Zahlenbeispiel angeführt.

Die beste Methode, eine freie Kombination aufzuzeigen, ist der Nadiweis, daß die
vier Gametenklassen eines in zwei Merkmalen heterozygotisdien Bastardes im Verhält¬
nis von 1 : 1 : 1 : 1 auftreten. Ein Beispiel; Eine Antirrhinumpflanze von der Konsti¬
tution Del del E e besitzt die Gametensorten Del E, del e, del E und del e. Wird sie
mit der doppelt rezessiven Form del del e e rüdegekreuzt, dann müssen die vier
Gametenklassen phänotypisch sichtbar und in gleicher Anzahl auftreten; wir finden
hier 216 : 216 ; 206 : 212. Für diesen Fall trifft also das Gesetz der unabhängigen Kom¬
bination in vollem Umfang zu. Ein völlig anderes Ergebnis erhält man bei gekoppelten
Erbfaktoren. Das sei am Mais klargestellt. Eine ebenfalls doppelt heterozygotische
Pflanze von der Konstitution C c Sh sh zeigt nach der Rückkreuzung mit dem doppelt
rezessiven Vater die Klassen

^_h Csh c Sh c sh
c sh c sh c sh c sh

im Verhältnis 4032 : 149 ; 152 : 4035. Das heißt aber, daß die Faktorenkombination, die
derjenigen der Eltern unserer Bastardpflanzen entspricht, in der Fa bevorzugt wird,
daß die Austauschklassen zwar auch auftreten, aber in verminderter Anzahl.

Wollte und mußte man annehmen, daß diese partiell gekoppelten Erb¬
anlagen auf ein und demselben Chromosom gelagert sind, dann bedurfte
es weiter einer Vorstellung, auf welche Weise sie von einem zum anderen
Chromosom hinübergelangen können. Und dafür entwickelte Morgan
seine Hypothese von dem Segmentaustausch zwischen den homologen
Chromosomen. Dieses Phänomen wurde zunächst mit einem Laborato-
riumsausdruck als .Crossing over“ bezeichnet, der sich spater überall ein-
bürgerte, und erklärte den wechselnden Prozentsatz solcher Koppelungen
als Effekt der Entfernung der Erbanlagen voneinander auf den einze -
nen Chromosomen. So wurde die Theorie von der linearen Anordnung
der Erbanlagen auf den Chromosomen begründet, und die ersten Ghro-
mosomenkarin konstruiert. Zur endgültigen Sicherung dieser Konzeption
mußte nun rückwärts wieder die allein auf genetische Experimente begrün¬
dete Morgan’sche Hypothese vom „Crossing over in '''t ^'".omosomen
morphologie nachgewiesen werden! Das hat lange gedauert und war
dnerder schwierigsten für den Abschluß der Chromosomentheorie not¬
wendigen NachweL, ist aber heute ebenfalls erreicht. So g=lnng bei den
■■ fLten Obiekten vorweg bei Drosophila, und unter den Pflanzen
guns lg Nachweis daß sich alle bekannten Erbanlagen in eben
L^deHn^Gruppentlerbringen ließen, als der betreffende OrganUmus
■ Chromosomen Ltte. Man konstruierte die so berühmt gewordenen C

” HieTtan'ater von diesem somit erreiditen Punkt Rückschau, dann

205
FRIEDRICH OEHLKERS

ließ sich erkennen, daß die Beweisführung doch mit sehr großen expe¬
rimentellen Schwierigkeiten verbunden war, ja daß sie in Wirklichkeit
nur für zwei oder drei Objekte mit Sicherheit galt. Nichts schien aber so
dringend erforderlich, wie ein möglichst breiter Nachweis der Allgemein¬
gültigkeit. Auf dem Wege über die Konstruktion der Chromosomen¬
karten war sie nicht zu gewinnen. Die ganze Breite und Fülle der Er¬
scheinungen wurde erst dann erkennbar, als man in der sich nach und
nach ausbildenden Zytogenetik, dem Gebiet in der Erblichkeitsforschung,
in welchem unmittelbar genetische und chromosomenmorphologische Ge¬
gebenheiten aufeinander bezogen werden, ein neues Prinzip zur Anwen¬
dung brachte. Als Lehrsatz formuliert wurde es erst in meinen Arbeiten
von 1937, nachdem schon seit 1920 damit gearbeitet worden war. „Trifft
es zu, daß Struktur und Verhalten der Chromosomen in ursächlicher Be¬
ziehung zum Vererbungsgeschehen stehen, dann muß sich zeigen lassen,
daß jede morphologisch und physiologisch feststellbare Abweichung vom
Normalgeschehen im Chromosomenapparat, insbesondere in der Reduk¬
tionsteilung, zu ganz bestimmten Änderungen im genetischen Verhalten
der betreffenden Form führt.“
Durch diese experimentelle Ausweitung hat die Chromosomentheorie
der Vererbung erst wirklich ihre allgemeingültige Form erreicht. Es gibt
eine ganze Reihe ebenso eleganter wie anschaulicher Beweisführungen für
den eben angeführten Satz in unserer Wissenschaft, doch würde es zu
weit führen, noch auf weitere, wenn auch noch so interessante Einzel¬
heiten einzugehen.
Mit diesen Ausführungen ist der Chromosomentheorie der Vererbung
in der hier gegebenen Darstellung ein relativ breiter Raum gewährt
worden, obwohl sie der ohnehin am weitesten bekanntgewordene Teil
der allgemeinen Erblehre ist. Angesichts der Tatsache jedoch, daß dieser
zentrale Blöde der modernen Erblichkeitsforschung heute wieder ange¬
griffen ist, scheint es mir wertvoll, eine etwas eingehendere Einsicht in
die Art der Beweisführung zu vermitteln. Um unsere Übersicht nun noch=
zu vervollständigen, müssen wir im folgenden freilich etwas summari¬
scher verfahren.
Wir haben nun weiter zu fragen: ist das alles? Ist damit wirklich die
Ausgangsfrage nach der Zelle als Vererbungsträger endgültig und hin¬
reichend beantwortet? Ist alles Erbmaterial wirklich allein im Zellkern,
lokalisiert? Diese Frage verneint die sogenannte nicht-mendelnde Ver¬
erbung, wonach es in der Zelle noch außerkaryotisches Erbmaterial gibt..
Aber fällt das nicht mit Deutlichkeit aus dem Thema unseres Aufsatzes her¬
aus: es sollte doch von der Mendelforschung die Rede sein? Darauf ist zu
antworten: einmal läßt sich der Inhalt der nicht-mendelnden Vererbung;

206
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

nur mit Hilfe eines der Menderschen Gesetze aufweisen, und zum an¬
deren läßt sich zeigen, daß im Organismus eine enge Zusammenarbeit
zwischen den „mendelnden“ Genen und dem außerkaryotischen Erbmate¬
rial besteht. Der Bereich der nicht-mendelnden Vererbung gehört also
auch hierher. Um ihn zu charakterisieren, müssen wir zu der Geltung des
Gesetzes der Uniformität in dem vorhin definierten Sinne der Reziprozi¬
tät zurückkehren; es gibt nämlich hierbei besonders unter den Pflanzen
exakt konstatierbare Ausnahmen. Die beiden Reziproken einer Kreuzung
sind nicht immer gleich ausgebildet.
Man muß freilich bei der Interpretation solcher Fälle, in denen das Reziprozitäts¬
gesetz nicht zutrifft, sehr vorsichtig sein. Es besteht die Möglichkeit, daß selbst
bei ein und derselben zwittrigen Pflanze durch die männlichen und die weiblichen Ga¬
meten verschiedenartige Kerne übertragen werden. Erst wenn das ausgeschlossen ist und
man dennoch bei völlig gleichartigen Genomen Verschiedenheiten in den Bastarden er¬
kennt, je nachdem, ob die Form A Mutter und B Vater oder ob die Form B Mutter und
A Vater ist, erst dann können wir schließen, daß noch ein anderes Zellelement daran
beteiligt ist und diese Verschiedenheiten hervorruft.

Auf diese Weise haben Correns, Renner und manche andere den Nach¬
weis führen können, daß bei den Pflanzen die Plastiden an der Ver¬
erbung beteiligt sind und im Anschluß ebenfalls wieder an Correns und
.. Wf.ttstpin haben zahlreiche Forscher den Nachweis für die Mitwirkung

Entfaltung.

durch eiue Kreuzung mit dem Sir. Wendland:


geeignete Plasma übertragen wird, kann sein

207
FRIEDRICH OEHLKERS

Wollen wir diese Hypothese auf Grund dessen, was wir bisher wissen,
verallgemeinern, so kann man sagen, die Manifestation eines Erbfaktors
wird durch das Plasma erlaubt, gefördert, verändert oder unterdrückt.
Und diese Eigenschaft des Plasmas ist ebenso stabil wie die Erbanlagen
im Kern. Damit ist der Zusammenhang eines heute ungemein aktuellen
Forschungsgebietes mit der eigentlichen und ursprünglichen Mendelfor¬
schung gegeben. Jeder Kenner der Verhältnisse weiß, daß hinter diesen
Fragen das ungemein reizvolle Gebiet der Genstoffe auftaucht, das aber
nun einwandfrei aus der Mendelforschung in das der Entwid^lungs-
physiologie hinüberführt.
Ein drittes Gebiet hat nun eine ebenso unlösliche Verknüpfung mit
der Mendelforschung erfahren wie das vorhergehende; das ist die
Mutationsforschung. Ich wies schon eingangs darauf hin, daß der eine
der drei Wiederentdecker der Mendel’schen Gesetze, Hugo de Vries, in
seiner Arbeit völlig von dem Mutationsproblem in Anspruch genommen
war. Die Frage nach den Mutationen stammt direkt aus dem Artbil¬
dungsproblem. Wie, unter welchen Bedingungen ändern sich die Arten
so, daß neue erbliche Merkmale auftreten und konstant erhalten bleiben?
ist die Grundfrage. Die Bearbeitung ging mit der Mendelforschung zu¬
nächst parallel. In dem Maße, als sich letztere ausdehnte und auf eine
große Anzahl von Objekten übertragen wurde, wurde es immer deut¬
licher, daß das Vorhandensein einzelner Typen, die sich von einer Aus¬
gangsform in einer einfachen Erbanlage unterscheiden, wie man sie
immerwährend brauchte, um überhaupt Mendelexperimente zu machen,
eben gerade das ist, was man in seinem Neuauftreten in der Mutations¬
forschung suchte, und eines der besten Demonstrationsobjekte war dann
bei den Pflanzen Antirrhinum, das Löwenmäulchen, und natürlich wie¬
der Drosophila. Daß die Forschungen von de Vries, der als einer der
ganz großen Anreger gewirkt hatte, nicht sogleich den Anschluß an die
exakten Methoden der Mendelforschung fanden, lag an dessen Objekt,
Ber Gattung Ocnothera; erst auf umständlichen Umwegen konnte das
geschehen. Heute ist auch gerade im Zusammenhang damit eine vollstän-
dige Klassifikation aller Mutationen nach ihrer genetisdien Grundlage
durchgeführt. Den ersten Schritt wiederum in das Artbildungsproblem
hinein tat Erwin Bauer, welcher bei Antirrhinum nachwies, daß sich
spontan bei reinen Formen solche erblichen, im Mendelexperiment nach¬
weisbaren Abänderungen stets auch in genügender Menge dann auf¬
linden lassen, wenn man auf hinreichend geringfügige Merkmale achtet.
Die weitere Frage war nun: Kann man solche Mutationen artifiziell
herbeiführen? Und die bedeutende Entdeckung, die hier wiederum ein
ganzes Forschungsgebiet erschloß, war diejenige von Müller 1927, daß

208
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

sich durch die Einwirkungen von Röntgenstrahlen bei Drosophila diesel¬


ben Mutationen hervorrufen lassen, die auch spontan gefunden wurden.
In der daraus entwickelten „Strahlengenetik“ wurde zum ersten Male der
- wie wir heute freilich wissen - unzulängliche Versuch gemacht, bis
zu der Natur der Erbanlagen vorzudringen. Im Kriege erfolgte die neue
Entdeckung sowohl hier bei uns in Freiburg als auch bald darauf in
England, daß sidi auch durch die Einwirkung bestimmter Chemikalien
Mutationen erzielen lassen. Hier steht die Forschung heute. Und mit die¬
sen neuen Forschungsmitteln wird nun erneut die Frage aufgenommen.
Welches ist der Mechanismus einer Mutation:* Was ist ein Gen."*, eine Erb¬
anlage? und wie wirkt sie in der Entwiddung?
Die zuletzt gestellte Frage: Wie wirkt eine Erbanlage in der Entwick¬
lung? hat zweierlei neue Arbeitsrichtungen hervorgerufen: einmal die
sogenannte Genphysiologie, einen Teil der Entwicklungsphysiologie, in
welcher man daran ging, die Kausalkette näher zu analysieren, die von
dem Gen, das heißt einem bestimmten, eine Eigenschaft determinieren¬
den Ort auf dem Chromosom bis zu dem Außenmerkmal selbst führt.
Diese Fragestellung freilich, die eine große Zukunft hat und in die ver-
mutlidi ein großer Teil des Gesamtproblems der Genetik auslaufen wird,
steht im Grunde genommen schon außerhalb dessen, was wir als Mendel¬
forschung bezeidinen, und auch die Methode wird in steigendem Maße
eine solche der Biochemie werden; denn es wird sich immer mehr darum
handeln, das Gefüge von Wirkstoffen, die durch ein Gen in der Zelle
in Aktion gesetzt werden, im einzelnen zu analysieren. Die Arbeiten von
Kühn und Butenandt über die Genetik und Genphysiologie der Augen¬
farbstoffe bei der Mehlmotte sind hier richtungsweisend gewesen. Bei
dieser kurzen Anmerkung muß es bleiben.
Die andere Arbeitsrichtung ist die sogenannte spezielle Vererbungs¬
lehre Bisher behandelten wir vorwiegend die allgemeine ausführlich, die¬
jenige nämlich, welche die Prinzipien und Grundsätze unserer Wissen¬
schaft enthält. In der speziellen Vererbungslehre wird umgekehrt ver¬
fahren, es wird danach gefragt, welches die erblichen Bedingtheiten der
Eigenschaften bei den Lebewesen sind. Selbstverständlich muß diese Ar¬
beitsrichtung vielfache Verschränkung mit der Entwicklungsphysiologie

aufweisen.
Die hier geleistete Arbeit, die parallel mit allgemeinen Erblidikeitsforsdiungen ver¬
lief begann mit der Entdeckung von Correns, daß die Sexualität getrenntgesiilecht-
lidier Organismen auf das Schema einer Mendelvererbung zu ‘“ JÜl
ieniee der Rüdekreuzung einer Heterozygote mit dem rezessiven Elter. Daran ansdilie
ßend ist diese merkwürdigste alle, Eigensdiaften. die von den Emzellern aus b|s zu
dem Menschen quer durch die lebende Welt gebt, überall untersudit worden, und sie

209
FRIEDRICH OEHLKERS

hat sich stets erneut in anderen Variationen genetisch gekennzeichnet. Eingehendere


Darstellungen muß ich mir versagen.
Um wenigstens noch ein Gebiet dieser Arbeitsweise aus der gegenwärtigen Genetik
zu nennen, sei darauf hingewiesen, daß neuerdings in Amerika ein ungemein frucht¬
barer Zweig dieses Gebietes entwickelt wurde. Es ist durch Beadle und seine zahl¬
reichen Mitarbeiter bei dem Ascomyceten Neurospora crassa die Eigenschaft des Ei¬
weißaufbaues in ihren genetischen Grundlagen untersucht worden und bis zu einer
Tiefe getrieben, die erstaunliche Einzelheiten über die Kausalkette zutage gefördert
hat. Die Arbeitsweise bedient sich im Grundsätzlichen rein mendelistischer Methoden.
Durch die Einwirkung von Röntgenstrahlen werden Mutationen des Pilzes herbei¬
geführt, und diese Mutationen werden daraufhin geprüft, ob und wieweit sie einen
Ausfall in der normalen Eiweißsynthese zeigen. Dann wird mit biochemischen Metho¬
den versucht, durch Hinzufügung bestimmter Stoffe diesen Ausfall zu kompensieren
und damit eine Stufe nach der anderen in der Eiweißsynthese zu charakterisieren. In
diesem Sinn ist hier die Genetik nahezu zu einer Hilfswissenschaft der Biochemie
geworden.

Eine letzte Arbeitsrichtung sei noch genannt, das ist die Beziehung der
Mendelforschung auf das Artbildungsproblem und die immer wieder er¬
neute Prüfung, ob die aus allen diesen Versuchen erkennbaren geneti¬
schen Grundlagen der Organismen in ihrer ebenfalls mitstudierten Ver¬
änderungsweise eine Artbildung erlauben. In dieser Arbeitsrichtung be¬
sonders wird die Mendelforsdbung wiederum mit ihrer ersten Ausgangs¬
fragestellung aus den Zeiten Mendels und des Darwinismus verknüpft.
Genannt sei hier lediglich die Darstellung von Dobszhansky „Die gene¬
tischen Grundlagen der Artbildung“, in deren verschiedenen Auflagen
er stets von neuem alles Geleistete zusammenfaßte.

Von dem merkwürdigen Schicksal der Mendel’schen Gesetze haben wir


eingangs gesprochen; von dem nicht minder seltsamen der gesamten
Erblichkeitsforschung sei zum Schluß noch ein Wort geredet. Die Tat¬
sache, daß die Gesetze der Vererbung wie alle allgemein-biologischen
Gesetzmäßigkeiten durch alle Organismen hindurchgehen und somit auch
den Menschen betreffen, hat zu Schwierigkeiten Anlaß gegeben. Den Men¬
schen, welche die Gesetze des Geistes als die entscheidenden für das
Menschsein ansehen, bedeutet es eine Last, daß die Vererbungslehre for¬
dert: alle „Merkmale“^Eigenschaften des Menschen seien mit seinen
Chromosomen festgelegt, und die dorther ablaufende Kausalkette sei
nicht zu durchbrechen. Mir scheint nun, daß diese unbestreitbare Tat¬
sache im Grunde nichts anderes ist, als daß der Mensch ohne Sauerstoff
nicht leben kann oder daß er ohne Wasser verdurstet und ohne Nahrung
verhungert. Alles das bedeutet nichts anderes, als das, was niemand je
bezweifeln kann, nämlich daß der Mensch ein Lebewesen ist. Daß er
dennoch die Gesetze des Geistes anerkennt, daß er denken, glauben, lie-

210
FÜNFZIG JAHRE MENDELFORSCHUNG

ben, hoffen kann, ist das entscheidende Phänomen für das „Menschsein“,
und dem gegenüber ist es völlig gleichgültig, wie nahe die Phylogenie den
Menschen an die anderen Säugetiere heranführt oder ob sie ihn doch
noch irgendwo davon separiert. Hier hat nun - und das ist das seltsame
Schicksal der Erblichkeitsforschung, das ich vorhin meinte - die Politik
eingegriffen, eine Politik, die den Menschen als nichts anderes denn als
Lebewesen ansah! Der Mensch als Lebewesen, das gezüchtet, veiwen¬
det oder bekämpft werden kann wie Getreide, wie ein Baum, oder wie
Ungeziefer, das sollte die Grundlage der Rassenpolitik des Dritten

Reiches sein.

Zunächst einmal wurden die Menschenrassen neu abgegrenzt und wdlkürlich nach
einzelnen, relativ häufig vorkommenden Merkmalen aufgegliedert; sodann wurde er¬
klärt, die „Reinerhaltung“ eben dieser „Rasse“ sei biologisch bedeutungsvoll. Diese
Tendenz wurde nun besonders bedrohlich, als man damit eine Wertung verband, einige
sogenannte Rassen, zum Beispiel die „nordische“, sind besonders hochwertig, andere,
zum Beispiel die „jüdische“, sind besonders minderwertig, und aus dieser schauerlichen
Grundtendenz erwuchs für Deutschland die Schande der Nürnberger Gesetze. Nadi
und nach freilich merkten selbst die nationalsozialistischen Rassentheoretiker, daß sie
sich damit auch noch lächerlich gemacht hatten: man wollte „biologisch“ sein und war
doch nur gehässig. Die Natur legt ja bekanntlich alles darauf an, möglichst die Limen
und Varietäten untereinander zu kreuzen; wozu ist sonst die Sexualität mit der Fort¬
pflanzung verbunden? Um nun dennoch eine biologische Begründung zur Vernichtung
unerwünschter Menschen zu haben, tauchte plötzlich in allen rassetheoretischen Ve^
lautbarungen der Begriff der „Artfremdheit“ auf. Die an sich schon völlig willkürlich
ausgesonderten „Rassen“ wurden plötzlich auch noch zu verschiedenen „Arten und
damit sickerte alles, was man über Artbastardierungen und deren biologische Unzu¬
länglichkeit und Unbrauchbarkeit wußte, mit in diese Beurteilung hinein. Es hat selten
eine so skrupellose Verdrehung und Vertauschung der wissenschaftlich erkennbaren
Wahrheit um der politischen Zwecksetzung willen gegeben, wie im Dritten Reich.

Und heute? Heute ist die Erblichkeitsforschung wieder unter die Räder
einer anderen Politik gekommen. Heute wird vom Osten her die gesamte
Chromosomentheorie der Vererbung als Weismannismus, Morganisrnus
und westlicher Kapitalismus in Acht und Bann getan, ist eine Lehre, die
man dort gehalten ist, als verhängnisvollen Irrtum abzuschworen! Der
Züchtungsnutzen und die Verfahren zu seiner geschwindesten Erreichung
stehen im Vordergrund des Interesses, und merkwürdigerweise wird der
Name Charles Darwin von dieser Seite in die Diskussion - die keine ist -

*'und wir, was sollen wir angesichts alles dessen tun? Wir sollen uns
an den Mann, an Gregor Mendel, erinnern, dessen kluges Gesicht und kla¬
rer Geist die ersten Schritte unserer Wissenschaft lenkten und dessen
Namen sie heute noch trägt. Wir sollen arbeiten, solange wir können so
wie er das tat. Wir sollen unsere Experimente sauber ansetzen, wir sollen

211
FRIEDRICH OEHLKERS

scharf denken und sollen wissen, daß Wahrheitswille und Wahrheitsstre¬


ben der Inhalt der Wissenschaft ist und bleiben wird.

Literatur

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Ges. Wiss. Göttg. math.phys. Kl. Nr. 250, 1927.

212
Adolf Portmann

UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS

Das Denken an die lebendigen Gestalten ist in einem Stillstand, der zum
Fortschreiten der biologischen Einzelforschung einen seltsamen Gegensatz
bildet. Wohl hat sich die Idee von der Selbständigkeit der Lebenssphäre
weithin durchgesetzt, doch äußert sich die Gewißheit von der Autonomie
des Lebendigen nur selten in entsprechenden Auffassungen vom Ganzen
der lebendigen Gestalt. Das Denken an die Organismen nährt sich meist
von den Resten einer überlebten Zellenstaatsidee, die zwar von der Ent¬
wicklungsphysiologie seit langem widerlegt, aber im vagen Meinen der
Zeitgenossen noch immer wirksam ist. Als wesentliches Glied der allge¬
meinen Evolutionstheorie, in der sie den sonst rätselvollen Übergang von
einzelligen Urwesen zu vielzelligen verständlich zu machen hatte, ist diese
Lehre vor Jahrzehnten dem allgemeinen Denken aufgedrängt und vom
politischen Darwinismus ausgebeutet worden. So hilft sie heute noch sozio¬
logische Theorien stützen-sie, die dodi ihre erklärende Wirkung aus dem
Vergleich mit unserem Zusammenleben bezogen hat!
Weithin lebt man heute in der Überzeugung, durch diese Idee von der
Zelle als Elementarorganismus und der höheren Organisation als einem
Zellenstaat im Besitze einer biologischen Grundauffassung zu sein, die
wesentliche Züge des Lebendigen in faßbarer Form einprägsam formu¬
liere. Daß die experimentelle entwicklungsphysiologische Arbeit wie auch
die genetische Forschung gegen diese Grundidee zeugen, das hat noch
lange nicht zu der heilsamen Unruhe geführt, die der Verlust einer tragen¬
den Idee eigentlich auslösen müßte.
Es ist darum notwendig, das Denken um den Organismus wieder zu be¬
ginnen und es aus der Wirklichkeit der heute bekannten Tatsachen neu zu
leisten. In diesem Sinne wird im folgenden auf Aspekte der Lebensfor¬
schung hingewiesen, die beim Suchen nach neuen Bildern bedeutsam und
hilfreich erscheinen. Ich spreche von den Gestalten, deren Leben ich selber
zu erforschen suche, und gehe darum von den höheren Tieren aus. Es wird
nicht schwer sein, das allgemein Gültige in seiner besonderen Abwandlung
bei Pflanzen ebenfalls zu sehen.

Wir wollen im Denken vom Tier bei einem Umstand ansetzen, der meist
gerade darum kaum beachtet wird, weil er so zentral und wesentlich ist: es
ist die Tatsache, daß alle Tiere Zentren von vielseitigem Tun sind, das
von einer besonderen Seinsweise zeugt. Diese ist das Sein mit Innerlichkeit,

213
ADOLF PORTMANN

das Sein in einer „Dimension ohne Ausdehnung“, wie etwa in der Ver¬
legenheit der Sprache gesagt wird. Wenn die Entwiddungsphysiologie
heute von Selbstgliederung des Keims spricht, so ist dieses Selbst, von dem
weiter keine Aussage gemacht wird, als daß „es“ sicii „selber gliedert,
eben dieses besondere Zentrum vielseitiger Aktivität, diese Gestalt, die in
Innerlichkeit ist, der also die Voraussetzungen für alle jene Eigenschaften
innewohnen, die als Merkmale des Lebendigen gelten: Selbstgliederung in
der Entwicklung, Seibstregulation in der Selbstbewahrung, Selbstvermeh¬
rung in der Fortpflanzung. Die erstaunliche Eigenheit der Reizbeantwor¬
tung durch artgemäßes Handeln gehört mit zu diesen Zeugen der Inner¬
lichkeit. Die entwerfenden Vorstellungen, mit denen wir das Entwicklungs¬
geschehen im stummen tierischen Keim zu verstehen versuchen, sind da¬
rum der zu erhellenden Verborgenheit gemäßer, wenn sie aus einer Stim¬
mung heraus geformt werden, die eine besondere Seinsweise am Werke
ahnt, deren erste Äußerung die Selbstgestaltung in der Entwicklung ist.
Wir wissen maximal um Innerlichkeit von unserem eigenen Erleben und
Dasein. Wir erfahren von ihr, wenn auch in viel geringerem Maße bei allen
gestaltverwandten Tieren, denen ja nicht umsonst das naive Denken und
Zögern so viel von unserem menschlichen Erleben zuschreibt. Der notwen¬
dige Widerstand gegen vermenschlichende Deutung des höheren Tier¬
lebens in der Forsdiung muß uns doch auch an eine gewaltige Naturmacht
mahnen, die aus dem Reich der Innerlichkeit stammt: an den Drang zur
Verähnlichung fremder Gestalten, den die Verhaltensforscher heute auch
beim höheren Tier in deutlichen Zeugnissen am Werke finden. Objektive
Verhaltensforschung stellt heute unserem anthropomorphen Deuten eine
entsprechende Tendenz zum Zoomorphen im Erleben beim Tier entgegen^.
Was wir bei uns als Widerstand gegen eine objektive Erkenntnis erfahren,
ist zugleich selber eine der wichtigsten natürlichen Weisen alles Erfahrens
überhaupt.
Die Zeugnisse von Innerlichkeit werden um so dürftiger sein, je wei¬
ter wir uns vom eigenen Typus der Wirbeltierstruktur entfernen. Trotz¬
dem wird der Bereitschaftszustand, in dem ein Denken um solche fernere
Tiergestalten anheben und sich entfalten soll, dem zu Erfahrenden noch
immer gemäßer sein, wenn eine allgemeine Vorstellung von Innerlichkeit
im Sinne eigenen Inneseins am Werke ist und an der Ergründung tieri¬
scher Lebensart mitgestaltet.
Es ist eine der bedeutsamsten Wandlungen der neuen Verhaltensfor¬
schung, daß sie trotz des steten und klaren Kampfes gegen anthropomorphe
Mißdeutung heute doch das höhere Tierleben aus einer Einstellung heraus
erforscht, die im Faktum der „Begegnung“ und alles „Verhaltens“ etwas
ganz Besonderes, dem höheren Leben Eigenes erkennt und in der darum

214
UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS

Vorstellungen, wie Dominanz, Unterwerfung, Auftritt, Szene, Ritual, Im¬


poniergehaben oder Drohgebärden usw., an der objektiven Beschreibung
von Innerlichkeit mitschaffen.
Diese Forschung, die dem Worte „Tierpsychologie“ eher aus dem Wege
geht, sagt nicht viel aus über mögliche Erlebnisinhalte der Tiere. Sie be¬
schränkt sich auf die genaue Erfassung von Ausdruckserscheinungen und
Gebaren. Aber dieser Verzicht auf Vermutungen über Erlebnisinhalte ist
nur eine Beschränkung der Aussage auf das faktisdi Feststellbare; er ge¬
schieht heute immer mehr im Wissen um tierische Innerlichkeit und in der
Annahme, daß die dargestellten Ersdieinungen echter Ausdruck seien, also
Kundgabe von Zuständen und Stimmungswandlungen einer selbständigen
Lebensform.
So wie Gestimmtheit als ein Faktum der menschlichen Innerlichkeit
unser eigenes Erleben und Handeln von Grund auf beeinflußt, so ist auch
tierische Gestimmtheit eine Tatsache, die wir durch die sorgfältige Beob¬
achtung der Ausdruckszeichen behutsam erschließen. In der Beurteilung
dieser grundlegenden Bedeutung der „Stimmung“ für das Erleben und
Verhalten berühren sich neueste Verhaltensforschung und Psychologie mit
dem philosophischen Denken der Gegenwart viel entscheidender, als es
wohl meist gesehen wird.
Es ließe sich leicht zeigen, daß die Entwidklung dieses heute so blühen¬
den Zweiges der biologischen Arbeit von dem Momente an einsetzt, da im
tiefen, wenig bewußten Schaffen die Anerkennung von Innerlichkeit als
elementarer Eigenschaft des Tierlebens sich durchgesetzt hat. Dies gilt
unbekümmert darum, ob die Forscher selber, die heute so arbeiten, sich der
Wandlung voll bewußt sind oder ob sie lediglich einem Zeitgeist folgen.
Das Wissen um Innerlichkeit gehört zu den unwägbaren Momenten unse¬
res geistigen Lebens, welche in unserer Zeit in steigendem Maße die Er¬
forschung des Tierlebens nähren.

Das Denken um den Organismus geschieht in der Tat nicht mehr im


Maschinenvergleich. Wie wertvoll für Teilprobleme des physiologischen
Forschens die Reduktion auf ein solches Bild noch immer sein mag, so be¬
deutet dieses doch nie mehr ein Gleichnis für die Wirklichkeit, sondern
höchstens ein Baugerüst provisorischer Art für eine erst noch zu leistende
eigentliche biologische Deutung.
Das Bild, mit dem unser Bedürfnis des Verstehens arbeitet wenn es ej^n
Lebewesen umfassend bedenkt, ist eher das einer dramatischen Auffuh-
runu in einer uns zunächst unverständlichen Sprache, in Gestalten und
Kostümen einer uns verschlossenen Kultur. Ob wir zum Glauben
die Erforschung dieses Geschehens lasse sich hinter den Kulissen der Buhne

215
ADOLF PORTMANN

und durch die sorgfältige Analyse alles dort zugänglichen Betriebes am


sichersten fördern - oder ob wir, einer anderen Anlage unseres Geistes
nachgebend, zunächst vor der Bühne den Sinn des unbekannten Spiels zu
erfahren trachten den beiden Arbeitsweisen ist doch gemeinsam, daß wir
vor aller Einzelarbeit bereits darum wissen, es handelt sich um ein aufge¬
führtes Stück, um ein Bühnengeschehen, das grundsätzlich verschiedene
Möglichkeiten des Zugangs bietet. Wer das lebendige Wesen in Gestalt und
Gebaren im Bilde des aufgeführten Dramas zu sehen versucht, der weiß
daher stets um die notwendige Pluralität der Standorte und um die Unter¬
schiede ihrer Horizonte. Ihn wird es nicht wundern, daß der Bühnentech¬
niker und der Regisseur nicht dasselbe sehen und daß den Zuschauer vor
der Bühne wieder anderes angeht, als jene beiden. Er wird deshalb auch
einsehen, daß der Physiologe, der das innere Getriebe der Organe ver¬
stehen will und darum hinter der Bühne forscht, etwas anderes sehen muß
als der Verhaltensforscher, der das Schauspiel des Tierlebens vor der
Bühne zu erfassen, den Sinn des geschauten Gebarens zu vernehmen trach¬
tet. Was im einen Fall zentral wichtig sein kann, mag im anderen Fall
völlig belanglos erscheinen.
Der Biologe, der die ganze Kette von Vorgängen erforscht hätte, welche
etwa die Harnabsonderung eines Hundes zustande bringen und regeln, der
also um die Biochemie aller Fermentwirkungen, Sekretionen und Resorp¬
tionen wüßte, die letztlich zur Synthese von Harnstoff und zur Ausschei¬
dung des Harns führen, was braucht er von der Rolle zu wissen, welche
dieser Harn im Sozialleben des Hundes und in der Gestaltung seines Le¬
bensraumes spielt. Der Verhaltensforscher aber, der gerade diese soziale
Funktion studiert, darf die biochemische Seite des Vorganges und die che¬
mische Zusammensetzung des Harns für belanglos ansehen. Beide sehen
Richtiges, aber die Horizonte, in denen ihre Wahrheiten „richtig“ erschei¬
nen, sind nicht dieselben. Einer Masdiinentheorie mußte das Stoffwechsel¬
geschehen der Harnbildung das Wichtige sein, der Harngebrauch eine
mehr anekdotische Seltsamkeit, die dem damals reich ausstaffierten Kurio¬
sitätenkabinett der Biologie zugewiesen wurde. Gerade diese Sammlung
von Kuriositäten ist aber seither zu höheren Ehren gekommen; wurden
doch in steigendem Maße die sozialen Funktionen von Gestaltmerkmalen,
die früher als bloße Seltsamkeiten taxiert wurden, klar aufgezeigt.
Wer nach einer Auffassung vom Organismus sucht, die der gegenwärti¬
gen Lebensforschung entspricht, muß die Pluralität der Standpunkte in die
Darstellung einbeziehen. Er muß daher den weitesten Horizont zu be¬
stimmen suchen, in dem die vielerlei Aussagen über tierisches Leben ihren
Sinn finden. Darum wird er gut tun, gerade auch solche Tatsachen zu sehen
und zu prüfen, die den augenblicklich bevorzugten Arbeitsweisen der Bio-

216
UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS

logie verborgen bleiben müssen. Wie fern die Sprache des Lebensdramas
uns liegt, wie unbekannt das Sein ist, von dem dieses Drama kündet, das
mag durch eine Gruppe von Erscheinungen illustriert werden, deren Zu¬
sammenhang die vergleichende Morphologie aufzuzeigen und zu verstehen
trachtet und deren Meditation uns geeignet erscheint, von der neuen Phase
im Denken um den Organismus zu zeugen.
Wir untersuchen das komplexe Phänomen, das in der Biologie unter
dem Stichwort „Abstieg der Keimdrüsen“ bekannt ist; jene rätselhafte Er¬
scheinung bei vielen männlichen Säugetieren, daß die Hoden noch in der
Embryonalzeit oder erst später die Geborgenheit der Leibeshohle ver¬
lassen und zu äußeren sichtbaren Organen werden. Die verschiedensten
cntwicklungsgeschichtlichen und physiologischen Erwägungen suchen nach
einem Verständnis für diesen Vorgang. So machen Physiologen darauf
aufmerksam, daß die Temperatur im äußeren Hodensack etwas tiefer hege
als die des Körperinnern. Manche schlossen daraus auf ein tieferes Tem¬
peraturoptimum der Spermienbildung und sahen im Abstieg der Hoden
daher die Verwirklichung optimaler Lebensbedingungen für die männ¬
lichen Zeugungsstoffe. Verfolgt man indessen die vergleichend-biologi¬
schen Aspekte, so stellt man fest, daß bei vielen Säugern, deren Hoden in
der Leibeshöhle bleibt, die Spermabildung trotzdem völlig normal ver¬
läuft und daß bei Vögeln das eben diskutierte Temperaturoptimum der
Spermien gar bei 42-43° liegen muß. Das Optimum der Temperatur für
Spermienbildung ist der jeweiligen Lage des Hodens angepaßß und diese
Lage ist nicht eine Folge solcher Temperaturbedürfnisse. Die Physmlogie
hat denn auch nie die Faktorenkette zeigen können, die
im Körperinnern liegenden Hoden aus dieser Lage herausfuhrt. Auch die
Entwicklungsphysiologie kann den Vorgang wohl darstellen, ihn aber
nicht erklären. Daß eine direkte Selektionswirkung den Hoden im Laufe
vieler Generationen allmählich aus der Verborgenheit m ein neu gebilde¬
tes Skrotum hinausgelockt habe, nehmen auch
Selektionswirkungen im Ernst nicht an. Sie denken eher, daß der Hoden
a^tieg vielleicht eine im einzelnen völlig unbekannte Korrelation dar¬
stelle zu der Ausbildung anderer äußerer Merkmale, d^^^J^^^ds sicher
durch Selektionswirkung gesteigert werden können. Nehmen wir aber
dieses Verstehensprinzip an, so sind wir im Reich der Korrelationen die
einer bereits vorgegebenen Ordnung angeboren, und werden damit au
das umfLsenderf unbekannte,^ zu erforsd.ende Ganze verwesen, das sr*

D'fl°"rn*&Wärunt°n des Hodenabstiegs gleichen Unterfangen

21T
ADOLF PORTMANN

erfahren. Wir müssen zu diesem Zweck doch wirklich versuchen, das Stück
zu erfassen, das da gespielt wird, und den besonderen Standpunkt zu fin¬
den, der diese Sicht ermöglicht. Der Abstieg der Keimdrüsen muß in einem
anderen Felde des Verstehens untersucht werden als dem rein physiolo¬
gischen: in dem des Formenvergleichs. Da begegnen wir dann der für
eine physiologische Untersuchung belanglosen Tatsache, daß in der Reihe
steigender Differenzierungshöhe der Wirbeltiere vom Fisch zum Säuger,
die Keimdrüsen allmählich im Innern des Körpers aus der Rumpfmitte
nach der Beckenzone verlagert werden. Das Geschehen bei den Säugern,
wo der Hoden durch einen Leistenkanal in eine an die Peripherie ver¬
lagerte Tasche der Leibeshöhle und schließlich in einen auffällig sicht¬
baren Hautsack einzieht - dieser auffällige Vorgang erscheint in diesem
Lichte als die Fortsetzung einer Wandlung, die sich im Laufe der Um¬
gestaltung archaischer Wirbeltiere seit undenklichen Zeiten in vielen
Schritten vollzogen hat, deren Ursachen wir nicht kennen. Die Unter¬
suchung in diesem Felde zwingt aber auch zur Beachtung von weiteren
Tatsachen. In derselben Reihe von Rangstufen vollzieht sich eine Fron¬
talwanderung der höchsten nervösen Integrationsorte des Gehirns, ein
Prozeß, der schon seit Jahrzehnten bekannt ist und der schließlich zu
einer auffälligen Steigerung der Hemisphärenanteile im Gehirn der
Vögel und der Säuger führt. Der kaudalen Verlagerung der Hoden ent¬
spricht eine frontale wichtiger Gehirnzentren. Diesen beiden Vorgängen
geht aber ferner auch eine formale Gestaltung der beiden Körperpole, des
Kopfes und der Analregion parallel, eine gestaltliche Erhöhung, die sich
in der Differenzierung farbiger Muster, verschiedener Haarlänge und be¬
sonderer Disposition der Haarwirbel, in der Ausgestaltung von Stirn¬
organen oder Schwanzbildungen äußert. Die menschliche Sitte, welche durch
konventionelle Regeln die Akzente der Beachtung zu lenken versucht,
führt zu einer geringeren wissenschaftlichen Beachtung der Analregion
(selbst im Zeitalter der Psychoanalyse). Daher finden wir viele Darstel¬
lungen der Kopforgane, aber wenig Entsprechendes über die ornamentale
Umformung des anderen Körperpols, wo zuweilen geradezu ein Anal¬
gesicht dem Kopfe polar entgegengestellt ist.
Dem Hodenabstieg formal Vergleichbares geschieht auch am Kopfpol
in der Evolution des Säugergebisses, wie die paläontologische Forschung
sie uns darstellt. Die vordersten Zahnbildungen, Eck- oder Schneidezähne,
deren primäre Rolle im Dienst der Ernährung steht, können durch Lage-
anderung und Vergrößerung aus der Mundhöhle austreten und folgen
dann als sichtbare Bildungen neuen Formgesetzen. Ob wir die zu ge¬
waltigen Stoßzähnen verwandelten Schneidezähne der Elefanten, die
Hauer der Schweine oder den einzelnen Riesenzahn des Narwals prüfen.

218
UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS

stets geht die Formbildung in den späteren Phasen der paläontologisch


ermittelten Reihen über jeden elementaren Funktionswert hinaus und
kann nicht mehr allein durch direkte Zuordnung zu einer erhaltenden
Leistung verstanden werden. Nicht umsonst sind gerade diese Bildungen
oft unter den Stichworten des „Luxurierens“ oder der „Hypertelie“ als
besonders eindrückliche Fälle eingeordnet worden. Solche Gebilde dürfen
so wenig wie die Geweihe und Gehörne bloß als Waffen angesehen wer¬
den, sondern auch als ein im Zeremoniell der Art wirksames Merkmal.
Dadurch aber führt die Erforschung dieser somatischen Organe dazu, die
Innerlichkeit des Tiers als wesentlichen Faktor für die Bewertung mit zu
berücksichtigen. Bildungen, wie Zähne oder Keimdrüsen, die primär der
Innenseite der Organisation eines Tieres angehören, werden bei rang¬
hohen Formen zu Merkmalen der Gestalt.

Die Untersuchung des Hodenabstiegs und der polaren Differenzierung


von Kopf- und Analpol höherer Säuger führt uns zu einer sehr allge¬
meinen Regel tierischer Gestaltung: alles Erscheinende trägt bei höherer
Organisation die besonderen Gestaltmerkmale der Sichtbarkeit, einer
eigentlich visuellen Struktur, während alles im Leib Verborgene, ja selbst
Bildungen der Oberfläche, die nicht sichtbar sind, ganz anderen Regeln der
Gestaltung untersteht . j -p, u
Jede Vogelfeder demonstriert den auffälligen Kontrast m der Durch¬
formung und Färbung des sichtbaren Spitzenteils gegenüber dem ganz
anders gefärbten und geformten Dunenteil, der von anderen Federn uber-
dedct ist. Jeder Blick auf innere Organe mit ihren so schwer faßbaren,
oft kaum nachweisbaren Artunterschieden sollte zum nachdenklichen Ver-
Meidi nötigen mit allen den einprägsamen, auffälligen Strukturen - wnk-
liehen .Merkmalen- - der Oberfläche. Hat man etwa das ErstaunliAe
genügend bedacht, daß Löwe und Tiger, zwei
fn ihfer gesamten verborgenen Organisation, auch im Skelett, sidi ka
unterscheiden, so daß niemand vom Höhlenlöwen der Vorzeit sagen kann.
ob er nicht ein Höhlentiger gewesen ist. n^trnrhtim(T der
Eine von intensivem Studium der Formen genährte ^
Matur gestalten müßte die notwendige Ergänzung sein zu
meine physiologische und genetische Regeln ausgehenden Biologm. Dm
neuere Verhaltensforschung bahnt dazu manche Wege indem sie m stei¬
gendem Maße neben den Organen zum Atmen und Verdauen, zuj Be¬
wegung und Fortpflanzung auch soldie findet, die zum Anschauen oder
Anhöfen- bestimmt sind, und deren Bau den eigenartigen Forderungen
;Xricht die im Bereich des menschlichen Sehens und Hörens geltem
Nur wird’ die Verhaltensforschung daran denken müssen, daß selbst mi

219
ADOLF PORTMANN

dem Nachweis einer Rolle, die wir solchen Organen im Sozialleben einer
Art zuordnen können, immer nur ein Teil der Eigenart des Erscheinungs¬
bildes durch eine funktionelle Bestimmung erklärt ist. Jede vertiefte
Untersuchung von Merkmalen der Erscheinung, der sinnlich erfahrenen
lebendigen Gestalt, führt dazu, neben den Rollen der elementaren Er¬
haltung oder der Stiftung von sozialen Beziehungen in der Ausgestaltung
der erscheinenden Glieder auch einen besonderen Formwert zu erkennen,
für dessen Verständnis das Erfassen noch wenig beachteter Zuordnungen
notwendig ist. Um diese Beziehungen klarer zu sehen, muß man sich der
Frage nach der Bestimmung der allgemeinen Organisationshöhe eines tie¬
rischen Typus zuwenden.
Jeder Versuch, die Tiergestalten in natürliche Zusammenhänge zu
ordnen, führt zur Beachtung ihrer verschiedenen Organisationshöhe, die
im Tiersystem bereits in gewissen Grenzen zum Ausdruck kommt. Doch
ist der Begriff der Ranghöhe heute verpönt; er ist unzeitgemäß geworden,
sei es, weil er zu sehr an die hierarchischen Gesellschaftsordnungen er¬
innert, von denen man heute nicht gern spricht - sei es, weil er an unzu¬
längliche Anordnungen der Tiere nach dem Grad von „Intelligenz“ mahnt,
die man mit Recht aufgegeben hat. Diese Flucht vor dem Begriff der Dif-
ferenzierungs- oder Ranghöhe ist aber auch eines der vielen Zeichen des
Zerfalls allen Wertens, zeugt sie doch vor allem davon, daß man objektive
Unterschiede der Gestaltung von Wertungen aus der Freiheit der mensch¬
lichen Entscheidung nicht zu sondern vermag. Die Verfemung solcher Be¬
griffe aus Verlegenheit führt schließlich zum Vergessen der Sache selber.
Die Unterschiede in der Organisation der lebenden Gestalten sind aber
eine bedeutsame Realität: der Rabe ist wirklich komplexer organisiert und
hat ein reicheres Feld des Erlebens als ein Molch; dasselbe gilt beim Ver¬
gleich des Makaken mit einer Spitzmaus, dem einer Biene mit dem Glet¬
scherfloh. Der Physiologe spricht mit Recht vom niederen und höherea
Organismus, und wenn es sich um Versuche am Lebenden handelt, so
dient gerade dieser Unterschied als gewichtiges Argument in der Dis¬
kussion um die Rechtfertigung solcher Eingriffe. Alle Neurologen sind
sich darin einig, daß die zentrale Nervenorganisation bei den verschie¬
denen Gruppen von Tieren ein verschiedenes Niveau der Integration von
Verhaltensweisen leistet und im Zusammenhang mit der Sinnesorgani¬
sation viele Stufen der Innerlichkeit ermöglicht. Wo aber Stufen der Dif¬
ferenzierung von Gestalten bestehen, da muß der Ordnungsversuch, der
die Beziehungen zwischen Formverwandten darstellen will, auch eine
Rangordnung durchführen. Ranghöhe der Organismen ist eine Grund¬
tatsache. Aus dieser Einsicht erwächst die Notwendigkeit des objektiven
wissenschaftlichen Erfassens dieses Stücks der lebendigen Wirklichkeit.

220
UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS

Darum habe ich versucht, eine sorgfältige Bestimmung des Ausbildungs¬


grades der höheren Integrationszentren der nervösen Zentralorgane bei
Wirbeltieren zu erreichen. Die Indexzahlen, die mit solchen Methoden er¬
mittelt werden, bringen weder ein Schulnotensystem für die höheren
Tiere noch sind sie ein Maß für Intelligenz, als das sie allzuoft genommen
werden. Sie sind exakte Quotienten, in denen die Massenanteile von
höheren und niederen nervösen Zentren zur Darstellung kommen. Sie
erlauben eine generelle Taxierung der Intensität von Beziehungen mit
der Umwelt, mit Artgenossen, der Anpassungsmöglichkeiten, auch der
Mannigfaltigkeit des Erlebens; sie geben Indizien über das Ausmaß der
nervösen Steuerungen, welche Wärmehaushalt und Konstanz des Milieus
regeln und damit die Eigenständigkeit eines Organismus im Wechsel der
Umweltsbedingungen sichern. Solche Indizes geben ein wichtiges objek¬
tives Maß für eine strukturelle Grundlage der zu erforschenden kom¬
plexen Innerlichkeit ■*.
Erst mit Hilfe dieser Ordnungsreihen der Gehirnausbildung können
wir genauer bestimmen, welche anderen Merkmale in Korrelation zur
Ausbildung des zentralen Nervensystems stehen. Erst die Reihen der
Indizes bringen Unterschiede zur Geltung, die sich auf die verschiedene
Bedeutung der höchsten Fernsinnesorgane gründen und die für das Er¬
leben und Verhalten höherer Tiere kennzeichnend sind. Die Gruppierung
der Sinnesleistungen durch die Physiologen in protopathische und epi¬
kritische (heute auch in koenästhetische und diakritische) enthalt stets ein
Moment der Differenzierungshöhe, indem die formalen Möglichkeiten der
^T.;i.r;tUrV>pn Slnnesleistungen höherwertig erscheinen und daher zu ihrer

tierischen Umwelt, die von vornncicu. y


plizierter optischer und akustischer Signale aufgebaut ist. Die so in

221
ADOLF PORTMANN

besonderen Zuordnung erkannten Merkmale der Gestaltung erhalten da¬


mit den vorhin erwähnten Formwert, der für den menschlichen Betrachter
ein Wertzeichen ganz besonderer Art darstellt und für uns an Bedeutung
weit über den Funktionswert im Rahmen der Lebensweise des Tieres
hinausgeht.
Dieser Einblick in den Formwert von Gestaltmerkmalen bestätigt die
Weiterung in unserer Auffassung von lebenden Gestalten: der Horizont
der rein funktionellen Deutung, in dem auch die Aussagen der Verhal¬
tensforschung eingeschlossen bleiben müssen, dieser Horizont, der lange
Zeit die Deutung der Organismen ausschließlich bestimmt hat und für viele
Forscher noch heute bestimmt, ist gesprengt durch die Erkenntnis eines
Formwertes, der in Korrelation mit der Ranghöhe steht. Wie bedeutend
auch der Erhaltungswert eines Gestaltmerkmals als Einpassung in eine
ganz bestimmte Lebensform und ihre Umwelt sein mag, so ist doch dieses
selbe Merkmal stets noch mehr als das: es ist Ausdruck der Differenzie¬
rungshöhe der gesamten Lebensform, die da vor uns ist. So ist etwa die
Erhebung vieler höherer Säuger über den Boden durch auffällige Ver¬
längerung ihrer Gliedmaßen und des Halses weit mehr als bloße Ein¬
ordnung in den Lebensraum der Steppe mit seinen weiten Horizonten.
Diese Erhöhung, die wir etwa bei Pferden und Antilopen finden, hat eine
Bedeutung, die immer über den möglichen Anpassungswert hinausgeht.
So seltsame Erscheinungen wie die hochgewachsenen Riesengestalten der
Giraffen wirken ja gerade auch darum so irritierend auf den Biologen,
weil auch der extremste Funktionalist angesichts solcher Lebensformen
zum Schlüsse kommt, daß in ihnen die mögliche Anpassung an elementare
Lebensbedingungen ihr mögliches Optimum überschritten hat, und daß
die Betrachtung in einem weiteren Horizont des biologischen Denkens ge¬
fordert wird, zu der uns die Untersuchung des Abstiegs der Keimdrüsen
bereits geführt hat.
Auch eine Erscheinung wie der Vogelzug öffnet dem Blick sehr bald
diesen weiteren Horizont, den wir für die Vorstellung vom Ganzen
der Tiergestalt fordern. Unsere Gedanken folgen der Polarseeschwalbe,
die zweimal im Jahre hin und zurück einen großen Teil des Erdmeridians
im Fluge durchmißt - fast von Polarkreis zu Polarkreis, von den langen
Sonnentagen des Nordsommers in die ebenso langen Sonnentage des Süd¬
sommers der Erde. Die physiologische Forschung wird wohl einmal die
Wirkweisen aufzeigen, welche diese kaum faßbaren Reisen ermöglichen.
Die ökologische Untersuchung wird sicher auch Zusammenhänge zwischen
Tagesdauer und Ernährungsmöglichkeit und Stoffwechselintensität auf¬
decken; die palaogeographische Forschung dürfte Eigenheiten dieses Zug¬
verhaltens ermitteln, die mit der einstigen Einwirkung von großen Eis-

222
UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS

Zeiten Zusammenhängen; die Mutationslehre wird versuchen, die Erhal¬


tung und Steigerung solcher Anpassungen durch die Bildung kleiner Mu¬
tationen und durch Selektionswirkungen verständlich zu machen. Vieles
wird so allmählich beitragen zum vollen Lebensbild der Seeschwalben.
Und doch erklärt all das niemals die faktische Eigenart und das erstaun¬
liche Ausmaß der ganzen Erscheinung dieser Weltreise eines Vogels. Da¬
gegen dürfte allmählich hervortreten die Notwendigkeit, diesen Wander¬
zug zusammenzusehen mit der extremen Ausprägung der Fluggestalt, mit
der gesteigerten Komplikation des Verhältnisses von Alt- und Jungvogel
(wenn wir etwa Seeschwalben mit den verwandten Möven vergleichen),
mit dem komplizierten Ritual der Balz- und Verlobungsflüge - kurz; man
wird den Wanderzug sehen müssen als Glied in einer nach allen Rich¬
tungen erhöhten Ausprägung der Eigenart dieses besonderen Vogeltypus,
als Glied einer allseitig gesteigerten Sichtbarkeit dieser Sonderheit, die das
plasmatische Wesen Seeschwalbe von allem Anfang ihres Lebens an be¬
reits ist. Der Vogelzug ist ein Artmerkmal, das in einer vielleicht zunächst
ungewohnten Weise „gestaltlich“ genannt werden muß und das in seiner
besonderen Weise von der Innerlichkeit Kunde gibt. Spricht doch aus
diesem Phänomen ein innerer Zustand zu uns, ein auf spezifische Aussage
gerichteter Drang - so unbekannt in seinem Wesen wie unser Wille -, ein
Anlaß im plasmatischen Geschehen, der kennzeichnende Aktivitäten be¬
wirkt. Diese Erscheinung des Vogelzugs muß im gleichen Felde des Ver¬
stehens untersucht werden wie der Abstieg der Keimdrüsen bei den Säu¬
gern und wie das unabsehbare Reich von Äußerungen der plasmatischen
Sonderheit der Arten, das sich in Gestalt und Gebaren kundtut. In diesem
Felde der Beobachtung, in der Ordnung, welche durch die Bestimmung
von Ranghöhe und Differenzierungsweise gegeben ist, erkennen wir, wie
sehr die organischen Erscheinungen alle elementaren Notwendigkeiten der
puren Arterhaltung überschreiten.
Das Studium der Form wie das des Verhaltens wird so in einem wei¬
teren Horizont zur Ergründung der Innerlichkeit, zur Erforschung der
Manifestation der ganzen Eigenart eines Wesens. Dieses Wesen formt
sich im Laufe einer Ontogenese aus dem Großenbereich molekularer i-
mension in eine Größenordnung hinein, in der sie dem Sinneskben von
Individuen der eigenen und fremden Arten erscheint und dadurch Be¬
ziehungen ganz neuer Art möglich macht; echtes Sozialleben, eite Be¬
gegnungen von Seiendem. Auf dieser Größenstufe werden durch solche
Lgegnung in der Welt der Tiere bereits die schlichtesten Weisen des
„Erkennens“ verwirklicht.

223
ADOLF PORTMANN

So muß denn der Biologe neben den von der Forschung längst beach¬
teten Merkmalen des Lebendigen, neben Selbsterhaltung, Selbstvermeh¬
rung, Selbstregulation ein weniger beachtetes zu vermehrter Geltung brin¬
gen; die Selbstdarstellung des Organismus.
Die ganze Ontogenese ist unter anderem auch solche Selbstdarstellung
des bereits im Bereich des Unsichtbaren charakteristischen Artplasmas. Nicht
umsonst hat sich bei der Erforschung der Entwicklungsvorgänge die Not¬
wendigkeit ergeben, mit Begriffen zu interpretieren, die sonst auf den
reifen Organismus angewendet worden sind: von Entwicklungsinstinkten
mußte doch gesprochen werden und auch davon, daß nur der Vergleich
mit psychischen Phänomenen das adäquate Bild für das ontogenetische
Geschehen biete.
Von Selbstdarstellung sprechen, heißt nicht, eine neue Wirkweise ein¬
führen, einen „Faktor“, der als Glied in der physiologischen Erläuterung
des lebendigen Geschehens eingesetzt werden könnte. Selbstdarstellung
des Organismus ist ein beschreibender Ausdruck, der beobachtbare Eigen¬
heiten eines lebendigen Ganzen erfaßt, die im Versuch des Verstehens
einer organischen Erscheinung eine zentrale Stelle einnehmen müssen.
Das Wort mahnt zur Beachtung von Eigenheiten, die von einer physio¬
logischen Zuordnung ungenügend bewertet sind, die durch die Betrachtung
von abstrakten, alles Eigenartigen entblößten Typen in Vergessenheit
geraten sind, und die durch die Bagatellisierung vieler Merkmale als
bloß „taxonomischen Wertes“ oder durch deren Klassierung als „Luxus¬
gebilde“ eine abwegige Beurteilung gefunden haben, ja, die oft als ober¬
flächlicher Schein einem verborgeneren Kern der Sache gegenübergestellt
worden sind und so mißachtet werden mußten.
Der Nachweis von Auslöserfunktionen, die vielen Merkmalen der Er¬
scheinung im sozialen Leben einer Tierart zukommen, bringt mit neuen
Einsichten auch eine neue Gefahr. Das Erscheinungsmerkmal gilt nun
durch den Nachweis einer physiologischen Rolle in lebenswichtigen Funk¬
tionen als erklärt, indem seine Signalwirkung erkannt ist. Natürlich sind
die Merkmale auch das - aber sie sind stets auch viel mehr, sind stets in
erster Linie Glied des alles überragenden Geschehens der Selbstdarstellung
einer ranghohen und darum echt sozialen Lebensform, in deren Leben
Begegnungen möglich sind. Gerade jene Eigenheiten, welche die Ver¬
haltensforschung an solchen auslösenden Signalen betont — unverwechsel¬
bare Prägnanz und Unwahrscheinlichkeit der Form-gerade dies sind ja die
Eigenschaften, welche auch der Selbstdarstellung dienen. Solche Erschei-
nung in ihrer höchsten Ausprägung kann geradezu als Voraussetzung
aufgefaßt werden für das Indienstnehmen unverwechselbarer prägnanter
Artmerkmale durch die Vorgänge der Arterhaltung.

224
UM EIN NEUES BILD VOM ORGANISMUS

Vielleicht bezeichnet das Beziehungssystem der Rangordnung, in dem


das Erforschen der Selbstdarstellung möglich ist, einen äußersten Hori¬
zont der wissenschaftlichen Feststellung. Es führt jedenfalls bis an die
Grenzen des heute objektiv Sagbaren vom Organismus. In diesen Grenzen
aber darf die vergleichende Morphologie schon jetzt auf manche Ergeb¬
nisse hinweisen, welche bezeugen, daß sich durch die Bestimmung dessen,
was ich den „Darstellungswert“ der Organe genannt habe, Regelmäßig¬
keiten aufzeigen lassen, deren Kenntnis am Aufbau einer neuen Ansicht
vom Organismus mitschaffen wird. Dann werden jene Gebilde beachtet
werden, die heute entweder bloße Kuriositäten oder taxonomisch brauch¬
bare Seltsamkeiten sind. Es wird sich dann zeigen, welcher Verirrung das
Wort entsprungen ist, das vor wenigen Jahrzehnten noch ein bedeutender
Botaniker ausgesprochen hat: Morphologie sei das, was physiologisch noch
nicht aufgeklärt worden sei! Die Erforschung des Darstellungswertes der
Organe, also der Selbstdarstellung einer Lebensform, umfaßt doch gerade
das, was sich der physiologischen Betrachtung, die stets nur eine Seite
des Sinns einer Gestalt erschließt, ihrem inneren Wesen nach entzie¬
hen muß.
Die Erforschung der Gestalt muß daher auch die Erforschung der
Selbstdarstellung des Organismus sein, ja, sie muß dies sogar in erster
Linie sein. Die praktische Bedeutung unseres Wissens um tierisches
Leben wird stets Probleme bedeutungsvoll machen, die auch außerhalb
dieser obersten Aufgabe liegen; der Wille zur technischen Beherr¬
schung von Naturvorgängen wird immer die physiologische Arbeits¬
art ganz besonders fördern - doch dürfen diese wichtigen und notwendigen
Zielsetzungen dem Blick des Biologen die Tatsache nicht verhüllen, daß
die oberste Aufgabe des wirklich dem Objekt hingegebenen Erkenntnis-
strebens in seinem Arbeitsfelde diese sein muß: in allen Manifestationen
von Gestalt und Lebensart das Erscheinen einer unsichtbaren Innerlich¬
keit zu erfassen, die sich in diesem Sinnfälligen darstellt. Das Erscheinen
von Innerlichkeit ist die einzige Weise, in der uns anderes Leben als das
eigene zugänglich wird. , . , p-
Ist der Horizont solchen Forschens einmal erkannt und wird er vom Bio-
logen in seiner inneren Vorbereitung auf wissenschaftliAe Arbeit immer
wieder bedacht, so wird auch jede methodische Einschränkung der Ziel¬
setzung. wie sie viele biologische Fragestellungen A";
um die umfassendste Aufgabe geleistet, statt in der Oberheblidiked des
Bornierten, welcher in einem für bestimmte Zwecke verengten Arbeits¬
gebiet die Weite der umfassenderen Aufgabe völlig vergißt. Der Blick auf
diesen weiteren Horizont wird auch eine Morphologie ermogliAen die
nicht bloß für kurze Augenblicke, etwa anläßlich eines Goethe-Gedenk-

225
ADOLF PORTMANN

Jahres als Gegenstand festlicher Rede, in das Licht öffentlicher Beachtung


tritt, um nachher ein wenig verlegen wieder im Schatten zu bleiben.
Es geht um eine weite, große Auffassung der lebendigen Gestalten, um
eine Auffassung, in der auch die neuen Bedeutungen ihren Platz finden,
mit denen gegenwärtig die Verhaltensforschung soziale Rollen der Er¬
scheinungsmerkmale aufdeckt. Es gilt die besondere Gestimmtheit vor¬
zubereiten, in der das Entstehen eines neuen Bildes vom Lebewesen mög¬
lich wird und in der auch die Vielen, die nicht selber Lebensforschung trei¬
ben, am werdenden Naturbilde teilhaben können. Eine Lebensforschung,
die um diese Weite ihrer Aufgabe weiß, wird auch dem Denken in noch
umfassenderen Zusammenhängen die rechte Hilfe sein, wie sie der Philo¬
soph bei seiner Arbeit von den Wissenschaften erwarten darf.
Die lebendigen Gestalten sind Urtexte, die in einer fremden, fernen
Sprache zu uns reden. So ist denn die Übersetzung in die Ausdrucksweise
einer Zeit von jeder Generation wieder neu zu versuchen; sie ist ein Unter¬
fangen, das nie endet und dem jeder neue Fund zur Verbesserung dienen
muß. So wird die immer wieder begonnene Übertragung in unsere mensch¬
liche Sprache mehr und mehr vom Wirklichen der Lebensformen mitteilen,
die in so geheimnisvoller Größe vor uns und mit uns sind. Im stets er¬
neuerten Entwurf dieser Übersetzung wird das biologische Denken seine
Aufgabe erfüllen: Zeuge zu sein vom Lebendigen, das selber ein schwer
verständlicher Zeuge ist der Größe des Seins.

Anmerkungen
^ Hcdiger, H.: Wildtiere in Gefangenschaft. Basel 1942.
■ Müller, A.; Individualität und Fortpflanzung als Polaritätserscheinung. Jena 1938.
^ Portmann, A.: Die Tiergestalt. Basel 1948.
^ Portmann, A.: Etudes sur la Cerebralisation chez les Oiseaux, »Alauda«, Bd. 14
(1946), Bd. 15 (1947). - Wirz, K.: Zur quantitativen Bestimmung der Rangordnung bei
Säugetieren. Acta Anatomica, Bd. 9, 1950.

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Hannah Arendt

IDEOLOGIE UND TERROR

Den folgenden Überlegungen liegt eine Überzeugung zugrunde, die


weder selbstverständlich ist noch hier deutlich gemacht werden kann. Sie
betrifft erstens die Natur der Krise, in die wir geraten sind und die zu¬
meist lediglich als eine Bedrohung gesehen wird, welche die expansions¬
lüsternen totalitären Machtapparate über das politische Leben der Völker
der Erde gelegt haben. Sie betrifft zweitens die Natur dieser totalitären
Herrschaftsformen, die zumeist mit den Ein-Partei-Systemen, aus denen
sie in den beiden uns bekannten Fällen entstanden, identifiziert werden
und somit in ihrem Anspruch, eine schlechthin neue Form menschlicher
Herrschaft erfunden und etabliert zu haben, nicht ernst genommen wer¬
den. Wenn es nur nicht Stalin gäbe, wenn es Hitler nur nie gegeben
hätte - so glaubte man - wäre alles in bester Ordnung. Wenn nur erst
die Macht der Sowjetunion gebrochen sein wird, wie die Macht des Drit¬
ten Reiches gebrochen wurde, wird man mit mehr oder minder großen
Schwierigkeiten die alte Ordnung ungestraft wiederherstellen können.
Demgegenüber unterstellen wir, daß die heutige Krise so wenig mit
dem Wegräumen Stalins erledigt sein wird, wie sie nach dem Fall Hit¬
lers erledigt war. Es könnte sogar sein, daß die wirklichen Probleme dei
Zeit sich in ihrer wahren Gestalt (wenn auch keineswegs notwendiger¬
weise weiterhin in ihren blutigsten Formen) erst zeigen werden, wenn
die totalitären Diktaturen eine Sache der Vergangenheit geworden sind.
Diese Überzeugung stützt sich auf gewisse Einsichten, wie sie nur in einer
konkreten historisch-politischen Analyse gewonnen werden können, die
ich glaube, an anderer Stelle gegeben zu haben. W^ ich hier voraus¬
setzen muß, ist die Einsicht in die außerordentliche Originalität totali¬
tärer Herrschafts- und Organisationsmethoden einerseits, und ihre be-
stürzende Relevanz andererseits für die politischen Probleme eines Jahr¬
hunderts, in dem die Menschheit aus einer Idee oder einem Ideal zu
einer handgreiflichen politischen Wirklichkeit geworden ist Dies zusam¬
men scheint mir die Frage nach dem Wesen totalitärer
rechtfertigen, um von dieser Fragestellung aus gewisse Aspekte der Krise
zu entdecken, in der wir alle und überall leben. . ,
Die Originalität totalitärer Herrschaft, deren Taten in der uns be¬
kannten Geschichte und deren Organisationsform unter den von der
klassischen politischen Theorie definierten Staatsformen ohne ParaUe e
dastehen, zeigte sich vorerst in dem, was man gemeinhin als die Vei-

229
HANNAH ARENDT

bredien dieser Systeme bezeichnet. Das Charakteristisdie der in Nürn¬


berg abgeurteilten Taten des Nazi-Regimes war, daß sie sich weder mit
unseren Begriffen von Sünde und Vergehen - wie sie seit Jahrtausen¬
den in den Zehn Geboten niedergelegt und scheinbar endgültig formu¬
liert waren - fassen, noch mit den uns zur Verfügung stehenden juri¬
stischen Mitteln aburteilen und bestrafen ließen. Der Satz: „Du sollst
nicht töten“ versagt gegenüber einer Bevölkerungspolitik, die systema¬
tisch oder fabrikmäßig daran geht, die „lebensuntauglichen und minder¬
wertigen Rassen und Individuen“ oder die „sterbenden Klassen“ zu ver¬
nichten; und dies nicht als einmalige Aktion, sondern offenbar in einem
auf Permanenz berechneten und angelegten Verfahren. Die Todesstrafe
wird absurd, wenn man es nicht mit Mördern zu tun hat, die wissen, was
Mord ist, sondern mit Bevölkerungspolitikern, die den Millionen-Mord
so organisieren, daß alle Beteiligten subjektiv unschuldig sind: die Er¬
mordeten, weil sie sich nicht gegen das Regime vergangen haben; und
die Mörder, weil sie keineswegs aus „mörderischen“ Motiven handelten.
Stellt man sich angesichts dieser neuesten Ereignisse auf den Boden spe¬
zifisch abendländischer Geschichte, so kann man sagen: Dies hätte nicht
geschehen dürfen, und zwar in dem Sinn, in dem Kant meinte, daß wäh¬
rend eines Krieges nichts geschehen dürfe, was einen späteren Frieden
schlechthin unmöglich machen würde.
Das Entsetzen, das sagt: Dies hätte nicht geschehen dürfen, meint nicht,
daß wir dies nicht wieder gutmachen können (denn gutmachen kann man
ohnehin niemals, wo Menschen wirklich handeln), sondern daß wir dies
nicht verantworten können. Politisch übernimmt jede Regierung eines
Landes die Verantwortung für das, was die vorhergehende getan hat,
auch wenn sie trachtet, es rückgängig zu machen. Ohne eine solche Über¬
nahme gäbe es keine geschichtliche Kontinuität. Menschlich müssen wir
weitgehend Verantwortung auch für das übernehmen, was Menschen ohne
unser Wissen und Zutun irgendwo in der Welt verbrochen haben; sonst
gäbe es keine Einheit des Menschengeschlechts. W^ir können es, weil uns
gerade die spezifisch bösen Motive oder die spezifisch berechnete Zweck¬
mäßigkeit der Handlung menschlich einsichtig ist. Auch die Bestrafung
des Verbrechers ist noch ein Akt der Verantwortung und menschlicher
Solidarität. Die Gaskammern des Dritten Reichs und die Konzentrations¬
lager der Sowjet-Union (die in Wahrheit ebenfalls Vernichtungslager
sind, wenngleich mit anderen Methoden) haben die Kontinuität abend¬
ländischer Geschichte unterbrochen, weil niemand im Ernst die Verant¬
wortung für sie übernehmen kann und man niemanden im Ernst für sie
verantwortlich machen kann. Zugleich bedrohen sie jene Solidarität von
Menschen untereinander, welche die Voraussetzung dafür ist, daß wir es

230
IDEOLOGIE UND TERROR

Überhaupt wagen können, die Handlungen anderer zu beurteilen und


abzuurteilen.
Es ist Aufgabe der historisch-politischen Wissenschaften, diesen Er¬
eignissen nachzugehen und herauszustellen, mit welchen Mitteln und m
welchem Funktionszusammenhang sie ins Werk gesetzt wurden. Dabei ist
wichtig, sich darüber klar zu werden, daß es sich nicht darum handeln
kann, das spezifisch Unerhörte durch beliebige Parallelen mit der Ver¬
gangenheit wegzuerklären oder auf jenen Aspekten totalitärer Herrschaft,
die sie mit anderen Gewaltherrschaften teilt und die in ihren Anfangs¬
stadien deutlich in Erscheinung treten, zu bestehen, sondern im Gegenteil
zu versuchen, das wesentlich Neue, das nämlich, was diese Herrschaft
wirklich zu einer totalen Beherrschung macht, in den Blick zu bekommen.
Selbstverständlich sind audh in dies wesentlich Neue eine Reihe von pe-
menten aus der Vergangenheit und aus Umständen in der nicht-totalitären
Welt, in der die totalitären Bewegungen entstanden, eingegangen, und es
ist wichtig genug, diese Elemente zu analysieren und in ihre geschicht¬
lichen Ursprünge zurückzuverfolgen. Zu erklären ist das totalitäre
nomen aus seinen Elementen und Ursprüngen so wenig und vielleicht noA
weniger als andere geschichtliche Ereignisse von großer Tragweite. In
diesem Sinne ist der Glaube an Kausalität in den Geschichtswissenschaften
ein Aberglaube, der dazu verführt, das eigentlich neu sich Ereignende,
womit die Gesdiichtswissenschaft es jeweilig zu tun hat, aus der GeschiAte
zu entfernen - das heißt, die Geschichtswissenschaften ihres eigentlichen
Inhalts zu berauben.
Als Historiker sind wir an Neues gewöhnt und haben gleichsam ke
Recht, uns zu entsetzen. Die folgenden Überlegungen gehören nicht mehr
eiEentlich in das Gebiet der historisdi-politisdien Wissenschaften, obwohl
sie sich direkt an ihre Ergebnisse ansdiließen. Das Entsetzen aus dem sie
entspringen, gilt nicht dem Neuen schlechthin, sondern der Tatsadie, daß
dies NeL dln Kontinuitätszusammenhang unserer Gesdiiiite und dm
Begriffe und Kategorien unseres politischen Denkens
sagen: Dies hätte nicht geschehen där/en so meinen wir, dieser
Ereignisse mit den großen und durch große Traditionen geheiligten Mit¬
fein unserer Vergangenheit weder im politischen Handeln noch im ge¬
schichtlich-politischen Denken Herr werden können.

Die Sprengung unserer politischen Kategorien durch das Auftreten tota¬


litärer Bewefunfen und Herrschaftsapparate wird ganz offenkundig wenn
Wh uns vergegenwärtigen, daß unsere Urteile über Staaten und Regie¬
rungen seit den Theorien der Antike auf der Untersdieidung zwischen

231
HANNAH ARENDT

gesetzmäßiger Regierung und tyrannisch-gesetzloser Willkür beruhen.


Nun ist zwar totalitäre Herrschaft „gesetzlos“, insofern sie prinzipiell alles
positiv gesetzte Redht verletzt, gleich ob es sich um übernommenes Redit
handelt (das sie eigentümlicherweise nicht einmal abschafft) oder um von
ihr selbst erlassene Gesetze; aber sie ist keineswegs willkürlich. An die
Stelle des positiv gesetzten Rechts tritt nicht der allmächtig willkürliche
Wille des Machthabers, sondern das „Gesetz der Geschichte“ oder das
„Recht der Katur“, also eine Art von Instanz, wie sie das positive Recht,
das immer nur konkrete Ausgestaltung einer höheren Autorität zu sein
behauptet, selbst braucht und auf die es sich als auf die Quelle seiner Legi¬
timität immer irgendwie beruft.
Es ist in der Tat die monströse, aber sehr schwer zurückweisbare Be¬
hauptung der totalitären Machthaber, daß sie nicht nur nicht gesetzlos
und willkürlich handelten, sondern im Gegenteil zu den Quellen der Au¬
torität zurückkehrten, von denen alles positive Recht sich speist und seine
Legitimität erst erhält. Damit wird zwar der Unterschied zwischen Schuld
und Unschuld, der immer nur an positivem Recht zu messen ist, abgeschafft
- und damit alle Beurteilung, Aburteilung und Bestrafung unmöglich ge¬
macht -, gleichzeitig aber angeblich eine höhere Form von Gesetzestreue
erzeugt, die es sich leisten könne, mit dem kleinlichen Buchstaben positiv
erlassener Gesetze nach Belieben umzugehen, weil ihr ein Handeln ent¬
springt, das eine direkte und unvermittelte Ausführung von Befehlen
sei, die Geschichte oder Natur selbst gegeben haben. Im Gegensatz zu dem
legalen Handeln, das durch positives Recht ermöglicht wird und das immer
durch einen Mangel gerade an Gerechtigkeit gekennzeichnet ist, weil das
allgemeine Gesetz auf bestimmte Fälle angewandt wird, die es nie in ihrer
Besonderheit voraussehen konnte und auf die es daher nie wirklich zu¬
geschnitten ist, im Gegensatz zu dieser immer auch ungerechten Legalität
behauptet die totalitäre Herrschaft eine Welt herstellen zu können, die
von sich aus, unabhängig vom Handeln der Menschen in ihr, gesetzmäßig
ist, in Übereinsdmmung mit den die Welt eigentlich durchwaltenden Ge¬
setzen funktioniert wobei es gleichgültig ist, ob dies Gesetz als das in
der Natur geltende Recht oder ein dem geschichtlichen Ablauf immanen¬
tes Gesetz hingestellt wird.
In der Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht
spricht sidi eine unmenschliche Gesetzestreue aus, für welche Mensdien
nur das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze von Natur
und Geschichte vollzogen, und das heißt hier im furchtbarsten Sinne des
Wortes exekutiert werden. Diese Exekution der objektiven Gesetze von
Natur oder Geschichte soll schließlich eine Menschheit produzieren, - sei
es eine Rassengesellschaft oder eine Massen- und nationslose Gesellsiaft -

232
IDEOLOGIE UND TERROR

die in sich selbst nur der Exponent der Gesetze ist, die in ihr verwirklicht
wurden. Hinter dem Anspruch auf Weltherrschaft, die alle totalitären
Bewegungen stellen, liegt immer der Anspruch, ein Menschengeschlecht
herzustellen, das aktiv handelnd Gesetze verkörpert, die es sonst nur
passiv, voller Widerstände und niemals vollkommen erleiden würde.
An dieser Stelle kommt bereits der grundsätzliche Unterschied zwischen
dem totalitären und allen anderen Begriffen von Gesetz und Recht ans
Licht. Zwar ist es richtig, daß Natur oder Geschichte als die Quellen der
Autorität für alles positive Recht sich auch nach nicht-totalitärer An-
sdiauung im Menschen kund tun - sei es als das lumen naturale des Natur¬
rechts oder die Stimme des Gewissens alles historisch-religiös fundierten
Rechts. Diese Kundgebung der Autorität im Menschen heißt ihn etwas tun,
aber sie macht ihn nicht zu einer wandelnden Verkörperung von Gesetzen;
gerade weil das lumen naturale Einsicht oder die Stimme des Gewissens
Gehorsam fordern, sind sie deutlich von dem einsehenden oder gehor¬
chenden Menschen als seine Autorität geschieden. Die Autorität des Ge¬
setzes regelt die Handlungen der Menschen, sie ist keineswegs und nie¬
mals mit ihnen identisch. Das positive Recht ist im Vergleich mit der Quelle
der Autorität, auf die es sich beruft, zeitgebunden, veränderlich, abander¬
bar je nach Umständen. Aber die Handlungen der Menschen, denen das
positive Recht bestimmte Regeln vorschreibt, sind noch zeitgebundener,
noch abhängiger von Umständen, so daß ihnen gegenüber das positive
Recht eine relative Permanenz behauptet und den dauernd sich ändernden
Umständen der Menschen eine relative Stabilität verleiht. Diese relative
Permanenz ist gleichsam der in die Menschenwelt fallende Schein der
- nach menschlichen Maßstäben geurteilten - ewigen Gegenwart der
Quellen der Autorität und Legitimität aller positiven Gesetze, des jus
naturale oder des offenbarten Wortes Gottes. Alle Gesetze im Sinne des
positiven Redits sind stabilisierende Faktoren für die ewig sich ändernden
Umstände, für die notwendige Unbeständigkeit menschliAer Angelegen¬
heiten, in denen menschliches Handeln sich in einer ständigen Bewegung
hält und ständig neue Bewegung hervorruft. r' i
Im Gegensatz zu dieser Funktion der Stabilisierung, die Gesetze in
allen normal funktionierenden Gemeinschaften haben, sind die totalitären
Gesetze von vornherein als Bewegungsgesetze, als Gesetze, die einer Be
wegung immanent sind, bestimmt. Positives Recht wird verletzt, weil es
in eine dauernde Veränderung hineingerissen ist: was pstern Recht war,
ist heute überholt und Unrecht geworden. (Juristisch gesprodien. au
jedem Gesetz ist eine Verordnung geworden.) Natur und GeschiAte sind
niAt mehr die stabilisierenden Quellen der Autorität für das Hände n
sterblicher Menschen, sondern in sich selbst Prozesse, deren inhärente Be-

233
HANNAH ARENDT

wegungsgesetze zwar beobachtet und berechnet werden können, die aber


abgesehen von diesem äußeren Wahrgenommenwerden keinerlei Ent¬
sprechung mehr im Inneren des Menschen, wie die Einsicht des lumen
naturale oder die Stimme des Gewissens, haben. Weder auf Einsicht noch
auf Gewissen ist für das Handeln irgendein Verlaß. Dem Glauben der
Nazis an Rassegesetze lag die Darwin’sche Vorstellung vom Mensdien als
eines eigentlich zufälligen Resultats einer Naturentwicklung zugrunde,
die nicht notwendig mit dem Menschen an ihr Ende gekommen zu sein
braucht. Dem Glauben der Bolschewisten an Geschichtsgesetze liegt Marx’
Vorstellung von der menschlichen Gesellschaft als dem Resultat eines
gigantischen Geschichtsprozesses zugrunde, der mit immer vergrößerter
Geschwindigkeit seinem Ende entgegenrast und sich selbst als Geschichte
aus der Welt schafft.
So hat selbst das Wort Gesetz in der totalitären Sprache seine Bedeu¬
tung geändert: es deutet nicht mehr auf den Zaun des Gesetzes hin, dessen
relative Stabilität den Raum der Freiheit schafft und behütet, in welchem
menschliche Bewegungen und Handlungen stattfinden und sich abspielen;
sondern es bezeichnet vorerst und wesentlich eine Bewegung. In diesem
Sinne wurde das Wort Gesetz bereits von den Ideologien gebraucht, das
heißt von jenen Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts, die von einer
Prämisse ausgehend behaupteten, den Schlüssel für alles Geschehen in der
Hand zu haben. Daß unter ihnen nur der dialektische Materialismus und
der Rassismus zu politischer Bedeutung gekommen sind, mag unter ande¬
rem darin seinen Grund haben, daß diese beiden konsequenter als alle
andeien als Prämisse eine überdimensionale Kjcift (und nicht nur etwas
überhaupt Übermächtiges) annahmen, die als Bewegung - der Natur
oder der Geschichte — durch das Menschengeschlecht hindurchgeht und
jeden einzelnen nolens volens an sich zieht und mitschleift. Auffallend ist,
daß - so verschieden diese beiden Ideologien voneinander sind, so gro߬
artig erfüllt mit den besten abendländischen Traditionen der dialektische
Materialismus, so kläglich-vulgär, wiewohl auf einem echten Erfahrungs¬
element basierend, der Rassismus - in beiden Konzeptionen das Bewe-
gungsgesetz sich gleich äußert: es läuft in jedem Falle auf ein Gesetz
der Ausscheidung von „Schädlichen“ oder Überflüssigen zugunsten des
reibungslosen Ablaufs einer Bewegung heraus, aus der schließlich gleich
dem Phönix aus der Asche eine Art Menschheit erstehen soll. Würde das
Bewegungsgesetz in positives Recht übersetzt, so könnte sein Gebot nur
heißen: Du sollst töten! Die Ideologien ziehen diese Schlußfolgerung nidht,
weil sie noch damit rechnen, daß der Prozeß irgendwann einmal an ein
Ende kommen wird, etwa wenn die klassenlose Gesellschaft auf der gan-

234
IDEOLOGIE UND TERROR

zen Erde verwirklicht oder die Herrenrasse über die ganze Welt zur Herr-
sdiaft gekommen ist.
Totalitäre Politik, die daran ging, die Rezepte von Ideologien zu be¬
folgen, hat das wahre Wesen dieser Bewegungen insofern entlarvt, als
sie deutlich machte, daß es ein Ende des Prozesses nicht geben könne. Wenn
es das Gesetz der Natur ist. Schädliches und Lebensuntaugliches zu eli¬
minieren, so wäre es das Ende der Natur überhaupt, wenn neue Katego¬
rien von Schädlichen und Lebensuntauglichen nicht gefunden würden;
wenn es das Gesetz der Geschichte ist, daß in einem Kampf der Klassen
bestimmte Klassen „absterben“, so wäre das Ende menschlicher Geschichte
gekommen, wenn nicht neue Klassen sich ansatzweise bildeten, um dann
von den totalitären Machthabern zum „Absterben“ gebracht zu werden.
Mit anderen Worten, das Gesetz des Tötens, wonach totalitäre Bewegun¬
gen die Macht antreten, bleibt bestehen als ein Gesetz der Bewegung, selbst
wenn es ihnen je gelingen sollte, die ganze Menschheit unter ihre Herr¬
schaft zu zwingen. Die Menschheit selbst wird die Verkörperung des Pro¬
zesses, also ein ständig sich in seiner Gesamtheit Veränderndes und Be¬
wegendes, in welchem die permanente Ausscheidung der Überflüssigen
und Schädlichen nun gleichsam automatisch vor sich geht. Die Friedhofs¬
ruhe, die nach klassischer Theorie die Tyrannis über das Land legt - und
die in Wahrheit auch immer die Stille war, welche dem Entstehen eines
neuen Anfangs günstig sein konnte - bleibt dem totalitär regierten Land
so verwehrt wie Ruhe überhaupt. Zwar sind seine Bewohner alles in freier
Spontaneität entspringenden Handelns oder auch nur Tätigseins beraubt;
dennoch werden sie in dauernder Bewegung gehalten als Exponenten des
gigantisch übermenschlichen Prozesses von Natur oder Geschichte, der
durch sie hindurchrast. •• j t i.
Wie der Gesetzesstaat positives Recht benötigt, um das unveränderliche
ins naturale oder die ewigen Gebote Gottes oder die aus unvordenk-
lidien Zeiten stammenden und darum geheiligten GebrauAe und Tradi¬
tionen zu verwirkliAen, so brauAt totalitäre HerrsAaft den Terror, um
die Prozesse von GesAiAte oder Natur loszulassen und ihre Bewegungs¬
gesetze in der mensAliAen GesellsAaft durAzusetzem Wie positives
ReAt das Vergehen und das VerbreAen in einer GesellsAaft jeweils fest¬
legt aber für seine Gültigkeit von Übertretungen ganz unabhängig ist -
Gesetze werden niAt überflüssig, wenn siA niemand gegen sie verge ,
so wird auA totalitärer Terror (im Gegensatz zu den EinsAuAter^gs-
methoden in allen Tyranneien und Diktaturen) niAt dann Überfluss g,
wenn es keine Opposition mehr gibt, gegen die er siA wenden konnte,

auA er ist unabhängig geworden von Vd^Dritten RdA


Ja unsere Erfahrungen mit der Sowjet-Union wie mit dem Dritten Rei

235
HANNAH ARENDT

haben uns gelehrt, daß wir diesen Vergleich noch einen Schritt weiter
treiben dürfen: wie das Gesetz in den uns bekannten Staatsgebilden
desto vollkommener herrscht, je weniger Verbrechen es durchbrechen, so
wird die vollkommene Herrschaft des Terrors erst dann losgelassen, wenn
jegliche Opposition, gegen die er sich wenden könnte (und in den ersten
Stadien der Diktatur auch faktisch wendet), erloschen ist.
Wenn wir also in Übereinstimmung mit der klassischen Theorie in der
Gesetzesherrschaft das eigentliche W^esen einer verfassungsmäßigen Re¬
gierung sehen, dann können wir Terror als das eigentliche Wesen der
totalitären Herrschaft bestimmen.

II

Wenn hier vom Wesen einer Staatsform die Rede ist, so in der bewußten
Nachfolge Montesquieus, der in der abendländischen Tradition politischen
Denkens Unterschied und Beziehung zwischen dem Wesen einer Regierung
und ihrem Prinzip fand und bestimmte, daß das Wesen der Staatsform
(oder auch seine Struktur) das ist, was macht, daß der Staat so und nicht
anders ist (eine Republik und keine Monarchie etwa), während das Prin¬
zip einer jeden Regierung das ist, was bewirkt, daß in ihr gehandelt wer¬
den kann. (II y a cette difference entre la nature du gouvernement et son
principe, que sa nature est ce qui le fait etre tel; et son principe ce qui
le fait agir. „Esprit des Lois , Livre III, chap. 1.) So hat die Monarchie ihr
Wesen in gesetzlicher Regierung, in der die Macht in den Händen eines
einzigen liegt; gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Ehre, das auf
dem Wunsch nach Auszeichnung beruht. Die Republik hat ihr Wesen in
verfassungsmäßiger Regierung, in der die Macht in den Händen des Vol¬
kes liegt, gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Tugend, das auf der
Liebe zur Gleichheit beruht. Die Tyrannis hat ihr Wesen in gesetzloser
Herrschaft, in der Macht von der Willkür eines einzelnen ausgeübt wird;
ihr Prinzip des Handelns ist die Furcht; worauf diese Furcht beruht, sagt
uns Montesquieu nicht.
Das Wesen totalitärer Herrschaft in diesem Sinne ist der Terror, der
aber nicht willkürlich und nicht nach den Regeln des Machthungers eines
einzelnen (wie in der Tyrannis), sondern in Übereinstimmung mit außer-
menschlidien Prozessen und ihren natürlichen oder geschichtlichen Ge¬
setzen vollzogen wird. Als solcher ersetzt er den Zaun des Gesetzes in
dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen können, durch ein ei¬
sernes Band, das die Menschen so stabilisiert, daß jede freie, unvorherseh¬
bare Handlung ausgeschlossen wird. Terror in diesem Sinne ist gleichsam
das „Gesetz“, das nicht mehr übertreten werden kann. Diese terroristisdbe
Stabilisierung soll der Befreiung der sich bewegenden Geschichte oder

236
IDEOLOGIE UND TERROR

Natur dienen. Eine Diskussion mit Anhängern totalitärer Bewegungen


über Freiheit ist schon darum so außerordentlich unergiebig, weil sie an
menschlicher Freiheit, das heißt an der Freiheit menschlichen Handelns
nicht nur nicht interessiert sind, sondern sie für gefährlich für die Be¬
freiung natürlicher oder historischer Prozesse halten. Die sogenannte Frei¬
heit der Geschichte und der Natur, die sich ja nach beobachtbaren Regeln
vollzieht, kann für den Menschen in der Tat nur im Gewand der Not¬
wendigkeit auftreten. Sofern Natur und Geschichte Kräfte sind, denen bis
zu einem gewissen Grad Menschen immer unterworfen sind, können sie,
wenn mit ihnen ein politischer Körper konstituiert wird, nur als Zwang
verstanden und realisiert werden. Auf diesem Zwang beruht, diesen
Zwang realisiert der totalitäre Terror, indem er nicht gerechte oder un¬
gerechte positive Gesetze erläßt und anwendet, sondern den Bewegungs¬
prozeß dieser Kräfte vollstreckt im Sinne der Exekution. Der Terror ist
nicht ein Mittel zu einem Zweck, sondern die ständig benötigte Exekution
der Gesetze natürlicher oder geschichtlicher Prozesse.
Terror macht die Menschen unbeweglich, als stünden sie und ihre spon¬
tanen Bewegungen nur den Prozessen von Natur oder Geschichte im Wege,
denen die Bahn frei gemacht werden soll. Terror scheidet die Individuen
aus um der Gattung willen, opfert Menschen um der Menschheit willen,
und zwar nicht nur jene, die schließlich wirklich seine Opfer werden son¬
dern grundsätzlich alle, insofern der Geschichts- oder Naturprozeß von
dem neuen Beginnen und dem individuellen Ende, welches das Leben
jedes Menschen ist, nur gehindert werden kann. Populär und scheinbar
harmlos äußert sich die terroristische Gesinnung bereits in dem Sprich¬
wort: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“, einem Spruch mit dem man
bekanntlich jegliches rechtfertigen kann und gerechtfertigt hat. In solcher
Gesinnung wird nur dort Geschichte überhaupt anerkannt, wo Spane
auch wirklich fallen, bis dann mehr oder minder offw die Große von
Ereignissen nur noch gemessen wird an der Zahl der Opfer, die sie for¬
dern, Psychologisch ist diese Gesinnung die beste, ja die einzig mog i
VorbereLng für das Leben unter Verhältnissen, die vom Terror bestimm
lüd Denn fn ihr hat man bereits den besten Freund den gel.ebte^en
Menschen und auch sich selbst als mögliche Spane für das erhabene
beln von Natur oder Geschichte erkannt und geopfert.
Die Versuchung, menschliches Handeln am Modell des Herstellens von
Geg!=nS”den zu cirientieren, ist nicht neu, war aber natürlicherweise nie¬

mals so mächtig und t.'r: mThf ILX in

Tenfnzl “sihTm ersten Male wesentlich als arieitenie W«en


tXZlZä bestimmten. Dies neue Selbstverständnis des Menschen

237
HANNAH ARENDT

fand seinen ersten theoretischen Ausdruck in Marx, und die außerordent¬


liche Anziehungskraft des Marxismus auf alle Völker der Erde verdankt
dieser neuen Einschätzung der Arbeit sicherlich nicht weniger als seinen
sogenannten chiliastischen Elementen. Arbeit nun, obwohl sicher nicht
mit einfachem Herstellen identisch, steht diesem doch näher als alle Arten
menschlichen Handelns. Herstellen, auch wenn es von vielen zusammen
und fabrikmäßig betrieben wird, hat es immer nur mit einem Subjekt zu
tun, das einen Gegenstand hervorbringen will; auch Robinson auf seiner
Insel ist noch Mensch im Sinne des homo faber. Handeln dagegen kann
ich immer nur in bezug auf andere und mit ihnen zusammen. Alles Han¬
deln ist in den Worten Burkes „to act in concert“; was bei diesem Tun
herauskommt, hat niemals ein Ende und daher auch weder die Bestän¬
digkeit noch die Eindeutigkeit eines im Mittel-Zweck-Zusammenhang er¬
zeugten Gegenstandes. Wenn im Herstellen wirklich gilt: Der Zweck
rechtfertigt die Mittel, so gilt im Bereich des Handelns umgekehrt: eine
gute Tat um eines bösen Zweckes willen fügt der Welt Güte zu, eine böse
Tat um eines guten Zweckes willen macht die Welt unausweichlich
schlechter.
Gesetze im Sinne des positiven Rechts sind für ein Handeln in
der Gesinnung des Herstellens oder des „Wo gehobelt wird, da fal¬
len Späne ganz und gär überflüssig. Denn sie sichern Kontinuität in
der Sphäre menschlichen Zusammenlebens als solcher, in der es einen
durch Gegenstände getragenen, an ihnen ausgerichteten und von ihnen
garantierten Verlaß ganz und gar nicht gibt. Die Kontinuität mensch¬
lichen Zusammenlebens wird immer wieder durch das erschüttert, was wir
gemeinhin die Freiheit des Menschen nennen; und das ist politisch die
Geburt jTdes neuen Menschen, der in dies Zusammenleben hineinge¬
boren wird, weil mit jeder neuen Geburt ein neuer Anfang, eine neue
Freiheit, eine neue Welt anhebt. Initium ut esset, creatus est homo -
„Der Mensch wurde geschaffen, damit ein Anfang sei“, sagte Augustin
(„Civitas Dei , lib. 12, cap. 20). Diesen neuen Anfang hegen die Zäune
der Gesetze ein und sichern ihm zugleich seine Freiheit, schaffen ihm den
Raum, in welchem allein Freiheit sich verwirklichen kann. So garantiert
das Gesetz die Möglichkeit eines unvoraussehbar, absolut Neuen und zu¬
gleich die Präexistenz einer gemeinsamen Welt, deren Kontinuität alle
einzelnen Anfänge übersteigt, das ist eine Wirklichkeit, die alle neuen
Ursprünge in sich aufnimmt und von ihnen sich nährt.
Jede Gewaltherrsdiaft muß die Zäune der Gesetze dem Erdboden
gleichmachen. Totalitärer Terror, sofern er dies in seinen Anfangssta¬
dien audi tut, unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderen Formen der
Tyrannis. Nur daß dieser nicht den willkürlich-tyrannischen Willen eines

238
IDEOLOGIE UND TERROR

einzelnen über die ihres Schutzes beraubten und zur Ohnmacht ver¬
dammten Menschen loslassen will, noch die despotische Macht eines ein¬
zigen gegen alle anderen, noch, und am allerwenigsten, die Anarchie eines
Krieges aller gegen alle. Die Tyrannis begnügt sich mit der Gesetzlosig¬
keit; der totale Terror setzt an die Stelle der Zäune des Gesetzes und
der gesetzmäßig etablierten und geregelten Kanäle menschlicher Kom¬
munikation sein eisernes Band, das alle so eng aneinanderschließt, daß
nicht nur der Raum der Freiheit, wie er in verfassungsmäßigen Staaten
zwischen den Bürgern existiert, sondern auch die Wüste der Nachbar-
losigkeit und des gegenseitigen Mißtrauens, die der Tyrannis eigentüm¬
lich ist, verschwindet, und es ist, als seien alle zusammengeschmolzen in
ein einziges Wesen von gigantischen Ausmaßen. Auch dies drückt der
auf totalitäre Verhältnisse so trefflich vorbereitete Volksmund auf seine
Weise aus, wenn er nicht mehr von „den“ Russen oder „den“ Franzosen
spricht, sondern uns neuerdings erzählt, was der Russe will oder
der Franzose sei. Terror, als der folgsame Vollstrecker natürlicher oder
geschichtlicher Prozesse, fabriziert dies Einssein von Menschen, indem er
den Lebensraum zwischen Menschen, der der Raum der Freiheit ist, radi¬
kal vernichtet. Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also nidit
darin, daß sie bestimmte Freiheiten beschneidet oder beseitigt, noch dann,
daß sie die Liebe zur Freiheit aus dem menschlichen Herzen ausrottet;
sondern einzig darin, daß sie Menschen, so wie sie sind, mit solcher Ge¬
walt in das eiserne Band des Terrors schließt, daß der Raum des Han¬
delns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet.
Das eiserne Band des Terrors konstituiert den totalitären politischen
Körper, um ein Instrument zu gewinnen, mit dem die Bewegung des Na¬
tur- oder des Geschichtsprozesses beschleunigt werden kann. Dem Terror
gelingt es, Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural,
sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Men¬
schen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automa¬
tisch notwendigen Natur- oder Geschichtsprozesses mit absoluter SiAer-
heit und Berechenbarkeit einfallen. Diese an sich notwendig ablau¬
fenden Prozesse will der Terror auf eine Geschwindigkeit, gleichsam auf
eine Tourenzahl bringen, die sie ohne die Mithilfe der zu einem Men¬
schen organisierten Menschheit nie erreichen konnten. Praktisch heißt
dies daß Terror die Todesurteile, welche die Natur angebliA über, min¬
derwertige Rassen“ und „lebensunfähige Individuen“ oder die GeschiAte
über „absterbende Klassen“ und „dekadente Völker“ gesprochen hat,
auf der Stelle vollstreckt, ohne den langsameren und unsicheren Ver¬
nichtungsprozeß von Natur oder Geschichte selbst abzuwarten.
Wir kennen keinen vollkommenen totalitären Herrschaftsapparat, denn

239
HANNAH ARENDT

er würde die Beherrschung der gesamten Erde voraussetzen. Wir wissen


aber genug von den immer noch vorläufigen Experimenten totaler Organi¬
sation, um zu erkennen, daß die durchaus mögliche Vervollkommnung die¬
ses Apparats menschliches Handeln in dem uns bekannten Sinne abschaf¬
fen würde. Handeln würde sich als überflüssig erweisen im Zusammen¬
leben der Menschen, wenn alle Menschen zu einem Menschen, alle Indi¬
viduen zu Exemplaren der Gattung, alles Tun zu Beschleunigungsgriffen
in der gesetzmäßigen Bewegungsapparatur der Geschichte oder der
Natur, und alle Taten zu Vollstreckungen der Todesurteile geworden
sind, die Geschichte oder Natur ohnehin verhängt haben.
In solch einem bisher nicht erreichten perfekten Regime des Terrors
würde Montesquieus zweite Bestimmung in der Definition von Staats¬
formen, die Bestimmung des „Prinzips“, das zu dem Wesen einer jeden
Regierung gehörend sie zum Handeln und damit im politischen Feld erst
eigentlich in Bewegung bringt, ganz und gar fortfallen. Und in der Tat
werden totalitäre Machthaber in ihrem Tun weder von Ehre noch von
Tugend noch von Furcht geleitet. Insofern aber totalitäre Herrschaft ihre
eigene vollkommene Ausprägung noch nicht erhalten hat und sich immer
noch in einer Welt bewegt, in welcher es Handeln gibt und daher audi
Prinzipien des Handelns benötigt werden, braucht auch sie noch ein ihr
eigentümliches Prinzip, das ihren Terrorapparat in Bewegung setzt und
die ihm ausgelieferten Menschen in ihrem Verhalten inspiriert.
Prinzipien des Handelns dürfen nicht mit psychologischen Motiven
verwechselt werden. Sie sind vielmehr die Maßstäbe, an denen öffentlich¬
politisches Handeln, und nur dieses, gemessen wird. So wie es der Stolz
eines Bürgers einer Republik ist, nicht mehr zu gelten in öffentlichen An¬
gelegenheiten als irgendein anderer Bürger - dies ist seine „Tugend“ -,
so ist es der Stolz eines Untertanen in einer Monarchie, sich auszuzeichnen
und öffentlich geehrt zu werden. Dies heißt nicht, daß die Bürger einer
Republik nicht wissen, was Ehre ist, oder die Untertanen einer Monardiie
sich nicht um „Tugend“ bekümmerten, sondern lediglich, daß das öffent¬
liche Leben — in welchem wir nur handeln können, indem wir mit anderen
zusammen handeln, und betroffen sind nur von Angelegenheiten, die
für jeden von gleicher Dringlichkeit sind -, immer von gewissen Prinzi¬
pien bestimmt ist, die keinesfalls für alle Formen öffentlichen Lebens die
gleichen sind. VAenn solche Prinzipien ihre Gültigkeit verlieren, wenn
man in einer Republik nicht mehr weiß, was Tugend ist, oder in einer
Monarchie nicht mehr an Ehre glaubt, oder wenn in einer Tyrannis der
Machthaber aufhört, seine Untertanen und die Beherrschten aufhören,
d^ri Tyrannen zu fürchten, so geht jede dieser drei Regierungsformen
ihrem Ende entgegen.

240
IDEOLOGIE UND TERROR

Montesquieu benötigte dies Prinzip, das seine Staatsformen erst in Be¬


wegung setzt, indem es Machthabern wie Bürgern die Maßstäbe für ein
einheitliches öffentliches Handeln und Sich-Verhalten gibt, weil das
Wesen der Staatsformen, so wie es aus den antiken Definitionen über¬
nommen war, an sich selbst stabil und unbeweglich ist, allem Handeln
also nur bestimmte Grenzen setzt, nicht aber es veranlassen und inspi¬
rieren kann. Unter totalitären Bedingungen scheint ein bewegendes Prin¬
zip einerseits überflüssig geworden zu sein, weil das Wesen jetzt an sidi
selbst bereits Bewegung ist; andererseits scheint das einzige Prinzip des
Handelns, das rein praktisch in Frage kommt, wie in allen Tyranneien
die Furcht zu sein.
Furcht entsteht in der Tyrannis dadurch, daß der Raum der Freiheit,
den die Gesetze umhegten, von der Willkür des Tyrannen in eine
Wüste verwandelt ist. Auch in dieser Wüste gibt es noch ein Mini¬
mum menschlichen Kontakts und sie bewahrt noch eine Spur jenes
Raumes, den menschliche Freiheit braucht, um wirklich zu werden. In ihr
bewegen sidi Menschen noch und begegnen einander, beraten von den
Prinzipien der Furdit und des Mißtrauens. Furcht und Mißtrauen kön¬
nen aber keine Ratgeber mehr sein, wenn unter totalitärer Herrschaft
der Terror beginnt, seine Opfer nach objektiven Kriterien, ohne allen
Bezug auf irgendwelche Gedanken oder Handlungen der Betroffenen,
auszuwählen. Furcht hört damit auf, einen praktischen Sinn zu haben.
Zwar bleibt sie nodi die alles durchdringende Stimmung, die das Herz
jedes einzelnen verwüstet, so wie Mißtrauen noch die Beziehungen
Menschen zueinander vergiftet, aber einen Rat, wie zu handeln sei, kön¬
nen weder Furcht noch Mißtrauen geben, da vom eigenen Handeln das
Sdiicksal gar nicht mehr abhängt. . i i r
Totalitäre Herrschaft, deren Wesen der Terror ist und die daher aut
ihn als ein Furcht einflößendes Mittel der Beherrschung nicht mehr rech¬
nen kann, rechnet überhaupt nicht mit handelnden Menschen und kann
daher auch kein eigentliches Prinzip des Handelns, und sei es das Prin¬
zip der Furdit, gebrauchen. An seine Stelle setzt sie etwas ganz und gar
anders Geartetes, das mit dem menschlichen Willen zum Handeln nichts
mehr zu tun hat, dafür aber seinem Bedürfnis nach Einsidit entgegen¬
kommt und ihn lehrt, die Bewegungsgesetze zu verstehen die der Terror
vollstreckt und die ja angeblich von Geschichte und Natur über eine
ihnen ausgelieferte Menschheit ohnehin verhängt worden sind. Innerhalb
solcher über die Menschheit verhängten Prozesse in f
sind und an denen sie nichts ändern können, außer daß sie dazu bestellt
scheinen, ihre Geschwindigkeit zu erhöhen, kann es nur Vollstreckei und
Opfer der ihnen inhärenten Gesetze geben. Im Sinne dieser Bewegungs-

241
HANNAH ARENDT

gesetze liegt es, daß die, welche heute die Vollstrecker sind und „minder¬
wertige Rassen und lebensunfähige Individuen“ oder ,,absterbende Klas¬
sen und dekadente Völker“ liquidieren, morgen diejenigen sein können,
an denen dieser Ausscheidungsprozeß vollzogen werden muß. Das Ver¬
langen nach Einsicht in diesen Prozeß mobilisiert die totalitäre Herr¬
schaft, um beide, Vollstrecker wie Opfer, auf diesen Prozeß vorzuberei¬
ten. An die Stelle des Prinzips des Handelns tritt die Präparierung der
Opfer, welche Natur- oder Geschichtsprozeß fordern werden, und zwar
eine Präparierung, die gegebenenfalls den einzelnen gleich gut für die
Rolle des Vollstreckers wie für die Rolle des Opfers vorbereiten kann.
Diese Präparierung leistet in der totalitären Herrschaft die Ideologie,
und sie entspricht Montesquieus Prinzip des öffentlichen Handelns, in¬
sofern auch sie für beide, Herrscher und Beherrschte, Vollstrecker und
Opfer, gleichermaßen gültig und zwingend ist.

III

Der Gebrauch der Ideologien als politische Waffe ist so wenig auf tota¬
litäre Bewegungen beschränkt, wie der Gebrauch des Terrors zum Zwecke
der Einschüchterung auf totalitäre Herrschaft beschränkt ist. Auf dem
uralten Gebiet der Grausamkeit haben sich die totalitären Gewalthaber
etwas Neues weder ausdenken können noch wollen; die fabrikmäßig be¬
triebene Vernichtung von Menschen wird oft sogar mit einem Minimum
an Grausamkeit ins Werk gesetzt. So haben die totalitären Bewegungen
auch den von ihnen übernommenen Ideologien, dem Kommunismus oder
dem Rassismus, der Lehre vom Kampf der Klassen oder der Lehre vom
Recht des Stärkeren, nicht einen einzigen neuen Gedanken, ja nicht ein¬
mal ein einziges neues Propagandaschlagwort hinzugefügt.
Obwohl weder Kommunismus noch Rassismus an sich totalitär sind,
enthalten sie doch wie nahezu alle Ismen, gewisse totalitäre Elemente,
die sie zu so eminent geeigneten Werkzeugen in der Hand totalitärer
Bewegungen gemacht haben, daß man meinen möchte, erst in diesem
Gebrauch sei das wahre Wesen der Ideologien ans Licht getreten. Sol¬
cher Elemente im ideologischen Denken gibt es drei, und sie hängen aufs
engste miteinander zusammen:
Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung haben es er¬
stens an sich, nicht das, was ist, sondern nur das, was wird, was entsteht
und vergeht, zu erklären. Sie haben ein Element der Bewegung von
vornherein in sich, weil sie sich überhaupt nur mit dem sich Bewegenden
befassen, also mit Geschichte im gewöhnlichen Verstände des Wortes.
Ideologien sind auch dann nur auf Geschichte gerichtet, wenn sie, wie
im Falle des Rassismus, scheinbar von der Natur ausgehen; Natur dient

242
IDEOLOGIE UND TERROR

hier nur dazu, Geschichtliches zu erklären, es auf Natürliches zu redu¬


zieren. Der Anspruch auf totale Welterklärung verspricht die totale Er¬
klärung alles geschichtlich sich Ereignenden, und zwar totale Erklärung
des Vergangenen, totales Sich-Auskennen im Gegenwärtigen und ver¬
läßliches Vorhersagen des Zukünftigen. Als solches wird ideologisches
Denken zweitens unabhängig von aller Erfahrung, die ihr selbst dann
nichts Neues mitteilen kann, wenn das Mitzuteilende soeben erst entstan¬
den ist. Es emanzipiert sich also von der Wirklichkeit, so wie sie uns in
unseren fünf Sinnen gegeben ist, und besteht ihr gegenüber auf einer
„eigentlicheren“ Realität, die sich hinter diesem Gegebenen verberge, es
aus dem Verborgenen beherrsche und die wahrzunehmen wir einen sech¬
sten Sinn benötigen. Den sechsten Sinn vermittelt eben die Ideologie,
bzw. jene ideologische Schulung, welche auf den eigens dafür errichteten
Erziehungsanstalten „politischer Soldaten“, den Ordensburgen der Nazis
oder den Schulen der Komintern und Kominform, vermittelt wird. Der
Emanzipation des Denkens von erfahrener und erfahrbarer Wirklich¬
keit dient auch die Propaganda der totalitären Bewegungen, die immer
darauf hinausläuft, jedem offenbar Geschehenden einen geheimen Sinn
und jedem offenbaren politischen Handeln eine versdiwörerische Absicht
unterzulegen. Sind die Bewegungen erst einmal an die Macht gekommen,
so beginnen sie, die Wirklichkeit im Sinne ihrer ideologischen Behaup¬
tungen zu verändern. Der Begriff der Feindschaft wird durch den der
Versdiwörung ersetzt und damit eine politische Realität hergestellt, in
der hinter jeder Erfahrung des Wirklichen - wirklicher Feindschaft oder
wirklicher Freundschaft - der Natur der Sache nach etwas anderes ver¬
mutet werden muß. .
Die Ideologien, die ja selbst nicht die Macht hatten, die Wirklichkeit
zu verändern, verließen sich drittens in ihrer Emanzipation des Denkens
von Erfahrung und erfahrener Wirklichkeit auf das Verfahren ihrer Be¬
weisführung selbst. Dem was faktisch geschieht, kommt ideologisches Den¬
ken dadurch bei, daß es aus einer als sicher angenommenen Pramuse
nun mit absoluter Folgerichtigkeit - und das heißt natürlich, mit einer
Stimmigkeit. wie sie in der Wirklichkeit nie anzutreffen ist - alles Wei¬
tere deduziert. Das Deduzieren kann einfach logisch oder audi dialektisch
vonstatten gehen; in beiden Fällen handelt es sid. um einen gesetzmäßig
verlaufenden Argumentationsprozeß, der als Prozeßdenken imstande
sein soll, die Bewegungen der übermenschliAen natiirlichen oder ge^
schichtlichen Prozesse einzusehen. Einsicht vollzieht sich hier dadurch, daß
der Verstand im logischen oder dialektisdien Prozeß die Gesetze angeb¬
lich wissenschaftlich festgestellter Bewegungen naihahmt und in der
Nachahmung sich ihnen einfügt. Die ideologische Beweisführung, die

243
HANNAH ARENDT

immer logisch-deduzierend ist, wird den beiden vorhergenannten Ele¬


menten der Ideologien, dem Element der Bewegung und dem Element
der Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung, dadurch gerecht, daß
sie einerseits selber wesentlich ein sich aus sich selbst bewegendes Den¬
ken ist, und daß sie andererseits diesen Bewegungsprozeß nur auf einen
einzigen, noch der erfahrenen Wirklichkeit entnommenen Punkt, der in
der Prämisse als gegeben angenommen wird, stützt, die von hier aus ent¬
faltete Bewegung dann aber von aller weiteren Erfahrung völlig un¬
berührt läßt. Ideologisches Denken ist, hat es erst einmal seine Prämisse,
seinen Ausgangspunkt, statuiert, prinzipiell von Erfahrung unbeeinflu߬
bar und von der Wirklichkeit unbelehrbar.
So tritt an die Seite der angeblichen Erbarmungslosigkeit von Natur
oder Geschichte, die (wie Hitler zu sagen liebte) „Eiskälte“ der mensch¬
lichen Logik. Diese Logik - und nicht so sehr der ursprüngliche Gehalt
der Ideologien: die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen
oder das Primat des Nationalen - überzeugt Menschen, die sich auf ihre
Erfahrungen nicht mehr verlassen wollen, weil sie sich mit ihnen in der
Welt nicht mehr zurechtfinden können. An die Stelle einer Orientierung
in der Welt tritt der Zwang, mit dem man sich selbst zwingt, von dem
reißenden Strom übermenschlicher, natürlicher oder geschichtlicher Kräfte
mitgerissen zu werden. Solange die Ideologien nur in der Form von
Weltanschauungen bestehen, die ihnen das 19. Jahrhundert gegeben hat,
bevor sie zu Mitteln einer neuen politischen Organisation geworden sind,
ist ihr eigentlicher Inhalt — der Kampf um Gerechtigkeit im Kommunis¬
mus und die Sorge um den Bestand der Nation in allen völkisch orien¬
tierten Ismen - immer noch vorherrschend. Erst wenn die Radikalität
totalitärer Bewegungen aus den Ideologien die Prinzipien ihres politi¬
schen Handelns gewinnt, erhält das ihnen immer inhärente logische Ele¬
ment so sehr die Oberhand, daß nun die eigentliche Substanz der Ideolo¬
gie selbst — die Arbeiterklasse oder die Nation — in der folgerichtig stim¬
migen Bewegung eines reinen Deduzierens.zerrieben wird.
In diesem Sinne ist die Macht, die nach Marx der Idee eignet, wenn
sie die Massen ergreift, eben diese aus der ,,Idee“ entwickelte Logik,
deren Zwang sich die Massen unterwerfen. Der durchaus charakteristi-
sAe Substanzschwund, den eine Ideologie immer schon erleidet, wenn
sie „bewiesen wird, und der zu einem kompletten Substanzverlust wird,
sobald totalitäres Handeln sich ihrer als eines leitenden Prinzips bedient,
erklärt auch, warum es so leicht ist, ideologisch geschulte Menschen zu
einem Wechsel der Ideologie zu bewegen, wenn das eigene System aus
irgendwelchen Gründen versagt hat. Wie schwer es andererseits ist, ehe¬
malige Anhänger irgendeiner Ideologie wieder in normale Denkfc^rmen

244
IDEOLOGIE UND TERROR

und normales politisches Handeln zurückzuführen, ist genugsam bekannt.


Schwer ist dabei niemals, sie von einem anderen Gehalt zu überzeugen,
als vielmehr, zu verhindern, daß sie mit ganz gleich welchem Gehalt wie¬
derum die logische Operation des Deduzierens aus einer Prämisse an¬
stellen, an die sie aus ihrer Vergangenheit her gewöhnt sind.
Man könnte sagen, daß es das eigentliche Wesen der Ideologie ist, aus
einer Idee eine Prämisse zu machen, aus einer Einsicht in das, was ist,
eine Voraussetzung für das, was sich zwangsmäßig einsichtig ereignen
soll. Jedoch haben die Verwandlung der den Ideologien zugrunde liegen¬
den Ideen in solche Prämissen erst die totalitären Gewalthaber wirklich
vollzogen. In diesem Sinne sind Stalin wie Hitler Ideologen allerersten
Ranges, die allen mit ihnen konkurrierenden nicht totalitären Ideologen
völkischer oder kommunistischer Gesinnung weit überlegen waren, auch
wenn sie von diesen oft und zu Unrecht verachtet wurden, weil sie die
Ideologien durch keinerlei neues Gedankengut bereichert haben. Ihre
eigentlidie Originalität bestand darin, daß sie ideologische Aussagen
buchstäblich ernst nahmen und dadurch in Konsequenzen jagten, von
denen sich der gesunde Menschenverstand, der sich an der Wirklichkeit
auch dann orientiert, wenn er von ihr gelegentlich irregeführt wird,
nichts hatte träumen lassen. Macht man damit ernst, daß im Kampf der
Klassen es immer „absterbende“ Klassen geben muß, so folgt daraus,
daß man immer neue Gruppen der Gesellschaft ausrotten muß. Macht
man damit ernst, daß es im Leben der Völker ebenso wie im Leben der
Natur „Parasiten“ gibt, so folgt daraus, daß man mit ihnen so umsprin¬
gen darf wie mit Wanzen und Läusen, die man bekanntlich mit Giftgas
ausrottet.
Diese ansdieinend kleine, in Wahrheit entscheidende Operation des
buchstäblidi Ernstnehmens ideologischer Meinungen haben alle erfah¬
renen Beobachter totalitärer Bewegungen darum unterschätzt, weil sie
wie Demagogie zum Zwecke der Volksversammlung aussah. Was man
nicht sah, und vor einigen Jahrzehnten wohl auch noch gar nicht sehen
konnte, war, daß diese neuen, im 19. Jahrhundert geborenen Ideologien
nicht nur, wie es den Anschein hatte, unverantwortliche Meinungen über
die Wirklichkeit waren, die wie alle solche Meinungen gar nicht an Wahr¬
heit, sondern an dem Beifall der Menge interessiert waren. Was man
übersah, war das Element ihrer Beweisführung, ihre eigentümliche fana¬
tische Stimmigkeit und die Logik ihres Deduktionsprozesses aus einer
Prämisse, mit der sie sich bereits angeschickt hatten, die Wirklichkeit
selbst und die eigene Substanz zu verzehren.
Die Präparierung von Opfern und Henkern, welche das totalitäre Herr¬
schaftssystem braucht und mit der es das Montesquieu’sche Prinzip poli-

245
HANNAH ARENDT

tischen Handelns ersetzt, ist also noch nicht einmal die Ideologie selbst,
sondern vielmehr die jeder Ideologie inhärente Logik des Deduzierens.
Auch hier hat es sich erwiesen, daß der Volksmund auf seine Weise vor¬
züglich auf diese neue Art von Politik vorbereitet war. Hitler wie Stalin
hatten immer eine besondere Vorliebe dafür, ihre Argumentationen mit
dem: „Wer A gesagt hat, muß auch B sagen“, zu unterbauen, und es ist
kein Zweifel, daß dieses Argument moderne Menschen auf ganz ähnliche
Weise überzeugt wie das „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“.
Der Selbstzwang des deduzierenden Denkens, der Ideologien zu so vor¬
züglichen Präparationsmitteln für den Zwang von Terrorregimen macht,
kommt in dem „Wer A gesagt hat, muß auch B sagen“ vorzüglich zum
Ausdruck, weil er hier ganz offenbar identisch ist mit unserer Angst, uns
in Widersprüche zu verwickeln und durch solche Widersprüche uns selbst
zu verlieren. Von diesem Selbstzwang haben die Bolschewisten, wenn
sie von ihren eigenen Anhängern Geständnisse verlangten, einen äußerst
ausgiebigen Gebrauch gemacht und vielfach demonstriert, daß die dem
Selbstzwang zugrunde liegende Angst, mit sich selbst und seinem gan¬
zen Leben in Widerspruch zu geraten, es mit der Todesangst an Inten¬
sität durchaus aufnehmen kann. Das Argument, mit dem man überzeugte
und loyale Parteianhänger zu Geständnissen zwingt, ist in vielen Ab¬
wandlungen grundsätzlich immer das gleiche: Da du ein überzeugter
Bolschewist bist, weißt du, daß die Partei immer recht hat. (Trotzki hat
einmal in einer Variation des ,,right or wrong, my country“ gemeint:
„Wir können nur mit und durch die Partei recht haben, denn die Ge¬
schichte kennt keinen anderen Weg, recht zu haben.“) Aus Gründen des
objektiven geschichtlichen Prozesses muß die Partei in diesem Augenblick
bestimmte Verbrechen bestrafen, welche historisch sich unausweichlich in
diesem Zeitpunkt ereignen müssen. Für diese Verbrechen braucht sie Ver¬
brecher. Entweder hast du im Zug der historischen Notwendigkeit die
Verbrechen, die wir dir zur Last legen, wirklich begangen, und dann bist
du ein Feind der historischen Entwicklung (und das heißt der Partei als
dem Exponenten dieser Entwicklung), oder du hast sie nicht begangen
und weigerst dich, die historisch notwendige Rolle des Verbrechers zu
spielen; dann begehst du das Verbrechen, das wir dir zur Last legen,
eben durch deine Weigerung, es zu bekennen. — Das Zwingende des
Arguments liegt in dem: Du darfst dir nicht selbst widersprechen, weil
dann dein ganzes Leben sinnlos würde. Das A, das du einmal sagtest,
hat absolute Herrschaft über dich um deiner selbst willen.
Worauf die totalitären Herrschaftssysteme sich verlassen für die be¬
grenzte Mobilisierung sich verhaltender Menschen, deren selbst sie nicht,
oder noch nicht, entraten können, ist dieser Zwang, durch den wir uns

246
IDEOLOGIE UND TERROR

selbst zwingen, weil wir uns fürchten, uns sonst selbst in Widersprüchen
zu verlieren. Die Tyrannei des zwangsläufigen Schlußfolgerns, die unser
Verstand jederzeit über uns selbst loslassen kann, ist der innere Zwang,
mit dem wir uns selbst in den äußeren Zwang des Terrors einschalten
und uns an ihn gleidischalten. Das einzige Gegenprinzip gegen diesen
Zwang und gegen die Angst, sich selbst im Widersprechen zu verlieren,
liegt in der menschlichen Spontaneität, in unserer Fähigkeit, „eine Reihe
von vorne anfangen“ zu können. Alle Freiheit liegt in diesem Anfangen¬
können beschlossen. Über den Anfang hat keine zwangsläufige Argumen¬
tation je Gewalt, weil er aus keiner logischen Kette je ableitbar ist, ja
von allem deduzierenden Denken immer schon vorausgesetzt werden
muß, um das Zwangsläufige zum Funktionieren zu bringen. Darum be¬
ruht die Argumentation des ,,Wer A gesagt hat, muß auch B sagen“, auf
der rücksichtslosen Ausschaltung aller Erfahrung und alles Denkens, das
von sich aus irgendwo von neuem zu erfahren und zu denken anhebt.
Wie das eiserne Band des Terrors, der aus vielen Menschen Einen
Menschen machen will, verhindern muß, daß mit der Geburt eines jeden
MenscKen ein neuer Anfang in die Welt kommt, eine neue Welt anhebt,
so soll der Selbstzwang der Logik verhüten, daß jemand irgendeinmal
neu anfängt zu denken, also anstatt B und C zu sagen, und so weiter bis
zum Ende des mörderischen Alphabets, von sich aus A sagt. Der Zwang
des totalen Terrors, der Menschen in Massen zusammenpreßt und so den
Raum der Freiheit zwischen ihnen vernichtet, und der Zwang des logi¬
schen Deduzierens, der jeden einzelnen auf den durch Terror organi¬
sierten Marsch präpariert und ihn in die gehörige Bewegung versetzt,
gehören zusammen, entsprechen und bedürfen einander, um die totali¬
täre Bewegung ständig in Bewegung zu halten. Der äußere Zwang des
Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums der Freiheit alle Be¬
ziehungen zwischen Menschen; zusammengepreßt mit allen andern ist
ein jeder ganz und gar von allen anderen isoliert. Der innere Zwang des
konsequent ideologischen Denkens sichert diesem Zwang seine Wirk¬
samkeit, indem er die also isolierten Individuen in einen permanenten,
jederzeit übersehbaren, weil konsequent logischen Prozeß hineinreißt, in
welchem ihnen jene Ruhe niemals gegönnt ist, in der sie allem der Wirk¬
lichkeit einer erfahrbaren Welt begegnen können.
Die große Anziehungskraft, die das dem Terror entsprechende, sich
selbst zwingende Denken auf moderne Menschen ausubt, liegt in seiner
Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung^ Je weniger die moder¬
nen Massen in dieser Welt noch wirklich zu Hause sein können, desto
geneigter werden sie sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oc^er eine
Lrrenhölle abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und

247
HANNAH ARENDT

von übermenschlichen Gesetzen im vorhinein bestimmt ist. Verlieren


sie im Prozeß dieser Entwicklung, in welcher sie selbst in die einmal los¬
gelassene Bewegung erbarmungslos hineingezogen werden, auch zumeist
den Glauben an die ursprüngliche ideologische Prämisse - die „klassen¬
lose Gesellschaft“ oder die „Herrenrasse“ -, so bleibt ihnen doch wenig¬
stens das ganze in sich stimmige Netz von abstrakt logischen Deduktio¬
nen, Folgerungen und Sdilüssen, um sie vor dem Schodc des rein Tat¬
sächlichen zu schützen. Aneinandergepreßt, aber auch gehalten von dem
eisernen Band des Terrors, vorwärtsgetrieben, aber auch ständig aufrecht
gehalten von der nie versagenden Folgerichtigkeit eines ganz abstrakten
logischen Räsonierens, bleibt ihnen in ihrem Marsch in die Zukunft alle
Begegnung mit der wirklichen, daseienden Welt versagt, aber auch alle
Erfahrungen eines menschlichen Lebens erspart - bis in die Erfahrung
des eigenen Todes, wenn es schließlich an ihnen ist, die „Überflüssigen“
und ,,Schädlichen“ den Prozessen des Terrors zur Verfügung zu stellen.

IV

Wir sagten zu Beginn dieser Ausführungen, daß wir nicht nur ver¬
suchen wollten, das Wesen totalitärer Herrschaft zu verstehen, sondern
in ihm auch die Grundzüge jener Krise zu entdecken hofften, in der wir
heute alle und überall leben. Für Montesquieu, dem wir auch in dieser
abschließenden Betrachtung zu folgen gedenken, hieß dies, die Frage nach
der eigentümlichen, geschichtlichen Einheitlichkeit von Kulturen stellen,
die ihn ursprünglich zu der Suche nach dem „esprit des lois“ veranlaßte,
dem Geist, der je verschieden die in allen Ländern verschieden auftre¬
tenden Regierungsformen und ihre Gesetze beseelte.
Dasjenige, was nach Montesquieu diesen einheitlichen Geist in einer
jeden politischen Formation garantiert, ist die Grunderfahrung, aus der
das jeweils verschiedene Prinzip öffentlichen Handelns entspringt und
die als solche das Gemeinsame ist, was Struktur der Staatsform und Prin¬
zip des ihr angemessenen Handelns verbindet. Solch eine Grunderfah¬
rung menschlichen Lebens, die zu ausschlaggebender politiscLer Bedeu-
tung in einer Republik gelangt, ist die Erfahrung, daß alle Menschen gleich
sind; dieser Gleichheit entsprechen republikanische Gesetze und aus der
Liebe zu ihr, die Tugend ist, entspringt republikanisches Handeln. Die
politisch ausschlaggebende Grunderfahrung, die einer Monarchie - und
eigentlich allen hierarchisch geordneten Staatsformen - zugrunde liegt,
ist die Erfahrung, daß wir durch Geburt einer vom andern verschieden
und auf eine natürliche Weise voneinander und voreinander ausgezeich¬
net sind. Der Liebe zur Auszeichnung, die Ehre ist, muß die monarchische
Gesetzgebung gerecht werden, denn sie bestimmt das Handeln in einer

248
IDEOLOGIE UND TERROR

Monarchie. Die Grundtatsache also, an der eine Republik sich orientiert,


ist die Gleichheit, und zwar, da es sich um eine politische und öffentliches
Handeln fundierende Tatsache handelt, nicht die Gleichheit aller Men¬
schen vor Gott und nicht die Gleichheit alles menschlidien Schicksals vor
dem Tod, sondern die Gleichheit menschlicher Stärke. Daß wir gleich
geboren werden, heißt politisch nur, daß wir - bei aller Verschiedenheit
der Anlagen - von Natur mit gleicher Stärke ausgestattet sind. (Gleich¬
heit konnte Hobbes daher im „Leviathan“ als eine „equality of ability zu
töten definieren.) Die Grunderfahrung der Republik ist das Zusammen¬
sein mit gleich starken Mitbürgern; die republikanische Tugend, die das
öffentliche Leben in ihr durchwaltet, ist die Freude, nicht allein zu sein;
denn nur weil wir von Natur gleich, mit gleicher Kraft begabt sind, sind
wir miteinander zusammen. Allein sein heißt immer zu existieren ohne
seinesgleichen. („One is one and all alone and ever more shall be so“ -
wie der mittelalterliche Abzählvers anzudeuten wagte, was menschlich
nur als die Tragödie des Einen Gottes verstanden werden kann.) Die
Grunderfahrung der Monarchie ist, daß man sich im Zusammensein mit
anderen und im Kampf mit ihnen auszeichnen und so zu dem kommen
kann, was jeder wahrhaft sein Eigen nennen darf; die Ehre, die das
öffentliche Leben in ihr durchwaltet, ist die Freude, dies Eigene gefun¬
den und in öffentlicher Anerkennung bestätigt zu haben.
Wir bemerkten sdion, daß Montesquieu es unterließ, die Grundtatsache,
auf der eine Tyrannis beruht, und die Grunderfahrung, der die Furcht
als Prinzip politischen Handelns entspringt, zu nennen. Der Grund für
diese Unterlassung war, daß Montesquieu die Tyrannis nicht für eine
echte politische Form menschlichen Zusammenseins hielt. Angesichts un¬
serer jüngsten Erfahrungen und angesichts der Tatsache, daß totalitäre
Herrschaftsformen so häufig mit tyrannischen identifiziert und, wie wir
Hauben, verwechselt werden, wird es vielleicht nützlich sein, Montes-
quieus Prinzipien der Untersuchung kurz auf diejenige StaaLform an¬
zuwenden, mit der die totalitäre Herrschaft zweifellos am meisten Ahn-

‘‘“urA^als Prinzip öffentlich-politischen Handelns in der Tyrannis


Steht in engstem Zusammenhang mit jener Grundangsfi die wir al e in
Situationen völliger Ohnmacht erfahren haben, nämlich in Situationen
in denen wir aus gleich welchen Gründen nicht handeln können. Macht
entspringt immer nur dort, wo Menschen zusammen handeln; ein M^ns
allein oder eine Gruppe von Menschen, denen die Möglichkeit des Han¬
delns genommen ist, ist immer ohnmächtig, unfähig soga^ dm eigene
Stärke zu verwirklichen, da ein Minimum an Macht, ein Minimum a
anderen au* hierfür erforderli* ist. Fur*t .st d.e Ver-

249
HANNAH ARENDT

zweiflung in der Ohnmacht, der jedes menschliche Leben irgendwann


einmal ausgesetzt ist, insofern menschliches Handeln immer auch eine
Grenze hat.
Furcht ist daher eigentlich gar kein Prinzip des Handelns, sondern im
Gegenteil die Verzweiflung, nicht handeln zu können; innerhalb des poli¬
tischen Bereichs ist es eine Art anti-politisches Prinzip. Darum meinte
Montesquieu, daß die von ihr beseelte Tyrannis die einzige Staatsform
sei, die an sich selbst zugrunde geht, die den Kern des eigenen Verder¬
bens in sich trägt. Es bedarf äußerer Umstände, um Monarchien zu Fall
zu bringen oder Republiken zu verderben; bei der Tyrannis ist dies Ver¬
hältnis genau umgekehrt: sie verdankt ihren Bestand immer nur äußeren
Umständen, sich selbst überlassen, geht sie an sich selbst zugrunde. („Es¬
prit des Lois“, Livre VIII, chap. 10.)
Es ist eine alte, noch aus der Antike herrührende Einsicht, daß Staats¬
formen, die auf der Gleichheit ihrer Bürger beruhen, in besonders gro¬
ßer Gefahr stehen, in Tyranneien umzuschlagen. Wenn die republikani¬
schen Gesetze, deren Sinn immer ist, die natürliche Kraft jedes einzelnen
Bürgers so zu begrenzen, daß Raum bleibt für die als gleich angesetzte
Stärke seiner Mitbürger, zusammenbrechen, entsteht ein Chaos, in wel¬
chem die Stärke jedes einzelnen sich nicht nur nicht mehr mit der seiner
Mitbürger verbinden kann, sondern in dem sogar ganz spezifisch jede
Kraft überhaupt von ihrer Gegenkraft aufgehoben, das heißt durch Furcht
paralysiert wird. In dieser Situation des Untergangs wird nicht nur ver¬
hindert, daß Macht entsteht; es wird Ohnmacht direkt erzeugt.
Aus der allgemeinen Ohnmacht entspringt die Furcht vor der Stärke
eines jeden anderen und aus ihr einerseits der Wille, alle anderen zu
beherrschen, der dem Tyrannen eignet, andererseits die Bereitschaft, sich
beherrschen zu lassen, welche die Tyrannis für die Unterworfenen er¬
träglich macht. So wie Tugend im politischen Leben eigentlich Liebe zur
Gleichheit im Mächtigsein ist, so ist Furcht eigentlich Wille zur Macht in
der Ohnmacht, das heißt Wille zu herrschen oder Wille beherrscht zu
werden.
Da aber Macht immer nur aus dem Zusammenhandeln von Menschen
entsteht, kann dieser Machthunger nie wirklich gestillt werden. Gerade
an Machtmangel geht die Tyrannis zugrunde. Macht im echten und ver¬
läßlichen Sinne kann die Tyrannis nicht erzeugen, weil sie die Pluralität
des gemeinsamen Handelns in Einstimmigkeit, das „acting in concert“,
im Beherrschen abgeschafft hat. Wem es wirklich um Macht zu tun ist,
der muß den unter Mensdien unabdingbaren Preis zahlen, auf das Herr¬
schen aus einer Distanz zu verzichten und sich in den Raum begeben, wo
Macht entsteht, nämlich in den Zwischen-Raum, der zwischen Menschen

250
IDEOLOGIE UND TERROR

sich bildet, die etwas Gemeinsames unternehmen. In ihm wächst dann


gleichsam von selbst jedem einzelnen Macht zu, wenn alle zusammen zu
handeln beginnen.
Wäre totalitäre Herrschaft nichts anderes als eine moderne Form der
Tyrannis, so würde sie sich gleich ihr damit begnügen, die politische
Sphäre der Menschen zu zerstören, also Handeln zu verwehren und
Ohnmacht zu erzeugen. Totalitäre Herrschaft wird wahrhaft total in dem
Augenblick - und sie pflegt sich dieser Leistung auch immer gebührend
zu rühmen -, wenn sie das privat-gesellschaftliche Leben der ihr Unter¬
worfenen in das eiserne Band des Terrors spannt. Dadurch zerstört sie
einerseits alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch ver¬
bleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits,
daß die also völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen
Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischem Handeln) wie¬
der eingesetzt werden können. In der Ohnmacht der Tyrannis können
Menschen innerhalb einer von Furcht und Mißtrauen beherrschten Welt
sicii immer noch bewegen; diese Bewegungsfreiheit in der Wüste ist es,
die von totalitärer Herrschaft vernichtet wird. Totalitäre Herrschaft be¬
raubt Menschen nicht nur ihrer Fähigkeit zu handeln, sondern macht sie
im Gegenteil, gleichsam als seien sie alle wirklich nur ein einziger Mensch,
mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplizen aller von dem totalitären
Regime unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen.
Die Zerstörung der Pluralität, die der Terror bewirkt, hinterlaßt m
jedem einzelnen das Gefühl, von allen andern ganz und gar verlassen
zu sein. (Die Institution der Konzentrationslager, deren Insassen von
allen andern, auch von der eigenen Familie, vergessen werden müssen
gründet sich auf die genaue Umkehrung jenes Grundsatzes, der für a
gesunden Gemeinwesen gilt und den Climenceaus groß«
ftinkt während der Dreyfus-Affäre formulierte; ,L affaire d un seul es
l-affaire de tous.') Das dieser VerlassenheH f
ist der Prozeß des logischen Deduzierens. der sich verzweifelt Strudel
des beliebig Möglichen, weil von niemandem mehr verläßlich kontrol¬
lierten an einer Prämisse festhält. (Die Bolschewisten wissen daß Ge-
"Tnisse auf der Grundlage des ■ Wer A gesagt hat muß au*
am besten und ohne Tortur von denen erpreßt werden, die man erst ein
mal auf längere Zeit der Verlassenheit und dem aus ihr resultierenden
Realitätsverfust in der Einzelhaft ausgesetzt hat.) Die pttindcrfa rung
mens*IXn Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch reali-

Deduzieren der iLologien und der Verlassenheit ist politisch zweife

251
HANNAH ARENDT

erst von den totalitären Herrschaftsapparaten entdeckt und zu ihren


Zwecken ausgenutzt worden. Aber sie findet sich andeutungsweise
bereits in einer kleinen Bemerkung, die Luther einmal in seinen „Er¬
baulichen Schriften“ unter dem Titel „Warum die Einsamkeit zu flie¬
hen?“ über die Bibelstelle macht, in der steht, daß es nicht gut sei für
den Menschen, allein zu sein. Luther sagt dort: „Ein solcher (nämlich
ein einsamer) Mensch folgert immer eins aus dem andern und denkt
alles zum ärgsten.“ Luther, der einige Erfahrungen in den Phäno¬
menen der Einsamkeit und Verlassenheit hatte (und der einmal zu
sagen wagte, es müsse schon darum einen Gott geben, weil der
Mensch ein Wesen brauche, dem er wirklich trauen könne), verstand,
daß das spezifisch Zwingende der logischen Folgerungen nur den von
allen Verlassenen mit ganzer Gewalt überfallen kann, weil in jeder
Gemeinschaft sich alsbald eine Pluralität von Prämissen, aus denen gleich
zwingend-evident gefolgert werden kann, herstellt, so daß das zwingend
Beweisbare dauernd in Schach und unter Kontrolle gehalten wird.
Genau gesprochen sind alle die Redensarten, welche dazu dienen,
Henker und Opfer gleich gut auf das Funktionieren eines totalen Herr¬
schaftsapparates vorzubereiten - wie „Wo gehobelt wird, da fallen
Späne , und „Wer A gesagt hat, muß auch B sagen“ —, volkstümliche
Sprüche, welche von der Verlassenheit des Menschen Kunde geben. Nur
jemand, der seine Freunde und wen er liebt, bereits verlassen hat und
darum verlassen ist, wird es mit dem „W^o gehobelt wird, da fallen
Späne wirklich ernst sein; und nur wer darüber hinaus auch von sich
selbst bereits verlassen ist, so daß nur noch das rein formale Sich-nidit-
Widersprechen ihm eine Garantie dafür bieten kann, daß es ihn auch
wirklich gegeben hat, wird die Konsequenz ziehen, ein „B“ zu sagen und
zu vollziehen, das ihn zwingt, nicht nur sein Leben, sondern seine Per¬
son, seine Ehre und das Andenken an sich zu opfern.
Verlassenheit und Einsamkeit sind nicht dasselbe, obwohl es die Ge¬
fahr jeder Einsamkeit ist, in Verlassenheit umzuschlagen, so wie es die
Chance jeder Verlassenheit ist, zur Einsamkeit zu werden. In der Ein¬
samkeit bin ich eigentlich niemals allein; ich bin mit mir selbst zusam¬
men, und dies Selbst, das niemals zu einem leiblich unverwechselbar Be¬
stimmten werden kann, ist zugleich auch jedermann. Einsames Denken
gerade ist dialogisch und in Gesellschaft mit jedermann. Dies ist die
Zwiespältigkeit der Einsamkeit, in der ich immer auf mich selbst zurück¬
bezogen mich niemals als Einen, in seiner Identität Unverwechselbaren,
wirklich Eindeutigen erfahren kann. Aus der Zwiespältigkeit und Viel¬
deutigkeit der Einsamkeit werde ich erlöst durch die Begegnung mit
anderen Mensdien, die mich dadurch, daß sie mich als diesen Einen, Un-

252
IDEOLOGIE UND TERROR

verwediselbaren, Eindeutigen erkennen, ansprechen und mit ihm rech¬


nen, in meiner Identität erst bestätigen. In ihren Zusammenhang gebun¬
den und mit ihnen verbunden bin ich erst wirklich als Einer in der Welt
und erhalte mein Teil Welt von allen anderen, mit denen ich die Inter¬
essen in der Welt teile.
Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen
ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird, oder wenn aus gleich
welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte
Welt auseinanderbricht und die miteinander verbundenen Menschen
plötzlich auf sich selbst zurückwirft. Zu einer politisch tragfähigen
Grunderfahrung kann Verlassenheit natürlich nur in dem zweiten Fall
werden. In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich ver¬
lassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von
dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So
sind sie unfähig, den Zwiespalt der Einsamkeit zu realisieren und un¬
fähig, die eigene, von den andern nicht mehr bestätigte Identität mit
sidi selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und
Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit,
zugleich zugrunde. An der Wirklichkeit, die von keinem mehr verlä߬
lich bestätigt werden kann, beginnt der Verlassene mit Recht zu zwei¬
feln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von anderen
mit garantiert ist.
Das einzige, was in der Verlassenheit als scheinbar unantastbar sicher
verbleibt, sind die Elementargesetze des zwingend Evidenten, die Tau¬
tologie des Satzes: zweimal zwei ist vier. Damit erfährt das zwingend
Einsehbare für den Verlassenen eine eigentümliche Gewichtsverschie¬
bung: es ist nicht mehr die selbstverständliche Regelung menschlichen
Denkens, ein Mittel des Verstandes, um Widersprüche zu vermeiden:
sondern es wird aus sich heraus gleichsam produktiv, beginnt Denk¬
reihen zu entfalten, Prozesse zu entwickeln, „folgert immer eins aus dem
andern und denkt alles zum ärgsten“. Dies entfesselte Zwangsfolgern ist
der Extremismus, der allem ideologischen Denken eignet, und an dem
gemessen menschlich freies und kontrolliertes Denken immer an man¬
gelnder Radikalität zu leiden scheint. Die sogenannte Radikalität totali¬
tärer Ideologien ist nur der Extremismus des Ärgsten und hat mit echter
Radikalität gar nichts zu tun. .
Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungeri jagt
und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allent¬
halben zunehmende Verlassenheit. Es ist, als breche alles, was MensAen
miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so daß jeder von jedem
verlassen ist und auf nichts mehr Verlaß ist. Das eiserne Band des Ter-

253
HANNAH ARENDT

rors, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisier¬
ten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt, erscheint so als ein letz¬
ter Halt und die „eiskalte Logik“, mit der totalitäre Gewalthaber ihre
Anhänger auf das Ärgste vorbereiten, als das einzige, worauf wenigstens
noch Verlaß ist. Vergleicht man diese Praxis mit der Praxis der Tyran¬
nis, so ist es, als sei das Mittel gefunden worden, die Wüste selbst in
Bewegung zu setzen, den Sandsturm loszulassen, daß er sich auf alle
Teile der bewohnten Erde lege.
Die Bedingungen, unter denen wir uns heute im politischen Feld be¬
wegen, stehen unter der Bedrohung dieser verwüstenden Sandstürme.
Ihre Gefahr ist nicht, daß sie etwas Bleibendes errichten können. Tota¬
litäre Herrschaft gleich der Tyrannis trägt den Kern ihres Verderbens
in sich. So wie die Furcht und die Ohnmacht, aus der sie entspringt, ein
antipolitisches Prinzip und eine dem politischen Handeln konträre Situa¬
tion darstellen, so sind die Verlassenheit und das ihr entspringende logisch¬
ideologische Deduzieren zum Ärgsten hin eine antisoziale Situation und
ein alles menschliche Zusammensein ruinierendes Prinzip. Dennoch ist
organisierte Verlassenheit erheblich bedrohlicher als die unorganisierte
Ohnmacht aller, über die der tyrannisch-willkürliche Wille eines ein¬
zelnen herrscht. Ihre Gefahr ist, daß sie die uns bekannte Welt, die über¬
all an ein Ende geraten scheint, zu verwüsten droht, bevor wir die Zeit
gehabt haben, aus diesem Ende einen neuen Anfang erstehen zu sehen,
der an sich in jedem Ende liegt, ja der das eigentliche Versprechen des
Endes an uns ist. Initium ut esset, creatus est homo - „damit ein Anfang
sei, wurde der Mensch geschaffen.“ Dieser Anfang ist immer und über¬
all da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden,
denn sie ist garantiert durch die Geburt jedes Menschen.

254
Hans Frhr. v. Campenhausen

DER KRIEGSDIENST DER CHRISTEN


IN DER KIRCHE DES ALTERTUMS

Noch immer wird die Frag'e, wie das frühe Christentum zum Kriege
gestanden habe, erstaunlich verschieden beantwortet. Das liegt nicht an
den Quellen, die längst gesammelt und oft besprochen worden sind’,
sondern das liegt an der modernen Fragestellung, die das Problem in
einer undialektischen Allgemeinheit so stellt, wie es für die alte Kirche -
und für die Kirche überhaupt - niemals gegeben sein kann. Die frühe
Kirche kennt zunächst überhaupt keine Erwägungen über das, was in der
außerchristlichen Welt geschehen oder unterbleiben sollte, und hat auch
nicht die Absicht, die Ordnung dieser vergehenden Welt im Sinne des
Christentums zu verändern. Was sie an konkreter Weisung und Forde¬
rung vorbringt, ist nur für die Christen gedacht. Freilich, es ist die W^ahr-
heit, die immer nur eine sein kann und einmal allein herrschen wird.
Aber diese Welt ist nicht aus der Wahrheit, zu der sich die Christen be¬
kennen, auch wenn sie als Wahrheit der göttlichen Liebe jedermann heil¬
sam wäre. Die Christen sind „Fremdlinge“ in der Welt, die sie nicht zer¬
stören, sondern heilen wollen, die sie aber gleichwohl stören, weil sie
sich ihren chaotischen Gesetzen nicht einfügen lassen, und insofern
bleiben sie in der Welt eine „Ausnahme“. Christentum und Heiden¬
tum lassen sidi ethisch nicht auf einen gemeinsamen Nenner brin¬
gen; das will auch bei den grundsätzlichen Erklärungen der Christen
wohl beachtet sein. Wenn sie in der Welt etwas hinnehmen und bestehen
lassen, so heißt das noch nicht, daß sie es in jedem Sinne anerkennen; sie
können nur die Welt nicht wandeln und zur Kirche machen. Wenn sie
andererseits für die Christen bestimmte Forderungen aufstellen und als
selbstverständlich behandeln, so heißt das noch nicht, daß sie sie als
zip einer allgemeinen Gesetzgebung“ durchsetzen wollten oder mußten;
sie können sich nur nicht an das Gesetz dieser Welt verkaufen.
Von hier aus ist die scheinbar zwiespältige Beurteilung zu verstehen, die
die alte Kirche dem Krieg und konkret; dem Kriegsdienst zuteil 'werden
läßt. Kein einziger Kirchenvater hat daran gezweifelt, daß in der Welt
so wie sie ist, Kriege geführt werden müssen, und sie finden demgemäß
auch keine Veranlassung, den Soldatenstand besonders zu veruHeilen.
Es gehört zum Wesen der Welt, daß sie Blut vergießen muß sei es im
Kriege, sei es auch vor Gericht (Justiz und Krieg werden unter diesem
Gesichtspunkt fast immer zusammengefaßt). Nur mit Gewalt laßt sich der

255
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN

äußere Frieden erhalten, für den auch die Christen dankbar sind. Darum
beten sie nicht allein für den Herrscher, sondern auch für das Heer und
für seine kriegerische Leistungskraft Aber sie selbst wollen mit dem
Kriegsdienst gleichwohl nicht das geringste zu tun haben. Wenn auch
die Welt ihre Cäsaren nötig hat, so kann der Kaiser^ doch kein Christ
und ein Christ niemals ein Kaiser sein. Die Kirche kennt keinen Kriegt;
um ihretwillen wären die kriegerischen Veranstaltungen in der Welt nicht
erforderlich®. Die Christen sind Friedestifter und halten sich an die Gebote
der Bergpredigt. Sie sind bereit, zum Zeugnis ihrer Wahrheit zu leiden
und zu sterben; aber sie morden nicht mehr*". Die militärischen Forde¬
rungen der Tapferkeit, der Mäßigkeit und des Gehorsams werden von
ihnen nur im bildlichen Sinne in einem Kampfe geübt, bei dem Gott
selber den Oberbefehl führtsie sind zu „geistlichen“ Tugenden ge¬
worden.
Die naive Selbstverständlichkeit, mit der in der Frühzeit der Kirche
das Ausnahmerecht der Christen proklamiert und praktiziert wird, ist
nur auf dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse verständlich. Für
kleine, mehr oder weniger kleinbürgerlidie Enklaven in den friedlichen
Binnengebieten eines wohlgeordneten Reiches, das praktisch keinen Wehr¬
zwang kennt, ist die Zurückhaltung von allen militärischen Dingen leicht,
und man stößt dabei weder von außen noch von innen her auf Schwierig¬
keiten. Die Christen stehen noch außerhalb der politischen Verantwortung,
und die staatsphilosophische Reflexion der Antike hat sie noch nicht in der
Tiefe berührt. Aber dabei kann es nicht bleiben. Die Entwicklung schreitet
fort, und mit dem Wachstum der Kirche muß ihre Verantwortung über
den innersten geistlichen Bereich hinauswachsen. Eine glatte soziologische
Ausgrenzung der Kirche erweist sich der Welt gegenüber äußerlich und
innerlich als unmöglidi. Denn ein „absichtliches Sichausschließen vom
Ganzen kann nur äußerlich gelingen“ und die Ausnahmestellung der
Kirche war im Grunde nicht äußerlich-soziologisch, sondern geistlich ge¬
meint. Man kann der „Welt“, der Wirtschaft, der Politik und auch der
militärischen Welt gegenüber nicht einfach negativ bleiben; aber man
darf sie andererseits auch nicht unmittelbar gutheißen und auf die Kirche
übernehmen. Die eigentümliche, innere Dialektik von Kirche und Welt
beginnt sich zu entfalten und verlangt konkrete, geschichtliche Stellung¬
nahmen, die als solche doch niemals endgültig sein können; sie müssen in
Bewegung bleiben. Die folgende Skizze möchte nur die Anfänge dieser
Entwicklung, das Auftauchen und allmähliche Bewußtwerden des hier
vorliegenden Problems am Beispiel des Kriegsdienstes vor Augen führen.
Sie verzichtet darauf, die Erage in ihrer vollen geschichtlichen und theo¬
logischen Weite zu entfalten und zu beantworten. Möchte die begrenzte

256
DER KRIEGSDIENST DER CHRISTEN

Untersuchung einem Philosophen trotzdem willkommen sein, dem der


Ernst einmaliger Entscheidung immer wesentlich und die eigentümliche
Haltung der Christen niemals gleichgültig gewesen ist!

Bis etwa 175 n. Chr. hat es, soweit wir sehen können, noch keine christ¬
lichen Soldaten gegeben und dementsprechend auch keine aktuelle „Solda¬
tenfrage“. Der Kriegsdienst ist zunächst kein Problem, das für die Christen
zur Diskussion stünde ®. Alle Versuche, aus den frühen Quellen und beson¬
ders aus dem Neuen Testament selbst, hierzu konkrete Antworten zu
erhalten, sind zur Unfruchtbarkeit verurteilt^®. Seit dem Ende des zweiten
Jahrhunderts kommt es jedoch immer häufiger vor, daß Soldaten von der
christlichen Mission erreicht werden und sich bekehren. Dürfen sie dann,
als Christen, noch in ihrem früheren Beruf bleiben? Nur in dieser Form
ist die Frage gestellt; von einem freiwilligen Eintritt geborener Christen
ist zunächst noch nicht die Rede^^. Tertullian hat sie auch so noch mit
aller Entschiedenheit verneint; „Der göttliche und der menschliche
Fahneneid, das Feldzeichen Christi und das Feldzeichen des Teufels, das
Lager des Lichts und das Lager der Finsternis sind unverträglich ... Jede
Uniform ist bei uns verboten, weil sie das Abzeichen eines unerlaubten
Berufes ist“ Dabei ist aber nicht in erster Linie an das Töten und Blut¬
vergießen der Soldaten gedacht^®. Was Tertullian fürchtet, ist vielmehr
die Verleugnung des Bekenntnisses und eine kultische Befleckung, die bei
der Strenge der militärischen Disziplin und bei der Rolle, die die heidnische
Religion im ganzen militärischen Zeremoniell und Leben innehat, ge¬
radezu unvermeidlich erscheinen.
Andere denken weniger radikal. Es erscheint keineswegs wünschens¬
wert, die christliche Propaganda im Militär mit so starken Hemmnissen
zu bdasten und Konflikte zu provozieren, indem man jeden gewonnenen
Soldaten zur sofortigen Aufgabe seines Dienstes nötigt. Man beruft sich
zur Rechtfertigung auf allerlei biblische Vorbilder, von Moses und Josua
bis zum Hauptmann von Kapernaum^L Auch Klemens von Alexandrien
- seiner Art nach alles andere eher als ein „Militarist“ - kehrt sich gegen ein
„äußerliches“ Verständnis des neuen, christlichen Lebens. Nicht umsonst
habe Paulus jedem Christen geboten, in dem Stande zu bleiben, in weitem
er berufen sei. Das gilt auch für den Soldaten i®. Nur muß dieser als Christ
bereit sein, hinfort auf die Stimme des einen gerechten Feldherrn, Christus,
zu hören, dessen Schalmei nicht von wilder Kriegsmusik tont und der die
Seinen zum Frieden erzogen hat-. Im ganzen ist der theologische Wider¬
stand gegen den Kriegsdienst der Christen Laufe des drdten Jahr¬
hunderts weithin erlahmt. In diokletianischer Zeit bilden die Christen
im römischen Heer einen erheblichen Prozentsatz, und offenbar handelt es

257
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN

sich dabei nicht nur um neugewonnene, sondern vielfach auch um gebo¬


rene Christen. Besonders in Rom bezeichnen sich viele Christen auf ihren
Grabschriften nicht ohne Stolz als „Soldaten“. Man muß sich dabei frei¬
lich vor Augen halten, daß der Dienst in den Garnisonen vielfach ein redit
friedliches Aussehen hatte. Auch die Polizisten und Gardisten, die Postil¬
lone und die Feuerwehr zählten im weiteren Sinne zur „militia“. Selbst
ein Bischof wie Paul von Samosata soll eine eigene Eskorte von öoQvg^o-
QOVf^Evoi unterhalten haben
Eine neue Stufe erreicht die Auseinandersetzung erst dort, wo das christ¬
liche Verhalten nicht mehr bloß seelsorgerisch vom einzelnen Christen her
gesehen wird, sondern eine grundsätzliche, staatspolitische Beurteilung
beginnt. Hier ist die heidnische Kritik der christlichen Theologie ver¬
ständlicherweise vorausgegangen. Sie hat sie auf das politische Problem,
das durch die christliche Haltung in der Militärfrage entstehen könnte,
überhaupt erst hingewiesen und dadurch veränderte Überlegungen und
neue Stellungnahmen hervorgerufen. Der heidnisdie Philosoph Kelsos
spricht es für unsere Ohren erstmals offen aus: die Christen sind, staat¬
lich geurteilt, Schmarotzer, weil sie den Herrschern, die das Reich und
den Frieden sichern, nicht nur die schuldige Ehre, das heißt den Kultus,
sondern auch die Gefolgschaft versagen und sich den Lasten, die grund¬
sätzlich jeder Bürger zu tragen hat, am entscheidenden Punkt widersetzen.
Es ist „ungerecht, an den Gütern, die die Kaiser besitzen, teilzunehmen,
ihnen aber nichts dafür zu entriditen“ „Handelten nämlich alle so wie
du“, so wird es zuletzt niemand verhindern können, „daß die Herrschaft
auf Erden den gesetzlosen und wilden Barbaren zufällt“ und Kultur und
Philosophie untergehen Oder glauben die Christen vielleicht, „Gott
werde vom Himmel herabsteigen und für sie streiten, so daß sie darum
keiner anderen Hilfe bedürftig wären“-“?
Es dauerte lange, bis die Antwort auf diesen Angriff gegeben wurde.
Die christlichen Apologeten hatten es zwar von jeher bestritten, daß die
Christen unnütze Staatsbürger seien oder sein wollten, und sich dazu auf
ihren Gehorsam, ihre Rechtlichkeit, ihr Steuerzahlen und das offizielle
Kirchengebet für den Kaiser berufen. Aber in dieser zugespitzten Form
war ihnen die Frage noch niemals gestellt worden. Die beginnende Ge¬
fährdung des scheinbar unerschütterlichen Weltreiches und das ständige
Wachstum der Kirche selbst bilden den Hintergrund dieser grundsätz¬
lichen Verschärfung. Es ist kein Zufall, daß der Mann, der sich der philo¬
sophischen Anklage schließlich gestellt hat, selbst ein Philosoph, das heißt
ein in der antiken Philosophie und Denkweise ausgezeichnet gebildeter
Theologe gewesen ist, nämlich Origenes. Origenes zögert demgemäß nicht,
das prinzipiell Berechtigte der heidnischen Forderung ohne weiteres zuzu-

258
DER KRIEGSDIENST DER CHRISTEN

geben. Selbstverständlich sind alle Bürger verpflichtet, zum allgemeinen


Besten des Staatswesens beizutragen, und auch die Christen sind durch¬
aus bereit, gehorsam die Lasten zu tragen, die ihnen zukommen^h Auch
Origenes bezweifelt nicht, daß Kriege geführt werden müssen und daß die
Kaiser recht daran tun, das Reich zu verteidigen. Aber bezeichnenderweise
fügt schon er an dieser Stelle, mit der dieausdrückliche, verantwortliche An¬
erkennung des Kriegsrechts seitens der Kirche beginnt, sofort hinzu, daß
die Kriege dann auch gerecht sein und in geordneter Weise geführt wer¬
den sollten“^, während sie gewöhnlich doch nur aus Hunger, Habgiei
und Eroberungslust entfesselt würden”®. Trotzdem werden die Christen
selbst niemals als Soldaten zu Felde ziehen-auch dann nicht, wenn es der
Kaiser verlangt Origenes urteilt in dieser Hinsicht durchaus nicht anders
als Tertullian. Die Christen haben auf Erden einen anderen Beruf als die
Heiden: „Wir sind gekommen, den Ermahnungen Jesu gehorsam die
Schwerter zu zerbrechen, mit denen wir unsere Meinungen verfochten und
unsere Gegner angegriffen haben, und verwandeln in Pflugscharen die
Speere, deren wir uns früher im Kampfe bedient haben. Wir ziehen nidit
mehr das Schwert gegen irgend ein Volk und lernen nicht mehr zu krie¬
gen, nachdem wir Kinder des Friedens geworden sind^^.“ Wenn die Chri¬
sten kämpfen, so tun sie es im geistlichen Sinne - sie waschen ihre büße
und Hände im Blute der Sünder, die sie bekehren, sie erschlagen ganze
Bataillone von Dämonen, deren Macht über die Menschen blutig ge¬
brochen wird 26. Eben darum ist es nicht nötig, daß sie auch noch außerlidi
zu Felde ziehen. „Während die anderen in den Krieg ziehen, nehmen wir
als Priester und Diener Gottes am Feldzug teil, indem wir unsere Hände
rein bewahren und für die gerechte Sache, den rechtmäßigen Konig^und
ihren Sieg beten. ... Wir bilden durch unsere Gebete ein eigenes Heer
ein Heer der Frömmigkeit, das dem Kaiser dadurch bessere Dienste leistet
als alle sichtbaren Soldaten“ 2h ,
Origenes versteht die Ablehnung des Kriegsdienstes also nidit als eine
Weigerung der Kirche, an der Verteidigung des Reiches mitzuarbeiten. Die
geregten Lrrscher und diegerechtenKriegewerdenauihvondenChristen

unterstützt. Aber es geschieht in einer


liehen Weise. Dafür beruft sich Origenes ausdrücklich auf die alte Son
stöLg des stellvertretenden priesterlichen Dienstes, und die anerkann¬
ten Privilegien des Priesterstandes werden so auf das ganze
Volk der cliristen ausgedehnt. Bei Origenes ist es klar, d^aß es nicht blo
der Götzendienst und die Gefahr des Unredittuns ist, dni Chjtm
von der Armee fernhalten, sondern es ist der Krieg, das ^lut ge, ird s
Soldatenhandwerk als solches, das nicht zu ihrer Berufung paßt. Ein leiser,
“«sLr- Unterton klingt auf, der als solcher nicht aus der Bibel.

259
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN

sondern aus dem spätplatonischen Spiritualismus stammt. Von hier stammt


auch die eigentümliche Vorstellung der Stufung und Stellvertretung, der
den vollkommenen Geistesmensdien und Asketen - außerhalb wie inner¬
halb der Kirche - von der Masse scheidet und aus den alltäglichen Sor¬
gen und Geschäften des Lebens heraushebt. Gerade so erscheint die christ¬
liche Zurückhaltung in der Frage des Kriegsdienstes nicht mehr störend,
sondern durchaus „vernünftig“. Sie bezeichnet keine radikale Ausnahme
mehr, sondern sie hat die Bedeutung einer sinnvollen Arbeitsteilung. Es
liegt in derselben Richtung auf eine philosophische Umdeutung der christ¬
lichen Eschatologie, wenn auch die providentielle Zuordnung der pax
Romana und der pax Christiana, wie sie vielleicht schon Lukas im Auge ge¬
habt und die Apologeten dann immer wieder gerne betont hatten, jetzt
nicht mehr als reines, gottgewirktes Wunder, sondern zugleich als not¬
wendiges Ergebnis einer immanenten Entwicklung gesehen wird. Der
Weltfriede ist die Folge der christlichen Gebete und der lebendigen christ¬
lichen Gesinnung, die die „operationes seminatrices bellorum“ unter¬
drückt und ihn dadurch zustande bringt. Umgekehrt gelten die Kriege und
Wirren der Endzeit nicht mehr als Ursache^®, sondern als Folge des Er-
kaltens der christlichen Liebe 2®. Danach erscheint es leicht, die politische
Forderung und die christliche Daseinshaltung in inneren Zusammenhang
und in Ausgleich zu bringen.
Aber schon jetzt zeigt sich die Stelle, an der die angebotene Lösung
scheitern muß. Die unumgängliche Voraussetzung des ganzen Gedankens,
der die Christen als Priester des Reiches für sich stellt, ist ja die, daß ihre
Gemeinschaft in der Welt immer nur eine bestimmte Gruppe, das heißt
eine Minorität bleibt. Was aber, hatte Kelsos gefragt, soll geschehen, wenn
das ganze Reich christlich würde? „Handelten alle so wie du“ - woher
nähme der Kaiser dann noch seine Soldaten? Die Antwort, daß dann ja
überall im Reiche der Frieden einkehren und man somit auch keiner Poli¬
zei und keiner Armee mehr bedürfen würde, gilt nicht im Blick auf die
Barbaren, die sich zwar grundsätzlich nur am Rand der „Ökumene“ be¬
finden, deren Macht im 3. Jahrhundert aber nicht mehr übersehen werden
kann. So weiß an diesem Punkte auch Origenes keine andere Antwort als
die, welche Kelsos mit Recht als unbrauchbar beiseite geschoben hatte:
„Würden alle Römer den Glauben annehmen, so würden sie durch Beten
und Flehen den Sieg über ihre Feinde gewinnen — oder vielmehr, sie
würden überhaupt keine Feinde mehr zu bekämpfen haben, da die gött¬
liche Macht sie bewahren würde“®®. Ein christliches Weltreich ist für
Origenes immer noch eine ganz utopische Vorstellung; so wagt er eine
scheinbar ganz unwirkliche, konstruierte Möglichkeit, die ihm vorgehal¬
ten wird, mit einer utopischen Antwort zu erledigen. Spätere Kirchenväter

260
DER KRIEGSDIENST DER CHRISTEN

haben sich damit geholfen, daß sie gleich die ganze Welt christlich werden
und so dann ohne Schwierigkeiten den ewigen Frieden genießen lassen
Die endgültige Wendung beginnt mit Konstantin. Die Tatsache, daß
der oberste Kriegsherr selbst Christ geworden war, enthüllte die Un¬
durchführbarkeit der idealistischen Spekulationen. Man konnte die Ver¬
antwortung und die Führung der Kriege jetzt schlechterdings nicht mehr
allein auf die heidnische Bevölkerung abschieben. Die Christen mußten
selber ins Glied treten - nicht mehr einzeln und konzessionsweise, son¬
dern grundsätzlich und allgemein. Der Entschluß hierzu ist der Kirche
nicht leicht gefallen.
Gerade die Greuel der vorangegangenen Verfolgungen und Bürger¬
kriege hatten den allgemeinen, bürgerlichen Abscheu vor dem Kriege, den
Eindruck der Ruchlosigkeit des Soldatenberufs in der Kirche noch einmal
mächtig verstärkt. Es hatte Christen gegeben, die schon bei der Einbe¬
rufung zu Märtyrern wurden, weil sie es ablehnten, ein christliches Leben
in diesem Haufen auch nur zu versuchen ^ . „Der gerechte Mann darf
2

nicht Soldat sein; denn die Gerechtigkeit selbst ist sein Kriegerstand“ 3*.
So kommt es auch nach der Überwindung des Heidentums im Reiche und
in der Armee noch zu einer Reihe von seltsamen Übergangsregelungen.
Nicht umsonst hatte Kaiser Konstantin selbst solange gezögert, die christ¬
liche Taufe zu empfangen. Es wird vielfach üblich, den Christen den Ein¬
tritt in die Armee zu gestatten, ja die Desertion in Friedenszeiten sogar
unter schwere kirchliche Strafen zu stellen®^, das Töten aber nach wie vor
zu verbieten. „Personen, die Vollmacht zum Töten besitzen (das heißt die
christlichen Richter), „und Soldaten sollen überhaupt nicht töten, selbst
wenn es ihnen befohlen wird.“ Ist das im Ernstfall schwer Vermeidliche
aber dennoch geschehen, so sollen die Betreffenden von den Sakramenten
ausgeschlossen werden, bis sie Buße getan haben Ein Theologe wie der
große Basileios hat noch gegen Ende des Jahrhunderts diesen Standpunkt
festgehalten Auf die Dauer war das natürlich eine Unmöglichkeit.
Schon Athanasios erklärt gelegentlich, das sonst verbotene Toten der Feinde
sei im Kriege nicht nur erlaubt, sondern sogar lobenswert, und Ambrosius
feiert in der Nachfolge Ciceros unbefangen die soldatische Tapferkeit, die
das Vaterland gegen die Barbaren schirmt»». Nach einem Eriaß Theodo-
sius II. vom Jahre 416 dürfen überhaupt nur noch Christen in die Armee
auf genommen werden; und zweihundert Jahre spater fallt es schwer, den
Kaiser Phokas von der Meinung abzubringen, all seine im Krieg gefalle¬
nen Helden müßten als Märtyrer verehrt werden. Es ist von hier aus nur
noch ein kleiner Schritt bis zu der Idee des heiligen, kirchlich-christlichen
Kriegs im Sinne der Kreuzzüge. - . 1 . j
Überblickt man die durchlaufene Entwicklung, so wird man trotzdem

261
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN

nicht sagen dürfen, die Kirche habe seit dem vermeintlichen „Abfall“
unter Konstantin den ursprünglichen christlichen Ausnahmegedanken
einfach preisgegeben. Eine dogmatisch unbedingte, anarchische Wider¬
standslosigkeit hat die Kirche, wie wir sahen, niemals politisch gefordert.
Sie konnte sie auch dann nicht zum Gesetz erheben, als die Christen es
nicht länger vermeiden durften, staatliche Stellungen und politische Ver¬
antwortung mit zu übernehmen - ohne daß die Welt darum aufgehört
hätte, im biblischen Sinne immer noch „Welt“ zu sein. Aber die Kirche
hat vor der Welt und ihrem weltlichen Kriegsrecht darum nicht einfach
kapituliert. Wir sahen, wie schon Origenes mit seiner Forderung der Ge¬
rechtigkeit die christliche Freiheit der Entscheidung wenigstens grund¬
sätzlich zu wahren sucht, und diese Entwicklung setzt sich bis zu Augustin
und über Augustin hinaus bedeutsam fort. Die Kirche überläßt die Welt
nicht einfach ihrem eigenen Urteil, sondern wagt es, in ihrer Mitte kon¬
kret für das Rechte einzutreten und damit auch für die eigene Wahrheit zu
zeugen. Und noch immer möchte sie selbst eine Stätte des unbedingten
Friedens bleiben. Die aktuelle Abgrenzung wird freilich schwer und müßte
eigentlich immer von neuem gefunden werden. Aber es hat doch seinen
tiefen und nicht nur symbolischen Sinn, wenn vor den Toren der Kirche
und des Klosters dem Krieg und der Blutjustiz grundsätzlich Halt ge¬
boten wird.
Ähnliches läßt sich, freilich weniger deutlich, auch auf dem Gebiet der
individuellen Entscheidung feststellen. Bei aller grundsätzlichen Bejahung
der staatlichen und militärischen Pflichten für alle Bürger, auch wenn sie
Christen sind, wird der Kriegsdienst doch nicht einfach zum absoluten
Gesetz erhoben. Ausnahmen sind möglich und sind gerade als christliche
Ausnahme notwendig. Mönche, Kleriker und „Geistliche“ aller Art
brauchen nicht zu kämpfen, sondern dürfen sich noch immer darauf be¬
schränken zu opfern und zu leiden. In ständischer Verhärtung und Stabi¬
lisierung wird eine Erinnerung an die Möglichkeit der lebendigen Aus¬
nahme immer noch zeichenhaft festgehalten.
Denn auf die Freiheit solcher „Ausnahmen“, die in der Öffentlichkeit
der W^elt stehenbleiben, kommt es in der Tat an. Die christliche Bereit¬
schaft, alle bürgerlichen Lasten und Verantwortungen mitzutragen, wird
damit nicht etwa widerrufen. Sie besteht unbedingt und gilt auch dort, wo
es sich - wie im Fall des unvermeidlich gewordenen Krieges - offensichtlich
um Folgen menschlicher Sünde handelt. Dabei ist es auch ganz gleichgül¬
tig, ob und wieweit sich die Christen unmittelbar mitschuldig gemacht
haben oder nicht. Aber es darf auf der anderen Seite doch niemals der An¬
schein entstehen, als sei die Sünde selbst noch eine Macht, deren Herrschaft
die Christen hinnehmen müßten, statt sie zu bekämpfen. Die Christen ord-

262
DER KRIEGSDIENST DER CHRISTEN

nen sich den politischen und militärischen Fronten darum niemals so ein,
als ob der Krieg eine letzte Wahrheit und Wirklichkeit bestätigte, die keine
Durchbrechung duldet. Die Wahrheit, die wirklich gilt, ist vielmehr die
Wahrheit des der Welt geschenkten Friedens, und diese Wahrheit muß
überall bezeugt werden. Die Front der Feindschaft muß geistlich sein und
sie darf des zum Zeichen auch ganz äußerlich immer wieder durchbrochen
werden. Kriegsdienst und Kriegsverzicht der Christen gehören also in ge¬
wisser Weise zusammen. Die recht verstandene „Ausnahme ist in diesem
Falle die notwendige Auslegung und Bestätigung einer richtig verstan¬
denen „Regel“.
Anmerkungen

Idi verweise ein für allemal auf die bekannte und in der Hauptsache noch immer
ausreichende Zusammenstellung bei A. v. Harnack, „Militia Christi“. Die christlidie
Religion und der Soldatenstand in den ersten drei Jahrhunderten. 1905. Einige
neue Insdiriften, die seitdem hinzugetreten sind, findet man z. B. bei Cabrol-Leclercq,
Dict. d’archeol. diret. et de liturgie XI, 1 (1933) Art. „Militarisme“. Die grundsätz¬
lichen Probleme sind besonders im angelsächsischen Raum diskutiert worden; vg .
namentlich C. J. Cadoux, „The Early Christian Attitüde to War“ (1919) und die
ausgezeichnete Erörterung durch Roland H. Bainton, „The Early Churdi and War ,
Harv. Theol. Rev. 39 (1946) 189 ff. Die römisch-katholischen Erörterungen im bti e
O Schillings, „Naturrecht und Staat nach der Lehre der alten Kirche“ (1914), leiden
fast durchweg unter einer vorzeitigen Einspannung und Erledigung der Frage nach
naturrechtlichen Gesichtspunxten.
Tert., apol. 30; Cypr., ad Demetr. 20; Arnob., adv. nat. IV 36.
Tert., apol. 21.
Just., dial. 110.
Clem. Al., protr., 116; paed. I 12. . t , Ar- v \ n.f cm
Just, apol. I 39; dial. 110; Iren., haer. IV 34; Tert., adv. Jud. 3; Minuc. Fel., Oct. 30.
So z. B. I. Clem. 37.
K. Jaspers, „Von der Wahrheit“ (1947) 749. , t- r « T uk 3 14
Er wird ein einziger Mal, nänrlid, in der sog. Standespredigt des Täufers Luk. 3,14,
wenigsten, gestreift: inden. die Soldaten eu suchtvoller und geordnete, CAenswe se
ermahnt werden, ist ihr Stand als soldter jedenfalls n.At verworfen
gewissen Voraussetsungen anerkannt. Das haben sid, schon zu r)*, hervor-
Verfedrler eines christlichen Kriegsdienstes zunutze gemacht "
hnhfn Allein es ist zu beachten, daß der Text noch nicht von christlichen Soldaten
Sndelt und daß er bei Lukas (der ihn allein bringt) wahrsAeinlich nicht ohne eme
gelse apologetische Absicht geboten wird, um staatspolitische Bedenken gegen die
iiinß-e Bewegung von dieser Seite her zu zerstreuen.
. Das haVz B W Bi.nort, „Krieg, Kriegsdienst und Kriegsd.enstverwe.gerung nad, de,
Botschaft de. Neuen Testaments“ (1952) nicht genügend erwogen, wenn er nicht weni¬
ger als 38 Thesen zum Thema exegetisch zu erheben ^
zeige Für Arbeit und Besinnung“, Beilage f. Baden 6 (1932) 247
11
Vgl. besonders Can. Hipp. XIV 74: christianus ne fiat propria voluntate miles.
12

13
A^ch’dle PoleL\k gegen die Übernahme öffentlicher Ämter und Richterstellen er-

263
HANS FRHR. V. CAMPENHAUSEN

wähnt dies Moment nur am Rande und zum Überfluß: de idol. 17 f.; vgl. de cor. 11.
Tert., de idol. 19.
Giern. Al., protr. 10, 100.
Giern. Al., paed. I 12; vgl. protr. 116; Strom. IV 61 f.
Euseb., hist. eccl. VII 30, 8.
Orig., contra Gels. VIII 55.
« ebd. VIII 68.
ebd. VIII 69.
2» ebd. IV 81.
** ebd. IV 82.
Orig., Mt. comm. ser. 36.
Orig., contr. Gels. VIII 73.
ebd. V 33. Bezeichnend ist die allegorische Ausweitung des Gedankens.
Orig., Num. hom. 26.
” Orig., contra Gels. VIII 73.
Mt. 24, 12.
Orig., Mt. comm. ser. 37.
Orig., contr. Gels. VIII, 70.
So Arnob., adv. nat. I 6.
^ Vgl. besonders das Martyrium des Maximilianus, der allem Zureden zum Trotz bei
seinem „non possum militare, non possum malefacere — Ghristianus sum“ verharrt. In
der Frage des Bekenntnisses und der gottesdienstlichen Teilnahme ist man den Ghristen
während der letzten Zeit offenbar auch in der Armee weit entgegengekommen.
Lact., inst. VI 20, 16.
So ist wohl insbesondere der can. 3 des Arier Konzils von 314 zu verstehen: de bis qui
arma proiiciunt in pace placuit abstineri eos a communione.
Gan. Hipp. 13 f.
Basil., ep. 188, 13. Das geschieht, obgleich auch er den Krieg, d. h. den gerechten Krieg,
der -önsg amcpQoa'övrtg Kai siaeßsCag geführt wird, ausdrücklich für erlaubt erklärt.
Atiian., ep. ad Amunem, wo die Bemerkung allerdings nur vergleichsweise und nicht
speziell für den Ghristen gemacht wird. Doch wird die veränderte Stimmung sofort
deutlich, wenn man die verwandte Aussage Gyprians, ad Donat. 6, daneben hält:
hier erscheint gerade empörend, daß das Verbrechen des Mordes ,,virtus vocatur,
cum publice geritur“.
Ambr., de off. I 129.

264
Jeanne Hersch

TRAGWEITE UND GRENZEN


DES POLITISCHEN HANDELNS

Ich weiß noch, mit welcher Empörung ich als junge Studentin den Ge¬
danken zurüdtwies, daß die Machtübernahme Hitlers irgendeinen Einfluß
auf den Lauf meiner Studien haben könnte - daß sie mich zum Beispiel
hätte davon abhalten können, meinen Philosophiestudien an einer deut¬
schen Universität weiterhin zu folgen. Mit welchem Recht wollte dieser
Herr, den ich gar nicht kannte, in meine Entscheidungen eingreifen? Mit
welchem Recht durfte sich die Politik in meine Angelegenheiten mischen?
Ich glaube, daß bei den jungen Leuten von heute eine solche individua¬
listische Auflehnung nicht einmal mehr vorstellbar wäre. Sie werden - mit
Recht - sagen, daß meine damalige geistige Verfassung noch dem 19. Jahr¬
hundert angehörte.
Einige Monate später wußte man, daß dieser „indiskrete Herr , der so
in mein Studium eingriff, schon dabei war, noch etwas entscheidender in
das Schicksal von Millionen Menschen einzugreifen - indem er sie vom
Leben zum Tode beförderte. Einige Jahre später wußte man, daß von
seinem Erfolg oder Mißerfolg alles abhinge, das Schicksal Europas, Leben
oder Tod und das Verhalten aller Europäer - vielleicht der ganzen
Menschheit. . j j n
Ich muß dazu sagen, daß ich in der Schweiz aufgewachsen bin, und daß
dort der Lauf der Geschichte seit geraumer Zeit fürs nächste ziemlich harm¬
los erschien.

In den Wintermonaten, die der Machtergreifung Hitlers vorangingen,


sagte mir ein Freund in Deutschland, er lehne das unsaubere und sum¬
marische Vorgehen der Parteien ab. Man müsse die Menschen auf eine
individuelle Art erziehen. Alles andere sei ohne jede Wirkung. Selbst
wenn diese Erziehung sehr langsam, sehr langatmig wäre müsse man
sich auf sie beschränken, denn sie allein würde ihren Zweck nicht durch
die Mittel entheiligen. .
Einige Monate später war dieser Freund im Hitlersystem eingegliedert

Als ich in diesem Jahr 1933 Deutschland verließ - eine kleine Jüdin, die
man mit besonderer Rücksicht behandelt hatte, weil sie Ausländerin war,
während andere, kompromittierte oder verdächtige Studenten lautlos am
Schluß einer Vorlesung verschwanden, Männer in braunen Hemden die

265
JEANNE HERSCH

berühmten Lehrstühle besetzten und den achtzehnjährigen Ariern die an


allen Teilen des Körpers einer jüdischen Frau erscheinenden Zeichen vor¬
zeitigen Alterns erklärten, und während man im Bann des Horst-Wessel-
Liedes, das mit Blut getränkte Straßen versprach, erwachte, aß, atmete,
dachte und schlief - hatte ich einige unersetzliche Erfahrungen gemacht
und einige elementare Einsichten gewonnen.
Die erste dieser Einsichten war, daß man der Politik unmöglich den
Rücken kehren kann; wenn man es ablehnt, sich mit ihr zu beschäftigen,
beschäftigt sie sich mit einem; es ist besser dem zuvorzukommen, und sich
in diesem unsauberen Bezirk wenigstens seine Kampfstellung zu wählen.
Die zweite Einsicht war, daß es nichts innerhalb des menschlichen Be¬
reiches gibt, das für immer errungen und außerhalb der Zeit festgelegt ist.
Nichts: weder das Ansehen der Person, noch die gesellschaftlichen Schran¬
ken, noch die Gerechtigkeit, nicht einmal der Sinn des Wortes Gerechtig¬
keit - nicht einmal der Wille zur Gerechtigkeit.
Nicht einmal die Wahrheit. Und das war das Eigenartigste. Auf allen
Titeln, die in den Fenstern der Buchhandlungen auslagen, kam das Wort
„deutsch vor: es gab eine „Deutsche Wissenschaft“, eine ,,Deutsche Bio¬
logie , ich glaube sogar eine „Deutsche Geometrie“ gesehen zu haben. Auf
der Universität verkündete ein Professor mit feierlichem Nachdruck,
Wahrheit sei, was dem deutschen Volke diene. Und die Wände der Hör¬
säle stürzten nicht zusammen, das Gehirn des Professors arbeitete weiter,
was er sagte, hatte einen Sinn, er dachte. Wahrheit ist, was dem deutschen
Volke dient! - auch dies war noch ein Gedanke. Die Sprache, - diese tiefe
und vibrierende Welt von ineinander verschlungenen Worten, die ich
wohl deshalb immer geliebt hatte, weil mir schien, daß sie wirklich einzig
sei durch den Widerschein des Wahren, der sich in ihr verfangen hat —,
die Sprache versagte ihren Dienst nicht. Sprachschatz und Syntax arbeite¬
ten wie immer und stellten sich in den Dienst dieser neuen Definition. Das
schallend laute Gelächter, das mich wieder hätte frei atmen lassen, ertönte
nicht. Die Studenten blieben ernst. Die Wahrheit ist also nicht mit dem
Blitz bewaffnet. Und die Lüge ist nicht das Nichts. Selbst wenn auf dem
ganzen Erdball als Wahrheit gälte, „was dem deutschen Volke dient“,
würde es noch Universitäten geben, würde man weiterhin denken, spre¬
chen und schreiben. Die Wahrheit konnte ihren Sinn verlieren.
Die dritte dieser Einsichten war, daß zu jedem Zeitpunkt, hier, mitten
in meinem Leben, irgend etwas geschehen kann, nicht etwa infolge einer
natürlichen Katastrophe, wie eines Vulkanausbruchs oder einer Epidemie,
sondern durch die Geschichte. Die Geschichte nimmt keinen vernunftgemä¬
ßen Verlauf. Man geht nicht unbedingt auf ansteigenden Wegen zum
Glück, zur Sicherheit oder zur Freiheit. Auch die Entwicklung von der

266
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS

Autokratie zur Demokratie, von der Sklaverei zur Staatsbürgerschaft war


also nicht selbstverständlich. Die umgekehrte Entwicklung war nicht aus¬
geschlossen. Die Menschen konnten aufhören, die Freiheit zu wollen. Die
Geschichte hört nicht da auf, wo das Geschichtsbuch den Schlußpunkt setzt,
sie war jetzt im Werden. Und sie geschah nicht anderswo, nicht in einer
anderen Zeit als der des täglichen Lebens: sie ereignete sich hier.
Dieses Entdedcen der Gesdiichte ähnelt dem Gewahrwerden des Todes
beim plötzlichen Sterben eines Menschen.

Seitdem ist, weit über mein eigenes Leben hinaus, alles, was ich liebe,
bedroht. Nicht einmal die Toten sind sidier. Die Vergangenheit bietet
keine Zuflucht mehr. Eine furchtbare Gleichzeitigkeit der Gefahr hängt
über der ganzen Dauer der menschlichen Geschichte, die als Ganzes unter
der Bedrohung des kommenden Augenblicks steht. Das Leben und Sterben
des Sokrates kann man heute noch sinnlos machen. Oder wenigstens kann
der ewige Ort, an dem ihr Sinn aufgeschrieben wurde, jetzt und auf immer
ganz von der Welt der Menschen abgeschnitten werden. Auch Sokrates
kann noch in einen Verbrennungsofen geworfen werden. Er kann in Ver¬
gessenheit geraten. Der in Armut lebende Spinoza, der es vorzog, Brillen¬
gläser zu schleifen und den Lehrstuhl einer Universität ausschlug, um un¬
abhängig und frei über die Notwendigkeit nachzudenken, kann dazu
dienen, den Geist zu knechten. Die Toten sind allem und jedem preis¬
gegeben. Man kann Tatsachen völlig aus dem Gedächtnis der Menschen
auslöschen und ihre Spuren aus allen Dokumenten tilgen, man kann sie
soweit entstellen, daß ihre wahre Bedeutung ins genaue Gegenteil ver¬
kehrt wird. Diese vollendeten Verbrechen haben in der Welt der Menschen
eine Art ontologische Macht. Die Vergangenheit ruht und kann sich nicht
wehren, und das vergossene Blut ist Wachs in den Händen der Macher ge¬
worden Und doch hängt die Zukunft, die Zukunft der Kinder von heute
und von morgen, die des menschlichen Geistes, den die Welt braucht, um
Gestalt anzunehmen, von dieser Vergangenheit ab.
Die Geschichte will es, daß Vergangenheit und Zukunft von uns, die wir
für einige Jahre die Lebenden sind, abhängen. Im gewissen Sinne han-
gen sie sogar nur von uns ab, und vor uns ist alles mögh* - vom Besten
bis zum Schlimmsten, Wir selbst können übrigens Vergangenheit und Zu¬
kunft nie endgültig sichern, sondern nur wenn es gut geht, von Auge»-
blick zu Augenblick. Die drohende Gefahr besteht, solange die Zeit be
steht. Und selbst der Gedanke, daß, wenn wir etwas hatten zugrunde ge¬
hen lassen, es noch durch eine andere Hilfe gerettet werden könne, ist uns

fast verboten.

267
JEANNE HERSCH

Zwischen dem täglichen Leben und der werdenden Geschichte kann man
keine Grenze ziehen. Mit oder ohne unseren Willen machen wir Geschichte,
sogar ohne es zu wissen, durch Lebensführung und bloßes Dasein. Die Ge¬
samtheit jener Handlungen, die nicht nur zufällig eine historische Rück¬
wirkung haben, sondern deren ausgesprochener Sinn es ist, in den Lauf der
Geschichte einzugreifen und das Ihre dazu beizutragen, sie zu formen,
nennen wir Politik. Die Politik ist also Geschichte, insofern sie sich bewußt
und willentlich entwickelt.
Eine politische Existenz enthält meines Erachtens nach das Postulat, daß
der Mensch die Macht hat, in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Weder
in der fatalistischen noch in der deterministischen Weltanschauung hat
eigentliche Politik ihren Raum. In beiden Systemen ist alles vorgegeben,
sei es zum Guten oder zum Bösen, sei es, daß das Gute und das Böse vor
der majestätischen Notwendigkeit zunichte werden. Die Zukunft ist nur
unbekannt, weil der Mensch unwissend ist. Selbst wenn man dem politi¬
schen Handeln innerhalb des Determinismus eine Möglichkeit einzuräu¬
men versucht, indem man aus ihm eines seiner konstituierenden Elemente
macht, bleibt die Alternative in ihrer ganzen Schroffheit bestehen. Hat die
Politik den Einsatzwert, von dem wir oben sprachen, oder gibt es über¬
haupt keinen solchen? Im Falle des Determinismus wird er hinfällig. Es
gibt keine Verantwortlichkeit mehr, nur noch einen mechanischen Ab¬
lauf. Man mache nicht den Einwand, daß der Determinismus zwar im
großen ganzen zu Recht bestehe, daß jedoch die Geschwindigkeit, mit der
sich alles abwickle, von der politischen Tätigkeit der Menschen abhänge.
Damit diese Hypothese gültig wäre, müßte man eine gleichzeitige Ver¬
langsamung oder Beschleunigung aller Vorgänge annehmen; das hieße je¬
doch, sie so zu lassen, wie sie eben sind. Denn wären nur einige mehr oder
weniger beschleunigt als andere, entstünden im Determinismus nicht vor¬
hergesehene Gleichzeitigkeiten, und die Linien der kausalen Zusammen¬
hänge würden sich anders durchkreuzen; es entstünden also andere Phä¬
nomene. Damit wäre es um den Determinismus geschehen. Er gilt ent¬
weder uneingeschränkt oder gar nicht.
Der uneingeschränkte Determinismus - der einzig wirkliche - schließt
also politische Existenz aus. Das heißt, daß jeder, der eine politische Wir-
kung zu erzielen versucht, sich nicht konsecjuent auf den Determinismus
berufen kann. Gleichzeitig wird jene Auffassung hinfällig, derzufolge der
Mensch sein Eingreifen in den Lauf der Geschichte von den Gegebenheiten
bestimmen lassen muß, indem er versucht, die Entwicklung der Ereignisse
zu erraten. Das hieße dieser „wahrscheinlichen Entwicklung“ einen wirk¬
lichen Wert beimessen, vom Faktischen auf das Rechtmäßige schließen, in
eine monistische Philosophie zurückfallen, für die empirische Wirklichkeit,

268
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS

Logik und Werte in eins zusammenfallen. Es handelt sich dann aber nicht
mehr um eine wahrscheinliche Entwicklung, sondern um eine Notwendig¬
keit. Das, was ist, ist das, was sein soll. Die Tatsache, daß es ist, genügt
als Rechtfertigung. Der Erfolg wird zum Kriterium der Rechtmäßigkeit.
Die empirische Wirklichkeit wird keiner Beurteilung mehr unterworfen,
sondern ist die Norm eines jeden Urteils. Dann gibt es keine Politik mehr.
Allerdings gibt es auch für den keine Politik, der nicht an gewisse kon¬
stant bleibende Beziehungen zwischen sozial bedingten Erscheinungen
glaubt und an die Möglichkeit einer gewissen historischen Voraussicht. Auch
in der physikalischen Welt kann man nur eine Wirkung erzielen, wenn
man einen hypothetischen Determinismus annimmt, auf dem alle Gesetze
beruhen. Auf dem historischen und sozialen Gebiet aber besteht der Irr¬
tum, der Aberglaube, der sowohl Freiheit wie Strenge der Wissenschaft
zerstört, darin, daß Mittel und Ziel verwechselt werden, oder in einem
unstatthaften Übergang zur Totalität.
Mittel und Ziel werden verwechselt: wie wir eben gesehen haben, kann
die Wirklichkeit mir mein Ziel nicht vorschreiben, ohne dem Begriff „Ziel“
den eigentlichen Sinn zu nehmen. Es genügt jedoch nicht, ein Ziel anzu¬
streben, so schön es auch immer sein mag, man muß es auch erreichen.
W^enn mein politisches Handeln einen Sinn haben soll, muß ich das, was
ist, und das, was sich wahrscheinlich daraus ergeben wird, in Betracht
ziehen. Ich muß die Wirklichkeit verstehen, um die Mittel, die ein Ein¬
greifen wirksam machen, wählen zu können. Bei einem verschiedenen
Prozentsatz des Möglichen und des Gewissen gilt das Gleiche für die Welt
der Physik: die Gesetze der Physik sagen mir nicht, ob ich einen Radio¬
apparat oder ein Grammophon bauen soll; erst wenn ich gewählt habe,
sagen sie mir, welches Material ich verwenden und wie ich es gebrauchen
soll.
Bleibt noch die Wahl des Ziels: sie ist natürlich nicht ganz unbegrenzt.
Nicht alles ist dem Menschen möglich, da das Wirkliche für ihn auf allen
Gebieten der unvermeidliche, begrenzende und schöpferische Widerstand,
das Hindernis, die Materie und das Sprungbrett seiner Schöpfung ist.
Nichtsdestoweniger ist der Verzicht auf ein politisches Ziel wegen irgend¬
welcher Vorausberechnungen, „die sich auf Fakten gründen , viel frag¬
würdiger als ein derartiger Verzicht auf dem Gebiete der Physik. Die
historische Voraussicht ist unvergleichlich ungewisser als die physikalische:
man kann keine Versuche und Proben machen, und dazu kommt noch die
nie voraussehbare Freiheit. Aber gerade aus dieser Unzulänglichkeit der
Voraussicht, die jeder historischen Erkenntnis inhärent ist, ergibt sim der
zweite Mißbrauch, von dem wir sprachen: der Übergang zur Totalität
Anstatt die Tragweite des Wissens in den historischen und sozialen

269
JEANNE HERSCH

Wissenschaften zu beschränken, weil es auf diesen Gebieten weniger ge¬


nau und weniger nachweisbar ist als in der Physik, benutzt man oft gerade
diese Ungewißheit, um schlecht definierte und allgemein gehaltene Ge¬
setze zu formulieren, die sich auf weite historische Zyklen beziehen. Es
ist beinahe unmöglich, diese „Gesetze“ zu prüfen, und um so gewaltsamer
drängen sie sich dem allgemeinen Verständnis auf. Sie dienen vor allem
dazu, bestimmte Ziele als „der historischen Entwicklung zuwider“ auszu¬
schließen und andere dafür einzusetzen. Und damit ist das ungeheuerlidie
Alibi geschaffen, das eine totale Kenntnis der Geschichte „in ihren großen
Zügen“ der menschlichen Verantwortung bietet.

Es gehört also zum Wesen der Politik, daß sie auf Werte zurückgreift,
die nicht festgestellt, sondern anerkannt werden von einem Subjekt, das
glaubt, in Anbetracht der gegebenen Situation mit einem gewissen Erfolg
in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können. Damit wird die Politik
an die Ethik gebunden. Das Subjekt, das sich politisch betätigt, will sich
nicht vollkommen in das Netz der Ereignisse einschalten, will sich ihnen
nicht aussetzen - im Gegenteil, es will eine Kausalreihe, die ethischen
und nicht empirischen Ursprungs ist, in dieses Netz einführen. Damit hat
es in die historische Kausalität eingegriffen.
Wenn man mir sagte, daß sogar der Wille des Subjekts und die Werte,
die es bestimmen, soweit sie ethisch sind, ein Bestandteil der sozialen Welt
sind und auf diesem Umweg wiederum zur empirischen Realität gehören,
hielte ich trotzdem die oben gestellte Alternative aufrecht. Entweder führt
man Wille und Werte ganz auf ein monistisch determiniertes System
zurück - dann aber gibt es keinen Einsatz und keine Politik, - oder aber
der Wille ist fähig, einen „Anfang“ zu machen, den man den freien
Willensakt nennt, und Werte sind etwas anderes als Tatsachen - dann
gibt es wieder alles; das Mögliche, die Gefahr, den Einsatz, die Politik.
Hier stoßen wir jedoch auf ein fundamentales Paradox. Wir haben
eben gesehen, daß die Politik, wenn sie einen Sinn hat, sich nach ethischen
Werten richtet. Das entspricht übrigens ganz der banalen Auffassung des
gesunden Menschenverstandes, auf die auch die Theoretiker des Determi¬
nismus in der Praxis zurückkommen, wenn sie ihrer Begeisterung oder
Empörung freien Lauf lassen. Daher kommt es auch, daß die gewöhn¬
liche Sprache beharrlich - manchmal in gefährlicher Weise - politische
Entitäten personifiziert, einer Nation, einem Staat, einer Regierung, einer
Klasse, einem ganzen Land eine einzige Seele zuspricht, die mit morali¬
schem Sinn und persönlicher Gefühlsfähigkeit begabt ist, und deren Ent¬
scheidungen man dann mit Begriffen der Psychologie analysiert und einem
ethischen Kriterium unterwirft. Selbst Gelehrte, die „ökonomische Fak-

270
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS

toren und die „Macht der Tatsachen“ überschätzen, setzen schließlich


diese Entitäten einer Art von freien Subjekten gleich, die von Begierden
und Leidenschaften bewegt sind und deren „Tugenden“ gebührend ge¬
schätzt werden.
In einer solchen Betrachtung der Dinge vollzieht sich eine gefährliche
Entstellung. Wenn die Politik audi wirklich an die Ethik gebunden ist,
kann man an sie doch nicht die gleidien ethischen Forderungen stellen
wie an ein Individuum, ohne im tiefsten die Problemstellung zu verfäl¬
schen; und jene Forderungen, die man stellen kann, lassen sich nicht auf
die gleiche Weise stellen.

Wie immer, müssen wir auf Kant zurückkommen. In der „Kritik der
praktischen Vernunft“ hat Kant das reine Wesen des Ethischen heraus¬
kristallisiert. Was man bei ihm oft für eine unmenschliche Forderung
hielt, praktisch unwirksam, weil es übertrieben sei und aus einer Unkennt¬
nis des Menschen, wie er ist, komme, hat gerade auf dieser Ebene der
Vorschriften, auf der man es zu Unrecht beurteilt, gar keinen Sinn. Kants
Gedanken liegen in Wirklichkeit über oder unter dieser Ebene. Unter ihr:
er schreibt noch nichts vor, er stellt nur die Theorie möglicher moralischer
Vorschriften auf, er erforsdit formal deren Bedingungen und Tragweite;
sein Formalismus ist keineswegs eine Schwäche, ein Mangel an Verständ¬
nis, ein Verkennen des Konkreten, er ist beabsichtigt: durch ihn gerade be¬
kommt dieses Denken seine theoretische Gültigkeit und die moralische
Kraft einer absoluten, vollkommen unbestimmten Forderung. Über ihr:
Kant — wie wir es eben angedeutet haben — appelliert an die moralische
Instanz, die er rein und von allem anderen frei haben will, an keine dem
Erfolg oder dem Glück dienenden Überlegung gebunden, nicht etwa, damit
der Mensch sieb nur an eine abstrakte Vorschriftsregel halte, sondern, ge¬
rade im Gegenteil, damit — da diese Regel nicht gegeben wird, - das mo¬
ralische Gewissen gezwungen werde, sich voll und ganz vor das Konkrete
zu stellen. Es handelt sidi darum, die Ausfluchtswege zu versperren, den
billigen Kompromiß und die moralische Genugtuung, die nichts kostet,
Leidenschaften, die unter dem Deckmantel der Pflicht herumlaufen, auf¬
zuhalten, damit die reine ethische Forderung als solche allem, was ihr
fremd ist, gegenübertritt, und der Mensch weiß, was er wählt Die Uni¬
versalität Kants, die schon durch die Terminologie, deren er sich bedient, zu
implizieren scheint, daß seine Ethik eine politische Bedeutung hat hat riur
durch das Ausschließen jeglicher Erfolgserwägung aus dem Gebiete der
Moral Bestand.
Ein anderer Denker jedoch ist mit seiner Analyse den umgekehrten
Weg gegangen. Wenn Kant aus der Vieldeutigkeit des Konkreten das

271
JEANNE HERSCH

reine ethische Gesetz entwickelt hat, so hat jener Denker daraus das reine
politische Gesetz entwickelt. Ich meine Madhiavelli. Und das politische
Gesetz heißt Erfolg haben. Auch Machiavelli scheint mir mißverstanden
worden zu sein. Denn die Menschen, selbst unter dem Zwang der Ent¬
scheidungen stehend, die das Leben von ihnen erwartet, haben nichts
Eiligeres zu tun, als, was in Wirklichkeit nur Theorie ist, in Gebote zu ver¬
wandeln. Im „Fürsten“ zeichnet Machiavelli kein Vorbild, das nachge¬
ahmt werden soll. Er stellt ein theoretisches Muster hin, ein reines poli¬
tisches Subjekt. Ich möchte hier die Gültigkeit der von Machiavelli auf¬
gestellten These untersuchen, derzufolge das formale Gesetz dieses reinen
Subjekts ist, Erfolg zu haben. Danach werden wir sehen, ob das moralisdie
Subjekt einerseits und das politische Subjekt andererseits sich selbst ge¬
nügen können.
Politik treiben heißt: in den Lauf der Geschichte eingreifen - oder den
Versuch machen, einzugreifen, das heißt also, Handlungen vollziehen, die
nicht nur auf mein eigenes Schicksal, sondern auf das Schicksal zahlloser
menschlicher Wesen zielen. Je nach dem, ob nun mein Handeln Resultate
zeitigt oder nicht, ob diese Resultate gewollte oder unvorhergesehene sein
werden, wird die ganze Vergangenheit, werden Leben und Tod der Toten,
ihre Werke und die Werte, die sie hinterlassen haben, diesen Sinn haben
oder jenen, werden sie einen Sinn haben oder keinen. Von allen Seiten, von
allen Dimensionen der Zeit her wird von mir Rechenschaft verlangt. Idi
habe nicht das Recht, etwas zu opfern, denn es gibt hier nichts, das mir
gehört. Ich habe die Güter anderer zu verwalten. Immer am Rande des
Bankrotts muß ich in tiefer Unwissenheit die Bedeutung der Toten, die
Welt der Lebenden und die Möglichkeiten derer verwalten, die noch ge¬
boren werden. Ich verwalte auch noch ewige Werte, die doch beinahe schutz¬
los der Geschichte der Menschen ausgeliefert sind. Nunmehr ist Erfolg
haben zur Pflicht geworden. Ich habe den mir verliehenen Teil der Macht
dazu erhalten, damit ich bestimmte definierte Resultate erziele, und ich habe
nicht das Recht, Bankrott zu machen. In meinem Privatleben kann von mir
die Hingabe meines Besitzes, meiner Pläne, meines Glücks, meines Lebens
verlangt werden zugunsten der sich daraus ergebenden Vorteile für eine
größere Anzahl von Menschen, oder auch nur für eine einzige Person, oder
gar nur zugunsten eines Werts, dessen Achtung wichtiger als alles ist. In
meinem Privatleben darf ich auf einen Vorteil verzichten, selbst wenn idb
glaube, darauf ein Anrecht zu haben, um einen Streit, einen Prozeß zu
vermeiden. Ich darf auch aus Nächstenliebe verzichten - oder einfach aus
Entsagung und Gleichgültigkeit. Entsagung scheint immer etwas Gutes zu
sein, während Forderung etwas Schlechtes sein kann. Mit einem Opfer
lädt man kaum eine Schuld auf sich, es sei denn, man bringt es unwillig

272
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS

und freudlos, ausschließlich aus moralisch starrer Verpflichtung, so daß


daraus unheilvolle psychische Rückwirkungen resultieren.
Die Sache wird allerdings komplizierter, sobald uns nahestehende Men¬
schen auf den Plan treten und sich damit Egoismus und Altruismus in
ihrer zweideutigen Maske verwechseln lassen. Man kennt den geheiligten
Familienegoismus. Das angeborene Gefühl und die Pflicht zur Protektion,
das Glück eines anderen, das zum höchsten Wert erhoben wird, der Kon¬
flikt zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe -, all das bildet den Stoff der
menschlichen Entscheidungen in ihrer Komplexität, die weder gut noch
böse, die immer gut und böse ist, der tätigen Existenz. Wir sind auf dem
Wege zur Politik.
In der Politik zählen die guten Absichten nicht. Das ist die harte Spiel¬
regel, die jeder Politiker verstehen und anerkennen muß von dem Mo¬
ment an, in dem er einen kleinen oder großen Anteil an der Macht nimmt.
Frühere Staatsmänner, die in einem politischen Prozeß ihre guten Absich¬
ten zur Verteidigung heranzogen, haben mich immer enttäuscht. Eine Be¬
deutung haben diese nur - hier aber sind sie entscheidend - für das
Gewissen des Angeklagten und für jene, die, weil sie ihn lieben, sich für
das, was er ist und nicht für das, was er getan hat, interessieren. Das ist nur
eine Angelegenheit zwischen Gott und ihm, seinen Freunden und ihm, und
geht die Öffentlichkeit nichts an. Indem der Politiker die Unschuld seiner
Absichten verteidigt, untergräbt er das, was die Reinheit des Spiels mit
der Macht ausmacht; er gibt nicht nur zu, daß er sich in der Vergangen¬
heit geirrt hat, sondern auch noch, daß er das Wesen der Verpflichtung, die
er eingegangen ist, immer noch nicht versteht. Wenn er in der besten
Absicht der Welt eine Tat begangen hat, durch deren Folgen das Elend
von Familien und Kindern, die ihm anvertraut waren, herbeigeführt
worden ist, die sie in Sklaverei oder Deportation geführt hat, bleibt ihm
nur eins übrig: ohne Gnade das Urteil zu beantragen, das er als Politiker,
der vor seiner Aufgabe versagt hat, verdient; alles übrige geht auf sein
privates Konto.
Darum kann man wohl von der Kurzsichtigkeit eines Staates oder einer
Regierung sprechen, nicht aber von ihrem „Egoismus . Es ist ziemlich
absurd (es sei denn, es handle sich um eine große humanitäre Initiative,
die nur durch den großen Kreis ihrer Wirkung „politisch“ ist), an die
„Großzügigkeit“ eines Staates zu appellieren. Er hat zum Beispiel keines¬
wegs das Recht, auf dem Gebiete des Handels und der Arbeit Maßnahmen
zu ergreifen, die den Lebensstandard einiger Millionen Menschen, die ihm
doch anvertmut sind, herabsetzen würden zugunsten der unzähligen übri¬
gen Menschen. . .
So ist also ein kategorischer Imperativ, der vollkommen unabhängig von

273
JEANNE HERSCH

den praktischen Folgen ist, nicht nur ausgeschlossen - als unverantwort¬


lich, strafbar und dem Verrat nahe - in der Ausübung einer politischen
Funktion, sondern man kann sogar, wie Machiavelli es gemacht hat, das
Verhältnis völlig umkehren und sagen, daß, politisch gesehen, eine Hand¬
lung sich nur durch das Ergebnis bewährt und daß der kategorische Impe¬
rativ hier Erfolg haben heißt.

Muß man nunmehr das politische Ideal eines reinen Machiavellismus


anerkennen? Das hieße sich widersprechen. Das hieße de facto alles, was
es zu retten gilt, zerstören. Nicht weil der Machiavellismus als die Schule
der erfolgreichen List besonders unmoralisch ist, sondern weil jegliche
Aktivität, die allein dem Erfolg dient, vom Nonsens gekennzeichnet ist.
Der Erfolg kann die Rolle eines Imperativs, eines Kriteriums, eines Wer¬
tes nur in bezug auf andere Werte spielen. Allein kann er uns nur zur
reinen Feststellung von Tatbeständen zurückführen: was Erfolg hat,
ist! Dann bleibt nur eine Möglichkeit übrig: ja sagen, diesen Opti¬
mismus aus Prinzip anerkennen und sich darin breitmachen, sein vol¬
les Bekenntnis zu einer Ordnung oder dem Willen Gottes zu geben;
aber es ist offensichtlich, daß dieses Ja, dieser fromme Gehorsam durch
seine Billigkeit, durch das Fehlen einer Alternative sich selbst zunichte
macht. Es ist dies das Ja, der Optimismus, der Gehorsam eines Blatts, das
dem Winde nicht widersteht, eines Felsens, der der Erosion ausgesetzt ist
oder einen Abhang unter dem Zwang der Anziehungskraft hinabrollt. Sollte
es genug sein, Erfolg zu haben, wäre es absurd, Erfolg haben zu wollen,
denn dann gäbe es in der Welt nur Erfolg. Erfolg hat nur dann einen
Sinn, wenn man das, was ist, verurteilen kann. Und um das, was ist, zu
verurteilen, muß man auf etwas zurückgreifen, das im gleichen Sinne nidit
ist, in dem das, was ist, ist - das heißt, auf die moralische Ordnung der
Werte. Der Erfolg, den Kant das Hypothetische nennt und den Machiavelli
verabsolutiert, indem er ihn von allem anderen absondert, wird einem
kategorischen Wert untergeordnet, der von der Welt der Tatsachen un¬
abhängig ist. Machiavelli tritt vor Kant hin oder vielmehr: er wartet, daß
Kant ihm erlaube, sich selbst einen Sinn zu geben. Aber auch Kant seiner¬
seits tritt immer wieder vor Machiavelli hin. Auf der politischen Ebene
bleibt der Imperativ: Erfolg haben, bestehen. Die Menschen der Ver¬
gangenheit, der Gegenwart und der Zukunft verlangen weiterhin Ab¬
rechnungen, und sie dürfen keine Fehlschläge verzeihen. Der absolute Ein¬
satz, der selbst über die Menschheit hinausgeht, mit dem einigermaßen
der Sinn oder Un-Sinn des Universums und dessen, was noch darüber
hinausgeht, in diesem gefährlichen Abenteuer aufs Spiel gesetzt wird,
bleibt immer bestehen.

274
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS

Daraus ergibt sich, daß der politische Mensch - und damit meine ich
nicht nur den Berufspolitiker, obwohl für ihn und besonders für den
Staatsmann die Spannungen, von denen hier die Rede ist, am größten
sind, sondern jeden Menschen, insoweit auch er eine politische Tätigkeit
ausübt - sich in einer eigenartigen Situation befindet. Er untersteht der
unbedingten Forderuiig des Erfolgs, hat aber nicht das Recht, diesen Er¬
folg um jeden Preis zu erkaufen. Wenn er scheitert, hat er keine Entschuldi¬
gung, am wenigsten die, auf gewisse Mittel verzichtet zu haben. Aber er
kann sich auch wieder nicht aller Mittel bedienen, ohne Gefahr zu laufen,
seinem Erfolg jeglichen Sinn zu nehmen.
Dieser Widerspruch, wie so viele andere, wirft den Menschen auf sich
selbst und seine Situation zurück. Er zeigt ihm, daß in dem vieldimensio¬
nalen Raum, in dem er lebt, der sein Schicksal und sein Wesen gestaltet,
die Ebenen der Politik und die der Ethik sich nicht schneiden, sondern
beide ihre Forderungen und ihre Unbedingtheiten getrennt aufrechter¬
halten. Sie stoßen nur in ihm selbst zusammen. Durch seine Existenz
treten sie einander gegenüber, und nur in ihm ist eine gegenseitige An¬
sprache möglich. Ihr Konflikt ist also ein unüberwindbarer und läßt nur
subjektive, vorübergehende, historische und konkrete Lösungen zu, die in
Wirklichkeit keine Lösungen, sondern Entscheidungen sind. Jeder Ver¬
such, objektiv und ein für allemal eine Ebene der andern unterzuordnen,
aus der moralischen Ordnung politische Vorschriften zu entwickeln oder
aus politischen Notwendigkeiten eine ethische Hierarchie abzuleiten, zer¬
stört nicht nur den Sinn der untergeordneten Ebene, sondern den beider
Ebenen und damit das gesamte menschliche Schicksal.

Die meisten Menschen haben anscheinend während Jahrtausenden auf


dem ganzen Erdball keine politische Existenz gehabt. Die politischen Ge¬
gebenheiten des Stammes, der Civitas, des Staates, der unbestrittenen
Autorität beengten sie mit genügend starker Kraft, um zu verhindern,
daß die Dimension des Möglichen sich ihnen öffne. Sie waren „politische
Lebewesen^, die die Gesellschaftsform hinnahmen, wie die Natur. Die
soziale Ordnung anzweifeln, sie sich anders vorstellen als sie war, der
Versuch, in sie einzugreifen, um sie zu verändern, hätte für sie bedeutet,
einen Teil ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen und an Stelle der
natürlichen Gegebenheiten ihren Kampf mit dem Schicksal zu setzen. Das
hieße, die Freiheit neuen Gefahren aussetzen und ihr neue Chancen er¬
öffnen. Das hieße gleichzeitig die Geschichte schaffen und, wie wir gesehen
haben, einen unbegrenzten und unerhörten Einsatz erfinden.
Das historische Spiel strebt, wie jedes andere, zu einem Ende, zu einem
Resultat, dessen Ausgang festliegt. Der Einsatz verlockt, doch möchte man.

275
JEANNE HERSCH

daß er ein für allemal gewonnen werde. Es gehört nur wenig dazu, dieses
Ziel zu erreichen. Man braucht nur einige Risse zuzustopfen und einige
Spalten zu füllen. Auch der Mensch kennt den horror vacui. Man braucht
nur eine objektive Kontinuität zu schaffen, und alles wird endgültig. Die
Sicherheit ist erreichbar und alle sind nunmehr zu jedem Einsatz bereit,
um sie zu gewinnen.
Man braucht zum Beispiel nur zu behaupten, daß das, was sein soll, sich
aus dem, was ist, ableiten läßt. Und sofort werden konkrete Forderungen
zum Inhalt von Kants kategorischem Imperativ, der trotzdem absolut
bleibt. Sofort macht sich der Erfolg mit Sicherheit und mit Recht alle Mittel
zunutze. Sofort wird die Politik eine Technik derer, die wissen, und poli¬
tische Existenz ist dann nichts weiter als Verstehen und Sichunterwerfen.
Es handelt sich um eine Lüge, aber um eine geräumige, in der es lebhaft
und bewegt zugeht. Sie würde zur Wahrheit, wenn sie alles umfaßte und
es nichts außer ihr gäbe. Sie nennt sich Wahrheit, um Wahrheit zu werden.
Sie sucht, alles was außerhalb von ihr liegt, zu erobern, um Wahrheit zu
sein. Es handelt sich also darum, den Einsatz der Geschichte ein für alle¬
mal zu gewinnen.
Im allgemeinen ist es ziemlich leicht, Wahrheit gegen Lüge zu ver¬
teidigen, denn die Wahrheit hat, wie man sagt, Substanz, und die Lüge
ist nichts. Hier aber, gerade wegen der Unvereinbarkeit von Politik und
Ethik, hat man den gegenteiligen Eindruck: die Lüge scheint eine Sub¬
stanz zu haben; dank der Politik gibt sie der moralischen Forderung kon¬
krete Gehalte, sie gibt genaue Antworten, die, wie sie behauptet, sogar
wissenschaftlich begründet sind, auf ängstliche Fragen der Menschen. Sie
kennt Gut und Böse, das Notwendige und die Zukunft, die gegenwärtige
Forderung der Werte. Ihre Politik bringt die wahre Freiheit, da sie ihr
einen Inhalt gibt.
Unsere Zeit verlangt dringend, daß die Probleme der materiellen
Sicherheit und der geistigen Möglichkeiten für alle Menschen gelöst wer¬
den. Jenseits aber jener Aufgaben liegt das tiefste Problem: Wie kann
man den Menschen verständlich machen, daß das wertvollste Gut, das
die Politik zu verteidigen hat, eine Leere ist?

Die Menschen verlangen vom Staate ihre persönliche Sicherheit durch


die Polizei. Die Polizisten tragen Waffen, deshalb brauchen die Bürger
keine zu tragen. Der Bürger kann heute, in normalen Zeiten, auf der
Straße gehen, ohne die Hand am Revolver zu haben, ohne einen möglichen
Angriff an der nächsten Straßenecke fürchten zu müssen - und kann an
andere Dinge denken. Die Menschen verlangen immer mehr vom Staat:
daß er sie im Rahmen des Möglichen von der Angst vor Krankheit, vor

276
TRAGWEITE UND GRENZEN DES POLITISCHEN HANDELNS

Unfall und Altersschwäche befreit. Das System der Kollektivversicherung


verdrängt immer mehr die Vorsorge durch persönliches Sparen. Und der
Sinn dieser Entwicklung ist nicht der, den wir aus den Karikaturen ihrer
Gegner kennen, nicht, daß der Bürger jeder Verantwortung, jeder Über¬
legung enthoben wird - sondern der, daß er an andere Dinge denken darf.
Wenn er gesund ist, will er an etwas anderes als an Gefahren und deren
Folgen denken, in denen sein physisches Leben sich befindet. Er möchte
seinen Kopf hochheben und ohne Gewissensbisse aufhören, seine Pfennige
zu zählen. Wir nähern uns vielleicht dem Tag, da er gleiche Sorglosigkeit
für seine wichtigsten Nahrungs- und Wohnungsbedürfnisse verlangen
wird. Er wird die nötige Arbeit verrichten, dann aber wird er der Staats¬
maschine alles weitere überlassen - nicht um sich in der anonymen kollek¬
tiven Sicherheit aufzulösen, sondern um sich besser auf andere Dinge zu
konzentrieren, um freier zu sein.
Doch es gibt eine Grenze. Eine politische Organisation kann eine Alters¬
rente auszahlen, die Arbeitslosenversicherung übernehmen, für den Unter¬
richt der Kinder, für das Wasser, die Straßen, die Wohnungen, das Brot,
die Milch und ärztliche Hilfe sorgen - aber sie kann dem Menschen nicht
die Freiheit geben. Sie kann nur die Freiheit mehr oder weniger ermög¬
lichen. In der Politik kann man nicht von „der Freiheit“ in der Einzahl
reden. Es gibt nur Freiheiten, das heißt nur Garantien, die die Mög¬
lichkeit der einen Freiheit schützen, die sittlich und individuell ist. Oder,
wenn man es lieber so sagen will, die politische Freiheit ist die leerste, die
es gibt - oder es gibt sie nicht. Diese Leere ist die Voraussetzung jeder
freien, substantiellen Gegenwärtigkeit auf moralischem Gebiet. Daraus,
allein daraus, gewinnt sie ihren Inhalt. o- ^ ^ •• i
So hat also die Politik die Aufgabe, diese Leere, dieses Sidi-Zuruck-
ziehen, dieses Zu-sich-Zurückkehren, dieses Abstandnehmen zu wahren,
wodurch sich das moralische Subjekt frei macht. Sie kann es nur, indem sie
sich selbst in der Schwebe erhält, indem sie die Diskontinuität anerkennt,
durch die sie von der Wissenschaft und von der Moral unterschieden
bleibt, indem sie es ablehnt, sich in eine objektive, vollkommene un
sichere Kohärenz zu verwandeln, in der der Mensch außerhalb von sich selb
seine wahre Bestimmung ablesen könnte. Zwar ist es wahr, daß es ohne die
Leere, ohne die Spalten kein Risiko mehr gäbe - aber es gäbe auch kein
Schicksal, keine Politik, keinen Menschen, keinen Einsatz mehr ni
als die Sicherheit des Todes.

277
Aldous Huxley

DIE ZWEIFACHE KRISE

Die Menschheit durchlebt eine Zeit der Krise, und diese Krise ist so¬
zusagen auf zwei Ebenen vorhanden - einer oberen, der politischen und
wirtschaftlichen, und einer unteren, der demographischen und ekologischen.
Was auf internationalen Konferenzen und in den Zeitungen besprochen
wird, ist nur die Krise an der Oberfläche - die Krise, deren unmittel¬
bare Gründe der durch den Krieg hervorgerufene wirtschaftliche Zu¬
sammenbruch und der Machtkampf zwischen nationalen Gruppen sind,
welche die Mittel zur Massenvernichtung besitzen oder bald besitzen
werden. Von der Krise in der Tiefe, der Bevölkerungs-, Nahrungsmittel¬
und Rohstoffkrise der Welt, erfährt man fast gar nichts. Und doch ist die
Krise auf der unteren Ebene mindestens so ernst wie die Krise auf politi¬
schem und wirtschaftlichem Gebiet. Überdies lassen sich die Probleme auf
diesem nicht lösen, ohne daß man sie auf Probleme bezieht, welche sich im
kosmischen und biologischen Tiefgeschoß herausbilden. Wird die tiefere
Krise nicht beachtet, so kann sie die Krise auf der Ebene der Politik und
der Wirtschaft nur verschärfen. Obendrein wird eine Konzentrierung
der Aufmerksamkeit und Energie auf Machtpolitik und Machtwirtschaft
eine Lösung der Probleme auf der unteren Ebene nicht nur schwierig,
sondern unmöglich machen.
Es ist seit einiger Zeit Mode, von „Armut inmitten von Überfluß“ zu
reden. Die Phrase impliziert, daß unser Planet reichliche Mittel besitze,
um seine gegenwärtige Bevölkerung und auch jeden für die nahe Zu¬
kunft vorhersehbaren Zuwachs derselben zu ernähren, zu kleiden, zu be¬
hausen und mit Behaglichkeit auszustatten, und daß alle die gegenwär¬
tigen Nöte der Menschheit einzig durch fehlerhafte Methoden der
Erzeugung und vor allem der Verteilung verschuldet seien. Werde ihr
nur erst einmal Währungsreform, Sozialismus, Kommunismus, unein¬
geschränkter Kapitalismus, Distributismus oder, was immer die bevor¬
zugte Medizin sein mag, verabreicht, so werde die Menschheit wie der
Prinz und die Prinzessin im Märchen glücklich und zufrieden bis ans
Ende aller ihrer Tage leben. Not und Hunger werden in Überfluß ver¬
wandelt und die ganze Erde ein einziges riesiges Schlaraffenland sein.
Solcherart sind die Wunder, die durch politische und wirtschaftliche
Planung erzielt werden sollen. Wenn wir uns aber von diesen Hoch¬
gedanken einem Studium dessen zuwenden, was in der biologischen und
ekologischen Tiefe vorgeht, erscheint uns unser Optimismus, um es nicht

278
DIE ZWEIFACHE KRISE

stärker auszudrücken, doch ein wenig verfrüht. Statt Armut inmitten von
Überfluß finden wir da Armut inmitten von Armut. Die Naturprodukte
und Bodenschätze der Erde sind für die Erdbevölkerung unzulänglich.
Gegenwärtig ernährt unser Planet etwas weniger als zweieinviertel Mil¬
liarden Menschen, und die Nahrungsmittel hervorbringende Bodenfläche
beträgt annähernd zwei Milliarden Hektar. Man hat berechnet, daß ein-
und einviertel Hektar Bodens nötig sind, um einen Menschen mit einer
Diät zu versehen, welche Ernährungswissenschaftler als hinreichend be¬
trachten würden. Demnach könnte, auch wenn alles verfügbare produk¬
tive Land guter Boden wäre - und viel davon ist recht schlecht - die
gegenwärtige Bevölkerung einer hinreichenden Ernährung nicht sicher
sein. Tatsächlich müßte, um den ganzen zweieinviertel Milliarden eine
ausreichende Ernährung zu gewährleisten, die gegenwärtige Nahrungs¬
mittelerzeugung verdoppelt werden. Dies läßt sich aber nicht über Nacht
erzielen. Und inzwischen nimmt die Bevölkerung der Erde zu. Die Stei¬
gerung beträgt gegenwärtig etwa zweihundert Millionen alle zehn Jahre.
Dies bedeutet, daß es zu der Zeit, wo die Nahrungsmittelerzeugung ver¬
doppelt sein wird, nicht zweieinviertel Milliarden Mäuler zu füttern
geben wird, sondern gut über drei Milliarden. Trotz allem, was in der
Zwischenzeit vielleicht zu erreichen wäre, wird die Unterernährung ge¬
nau so ernst und weitverbreitet sein wie heute.
Überdies sinkt, während die Bevölkerung steigt, die Ertragfähigkeit
des immer rücksidhtsloser ausgebeuteten Bodens. Es herrscht um sich
greifende und immer tiefere mensdiliche Armut inmitten um sich grei¬
fender und immer tieferer natürlicher Armut. Von den zwei die Mensch¬
heit bedrohenden Hauptgefahren, Atomkrieg und Bodenerosion, ist
diese die größere. Der Atomkrieg wird vielleicht eine bestimmte Zivi i-
sation zerstören - die westlich-industrielle Abart zum Beispiel; die Bo¬
denauswaschung kann, wenn ungehemmt, der Möglichkeit jeglicher Zivi¬
lisation ein Ende machen. j -r
Seit 1800 hat Westeuropa seine Bevölkerung mehr als verdreifaAt.
Diese gewaltige Zunahme wurde durch elementare Hygmne und die
Ausbeutung jungfräulicher Gebiete der Neuen Welt ermöglicht. Heut¬
zutage erhalten Gesundheitspflege und Heilkunde mehr Europäer am
Leben- aber die Neue Welt hat ihre eigene große und rasch zunehmende
Bevölkerung, und nach einem Jahrhundert des f ßbraudis hat
wenig ihres Bodens seine Fruchtbarkeit verloren oder ist im Begriff,
zu verlieren. In guten Jahren gibt es noch immer einen sehr großen aus¬
fuhrfähigen Überschuß. Aber nicht jedes Jahr ist ein gutes Jahr.
Bisher hat Westeuropa es zuwege gebraAt, für die aus ^
Welt eingeführten Nahrungsmittel zu bezahlen, indem es ihr Fabrik-

279
ALDOUS HUXLEY

waren und technische Dienste verkaufte. Durch die Industrialisierung


der Neuen Welt werden diese immer weniger anbringbar. Europa wird
es immer schwieriger finden, für Lieferungen zu bezahlen, die, je mehr
der Bevölkerungsdruck auf die erodierten Bodenflächen der Neuen Welt
zunimmt, notwendigerweise immer kleiner werden müssen. Und das
wird zu einer Zeit geschehen, wo Asien, seit kurzem industrialisiert und
so stark bevölkert wie nie zuvor, ein verzweifelter Mitbewerber um so
viel Nahrungsmittelüberschüsse sein wird, als die Neue Welt dann der
Alten noch zur Verfügung stellen kann.
Nahrungsmittel sind erneuerbare Verbrauchsgüter. Wenn der Boden
nicht mißbraucht wird, folgt auf die diesjährige Ernte nächstes Jahr eine
andre, nicht weniger reichliche. Die Zinn- oder Kupferader jedoch, welche
die Quelle der diesjährigen Ausbeute an Erz war, erneuert sich nicht in
den kommenden Jahren. Wenn die Mine erschöpft ist, muß der Berg¬
mann zu einer andern Ablagerung des Minerals wandern. Und wenn
er keine andern Ablagerungen finden kann? Nach uns die Sintflut! Der
Industrialismus ist die systematische Ausbeutung schwindender Aktiven.
In allzu vielen Fällen ist das, was wir Fortschritt nennen, nur eine Be¬
schleunigung der Ausbeutungsgeschwindigkeit. Ein Wohlstand, wie wir
ihn bisher kannten, ist die Folge allzu schnellen Verbrauchs des unersetz¬
lichen Kapitals unseres Planeten.
Wie lange kann diese zunehmend beschleunigte Kapitalsaufzehrung
weitergehn? Wie bald werden die schwindenden Aktiven der Erde er¬
schöpft sein? Wir wissen es nicht. Gewiß ist nur, daß die Lager vieler
bisher unentbehrlicher Rohstoffe beschränkt sind und daß an vielen Orten
sehr reiche und leicht abbaubare Vorkommen dieser Rohstoffe bereits er-
sAöpft wurden oder bald erschöpft sein werden. Und das spielt sich zu
einer Zeit ab, wo eine zunehmende Bevölkerung mit beständig verbes¬
serten Produktionsmethoden nach immer größeren Mengen von Ver¬
brauchsgütern schreit - mit andern Worten, immer größere Ansprüche
an die beschränkten Reserven unseres planetarischen Kapitals stellt.
Bis hierher habe ich die Erdbevölkerung als ein einziges unterschieds¬
loses Ganzes behandelt. Das so gestellte Problem ist das einer zuneh¬
menden Beanspruchung schwindender Mittel. Dieses Grundproblem
unsrer Zeit wird aber verschärft und noch verwickelter dadurch, daß der
Zuwachskoeffizient innerhalb der gesamten Erdbevölkerung nicht überall
ein und derselbe ist. Unterschiedliche Geburtenzahlen der einzelnen Völker
der Erde und der verschiedenen Klassen innerhalb eines Volkes bringen
eine Schar neuer Probleme hervor.
In Westeuropa und Nordamerika ist die durchschnittliche Geburten¬
zahl im Lauf der letzten fünfzig oder sechzig Jahre jäh gefallen. Infolge

280
DIE ZWEIFACHE KRISE

der stark gesunkenen Sterblichkeit und der relativ großen Zahl von
Menschen innerhalb der fortpflanzungsfähigen Altersgruppen hat sich
das Fallen der Geburtenzahlen noch nicht in einem Nettorückgang der
Bevölkerung kundgetan. Aber das Einsetzen eines solchen Abstiegs steht
unmittelbar bevor. Zum Beispiel wird bis zum Jahre 1970 die Bevölke¬
rung von Frankreich und Großbritannien um je etwa vier Millionen ge¬
fallen sein. Und die Zahl der Menschen über fünfundsechzig wird un¬
gefähr der Zahl derjenigen unter fünfzehn Jahren gleichen. Ähnliche
Abstiege sind zu einer späteren Zeit in den andern Ländern West¬
europas und in der Neuen Welt (mit Ausnahme Südamerikas) zu er¬
warten. Unterdessen muß trotz viel höheren Sterblichkeitszahlen die
Bevölkerung Osteuropas und Asiens weiter anwachsen. Bis zum Ende
des gegenwärtigen Jahrhunderts wird Asien allein eine Bevölkerung
von ungefähr zwei Milliarden haben. Und im Jahre 1970, wo West¬
europa um ungefähr neun Millionen weniger Einwohner haben wird als
heute, wird Rußland einen Zuwachs von mehr als fünfzig Millionen
aufweisen.
In jedem Volk, dessen Geburtenzahl sinkt, zeigt dieses Sinken eine
Neigung, am schnellsten unter den Tüchtigsten und Begabtesten der
Bevölkerung und am langsamsten unter denen zu sein, deren erbliche
und anerzogene Begabung am geringsten ist. Je höher der Intelligenz¬
quotient und das Maß der Bildung, desto kleiner die Familie, und um¬
gekehrt. Die künftige Bevölkerung Westeuropas und Nordamerikas wird
hauptsädilich aus den Nachkommen der am wenigsten intelligenten Men¬
schen, die gegenwärtig in diesen Gebieten leben, bestehen. Unter den
niederen Tieren ist biologische Degeneration, welche die erblichen Eigen¬
schaften ganzer Bevölkerungen betrifft, ein langsamer und allmählichei
Vorgang. Die Menschen aber unterscheiden sich von anderen Tieren
darin, daß sie ein Bewußtsein ihrer selbst und ein gewisses Maß an
freiem Willen besitzen und Einwohner einer von Menschen geschaffenen
Welt innerhalb der größeren Weltordnung sind. Indem sie darauf
reagieren, was in dieser menschengeschaffenen Welt vorpht, gebrauchen
sie ihren freien Willen, um ihre ursprüngliche tierische Verhaltunpweise
zu modifizieren. Und wenn diese menschliche Welt so besAaffen ist, daß
sie die feinnervigeren, intelligenteren und umsichtigeren Individuen da¬
von abschreckt, ihre Art fortzupllanzen, tritt der Niedergang ganzer
Gemeinschaften mit fast explosiver Schnelligkeit ein. In ganz Westeu^^^^^
und, ein wenig später, in Nordamerika wird der zahlenmäßige Abstieg
von einem schnellen qualitätsmäßigen Niedergang der Bevölkerung

^^Untersdiiedliche Geburtenzahlen innerhalb einer Volksgemeinschaft

281
ALDOUS HUXLEY

führen also zu einer qualitativen Entartung der Bevölkerung als Ganzem.


Die Wirkungen einer solchen Entartung haben sich bisher noch nicht
fühlbar gemacht, und es ist im einzelnen schwer vorauszusehen, welche
sie sein werden. Wir müssen uns damit bescheiden, bloß eine Frage auf¬
zuwerfen. Ist es möglich, daß demokratische Einrichtungen in einer Ge¬
sellschaft gedeihen, in welcher das Vorkommen hervorragender Fähig¬
keiten sinkt, während dasjenige geistiger Minderwertigkeit steigt? In
fünfzig Jahren werden unsere Enkel die Antwort wissen. In der Zwi¬
schenzeit wird es notwendig sein, neue Typen der Erziehung zu ent¬
wickeln, die darauf berechnet sind, das Beste aus einem sich verschlech¬
ternden Menschenmaterial herauszuholen und Mittel zu finden, um den
von Geburt Begabten Anreiz zur Fortpflanzung ihrer Art zu bieten.
Wo die Geburtenzahl eines ganzen Volkes jäh sinkt, während die
seiner Nachbarn hoch bleibt, müssen wir in der Welt, wie sie gegen¬
wärtig beschaffen ist, eine mehr oder weniger ernste Bedrohung des
Friedens erwarten. Gleichgültig welches das landläufige Glaubensbekennt¬
nis sein mag, ist nationalistische Götzenverehrung die wirkliche und
wirksame Religion des Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Dem
Namen nach mögen wir Christen oder Buddhisten oder Hindus oder
Muslimen sein; tatsächlich aber beten wir nicht einen einzigen Gott, son¬
dern fünfzig oder sechzig Götterlein an, deren jedes seiner Definition
nach der aktuelle oder potentielle Feind aller übrigen ist. In jedem Land,
wo es keine Staatskirche gibt, ist die einzige in den öffentlichen Schulen
gelehrte Religion eine örtliche Spielart des Schintoismus - ein Salutieren
vor der Flagge, ein Kult des Staates und sehr oft der Männer, die die
Hand an den Hebeln seiner Maschinerie haben, eine Verherrlichung
nationaler Tüchtigkeit, wie sie in den behördlich zugelassenen Geschichts¬
büchern dargestellt wird. Erscheinungen, welche zufällige und vergäng¬
liche Gebilde der Geschichte sind, werden behandelt, als wären sie gött¬
lich, als verkörperten sie Prinzipien von ewiger und weltweiter Gültigkeit.
Von Kindheit an wird der Bürger gelehrt, es sei seine höchste Pflicht,
zum größeren Ruhm des lokalen Idols zu arbeiten. Da aber dieser Ruhm
sich hauptsächlich in Begriffen politischer und militärischer Macht aus¬
drückt, folgt daraus, daß kein einziger Mensch seiner nationalen Pflicht
genügen kann, ohne zumindest einigen seiner Mitmenschen zu schaden.
Im ganzen Zusammenhang nationalistischen Götzendienstes wird jede
Verschiebung des Kräftegleichgewichts zu einer Versuchung, Krieg zu
führen, und zwar einen aggressiven seitens solcher Völker, die stärker
werden, einen defensiven oder präventiven seitens derjenigen, deren
Lage sich zum Schlechtem verändert. Eine solche Verschiebung wird
überall eintreten, wo die Geburtenzahlen zweier gleich stark industria-

282
DIE ZWEIFACHE KRISE

lisierter Nationen sich so verändern, daß die eine eine wachsende und
vorwiegend jugendliche Bevölkerung hat, die andre dagegen eine klei¬
ner, älter und vielleicht auch weniger intelligent werdende.
Bevölkerungen wachsen und schwinden relativ nicht nur zueinander,
sondern auch zu ihren Ressourcen. Steigende Armut inmitten steigender
Armut stellt eine dauernde Bedrohung des Friedens dar, und nicht nur
des Friedens, sondern auch der demokratischen Einrichtungen und der
persönlichen Freiheit. Denn Übervölkerung verträgt sich nicht mit Frei¬
heit. Ein ungünstiges Verhältnis zwischen Bevölkerungszahl und Res¬
sourcen läßt den Erwerb eines Lebensunterhalts fast unerträglich schwer
werden. Arbeitskräfte sind dann reichlicher vorhanden als Güter, und der
einzelne ist gezwungen, lange Stunden um wenig Lohn zu arbeiten. Kein
Überschuß aufgespeicherter Kaufkraft steht zwischen ihm und der Ty¬
rannei der feindseligen Natur oder des ebenso feindseligen politischen
oder wirtschaftlichen Machthabers. Demokratie ist unter anderm die
Fähigkeit, dem Machthaber nein zu sagen. Ein Mensch kann aber dem
Machthaber nicht nein sagen, wenn er nicht sicher ist, etwas zu essen zu
haben, sobald ihm die Gunst des Machthabers entzogen wird. Und er
kann seiner nächsten Mahlzeit nicht sicher sein, wenn er nicht die Mittel
besitzt, genug zum Lebensunterhalt seiner Familie zu erwerben, oder
imstande war, einen Überschuß aus früheren Löhnen aufzuspeichern,
oder die Möglichkeit hat, in unberührte Gebiete wegzuziehen, wo er von
neuem beginnen kann. In einem dicht bevölkerten Land besitzen die
wenigsten Menschen genug, um geldlich unabhängig zu sein; sehr wenige
sind in der Lage, Kaufkraft aufzuspeichern; und jedes Fleckchen Bodens
kostet viel Geld. Überdies neigt in einem Land, wo die Beanspruchung
der natürlichen Mittel durch die Bevölkerung sehr groß ist, die all¬
gemeine wirtschaftliche Lage dazu, so unsicher zu sein, daß die Kontrolle
von Kapital und Arbeitskräften, von Gütererzeugung und -verbrauch
durch die Regierung unvermeidlich wird. Es ist kein Zufall, daß das
zwanzigste das Jahrhundert hochzentralisierter Regierungen und totali¬
tärer Diktaturen ist. Es muß das sein, aus dem einfachen Grund, daß
das zwanzigste Jahrhundert das Jahrhundert der Überfullung des Pla¬
neten ist. Es ist kindisch, sich einzubilden, wir könnten „demokratische
Institutionen in Indien oder China pflanzen“ oder „die Deutschen an¬
leiten, ihren Platz unter den demokratischen Nationen der Welt ein¬
zunehmen“. Solange das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Ressour¬
cen so hoffnungslos ungünstig bleibt, wie es jetzt in ganz Asien un im
größeren Teil Europas und vor allem im besiegten Deutschlancl ist, wir
es demokratischen Institutionen praktisch unmöglich sein, Wurzel zu

fassen und sich zu entwickeln.


283
ALDOUS HUXLEY

Auf dem Gebiet der Politik ist der größte Feind der Freiheit der Krieg.
Darum haben seit undenklichen Zeiten alle Tyrannen den Krieg so ge¬
liebt, oder zumindest die Vorbereitungen zum Krieg. Allgemeine Militär¬
dienstpflicht liefert jeden einzelnen der Gewalt der Zentralregierung aus.
Eine aggressive Außenpolitik ruft gleichartige Gegenwirkungen hervor,
und diese Gegenwirkungen werden dann als Vorwand für noch mehr
Militarismus und ein stärkeres Beschneiden bürgerlicher und persön¬
licher Freiheiten benützt. Diktatoren können ihre Tyrannei stets durch
einen Appell an den Patriotismus festigen. Dabei wird die Kriegsgefahr
zum Vorwand einer Politik nicht der Verminderung, sondern tatsächlich
der Erhöhung der Geburtenzahl gemacht - einer Politik, die energisch
von Hitler und Mussolini betrieben wurde und heute viel energischer
noch von den Beherrschern Sowjetrußlands. Übervölkerung und Mili¬
tarismus sind die Garanten der Diktatur.
In der internationalen Politik ist Einigkeit an der einen Stelle stets
das Ergebnis von Uneinigkeit an einer andern; da gibt es keine unein¬
geschränkte gegenseitige Hilfe, es sei denn gegen einen Dritten. Daher
der alte verzweifelte Witz, daß diejenigen, die Frieden auf Erden wol¬
len, um eine Invasion vom Mars beten sollen. Wir brauchen aber in
einer Hinsicht zum Glück, in anderer zum Unglück, nicht auf einen An¬
griff aus dem interplanetaren Raum zu warten. Der Mensch ist sein
eigener Marsbewohner und liegt stets im Krieg mit sich selbst. Über¬
mäßige Fortpflanzung und extraktive Landwirtschaft sind seine Waffen,
und wenngleich er es auch nicht wissen mag, sind seine Kriegsziele die
Vervmstung seines Planeten, die Vernichtung seiner Zivilisation und die
Verschlechterung seiner eigenen Spezies.
Daß die Völker sich noch nicht gegen diesen gemeinsamen Feind in
ihren eigenen Reihen verbündet haben, hat seinen Grund teils in dem
ablenkenden Einfluß nationalistischen Götzendienstes, teils in Unwissen
und teils in der menschlichen Gewohnheit, über das Problem in völlig
ungeeigneten Begriffen nachzudenken. Zeit, Energie und Geld, welche
zu Besserem verwendet werden könnten, werden überall der Machtpolitik
und Kriegsvorbereitungen gewidmet. Und mittlerweile sind in den vom
Glück begünstigteren Gebieten der Erde die meisten Menschen noch
ahnungslos, daß der allgemeine Zustand der Menschheit ein Zustand
der Armut inmitten wachsender Armut ist; und in den weniger glück¬
begünstigten Gebieten, wo die harten Tatsachen unausweidibar sind,
herrscht die Neigung zu glauben, die Medizin für eine solche Armut sei
ein gewaltsamer und radikaler Regierungswechsel. Die Bewohner von
Ländern, in denen das Verhältnis von Bevölkerung zu natürlichen Hilfs¬
quellen ungünstig ist, lassen sidi leicht einreden, daß die Ursachen ihres

284
DIE ZWEIFACHE KRISE

Elends politischer Natur seien und daß, sobald ihre gegenwärtigen Be¬
herrscher durch andere, in Moskau gedrillte, ersetzt wären, alles schön
und gut sein würde. Aber das Einparteisystem ist kein Heilmittel für
Übervölkerung, und die Kollektivisierung der Landwirtschaft vermehrt
die ertragfähige Bodenfläche nicht.
Es ist seit langer Zeit Mode zu behaupten, daß sich der Sozialreformer
vor allem mit Fragen des Eigentums und der Verteilung zu befassen
habe. Und tatsächlich ist die Verteilung oft ungeschickt und ungerecht,
und es kann keine moralische oder utilitarische Rechtfertigung für die
Art von absolutem und verantwortungslosem Landbesitz geben, die
einem Menschen erlaubt, nach seinem Belieben Naturprodukte, von
denen das Leben einer ganzen Gemeinschaft abhängt, andern vorzuent¬
halten oder zu vernichten.
Wir brauchen ein neues Geldsystem, das uns von der Versklavung an
die Banken erlösen und den Menschen gestatten würde, das, was sie zu
erzeugen vermögen, auch zu kaufen. Und wir brauchen ein neues System
des Eigentums, das dem Zug zur Monopolisierung des Bodens Einhalt
täte und es einzelnen unmöglich machen würde, planetarische Hilfsquel¬
len zu verwüsten, die der ganzen Menschheit gehören. Aber Verände¬
rungen an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur genügen
selbst noch nicht, um unser Problem zu lösen. Eine Abänderung der das
Eigentumsrecht an Grund und Boden regelnden Gesetze wird Ausmaß
und Güte desselben nicht verändern. Die gerechte Verteilung von etwas,
das in zu geringen Mengen vorhanden ist, befriedigt vielleicht das Ver¬
langen der Menschen nach Gerechtigkeit; sie wird nicht ihren Hunger
stillen In einer Welt, in der sich die Bevölkerung täglich urn etwa sechs¬
undfünfzigtausend Köpfe vermehrt und die Bodenauswaschung täglich
eine gleich große oder vielleicht größere Zahl ertragfähiger Morgen
Bodens ruiniert, müssen wir vor allem dafür sorgen, die Bevolkerungs-
zahl zu verringern und mehr Nahrungsmittel bei weniger Schädigung
des Bodens zu erzeugen. ,,
Früher oder später wird die Menschheit durch den Druck der Uni-
stände gezwungen sein, einmütig etwas gegen ihre ergenen
sehen und selbstmörderischen Neigungen zu unternehmen.
solches Unternehmen aufgeschoben wird, desto s*I.mmer '
troffenen. Verzug bedeutet die Gefahr weiterer Ausbreitung und Ver¬
schärfung des Elends, eines Hervorrufens von Revolutionen, riegen

'"''DilGwchichte des Völkerbundes und der UNO beweist sAlussig, daß


es auf L Grundlage nationalistischer Götzenanbetung und Mach Politik
unLglidr eine Zusammenarbeit zwischen allen souveränen Staaten der

285
ALDOUS HUXLEY

Welt geben kann, sondern nur Zusammenarbeit einer Gruppe gegen


eine andre. Übervölkerung und Erosion sind gleichsam eine Invasion
unseres Planeten durch Marsbewohner. Gegen diese Invasion kann das
Bündnis global sein und der Kampf ohne Krieg ausgetragen werden. Dies
ist der erste Grund dafür, daß die tiefere Krise auf der Tagesordnung
jeder internationalen Konferenz obenan stehen sollte.
Und hier ist ein zweiter Grund. Es gibt niemand, der nicht wünschen
würde, genug zu essen zu haben. Angesichts dieser allgemeinen Über¬
einstimmung wird wahrscheinlich jede Regierung, die sidi aus bloß poli¬
tischen oder ideologischen Gründen weigert, an dem Kreuzzug gegen die
Marsbewohner in unserer Mitte teilzunehmen, äußerst unbeliebt werden.
Ein dritter guter Grund ist darin zu finden, daß dieser Kreuzzug eine
vorwiegend technische Angelegenheit ist. Meinungsverschiedenheiten über
technische Probleme führen selten zu Blutvergießen. Meinungsverschieden¬
heiten über politische und ideologische Fragen sind die Ursache ungezähl¬
ter Morde, Fehden, Kriege und Revolutionen gewesen; hier steht die
Gewalttätigkeit in direktem Verhältnis zur Ignoranz. Über technische
Probleme wissen wir entweder bereits genug, oder wenn nicht, so wissen
wir, wie es anstellen, um das notwendige Wissen zu erwerben. Wo es
aber um Politik und Ideologien geht, liegt der Fall ganz anders. Zum Bei¬
spiel weiß niemand genug, um zu entscheiden, ob eine gewisse Theorie
der Geschichte wahr oder falsch oder sinnlos ist. Und niemand weiß ge-
nug, um sagen zu können, welche von allen möglichen Regierungsformen
am besten für menschliche Gemeinschaften geeignet ist. Was die Ge¬
schichtstheorie anlangt, ist es wohl sehr unwahrscheinlich, daß das not¬
wendige Wissen je angesammelt werden wird. Und hinsichtlich irgend¬
einer gegebenen Regierungsform kann Wissen nur mit der Zeit kommen.
Im materiellen Universum lassen sich künftige Ereignisse in gewissem
Ausmaß vorhersehen, aber unsere Fähigkeit, psychologische Ereignisse
vorauszusagen, ist so gut wie nicht vorhanden. Wie werden unsere Kinder
und unsere Enkel auf Organisationsformen reagieren, die uns selbst als
der Gipfel gemeinnütziger Leistungsfähigkeit erscheinen? Wird ihnen
gefallen, was uns gefällt, oder werden sie es verabscheuen? Wird sich
eine Einrichtung, die sich für uns gut genug bewährt, ebenso gut für sie
bewähren? Wir wissen es nicht und können es nicht wissen. Darum dür¬
fen wir nie die praktische Anwendung eines Grundsatzes so ernst neh¬
men wie den angewandten Grundsatz selbst. Wir dürfen etwa das Prin¬
zip, daß der Staat dazu da ist, die Entwicklung von Menschen als freien
und verantwortlichen Individuen zu ermöglichen, sehr ernst nehmen. Wir
dürfen aber irgendeinen bestimmten Plan zur Anwendung dieses Prin¬
zips auf die politische und wirtschaftliche Praxis nicht allzu ernst nehmen.

286
DIE ZWEIFACHE KRISE

Das bloße Verstreichen der Zeit kann die Unvernunft jeder besonderen
Anwendung von Grundprinzipien dartun. Politische Notbehelfe zu be¬
handeln, als wären sie geheiligt und unverletzlich, heißt eine Götzen¬
verehrung treiben, die nur in totalitärem Zwang enden kann. So wissen
wir in unserer Ignoranz nicht, ob Sidney und Beatrice Webb recht hat¬
ten, für zentralisierte Planung als das beste Mittel zum erstrebten Ende
einzutreten, oder ob Hilaire Belloc recht hatte, als er uns vor den Übeln
des „Sklavenstaates“ warnte. Die Zeit allein wird es erweisen; und wenn
sie es zu erweisen beginnt, müssen wir bereit sein, im Namen unserer
Grundsätze die Politik abzuändern, die wir einst in unserer Unwis¬
senheit für die wirksamste Anwendung dieser Grundsätze hielten.
Daß die Russen „den Frieden gewannen“, hat seinen Grund, zumin¬
dest zum Teil, darin, daß sie sich zu einer klar umrissenen Philosophie
des Menschen und der Natur als einer absolut wahren bekennen und sie
lehren. Diese Philosophie erlaubt ihnen, die Zukunft vorherzusagen und
(mit einer Zuversicht, die, obgleich ungerechtfertigt und grundlos, dar¬
um nicht weniger eindrucksvoll ist) zu behaupten, es werde, wenn eine
gewisse Art politischer und wirtsdiaftlicher Revolution gemacht würde,
allgemeines Wohlergehen die unvermeidliche Folge sein. Im Westen
haben wir irgendeine zusammenhängende Weltanschauung weder an¬
dern aufgezwungen noch freiwillig uns zu eigen gemacht; wir behaupten
nicht, die Geschichte von innen her zu verstehen; wir maßen uns nicht an
vorauszuwissen, was in fünfzig oder hundert Jahren geschehen wird; und
wenn die Notwendigkeit an uns herantritt, eine Weltpolitik zu entwer¬
fen, fällt es uns bei unserem Mangel an einer Philosophie leichter, gegen
die Russen zu sein, als für irgend etwas, das die großen Massen der
leidenden Menschheit wahrscheinlich einleuchtend oder anziehend fänden.
Die Weigerung des Westens, Unfehlbarkeit zu behaupten oder Ortho¬
doxie aufzuzwingen, ist etwas, dessen wir uns nicht zu schämen brauchen.
Weniger gereicht uns jedoch zur Ehre, daß wir es unterlassen haben,
eine allgemein annehmbare Philosophie für uns und diejenigen zu ent-
widceln, die wir gern auf unsere Seite zögen; und noch weniger rühmens¬
wert ist es, daß es uns nicht gelungen ist, irgendeine Politik zu formu¬
lieren, die vernünftig und zuträglich genug wäre, um anziehender zu er¬
scheinen als die politischen Richtlinien des Kommunismus. Am nächsten
kam einer solchen positiven Politik der Marshall-Plan. Aber dieser Plan
ist bereits von einem militärischen Bündnis überlagert, und militärische
Bündnisse erscheinen nur den unmittelbar Beteiligten anziehend und
(angesichts der Geschichte militärischer Bündnisse in der Vergangenheit)
nicht einmal diesen unwiderstehlich anziehend. i- -i
Die positive, realistische und allgemein ansprechende Politik, deren

287
ALDOUS HUXLEY

die Westmächte so dringend bedürfen, ist leicht zu finden. Es ist eine


Politik, darauf gerichtet, die Wirkungen der tieferen Krise, welche die
ganze Menschheit gegenwärtig durchmacht, zu mildern und ihre Ursachen
zu beseitigen. Sind die Russen gewillt, am Entwerfen und Ausführen
einer solchen Politik mitzuarbeiten, um so besser. Weigern sie sich und
müßte der Kalte Krieg weitergehen, läßt sich diese Politik zu einer mäch¬
tigen diplomatischen und propagandistischen Waffe in den Händen der
Demokratien machen. Sich für sie zu entscheiden, wird natürlich nicht
den „Frieden in unserer Zeit“ gewährleisten; aber es wird vielleicht die
Wahrscheinlichkeit des Krieges in der unmittelbaren und noch mehr in
der ferneren Zukunft verringern. Wir wollen nun im einzelnen die
Richtlinien erwägen, nach welchen unsere Politik entworfen werden sollte.
Die wirtschaftliche und politische Krise der Welt hat ihren Ursprung
wenigstens zum Teil in der ihr zugrunde liegenden demographischen
Krise. In den meisten Ländern besteht ein ungünstiges Verhältnis zwi¬
schen Bevölkerungszahl und Ressourcen. Die Natur hat ihre eigenen Me¬
thoden, um ein gestörtes Gleichgewicht wiederherzustellen; jedoch auf
Menschen angewendet, die unter den Bedingungen des zwanzigsten Jahr¬
hunderts leben, bringen solche Methoden nicht nur heftiges und weit¬
verbreitetes Elend mit sich, sondern auch die ernsteste Bedrohung der
Zivilisation. In den allgemeinsten Begriffen ausgedrückt, besteht das
Problem darin, biologische Tatsachen mit menschlichen Werten in Ein¬
klang zu bringen.
Unsere erste Aufgabe ist es, ein allgemeines Bewußtsein der Gefahr
zu schaffen. Bei jeder Gelegenheit müssen wir die Tatsache betonen, daß
der Mensch sein eigener Marsbewohner, daß die Invasion unseres Pla¬
neten bereits im Gang ist und frische Kohorten unaufhörlich eintreffen,
um zugleich die Reihen des Feindes und seiner Opfer zu verstärken.
Gleichzeitig müssen wir nicht weniger beharrlich verkünden, daß sich die
aus dieser martianisdhen Invasion ergebenden Nöte nicht durch irgend¬
eine noch so radikale Revolution beseitigen lassen. Übervölkerung und
Erosion tun ihr Zerstörungswerk auf einem Gebiet, welches nicht das der
Politik ist. Ein einmütiger gemeinsamer Versuch, mit den Ereignissen
auf demographischem und landwirtschaftlichem Gebiet fertig zu werden,
kann mittelbar eine heilsame Wirkung auf die internationale Politik aus¬
üben. Ein Versuch aber, ein bestimmtes politisches System allen Völkern
der Erde aufzuzwingen, wird nicht das geringste zur Lösung der tiefe¬
ren Krise beitragen, sondern im Gegenteil die Menschen daran hindern,
irgend etwas in dieser Hinsicht zu tun, und dadurch die Summe und Hef¬
tigkeit verhütbaren Elends vergrößern. Die tiefere Krise läßt sich nur
auf zwei Wegen lösen - durch Regelung der Weltbevölkerung und durdi

288
DIE ZWEIFACHE KRISE

Steigerung der Nahrungsmittelerzeugung bei gleichzeitiger Wiederher¬


stellung und Erhaltung der Fruchtbarkeit der Erde.
Es ist selbstverständlich viel leichter, über eine Weltbevölkerungspoli¬
tik zu reden, als die Adoption einer solchen Politik seitens der verschie¬
denen nationalen Regierungen zu erreichen; und das wieder wird leichter
sein, als ihre Durchführung zu erzielen. Solange götzendienerischer
Nationalismus die wirksame Religion der Menschheit bleibt und solange
es als ausgemacht hingenommen wird, daß Krieg recht und ganz in Ord¬
nung und unvermeidlich ist, wird sich keine Regierung eines Landes mit
hoher Geburtenzahl zu einer Verringerung derselben verpflichten; und
keine Regierung eines Landes mit niedriger Geburtenzahl wird im vor¬
aus darauf verzichten, sie zur Vermehrung ihrer bewaffneten Macht,
wenn möglich, zu steigern.
Angenommen nun, für die Zwecke dieser Erörterung, daß es trotz
Nationalismus und Militarismus zu einer vereinbarten Weltbevölkerungs¬
politik käme, wie leicht oder wie schwer wäre es, die Durchführung die¬
ser Politik zu erzielen? Darauf ist die Antwort, daß in Ländern, wo die
unverzügliche Durchführung am wünschenswertesten wäre, sie ganz be¬
sonders schwierig, ja fast unmöglich sein würde. Aus einer Vielfalt von
Gründen, materiellen und psychologischen, läßt sich Geburtenbeschrän¬
kung nicht von Menschen ausüben, deren Lebenshaltung unterhalb einer
Stufe liegt, welche für die große Mehrzahl der Asiaten und sogar auch
der Osteuropäer unerreichbar hoch ist. Eine bewußte und absichtliche Ver¬
ringerung der im Osten vorherrschenden hohen Geburtenzahlen zu er¬
reichen, wäre eine viele Jahre der Erziehung und technischen Entwick-
limg erfordernde Aufgabe.
Letztens ist, auch wenn eine ins Gewicht fallende Verringerung der
gegenwärtigen hohen Geburtenzahlen morgen vereinbart und mit Erfolg
durchgeführt würde, die Anzahl der M^enschen in den fortpflanzungs¬
fähigen Altersgruppen gegenwärtig so groß, daß ungeachtet der ver¬
minderten Geburtenzahl sich die Gesamtbevölkerung weiter vergrößern
würde, und zwar zumindest bis zum Ende des gegenwärtigen Jahrhun¬
derts. Unter den allergünstigsten Umständen, die wir uns noch vernünf¬
tigerweise vorstellen können, muß die Erdbevölkerung dennoch bis auf
mindestens drei Milliarden steigen, bevor sie zu sinken begänne. Das
heißt, daß, was immer geschieht, das nächste halbe Jahrhundert eine Zeit
der ernstesten politischen und wirtschaftlichen Gefahren sein wird. Wird
eine globale Bevölkerungspolitik vereinbart und in nächster Zukunft
durchgeführt, so darf man erwarten, daß sich diese Gefahren ungefähr
nach dem Jahr 2000 verringern werden. Wird keine solche Politik adop¬
tiert, so wird die Krise, wenn nichts überraschend Gutes in der Zwischen-

289
ALDOUS HUXLEY

zeit eintritt, wohl noch viele Jahre danach weiterbestehn. Soweit wir es
jetzt beurteilen können, wird mindestens zwei Generationen lang die
Lage der Menschheit mehr als gewöhnlich schwierig und gefährdet sein,
und vielleicht noch viel länger. Je eher wir die Adoptierung einer ver¬
nünftigen Bevölkerungspolitik und ihre Durchführung erzielen können,
desto kürzer wird der Zeitraum besonderer Gefahr sein, durch den, so
will es scheinen, die Menschheit unvermeidlich hindurch muß.
Hier ist eine kurze Nebenbemerkung am Platz. Bei der Bevölkerungs¬
regelung stehen wir einem Dilemma gegenüber. Was da für uns in einer
Hinsicht gut ist, ist schlecht in einer andern, und umgekehrt. Biologisch
und historisch gesehn, ist eine große Kinderzahl normaler als eine
kleine. Eine Frau mit fünf oder sechs Kindern ist „naturnäher“ als
eine, die die Kinderzahl künstlich auf eins oder zwei beschränkt hat. In
Ländern, wo die Geburtenzahl jäh fällt, hat sich während der letzten
vierzig Jahre eine deutliche Zunahme der Neurosen und sogar der Geistes¬
krankheiten gezeigt. Zum Teil läßt sich diese Zunahme der Industriali¬
sierung und Verstädterung zuschreiben, mit der in neuester Zeit stets
auch eine fallende Geburtenzahl verbunden war; zum andern Teil aber
der Tatsache, daß Geburtenbeschränkung bestimmte Ersdieinungen im
Sexual- und Familienleben geschaffen hat, die auf gewisse Weise für
Erwachsene wie für Kinder äußerst unbefriedigend sind. Wo immer der
modernen Zivilisation ein biologisch normales Verhalten aufgeopfert
wurde, neigen wir dazu, schlecht angepaßt zu sein und aus dem Gleich¬
gewicht zu geraten. Wo immer jedoch der modernen Zivilisation biolo¬
gisch normale Verhaltungsweisen nicht geopfert wurden, sehen wir uns
hungriger und weniger frei werden und in akuter Gefahr, uns in Kriege
und Revolutionen zu verwickeln. Welche dieser zwei Alternativen sollen
wir auf uns nehmen? Nach meiner Meinung ist die erste das kleinere
Übel. Übervölkerung mit ihren Begleiterscheinungen: extraktiver Land¬
wirtschaft, Tyrannei und Massenmord kann nichtwiedergutzumachende
Katastrophen verursachen. Von den schlechten psychologischen Folgen der
Geburtenbeschränkung werden manche vielleicht einer geeigneten Be¬
handlung weichen, die Entstehung andrer wird sich wohl durch ge¬
eignete soziale Einrichtungen verhüten lassen. Ein Abweichen vom bio¬
logisch normalen Verhalten ist immer gefährlich; aber die mit Geburten¬
beschränkung verbundenen Gefahren sind nicht so groß wie diejenigen,
die entstehen, wenn die Menschen ihre natürlichen Fortpflanzungsgewohn¬
heiten in einer Welt beibehalten, in welcher Gesundheitspflege, insekten¬
tötende Mittel, antibiotische Medikamente und falsche Zähne ihre natür¬
lichen Sterbegewohnheiten von Grund auf verändert haben. Wenn wir
in die Kräfte, die den Tod bringen, eingreifen, müssen wir auch in die

290
DIE ZWEIFACHE KRISE

lebenbringenden eingreifen. Leider läßt sich, wie wir gesehen haben,


von einer Weltbevölkerungspolitik nicht erwarten, daß sie früher als erst
nach vielen Jahren Ergebnisse zeitige. Aber während wir auf diese Wir¬
kungen warten, können wir uns sogleich an die Aufgabe machen, der
Erosion Einhalt zu tun, die Ertragfähigkeit des Bodens zu erhalten und
die Nahrungsmittelerzeugung zu steigern.
Gegenwärtig sind die meisten Nationen ganz unfähig, diese Aufgabe
ohne Hilfe zu unternehmen. Sie leben von der Hand in den Mund; und
der Mund wird ewig größer, die Hand, während sie verzweifelt ver¬
sucht, einem beschränkten Ausmaß erschöpften Bodens mehr Nahrung
abzuringen, immer zerstörerischer. Für diese Nationen gibt es keine
Gnadenfrist, keinen Spielraum an Land oder Hilfsquellen. Alles und
mehr als alles, was ihr Gebiet hervorbringen kann, muß sogleich ver¬
braucht werden. Künftige Ertragfähigkeit muß gegenwärtigem Hunger
geopfert werden. In einem Land, wo die Bevölkerungszahl schwer auf
die Ressourcen drückt, führt Selbsterhaltung zu Selbstvernichtung.
Hätten die Westmächte eine positive statt einer vorwiegend negativen
internationalen Politik, sie kämen mit einem Plan heraus, diesen zum
Bankrott des Menschen und des ganzen Planeten führenden „Lebens¬
lauf eines Wüstlings“ aufzuhalten. Oder vielmehr mit mehreren; erstens
einem Plan, den Schaden, der den landwirtschaftlichen Flächen der Erde
bereits angetan ist, wiedergutzumachen; zweitens einem Plan, zerstöre¬
rische land- und forstwirtschaftliche Methoden durch andere zu ersetzen,
welche mehr in Harmonie mit den Naturgesetzen sind; und drittens mit
einem Plan, neue Versorgungsquellen zu entdecken und zu erschließen.
Große Gebiete der Erdoberfläche sind unbewohnt, weil sie unter ge¬
genwärtigen Verhältnissen unbewohnbar sind. Aber in einigen dieser
Gebiete könnte der Aufwand von viel Kapital und harter Arbeit den
Boden ertragfähig machen. Gegenwärtig ist die Urbarmachung von
Wüsten, Tundren und tropischen Urwäldern verbieterisch kostspielig,
mit dem Anwachsen der und einem noch weiteren Überholen
Bevölkerung

der Vorräte durch den Bedarf an Nahrungsmitteln und Faserstoffen


könnte, was heute unwirtschaftlich ist, ein „gutes Geschäft werden. Es
wäre Sache eines hypothetischen Ausschusses von Fachleuten zu ent¬
scheiden, welche Gebiete entwickelt werden sollen, wann und mit welchen
Ausgaben aus internationalen Fonds. i i? i
Es ist wünschenswert, daß der gesamte Nahrungsmittelertrag der Erde
gesteigert werde, und zwar auf jede möglidie Weise. Aber wir dürfen
nicht vergessen, daß, vom politischen Gesichtspunkt, die befriedigends e
Art der Steigerung eine solche ist, die kein natürliches Monopol beson¬
ders begünstigter Nationen mit sich bringt. In Verquickung mit Nationa-

291
ALDOUS HUXLEY

lismus kann ein natürliches Monopol in Nahrungsmittelüberschüssen zu


einem Werkzeug werden, mit dem die eine Nation oder Gruppe von
Nationen anderen, weniger glückbegünstigten, Zwang aufzuerlegen ver¬
mag. Das Ideal wäre eine Steigerung des Nahrungsmittelertrags der
Erde auf solche Art, daß die Steigerung bestehende natürliche Monopole
nicht vergrößerte oder neue schüfe, sondern jeder Nation erlaubte, von
den im eigenen Land angebauten Nahrungsmitteln und solchen, die aus
der ganzen Menschheit gleichmäßig zugänglichen Quellen kommen, zu
leben. Unter den gegenwärtigen Umständen ist der internationale Han¬
del ein ebenso großer Fluch wie Segen. Er wird nur dann ein ungemisch¬
ter Segen werden, wenn nationalistischer Götzendienst aufhört, die wirk¬
same Religion der Menschheit zu sein.
Mittlerweile sollten wir alles, was in unserer Macht steht, tun, um
nationale oder wenigstens regionale Selbstgenügsamkeit in den Grund¬
bedürfnissen des Daseins zu fördern. Es wäre ein Schritt in dieser Rich¬
tung, wenn wir Methoden zur Gewinnung von Nahrungsmitteln aus
dem Meer entwickelten. Gegenwärtig werden die meisten Meere in der
Nachbarschaft dicht bevölkerter Gebiete zu stark ausgefischt, und es müs¬
sen immer mehr Anstrengungen gemacht werden, um stets kleiner wer¬
dende Fänge zu erzielen. Lassen sich den Ozeanen neue Hilfsquellen
abgewinnen? Kann Seetang zu Futtermitteln und Dünger verarbeitet wer¬
den? Und was ist’s mit dem Plankton? Was ist’s mit der Trockenlegung
und Düngung landumschlossener Buchten und Meerarme?
Natürliche Monopole in Mineralen sind, politisch gesprochen, vielleicht
noch gefährlicher als solche in Nahrungsmittelüberschüssen. Wenn sich
Lager von Kohle, Erdöl und den für die Schwerindustrie nötigen Metal¬
len im Gebiet einer starken Nation befinden, deren Kultur auf angreife-
rische Unternehmungen ausgerichtet ist, sind sie eine ständige Versu¬
chung zu imperialistischer Expansion. Befinden sie sich im Gebiet einer
schwachen Nation, sind sie eine ständige Aufforderung zu Aggression
von außen. Die Forschung sollte systematisch auf die Entwicklung all¬
gemein zugänglicher und verfügbarer Ersätze für die gegenwärtigen
Kraftquellen und Rohstoffe der Industrien gelenkt werden, zum Beispiel
auf Windkraft und Sonnenkraft, in Verbindung mit einer leistungs¬
fähigen Speicherung, als Ergänzung und teilweisen Ersatz für die aus
Kohle und Erdöl gewonnene Kraft; auf Glas, Kunstharze und aus Lehm
und Meerwasser gewonnene Leichtmetalle als teilweisen Ersatz für die
launisch verteilten Minerale, von denen die Industrie gegenwärtig ab¬
hängig ist. Durch diese Mittel könnte es uns vielleicht gelingen, die
politisch so gefährlichen natürlichen Monopole zu brechen; und zugleich
täten wir damit etwas zur Verlegung unserer industriellen Zivilisation

292
DIE ZWEIFACHE KRISE

von ihrer unsicheren und gefährdeten Basis, der Ausbeutung schnell


schwindender Aktiven, auf eine sicherere, eine annähernd dauerhafte
Grundlage.
Wir kommen nun zu der hinfort unentrinnbaren Tatsadie der Atom¬
kernspaltung. Für uns ist die Frage einfach die: Wie kann uns Atom¬
zertrümmerung bei der Lösung der tieferen Krise helfen? In der un¬
mittelbaren Zukunft wird ihr größter Beitrag wahrscheinlich auf dem
Gebiet der Genetik geleistet werden. Indem wir Pflanzensamen den
bei der Atomzertrümmerung entstehenden Gammastrahlen aussetzen,
können wir eine große Zahl noch nie dagewesener Mutationen her-
vorrufen. Die überwiegende Zahl dieser Mutationen wird schädlich
sein; aber einige werden vielleicht Varietäten zum Ergebnis haben, welche
nicht nur lebensfähig, sondern sogar wirtschaftlich nützlich sind - Varie¬
täten, die mehr von diesem oder jenem Nahrungsstoff liefern, Varietä¬
ten, die unter klimatischen Bedingungen zu reifen vermögen, welche der
Elternlinie verhängnisvoll wären, Varietäten, die gegen gewisse Krank¬
heiten und Parasiten widerstandsfähig sind, und so weiter.
Theoretisch und als Ideal sollte Atomzertrümmerung billige Kraft lie¬
fern zur Entwicklung von Gebieten, welche zu trocken oder zu kalt oder
zu zerklüftet oder den herkömmlichen Kraftquellen zu fern sind, um
unter gegenwärtigen Bedingungen der Ausbeutung wert zu sein. In der
Praxis jedoch wird Atomkraft wahrscheinlich noch einige Zeit ein sehr
kostspieliger Luxus bleiben. In zwanzig Jahren wird der Traum von fast
kostenloser Kraft vielleicht verwirklicht worden sein. Und das wird nicht
zu bald sein; denn in zwanzig Jahren wird unser Planet eine Bevölkerung
zu erhalten haben, die um vierhundert Millionen größer sein wird als
die heutige. Und inzwischen wird jeder Wahnsinnige in einer Macht¬
stellung, jeder Fanatiker, jeder Idealist, jeder Patriot der chronischen
Versuchung ausgesetzt sein, die neue Energiequelle in einem Angriffs¬
oder Präventiv- oder Verteidigungskrieg für politische Zwecke zu
nutzen. Um uns Vorteile zu erkaufen, die auf kurze und mittellange
Sicht wohl nicht sehr groß sein werden, müssen wir Gefahren laufen, die
so gewaltig sind, daß sie sich mit einem denkbaren Gewinn nicht mehr
vergleichen lassen. Man wird an Pascals Wette erinnert. Wir setzen auf
etwas streng endlich Gutes gegen die durchaus nicht ferne Möglichkeit
von etwas Bösem, das für praktische Zwecke als unendlich angesehen

werden kann. . i • j j-
In einer Welt, in welcher der Nationalismus axiomatisch ist und die
Gegensätze zwischen politisch-religiösen Ideologien so unversöhnlich sind
wie in den Tagen der Kreuzzüge, scheint ein internationales Proje^ zur
Linderung des Hungers und zur Erhaltung unserer planetarischen Hilfs-

293
ALDOUS HUXLEY

quellen die beste und vielleicht einzige Hoffnung auf Frieden und inter¬
nationale Zusammenarbeit zu bieten. An diesem Punkt werden die Be¬
fürworter eines Weltbundes einwenden, daß sich unser Projekt einzig
und allein durch eine Weltregierung lösen läßt. Zuerst, so werden sie
sagen, muß eine politische Union kommen; wirtschaftliche und technische
Zusammenarbeit werden dann als eine Selbstverständlichkeit folgen.
Gegenwärtig aber wollen unglücklicherweise die Regierungen der mei¬
sten Nationen keine Vereinigung. Oder, um genau zu sein, sie wollen
Vereinigung, aber nicht die Mittel zur Vereinigung. Denn die Mittel zu
politischer Vereinigung bedingen unmittelbare Opfer, die zu bringen
nicht angenehm wäre. Es würden sich, zum Beispiel in einem politisch
föderierten Europa, viele örtliche Industrien, die durch nationale Zoll¬
tarife großgezogen und geschützt wurden, als überflüssig erweisen und
müßten entweder durch Regierungsbeschlüsse unterdrückt werden oder
sähen sich durch die Konkurrenz von Industrien ruiniert, die leistungs¬
fähiger betrieben werden oder hinsichtlich Rohstoffen und Märkten gün¬
stiger gelegen sind. Die Unterdrückung überzähliger Industrien würde
unter Eigentümern, Betriebsleitern und Arbeitern gleichermaßen großen
Notstand verursachen. Und dies ist bloß eine Art der Kosten politischer
Vereinigung. Ungeheure Vorteile auf lange Sicht lassen sich nur durch
eine Anzahl recht schmerzhafter Opfer auf kurze Sicht erlangen. Politi¬
scher Zusammenschluß läßt sich durch Gewalt unter einer Militärdiktatur
erzwingen; oder unter dem Druck der Verhältnisse. In Zeiten der „Nor¬
malität“ ist die politische Vereinigung souveräner demokratischer Staa¬
ten viel schwerer zu erzielen. Die Menschen wollen nicht für eine Politik
stimmen, die den unmittelbaren Verlust ihrer Arbeitsplätze und einen
verstörenden Wechsel in ihren Gewohnheiten mit sich bringt. In der
Regel sind die Menschen nur in Zeiten einer Krise bereit, heute um eines
künftigen Guten willen Opfer zu bringen. Alle höheren Religionen sind
unter anderm Mittel, um Menschen zu überzeugen, daß jeder Augenblick
ihres Lebens ein Augenblick der Krise ist, bei der es in spirituellen Din¬
gen um Leben und Tod geht, und daß es daher so vernünftig wie recht
ist, gewisse Opfer zu bringen. In ganz andrer Hinsicht ist jeder Augen¬
blick im Leben der Menschen auf einem übervölkerten und erodierten
Planeten ebenfalls ein Augenblick der Krise. Das Wesen des martiani-
sdhen Angriffs der Menschen auf sich selbst zu erklären und die Massen
von der Notwendigkeit einer gemeinsamen, koordinierten Abwehr der
Invasion zu überzeugen, sollte nicht allzu schwierig sein, um so weniger,
als die sogleich erforderlichen Opfer nicht übermäßig und die zu erwar¬
tenden Vorteile auf kurze und mittlere Sicht so greifbar, einleuchtend und
anziehend sind. Ist dieses vor allem technische Bündnis gegen die

294
DIE ZWEIFACHE KRISE

martianisdien Heerscharen der Übervölkerung und Erosion einmal ge-


sdiaffen, dann läßt sich von ihm erwarten, daß es sich zur politischen und
wirtschaftlichen Zusammenarbeit entwickeln wird, die selbst sich wieder
als der Vorläufer einer echten Weltföderation unter einer einzigen Au¬
torität erwiese. Wenn sich inzwischen Föderation durch rein politische
Mittel erzielen läßt - um so besser. Es ist gleichgültig, was zuerst kommt:
das politische Huhn oder das technische Ei. Wichtig ist nur, daß wir auf
irgendeine Weise beide bekommen, und mit möglichst geringer Ver¬
zögerung.
Und mittlerweile dürfen wir hoffen, daß die Gewohnheit der Zusam¬
menarbeit an einem Vorhaben, das so offenkundig die ganze Menschheit
angeht, etwas dazu beitragen wird, unter den Herrschenden wie den Be¬
herrschten jene nationalistische Götzenanbetung zu untergraben, welche
die politische Grundursache aller unserer Oberflächenkrisen ist. Nationa¬
lismus ist etwas Künstliches, aber etwas Künstliches, das seine Wurzeln
in der gleichsam instinktiven Anhänglichkeit des Einzelmenschen an die
Umgebung seiner Kindheit hat — an einen Ort, eine Diät, eine Gruppe
von Gewohnheiten, Gebräuchen und Konventionen, an eine Sprache und
an die Menschen, die sie sprechen. Solcher Lokalpatriotismus findet sich
auch auf der untermenschlichen Stufe. Vögel zum Beispiel kämpfen
um ihr Territorium; die Wachtposten am Eingang eines Bienenstocks
greifen jede Biene an, die zu einem andern Schwarm gehört, und töten
sie. Das erste ist ein Beispiel schroffen Individualismus - „eines Englän¬
ders Heim ist seine Burg“; das zweite ein Beispiel kollektiver Xenopho¬
bie — „jeder Besucher aus dem Westen ist ein Klassenfeind der USSR .
Beim Menschen kommt das Stammesgefühl einem natürlichen und
naiven Ausdruck des Quasi-Instinkts des Lokalpatriotismus am nächsten.
Stämme haben nun Nationen Platz gemacht; und dies geschah, weil Herr¬
scher entdeckten, daß es möglich ist, durch geeignete Erziehung und Pro¬
paganda das quasi-instinktive Gefühl der Stammeszugehörigkeit von
seinem natürlichen Objekt auf ein neues, künstliches Objekt, die Nation,
zu übertragen. Der Heimatort und das Heimatvolk lassen sich berühren,
sehen, unmittelbar erleben. Es ist einem Menschen daher möglich, sie auf
beinahe körperliche Art zu lieben. Die Nation ist zu groß, um Gegen¬
stand unmittelbarer Bekanntschaft zu sein, und ist für jedes
Individuum innerhalb der Nation kaum mehr als eine Abstraktiom Aber
diese Abstraktion kann symbolisch vertreten sein durch einen Gegen¬
stand (die Flagge), eine Person (den König, den
Melodie und eine Wortfolge (die Nationalhymne, die Internationale)^
Diese symbolischen Repräsentationen können unmittelbar erlebt und
geliebt werden, nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen,

295
ALDOUS HUXLEY

mit dem „brennenden Eingeweide“. Mittels Symbolen wurde den Men¬


schen der Stammespatriotismus ab- und der nationalistische Götzendienst
anerzogen. Und Symbole werden zweifellos verwendet werden, wenn
der Augenblick kommt, ihnen nationalistischen Götzendienst ab- und
Weltpatriotismus anzuerziehen. In Westeuropa brauchte es mehrere
Jahrhunderte, bis kapitalistische Denkweisen diejenigen der feudalen
Gesellschaftsform ersetzt hatten. Wieviele Jahre werden vergehen müs¬
sen, bis die Menschheit im großen und ganzen dahin gebracht werden
kann, die nationalistischen Axiome zu vergessen, auf denen so viel ihres
gegenwärtigen Denkens und Fühlens beruht, und sich an ihrer Statt die
Axiome eines nicht-nationalistischen Systems zu eigen zu machen? Jeder¬
mann, der dies zu erraten wagen wollte, müßte zwei Tatsachen in Rech¬
nung ziehen: erstens, daß wir wirksamere Mittel der Propaganda und
Belehrung haben als unsere Vorfahren; zweitens aber, daß das Leben
des Menschen siebzig Jahre währt, daß wir es schwer finden, die in der
Kindheit geformten Denkgewohnheiten zu wechseln, und daß alle Regie¬
rungen gegenwärtig damit beschäftigt sind, den Gemütern ihrer Unter¬
tanen, ob jung oder alt, nationalistische Denkweisen einzupflanzen. So¬
bald wir und unsere Beherrscher es wünschen, können moderne Methoden
der Propaganda benutzt werden, um einen Wechsel der Denkweise in¬
nerhalb einer einzigen Lebenszeit zu bewirken. Unterdessen wird wahr¬
scheinlich der nationalistische Götzenkult diejenige Religion bleiben, für
die die Menschen ihr Leben in Kriegen hingeben, welche ohne diese
Religion niemals begonnen worden wären.
Auf der ideologischen Ebene ist das beste Gegengift gegen die nationa¬
listische Götzenverehrung der Monotheismus und (da Gottes Vaterschaft
die Bruderschaft aller Menschen bedingt) dessen Korrelat, der Mon-
anthropismus. Gegenwärtig haben wir den Pentakosiotheismus und so
viele Abarten einander feindlicher Menschen, wie es Zigarettensorten
gibt. Daß irgendein System des Monotheismus in naher Zukunft all¬
gemein angenommen werden wird, ist sehr unwahrscheinlich. Aber es
sollte nicht unmöglich sein, die weitverbreitete und unverzügliche An¬
nahme einer Form dessen zu erzielen, was man kosmische Ethik nennen
könnte; und diese könnte vielleicht als Grundlage für einen künftigen
Monotheismus dienen. Gegenwärtig denken und handeln die Menschen,
als hätten sie keine Pflichten gegenüber der Natur. Die katholische Kirche
zum Beispiel lehrt offiziell, daß untermenschliche Lebewesen so behan¬
delt werden dürfen, als wären sie Dinge. Aber jedem realistischen Be¬
obachter leuchtet doch gewiß ein, daß wir nicht nur kein Recht haben,
Lebewesen wie Dinge zu behandeln; wir haben nicht einmal ein Recht, sogar
Dinge wie bloße Dinge zu behandeln. Dinge müssen so behandelt wer-

296
DIE ZWEIFACHE KRISE

den, als wären sie Teile eines vielfältigen und wunderschön koordinier¬
ten lebenden Organismus. Wir beginnen zu entdecken, daß, sie auf
irgendeine andere Weise zu behandeln, das ganze menschliche Experi¬
ment zum Mißerfolg verurteilen kann. „Was du nicht willst...“ ist auf
die belebte und unbelebte Natur ebenso anzuwenden wie auf unsere
Mitmenschen. Behandle die Natur mit Barmherzigkeit und Verständnis,
und sie wird es dir mit unausbleiblichen Gaben vergelten. Behandle sie
angreiferisch, mit Habgier, Gewalttätigkeit und Unverstand, und die
verwundete Natur wird sich und dich vernichten. Zumindest theoretisch
begriff das Altertum diese Wahrheiten besser als wir selbst. Die Grie¬
chen, zum Beispiel, wußten sehr gut, daß Hybris gegen die in ihrem
Wesen göttliche Ordnung der Natur ihre entsprechende Nemesis nach
sich zöge. Die Chinesen lehrten, daß das Tao oder der innewohnende
Logos auf jeder Ebene, von der physischen und biologischen bis zur spiri¬
tuellen, gegenwärtig ist; und sie wußten, daß am Tao in der Natur zu
freveln nicht weniger als sich gegen das Tao im Menschen zu vergehen
verhängnisvolle Folgen hat. Wir müssen etwas von dieser verloren¬
gegangenen Weisheit wiedererlangen. Gelingt uns das nicht - bilden wir
uns vermessen ein, daß wir die Natur „besiegen“ können, so leben wir
auf unserem Planeten wie ein Schwarm schädlicher Parasiten — wir ver
urteilen uns selbst und unsere Kinder zu Elend und stets tieferer Not
und einer Verzweiflung, welche ihren Ausdruck in rasenden Ausbrüchen
kollektiver Gewalttätigkeit findet.
Übersetzt von Herberth E. Herhtschka

Vom Verfasser autorisierter, gekürzter Abdruck aus „Ehernes and Variations“


(Verlag Chatlo & Windus, London, 1950)
297
Golo Mann

SCHULD UND RECHT

Das Fragment „Schuld und Recht“ hätte nicht geschrieben werden können ohne
das Studium der ZJUerke von Karl Jaspers, besonders jener, die von Geschichte und
Gegenwart handeln. Keiner hat klarer als er die Aufgabe der Kommunikation als
die menschlichste aller menschlichen Aufgaben herausgearbeitet; keiner auch unab¬
weisbarer die Grenzen alles politischen Trachtens und Höffens, das Unmögliche
einer vollendeten Gerechtigkeit auf Erden, das Unvermeidliche sich immer erneuern¬
der Konflikte dargestellt, ohne doch je den Versuchungen eines geschichtsverneinen¬
den Pessimismus nachzugeben.

Was wäre geschichtliche Schuld? Wir versuchen sie so zu beschreiben:


Schuld bedeutet ein Verhältnis der Inadäquatheit zwischen Ursache und
Wirkung: Die Ursache ein freies Tun, die Wirkung aber dem Täter
selbst unwillkommen. Schuld ist von bloßer kausaler Verkettung zu unter¬
scheiden; andererseits von direkter Verantwortlichkeit. Wir werden nicht
sagen, daß Jesus Christus an den Religionskriegen schuld ist, obwohl es
ohne die christliche Religion keine Religionskriege gegeben hätte. Wir
werden umgekehrt nicht sagen, daß Adolf Hitler am zweiten Weltkrieg
nicht schuld ist; er wollte ihn haben, er fing ihn an, er bekam, was er wollte.
Mit der Tat ist man identisch, man kontrolliert sie, man tut sie oder tut
sie nicht. Aber niemand wollte den ersten Weltkrieg, keinesfalls in den
Ausmaßen, zu denen er sich entwickelte; niemand wollte den Vertrag von
Versailles als den Komplex von Ursachen und Wirkungen, als den wir
ihn kennen; niemand, außer einigen nationalsozialistischen Führern, wollte
Hitlers Diktatur; niemand wollte den gegenwärtigen sogenannten Kalten
Krieg, der Westen nicht und, in dieser Form, der Osten auch nicht. Lenin
ist nicht „schuld“ an der Revolution vom Oktober 1917, die er machte;
wohl aber an allen späteren russischen Entwicklungen, die er so nicht
wünschte, die aber in der Logik seiner eigenen Theorie und Praxis lagen.
Schuld mißt sich an der Frage, ob der Ausgang ein erfreulicherer
gewesen wäre, wenn die Verantwortlichen in bestimmten Momenten des
Initiierens oder Reagierens weiser, gerechter, nachdenklicher, bescheidener
gehandelt hätten. „Man weiß nie, was man gründet.“ (Adolphe Thiers.)
Die Frage ist, wie weit man es doch wissen kann; wie weit man den Dingen
und ihrem Gesetz entsprechen, oder ihnen zutiefst nicht entsprechen kann.
Der Theologe sagt: Dem Menschen stößt, wenn man von den Gegeben¬
heiten der Natur absieht, nur das Unglück zu, das er sich selber bereitet;
er hat die Freiheit, gut oder schlecht zu sein und nützt sie häufiger zum

298
SCHULD UND RECHT

Schlediten als zum Guten. Angewendet auf die Mensdiheit im ganzen,


eine Zivilisation, ein Gesamtgeschidc, mag das eine sinnvolle These sein.
Europa hatte 1914 den Krieg angefangen, weil es ihm Freude machte; und
wenn es ihn nicht gewollt hätte, so hätte es ihn nicht angefangen.
In der Sphäre, in der der Politiker, mithin der Historiker sich bewegt,
haben wir es aber nicht mit einem Ganzen, wie „Europa“, sondern alle
stets mit einer Summe von Teilen zu tun. Deutschland erklärte Rußland
den Krieg, nicht weil es selber den Krieg wünschte, sondern weil es die rus¬
sische Mobilisierung als eine Drohung empfand, der man zuvorkommen
mußte. Rußland mobilisierte, weil es die österreichische Aktion, hinter der
es den deutsdien Verbündeten vermutete, konterkarieren zu müssen
glaubte. Österreich handelte, und Deutschland deckte Österreich, weil
beide die russische Reaktion nicht voraussahen. Das Resultat war das von
niemandem Gewollte, das jedenfalls auf der Ebene des bewußten diplo-
matisdien Handelns nicht Gewollte. Der massenpsychologische Hinter¬
grund ist ein anderes; wieder ein anderes der menschliche Urgrund, wel-
dier ein Gegenstand theologischen oder metaphysischen Spekulierens ist.
In der diplomatisch-politischen Sphäre befinden wir uns ipso facto in der
Sphäre des Irrtums. Hier tun Teile, als ob sie das Ganze wären und
planen, wessen sie nidit Meister sind. Die Schuld liegt im Vergessen dieser
Teilhaftigkeit, im mangelnden Bemühen um Kommunikation mit anderen
Teilen, da, wo solche vielleicht zu erreichen gewesen wäre.
Lassen wir, mit diesen Unterscheidungen im Bück, einige der folgen¬
schwersten Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts Revue passieren.

1914 - Das ist des Jahrhunderts Mutterkatastrophe. Aber gerade ihr


gegenüber haben die Leidenschaften sich jetzt gelegt. Die Akteure dieses
alten Dramas erscheinen uns heute bedauernswert, getrieben, unwissend
eher als schuldig. Woher kommt das?
Sie lebten in einer Welt fester Begriffe, einer unbezweifelten Welt. Da
der Krieg diese Welt zerstören würde, hätten sie wissen können, denn
einige haben es gewußt; freilich, das waren melancholische ^ußensei er.

Liehe L
Tn der Gesellschaft der öffentlichen Moral aller europäischen Staaten,
Mlhärwesen, die ständige Vorbereitung des Krieges, eine posr-
üve führende, prachtvolle Rolle; daß so lange keiner gewesen war, maAte

299
GOLO MANN

sprechen. Selbst wenn sie aufgepeitscht waren durch die Agitation kleiner
Gruppen, durch die gelbe Presse, durch die nationalistischen Verbände
und Parteien, so kann doch der Demagoge nur an die bösen Instinkte
appellieren, die es gibt; die Sensationslust, die Mordlust, den dummen
Stolz, die dumme Haßlust. Hiervon haben in den letzten Tagen des Juli die
Bevölkerungen aller Hauptstädte Beispiele gegeben. Der Nationalismus
als aufgeregter Kult des eigenen Wesens, der an illegitimen, fiktiven Zie¬
len sich erhitzende Geist der Völker ist schuldig und ist seither immer
schuldig gewesen.
Die Regierungen fanden, wie dies immer der Fall ist, Pflichten und Tra¬
ditionen, Bedingungen, vergiftete Gegensätze vor, die sie nicht geschaffen
hatten. Allgemein wurde angenommen; daß die Regenten eines Staates
ihn zwar nicht um jeden Preis zu mehren haben, daß sie ihn aber wenig¬
stens in so viel Ansehen und Sicherheit und in den Grenzen hinterlassen
müssen, in welchen sie ihn übernahmen; Churchills Wort, er sei nicht des
Königs Erster Minister geworden, um der Auflösung des britischen Welt¬
reiches zu präsidieren, gälte für alle Minister der Zeit. Wenn wir neuer¬
dings freiwillige Abdankungen von Schönheit und Eleganz erlebt haben,
so wird man sagen, daß, wenigstens hier und dort, die politische Weis¬
heit seit dem Beginn des Jahrhunderts etwas vorgerückt ist; 1914 wäre
auch Indien nicht kampflos aufgegeben worden. Dazu kommt, daß es sich
im Falle Englands nur um das Aufgeben hinzugekommener Stücke han¬
delt, sodaß die Fortexistenz des Aufgebenden selbst nicht zur Frage steht;
während in der Logik von Konzessionen an teils innerhalb, teils außerhalb
der Habsburg-Monarchie lebende slawische Völker die endliche Auflösung
der Monarchie selber lag. Daß Österreich, vertreten durch seine herrschen¬
den Klassen, seinen Adel, seine Beamten, um einen hohen Preis fort¬
zuexistieren wünschte, müssen wir als legitim ansehen.
Auf der anderen Seite hören wir, daß das Volk der Serben auf eine
ausgedehntere nationale Existenz, als die, die ihm bis dahin, zuletzt noch
1913, zuteil geworden war, Anspruch erheben durfte, daß also die ser¬
bische Agitation wegen Bosnien legitim war. Trifft das zu, so stünde hier
Recht gegen Recht; und Schuld gegen Schuld, insofern beide Seiten ihr
Redit auf ruchlos ausschließliche Weise wahrnahmen. Hinter dem einen
Recht stand die Vergangenheit, hinter dem andern die Zukunft. Ein
Staatswesen, das wie Österreich so lange eine geschichtliche Rolle gespielt
hat, stirbt nicht freiwillig. Noch während des ersten Weltkrieges gab die
Monarchie stärkere Proben ihrer Widerstandskraft als gemeinhin ange¬
nommen wird - und wie sehr hat sie uns gefehlt, seit sie zu existieren
aufhörte! Die Serben haben besser als andere Völker, die ihren Staat auf
den Trümmern des alten Österreich errichteten, gezeigt, daß sie einer

300
SCHULD UND RECHT

staatlidien Existenz wert sind. Wäre ein Kompromiß möglich gewesen?


Für den Augenblick, ja. Wenn er sich ein klein wenig mäßigte, wenn er
nicht geradezu den Krieg gegen Serbien wollte, von dem wir wissen, daß
er ihn wollte, so war dem Grafen Berchthold ein diplomatischer Erfolg
sicher. Und was wäre geschehen, wenn die serbische Regierung das öster¬
reichische Ultimatum en bloc angenommen hätte? Nicht viel, aller Wahr¬
scheinlichkeit nach. Eine solche Annahme hätte den Österreichern krie¬
gerische Maßnahmen vor aller Welt schlechterdings unmöglich gemacht,
worauf ein paar zur Investigierung des Attentats nach Serbien entsandte
österreichische Beamte dort ein Spektakel der Hilflosigkeit gegeben hätten.
Die Unvereinbarkeit eines solchen Besuches mit der serbischen Verfassung,
die vorgeschützt wurde, ist kaum ernst zu nehmen; es sind in Serbien
ernstere Dinge vorgekommen, die nicht mit der Verfassung in Einklang
standen. Um die Stellung der Monarchie zu festigen, wünschte das öster¬
reichische Kabinett den kleinen Krieg gegen Serbien, und nahm die Ge¬
fahr des großen Krieges in Kauf. Daß die Serben das österreichische Spiel
mitspielten, anstatt durch ein in seiner Substanz unbedeutendes Opfer sich
ihm zu entziehen, beweist, daß auch sie den Krieg annahmen, nicht den
kleinen Krieg, sondern den großen, der allein ihnen Rettung und Gewinn
bringen konnte. Die Erweiterung ihrer nationalen Existenz, ihre poli¬
tische Vereinigung mit Volksgruppen, mit denen sie später in nicht eben
glüchlicher Gemeinschaft lebten, hielten sie für lohnend genug, um einen
russisch-österreichisch-deutsch-französisclLen Krieg damit bezahlt zu ma¬
chen. So wichtig sollte niemand sich nehmen.
Es ist die Rede von Recht und Schuld, nicht nur von kausalen Zusam¬
menhängen. Die Frage nach der Kausalität ist die nach der Wirkung be¬
stimmter Akte, unabhängig von ihrer Intention, dem Charakter, der
Situation ihrer Urheber. Die Frage nach der Schuld schließt diese mit ein
und richtet sich hauptsächlich auf sie. Sie beschäftigt sich mit der inten¬
tionalen Inadäquatheit, aber moralischen Adäquatheit zwischen Ursache
und Wirkung. Wenn die Kette der Ursachen und Wirkungen dort am
stärksten ist, wo sie dem Schauplatz der Krise am nächsten ist, also in
Wien und Belgrad, wenn das österreichische Ultimatum als ihr eigent¬
licher Beginn angesehen werden kann, so wird die Schuld nicht kleiner
in dem Maß, in dem sie sich vom unmittelbaren Schauplatz entfernt. Bei
aller Frivolität, Beschränktheit, Traditionsgebundenheit ihres Denkens
konnten die österreichischen Diplomaten für sich geltend machen daß es
für sie letzthin um den Bestand dessen ging, ohne das sie weder sich
selbst noch die Welt sich vorstellen konnten. So ging es den Serben um
die Existenz ihres Gemeinwesens und die Erfüllung ihrer stolzesten
Träume. Nichts Vergleichbares hatte das offizielle Rußland einzusetzen.

301
GOLO MANN

Was für den österreichischen Staat Lebensfragen waren, waren für den
russischen Randfragen zweiter Ordnung, Prestigefragen, fiktive Ziele,
denen man sich erst neuerdings, nach der mandschurischen Niederlage,
wieder zugewandt hatte, da man doch irgendwo außerhalb des Reiches
erfolgreich tätig sein mußte. Wäre selbst das ganze Serbien vorüber¬
gehend von den Österreichern besetzt worden, so hätte dies das legitime
russische Interesse, die russische Sicherheit, nicht gefährdet. Der fiktive
Charakter der russischen „Freundschaften auf der Balkanhalbinsel wird
durch das Beispiel Bulgariens dargetan, für dessen Gründung, Bestand
und Erweiterung sich Rußland einst so leidenschaftlich, fast bis zum Krieg
mit England, eingesetzt hatte, nur um dann sehr bald in Bulgarien sei¬
nen eigentlichen Balkangegner zu entdecken und Serbien zu umarmen.
Solche Freundschaft wäre einen großen Krieg wert gewesen?
Obgleich im Labyrinth der Kausalketten nicht so primär wie die öster¬
reichische Initiative, wäre daher die russische Intervention nicht weniger
schuldhaft. Es ist geistige Schuld, Schuld der Politik, die nicht auf Wirk¬
liches - was hatte Rußland auf dem Balkan zu gewinnen? - sondern auf
Prestige und fiktive Triumphe ausging; die Schuld unsolider, unwahrer
Ideen von slawischer Brüderschaft, die die Leidenschaften erhitzte; die
Schuld falscher militärischer Kalkulationen.
Das politische Deutschland war besser intakt als das politische Ru߬
land. Der Zar handelte, kläglich widerstehend, unter dem Zwang der
Stimmungen des Landes, der Pläne und Willensentschlüsse seiner Um¬
gebung. Der Kaiser war sein eigener Herr, aber, nur zu bald, der Gefan¬
gene dessen, was er im ersten Augenblick leichtsinnig entsciiieden hatte.
Er nahm das Risiko des Krieges prahlerisch an, weil und solange es ihm
ein geringes sdiien; als die Reaktionen nicht so waren, wie er erwartet
hatte, das Unwahrscheinliche wahrscheinlich wurde, der eine des anderen
kriegerische Beschlüsse antizipierte und das Gewicht der militäriscken
Plan-Maschinerie die matteren und matteren diplomatischen Versuche zu
erdrücken begann, fand er nicht Kraft und Mut zum Zurück; heimlich
überzeugt wie alle die anderen, daß das Gefürchtete ja doch einmal kom¬
men mußte, und ebensogut jetzt wie später kam. Daß er nicht glücklich
bei der Sache war, über den Ausgang die düstersten Ahnungen hatte,
daß er, vor allen Dingen, nicht das Gefühl einer deutschen Initiative
hatte, ist reichlich zu belegen. Tatsächlich hatte ja Deutschland die Initia¬
tive sehr früh aus der Hand gegeben. Seitdem bestand sein, negatives.
Tun nur noch darin, daß es sich weigerte, das zu mäßigen oder rückgän¬
gig zu machen, was es zuerst mit veranlaßt hatte, während ringsumher
Reaktionen stattfanden, in denen die Deutschen ihrerseits Initiativen

302
SCHULD UND RECHT

sahen. Hieraus erklärt sich ihr Gefühl, daß sie angegriffen seien und zur
Entstehung des Krieges nichts Aktives beigetragen hätten.
Schuld des unwissenden Auftrumpfens, der mangelnden Bereitschaft,
sich selbst mit den Augen anderer zu sehen, sich in die Lage anderer zu
versetzen; des nationalen Solipsismus; der Verwöhntheit durch frühere
Erfolge; der Gier nach immer neuem Erfolg aus heimlidier Unsicherheit,
Schuld der Schwäche, der Verwirrung, des Fatalismus; Schuld des heim¬
lichen Lüsterns nach dem, wovor man sich fürchtete. Sie wußten nicht,
was sie wollten; sie wollten, wollten nicht, wollten letzthin doch.
Sollen wir gestehen, daß auch die eisige Korrektheit der französischen
Politik uns schuldig erscheint, und zwar eben darin, daß sie nichts an¬
deres erreichen und bewahren wollte als Unschuld an dem, was zu hin¬
dern sie keine ernste Anstrengung machte? Die französischen Staats¬
männer zogen den Krieg einer diplomatischen Niederlage ihres Blockes
vor. Sie taten nichts, um eine solche Niederlage beizeiten zu mäßigen,
zu bagatellisieren und annehmbar zu machen. Sie wußten, daß das von
ihnen gedeckte russische „Nein“ gegenüber der österreichischen Aktion
den Krieg bedeutete, wofür nichts bezeichnender ist als das zufrieden
blinzelnde „Cette fois c’est la guerre“, mit dem sie sich in Petersburg ver¬
abschiedeten, noch bevor das Ultimatum bekannt war. Das ist eines der
Paradoxa der Krise von 1914: daß jene, die die Angegriffenen waren,
insofern die ursprüngliche Initiative nicht bei ihnen lag, früher und kla¬
rer wußten, daß Krieg sein werde, als die Angreifer; denn jene kannten
ihre Reaktion auf die Initiative der anderen.
In England gab es keine vergleichbaren Stimmungen. Wenn irgendwo,
so war dort der öffentliche Geist dem Frieden zugetan; und würdig ver¬
treten durch die reine, kluge, traurige Gestalt des Außenministers. Er
ist ein Beispiel dafür, wie der Unschuldige sich unter Schuldigen bewegt
und sich von ihnen zwingen läßt. Wozu der insuläre Hochmut kam, der
ungebührliche, ungenaue Optimismus; die Gebundenheit an konstitutio¬
nelle Traditionen, die, an sich sehr schön, im ernstesten Augenblick nicht
weltgerecht waren; das Hinausschieben der Entscheidung und Hinneh¬
men des Laufes der Dinge, von dem man heimlich wohl wußte, wie er
entscheiden würde; das endliche, hastige Ergreifen des moralisch-recht¬
lichen Arguments, das die Gelegenheit zum Tun dessen bot, was man
nun auch ohne es hätte tun müssen. Die von Lloyd George so dramatisch
geschilderte Nachtsitzung des britischen Kabinetts vom dritten August
hat etwas Geisterhaftes. Hier wurde mit bangem Ernst erwogen und
entschieden, was längst entschieden war.
Einmal engagiert, brachte England die ganze Intaktheit seines natio¬
nalen Charakters, die ganze Macht seiner Welt-Organisationen und Be-

303
GOLO MANN

Ziehungen mit ins Spiel. Wenn es daher am Kriege selbst weniger schuld
ist als alle andern, so ist es in gewissem Sinn an seiner Ausweitung und
Entartung schuldiger als alle andern. Die englische Flotte machte den
Krieg, den die Deutschen als Kontinentalkrieg im Napoleon-Moltke-Stil
konzipiert hatten, zum Weltkrieg; die englische Moral hielt, wo die rus¬
sische brach und die französische schwankte. England raubte den deut¬
schen Kontinentalsiegen ihre Bedeutung, indem es sie isolierte und ab¬
riegelte. Über England wurde die amerikanische Intervention ins Werk
gesetzt. In alledem muß man ein Verdienst sehen, wenn man den Aus¬
gang des ersten Krieges für das Wünschenswerte hält. Wir wissen aber
jetzt, daß die totale deutsche Niederlage der deutschen Leistung und den
dauernden europäischen Kräfteverhältnissen nicht entsprach; und daß
es damals eben noch um europäische Kräfteverhältnisse, nicht, wie 1944,
um einen Vergleich zwischen Deutschland und Amerika, ging. Daß der
erste Weltkrieg nicht mit einem Kompromiß, einem durch angelsäch¬
sische Diplomatie zu mäßigenden deutschen Sieg endete, ist Englands
Verdienst oder Schuld mehr als irgendeines anderen Staates. Es ist die
Schuld der englischen Tugenden. Wie denn überhaupt gezeigt werden
könnte, daß jedes große europäische Land das Schicksal Europas war, in
besonderen Augenblicken und immer; und zwar kraft seiner Tugenden
so sehr wie kraft seiner Laster. Jede starke Stellungnahme ist einseitig
und irrig. Jedes bestimmte politische Sein ist fragmentarisch, aber spreizt
sich ohne Rüdesicht auf das echte Ganze zum Ganzen auf. Es gibt in der
Politik keinen frömmeren Akt als den Kompromiß; durch ihn räumen
zwei Fragmente in gleicher Weise ein, daß sie nicht das Ganze sind.

Die Männer von 1914 sind unschuldiger und unbedeutender als die
der späteren Perioden. Es war eine intakte Welt, die 1914 zu den Waf¬
fen eilte, mit Lust, mit Zuversicht auf alle die gesammelte Kraft. Daher
die furchtbaren Zusammenstöße der ersten Wochen. Daher die un¬
geheuerliche Hinopferung von Menschen und Dingen vier Jahre lang.
Der Krieg aber veränderte Gesicht und Herz der europäischen Welt. Die
Machthaber, die 1919 zusammenkamen-und noch mehr jene, die fern blie¬
ben - waren nicht die Durchschnittspotentaten und unschuldigen Durch¬
schnittsdiplomaten der Vorkriegszeit. Sie wußten ungleich mehr, denn
der Krieg reift und verändert die Menschen wie eine schwere Krankheit.
Der Vertrag von Versailles beruhte auf Kompromissen, nicht so sehr
zwischen territorialen Herrschaftsforderungen wie die Wiener Verträge
von 1815, sondern zwischen Prinzipien und Zielen. Damit hat man lange
Zeit sein Versagen in der Geschichte begründet; es hätte ein machtpoli¬
tischer Friede nach dem Sinne Clemenceaus sein müssen oder ein ideali-

304
SCHULD UND RECHT

stisdier Friede nadb dem Sinne Wilsons, aber nicht eine Diagonale zwi¬
schen beiden. Ist das, heute noch, wahr? Was hätte der berühmte Cle-
menceau’sche Maditfriede eigentlich sein können, wenn Clemenceau
allein zu diktieren gehabt hätte? Wie lange hätte so ein elender Rhein¬
landstaat gehalten? Wie lange hätten die Alliierten den Mut gehabt, im
verzweifelten Paris des Winters 1919 allenfalls beschlossene drakonische
Maßnahmen unter veränderten Stimmungen aufrechtzuerhalten? Un¬
sere Erfahrungen machen uns sehr skeptisch gegenüber solchen Fragen.
Es hält sich nichts, das gegen die Natur der Dinge ist. Um der Macht,
der einschränkenden, vernichtenden Macht das letzte Wort zu geben,
hätte nicht bloß der Vertrag anders geschrieben, sondern die geschicht¬
liche Welt, die westlidie Zivilisation anders konstituiert sein müssen;
worüber zu spekulieren keinen Sinn hat. Audi als Alleinherren der Situa¬
tion hätten Clemenceau und Foch Kompromisse mit den Tatsachen schlie¬
ßen müssen, auch mit ihrem Gewissen; denn sie waren keine Barbaren
und hätten ihr „Vingt millions de trop“ nie durchgeführt. Das Gerede
über die verfehlte Chance des Machtfriedens, des Clemenceaufriedens,
vor zehn Jahren die große Mode, kann heute nicht mehr ernst genom¬
men werden.
Aber wenn die andere in Paris vertretene Haupttendenz nirgends
kapituliert hätte, wenn Woodrow Wilson allein hätte diktieren können?
Der verfehlte Wilsonfriede ist ebensosehr Legende wie der verfehlte
Clemenceaufriede. Er ist es allein darum, weil Wilson das, was man sich
gemeinhin unter einem Wilsonfrieden vorstellt, gar nicht wollte; weil
er viel zu sehr Amerikaner und Mann des neunzehnten Jahrhunderts
war, um ihn ausdenken zu können. Wer, vor allem, der Prophet des
souveränen demokratischen Nationalstaates war, konnte nur sehr neben¬
bei der Prophet eines reichlich windigen Völkerbundes sein; und mehr
ist Wilson in Paris nicht gewesen. Wie leer, wie undurchdacht und in¬
konsequent sind die „Vierzehn Punkte“ und ihr offizieller Kommentar;
welch eine Sammlung wohlgemeinter Fadaisen, die nie den Mut zu sich
selber haben, die immer im zweiten Satz zurücknehmen, was sie im ersten
versprechen. Nur Demagogen konnten Wilson vorwerfen, daß er in Paris
den Japanern konzedierte, worauf sie keinen Anspruch besaßen, daß er
den territorialen Forderungen Australiens nicht noch zäheren Wider¬
stand leistete, und so fort. Nicht auf diese Bagatellen kam es an. Aber
Wilson traute sich zuviel zu, versprach zu viel. Er überschätzte die Rein¬
heit und machtpolitische Unbeflecktheit des Staates, den er vertrat, im
Vergleich mit anderen Staaten. Sein ungares Gedankenwerk für ein
weltveränderndes, die Realitäten wirklidi ergreifendes, neuartiges Pro¬
gramm zu halten, zu glauben, daß es Patentlösungen gebe und daß er

305
GOLO MANN

sie gefunden habe - das ist die Unbescheidenheit, die Schuld Präsident
Wilsons, und daran hätte sich nichts geändert, auch wenn er anstatt mit
Clemenceau und Lloyd George mit Edouard Herriot und Ramsay Mac¬
donald zu tun gehabt hätte.
W^enn aber der Vertrag von Versailles nicht darin fehlte, daß er ein
Kompromiß war, wenn er ein Kompromiß in jedem Fall sein mußte und
in diesem Fall der Kompromiß zwischen zwei angeblich logischen, an und
für sich richtigen, sich gegenseitig zerstörenden Tendenzen gar nicht war-
worin fehlte er dann? Wir wissen es nicht und wir können es nicht wis¬
sen. Um zu zeigen, worin er fehlte, müßte man auch zeigen, wie es statt
dessen eigentlich hätte gemacht werden müssen, und müßte die Wahr¬
scheinlichkeit eines besseren Erfolges bei anders gewählten Mitteln auf¬
zeigen können. Das hat noch niemand getan. Aus solchen vier Jahren,
aus Lenins „Machtergreifung“ und dem Chaos im Osten, aus der Auf¬
lösung Österreichs, den Wirren in Deutschland, der bitteren Heimsuchung
und Erschöpfung Europas war nicht durch ein Papierwerk etwas Gutes
zu machen. „Hier können wir zunächst nicht viel helfen“, hätten die Mi¬
nister ihren Völkern sagen können. Aber das verboten ihnen die Illu¬
sionen und konventionellen Posen des Sieges.
Es ist alte Weisheit; daß man dem eigenen Recht, der eigenen Macht
und ihrer Dauer nie weniger trauen soll, als wenn man oben ist und den
Gegner unter sich hat; daß dann der Augenblick zur Demut, zu Zwei¬
feln am eigenen Verdienst gekommen ist. Im Siege ist immer etwas,
dessen man sich schämen sollte. Die Schuld der Friedensmacher von 1919
liegt in der moralistischen Überheblichkeit, mit der sie den Besiegten
behandelten; da sie doch selber alle während der Kriegsjahre tüchtig
gesündigt hatten, allenfalls mit Gradunterschieden; da sie auch eben jetzt
noch tüchtig zu sündigen im Begriff waren. Sie hatten ein Recht, dem Be¬
siegten diese oder jene Bedingung aufzuerlegen, aber nicht seine Allein¬
schuld am Ausbruch des Krieges zu dekretieren und so der Geschichts¬
forschung vorzugreifen. Sie hätten übrigens keinen Völkerbund gründen
sollen, an den sie nicht glaubten und für dessen Verwirklichung sie kein
Opfer zu bringen, keine große moralische Anstrengung zu machen bereit
waren; wodurch sie die schöne Idee für absehbare Zeit beschmutzten und
verdarben. Es ist eine böse Sache: Mit unreinem Herzen nach dem Höch¬
sten zu greifen.

Von den Gründern der österreichischen Nachfolgestaaten hat Winston


Churchill geschrieben, daß keiner von ihnen eines guten Todes starb,
keiner der Strafe entging, die ihre Schuld, die an Österreich begangene
Sünde verlangte. Ein nachdenkliches Wort, aus solchem Munde. Die Auf-

306
SCHULD UND RECHT

lösung der „Monarchie" ist ein Ereignis, auf das der geschichtlich Den¬
kende immer wieder zurückgetrieben wird. In Österreich, durch Österreich
fing der erste Weltkrieg an. Um das Schicksal der ehemals österreichischen
Völker entbrannte der zweite sowohl wie der gegenwärtige russisch-ame¬
rikanische Konflikt. Die Geschichte dieser Völker seit 1919 ist eine sehr
lehrreiche, ziemlich elende. Sie war vor 1914 nicht ganz so elend.
Nun kann man gegen Churchill argumentieren, daß die Zerstörung
der Monarchie kein Akt war, der sich in den letzten Monaten des Jahres
1918 spontan und willkürlich vollzog. Man kann, wie gewöhnlich, an
ältere Schuld erinnern, an Gelegenheiten zur Reform, die siebzig Jahre
früher versäumt worden waren; an den unbeirrbaren Herrschaftswillen
der Magyaren; an den Nationalismus der Deutschen, besonders der
Deutsch-Böhmen, auf den der Nationalismus der Slawen nur eine, nicht
eben originelle Replik war. Man kann an die Situation des Krieges selbst
erinnern, der Österreich zum Gefangenen des deutschen Reiches, der
deutschen Armee machte, und so der Monarchie eben die Funktion raubte,
die sie bis 1914 im Interesse der kleinen slawischen Völker schlecht und
reckt ausgeübt hatte. Daß ein tschechischer Politiker einen totalen Sieg
des deutschen Reiches zu fürchten Ursache hatte, muß eingeräumt werden;
und hieraus ergeben sich schwerwiegende Folgerungen. Aber alte Schuld
ist immer da und kann sich ihrerseits auf noch ältere beziehen. Sie macht
die neue möglich, verständlich; nicht unvermeidlich. Geschichtliche Situa¬
tionen sind immer schwierig; besonders für Völker, die das Unglück
haben, so situiert zu sein, wie Polen, Tschechen, Südslawen es sind.
Es ist wenig Heroisches in der Entstehung dieser Staaten, wenig, was
sich mit dem Kampf um die schweizerische, die holländische, die ameri¬
kanische Unabhängigkeit vergleichen ließe. Die Abenteuer der tschechi¬
schen Legion sind respektabel; Masaryk und Pilsudski achtenswert durch
ihre konsequente Zielstrebigkeit und ihre Integrität; Eduard Benes war
ein geschickter Unterhändler. Sieht man aber näher hin: Wieviel seichter
Optimismus in dem Ganzen; wieviel Schwindel; wieviel Großmannssucht
und Gier. Die Polen, die den Litauern ihre alte Hauptstadt nahmen; die
im Westen sich auf Kosten der Deutschen ausbreiteten, im Osten die
Früchte des deutschen Sieges genossen und ihnen noch eigene hinzuzu¬
fügen gedachten, alles, was in grauer Vorzeit einmal zu ihrem Reich ge¬
hört hatte, bis zum Schwarzen Meer hinunter; die Tschechen, die histo¬
rische, strategische, ökonomische, linguistische Argumente auswechselten
und mischten, je nachdem sie einer Erweiterung ihres Territoriums gün¬
stig waren; die von einer Herstellung „Schweizerischer Verhältnisse“
sprachen, als ob es das gewesen wäre, was sie wollten, als ob das, selbst
wenn sie es wollten, sich dort und damals hätte herstellen lassen; die

307
GOLO MANN

Rumänen, die unter dem Vorwand des antikommunistisdien Kampfes


Budapest plünderten und sich ihren beuteschweren Rückzug endlich durch
territoriale Zugeständnisse abkaufen ließen - das sind Beispiele, reichlich
zu vermehrende, die Lloyd Georges zornige Worte gegenüber dem Polen
Paderewski rechtfertigen: „Wir haben für die Freiheit der kleinen Na¬
tionen gekämpft, auf die Ihr ohne uns nicht die leiseste Hoffnung hattet,
wir, Franzosen und Engländer und Italiener und Amerikaner. Sie wis¬
sen, ich gehöre selber einer kleinen Nation an; und es schmerzt mich
bitter, zu sehen, wie Ihr alle, kaum daß Ihr noch ins Licht der Freiheit
gekrochen seid, Völker oder Teile von Völkern unterdrücken wollt, die
nicht zu Euch gehören. Ihr seid viel imperialistischer, glauben Sie mir
das, als England und Frankreich.“
Nun waren Budapest und Wien und Berlin ausgeschaltet. Nun hatten
sie keine Angst; nun waren sie frei - libre, horriblement libre, wie es
bei Andre Gide heißt. Sie haben die Freiheit, die kurzen Jahre der Angst-
losigkeit schlecht genutzt. Sie haben ihr Haus nie in Ordnung gebracht,
solange sie es ohne Druck von außen frei tun konnten; mit schlecht ge¬
ordneten, diktatorisch regierten Staaten voller unzufriedener, zurück¬
gesetzter, nach neuen Dingen begieriger Volksgruppen, der sogenannten
„Minderheiten“, war keine solide Außenpolitik zu machen. Benes’ „Kleine
Entente“ war gegen die Vergangenheit, gegen Ungarn, gegen eine Wie¬
derkehr der Habsburger gerichtet; sein „Lieber Hitler als Habsburg“
bleibt bezeichnend für die Phobie, die der Kern seiner Politik war. Als
die Jahre der Irrealität um waren, als Deutschland wieder Deutschland,
Rußland wieder Rußland war, hieß es sauve qui peut, und lief alles
auseinander; glücklich, wenn nicht der eine über den anderen herfiel, um,
bevor das Schicksal ihn selber ereilte, in der Verwirrung und Panik noch
schnell ein Stück zu erhaschen, das ihm nicht gehörte.
Es ist nicht schön aber notwendig, sich an diese Dinge heute zu er¬
innern. Das Recht, das seit 1938 in Osteuropa vergewaltigt wurde, stand
auf schwächeren Füßen, als historisches Recht gemeinhin steht. Den Völ¬
kern, die heute die Gefangenen des Bolschewismus sind, geschah das
machtlogisch Konsequente. Die Form, in der allein sie vergleichsweise
frei und würdig existieren konnten, war, nicht ohne ihr Mitwirken, zer¬
stört; nie hatten sie eine echte Anstrengung gemacht, sie zu ersetzen.
Folglich fielen sie zuerst unter die deutsche Macht; dann unter die rus¬
sische; und machtlogisch ist nicht zu sagen, warum sie das eigentlich nicht
tun sollten. Wir hatten kein Recht, sie als die prekären, künstlichen We¬
sen, die sie vor 1938 gewesen waren, wieder herzustellen und zu erwar¬
ten, daß sie diesmal schon irgendwie besser fahren würden. Daß sie noch
schneller noch schlechter fahren würden, war das zu Erwartende; denn

308
SCHULD UND RECHT

nun fehlte ihnen vollends der Schutz, den ihnen zeitweise der Umstand
gewährt hatte, daß Deutschland und Rußland sich das Gleichgewicht
hielten.
Vielleicht ist wirklich Nemesis die Göttin der Geschichte. Vielleicht
müssen alle Sünden, auch die der Mächtigen, früher oder später bezahlt
werden. Das Schicksal Deutschlands spricht dafür; was mit dem Siege,
was mit den Siegern von 1945 geschah und geschieht, spricht auch dafür.
Man tut nicht ungestraft, was die Deutschen getan haben; man tut auch
Dresden, Hiroshima, Potsdam nicht ungestraft. Aber-und dies ist nicht
schön, aber wahr: In unserer Welt wird die Schuld der Schwachen schnel¬
ler und direkter bestraft als die Schuld der Mächtigen. Das soll nicht
heißen, daß Unschuld ein sicherer Schutz gegen Unbill wäre. Leider
nein; das kann es nicht heißen.

Vom Standpunkt machtpolitischen Wettbewerbs aus - von höherer


Weisheit ist hier nicht die Rede - konnten die Deutschen das Genfer
Staats-System nicht annehmen. Es war der Form und dem Inhalt nach
verbunden mit dem Versailler Vertrag, den sie mit Recht als ihnen
feindlich ansahen; denn er stammte aus ihrer Niederlage. Die Niederlage
hätte den Deutschen von England und Frankreich allein nie bereitet
werden können; sie war das Werk der Amerikaner und, indirekt, der
Russen. Da nach 1920 weder Amerikaner noch Russen in der europä¬
ischen Politik existierten, so war die Niederlage irreal. Ihre Produkte
entsprachen nicht den wirklichen Kräfteverhältnissen. Dies ist der ge¬
heime Grund für das deutsche Rumoren und Wüten gegen das „Ver¬
sailler Schand-Diktat“; es war ihnen schändlich, nicht weil es ein Diktat
war, sondern weil hier der auf die Dauer Schwächere dem auf die Dauer
Stärkeren diktiert hatte.
Tatsächlich stand aber die deutsche Politik nicht vor der W^ahl, das
Genfer System entweder en bloc zu akzeptieren oder es gewaltsam zu
sprengen. Was von den Deutschen verlangt wurde, war nicht ein philo¬
sophischer Verzicht auf den Gebrauch ihrer Macht; es war nur etwas
Mäßigung, etwas Staatsklugheit im eigenen Interesse. Noch ohne Armee,
kraft der baren Tatsache ihrer Existenz und mit ein wenig Geschicklich¬
keit, gewannen sie unter Dr. Stresemann eine Stellung, die der fran¬
zösischen wenigstens gleichkam. Die Wirtschaftskrise, anstatt sie außen¬
politisch zu schwächen, erhöhte ihre Fähigkeit zu agieren, zu erpressen,
zu drohen und die Welt in Atem zu halten. Hitler setzte dies Spiel mit
doppelter Intensität fort. Er enthüllte die Realitäten von 1919: den nich¬
tigen Charakter der französischen Ostpolitik, die dauerhaften Folgen
von Brest-Litowsk und von St. Germain. 1938 war Deutschland der Sie-

309
GOLO MANN

ger von 1918, Herr über Mitteleuropa, die Großmacht Europas, ein Gi¬
gant in der Welt. Es blieb ihm nichts, als sich in dieser Stellung zu be¬
währen und legitim zu machen.
Der zweite Weltkrieg war nicht eine Wiederholung des ersten; die
Welt von 1939 grundverschieden von der von 1914. Er war nidit eine
Fortsetzung des ersten, so als ob Deutschland 1939 die Bewegung dort
wieder aufgenommen hätte, wo es 1918 plötzlich stehengeblieben war.
Er war am allerwenigsten ein Krieg, um wiederzugewinnen, was
Deutschland 1918 verloren hatte und so die Normalität von 1914 wie¬
derherzustellen. Der zweite Krieg war eher der, den Ludendorff von
Ferne ins Auge gefaßt hatte für den Fall, daß Deutsdbland den ersten
gewinnen würde. Schon die deutschen Friedensplaner von 1917 hatten
weder in Brest-Litowsk noch in den damals einem besiegten Westeuropa
aufzuerlegenden Bedingungen das Endgültige gesehen. Sie hatten das
Bewußtsein, jedenfalls das vage Gefühl, daß es im ersten Krieg nur
um Provisorisches, um nur europäische Herrschaft, um Ausgangspositionen
ging, und daß es in einem zweiten um anderes gehen werde. Diesem
anderen, weiteren ging Hitler jetzt nach.
Das Verhältnis des zweiten Weltkrieges zum ersten ist sonach ein viel¬
deutiges. Damit, daß er ohne den ersten nidit gekommen wäre, mit ihm
kausal verknüpft ist, ohne ihn jedenfalls nicht der zweite gewesen wäre,
ist nur das Triviale gesagt. Darüber hinaus ist alles fraglich. Zum zwei¬
ten Weltkrieg wäre es möglicherweise selbst dann gekommen, wenn die
Deutschen den ersten gewonnen hätten. Die Frage wäre hier, unter ande¬
ren, wann sie ihn gewonnen hätten. Hätten sie ihn 1914 gewonnen, als
das zivilisierte Regime Wilhelms II. noch intakt und Krieg und Krieger
noch nicht entartet waren, so wäre eine lange Friedensperiode, wie nach
1871, denkbar gewesen. Hätten sie ihn im Jahre 1917 im Geiste Luden¬
dorffs und der Alldeutschen gewonnen, so würde ein deutscher Sieg
kaum die Basis eines dauerhaften Universalfriedens gewesen sein.
Ebenso wenig eindeutig ist das Verhältnis des zweiten Krieges zum
Versailler Vertrag. Dieser konnte den Deutschen allerdings nicht ange¬
nehm sein. Man sieht aber nicht, wie, nachdem sie einmal verloren hatten,
ein ihnen auf die Dauer akzeptabler Friede eigentlich hätte zustande
kommen können und wie er hätte aussehen sollen. Was wir mit Be¬
stimmtheit wissen, ist nur dies: Daß sie sich 1939 nicht mit solchen Be¬
dingungen zufrieden gaben, wie auch die generösesten, weisesten Sieger
sie ihnen 1919 nimmermehr hätten gewähren können.
Der erste Krieg schuf eine Ordnung, die weder gerecht noch macht¬
logisch solide war. Nicht gerecht, weil sie es so oder so nicht sein konnte;
gerecht heißt hier nichts anderes als allen Beteiligten lieb, und terri-

310
SCHULD UND RECHT

toriale Veränderungen, die allen Beteiligten lieb wären, gibt es nicht,


außer, sie kämen durch freien Tausch zustande. Machtlogisch unsolide,
weil sie auf der deutschen Niederlage beruhte und die Mächte, die die
deutsche Niederlage ermöglicht hatten, Rußland und die Vereinigten
Staaten, sich frühzeitig zurückzogen, wodurch das ganze Geschäft ungültig
wurde. Weitere Veränderungen waren machtlogisch gegeben. Diese Ver¬
änderungen waren im Sommer 1939 schon geschehen; was folgte, war
nicht mehr ein Korrigieren dessen, was in Versailles falsch gemacht wor¬
den war, sondern war im Gegenteil ausgelöst durch die schon vollendete
Revision der Ordnung von 1919.
Der erste Krieg begann ohne Ziele, das Produkt einer diplomatischen
Fehlspekulation, ein lange verschobenes, schnell zu erledigendes Routine¬
geschäft zivilisierter Diplomaten und Militärs. Der zweite begann mit
Zielen nicht unähnlich jenen, die von den verwildertsten Geistern in der
letzten Zeit des ersten ausgeheckt worden waren. Er wurde von Men¬
schen gemacht, die die Erfahrung des ersten Krieges gezeichnet und zeit¬
gemäß gemacht hatte und die wußten, was sie taten. Aber niemand und
nichts zwang sie, es zu tun.

Von den Siegern von 1945 durfte man zuviel nicht verlangen. Wenn
nur nicht sie selber so viel von sich verlangt hätten. W^enn sie nur nicht,
durch frühere Erfahrungen unbelehrt, abermals geglaubt hätten, daß
der Krieg die Menschen besser mache und daß nachher die Welt schöner
aussehen werde als vorher; da doch das Bild vor ihren Augen düsterer
und düsterer wurde. W^ahr, der Gegner war diesmal so bösartig, wie ein
menschlicher Gegner sein kann, die Versuchung stark, sich, im Vergleich
mit ihm, im Kampf gegen ihn, als gut zu empfinden. Europa mußte
befreit werden; aber die menschlichen Befreier durften dies Amt, zum
Schaden ihrer Seele, nur übernehmen, weil sie es nicht Engeln über¬
geben konnten. Die Besiegten verdienten Strafe viel mehr, als die Be¬
strafenden ein Recht zum Strafen hatten; wenn es während der Nürn¬
berger Prozesse nicht zu sehr peinlichen Fragen an die Ankläger kam,
so war das der Unbegabtheit der Verteidigung mehr als der tatsächlichen
Situation zuzuschreiben. Wir konnten nicht umhin, gegen Hitler zu sein,
aber wir hätten das bloße Gegen-ihn oder Gegen-irgend-etwas-Sein nicht
an sich schon für eine Leistung halten dürfen. Das bloße Anti ist gar
nichts, eine Bequemlichkeit, die immer wenigstens die Gefahr mit sich
bringt, uns auf das Niveau dessen, wogegen wir sind, hinunterzuziehen.
Es kommt darauf an, wer gegen etwas ist, womit er gegen etwas ist,
wofür er ist und was er tut. Übrigens waren ja nur einige Schriftsteller
wirklich gegen Hitler, und die konnten nichts gegen ihn ausrichten. Um

311
GOLO MANN

ihn loszuwerden, bedurfte es der militärischen, politischen Apparate


und der sie tragenden Völker, deren Haß, selbst gegen das Schlechte,
aufzuwiegeln stets gefährlich ist.
Hätten die Alliierten während des Krieges und unmittelbar danach den
Mund weniger voll genommen, hätten sie der tiefen Zweifelhaftigkeit
alles Menschlichen redlicher nachgedacht, so wären sie heute nicht in der
Lage, deren sie sich freilich nicht einmal zu schämen scheinen: da sie gegen
die Verbündeten von gestern genau das predigen müssen, was sie ehedem
gegen die Feinde von gestern predigten; da sie die Feinde von gestern
nun als freiheits- und friedensliebende Völker gegen die Verbündeten
von gestern ausspielen müssen und den „deutschen Militarismus“, den
sie gestern als den Erzfeind der Menschheit auszutilgen sich verschworen,
nun nach Kräften wieder anblasen.
Sie waren weder ganz frei, noch ganz unfrei in ihrem Handeln. Man¬
ches hätte anders, maßvoller, erfindungsreicher gemacht werden können.
Mehr wäre erfunden worden, wenn man den Gegner nicht en bloc für
absolut schlecht, sich selber nicht für absolut gut und über aller Politik
stehend gehalten hätte; wenn man sich nicht für so göttergleich stark und
weise gehalten hätte, mit großen, fremden Völkern zu walten wie der
Töpfer mit dem Ton. Wo aber Zwang war, da war er anzuerkennen,
anstatt darum herumzureden und die Verwirrung zu vermehren. Etwa
war die Logik der Geographie, der Geschichte und der Macht die, daß
die baltischen Gebiete russisch bleiben würden. Sie waren zweihundert
Jahre lang russisch gewesen, waren auch vorher nie Staaten gewesen,
waren 1919 zu Staaten ernannt worden, ephemere Produkte der deut¬
schen und russischen Ohnmacht. Sie konnten Staaten nur sein in einer
Welt ohne Macht und ohne Staaten; in welchem Fall sie wiederum gar
keine zu sein brauchten. In einer Welt echter Staaten konnten sie keine
Staaten sein; und Amerika selbst ließ durch frühzeitige Anmeldungen
gewisser Forderungen recht wohl durchblicken, daß die Nachkriegswelt
eine Welt echter Staaten sein werde. In einer solchen Welt war kein
Platz für kraftlose, ungeschichtliche Kunststaaten in der unmittelbaren
Nachbarschaft eines Giganten, der ihre Küsten brauchte und zweihundert
Jahre lang innegehabt hatte. Das Wenigste, was der Westen für die un¬
glückliche Bevölkerung dieser Gebiete tun konnte, war, ihr keine fal¬
schen Hoffnungen zu machen. Denn soldie Hoffnungen müssen ihre
Machthaber als Gefahren ansehen; und die haben, wie wir wohl wußten,
ihre eigene Art, Gefahren vorzubeugen.
Wie Hilfe, die nicht mit allem Ernst, aller Sachkenntnis, Opferbereit¬
schaft und Konsequenz geboten wird, meistens mehr schadet als nützt.
Den Armeniern wäre das Äußerste erspart geblieben, hätten nicht phil-

312
SCHULD UND RECHT

anthropisdie Engländer ihnen Versprechungen gemacht, die niemand


einlösen konnte. Die Dörfer Äthiopiens hätten nicht mit Senfgas und
Brandbomben Bekanntschaft gemacht, ohne die großspurige, aber un¬
durchdachte und windige Einmischung des Völkerbundes.

Unter sich taten die Sieger das billig zu Prophezeiende. Sie wollten es
beide nicht; sie taten es, weil jeder es zwar nicht sich selber, aber dem
anderen mit fast zur Gewißheit gehendem Verdacht zutraute. Daß sie es,
ohne viel Überzeugung, bis zum Ende des Krieges hinausschoben, hielten
sie für Koalitionsweisheit und Disziplin, da in Wahrheit eben diese Ver¬
schiebung der Politik auf die Nachkriegsperiode ihre Chance, friedlich
miteinander zu existieren, entscheidend verschledhterte. Der Mechanis¬
mus, dessen Wirken man nun Platz gab, war überaus einfach. Hier war
nidits von dem reichen Spiel der Allianzen und Konterallianzen, der
Querverbindungen und Neutralitäten, wie es 1914 gewesen war; nichts
auch nur von den verwegenen, rasenden Herrschaftsprojekten von 1939.
Wenn es noch einer gewissen Phantasie bedurft hatte, den zweiten Welt¬
krieg nach dem ersten zu konzipieren, so war jetzt das Herannahen des
dritten eine Spekulation für Schuljungen, schamlos in ihrer Trivialität.
Man gibt dem speziellen Charakter des russischen Regimes schuld an
der Entwicklung seit 1945; der terroristischen Diktatur, der falsdien
Philosophie. Die Diktatur ist grausam, die Philosophie schlecht; sie tut
uns so viel Schaden, wie die schlechteste Philosophie tun kann. Fraglich
bleibt, ob ohne sie, ohne das menschenvergötternde Terrorregime, aber bei
selbständiger eigenartiger Existenz Rußlands, die Dinge wesentlich anders
gekommen wären. Es heißt, die Russen wollten den Rest der Erde erobern
und kommunistisch machen, weil ihre Ideologie es ihnen so vorschreibe.
Das ist wahr; aber weder Lenin noch Stalin haben große Opfer gebracht,
um Wirklichkeit und Ideologie zusammenzuzwingen, wenn sie sich nicht
entsprachen. Vor 1939 war kaum ernsthaft von einer Expansion des
Kommunismus die Rede; während des zweiten Krieges überhaupt nicht.
Es hätte damals nicht in die politische Wirklichkeit gepaßt. Seit 1945
paßte es hinein, fügte sich in den Mechanismus der Mächte, des Mi߬
trauens, des Wettrüstens, des Kampfes um das europäische Niemands¬
land, der in jedem Fall gegeben war. Diesen zu überwinden hätte es nicht
nur einer liberaleren Regierungsform in Rußland bedurft, sondern einer
großen Anstrengung des Geistes und Herzens überall.
Das Vokabular, mit dem das offizielle Amerika den zweiten Weltkrieg
interpretierte, war pazifistisch und idealistisch. Es waren die Ideen Wood-
row Wilsons, korrigiert durch einen vagen Zusatz von praktischem Sinn.
Der Bund aller friedliebenden Nationen sollte diesmal die Macht haben.

313
GOLO MANN

jedem Friedensbrecher das Rechte und Gute mit den Waffen zu demon¬
strieren; er sollte ferner - dies wenigstens war die Konzeption Franklin
Roosevelts - nicht nur auf einer internationalen Demokratie aller Staa¬
ten, sondern auf dem kombinierten Willen der wirklichen Großmächte
beruhen. Was eine ungenaue Publizistik sich nicht eingestand, war,
daß beide Zusätze sich widersprachen. Der zweite bedeutete das Veto¬
recht der Großmächte, bedeutete, daß den Vereinten Nationen überhaupt
nichts vorgeschlagen werden würde, von dem man wußte, daß eine der
verbleibenden Großmächte dagegen wäre, bedeutete, daß die Großmächte,
jede in ihrer Sphäre, wohl oder übel nebeneinander hausen würden. Der
erste bedeutete die Urgierung des selben universalen Rechtes überall,
die Majorisierung der Minorität. Da die Russen sich zum Protagonisten
des zweiten Prinzips machten, machten die Amerikaner sich zu dem des
ersten. Die Dialektik beider Prinzipien verwandelte die Vereinten Na¬
tionen rasch in ein ihrem ursprünglichen Sinn Entgegengesetztes, in eine
militante Teilorganisation, eine antirussische Allianz. Dies ist die Folge,
die der universale Anspruch in einer nichtuniversalen Welt noch immer
gehabt hat.
Sie fand die Herzen nicht unvorbereitet. Wir glaubten wohl an eine
Welt der internationalen Harmonie und Unschuld nach dem Krieg, aber
wir hielten auch eine ganz anders geartete Welt für möglich und hielten
sie im Grund für wahrscheinlicher. Wir waren nicht mehr naiv wie das
vorige Mal, mit weniger Enthusiasmus und mehr dauerndem Ernst bei
der Sache. Der Krieg selber, die Art, in der er geführt worden war, und
der Sieg hatten den utopisch-milden Zug in unserem Wesen nicht ge¬
stärkt. Wir waren wohl bereit, auf das ideale Ziel hin etwas zu wagen,
aber keine sehr großen Wagnisse und hauptsächlich verbale; die andere
Möglichkeit, jene, wonach die Dinge, anstatt des gewünschten schönen,
den menschlichen Verlauf nehmen konnten, war gleichzeitig mit hand¬
festerer Sorge zu bedenken. Als sie diesen Verlauf wirklich nahmen,
verstanden wir es schnell und waren mehr entrüstet als unglücklich dar¬
über.
Mit jedem Krieg wurden die Pläne generöser, hoffnungsvoller, end¬
gültiger, mit jedem Krieg wurde die Wirklichkeit mörderischer - die
Wirklichkeit, die in uns sowohl wie außer uns ist. Daher der Wider¬
spruch zwischen dem Geist und den Institutionen. Als wir in vergleichs¬
weise friedlichen Zeiten lebten, als die Staatsmänner sich verstanden, der
Zusammenbruch einer Verhandlung die seltene Ausnahme war, hatten
wir gar keine internationale Organisation. Der erste Weltkrieg brachte
die Liga, der zweite die Vereinten Nationen; gute unkräftige Vorsätze aus
der Kriegszeit, als Einrichtungen verharrend, nachdem sie als Vorsätze

314
SCHULD UND RECHT

längst gescheitert waren, und so mit der Wirklichkeit um so jammer¬


voller kontrastierten.
Alle Zivilisation beruht auf Kommunikation; je intensiver und freier
die Kommunikation zwischen den Staaten, desto geringer die Gefahr des
Irrtums, der falschen Berechnung, desto sicherer der Friede. Daß im
Augenblick die Kommunikation zwischen den größten Mächten geringer
ist, als sie seit den Religionskriegen des sechzehnten Jahrhunderts je war,
daß sie zum Beispiel zwischen Amerika und China überhaupt nicht,
nicht einmal formal besteht, ist darum das Ernsteste, das man über die
gegenwärtige diplomatische Situation sagen kann. Vor 1914 war sie un¬
gleich stärker, nicht stark genug. Der bis zum letzten Tag fortgehende
Telegrammwedisel zwischen Zar und Kaiser läuft auf ein wechselseitiges
klägliches Sichbesdiwören hinaus, dem andern einzuräumen, was er
wollte; es sei durchaus möglich, den Frieden zu erhalten, man müsse nur
noch einmal, noch ein letztes Mal Deutschland seinen Willen lassen.
Heute sagen die Protagonisten nicht einmal mehr, was sie wollen, son¬
dern beschränken sich auf eine leere Rhetorik des Anklagens und An-
preisens. Bei den Russen ist die doktrinäre Abgespaltenheit von der nicht¬
kommunistischen Welt so weit gediehen, daß sie sich nicht mehr ver¬
ständlich machen können, auch da nicht, wo Recht auf ihrer Seite ist. Man
hat manchmal das Gefühl, daß ein neutraler Beobachter ihre Sache besser
führen könnte als sie selber. Wäre die Institution der Vereinten Natio¬
nen, so wie sie augenblicklich besteht, überhaupt ernst zu nehmen, so
wäre es kein schlechter Gedanke, die Sache von Gegnern durch Neutrale
vertreten zu lassen.
Kommunikation bedeutet nicht nur, daß man sich verständlich zu ma¬
chen weiß, sondern daß man den andern zu verstehen sich bemüht, daß
man sich selber mit den Augen des anderen sieht, sich in die Lage des
anderen versetzt. Hierdurch, durch diese Fähigkeit und nie ganz zu er¬
füllende Aufgabe, unterscheidet der Mensch sich vom Tier, das noch voll¬
ständiger als wir im Schleier der Maja gefangen ist und kein Mitleid
hat; hierdurch unterscheidet der zivilisierte Mensch sich vom wilden,
der gesunde Mensch sich vom kranken, abgespaltenen. Wo die Anstren¬
gung des Erfassens und Sichvorstellens fremder Subjektivität nicht ge¬
macht wird, scheitert das Verhältnis zwischen Individuen wie zwischen
Staaten, die sich im Verkehr miteinander ja wie Individuen geben und
empfinden. Sie wurde 1914 nicht und wird heute noch weniger gemacht.
Wie, in dieser Beziehung, etwa von den Russen gesündigt wird, bedarf
keiner Exemplifizierung. Sie scheinen sich nie gefragt zu haben, wie, von
ihrer Praxis abgesehen, ihre Theorie selbst, ihre Religion, eigentlich auf
die wirken muß, die sie nicht mit ihnen teilen. Im anderen Lager wird

315
GOLO MANN

aber auch selten etwa die Frage gestellt, wie die Vereinigten Staaten
reagieren würden, wenn das kommunistische China eine amerikanische
kommunistische Gegenregierung, mit zahlreichen Truppen und allem Zu¬
behör aggressiver Macht, auf der Insel Puerto Rico organisierte und dort
um hohen Preis aufrecht erhielte.
Jedes Fragment muß zunächst und vor allem für sich selber sorgen,
und man kann von ihm nicht verlangen, daß es den Vorteil anderer
Fragmente zu seinem hauptsächlichen Anliegen mache. Das ist die banale
Wahrheit des Satzes von der Priorität des nationalen Interesses, von
dem heute wieder so viel die Rede ist. Aber vieles, was man ehedem
zum „nationalen Interesse“ rechnete, hat eine reifere Zivilisation als fiktiv
erkannt; anderes wird noch als fiktiv erkannt werden. Wieder anderes war
interessant nur im negativen Sinn und hörte auf, es zu sein, sobald gewisse
übergreifende Besorgnisse entfielen. Frankreich wünschte die Niederlande
zu kontrollieren, nicht, jedenfalls nicht nur, wegen des absoluten Wertes
dieser Provinzen, sondern damit Spanien oder England sie nicht kontrol¬
lierten. England wünschte sie der Kontrolle Frankreichs zu entziehen. Da¬
her die englisch-französischen Kriege durch die Jahrhunderte, deren ande¬
ren, tieferen Ursachen zu verdankende Beendigung die Neutralisierung
der Niederlande ermöglichte. Zuerst prekär, weil nur auf dem englisch¬
französischen Gleichgewicht beruhend, ist die Existenz der Niederlande
heute nach beiden Seiten völlig gesichert, da beide Seiten den Gedanken
einer politischen Kontrolle der Niederlande längst aufgegeben und buch¬
stäblich vergessen haben.
Selbst da, wo das gemeinsame Aufgeben eines wechselseitig begehrten
und nun, kraft dieses Verzichtes, gar nicht mehr begehrenswerten Zieles
nicht möglich ist, wird ein Teilen, ein Kompromiß im nationalen Inter¬
esse, dem Kriege vorzuziehen sein; es sei denn, das Objekt des Konfliktes
wäre ein so vitales, daß sein Gewinn den Krieg lohnt. Von solcher Wich¬
tigkeit ist heutzutage nichts mehr als die Existenz der Gemeinschaft
selbst in Würde und - jedoch allemal eingeschränkter - Freiheit. Alle
anderen Streit-Objekte müssen Gegenstand von Kompromissen sein. Ein
Kompromiß findet auch dann statt, wenn eine Seite in einer Sache ganz
verzichtet, gleichzeitig oder später aber ihren Standpunkt in einer ande¬
ren Sache durchsetzt, so daß eine friedliche Koexistenz beider Partner auf
absehbare Zeit erreicht wird.
Im nationalen Interesse liegt, daß den vitalen Interessen aller Mächte
Genüge getan wird; wobei, leider, das Gewicht auf das Wort Mächte zu
legen ist. Denn nur die Großen und Größten können Krieg machen und
werden Krieg machen, wenn man das bedroht, was sie für ihr vitales
Interesse halten. Es ist nicht Zynismus, das zu sagen. Gerechtigkeit auf

316
SCHULD UND RECHT

Erden ist allemal eine relative, für Engel höchst verächtliche Sache. Was
soll uns eine Gerechtigkeit, die auf dem Recht aller, auch der schwächsten,
insistiert und um ihretwillen die Welt in Kriege zu stürzen bereit ist,
aus denen kein Recht, am wenigsten das Recht der Schwachen, heil her¬
vorgehen kann? Was zwischen Staaten vermittelt und ihre Koexistenz
ermöglidit, ist nicht lex und auch nicht jus, sondern das do ut des, der
Kompromiß. Eine Welt von Staaten, die unter keinem gemeinsamen
Gesetz leben, zu behandeln, als lebten sie unter einem einzigen gemein¬
samen Gesetz, bedeutet, noch schlimmere Gesetzlosigkeit herbeizuführen.
Gerecht zu sein heißt in der internationalen Sphäre zwischen dem, was
billig ist, und dem, was die Realität und Machtverteilung als ratsam er¬
scheinen läßt, die Mitte zu finden. Die Verträge von 1919 waren nicht
darum ungerecht, weil sie den Japanern gewisse unbedeutende Konzes¬
sionen machten, die den Forderungen des chinesischen Nationalismus zu¬
widerliefen. Sie - wir rechnen die teilweise späteren Grenzziehungen in
Osteuropa dazu - waren ungerecht, weil sie die Aspirationen der beiden
größten Mächte Europas ignorierten und die Realität des Mächtever¬
gleiches selbst verfälschten; nicht die Westmächte, viel weniger die Polen,
sondern Deutschland hatte Rußland besiegt, und man konnte nicht die
Früchte des deutschen Sieges über Rußland verteilen, indem man gleich¬
zeitig Deutschland reduzierte, einengte, demütigte. Das Recht, das einige
kleine Völker auf Kosten dieser großen gewannen - wir haben gesehen,
wie zweifelhaft es in vielen Stücken war. Dies ist eine der großen Lehren
von 1919: Es gibt nicht, unabhängig von den wirklichen Machtverhält-
nissen, eine reine Forderung der Gerechtigkeit, an deren Verwirklichung
wir nur durch die großen, mächtigen Sünder verhindert würden. 1919
waren in Europa beide großen mächtigen Sünder vorübergehend in Ohn¬
macht. Man nahm ihnen alles, was ihnen nicht gebührte, und einiges, was
ihnen gebührte, aber man war nicht imstande, es gerecht zu verteilen. Da
nun reine Gerechtigkeit nicht hergestellt werden kann - selbst wenn ein
Gott allen Mächtigen ihre Macht nähme und die Erde neu verteilte -,
um wieviel weniger haben wir Grund, wenn es zu Friedens Verträgen
kommt, die Tatsachen der Macht zu unterschätzen.
Im nationalen Interesse liegt es, die Machtverhältnisse in Rechnung
zu ziehen, nicht nur wie sie heute sind, sondern wie sie in absehbarer
Zeit wahrscheinlich sein werden. Es war schuldhaft, das 1919 nicht zu
tun, Staaten zu bilden und Grenzen zu ziehen so, als ob Deutschland und
Rußland für immer Niemandsland bleiben würden. Es war schuldhaft,
während des zweiten Krieges nicht zu fragen, was an Stelle der deutschen
Präponderanz in Osteuropa, an Stelle der japanischen Präponderanz in
Ostasien eigentlich treten wurde. Die Politik ist die Politik, ein Spiel mit

317
GOLO MANN

Macht, ein Spiel der Mächte. Man darf nicht Politik treiben, selber als
Macht agieren, plötzlich aber so tun, als seien die Grundsätze der Macht¬
mechanik durch etwas nicht recht zu Definierendes überwunden.
Die Macht, so hören wir, ist böse. Große Männer - in der politischen
Sphäre - sind immer schlechte Menschen (Lord Acton). Auf unserm Jahr¬
hundert lastet ein Fluch; was immer wir versuchen, wird übel ausgehen.
Die Politik ist das Reich, nicht bloß des Irrtums, sondern der untermensch¬
lichen Infamie und Dummheit und wird es immer bleiben. (Aldous Hux-
ley.) Und so fort. Solche Thesen mögen uns ansprechen; was sollen sie
uns helfen? Die Politik bleibt eine Aufgabe, solange Menschen in un¬
heiliger Gemeinschaft leben. In der Politik hilft nicht keine Politik, son¬
dern bessere, da, wo die ganz gute nicht zu haben ist.
Den guten Willen setzen wir voraus. Es kam uns auf die Schuld der
Wohlmeinenden an, der Amerikaner, die wohlmeinend waren von Wil¬
sons „Force, force to the uttermost!“ bis zum Korea-Krieg und darüber
hinaus, der westlichen Politik überhaupt, insofern sie in universalisti¬
schen Begriffen dachte. Bei jenen, die gar nichts ernsthaft wollten, bei
denen es kein Ziel, nur Mittel und Genuß gab, erübrigt es sich, von Schuld
zu spredien. Die Wohlmeinenden hätten weniger Schaden gestiftet, wenn
sie das Vielfältige nicht so sehr vereinfacht hätten; wenn sie vorsichtiger,
skeptischer, bescheidener gewesen wären. Wenn sie, mit einem Wort,
mehr aus der Geschichte gelernt hätten; da sie nun uns so viele enttäu-
sdiende Erfahrungen hinterlassen haben, aus denen wir lernen können.

318
Helmuth Plessner

ÜBER DIE MENSCHENVERACHTUNG

Redcy gehalten aus Anlaß der feierlichen Immatrikulation


am 22. November 1952 in der Aula der Universität Göttingen

Ein trübes Kapitel zu festlicher Stunde, ein bitterer Tropfen in einem


Kelch von Musik mußten gerade hier und heute die Schatten beschwo¬
ren werden, welche das Bild des Menschen verdunkeln? Mir scheint, die
Frage des sozialen Zynismus, des Menschenhasses und der Menschenver¬
achtung ist von äußerster Dringlichkeit. Wir haben es in unserer jüng¬
sten Geschichte erfahren, wie eng Auffassung und Behandlung des Men¬
schen Zusammenhängen, wie leicht das Gefühl zu Urteilen gerinnt,
welche den Keim zu gesetzgeberischen Maßnahmen in sich tragen. Grup¬
penhaß innerhalb eines Volkes oder zwischen Völkern legitimiert sich
allerdings bequem nadi irgendeiner Idee von Minderwertigkeit der an¬
deren. Aber wer gewinnt - so muß man sich fragen - dabei, wenn Haß
und Veraditung auf den Menschen sans fa9on, auf das Menschliche selbst
sich generalisieren? Wenn die Selbstverachtung zu einer Art Ideologie
wird, die - für niemanden verbindlich - zu allen und keinem paßt?
Die Vergesellschaftung der Menschenfeindschaft ist ein gefährlicher
Zündstoff, und offenbar ist die Misanthropie seit längerem schon eine
öffentlidie Macht geworden, hat sie die Grenzen persönlicher Erfahrung,
die ein bitteres Privileg einzelner war und ist, durchbrochen. Die Frage,
die ich Ihnen vorlegen möchte, zielt auf diese fatale Erhebung der Mis¬
anthropie zum Rang einer Ideologie. Welche Faktoren sind hierfür ver¬
antwortlich zu machen?
Die Erkenntnis menschlichen Wesens bleibt offenbar stets mit einem
Gefühl der Ambivalenz verbunden. Was als menschliche Mächtigkeit er¬
scheint, verrät im gleichen Augenblick menschliche Schwäche. Im Können
wie im Nichtkönnen stößt menschliches Tun an stets andere Schranken,
um immer wieder zu erfahren: es ginge schon, aber es geht nicht.
Der Preis für diese Erkenntnis, die Erkenntnis der Freiheit, ist das
Erschredcen vor der Entsicherung, die Furcht vor der Ungewißheit,
die in allen zwischenmenschlichen Beziehungen herrscht, Enttäuschung
und Resignation, die um so tiefer gehen, je höher die Anforderung
ist, die der Mensch an sich und seinesgleichen stellt. In Kants Kritik
der Urteilskraft findet sich eine diese Zusammenhänge erleuchtende
Stelle, im zweiten Buch der Analytik des Erhabenen, wo von der Ab¬
sonderung von aller Gesellschaft die Rede ist, die „als etwas Erhabenes

319
HELMUTH PLESSNER

angesehen werde, wenn sie auf Ideen beruht, welche über alles sinnliche
Interesse hinwegsehen. Sich selbst genug zu sein, mithin Gesellschaft nicht
zu bedürfen, ohne doch ungesellig zu sein, das ist, sie zu fliehen, ist etwas
dem Erhabenen sich Näherndes, so wie jede Überhebung von Bedürfnissen.
Dagegen ist Menschen zu fliehen aus Misanthropie, weil man sie anfein¬
det, oder aus Anthropophobie (Menschenscheu), weil man sie als seine
Feinde fürchtet, teils häßlich, teils verächtlich. Gleichwohl gibt es eine (sehr
uneigentlidi sogenannte) Misanthropie, wozu die Anlage sich mit dem
Alter in vieler wohldenkender Menschen Gemüt einzufinden pflegt, welche
zwar, was das Wohlwollen betrifft, philanthropisch genug ist, aber vom
Wohlgefallen an Menschen durch eine lange traurige Erfahrung weit ab¬
gebracht ist; wovon der Hang zur Eingezogenheit, der phantastisdie
Wunsch, auf einem entlegenen Landsitze oder audi (bei jungen Personen)
die erträumte Glückseligkeit, auf einem der übrigen Welt unbekannten
Eilande, mit einer kleinen Familie, seine Lebenszeit zubringen zu kön¬
nen, welche die Romanschreiber oder Dichter der Robinsonaden so gut
zu nutzen wissen, Zeugnis gibt. Falschheit, Undankbarkeit, Ungerechtig¬
keit, das Kindische in den von uns selbst für wichtig und groß gehaltenen
Zwecken, in deren Verfolgung sich Menschen selbst untereinander alle
erdenklichen Übel antun, stehen mit der Idee dessen, was sie sein könn¬
ten, wenn sie wollten, so im Widerspruch, und sind dem lebhaften
Wunsche, sie besser zu sehen, so sehr entgegen, daß, um sie nicht zu
hassen, da man sie nicht lieben kann, die Verzichttuung auf alle gesell¬
schaftlichen Freuden nur ein kleines Opfer zu sein scheint. Diese Traurig¬
keit, nicht aber die Übel, welche das Schicksal über andere Menschen ver¬
hängt (wovon die Sympathie Ursache ist), sondern die sie sich selbst
antun (welche auf der Antipathie in Grundsätzen beruht), ist, weil sie
auf Ideen beruht, erhaben...“
Kant stellt der eigentlichen, minderwertigen Form der Misanthropie,
der Menschenfeindschaft und Menschenfurcht, die zusammengehören,
eine uneigentliche Form aus Enttäuschung und Ressentiment gegenüber,
welche der Erfahrung des Widerspruchs entstammt, in dem das wirkliche
Leben zur Idee dessen steht, was Menschen sein könnten, wenn sie woll¬
ten. Während die von ihm für eigentlich gehaltenen Formen in der Linie
der Feindseligkeit und Furchtsamkeit liegen, welche das Mit- und Gegen¬
einander der Gesellschaft aus den verschiedensten Gründen und bei tau¬
send Gelegenheiten beherrschen können, und nur ihre Verfestigung zu
einem Habitus darstellen, der die ganze Skala bis zum Menschenhaß
durchlaufen kann, liegt die Quelle der uneigentlich genannten Misan¬
thropie tiefer. Sie entspringt einer Reflexion auf die Größe und Würde
menschlichen Wesens und die an ihr zutage tretende Ohnmacht seiner

320
ÜBER DIE MENSCHENVERACHTUNG

Natur. Im ersten Fall haben wir es mit einer ungerechtfertigten Verall¬


gemeinerung zu tun, hinter der im Grunde nur die eigene Aggressivität
und die Furcht vor der durch sie ausgelösten Aggressivität der anderen
steht. Indem der Menschenfeind und Menschenverächter von vornherein
die Niedrigkeit der Motive, Eigennutz und Unaufrichtigkeit, Falschheit,
Undank, Ungerechtigkeit und „das Kindische in den von uns selbst für
wichtig und groß gehaltenen Zwecken, in deren Verfolgung sich Men¬
schen selbst untereinander alle erdenklichen Übel antun“ zur Regel
macht und mit der sogenannten Schlechtigkeit der menschlichen Natur
als ausschlaggebendem Faktor rechnet, fixiert er erst die Lage, auf die er
dann wieder mit Haß oder Verachtung reagiert, um das Gefühl des Ver¬
sagens zu kompensieren. Er braucht sich nicht einmal von der allgemei¬
nen Schlechtigkeit auszunehmen und zollt doch, in diesem generellen
Haß, in dieser generellen Verachtung, die ihn mitbetreffen, ungewollt
und verschwiegen seinem gefährdeten Selbstwertbewußtsein den Tribut.
Denn im Menschenhaß und in der Menschenverachtung gibt sich der
Misanthrop nicht nur der Mitwelt, sondern sogar sich selbst gegen¬
über eine überlegene Stellung, das Bewußtsein des Triumphs trotz aller
seiner Niederlagen und zugleich eine Entschuldigung für das Versagen.
Verdient die Menschheit Haß und Verachtung, dann ist es kein Wunder,
wenn keine Mühe imstande ist, sie auf höheres Niveau zu heben. Haß
und Verachtung stellen also als verdiente Reaktionen im Akte der Herab¬
setzung die Gerechtigkeit gegen die Würde des Objekts und damit zu¬
gleich das Selbstgefühl wieder her. Im zweiten Fall der von Kant un¬
eigentlich genannten Misanthropie ist dies auch deutlich ausgesprochen.
Hier bildet die Anerkennung dessen, was der Mensch könnte, wenn er
wollte, den Hintergrund, den Rechtsgrund für Trauer und Bitterkeit.
Die Herabsetzung trifft seine Wirklichkeit, nicht seine Idee.
Zahllos sind die Anlässe und Motive in einer individualisierten Ge¬
sellschaft zur Menschenfeindschaft, auch wird nicht jeder Charakter in
gleicher Weise dazu neigen, aber ihre wenigen Quellen, die wir nannten,
kommen letztlich aus einem Ursprung: dem Gefühl der unausgleichbaren
Spannung zwischen Freiheit und Ohnmacht. Wird die Spannung nicht
durch einen Glauben auf gefangen und legitimiert - und die Geschichte ist
reich an Versuchen der Legitimierung -, dann ist die Lage gegeben, in
der Antipathie, Verbitterung und alle Arten von Ressentiment zur Misan¬
thropie sich steigern. Sie generalisiert, sie sieht nicht mehr den einzelnen
als Feind und verächtliches Individuum, sondern die Menschheit, die
menschliche Natur schlechthin. In der Wendung des Hasses und der Ver¬
achtung zur Allgemeinheit wird mit der maximalen Verbreiterung der
Angriffsfläche zugleich das Maximum an Befriedigung des Selbstgefühls

321
HELMUTH PLESSNER

erreicht. „Dadurch, daß dieser Haß gegen jedermann und doch gegen
niemand persönlich zielt, wird der Konflikt mit den sozialen Strebungen
auf ein Minimum zurückgeführt. Die Verschiebung des Hasses in die
Sphäre des Abstrakten ist ein Kunstgriff, der es dem Misanthropen mög¬
lich macht, auf der Ebene der konkreten lebendigen Beziehungen in der
Hingabe an den einzelnen oder auch an eine größere Gemeinschaft auf¬
zugehen h“ Wie Jonathan Swift, der Autor von Gullivers Reisen, sagt:
„Die Satire aber, die sich gegen alle richtet, wird nie von einzelnen als
Schimpf empfunden, da jeder einzelne sich erkühnt, sie nur auf andere
zu beziehen und seinen eigenen Anteil der Last auf die Schultern dei
Welt abwälzt, die breit und stark genug sind, sie zu tragen.“
Misanthropie lebt von der Verallgemeinerung, die ihr Objekt in die
Sphäre des Abstrakten stellt. Darum wandelt sidb ihr feindseliger Affekt
von Haß in Verachtung und verliert mit wachsendem Grade der Abstrak¬
tion ihre Emotion an Hitze. ,,Der Haß, sonst eine Quelle von Intentionen,
die auf Schmerz, Schaden und Vernichtung des gehaßten Gegenstandes
gerichtet sind, wirkt sich hier im Falle des Menschenhasses praktisch so
gut wie gar nidit aus. W^eder die persönlichen Beziehungen zu einzel¬
nen Individuen, noch die Beziehungen zu einer weiteren, lebendigen kon¬
kreten Umwelt sind durch ihn irgendwie gefärbt. Lediglich in der Form
rein theoretischer Äußerung, in der literarischen Produktion und ge¬
sprächsweise oder in Briefen vorgetragen als Hintergrund weltanschau¬
licher Überzeugungen findet der Menschenhaß seinen Ausdruck Diese
Eigentümlichkeit des Menschenhasses, der nicht auf die Menschheit als
Summe einzelner Individuen, sondern auf das Abstraktum Menschheit
zielt und ganz auf eine Sphäre abstrakter Allgemeinheit beschränkt bleibt,
vielleicht sogar an Gruppen geringeren Allgemeinheitsgrades, wie „den
Weibern“, „den Juden“, „den Engländern“, „den Negern“, „den Ju¬
risten“, „den Theologen“, „den Generälen“, „den Unternehmern“, halt¬
macht - und es bleibt Ihrer Phantasie und Ihrer Verärgerung überlassen,
die Zahl der Beispiele zu vergrößern -, ich sage, diese Eigentümlichkeit
hat Swift in einem Brief an Pope vom 29. September 1725 sehr klar mit
den Worten gekennzeichnet: ,,Ich habe stets alle Nationen, alle Berufe
und jegliche Gemeinschaft gehaßt. Alle meine Liebe hat stets den ein¬
zelnen gehört. Zum Beispiel hasse ich die Zunft der Juristen, aber ich
liebe den Anwalt so und so und den Richter so und so; gerade so geht
es mir mit den Ärzten - von meinem eigenen Handwerk will ich nicht
sprechen Soldaten, Engländern, Schotten, Franzosen und dem Rest. Vor
allem aber hasse und verachte ich das Tier, das Mensch genannt wird,
obwohl ich den Peter, Thomas usw. herzlich liebe. Dies ist das System,
nach dem ich mich viele Jahre gerichtet habeb“

322
ÜBER DIE MENSCHENVERACHTUNG

Die Äußerungen Swifts haben, so aufschlußreich sie für seine eigene


Biographie auch sind, darüber hinaus einen exemplarischen Wert. Sie
vermitteln uns einen Einblick weniger vielleicht in die Quellen als in den
Mechanismus der Misanthropie, der ihre Heraushebung aus dem Bereich
persönlicher Verbitterung bewirkt und Schuld daran trägt, daß sie sich
aus einem bloßen Affekt in eine öffentliche Macht und Ideologie verwan¬
deln kann. Genau daran aber sind wir Soziologen interessiert, und unsere
dritte Frage lautete, welche Faktoren für die Verstärkung der Menschen¬
feindschaft zu einer öffentlichen Ideologie verantwortlich zu machen seien.
Wir haben gesehen, daß mit der Wendung des Hasses ins Allgemeine
und seiner Verwandlung in kühle und gewissermaßen unbeteiligte Ver¬
achtung ein doppelter Effekt erreicht wird. Mit der Verbreiterung der
Angriffsfläche auf ihr Maximum wird die Lust, welche die Depravierung
und vorgestellte Vernichtung des Gegners gewährt, auf das denkbar
höchste Maß gebracht. Zugleich aber verbindet sich mit der Maximali-
sierung der Lust das Gefühl der Entlastung gegenüber jedem einzelnen,
der zwar als Exemplar einer fluchwürdigen Gattung sich von ihr nicht
ausnehmen kann, als individuelle Person aber, so wie sie uns wirklich im
Leben begegnet, unsere volle Achtung und herzliche Teilnahme verdient.
Der doppelte Kunstgriff, mit dem die Misanthropie der Verbitterung aus
persönlicher Lebenserfahrung Luft schafft, indem sie einmal dem Über¬
druck der Welt seinen tödlichen Stachel, ihren Wert